Pragmatismus – Umwelt – Raum: Potenziale des Pragmatismus für eine transdisziplinäre Geographie der Mitwelt 3515108785, 9783515108782

Die geographische Mensch-Umwelt-Forschung ringt seit vielen Jahren um die Entwicklung integrativer Ansätze, mit deren Hi

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German Pages 290 [294] Year 2014

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
TABELLENVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
VORWORT
1. PRAGMATISMUS ALS THEMA FÜR MENSCH-UMWELTFORSCHUNG
UND GEOGRAPHIE?
1.1. TRANSDISZIPLINARITÄT UND DIE DRITTE SÄULE
1.2. ZIELSETZUNG
1.3. AUFBAU DES BUCHES
2. KLEINE GESCHICHTE DER ERKENNTNISTHEORETISCHEN DUALISMEN UND RAUMKONZEPTE IN DEN MENSCH-
UMWELT-BEZIEHUNGEN
2.1. DIE ENTSTEHUNG DUALISTISCHER WELTBILDER IN DER ANTIKE
2.2. ERNEUERUNG UND GRENZEN DUALISTISCHEN DENKENS UND
ABSOLUTEN WISSENS
2.3. MENSCH-UMWELT-BEZIEHUNGEN IM KRITISCHEN
RATIONALISMUS
2.4. FALSCHVERSTANDENE KONSTRUKTIVISMEN UND DIE VERTIEFUNG DES
GRABENS
3. PRAGMATISMUS ALS SCHLÜSSEL EINES NICHT DUALISTISCHEN MENSCH-
UMWELT-KONZEPTES
3.1. GRUNDZÜGE DES KLA
SSISCHEN PRAGMATISMUS
3.2. KONTAKTPUNKTE VON PRAGMATISMUS
UND KONSTRUKTIVISMUS
3.3. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE KONSEQUENZEN: PLURALITÄT UND
RELATIVITÄT ALS METHODE
3.4. REZEPTION DES PRAGMATISMUS I
N DER PHILOSOPHIE
3.5. MEHR ALS RELATIVISMUS? ZUR GESELLSCHAFTSPOLITISCHEN HALTUNG
DES PRAGMATISMUS
4. POTENZIALE UND KONSEQUENZEN DES PRAGMATISMUS
FÜR DIE GEOGRAPHISCHE MENSCH-UMWELT-FORSCHUNG
4.1.
PRAGMATISMUS UND MENSCH-UMWELT-FORSCHUNG IN DER GEOGRAPHIE
4.2. POTENZIALE EINER PRAGMATISCHEN THEORIE
„KREATIVEN HANDELNS“
4.3. POTENZIALE EINES TRANSAKTIONISTISCHEN MENSCH-UMWELT
-VERSTÄNDNISSES
4.4. RÄUME IN PRAGMATISCHER PERSPEKTIVE
5. FAZIT – PRAGMATISCHE WEGE ZU EINER GEOGRAPHIE
DER MITWELT
LITERATURVERZEICHNIS
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Pragmatismus – Umwelt – Raum: Potenziale des Pragmatismus für eine transdisziplinäre Geographie der Mitwelt
 3515108785, 9783515108782

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Christian Steiner Pragmatismus – Umwelt – Raum

e r dk und l i ches w i ssen Schriftenreihe für Forschung und Praxis Begründet von Emil Meynen Herausgegeben von Martin Coy, Anton Escher und Thomas Krings Band 155

Christian Steiner

Pragmatismus – Umwelt – Raum Potenziale des Pragmatismus für eine transdisziplinäre Geographie der Mitwelt

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: unter Verwendung von USA Road Map No 6 mit freundlicher Genehmigung von Hema Maps Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10878-2 (Print) ISBN 978-3-515-10882-9 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS TABELLENVERZEICHNIS...................................................................................9 ABBILDUNGSVERZEICHNIS ...........................................................................10 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ..........................................................................11 VORWORT ...........................................................................................................13 1. PRAGMATISMUS ALS THEMA FÜR MENSCH-UMWELTFORSCHUNG UND GEOGRAPHIE? .............................................................19 1.1. Transdisziplinarität und die Dritte Säule ...................................................22 1.2. Zielsetzung .................................................................................................29 1.3. Aufbau des Buches.....................................................................................31 2. KLEINE GESCHICHTE DER ERKENNTNISTHEORETISCHEN DUALISMEN UND RAUMKONZEPTE IN DEN MENSCHUMWELT-BEZIEHUNGEN.............................................................................34 2.1. Die Entstehung dualistischer Weltbilder in der Antike..............................35 2.1.1. Raus aus der Höhle? Erkenntnis zwischen Rationalismus und Empirismus ..............................................................................35 2.1.2. Zwischenfazit ..................................................................................40 2.2. Erneuerung und Grenzen dualistischen Denkens und absoluten Wissens ......................................................................................................40 2.2.1. Descartes’ Erneuerung des Geist-Materie-Dualismus und seine Suche nach sicherem Wissen .................................................42 2.2.2. Empirismus und Abbildtheorie bei Locke und Newton..................46 2.2.3. Berkeley oder die beginnende Auflösung antiker Dualismen ........49 2.2.4. Hume oder die empirische Untauglichkeit dualistischer Weltbilder........................................................................................52 2.2.5. Zwischenfazit – das Ende dualistischer Weltbilder und einer realistischen Ontologie? ..................................................................65 2.3. Mensch-Umwelt-Beziehungen im Kritischen Rationalismus....................68 2.3.1. Grundzüge des Kritischen Rationalismus .......................................69 2.3.1.1. Falsifikation als Lösung des Induktionsproblems? ..................70 2.3.1.2. Mensch-Umwelt-Beziehungen im Kritischen Rationalismus: Korrespondenztheorie und Drei-Welten-Lehre .......71 2.3.1.3. Poppers Wahrheitstheorie als Bollwerk gegen den Relativismus? ...........................................................................73

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Inhaltsverzeichnis

2.3.2. Über die Schwierigkeiten von Letztbegründungen.........................74 2.3.3. Zwischenfazit ..................................................................................77 2.3.4. Konsequenzen für die Geographie ..................................................78 2.4. Falschverstandene Konstruktivismen und die Vertiefung des Grabens.....79 2.4.1. Unterschiede und Gemeinsamkeiten konstruktivistischer Positionen........................................................................................80 2.4.2. Von Kindern und Bädern: Konsequenzen für die Geographie .......83 3. PRAGMATISMUS ALS SCHLÜSSEL EINES NICHTDUALISTISCHEN MENSCH-UMWELT-KONZEPTES ...............................87 3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus.................................................88 3.1.1. Die semiotische Begründung des Pragmatismus – Charles S. Peirce .............................................................................90 3.1.2. Pragmatismus als Humanismus – Ferdinand Canning Scott Schiller ...................................................98 3.1.3. Der handlungsorientierte Pragmatismus – William James und John Dewey ...................................................100 3.1.3.1. Handlung und Wandel als Elemente der Erkenntnis..............102 3.1.3.2. Erkenntnisgewinn und Forschungsprozess ............................106 3.1.3.3. Der prozessuale Wahrheitsbegriff ..........................................110 3.1.3.4. Empirische Forschung als denotative Methode......................113 3.1.3.5. Erfahrung, Natur und Umwelt................................................114 3.1.3.6. Erfahrung, Kultur und Wirklichkeit .......................................118 3.1.3.7. Glauben als Basis der Erkenntnis...........................................121 3.1.4 Zwischenfazit: Zum Erkenntnis- und Wissenskonzept des klassischen Pragmatismus.......................................................122 3.2. Kontaktpunkte von Pragmatismus und Konstruktivismus.......................129 3.3. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Pluralität und Relativität als Methode ............................................................................131 3.3.1. Wissenschaft und Ethik.................................................................131 3.3.2. Pluralismus und Relativismus als wissenschaftstheoretisches Prinzip transdisziplinärer Forschung.......................133 3.2.3. Pragmatismus und Methodologie..................................................136 3.4. Rezeption des Pragmatismus in der Philosophie .....................................143 3.4.1. Der Niedergang des klassischen Pragmatismus............................144 3.4.2. Der Erfolg des Neopragmatismus und die Renaissance des Pragmatismus..........................................................................146 3.5. Mehr als Relativismus? Zur gesellschaftspolitischen Haltung des Pragmatismus.....................................................................................149 4. POTENZIALE UND KONSEQUENZEN DES PRAGMATISMUS FÜR DIE GEOGRAPHISCHE MENSCH-UMWELT-FORSCHUNG..........153 4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie ........154 4.1.1. Rezeption des Pragmatismus in der Geographie...........................154

Inhaltsverzeichnis

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4.1.2. Mensch-Umwelt-Forschung und die Suche nach der Dritten Säule in der Geographie....................................................161 4.1.2.1. Von Menschenbildern, Umweltkonzepten und Naturvorstellungen ..........................................................................163 4.1.2.2. Problemlösende Theorien und quantitative Modellierungen ......................................................................170 4.1.2.3. Auf kritischem Wege – gegenstandsbezogene, akteursorientierte und politisch-ökonomische Ansätze .........170 4.1.2.4. Konstruktivistische Theorien .................................................173 4.1.2.5. Postdualistische Ansätze ........................................................177 4.1.3. Raumkonzepte in der Geographie.................................................188 4.2. Potenziale einer pragmatischen Theorie „Kreativen Handelns“..............199 4.2.1. Etablierte Handlungstheorien im Vergleich..................................201 4.2.1.1. Normorientierte Handlungstheorien.......................................201 4.2.1.2. Utilitaristische Handlungstheorien .........................................202 4.2.1.3. Verständigungsorientierte Handlungstheorien .......................205 4.2.2. Das pragmatische Konzept Kreativen Handelns – eine fruchtbare Basis zum Verständnis von Innovation und intendiertem Wandel .....................................................................206 4.2.3. Kreatives Handeln, Performativität und Reflexivität....................211 4.2.4. Kreatives Handeln als Erweiterung des handlungstheoretischen Theorieangebotes in Wirtschafts- und Sozialgeographie ...........................................................................212 4.3. Potenziale eines transaktionistischen Mensch-UmweltVerständnisses..........................................................................................214 4.3.1. Von Interaktion zu Transaktion ....................................................215 4.3.2. Dinge und Ereignisse ....................................................................219 4.3.3. Organismus und Umwelt ..............................................................221 4.3.4. Akteure, Kultur und Umwelt ........................................................224 4.3.5. Body-Minds als Auflösung des Geist-Materie-Dualismus ...........226 4.3.6. Konsequenzen und Anschlusspunkte eines transaktionistischen Mensch-Umwelt-Verständnisses für eine Geographie der Mitwelt ...................................................229 4.3.6.1. Body-Minds und Leiblichkeit – Kontaktpunkte zwischen Phänomenologie und Pragmatismus ......................230 4.3.6.2. Sprachspiele jenseits des Sprachkäfigs ..................................231 4.3.6.3. Von der Umwelt zur Mitwelt .................................................232 4.3.6.4. Das Ende der Natur ................................................................234 4.3.6.5. Für eine idiosynkratische Neubestimmung der Geographie .............................................................................235 4.3.6.6. Wege zu einer holistischen Geographie der Mitwelt .............236 4.3.6.7. Kein neues Einheitsparadigma für die Geographie................237 4.4. Räume in pragmatischer Perspektive .......................................................238 4.4.1. Pragmatismus und Raum ..............................................................238 4.4.2. Mitwelt und Raum ........................................................................247

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Inhaltsverzeichnis

4.4.3. Ein pragmatisches Raumkonzept als Erweiterung des geographischen Theorieangebotes ................................................249 5. FAZIT – PRAGMATISCHE WEGE ZU EINER GEOGRAPHIE DER MITWELT ..............................................................................................254 LITERATURVERZEICHNIS .............................................................................268

TABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Grundtypen konstruktivistischer Ansätze.............................................81 Tabelle 2: Phasen des Forschungsprozesses nach Dewey ...................................107 Tabelle 3: Analytische Phasenaufteilung des Erfahrungsprozesses nach Dewey .................................................................................................118 Tabelle 4: Erkenntniskonzepte von klassischer Philosophie und Pragmatismus......................................................................................123 Tabelle 5: Pragmatische Positionen im Vergleich ...............................................128 Tabelle 6: Erkenntniskonzepte in Logischem Empirismus, Positivismus, Kritischem Rationalismus sowie im Pragmatismus............................134 Tabelle 7: Etablierte Handlungsmodelle und kreatives Handeln im Vergleich .......................................................................................207

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Multidisziplinarität – Interdisziplinarität – Transdisziplinarität......28 Abbildung 2: Belief-Doubt-Belief-Schema nach Peirce .......................................93 Abbildung 3: Konzeption des Experiments bei Peirce ..........................................96 Abbildung 4: Modell des Forschungsprozesses nach Dewey..............................110 Abbildung 5: Modell der denotativen Methode nach Dewey..............................114 Abbildung 6: Ordnungsversuch exemplarisch ausgewählter Theoriestränge in der Mensch-Umwelt-Forschung ...............................................169 Abbildung 7: Raumkonzepte im Vergleich .........................................................191 Abbildung 8: Calvin & Hobbes – Newtons Erstes Bewegungsgesetz.................208 Abbildung 9: Perspektive und mögliche Themenfelder einer transaktionistischen Mensch-Mitwelt-Forschung.................................265

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ANT CW EW LW MW NRT STS

Actor-Network-Theory Collected Works (der Gesamtausgabe des Werks John Deweys) Early Works (der Gesamtausgabe des Werks John Deweys) Late Works (der Gesamtausgabe des Werks John Deweys) Middle Works (der Gesamtausgabe des Werks John Deweys) Non-Representational-Theory Science and Technology Studies

VORWORT „Das vorliegende Buch folgt keinem geraden Weg von Anfang bis Ende. Es geht auf die Jagd, und dabei stört es manchmal denselben Waschbär auf verschiedenen Bäumen oder verschiedene Waschbären auf demselben Baum auf – und manchmal auch etwas, was dann am Ende gar kein Waschbär auf keinem Baum ist. Mehr als einmal bockt es vor demselben Hindernis und geht dann anderen Spuren nach. Oft trinkt es aus denselben Flüssen und stolpert durch eine unbarmherzige Landschaft. Und es zählt nicht die Beute, sondern das, was auf dem untersuchten Gelände erkundet worden ist.“ (GOODMAN 1990: 9)

Die vorliegende Arbeit stellt eine Synthese und Weiterentwicklung meiner theoretischen Arbeiten und Überlegungen zu einer Verbindung von Pragmatismus und Geographie aus den vergangenen fünf Jahren dar. Ausgehend von ersten Überlegungen im Zuge meiner Dissertation (STEINER 2009b), wie sich ein konkretes, empirisches, wirtschaftsgeographisches Forschungsprojekt vor dem Hintergrund einer pragmatischen Erkenntnistheorie denken lassen könnte, habe ich mich nach der Veröffentlichung meiner Dissertation verstärkt bemüht, mögliche Potenziale und Konsequenzen des Pragmatismus für die Geographie auf der meta-theoretischen Ebene weiter herauszuarbeiten. Die Veröffentlichung diverser Artikel in Fachzeitschriften (GEISELHART & STEINER 2012; STEINER 2009a, 2012), die Organisation einer Tagung zu Pragmatismus und Geographie1, die ich im Jahr 2009 zusammen mit meinem Erlanger Kollegen Klaus Geiselhart organisierte und aus der sich ein Themenheft zu Pragmatismus und Geographie in den Berichten zur deutschen Landeskunde entwickelte2, sowie die Vorstellung und Diskussion von Teilergebnissen meiner Arbeiten auf Tagungen und in wissenschaftlichen Kolloquien3 stellten wichtige Meilensteine in dieser Entwicklung dar. Die vorliegende 1 2 3

„Neue erkenntnistheoretische Wege geographischen Denkens – Potenziale des Pragmatismus für die Geographie“ (Erlangen 03.–04.12.2009). Pragmatismus und Geographie. Themenheft der Berichte zur deutschen Landeskunde 87 (2012) H. 1. „Economic Geography after the Crisis: Potentials of a Pragmatist Theory of Creative Action“, Vortrag während des AAG Annual Meetings, New York, 24.–28.02.2012; „Humangeographie und Mensch-Umwelt-Forschung: eine pragmatische Perspektive“, Kolloquiumsvortrag am Institut für Geographie der Fakultät für Geo– und Atmosphärenwissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, 01.02.2012; „Reflexivität – Kreativität – Performativität! Kernelemente einer Pragmatischen Geographie“, Kolloquiumsvortrag am Institut für Geographie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 20.05.2010; „Die Finanzkrise als paradigmatischer Wendepunkt?” Vortrag während der Tagung: „Wessen Krise? Ursachen, Reichweiten und mögliche Folgen der Weltwirtschaftskrise“ – Halle (Saale) 29.–31.04.2010;

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Vorwort

Arbeit ist jedoch mehr als eine bloße Addition bereits veröffentlichter Arbeiten. Vielmehr habe ich die Gelegenheit ergriffen, die Struktur alter Publikationen aufzubrechen, meine bisherigen Arbeiten in einem veränderten Gesamtsinnzusammenhang neu zu strukturieren, zu ergänzen und zu erweitern. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit, und weil ein solches Vorgehen den sowieso schon umfangreichen Zitationsapparat vollends gesprengt hätte, habe ich mich deshalb dazu entschieden, Selbstzitate nicht detailliert zu belegen. Wo immer größere Abschnitte im vorliegenden Text wörtlich oder sinnhaft aus meinen früheren Veröffentlichungen entlehnt wurden oder Gedanken aus diesen weiterentwickeln, wurde dies jedoch in Fußnoten benannt und genauer erklärt. Meine Perspektiven auf die Potenziale und Konsequenzen des Pragmatismus für geographisches Arbeiten haben sich in den vergangenen Jahren stetig weiterentwickelt und verändert. Wie das Eingangszitat von Goodman andeutet, war mein eigener Weg der Erkenntnissuche eher ein verworrener, ungeordneter und von Gleichzeitigkeit geprägter Prozess, als dass von einem chronologisch-kontrollierten, rational schrittweise geleiteten Forschungsaufbau gesprochen werden kann. Dass mich dieser Weg zur Bearbeitung erkenntnistheoretischer und philosophischer Fragen hinleiten würde, war dabei zu Beginn keineswegs zwingend – zumal einem dies in der Geographie nicht unbedingt nahe gelegt wird. Im Gegenteil habe ich oft den Eindruck, dass die Beschäftigung mit Erkenntnis- und Metatheorie in großen Teilen der geographischen Gemeinschaft schon fast misstrauisch beäugt wird – und das gilt umso mehr, wenn man sich wie ich als Wirtschaftsgeograph versteht. Wie die meisten Wissenschaftler war ich zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit schlicht auf der Suche nach Theorieangeboten und Methodologien, die für eine Bearbeitung konkreter, empirischer Forschungsfragen viel versprechend erschienen. Dabei habe ich mich teilweise parallel auf verschiedenen Theoriefeldern gleichzeitig fortbewegt, mich in die jeweiligen Gedankengebäude eingelesen, bin über Widersprüche und Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichsten Ansätzen gestolpert und habe mich gefragt, wie ich die verschiedenen Ansätze miteinander verbinden kann bzw. warum diese sich so unversöhnlich gegenüberstehen. Dabei hatte ich früh den Eindruck, dass in der empirischen geographischen Forschung oft ein gewisses Maß eines meta-theoriefreien Praktika-

„Wider den Homo Oeconomicus und die zielorientierte Handlungstheorie – der Pragmatismus als neue Perspektive für die Wirtschaftsgeographie?“ Vortrag während der Tagung „Neue erkenntnistheoretische Wege geographischen Denkens – Potenziale des Pragmatismus für die Geographie“, Erlangen 03.–04.12.2009; „Pragmatische Wirtschaftsgeographie: Ein dynamischer Ansatz zum Verständnis ökonomischer Prozesse“, Vortrag während des „10. Rauischholzhausener Symposiums zur Wirtschaftsgeographie“, Rauischholzhausen, 23.– 25.04.2009; „Materie ist das, was ich (be)greife – zur Performativität des Materiellen und den Grenzen einer Re-Materialisierung der neuen Kulturgeographie“, Vortrag bei der Tagung „Neue Kulturgeographie VI: Geographien nach dem Cultural Turn“, Osnabrück, 23.– 24.01.2009; „Kultur und…“? Überlegungen zu einer nichtdualistischen pragmatischen (Kultur) Geographie“, Vortrag bei der Tagung „Neue Kulturgeographie V: Kulturelle Dimensionen geographischer Praktiken“, Jena, 25.–26.01.2008.

Vorwort

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lismus und einer methodologischen Durchwurstelei herrscht, das ein schales Gefühl bei mir zurückließ. Auf der Suche danach, wie sich Kohärenz und Widerspruchsfreiheit in der eigenen wissenschaftlichen Perspektive sicherstellen lassen konnten, tastete ich mich deshalb lesend langsam weiter vor, nur um am Ende immer öfter festzustellen, dass ich wieder „denselben Waschbär auf einem anderen Baum“ oder „verschiedene Waschbären auf demselben Baum“ (GOODMAN 1990: 9) aufgestöbert hatte. Die Erkundungen der erkenntnistheoretischen Grundlagen geographischen Arbeitens und der geographischen Theoriebildung haben im Laufe der Zeit so dazu beigetragen, dass meine eigene Mental-Map des erkenntnistheoretischen Geländes in der Geographie, seiner Implikationen und Konsequenzen stetig umfangreicher geworden ist, bis ich das Gefühl hatte, mich dem berühmten Sättigungspunkt (CORBIN & STRAUSS 2008: 143; GLASER & STRAUSS 1979: 96), von dem aus sich auf einmal verschiedene Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenfügen, soweit in meiner Forschungsarbeit angenähert zu haben, dass ich beginnen konnte, meine Gedanken aufs Papier zu bringen. Wie ich dabei gerade auf den Pragmatismus gestoßen bin, kann ich heute gar nicht mehr genau sagen. Meiner Erinnerung nach war es letztendlich der Umstand, dass ich zuerst über für mich überraschende Querverbindungen und Parallelen in den Theorien organisationalen Lernens, der interpretativen Soziologie, aktuellen Ansätzen der Kulturtheorien, der Grounded Theory und dem sozialen Konstruktivismus stolperte, die mich stutzig machten und von denen sich schließlich bei genauerer Betrachtung zeigte, dass ich immer den gleichen Waschbären auf immer wieder anderen Bäumen aufgestöbert hatte. Zuerst begann ich mich daher mit dem Pragmatismus vor allem deshalb zu beschäftigen, um Ordnung in meine eigene erkenntnis- und meta-theoretische Landkarte zu bringen. Gerne würde ich jetzt behaupten, dass ich dabei früh das Potenzial des Pragmatismus erkannt habe – gerade für die Thematisierung von Mensch-Umwelt-Beziehungen. Ehrlicherweise war es so jedoch nicht. Dass sich aus meiner Beschäftigung mit dem Pragmatismus ein eigenes Projekt entwickelt hat, ergab sich erst im Laufe der Zeit, in der ich immer mehr in das Thema hineingerutscht bin und über die hinweg sich schließlich eine größere Idee zu entwickeln begann. Das vorliegende Buch ist vor diesem Hintergrund deshalb keineswegs als abgeschlossenes Projekt zu verstehen. Stattdessen sehe ich in ihm einen gedanklichen Zwischenstand auf meinem metatheoretischen Weg, der mir jedoch soweit gefestigt erscheint, dass eine erste Zwischenbilanz auch für andere wertvolle Hinweise liefern könnte. Meine Erkenntniswege zu diesem Punkt liefen dabei, wie ich schon andeutete, zumeist weder in zeitlicher noch thematischer Hinsicht wohl geordnet ab. Arbeitsunterbrechungen sind im Universitätsalltag der Normalfall: Anliegen von Kollegen und Studierenden, drängende Verwaltungsarbeiten, Gutachten, Anträge, die nächste Reform unserer Studiengänge, die Vorbereitung und Durchführung von Lehrveranstaltungen und der Besuch von Kolloquien sowie die private Lebensführung reißen einen immer wieder aus der Arbeit und der Entwicklung der eigenen Gedanken heraus. So ungelegen einem diese Unterbrechungen manchmal sein mögen (oft sind wir ja auch froh um sie), so wichtig sind sie gleichzeitig für eine gute wissenschaftliche Arbeit – erhält man so doch oft auch Gedankenanstöße in

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Vorwort

Form abduktiver Geistesblitze (vgl. Kapitel 3.1.3.1.), auf die man mit einer gezielten Suche nie gestoßen wäre. Oft sind es Vorträge und Kommentare von Kollegen oder Fragen von Studierenden, die – eventuell auch nur durch einen Nebensatz – dazu anregen, den eigenen Forschungsgegenstand in immer wieder wechselndem Licht zu sehen. Private Auszeiten helfen einem vor allem, wenn man sich an einem Punkt festgefahren hat. Nicht nur das Bohren dicker Bretter im Allgemeinen, sondern vor allem auch intensive Reflexion und die wissenschaftlichen Arbeiten innewohnende Kreativität4 brauchen deshalb vor allem etwas, das in den Zeiten des Antrags- und „Exzellenzstalinismus“ (WEICHHART 2012) sowie des Kontroll- und Evaluationswahns an deutschen Universitäten immer kostbarer und seltener wird (BRANDT 2011) – Zeit, Freiheit, Ruhe und Muße. Erst diese ermöglichen es, theoretische Konzeptionalisierungen und Interpretationen in einer sich durchdringenden Gleichzeitigkeit zu verschmelzen und zu (für sich) neuen Erkenntnissen zu gelangen. Der Weg dahin entzieht sich dann jedoch natürlich eigentlich jeder unmittelbaren Verschriftlichung. Das vorliegende Buch ist insofern der Versuch einer nachträglichen Rekonstruktion und geordneten Darstellung meiner eigenen verworrenen und zum Teil überraschenden Begegnungen mit den verschiedensten Waschbären auf der Jagd nach einem alternativen erkenntnistheoretischen Zugang zur Mensch-Umwelt-Forschung. Auf dieser Jagd haben besonders die Diskussion und der Austausch mit Kollegen und Freunden Einfluss auf meine Arbeit genommen. Auch wenn oder vielleicht gerade weil die Gruppe von Geographen, die mit pragmatischen Ansätzen vertraut ist oder diesen zumindest Interesse entgegen bringt, recht überschaubar ist, war der Austausch mit interessierten Kollegen für mich enorm bereichernd und ermutigend, dieses etwas sperrige Thema weiter zu verfolgen.5 Insbesondere der fruchtbare und konstruktive Austausch mit Klaus Geiselhart6 und Ute Wardenga über die Potenziale des Pragmatismus hat meine Arbeiten um manche Facette bereichert. Hierfür bin ich Klaus und Ute zutiefst zu Dank verpflichtet. Weitere wertvolle und kritische Anregungen für meine Arbeiten entstammen Gesprächen mit Stefan Berwing, Marc Boeckler, Georg Glasze, Philippe Kersting, Stefan Ouma, Robert Pütz und Steffen Wippel. Einem kurzen Zusammentreffen mit Trevor Barnes am Rande eines Institutskolloquiums in Frankfurt habe ich wichtige

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Soweit wissenschaftliches Arbeiten nicht nur, wie leider allzu oft zu beobachten, im (meta-) theoretisch reflexionsbefreiten Befolgen methodologischer Kochrezepte besteht. In diesem Zusammenhang bin ich vor allem auch den hier nicht namentlich erwähnten Teilnehmern der oben erwähnten Tagung zu Pragmatismus und Geographie in Erlangen für ihre Beiträge und Feedback zu Dank verpflichtet. Klaus bin ich zudem zutiefst zu Dank dafür verpflichtet, dass er keinerlei Einwände dagegen hatte, dass ich Gedanken und Formulierungen aus dem von uns gemeinsam verfassten Artikel zu Pragmatismus und Geographie (GEISELHART & STEINER 2012) in das hier vorliegende Buch einarbeite. Wie immer bei einer gemeinsamen Autorenschaft, die mit einer intensiven Diskussion des Textes über mehrere Entwicklungsstufen einhergeht, wäre es auch in diesem Fall kaum möglich gewesen im Nachhinein noch eindeutig zu unterscheiden, welche Gedanken in unserem gemeinsamen Artikel von wem stammen und sich auf diese zu beschränken.

Vorwort

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Anregungen in Bezug auf die Rezeption des Pragmatismus in der angelsächsischen Geographie für meine Arbeiten entnehmen können. Carsten Felgentreff danke ich herzlich für seine konstruktive Kritik an meinem Überblickskapitel zum Feld der geographischen Mensch-Umwelt-Forschung und Andreas Pott für seine Geduld im Umgang mit meinen Nachfragen zur Systemtheorie. Für seine hilfreiche Kritik, insbesondere an dem philosophiegeschichtlichen Teil meiner Arbeit, und dafür, dass er mich vor mittlerweile fast zwanzig Jahren erstmals mit der Philosophie Paul Feyerabends bekanntgemacht hat, bin ich Lars Pilz in besonderem Maße dankbar. Unsere wiederkehrenden philosophischen Diskussionen (und Differenzen) haben mir nicht nur geholfen, meine eigene Argumentation zu schärfen, sondern immer wieder wichtige neue Perspektiven eröffnet. Wie sehr unsere Diskussionen meine Arbeit und meinen Denkstil geprägt haben, mag ihm vielleicht erst deutlich geworden sein, als er das vorliegende Buch als Erster einer kritischen inhaltlichen Sichtung unterzog. Einer Unterhaltung mit Hans Joachim Schubert verdanke ich für mich entscheidende Anregungen zum Verständnis des Handlungskonzepts im Pragmatismus. Dem Dewey Center der Universität zu Köln danke ich herzlich für die Möglichkeit der Nutzung seiner umfangreichen Bibliothek. Der kritische Zuspruch etablierter Kollegen wie Martin Coy, Heiner Dürr, Peter Meusburger, Günter Meyer, Eike W. Schamp, Ute Wardenga und Peter Weichhart, meinen Weg weiter zu verfolgen, haben mich in den unterschiedlichen Phasen der Arbeit immer wieder motiviert, mir meine wissenschaftliche Agenda nicht von den Karrierelogiken des deutschen Wissenschaftssystems diktieren zu lassen, auch wenn sich die Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Fragen nicht so recht in den Mainstream geographischer Forschungspraxis und die Logik der scheinbar für den Nachweis exzellenter Forschung notwendigen Drittmittelakquisition und schneller Publikationszyklen einpassen will und insofern wenig karriereförderlich erscheint.7 Bei aller diesbezüglich notwendigen (und zweifelsfrei hinreichend vorhandenen) Dickschädeligkeit und dem hierfür erforderlichen Enthusiasmus wäre mir meine Arbeit kaum möglich gewesen ohne die alles andere als selbstverständliche Unterstützung des Instituts für Humangeographie (IHG) der Goethe-Universität Frankfurt, dem ich durch seine unkonventionelle Finanzierung meiner Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Anschluss an meine Mainzer Zeit nicht nur den finanziellen und zeitlichen Spielraum verdanke, der die Fertigstellung der vorliegenden Arbeit ermöglichte, sondern das mir neben einem sehr angenehmen und höchst inspirierenden Arbeitsumfeld vor allem auch ein Maß an Vertrauen und 7

Ob dies im Sinne einer individuellen Zukunftssicherung eine gute Entscheidung war, wird sich wohl allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt beurteilen lassen. Wie DÜRR bereits Ende der 1990er Jahre (1999: 194) beobachtet, ist eine Karriere in der deutschsprachigen Geographie nämlich am ehesten durch die Konzentration auf Publikationen spezialisierter Forschungsergebnisse, die am besten in eigener Feldforschung erhoben wurden, zu erreichen und nicht durch die Analyse und Interpretation theoretischer Literatur, die darauf abzielt, zur Stabilisierung und Konsolidierung der konzeptionellen Basis der Disziplin beizutragen.

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Vorwort

Freiheit für meine Suchprozesse entgegenbrachte, das seinesgleichen suchen dürfte. Dabei möchte ich insbesondere die Unterstützung durch Marc Böckler, Peter Lindner und Robert Pütz hervorheben. Hierfür bin ich umso dankbarer, als meine Arbeit zu Pragmatismus und Geographie weitgehend quer zu den am Institut etablierten Forschungsschwerpunkten liegt und insofern wenig zu der allenthalben im modernen deutschen Universitätsalltag geforderten Profilbildung wissenschaftlicher Einrichtungen beigetragen hat. Dank schulde ich auch dem Institut für Geographie (IfG) der Universität Osnabrück und hier insbesondere Andreas Pott für die Einladung zu einer insgesamt zwei Jahre andauernden Vertretung der dortigen Professur für Wirtschaftsgeographie und Regionalentwicklung. Nicht nur wurde ich äußerst offen und herzlich am Institut empfangen, sondern mir wurde auch viel Verständnis für die zeitliche Belastung entgegen gebracht, die mit der Fertigstellung eines solchen Buches verbunden ist. Ein besonders herzliches Dankeschön möchte ich an Jürgen Hasse und Peter Weichhart richten, die sich bereiterklärt haben, die vorliegende Arbeit zu begutachten und sich dafür auch nicht von dem unverhofft an sie herangetragenen, nicht unerheblichen Arbeitsaufwand haben schrecken lassen. Jürgen Hasse gebührt darüber hinaus mein besonderer Dank dafür, mir mit seinem Verweis auf die Konzepte von Leiblichkeit und Mitwelt entscheidende Anstöße gegeben zu haben, um den sich verändernden Vorstellungen von Mensch-Umwelt-Beziehungen in pragmatischer Perspektive auch eine begrifflich und konzeptionell angemessene Ausdrucksform zu verleihen. Ohne die Unterstützung vieler Personen im Hintergrund wäre ein solches Buchprojekt kaum realisierbar. In den Sekretariaten des IHG und IfG haben mich insbesondere Elke Lerch, Dorothy Hauzar, Karin Schumacher und Dorit Heckeroth von Verwaltungsarbeiten entlastet. Florian Stoll in Frankfurt und Rolf Wintgens in Osnabrück haben mir als wissenschaftliche Hilfskräfte durch die Übernahme von Recherche- und Bibliotheksarbeiten sowie die Unterstützung meiner Lehrtätigkeiten indirekt wichtige Zeitressourcen für meine Forschungsarbeit erschlossen und so erheblich zur Fertigstellung des vorliegenden Buches beigetragen. Martin Coy, Anton Escher und Thomas Krings danke ich für die Bereitschaft, den vorliegenden Band in das Erdkundliche Wissen aufzunehmen. Susanne Henkel gebührt stellvertretend für alle MitarbeiterInnen des Steiner Verlags Dank für ihre nimmermüde Hilfsbereitschaft und Geduld in der Produktion dieses Buches. Sandra Petermann danke ich herzlich für die Idee des Titelbildes und bei Carsten Felgentreff stehe ich in der Schuld dafür, diese photographisch ins Bild gesetzt zu haben. Die Fehler in meiner Syntax, Rechtschreibung und kreativen Zeichensetzung zu entwirren haben sich dankenswerterweise Meike Jöst und Myrjam Wüst zur Aufgabe gemacht. Für alle etwaigen Fehler, Ungenauigkeiten und Missinterpretationen trage ich selbstverständlich dennoch die alleinige Verantwortung. Mainz, im Juni 2014 Christian Steiner

1. PRAGMATISMUS ALS THEMA FÜR MENSCH-UMWELTFORSCHUNG UND GEOGRAPHIE? Die steigende Aufmerksamkeit für die Ursachen und Folgen des anthropogen verursachten Klimawandels, die steigende Verletzlichkeit einer wachsenden Weltbevölkerung für Georisiken und die erhöhte Sensibilität für die Komplexität von Mensch-Umwelt8-Beziehungen haben in den vergangenen 20 Jahren den Ruf nach integrativen Forschungsansätzen in der Mensch-Umwelt-Forschung immer lauter werden lassen (vgl. bspw. HIRSCH 1995; MITTELSTRAß 1992). Der Trend zu interdisziplinären Mensch-Umwelt-Forschungsansätzen wurde zudem bestärkt durch den zunehmenden (inner-) universitären Kampf um Ressourcen und die Konjunktur universitärer Verbundforschung, die die Konstruktion interdisziplinärer Forschungsprojekte nahe legen. Die in der Folge mittlerweile fast schon ubiquitär in sich wechselseitig bestärkenden Forschungsprogrammausschreibungen und Antragsprosa zu vernehmende Forderung nach einer Interdisziplinarität von Forschungsansätzen hat dazu geführt, dass auch innerhalb der Geographie die Forderung nach einer innerdisziplinären Interdisziplinarität im Schnittfeld von Physischer und Humangeographie immer deutlicher vernehmbar wurde. Wie WARDENGA & WEICHHART (2006: 12) festgestellt haben, sieht sich diese Forderung jedoch dem Problem gegenüber, dass sich Physische Geographie und Humangeographie in den vergangenen Jahrzehnten weit auseinanderentwickelt haben. Während die einen sich immer stärker an der Fach- und Forschungskultur der Naturwissenschaften orientierten, haben sich die anderen vor allem dem kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorieangebot ihrer Nachbarwissenschaften geöffnet. Die Folge ist, dass beide Teilbereiche der Geographie kaum mehr eine gemeinsame Sprache sprechen und es „sowohl an theoretisch-methodologischen als auch an empirischen Ansätzen“ fehlt (MÜLLER-MAHN & WARDENGA 2005b: 5), die den integrativen Charakter und die damit potenziell vorhandene Stärke des Faches in einer neuen Schnittstellenforschung auf zeitgemäße Weise neu formu-

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Wie WEICHHART (2007: 942) festgestellt hat, wird der Begriff der Umwelt im Alltagsgebrauch, aber oft auch in der Fachliteratur, sehr unscharf verwendet und nicht selten synonym für Natur verwendet. Die vorliegende Arbeit operiert demgegenüber mit einem nichtabsoluten, relationalen Umweltbegriff, wie ihn Weichhart an anderer Stelle beschrieben hat (WEICHHART 1979). Ein solches humanökologisches Umweltverständnis schließt dann außer der physischen auch die gebaute Umwelt sowie sozioökonomische und kulturelle Umwelten mit ein. Die Problematik und Möglichkeit unterschiedlicher Begriffsdefinitionen sowie ihrer Eignungen und Konsequenzen wird aus erkenntnistheoretischer Perspektive im Verlauf der Arbeit noch eingehend diskutiert.

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lieren. Dementsprechend erscheint es in Diskussionen oft als lebten beide Teildisziplinen in verschiedenen (Wissenschafts-) Welten (DÜRR 1999: 196). 9 Während sich Physische Geographen10 zunächst an positivistischen,11 und seit dem Kieler Geographentag 1969 verstärkt an vor allem kritisch-realistischen12 Wegen der Modellierung von Prozessen orientieren (vgl. POHL 2005: 43), wenden sich Humangeographen im Zuge des Cultural Turns von quantifizierenden Perspektiven ab und arbeiten zunehmend mit im weitesten Sinne konstruktivistischen Ansätzen13 (vgl. WARDENGA 2005: 16). Konstruktivistische Perspektiven sind jedoch mit einer positivistischen und (kritisch-) realistischen Auffassung von Mensch-Umwelt-Interaktionen nicht vereinbar. Das Schweigen zwischen den beiden Teildisziplinen ist daher zu einem nicht geringen Teil auch in der Inkommensurabilität der erkenntnistheoretischen Perspektiven von Human- und Physischen Geographen begründet (PROCTOR 1998a: 239). Die in der Physischen Geographie verbreiteten, szientistischen oder kybernetisch-systemtheoretischen Ansätze bieten deshalb aus Sicht einer modernen Hu-

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Die nachfolgende Problemskizze baut auf einem meiner Artikel in den Berichten zur deutschen Landeskunde auf (STEINER 2009a) und entwickelt die dortige Argumentation weiter fort. Insbesondere auf den nächsten beiden Seiten finden sich deshalb sowohl sinngemäße als auch wörtliche Entlehnungen aus dem genannten Artikel, die im Sinne der besseren Lesbarkeit im Folgenden nicht im Einzelnen als Eigenzitat kenntlich gemacht sind. Wenn in der vorliegenden Arbeit Allgemeinbegriffe in ihrer maskulinen Form benutzt werden, schließt das gedanklich für mich sowohl Männer wie Frauen mit ein. Dass die vorliegende Arbeit nicht geschlechtsneutral geschrieben wurde, hat ausschließlich damit etwas zu tun, dass alle hierfür gängigen Formulierungsversuche meinem Sprachempfinden nach den Lesefluss zusätzlich behindern. Ich bin mir bewusst darüber, dass dies nicht allen Erwartungen an politisch-korrekte Wissenschaft gerecht werden mag, kann hierfür jedoch leider keine für mich befriedigende sprachliche Lösung offerieren. Der Positivismus will „wissenschaftliche Arbeiten auf die Erfassung und Erklärung beobachtbarer, erfahrbarer Tatsachen“ begrenzen, da nur das Gegebene (das „Positive“) Ausgangspunkt der Erkenntnissuche sein könne. Der Positivismus lehnt deshalb jede Art von Metaphysik ab, die sich nicht durch Erfahrung bestätigen lässt (HILLMANN 1994: 681). Der Realismus behauptet, dass die Wirklichkeit unabhängig von menschlichen Erfahrungen und dem menschlichen Bewusstsein existiert und Menschen mit ihren Sinnen Zugang zu einer bewusstseinsunabhängigen Welt haben. Sinnliche Wahrnehmung ist demnach eine Art „Spiegel der Natur“ (vgl. WELLMER 2000: 529). Der Kritische Realismus hinterfragt den im Realismus angenommenen unmittelbaren Zugang der Wahrnehmung zum Wahrnehmungsgegenstand und geht davon aus, dass wir uns der objektiv existierenden Welt nur indirekt nähern können, unsere Wahrnehmung die Welt nicht direkt, sondern nur zeichenhaft abbilden kann. Wie im Realismus wird aber weiterhin angenommen, dass die Welt objektiv existiert und dass unsere Wahrnehmung auf real existierende Dinge verweist (HÜGLI & LÜBCKE 2005: 364). Trotz aller Unterschiede der verschiedenen Teilströmungen des Konstruktivismus (vgl. Kapitel 2.4.1.) teilen alle konstruktivistischen Perspektiven in Abgrenzung zum Positivismus die Überzeugung, dass die Welt nicht einfach gegeben ist, sondern unser Eindruck der Welt das Ergebnis der Konstruktionsleistung des wahrnehmenden Menschen ist. Unser Bild der Welt ist daher ein von Menschen Hervorgebrachtes und nicht schlicht ein Spiegel der Natur, wie es alle Arten von realistischen Positionen nahelegen würden.

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man- und Wirtschaftsgeographie nach dem Cultural Turn kaum eine geeignete Basis für integrative Ansätze in der Geographie (vgl. GEBHARDT 2005: 30). Aus der Perspektive einer Neuen Kulturgeographie würde deren Akzeptanz bedeuten, die eigene Entwicklung und Fortschritte der letzten 20 Jahre ignorieren zu müssen. Der Weg über kybernetisch-systemtheoretische Konzepte und Theorien zurück zu positivistischen oder (kritisch-) realistischen Perspektiven ist für viele Humangeographen daher kaum gangbar. Für positivistische und (kritisch-) realistisch arbeitende (Physische wie auch Human-) Geographen gleichen andererseits konstruktivistische Perspektiven oft einer Zumutung. Aus ihrer Perspektive schütten viele konstruktivistische Theorien das Kind mit dem Bade aus. So kann z. B. in diskursanalytischen (vgl. bspw. GLASZE & MATTISSEK 2009; HUSSEINI DE ARAÚJO 2011; MATTISSEK 2007) und systemtheoretischen Ansätzen im Anschluss an LUHMANN (vgl. bspw. EGNER 2006, 2008a; LIPPUNER 2010) das Wechselspiel zwischen Mensch und Materie sinnvoll nur als Teil von Kommunikation bzw. als Text konzeptionalisiert werden. Ein Zugang zu nicht-sprachlich verfassten Wirklichkeiten ist ihnen nicht möglich. Umwelt, Natur und Materie „an sich“ kann daher aus einer solchen Perspektive nicht Gegenstand humangeographischer Forschung sein. Die Dekonstruktion von Repräsentationen wird hier zum zentralen Ziel der Forschung. Wenn aber in einem übertriebenen „Populärdekonstruktivismus“ alles auf den derridaschen Slogan „Alles ist Text“ eingedampft wird (SANDBOTHE 2002), blendet die Aufhebung „der“ Realität in Sprache und Diskursen den praktischen und unmittelbaren Einfluss von Materialität und Natur auf menschliche Handlungen aus, was (nicht nur) aus positivistischer und kritisch-realistischer Perspektive kaum akzeptabel erscheint und (auch innerhalb der Humangeographie) zur Forderung einer „Rematerialisierung“ humangeographischer Theoriekonzepte geführt hat (KAZIG & WEICHHART 2009; LEES 2002: 110). Diskurstheorie wie Systemtheorie argumentieren zudem sehr stark strukturalistisch bzw. systemisch und lösen sich damit vom Individuum und seinen Handlungsmotiven ab. So fruchtbar die starke überindividuelle Orientierung beider Ansätze für humangeographische Studien auf der Makroebene ist, so problematisch ist sie jedoch für eine empirisch im Gelände und am einzelnen Menschen ansetzende geographische Forschung. Gerade der gemeinsame empirische (Feld-) Zugang zu „Wirklichkeit“ scheint jedoch eine gute Voraussetzung für integrative Arbeiten in der Geographie zu bieten. Die Suche nach einer „Hintergrundtheorie“ (WARDENGA & WEICHHART 2006: 18), die einen gemeinsamen Weg von Physischer und Humangeographie ermöglicht, stellt Wissenschaftstheoretiker insofern vor erhebliche Herausforderungen (DÜRR 1999: 196). Von einer integrativen Bearbeitung von Mensch-Umwelt-Beziehungen kann daher oft keine Rede sein. Vielmehr lebt man nebeneinander her, bearbeitet eventuell auch gemeinsame Gegenstände, entwickelt jedoch keine wahrhaft integrierenden, sondern zumeist nur die Einzelperspektiven unterschiedlicher Teildisziplinen des Faches schlicht aufaddierenden Forschungsansätze. Von der angestrebten innerdisziplinären Interdisziplinarität bleibt angesichts der oben geschilderten

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theoretisch-konzeptionellen Probleme so oftmals nicht mehr als ein multidisziplinäres Nebeneinander unterschiedlichster Ansätze im selben Verbundprojekt übrig. Obwohl insofern schon der Weg von einer multi- zu einer interdisziplinären Perspektive schwierig ist, erscheint mir auch die Entwicklung interdisziplinärer Ansätze nicht hinreichend, will man wirklich zu einer integrativen Perspektive auf Mensch-Umwelt-Forschung gelangen. Wie bereits MITTELSTRAß (1992: 250) festgestellt hat, rücken in ihr doch „nur auf Zeit partikulares Wissen und disziplinäre Sonderwege ein wenig zusammen“ (ebd.), ohne die Schranken disziplinärer Perspektiven nachhaltig zu überwinden und zu einer wirklich integrierten Perspektive lebensweltlich komplexer Probleme zu gelangen, die sich nicht (inter-) disziplinär eingrenzen lässt. Ausgehend von der Umweltforschung hat sich daher seit rund 20 Jahren ein Diskurs etabliert, der vehement für den Übergang von einer inter- zu einer transdisziplinären Perspektive plädiert (vgl. bspw. FEICHTINGER et al. 2004; HIRSCH 1995; JAEGER & SCHWERINGER 1998; MITTELSTRAß 1992, 2003, 2005). In diesem Sinne hat sich parallel zu der Diskussion in der Umweltforschung auch eine ganze Reihe von Geographen auf die Suche nach einer „Dritten Säule“ (WEICHHART 2003: 25) der Geographie begeben und sich bemüht, den innerdisziplinären Graben zwischen den beiden Teildisziplinen zu überbrücken.14 Der klassischen Zweiteilung der Disziplin soll dabei eine eigenständige dritte Säule einer geographischen Mensch-Umwelt-Forschung mit einem eigenständigen Problematisierungsstil anbei gestellt werden. Die naturwissenschaftliche Abschätzung von Umweltveränderungen und -gefahren soll so mit der Frage nach der Interdependenz von Mensch und Natur sowie der Anpassungsfähigkeit und -möglichkeit sozialer Systeme verknüpft und hierzu eine integrative Betrachtungsweise entwickelt werden. In diesem Zusammenhang spielen wirtschaftsgeographische Fragestellungen, bspw. im Rahmen der Nachhaltigkeitsforschung oder der Global Change- und Adaptionsforschung, eine bedeutende Rolle. Umso erstaunlicher ist es, dass Wirtschaftsgeographen sich bisher eher zurückhaltend in die konzeptionelle Diskussion um die Möglichkeit der Entwicklung integrativer Perspektiven in der Geographie eingebracht haben. Dies mag auch daran liegen, dass das Grundproblem integrativer Ansätze sehr viel weiter und tiefer reicht, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. 1.1. TRANSDISZIPLINARITÄT UND DIE DRITTE SÄULE Das Grundproblem integrativer Ansätze weist im Kern zwei Problemdimensionen auf: eine vordergründig inhaltlich-theoretische und eine meta-theoretische. Wenden wir uns erst der inhaltlich-theoretischen Problembestimmung zu, bevor wir später auf die meta-theoretische Problemdimension zurückkommen.

14 Für einen Überblick vergleiche MÜLLER-MAHN & WARDENGA (2005a) sowie das Themenheft „Auf dem Weg zur Dritten Säule“ 148/2006 der Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Geographie.

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Auf der inhaltlich-theoretischen Ebene lässt sich das im Rahmen der Diskussion um die Entwicklung einer Dritten Säule und damit der Lösung des Schnittstellenproblems in der Geographie diskutierte Problem verkürzend in der Frage zusammenfassen, wie es möglich ist, Sozio-Kulturelles mit dem Physisch-Materiellen zusammenzudenken. Aus einer humangeographischen Perspektive stellt sich dabei vor allem die Frage, wie es möglich ist, einen sinnvollen Zugang zu menschlichen Umwelten und damit auch zu Natur und Materialität in humangeographischer Theorie und Forschungspraxis zu entwickeln. Hierzu haben eine ganze Reihe von Geographen umfangreiche und zum Teil sehr detailliert ausgearbeitete Vorschläge vorgelegt, die bspw. von Human- und Kulturökologie (bspw. FLITNER 2003; MEUSBURGER & SCHWAN 2003; WEICHHART 2007) über Komplexitätstheorien (bspw. DIKAU 2006; RATTER 2001, 2006; RATTER & TREILING 2008), kybernetisch argumentierenden physisch-geographischen und soziologisch inspirierten Systemtheorien (bspw. EGNER 2006, 2007, 2008a; EGNER et al. 2008; ELVERFELDT 2012; ELVERFELDT & GLADE 2010; ELVERFELDT & KEILER 2008; KLÜTER 2003; LIPPUNER 2005, 2010; WARDENGA & WEICHHART 2006), zur Sozialökologie Wiener (FISCHER-KOWALSKI & ERB 2006; FISCHER-KOWALSKI et al. 1997; FISCHER-KOWALSKI & WEISZ 1999) sowie Frankfurter Provenienz (BECKER 2003; BECKER & JAHN 2003, 2006; JAHN 2003, 2005), zur Politischen Ökologie (bspw. COY & KRINGS 2000; KRINGS 2007, 2008), der Risiko- und KatastrophenForschung (bspw. FELGENTREFF & GLADE 2008) und zu diversen poststrukturalistischen Theorieangeboten (bspw. JÖNS 2003; SCHLOTTMANN et al. 2010; ZIERHOFER 1999, 2003) reichen. So fruchtbar sich diese Ansätze für spezifische Problemstellungen in der Vergangenheit erwiesen haben, so teilen alle diese Ansätze – trotz der erheblichen Differenzen zwischen ihnen – jedoch die Gemeinsamkeit, dass sie sich nur randlich mit erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigen. Sie gehen damit dem tiefer liegenden, erkenntnistheoretischen Problem, das einer Integration der beiden Teildisziplinen im Wege steht, aus dem Weg.15 Denn die Frage nach der Konzeptionalisierung von Mensch-Umwelt-Beziehungen und der Verbindung von SozioKulturellem mit dem Physisch-Materiellen verweist immer auch auf die erkenntnistheoretische Ebene zurück. Solange aber kein erkenntnistheoretischer Brückenschlag zwischen positivistischen und (kritisch-) realistischen Perspektiven auf der einen und weitestgehend konstruktivistischen Positionen auf der anderen Seite gelingt, so lange bleiben alle Versuche, zu einer gemeinsamen fachtheoretischen Perspektive zu gelangen, auf Sand gebaut, fehlt ihnen doch gerade das, wonach sie suchen – ein gemeinsames Fundament. Die Suche nach integrativen Ansätzen dient dann letztlich nicht mehr der Überwindung des Grabens zwischen den beiden Teildisziplinen, sondern nur noch der Suche nach einem Gegenüber auf der anderen Seite des Grabens, der die gleiche erkenntnistheoretische Positionierung mitbringt. Die eine Seite der Medaille bilden so Physische Geographen, die sich quantitativ denkende, anthropogene Einflussfaktoren für Modellierungen von 15 Vgl. hierzu Kapitel 4.1.2.

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Mensch-Umwelt-Interaktionen bestimmende Humangeographen wünschen. Die andere Seite stellen konstruktivistische Humangeographen, die sich der Dekonstruktion von Mensch-Umwelt-Beziehungen verschrieben haben und dafür Physische Geographen suchen, die die etablierten Modellbildungen mit ihnen gemeinsam hinterfragen. Beide Seiten verharren letztlich in den altbekannten Gräben und tendieren dazu, der jeweils anderen Seite Ignoranz und mangelnden Integrationswillen vorzuwerfen. Ich bin daher überzeugt, dass die Suche nach gemeinsamen fachtheoretischen Perspektiven und empirischen Analyserahmen zwar weiterhin notwendig, jedoch alleine keineswegs hinreichend ist. Vielmehr muss sich eine wirklich integrative Betrachtung von Mensch-Umwelt-Beziehungen auch den dem Thema innewohnenden erkenntnistheoretischen Problemen stellen, will sie einen Beitrag dazu leisten, den Graben zwischen der naturwissenschaftlich geprägten Physischen Geographie und der sozial- und kulturwissenschaftlich geprägten konstruktivistischen Humangeographie zu überbrücken. Warum, so mag sich mancher dennoch denken, soll sich jedoch ausgerechnet die relativ „unphilosophische“ Geographie mit solchen ontologischen Problemen „herumschlagen“ (POHL 1993: 260). Gibt es nicht genug wichtige Themen und Fragestellungen für die Geographie, als dass sie sich nun auch noch hiermit beschäftigen sollte? Kann man denn keine integrative Perspektive auf Mensch-Umwelt-Beziehungen entwerfen, ohne jetzt auch noch zum Philosophen werden zu müssen? Geht das nicht einen Schritt zu weit? Ein solcher Vorbehalt erscheint zumindest auf den ersten Blick durchaus berechtigt. Bei näherer Überlegung fällt die Antwort auf diese Fragen jedoch etwas differenzierter aus, denn jede wissenschaftliche Arbeit sieht sich natürlich mit der Frage konfrontiert, wie sie ihren Geltungsanspruch legitimiert. Diese Frage verweist nicht nur auf die rein inhaltliche Ebene von „Fakten“ und „Tatsachen“, denn wenn eine Forschungsarbeit den Anspruch erhebt, mehr als eine individuelle Meinungsäußerung zu sein, muss sie bekanntlich ihren Gegenstand möglichst vollständig erfassen, widerspruchsfrei sein und ihren eigenen Anspruch legitimieren (SCHÜLEIN & REITZE 2005: 9). Die hierzu verwendeten Theorien verlangen jedoch selbst wiederum nach einer Absicherung, die ihnen die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zur Verfügung zu stellen versucht. Die Aufgabe der Erkenntnistheorie ist es dabei, „nach der Begründung unserer Überzeugungen“ zu fragen (CRAIG 1979: 86). Wie HARD (1973: 110) diesbezüglich treffend formuliert hat, haben wir insofern keine Wahl, ob wir Meta-Theorie betreiben wollen oder nicht, da in jeder wissenschaftlichen Arbeit zumindest implizit meta-theoretische Annahmen enthalten sind. Philosophie prägt daher implizit oder explizit jede geographische Forschung. Was uns lediglich bleibt, ist die Entscheidung, ob wir offen und somit kontrollier- und kritisierbar oder „unter der Hand und blindlings“ MetaTheorie betreiben (ebd.). Für die Geographie liegt meiner Meinung nach ein doppelter Gewinn in der Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Fragen begründet: Erstens ist sie Voraussetzung dafür, zu einer wirklich integrativen Perspektive in der Geographie zu gelangen und damit das Schnittstellenproblem zwischen Physischer und Humangeographie neu zu fassen und einer Lösung zuzuführen. Zweitens ist die Frage

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nach der Art und Möglichkeit des erkenntnistheoretischen Zugangs zu unserer Umwelt an und für sich auch eine urgeographische Frage, denn sie ist ja nichts anderes als ein meta-theoretisches Interesse dafür, wie man Wissen über die Welt, in der wir leben, gewinnen kann. WERLEN (1999: 138) hat in diesem Sinne bereits darauf hingewiesen, dass das jeweilige Raumverständnis deshalb auch entscheidend für die Beurteilung der Angemessenheit von Aussagen über das Verhältnis von Mensch und Natur bzw. Umwelt ist. Dies sollte die Geographie eigentlich von sich aus schon interessieren, da sie einen „sehr umfassenden Erkenntnisanspruch“ (ARNREITER & WEICHHART 1998: 53) formuliert, indem sie bspw. beansprucht, Orientierungswissen über unsere Lebenswelt für Schule und Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Sich selbst zu orientieren, sich kritisch zu verorten, erscheint angesichts dieses Anspruchs dringend notwendig zu sein. Gerade für die Geographie erscheint es mir dabei ureigenste Aufgabe zu sein, kritisch darüber zu reflektieren, welchen (epistemischen) Gehalt das von ihr produzierte Wissen über unsere „Lebenswelt“ und über das, was wir „Raum“ und/oder „Umwelt“ nennen, hat und wie sich diese doch sehr geographischen Begriffe unterscheiden. Dies als gegeben annehmend lässt sich gleichzeitig jedoch feststellen, dass in der Vergangenheit erkenntnistheoretische Reflexionen in der deutschsprachigen Geographie nur in einem sehr bescheidenen Rahmen abgelaufen sind (vgl. WARDENGA 2006: 32ff). Die schon früher an anderer Stelle beklagte, weit verbreitete Weigerung, sich mit erkenntnistheoretischen Fragen zu beschäftigen (vgl. HARD 1973: 106; ARNREITER & WEICHHART 1998: 76f), hat sicherlich nicht unbeträchtlich zu einer langjährigen Beharrlichkeit in der Verfolgung traditioneller Konzepte von Geographie beigetragen (vgl. SAHR 2003a: 240f). Die dabei vertretenen erkenntnistheoretischen Positionen fußten im Wesentlichen auf einem unhinterfragten (naiv-) realistischen16 bzw. positivistischen Verständnis von Welt und Wirklichkeit oder auf einem kritisch-rationalistischen Standpunkt einer wie auch immer begründeten Abbildtheorie17 (vgl. JOHNSTON 1983; INKPEN 2005: 25ff; WARDENGA 2006: 32ff).18 Die Mehrheit der Geographen wurde in der Vergangenheit schon in realistischer Perspektive sozialisiert (vgl. WARDENGA 2002: 10) und stellte diese Sozialisation meist nicht in Frage, weshalb realistische

16 „Naiven Realismus nennt man (…) diejenige erkenntnistheoretische Position, die davon ausgeht, dass die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen“ (KLÜTER 1986: 91). Der naive Realismus weist insofern zumindest in der Konsequenz für die Forschungspraxis deutliche Parallelen zum Positivismus auf. 17 Die Abbildtheorie geht davon aus, dass unsere Wahrnehmungen kausal durch Einwirken äußerer Gegenstände auf unsere Sinne verursacht werden (LOCKE 1873: : 101f – II 1 §3). 18 Ein Umstand, den bspw. schon HARD in zahlreichen Publikationen seit den 1970er Jahren diagnostiziert hat und an dem sich seitdem nur in begrenzten Teilen der deutschen Geographie etwas geändert hat. Mit dieser Feststellung soll die Vielfalt an Ansätzen und erkenntnistheoretischen Konzepten in der Geographie (vgl. hierzu bspw. ARNREITER & WEICHHART 1998; DÜRR 1998; MIGGELBRINK 2002) keineswegs negiert werden. Es ist jedoch wichtig an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass realistische und positivistische Positionen nach wie vor offenbar von einer Mehrheit der Geographen vertreten werden.

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Positionen in der Geographie lange Zeit fast eine hegemoniale Stellung einnahmen (REUBER & PFAFFENBACH 2005: 32). Positivistische und realistische Positionierungen sind an sich erst einmal nicht kritisch zu sehen, denn wie BIRKENHAUER (1987: 115f) festgestellt hat, bringt jeder Geograph in seinen Erklärungsmustern bereits einen „normativen Rahmen [mit], der sein jeweiliges ‚Deutungsschema‘ bzw. seine ‚Deutungsschemata‘ umfasst und innerhalb deren er sich bei seiner und für seine Erkenntnisfindung bewegt.“ Allerdings sollte ein jeder Wissenschaftler diesen Rahmen aufdecken und transparent machen, denn „so zu verfahren gehört notwendigerweise zu jedem wissenschaftlichen Vorgehen, wenn es dieses Attribut verdient“ (ebd.: 115f).19 Die erkenntnistheoretische Position gerade (kritisch-) realistischer Arbeiten wurde jedoch oftmals nicht expliziert, geschweige denn kritisch reflektiert. Wie BIRKENHAUER und HARD bin ich jedoch der Meinung, dass jeder Wissenschaftler seine epistemologische Position transparent machen und in der Lage sein sollte, sie argumentativ zu begründen und zu verteidigen. Ist dies nicht der Fall, gleicht eine (implizite) erkenntnistheoretische Positionierung eher einem Glaubensdogma als einer wissenschaftlich begründeten Position. In der Vergangenheit finden sich genug Beispiele von Arbeiten, in denen eine explizite Verortung der epistemologischen Position nur in unzureichendem Maß der Fall war. Unrühmliche Beispiele lassen sich diesbezüglich jedoch nicht nur in traditionell orientierten Ansätzen finden, sondern auch in Arbeiten, die sich an den Cultural Turn anschließen (vgl. WERLEN 2003: 259). Ein teilweise unreflektierter Theorie-Eklektizismus ist die Folge, der Fragmente unterschiedlichster Theorien zu einem einzigen Theoriegebäude verbinden möchte, die in ihren erkenntnistheoretischen Prämissen inkommensurabel sind und daher zu völlig verschiedenen Erkenntnisabsichten hinleiten.20 Besonders Arbeiten, die eine postmoderne Positionierung reklamieren, scheinen für eine völlige Verkennung der Idee „anything goes“ von FEYERABEND (1995) anfällig zu sein. Das relativistische Plädoyer Feyerabends wird teilweise in einer logik- und sinnbefreiten Beliebigkeit der Vor19 Dass eine solche Offenlegung sinnvoll, ja sogar notwendig ist, hat HARD bereits 1973 anhand von neun Argumenten demonstriert. Ohne klare erkenntnistheoretische Positionierung – wie sie bspw. von DÜRR (1998: 35) angesichts der zunehmenden Theorien- und Paradigmenvielfalt in der Geographie eingefordert wird – bleibt jedoch oft nebulös, warum ein Autor zu einer bestimmten Fragestellung gelangt ist und wie die Auswahl der theoretischen Konzepte zu ihrer inhaltlichen Bearbeitung erfolgt ist. In diesem Sinne bemängelt KLÜTER bereits Ende der 1980er Jahre (1987b: 134), dass die „Selektionsstrategien für Theorien und Forschungsthemen“ zu oft in der deutschsprachigen Geographie nicht offen gelegt werden. Meiner eigenen Wahrnehmung nach ist dies ein Umstand, der sich erst in jüngster Zeit, insbesondere im Zuge einer neuen Offenheit für theoretische Arbeiten im Gefolge des Cultural Turns und der Neuen Kulturgeographie, zu ändern scheint. 20 So möchten positivistische und realistische Ansätze bspw. ein möglichst getreues Abbild der objektiven Realität entwickeln und fragen demnach nach dem wahren Zustand und Zusammenhang der Dinge, während konstruktivistische und interpretative Perspektiven danach fragen, wie Menschen im Erfahrungsprozess Bedeutungsstrukturen entwickeln und damit ihre Wirklichkeit selbst herstellen.

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gehensweise missdeutet, die m. E. zu Recht beklagt wird. Dass derartige Entwicklungen keine spezifische Problematik der deutschen Geographie darstellen, zeigt bspw. die Kritik von THRIFT (2000b: 689) und MARTIN & SUNLEY (2001: 153) an jüngeren Entwicklungen in der angelsächsischen Geographie, die bemängeln, dass im Zuge des Cultural Turns viele Autoren anscheinend den Eindruck gewonnen hätten, dass alles erlaubt sei und erkenntnistheoretische und argumentatorische Stringenz sowie begriffliche Schärfe unwichtig wären. HICKMAN, NEUBERT & REICH (2004: VI) konstatieren wiederum in Bezug auf die Soziologie, dass „der Nachweis der Herkunft eigener Gedanken im Kontext der Wissenschafts- und Kulturgeschichte (…) gerade bei vielen konstruktivistischen Darstellungen bisher zu fehlen [scheint], weil diese öfter den Gedanken der Konstruktion von Wirklichkeiten gegen die bisherige Wissenschaft und Kultur stellten, statt ihn aus der Entwicklung und den Entwicklungstendenzen solcher Kontexte herzuleiten.“

Konsistente Theoriekonzepte sind jedoch in der Wissenschaft unverzichtbar, „denn wenn wir Widersprüche zulassen, müssen wir bekanntlich jede beliebige Aussage zulassen“ (HARD 1973: 109), was gleichbedeutend mit dem Ende von Wissenschaft wäre, wie wir sie heute begreifen. Solange derartige grundlegende Defizite die (deutsche) Geographie prägen, muss man sich m. E. entschieden gegen eine Position verwehren, wie sie idealtypisch POHL (1993: 257) vertritt, indem er postuliert: „An der Grenze eines Weltbildes hört das Hinterfragen tatsächlich auf, (…) weil sonst kein sinnvolles Arbeiten mehr möglich wäre.“ »Im Gegenteil!« möchte man angesichts solcher Äußerungen ausrufen, »es ist offenbar kein sinnvolles Arbeiten möglich, wenn man sich noch nicht einmal darüber im Klaren ist, in welcher Welt man sich bewegt und was man dort tut!«21 Die Beschäftigung mit Erkenntnistheorie ist in diesem Sinne notwendig, auch wenn sie dem Einen oder Anderen wie „hochgestochenes Gerede“ (HACKING 2002: 98) vorkommen mag, das von den „eigentlich interessanten empirischen Fragen“ ablenkt. Trotzdem „gehört die Metaphysik wesentlich mit zu unserer Geschichte, und Unkenntnis der Metaphysik zieht Verwirrung nach sich“ (ebd.). Öffnet man den Blick nicht für andere Erkenntnisperspektiven, besteht, wie ARGYRIS & SCHÖN (1999) in ihrer Lerntheorie beispielhaft demonstrieren, die Gefahr, dass man in den immer gleichen Erklärungsmustern gefangen bleibt und sich rein dogmatisch der Entwicklung nützlicher Wirklichkeitsentwürfe verschließt. Das Nebeneinander bzw. bedingte Interagieren bei gleichzeitigem Verharren in jeweils unterschiedlichen disziplinären und erkenntnistheoretischen Paradigmen ist denn auch typisch für multi- und interdisziplinäre Ansätze in der MenschUmwelt-Forschung. Der von Mittelstraß und anderen (bspw. FEICHTINGER et al.

21 Dies soll natürlich nicht heißen, dass hier die Forderung erhoben wird, jede wissenschaftliche Arbeit müsste sich breit erkenntnistheoretisch verorten. Dies würde forschungspraktisch den Rahmen der meisten Arbeiten sprengen und ist in arbeitsteiliger Hinsicht widersinnig. Sehr wohl ist dies jedoch ein Plädoyer dafür, zu Beginn einer Forschungsarbeit die eigenen Weltbilder kritisch zu hinterfragen und kurz seine eigene Position offenzulegen und zu begründen.

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1. Pragmatismus als Thema für Mensch-Umwelt-Forschung und Geographie?

2004; HIRSCH 1995; JAEGER & SCHWERINGER 1998; JAHN 2005; MITTELSTRAß 1992, 2003, 2005) geforderte Übergang von einer inter- zu einer transdisziplinären Perspektive22 fordert neben einer lebensweltlichen Problemzentrierung auch ein paradigmenübergeifendes bzw. -aufbrechendes Vorgehen in der Forschung (JAHN 2005: 34). Transdisziplinarität in letzterem Sinne lässt dann „die Dinge nicht einfach, wie sie sind, sondern stellt, und sei es auch nur in bestimmten Problemlösungszusammenhängen, die ursprüngliche Einheit der Wissenschaft – hier als Einheit der wissenschaftlichen Rationalität, nicht der wissenschaftlichen Systeme verstanden – wieder her“ (MITTELSTRAß 1987: 154f).

Die Entwicklung einer wirklich integrativen und insofern transdisziplinären Perspektive auf Mensch-Umwelt-Beziehungen in der Geographie erfordert dementsprechend nicht nur nach gemeinsamen Gegenständen, Methoden oder Fragestellungen zu suchen, wie das für multi- bzw. interdisziplinäre Ansätze kennzeichnend ist, sondern sich vor allem auch auf gemeinsame theoretische Perspektiven, eine gemeinsame Methodologie und damit letztlich auch auf einen gemeinsamen erkenntnistheoretischen Zugang zu unserer Umwelt zu einigen (Abbildung 1). Ziel einer solchen transdisziplinären Perspektive darf es jedoch nicht sein, die bisher etablierten und erfolgreichen fachtheoretischen Ansätze in Physischer und Humangeographie unter die Knute einer neuen Einheitsmetatheorie zu zwingen.

Abbildung 1: Multidisziplinarität – Interdisziplinarität – Transdisziplinarität Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Lawrence 2011

Notwendig ist vielmehr eine für unterschiedliche Wissenschaftsentwürfe tolerante Erkenntnistheorie, die in der Lage ist, zwischen Materialität und Sozialem zu vermitteln, die naturwissenschaftliche Untersuchung physisch-materieller Fakten erlaubt, ohne sie gleichzeitig zu essentialisieren und handlungs- und möglichst auch objektorientiert ist, um gemeinsam empirisch arbeiten zu können.

22 In der Literatur existiert eine Vielzahl an unterschiedlichen Definitionen für die Begriffe der Multi-, Inter- und Transdisziplinarität. Für eine exemplarische Zusammenstellung unterschiedlicher Definitionen vgl. JAEGER & SCHWERINGER 1998.

1.2. Zielsetzung

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In der Tat ist der Versuch eine solche theoretische Perspektive zu finden nicht neu. Verschiedene Geographen haben in der Vergangenheit bereits darauf hingewiesen, dass es vor allem unsere dualistisch verfassten Denkstrukturen mit ihren Unterscheidungen zwischen Mensch und Natur, Materie und Geist sind, die es schwierig machen, zu einer integrativen Perspektive zu gelangen und dazu verführen würden, die falschen Fragen zu stellen (CLOKE & JOHNSTON 2005; SCHLOTTMANN et al. 2010; ZIERHOFER 1999, 2003, 2007). So überzeugend die Problemdiagnosen und Plädoyers für ein nichtdualistisches Verständnis von MenschUmwelt-Beziehungen ausfallen mögen, so wenig adressieren die existierenden Arbeiten jedoch die erkenntnistheoretischen Wurzeln des Problems.23 Wie viele andere Ansätze in der geographischen Mensch-Umwelt-Forschung machen auch die erwähnten poststrukturalistischen Ansätze ihre erkenntnistheoretische Perspektive kaum transparent. Die existierenden Theorieangebote in der geographischen Mensch-Umwelt-Forschung bleiben daher überwiegend in ihrer Reichweite beschränkt und lassen sich nur mit Mühen und unter der Gefahr und Inkaufnahme meta-theoretischer Inkonsistenzen und damit logisch-argumentatorischer Brüche miteinander kombinieren. Das Ergebnis wäre im schlimmsten Fall ein willenloser, in sich widersprüchlicher und damit wissenschaftlich wertloser Theorieeklektizismus. 1.2. ZIELSETZUNG Mit dem vorliegenden Buch möchte ich dazu beitragen, dass die Geographie derartigen Gefahren in Zukunft mit einem möglichst breit angelegten, pluralistischen Erkenntniszugang entgegentreten kann, von dem sich mannigfaltige Anknüpfungspunkte für praktisch-empirische Arbeiten erschließen lassen. Die vorliegende Arbeit möchte insofern einen Beitrag dazu leisten, der traditionellen empirischen Stärke der deutschen Geographie eine zusätzliche und alternative erkenntnistheoretische Basis zur Verfügung zu stellen und so ihre multiparadigmatische Verfassung (vgl. DÜRR 1998) zu stärken. Notwendig ist dafür, wie bereits andiskutiert, eine neue, nichtfundamentalistische und nichtdualistische erkenntnistheoretische Basis, von der aus die vorhandenen Theorieangebote zusammengeführt und so ihr umfangreiches und vielfälti-

23 ZIERHOFER (1999, 2007) und JÖNS (2003) versuchen das Problem bspw. mithilfe der ActorNetwork-Theorie (ANT) anzugehen. Auch wenn ich diesen Versuch auf fachtheoretischer Ebene durchaus für viel versprechend halte und hierauf später noch zurückkommen werde, bin ich jedoch aus den oben geschilderten Gründen der Meinung, dass die erkenntnistheoretische Unbestimmtheit der Theorie von LATOUR (1996b, 2007) für die Entwicklung einer transdisziplinären Perspektive in der Geographie Probleme aufwirft und zumindest einer klareren erkenntnistheoretischen Fundierung bedürfte, um sie für die Geographie und eine gemeinsame Schnittstellenforschung nutzen zu können. DÜRR (1999: 195) argumentiert in die gleiche Richtung, wenn er dafür plädiert, topologische Diskurse in der Geographie durch meta-theoretische zu ergänzen.

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1. Pragmatismus als Thema für Mensch-Umwelt-Forschung und Geographie?

ges Potenzial genutzt werden kann. Die Herausarbeitung einer gemeinsamen erkenntnistheoretischen Basis soll es erstens ermöglichen, die logische Konsistenz wissenschaftlicher Theorie- und Aussagesysteme sicherzustellen und zweitens fruchtbare Querbezüge, potenzielle Anschlusspunkte und ggf. auch neuralgische Konfliktpunkte zwischen unterschiedlichen Theorieangeboten zu verdeutlichen. Letztlich bedeutet dies nach Theorieangeboten zu suchen, die eine Alternative bieten zu der dualistischen und antipodischen Strukturierung unserer Lebenswelt mit ihrer Trennung zwischen Materie und Geist sowie Kultur und Natur, von der aus sich traditionellerweise unterschiedliche wissenschaftliche Herangehensweisen an die Erkenntnisgegenstände der Physischen und Humangeographie zu legitimieren versuchen.24 Hierzu greife ich im Folgenden auf die Philosophie des klassischen Pragmatismus zurück, die im ausgehenden 19. Jhd. in den USA entstanden ist. Ihr erkenntnistheoretisches Angebot erscheint mir umso reizvoller für integrative Ansätze in der Geographie zu sein, als dass sich in jüngsten wissenschaftshistorischen Arbeiten abzeichnet, dass bedeutende Verknüpfungen zwischen Pragmatismus und der frühen Geomorphologie existieren.25 Ziel der vorliegenden Arbeit ist es also, aus der Perspektive des klassischen Pragmatismus einen Beitrag zur Entwicklung eines nichtdualistischen MenschUmwelt-Verständnisses zu liefern. Dabei geht sie der Frage nach, wie sich Mensch-Umwelt-Beziehungen erkenntnistheoretisch konzeptionalisieren lassen und welche Konsequenzen und Potenziale dies für eine sich in der transdisziplinären Mensch-Umwelt-Forschung bewegende (Wirtschafts-) Geographie mit sich bringt. Mit diesem Fokus schließt die Arbeit nicht nur eine Lücke in der erkenntnistheoretischen Begründung neuer Theorieansätze in der Mensch-UmweltForschung, wie der Actor-Network-Theory, sondern trägt dazu bei, eine vergleichsweise neue erkenntnistheoretische Position als Basis für integrative Projekte in der Geographie fruchtbar zu machen, mit der eine praxisorientierte Lösung des Schnittstellenproblems in der Geographie möglich erscheint. Ein zentraler Teil des Wesens des Pragmatismus, wenn man den Begriff des Wesens in Bezug auf eine derart antifundamentalistische und antiessentialistische Philosophie überhaupt anwenden kann, ist es dabei, für die Relativität des eigenen Standpunktes und die Pluralität unterschiedlichster Perspektiven sensibel zu sein. In der Tat existieren allein schon innerhalb des Pragmatismus eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und Strömungen, die es unmöglich machen von dem einen Pragmatismus zu reden. Ziel kann es deshalb auch hier nicht sein den Pragmatismus in die Geographie zu importieren und damit den Entwurf der Pragmatischen 24 ZIERHOFER (2006: 178) hat bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass Arbeiten, deren Problemdiagnose auf den Geist-Materie-Dualismus fokussieren, folglich auch ihre „Argumentation auf dieser grundlegenden Ebene“ entwickeln müssten, da sich nämlich sonst nicht beurteilen ließe, worin sich ihr Theorieangebot von dem anderer postdualistischer Ansätze abgrenze. Meines Wissens nach existiert jedoch keine Arbeit in der Geographie, die dies in ähnlich grundlegender Weise unternehmen würde wie die hier vorliegende. 25 Siehe hierzu auch Kapitel 4.1.1.

1.3. Aufbau des Buches

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Geographie zu präsentieren, die alle Probleme lösen und alle Fragen beantworten kann. Vielmehr geht es mir darum, einige neue Lesarten alter Probleme vorzustellen und zu diskutieren, inwieweit diese für die ausgewählten Beispiele nützlich sein können. Das vorliegende Buch erhebt daher weder den Anspruch eine abschließende, noch eine allumfassende Diskussion des Potenzials des Pragmatismus für die Geographie vorzulegen. Vielmehr möchte es einen substanziellen Beitrag zu einer Diskussion leisten, die im deutschsprachigen Raum gerade erst im Entstehen begriffen ist und deren Potenziale für die Entwicklung der Geographie mir noch nicht annähernd erschlossen scheinen. In diesem Sinne versteht sich dieses Buch weniger als das Ende einer epistemologischen Suche, als dass es einen Zwischenstand meines persönlichen Aufbruchs in eine neue und vergleichsweise unbekannte Welt vorstellen möchte, von dem ich hoffe, dass er auf meine Leser genauso spannend wirken mag, wie es die Reiseberichte der Geographen vor mehreren hundert Jahren waren – und dass er sie ermuntert, meiner Begegnung und Erfahrung mit dem Pragmatismus ihre ganz eigene folgen zu lassen. 1.3. AUFBAU DES BUCHES Im zweiten Kapitel der Arbeit wird die erkenntnistheoretische Problemdimension einer integrativen Konzeptionalisierung von Raum und Mensch-Umwelt-Beziehungen in einer kleinen Einführung in die Geschichte dualistischer Erkenntnistheorien genauer bestimmt. Ein Blick in die Ideengeschichte ist nötig, da ein Verständnis des Pragmatismus und eine Beurteilung seiner Problemlösungspotenziale für die Geographie ohne Kenntnis der Grundzüge der dualistischen Ideengeschichte und des Skeptizismus kaum möglich erscheinen. Entsprechend vorgebildete Leser mögen die fraglichen Abschnitte ohne Weiteres überspringen. Wie sich in diesem Kapitel zeigt, reicht das Schnittstellenproblem in der Geographie ideengeschichtlich bis in die Antike zurück, in der einerseits der erkenntnistheoretische Grundstein für die Entwicklung und scharfe Trennung realistischer und konstruktivistischer Positionen gelegt und andererseits die dualistische Spaltung unserer Welt in Subjekt und Objekt, Geist und Welt, Kultur und Natur, Intellekt und Gefühl sowie Denken und Tun vollzogen wird, die unsere Denkstrukturen bis heute prägt (vgl. HACKING 2002: 101). Mit dieser Spaltung ist der Versuch verbunden, sicheres Wissen über die Welt zu gewinnen. Dabei ist die Frage danach, wie das Verhältnis des erkennenden Menschen zu seiner (Um-) Welt gedacht wird, nicht nur erkenntnistheoretisch relevant. Sie hat auch Auswirkungen darauf, wie Mensch-Umwelt-Beziehungen und Raum gedacht werden. Welche Probleme und Raumkonzepte jeweils mit den in der Antike angelegten dualistischen Denkstrukturen und mit den ihnen verbundenen Ontologien von Idealismus, Realismus, Rationalismus und Empirismus verbunden sind, wird im nächsten Abschnitt anhand der Philosophie des modernen Skeptizismus beginnend mit René Descartes verdeutlicht. Während immer mehr Philosophen die herrschenden Ontologien in Frage stellen und deren Erkenntniskonzepte schließlich sogar zu einem großen Teil widerlegen, etabliert sich ausgehend von Isaac

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1. Pragmatismus als Thema für Mensch-Umwelt-Forschung und Geographie?

Newton und John Locke eine Gegenbewegung, die versucht, den erkenntnistheoretischen Kern der dualistischen Ontologien zu modernisieren und damit zu retten. Innerhalb der Geographie – wie insgesamt in den Naturwissenschaften – wird auf diesem Wege später vor allem die Wissenschaftstheorie Karl Raimund Poppers einflussreich, dessen Kritischer Rationalismus jedoch nach wie vor schwer wiegende ungelöste Probleme mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund etablieren sich in der Humangeographie konstruktivistische Positionen, die als eine Art modernisiertes idealistisches Spiegelbild zu den modernisierten realistischen Positionen verstanden werden können und daher – wie gezeigt werden wird – auch nur sehr eingeschränkt in der Lage sind die Grundproblematik aufzulösen, die mit dualistisch veranlagten Erkenntnistheorien einhergeht und die letztendlich die erkenntnistheoretische Dimension des Schnittstellenproblems in der Geographie in aller Schärfe hervor treten lässt. Der erkenntnistheoretischen Spaltung des Raumes folgt dann die ontologisch begründete Spaltung der Geographie. Nachdem das Problem eingegrenzt und auf der erkenntnistheoretischen Ebene die Wurzel des Schnittstellenproblems in der Geographie identifiziert ist, schließt das Kapitel mit der Formulierung notwendiger Bedingungen, die eine Erkenntnistheorie erfüllen muss, will sie den geschilderten Problemen entgehen und einen Beitrag zur Überwindung des Schnittstellenproblems und zum Entwurf eines neuen Raum- sowie Mensch-Umwelt-Konzeptes in der Geographie leisten. Das dritte Kapitel des Buches stellt als nichtfundamentalistische Alternative zu den etablierten Erkenntnistheorien die Philosophie des klassischen Pragmatismus vor und rekonstruiert dessen Kernelemente und Argumentation. Hierzu werden kurz einige grundlegende Ideen des Begründers der modernen Semiotik und des Pragmatismus, Charles Sanders Peirce, vorgestellt und Einflüsse der humanistisch inspirierten Philosophie des Pragmatisten Ferdinand Canning Scott Schiller auf die Arbeiten der späteren Pragmatisten angerissen. Der Hauptteil des Kapitels widmet sich jedoch der Rekonstruktion einiger Hauptelemente der handlungsorientierten Spielart des Pragmatismus, wie sie von William James und vor allem John Dewey vertreten werden. In ihr werden Handeln, Wahrheit und Erkenntnis als eine im Erfahrungsprozess vermittelte Einheit aufgefasst, die die klassische dualistische Ordnung der Welt auflöst und an ihre Stelle ein nichtdualistisches Verständnis von Mensch-Umwelt-Beziehungen stellt. Sie propagiert dabei eine agnostische, nichtfundamentalistische und relativistische Erkenntnistheorie, die die Kontingenz, den dynamischen Wandel sowie die Performativität und Reflexivität der Entwicklung unserer Lebenswelten besonders hervorhebt. Die Diskussion darüber, wie unter solch nicht-fundamentalistischen und relativistischen Bedingungen grundsätzlich und in methodischer Hinsicht weiter Wissenschaft betrieben werden kann, welche Kontaktpunkte zwischen Pragmatismus und Konstruktivismus bestehen, wo Unterschiede auszumachen sind und inwiefern aus einer radikal relativistischen Position heraus Wissenschaft dennoch einer gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht werden kann, bildet den Abschluss des dritten Kapitels. Ausgehend von der Rekonstruktion der Grundlagen des Pragmatismus werden dann im vierten Teil der Arbeit Konsequenzen des Pragmatismus für die geogra-

1.3. Aufbau des Buches

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phische Mensch-Umwelt-Forschung diskutiert. Den Einstieg hierzu bildet ein Überblick über die Rezeption des Pragmatismus in der Geographie. Danach folgt ein Überblick über unterschiedliche Forschungsansätze in der Mensch-UmweltForschung, die jeweils kurz auf ihr Potenzial für die Entwicklung einer transdisziplinären Perspektive in der Mensch-Umwelt-Forschung und die Überwindung des Schnittstellenproblems in der Geographie abgeklopft werden. Den letzten Teil der Skizzierung des Forschungsstandes zum Thema in der Geographie bildet dann eine Rekonstruktion der in der Geographie in Verwendung befindlichen Raumkonzepte. Die folgenden drei größeren Unterkapitel spielen dann die für die Geographie zentralen Konzepte von Handlung, Mensch-Umwelt-Beziehungen und Raum in pragmatischer Perspektive durch und stellen sie den in der Geographie etablierten Perspektiven gegenüber. Dieser Vergleich ermöglicht es, die Konsequenzen und Potenziale des Pragmatismus für eine transdisziplinäre, geographische und handlungsorientierte Mensch-Umwelt-Forschung herauszuarbeiten und exemplarisch konzeptionelle Anschlussmöglichkeiten zu existierenden Theorieangeboten für integrative Projekte in der Geographie aufzuzeigen. Die wesentlichen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit werden danach abschließend nochmals in einem Fazit zusammengefasst, bevor die Arbeit mit einem Ausblick auf mögliche zukünftige Forschungsfelder einer pragmatischen MenschUmwelt-Forschung endet. Aufgrund seines spezifischen Erkenntnisinteresses und des beschränkten Umfangs einer solchen Arbeit muss das vorliegende Buch zwangsläufig damit leben, eine Auswahl zu treffen und komplexe Gedankengebäude zu reduzieren auf einige wenige und bewusst ausgewählte Aussagen. Sie ist mit ihrer Fokussierung naturgemäß ein gewagtes Unterfangen und kann kaum den Anspruch erheben, allumfassend zu sein oder auch nur den geschilderten Positionen in der vollen Breite ihrer jeweiligen Ausdifferenzierungen gerecht zu werden. Der Reiz eines solchen Unternehmens liegt für mich jedoch bereits in dem Umstand begründet, dass die klassischen philosophischen Fragen, die die Möglichkeit des Wissens über unsere Welt und ihre Beschaffenheit thematisieren, eine zutiefst geographische Dimension aufweisen. Ich hoffe, dass der Gewinn aus diesem Projekt die eine oder andere beim Leser als schmerzlich empfundene Lücke26 der erkenntnistheoriegeschichtlichen Darstellung aufwiegen wird.

26 Philosophisch vorgebildete Leser mögen so vielleicht erstaunt sein über die Auswahl der zitierten Philosophen und dafür den einen oder anderen hier „fehlenden“ vermissen, es bspw. sogar für unhaltbar erachten, eine erkenntnistheoretische Arbeit ohne ein Kapitel über Kants Antwort auf den Skeptizismus vorzulegen. Dass z. B. Kants Philosophie in der vorliegenden Arbeit jedoch kaum eine Rolle spielt, hat zwei Gründe: Erstens ist seine Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus für die Entwicklung der anvisierten pragmatischen Perspektive m. E. nicht zwingend nötig und würde daher die vorliegende Arbeit nur unnötig in die Länge ziehen. Zweitens sind Kants Perspektiven – bspw. ganz im Gegensatz zu denen Humes – in der Geographie relativ eingehend rezipiert worden, insbesondere soweit es Kants Raumkonzept angeht (vgl. bspw. GLÜCKLER 1999; WERLEN 1999).

2. KLEINE GESCHICHTE DER ERKENNTNISTHEORETISCHEN DUALISMEN UND RAUMKONZEPTE IN DEN MENSCHUMWELT-BEZIEHUNGEN Die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis und Wissen und damit dem Verhältnis des (erkennenden) Menschen zu seiner (Um-) Welt und ist so alt wie die Philosophie selbst. Der Streit darüber, welche Überzeugungen und Argumente die stichhaltigsten und sinnvollsten sind und welche Perspektive auf MenschUmwelt-Verhältnisse dieser am besten gerecht wird dementsprechend auch. Das vorliegende Kapitel macht sich deshalb zum Ziel zu zeigen, wie in der Antike die uns noch heute prägenden dualistischen Gedankenwelten, Raumkonzeptionen und Umweltauffassungen entstehen, wie diese Weltbilder in der Moderne, mit dem Ziel die Basis sicheren Wissens zu finden, immer stärker skeptisch hinterfragt und neu gedacht werden und welche erkenntnistheoretischen Lösungsmöglichkeiten für die in diesen Debatten aufgeworfenen Probleme in der Geographie im 20. Jhd. im Wesentlichen verfolgt wurden. Dabei erhebt die hier vorgelegte Darstellung keinen Anspruch auf ideengeschichtliche Vollständigkeit.27 Sie befindet sich vielmehr auf der Jagd nach den Wurzeln unserer Vorstellungen und will dazu eine „Schneise“ in das Dickicht der Erkenntnistheorie schlagen, die als ein möglicher roter Faden durch die Gedanken und Theorien zahlreicher Philosophen führt. Die Auswahl der diskutierten philosophischen Ansätze begründet sich hierbei in erster Linie durch ihren Einfluss auf die heutige Geographie und das in der Einleitung diskutierte Problem einer integrativen Schnittstellenforschung. Es ist daher nicht das Ziel des Kapitels, den Einfluss und die Wirksamkeit einer größtmöglichen Vielzahl unterschiedlichster Strömungen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien auf die Geographie nachzuzeichnen. Vielmehr soll entsprechend der Problemdefinition die Vielfalt der Positionen durch eine Beschränkung auf die in der Geographie einflussreichsten Perspektiven so reduziert werden, dass sich die erkenntnistheoretische Dimension des Schnittstellenproblems in der Geographie näher eingrenzen lässt. Die Erkenntnisse über unsere Umwelt sind dabei teils überraschend: Wie sich zeigt, lassen sich nämlich nicht nur die gleichen Waschbären (-familien) auf immer wieder neuen Bäumen aufscheuchen,28 manchmal findet sich auch eine neue Nebenlinie, manchmal gar ein ganz neues Tier, das noch nicht einmal auf dem untersuchten Baum wohnhaft zu sein scheint und erst noch genauer bestimmt werden muss.

27 Dies wäre wohl auch kaum Aufgabe einer Arbeit in der Geographie. Einschlägige Werke sind der Philosophie und Wissenschaftstheorie hinreichend vorhanden. 28 Vgl. hierzu das Vorwort zu diesem Buch.

2.1. Die Entstehung dualistischer Weltbilder in der Antike

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2.1. DIE ENTSTEHUNG DUALISTISCHER WELTBILDER IN DER ANTIKE Der folgende Abschnitt legt kurz dar, inwiefern sich grundlegende, dualistische Auffassungen über die Strukturen unserer Welt bereits in der Antike etabliert haben, welche Raumvorstellungen und Fragestellungen damit verbunden sind und inwiefern diese heute noch Relevanz für die Geographie 2.1.1. Raus aus der Höhle? Erkenntnis zwischen Rationalismus und Empirismus Die grundlegenden Strukturen der erkenntnistheoretischen Positionierungen in der Geographie haben ihren Ausgangspunkt bereits zum großen Teil in der antiken griechischen Philosophie, die bis in das 5. Jhd. v. Chr. zu den Sophisten zurückgeht. Durch die Erfindung der Demokratie in Athen ist es damals notwendig, andere für die eigenen Standpunkte zu gewinnen. Dabei zeigt sich, dass Themen völlig kontrovers gesehen werden können und sich nicht zwangsläufig ein vermeintlich stärkeres Argument durchsetzen muss. Im Sinne eines umfassenden Relativismus stellt daher bereits Protagoras (480–410 v. Chr.) fest, dass über jeden Sachverhalt zwei einander entgegengesetzte Aussagen möglich sind (PLATON 1940: Theaitetos 603f). Die Sophisten schließen daraus, dass ein und derselbe Sachverhalt in einer Situation wahr, in einer anderen falsch sein kann. Wahrheit wird damit eine Frage subjektiver Perspektiven und Wahrnehmungen, sie wird letztlich zur Definitionssache, zu einer Frage des Standpunktes. Es ist also unmöglich, Aussagen über objektive Sachverhalte oder die absolute Wahrheit zu machen. Man könnte sagen, dass der Wahrheitsbegriff individualisiert wird, wenn Protagoras weiter in seinem berühmten HomoMensura-Satz schließt, dass „der Mensch (…) das Maß aller Dinge [sei], des Seienden, wie sie sind, der Nichtseienden, wie sie nicht sind“ (ebd.: 576).

Allerdings darf dieser Satz nicht rein individualistisch und nihilistisch missverstanden werden, wie dies zumeist geschieht. Wenn Protagoras behauptet, dass es keine Wahrheit außerhalb des menschlichen Geistes gibt, so ist der Umkehrschluss, dass alles vertretbar und begründbar sei, noch lange nicht zulässig. Die postulierten Wahrheiten müssen auch überindividuell akzeptiert werden. Protagoras, so eine alternative Lesart seiner Philosophie, hätte deshalb keineswegs, wie ihm häufig vorgeworfen wird, Rhetorik gelehrt, um Menschen beizubringen, wie sie andere durch geschicktes Reden manipulieren können. Vielmehr wollte er Menschen dazu befähigen, ihre Bedürfnisse und Perspektiven zu artikulieren und ihnen damit eine Teilhabe am demokratischen Staatswesen Athens ermöglichen (Mailloux 1995: 8). Wie immer man Protagoras auch lesen mag, seine Wirkung in der antiken Philosophie ist immens. Auf dem Homo-Mensura-Satz baut ein erheblicher Teil

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

des antiken pyrrhonischen Skeptizismus29 auf (GRUNDMANN & STÜBER 1996: 18), der von der These ausgeht, dass der Mensch das Sein bestimmt. Alle darüber hinausgehenden ontologischen Aussagen werden abgelehnt, da man sich grundsätzlich über nichts absolut sicher sein könne: Alles Sein sei offensichtlich subjektiv konstituiert und wandelbar. Aufgabe des Skeptizismus sei es demnach, an den herkömmlichen „Gewissheiten“ zu zweifeln, da die objektive Wahrheit von Meinungen für Menschen nicht überprüfbar sei. Modern ausgedrückt thematisiert der pyrrhonische Skeptizismus schon früh die intransparente, epistemologische Situation des Menschen. Die Grundkonzeption des Skeptizismus ist also die kognitive Unzugänglichkeit der Wirklichkeit, auf Grund derer es dem Menschen nicht möglich ist, verlässliche Urteile über die absolute Wahrheit zu fällen (CRAIG 1993: 104). Der Grund, die skeptische Frage zu stellen, ob wir Wissen haben können, besteht deshalb im Wesentlichen darin, sich Klarheit über die eigene epistemische Situation zu verschaffen (BAUMANN 2002: 25). Die Philosophie der Skepsis manifestiert sich schon früh in den berühmten drei Thesen des Gorgias (485–410 v. Chr.) dass nichts existiere, und selbst wenn etwas existiere, es doch nicht erkennbar wäre, und selbst wenn es erkennbar wäre, es nicht mitteilbar sei (RUSSELL 1999: 100). Die Welt, in der wir leben und die wir als Geographen erforschen möchten, ist uns demnach nicht zugänglich. Die pyrrhonischen Skeptiker fordern deshalb später, dass man sich grundsätzlich jeden Urteils enthalten und den Skeptizismus als Lebensform praktizieren solle, um der Unruhe, die aus der Suche nach Erkenntnis entspringe, zu entkommen. Dass diese Thesen nicht unwidersprochen blieben, liegt angesichts ihrer Radikalität auf der Hand. Würde man ihnen folgen, wäre die vorliegende Arbeit bereits an ihrem Ende angekommen. Der Alltagsverstand muss derartige Thesen ablehnen und ihnen fast zwangsläufig entgegnen, dass die Existenz der Dinge nicht ernsthaft in Frage zu stellen ist, unsere Wahrnehmung uns die Welt so zeigt, wie sie ist und die Welt unabhängig von uns existiert. Mit dieser Meinung hält der Dualismus zwischen Subjekt und Objekt Einzug in unser Denken. Alle Positionen, die diese Grundaxiome teilen, werden als Realismus bezeichnet (WILLIAMS 1996: 145). Der Realismus ist bis heute eine der vorherrschenden erkenntnistheoretischen Positionen in der deutschen Geographie (WARDENGA 2002: 10; WARDENGA 2006: 32ff; REUBER & PFAFFENBACH 2005: 32). Mit dem Widerspruch zwischen den oben geschilderten Positionen lässt sich schon früh die erste Grundstruktur erkenntnistheoretischer Debatten identifizieren: der Konflikt zwischen Realisten und Skeptikern über die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, der erkenntnistheoretisch Ausdruck findet in der Frage nach der Wahrheit unserer Meinungen und der Erkennbarkeit der Wahrheit über unsere Welt. Die Frage, wie das Verhältnis und die Position des (erkennenden) Menschen in seiner und zu seiner Umwelt gedacht wird, ist also dafür entscheidend, ob und inwiefern Menschen Wissen über ihre Umwelt erlangen können. Wieso ist mit der 29 Der Begriff des pyrrhonische Skeptizismus verweist auf den ersten eigentlichen Skeptiker der Philosophiegeschichte, Pyrrhon von Elis (365–275 v. Chr.) (HÜGLI & LÜBCKE 2005: 521).

2.1. Die Entstehung dualistischer Weltbilder in der Antike

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Frage nach der epistemischen Situation des Menschen und nach der Möglichkeit von Wissen aber die Frage nach der Wahrheit unserer Meinungen über unsere Umwelt verbunden? Nun, die traditionelle Konzeption des Wissens, die auf Platon zurückzuführen ist, versteht Wissen als wahre und gerechtfertigte Meinung (BAUMANN 2002: 39). Wissen und Wahrheit sind demnach untrennbar miteinander verknüpft. Wenn Wahrheit jedoch allerhöchstens subjektiv erkennbar und die Rechtfertigung einer Meinung auch immer anders überzeugend möglich wäre, wie die Skeptiker meinen, wie könnten wir dann zu wissen beanspruchen? Das Ergebnis einer solchen Haltung wäre schlicht und ergreifend, dass dem Menschen keine wahre Erkenntnis und damit auch kein belastbares Wissen über seine Umwelt möglich wäre. Menschen hätten dann aus erkenntnistheoretischen Gründen keinen Zugang zu ihren Umwelten. Die Mensch-Umwelt-Forschung wäre dann in weiten Teilen ein vergebliches Projekt. Sokrates (470–399 v. Chr.) veranschaulicht das von den Skeptikern aufgeworfene Problem später eindrücklich mit seiner berühmten Aussage „ich weiß, dass ich nicht weiß“ (PLATON 1986: 21). Paradoxerweise kann dieser Satz jedoch als Ausgangspunkt der weiteren Erkenntnissuche verstanden werden. Sokrates diskutiert auf der Basis der vorsokratischen Philosophie zwei Wege, um zu vermeintlich sicherem, d. h. wahrem und gerechtfertigtem Wissen zu gelangen, die bereits Parmenides (540–480 v. Chr.) aufgezeigt hatte: den der Vernunft und den der Erfahrung (vgl. HAUK 2003: 21, 55f) – womit die Dualismen zwischen Geist und Materie, Kultur und Natur, Intellekt und Gefühl oder Denken und Tun Einzug in die klassische Philosophie halten. Es sind einerseits Platon (427–347 v. Chr.) und andererseits sein Schüler Aristoteles (384–324 v. Chr.), die diese Wege weiterverfolgen, damit grundlegende erkenntnistheoretische Perspektiven begründen und unsere Gewohnheit verfestigen, die Welt in Dualismen aufzuspalten. Platon baut mit seinen Gedanken auf Parmenides auf (RUSSELL 1999: 141ff). Er geht in seiner dualistischen Ideenlehre (PLATON 1973: 226ff – siebtes Buch) davon aus, dass es ein Reich immaterieller, ewiger und unveränderlicher Ideen gibt. Diese Ideen stellen (als Urbilder der Realität) das Wesen der Dinge dar, wie bspw. die Idee des Apfels. Nach ihnen sind die physischen Gegenstände der sichtbaren Welt geformt. Die Ideen existieren objektiv, d. h. unabhängig vom Menschen und seinen Wahrnehmungen. Die Welt der Ideen ist jedoch der Wahrnehmung unzugänglich, da – analog zu Platons bekanntem Höhlengleichnis aus dem siebten Buch eines seiner berühmten Hauptwerke »Der Staat« – die Realität aus verzerrten und unvollkommenen Abbildern der Ideen besteht. Will man also Erkenntnisse über die wahre Natur der Dinge gewinnen, muss man sich von der Wahrnehmungsebene abwenden. Doch wie kann das geschehen? Platons Ideenlehre zufolge hat die unsterbliche Seele die Ideen bereits in ihrer Präexistenz geschaut, aber beim Eintritt in ihren aktuellen Körper vergessen. Mit Hilfe der Wiedererinnerung kann das Bewusstsein die Ideen jedoch erkennen. Wahre Erkenntnis ist uns also Apriori gegeben und folglich nur mittels unseres Geistes durch

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

eine Schau der Ideen möglich. Diese Vorstellung wird deshalb auch Idealismus30 genannt. Erkenntnis ist nach Platon also nichts anderes als Entdeckung von bereits existierendem Wissen durch den Entdeckenden. Er propagiert mit seiner Ideenlehre sowohl das Prinzip der Verdoppelung der Welt (Welt der Ideen und Welt der Wahrnehmung) wie auch die philosophische Perspektive des (antiken) Rationalismus. Dem Rationalismus gemäß muss der Vernunft als Quelle der Erkenntnis Vorrang vor der Erfahrung eingeräumt werden (GABRIEL 1998: 29); nur aus der Vernunft erschließt sich das hochwertigste und (philosophisch betrachtet einzig sichere) Wissen für den Rationalisten (RUSSELL 1999: 130ff). Aristoteles verwirft die Vorstellung von Platon, die Ideen würden in einer separaten Welt existieren, und entwickelt eine alternative, realistische Ontologie (BARNES 1992: 37). Ideen werden seiner Meinung nach vom Menschen in die Dinge hineininterpretiert und gleichen Konstruktionen oder Kategorisierungen. Daher wird Erkenntnis durch Beobachtung mit Hilfe der Logik möglich (ebd.: 92f). Aristoteles drängt hiermit erstens den erkenntnistheoretischen Dualismus zwischen Geist und Materie durch die Betonung des Dualismus zwischen Subjekt und Objekt in den Hintergrund und etabliert zweitens die klassische Beobachtertheorie der Naturwissenschaften. Dementsprechend lautet die berühmte Wahrheitsdefinition aus seiner »Metaphysik« folgendermaßen: „Zu sagen, dass, was der Fall ist, nicht der Fall ist, oder dass, was nicht der Fall ist, der Fall ist, ist falsch; dass aber das, was der Fall ist, der Fall ist und das, was nicht der Fall ist, nicht der Fall ist, ist wahr“ (ARISTOTELES 2003: IV 7 1011b).

Die Wahrheit einer Aussage lässt sich also ihm zufolge daran messen, ob sie mit der Realität übereinstimmt, mit ihr korrespondiert. Das dieser Beurteilung von Wahrheit zugrunde liegende Axiom wird deshalb auch Korrespondenztheorie genannt (BAUMANN 2002: 155).31 Um die Korrespondenz einer Aussage mit der Wirklichkeit überprüfen zu können, ist man auf die Wahrnehmung angewiesen, wofür der von Aristoteles in seinen Physikvorlesungen umrissene substanzialistische32 und endliche33 Raumbegriff (ARISTOTELES 1829: 75f) die Voraussetzungen

30 Vereinfacht gesprochen geht der Idealismus davon aus, dass es keine Wirklichkeit geben kann, die von Bewusstsein und Denken unabhängig ist. Die Wirklichkeit ist nur durch Denken zu erfahren und zu erkennen (HÜGLI & LÜBCKE 2005: 303). 31 Zumindest wurde Aristoteles Wahrheitsdefinition in der europäischen Philosophiegeschichte weithin in diesem korrespondenztheoretischen Sinne verstanden (PUTNAM 1981: 253). Man könnte sie jedoch auch als eine semantische Wahrheitsdefinition verstehen. In diesem Sinne könnte sie bspw. durchaus als eine Frühversion der Definition von Tarski verstanden werden, auf die in Kapitel 2.3.1.2. eingegangen wird. 32 Als substanzialistisch werden diejenigen Raumkonzepte bezeichnet, die dem Raum eine eigene Wesenheit, eine eigene Substanzialität zusprechen und ihn damit reifizieren, also so behandeln, als ob er gegenständlich sei. Sie gehen davon aus, dass Raum absolut ist und insofern unabhängig vom Menschen existiert. 33 In der griechischen Antike – so auch bei Aristoteles – und auch später im Mittelalter wird die (durchaus bekannte) Idee eines unendlichen Raumes abgelehnt. Das Weltganze wird vielmehr (dem Formprinzip einer Kugel gleich) als fertig Vollkommenes mit Grenzen und Maß ver-

2.1. Die Entstehung dualistischer Weltbilder in der Antike

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schafft. Der Raum bleibt dabei für die primäre Welterfassung universelles Prinzip, „die Basis des Wirklichen“ (HEIMSOETH 1971: 87). Wie Aristoteles in seiner Schrift »Über die Seele« (ARISTOTELES 1995: III 8, 432a 7f) ausführt, bildet die sinnliche Wahrnehmung die Basis des Erkennens. Aus ihr wird in Verbindung mit Gedächtnis und Erinnerung die Erfahrung. Mit Hilfe der Erfahrung ist es möglich, Gemeinsamkeiten der Dinge zu identifizieren. Man kann also unter Anwendung der induktiven Logik von einer Reihe beobachteter Einzelfälle auf das Allgemeine, das Wesen der Dinge schließen. Während der Rationalismus davon ausgeht, dass unsere Ideen Apriori – also vor der Erfahrung – gegeben sind, geht Aristoteles davon aus, dass Wissen aus der Erfahrung entsteht (BARNES 1992: 94). Der von ihm begründete, systematisch und aktiv betriebene Empirismus räumt also der Erfahrung als Quelle der Erkenntnis Vorrang vor der Vernunft ein. Die Erkenntnis ist aposteriori – sie geht der Erfahrung nach (GABRIEL 1998: 29). Wahrheit liegt also außerhalb des Menschen in den Dingen begründet und wird folglich durch den Forschenden entdeckt. Aristoteles präsentiert mit seinem empirisch-realistischen Ansatz nicht nur eine Möglichkeit, sich die Welt zu erschließen und zu erklären, sondern entwickelt mit seinen Beobachtungskriterien auch neue Ordnungsschemata für die Wahrnehmung von Welt (BARNES 1992: 64), wobei Raum für ihn die Ordnung der physischmateriellen Dinge bezeichnet (WERLEN 1999: 151). Die aristotelische Lehre wird im Weiteren vor allem für die empirisch arbeitenden Naturwissenschaften bis wenigstens in das 17. Jhd. hinein bestimmend (BARNES 1992: 110).34 Die Geographie bildet hier keine Ausnahme. In diesem Umstand liegen auch die erkenntnistheoretisch-historischen Ursprünge der Geographie als empirisch-realistische Wissenschaft begründet, die traditionell auf substanzialistische Raumbegriffe referiert (WERLEN 1999: 146). Substanzialistische realistische Raumvorstellungen werden in der Geographie prägend zum einen für geodeterministische Ansätze, die nach Gesetzmäßigkeiten der MenschNatur-Beziehungen fragen und für die Handlungsfreiheit des Menschen keinen Platz lassen, sowie zum anderen für raumwissenschaftliche (und damit auch raumwirtschaftliche) Ansätze, die Raum als gegeben voraussetzen müssen, um sinnvoll nach seinen Gesetzmäßigkeiten suchen zu können (WERLEN 1999: 136f). Aristoteles‘ Einfluss durch die Entwicklung der Logik, den Entwurf eines substanzialistischen Raumkonzeptes, die Erfindung von systematisierenden Ordnungsprinzipien und die Erfindung der empirischen Methode kann insofern nicht hoch genug eingeschätzt werden und prägt über die Geographie hinaus bis heute unsere Sprach- und Denkgewohnheiten (ebd.: 137f). Mit dem Widerspruch von Rationalismus und Empirismus bzgl. der Möglichkeit der Erlangung wahren Wissens begründet sich die zweite dualistische Grund-

standen und muss daher als endlich aufgefasst werden. Das Unendliche, Leere, wäre demgegenüber unfertig und unzulänglich, hätte keine wirkliche Realität (HEIMSOETH 1971: 98). 34 Man kann durchaus diskutieren, ob dies nicht sogar weitgehend sogar bis heute gilt – zumindest die Grundanlagen empirischer Forschung ähneln sich doch immer noch sehr.

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

struktur erkenntnistheoretischer Debatten. Sehr vereinfacht gesprochen kann in der Konstitution und den unterschiedlichen Akzentuierungen der Wichtigkeit der unser Denken bestimmenden Dualismen bei Platon und Aristoteles der Grund für die bis heute anhaltenden Konflikte zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern identifiziert werden. Dieser Konflikt stellt ein zunehmendes Problem in der Schnittstellenforschung zwischen Human- und Physischer Geographie dar. 2.1.2. Zwischenfazit In der Antike bilden sich die dualistischen Perspektiven auf unsere Welt heraus, die bis heute unsere Denkgewohnheiten strukturieren: die Trennung von Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Kultur und Natur, Intellekt und Gefühl oder Denken und Tun. Damit halten zwei erkenntnistheoretische Positionen Einzug in die Philosophie, die Erkenntnis entweder von der Seite der Vernunft (Idealismus/Rationalismus), oder von der Seite der Erfahrung (Realismus/Empirismus) aus suchen. Mit diesen Positionen verbunden ist eine metaphysische Verdoppelung unserer Lebenswelt in eine „wirkliche“, menschenunabhängige Welt und in die Welt unserer Wahrnehmung bzw. Ideen, die den Grundstein legen für den bis heute anhaltenden Konflikt zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern und das Schnittstellenproblem zwischen Human- und Physischer Geographie. Ausgehend von der Verdoppelung der Welt wird vor allem Aristoteles‘ früher Empirismus, sein absolutes und substanzialistisches Raumverständnis und seine Korrespondenztheorie der Wahrheit bestimmend für die spätere Entwicklung der Naturwissenschaften im Allgemeinen und für geodeterministische und raumwissenschaftliche Ansätze in der Geographie im Besonderen. Die dualistische Strukturierung der Welt wird bereits in der Antike herausgefordert durch die pyrrhonische Skepsis, die an den Gewissheiten der idealistischen und realistischen Positionen systematisch zweifelt und als Ergebnis die Unerkennbarkeit der Welt für den Menschen postuliert. Erkenntnis wird deshalb radikal an die menschliche Perspektive gebunden und damit relativiert. Sowohl der Wahrheitsanspruch der Wissenskonzepte von Rationalisten wie Empiristen wie auch ihre Weltbilder als Idealisten bzw. Realisten sollten sich in der nachfolgenden Zeit einer permanenten gegenseitigen, wie auch skeptischen Herausforderung gegenübersehen. Diese Situation verändert sich erst in der Moderne, als ihre prominenten Vertreter selbst zu herausragenden Skeptikern werden. 2.2. ERNEUERUNG UND GRENZEN DUALISTISCHEN DENKENS UND ABSOLUTEN WISSENS Die wesentliche Aussage der pyrrhonischen Skepsis basiert auf den zwei Überzeugungen, dass Erkenntnis und Wissen grundsätzlich unmöglich sind und man sich deshalb am besten jeglichen Urteils entheben sollte. Der Skeptizismus ist damit nicht nur eine Art kritische Betrachtung von Wissensansprüchen, sondern

2.2. Erneuerung und Grenzen dualistischen Denkens und absoluten Wissens

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vor allem eine Lebensform. Der moderne Skeptizismus hebt sich deutlich von der antiken pyrrhonischen Skepsis ab. Er unterscheidet sich von ihr in viererlei Hinsicht (vgl. GRUNDMANN & STÜBER 1996: 18f): Erstens wird die Skepsis auf erkenntnistheoretische Fragen beschränkt, eine skeptische Lebensform wird ausdrücklich für unmöglich gehalten, da sie jeder menschlichen Entscheidung oder Handlung die lebenspraktische Grundlage entziehen würde. Zweitens ist der Skeptizismus keine isolierte erkenntnistheoretische Position mehr, sondern wird methodisches Instrument jeder Erkenntnistheorie. Damit wird es bspw. möglich, Idealist oder Realist und gleichzeitig Skeptiker zu sein. Das bedeutet jedoch auch, dass die möglichen Positionen von Skeptikern vielfältig und relativ unübersichtlich werden. Drittens stützt sich der moderne Skeptizismus nicht mehr auf „unabhängige“ Erkenntnisse, um die Behauptung der Unmöglichkeit von Wissen zu rechtfertigen. Die pyrrhonischen Skeptiker hatten ja gerade aufgrund unabhängiger Erkenntnisse behauptet zu wissen, dass Wissen grundsätzlich unmöglich sei. Diese Form der Skepsis wird deshalb auch universeller Skeptizismus genannt. Wenn Wissen aber grundsätzlich unmöglich wäre, könnten auch die Skeptiker kein Wissen hinsichtlich ihrer Behauptung, dass Wissen unmöglich sei, für sich beanspruchen. Durch eine unabhängige Rechtfertigung wird der universelle Skeptizismus also in sich widersprüchlich. Die moderne Skepsis rechtfertigt deshalb ihre Thesen vielmehr anhand innerer logischer Konsequenz des jeweils infrage gestellten Wissensanspruches. Sie stützt sich dabei „auf Argumente, die rational zeigen, dass die Meinungen des fraglichen Bereichs nicht gerechtfertigt sind“ (ebd.: 17). Dadurch, dass sie sich sozusagen parasitär verhält ohne eine eigene Basis auszubilden und stattdessen innere logische Unstimmigkeiten der angegriffenen Wissensansprüche thematisiert, entgeht sie dem Problem des pyrrhonischen Skeptizismus.35 Viertens schließlich differenziert sich der moderne Skeptizismus in verschiedene Unterformen aus. Die wichtigsten und hier relevanten Unterformen sind die partielle Skepsis und die Skepsis gegenüber sicherem Wissen. Die partielle Skepsis behauptet, dass uns Wissen über bestimmte Gegenstandsbereiche – wie eine Außenwelt – unmöglich ist. Die Skepsis gegenüber sicherem Wissen behauptet wiederum, dass gesichertes Wissen nicht erreichbar ist, weil wir nicht wissen können, ob unser Wissen wahr ist (ebd.: 15f). Doch wie kommt es zur Herausbildung dieser nicht minder herausfordernden Standpunkte und Thesen? Interessanterweise versuchen sowohl Rationalisten wie Empiristen das skeptische Problem zu lösen, indem sie sich auf die Suche machen nach einer Basis des sicheren, d. h. wahren Wissens. Um sie frei zu legen, bedienen sie sich des Skeptizismus als Methode, um gerechtfertigte von ungerechtfertigten Meinungen zu unterscheiden. Dazu versuchen sie von beiden dualistischen Positionen aus – der des Geistes und der der Materie – zu zeigen, wie man zu si-

35 Wie später HORKHEIMER & ADORNO mit der »Dialektik der Aufklärung« (1969) eindrücklich demonstrieren, birgt jedoch auch der moderne Skeptizismus einen Glaubenssatz, nämlich den an die absolute Gültigkeit der Erkenntnisinstrumente der Ratio und der Logik, weswegen auch der Skeptizismus dem Letztbegründungsdilemma nicht zu entkommen vermag.

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

cherem Wissen gelangen kann. Insbesondere fünf Namen werden untrennbar mit diesem Projekt in der beginnenden Moderne verbunden: René Descartes, John Locke, Isaac Newton, George Berkeley und David Hume. 2.2.1. Descartes’ Erneuerung des Geist-Materie-Dualismus und seine Suche nach sicherem Wissen René Descartes (1596–1650) „gilt im Allgemeinen als Begründer der modernen Philosophie“ (RUSSELL 1999: 567). Descartes stellt fest, dass immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse in seiner Zeit nicht mit den Annahmen der scholastischen, aristotelischen Philosophie vereinbar sind. Vor diesem Hintergrund will Descartes deshalb eine neue Philosophie schaffen, die das alte System überwindet und den Wissenschaften eine neue philosophische Basis bietet, die auf unbezweifelbaren Grundlagen beruht (DESCARTES 2006: 67ff). Die neue Philosophie, die Descartes in seinen Schriften »Abhandlung über die Methode die Vernunft richtig zu gebrauchen« und »Meditation über die Grundlagen der Philosophie« vorschwebt, soll das Fundament eines sicheren Wissens frei legen (ebd.: 132). Dazu teilt er die Welt in zwei voneinander streng getrennt gedachte Dimensionen ein: die des Geistes (res cogitans) und die der Materie (res extensa) (DESCARTES 1870a: 6; DESCARTES 1870b: 130). Eng verbunden mit dieser Unterscheidung ist das Raumkonzept, das sich Descartes zu eigen macht. Bereits in seinen »Abhandlungen« und in seinen »Meditationen« wird ein geometrisch geprägtes Verständnis von Raum als ContainerRaum deutlich (DESCARTES 2006: 83, 150). In seinen »Philosophischen Prinzipien« differenziert DESCARTES dann im zweiten Kapitel über die »Prinzipien der körperlichen Dinge« (1870a: 42ff) sein auf einem Container-Raum beruhendes, substanzialistisches Raumkonzept (WERLEN 1999: 144, 152ff) im Detail weiter aus. Während materielle Dinge (im Gegensatz zur Seele) immer eine Ausdehnung im Raum hätten, sei deren Wahrnehmung allein vom erkennenden Subjekt abhängig. Raum sei deshalb durch die Lage der Objekte in einem als fix gedachten Koordinatensystem beschreibbar, das letztlich als Abstraktum unendlich wie auch gleichförmig verstanden werden müsse. Das auf den ersten Blick scheinbare Paradox liegt nun darin, diesen abstrakten Raum als eine substanzielle (nicht materielle!) Realität aufzufassen, als das Bleibende im Strom stetiger Veränderungen und als Grundlage für alle unsere Wahrnehmungen (HEIMSOETH 1971: 100). Da das Bewusstsein mit seinen Wahrnehmungen selbst keine Ausdehnung besitze, sei es jedoch kein Element dieses Raumes, weshalb physisch-materieller Raum und menschliche Bewusstseinsinhalte als zwei grundlegend unterschiedliche Dinge aufzufassen seien, so Descartes. Doch wie will Descartes auf dieser Grundlage eine sichere Basis der Erkenntnis finden? Dazu bedient er sich des so genannten methodischen Zweifels. Demnach muss grundsätzlich alle Gewissheit angezweifelt und einer kritischen, methodischen Prüfung unterzogen werden (DESCARTES 2006: 78). Anschließend soll nichts als wahr anerkannt werden, was nicht so „klar und deutlich“ ist, dass man

2.2. Erneuerung und Grenzen dualistischen Denkens und absoluten Wissens

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„keinerlei Anlass hat, daran zu zweifeln“ (ebd.: 64). Zu zweifeln ist demnach an allem, was die kleinste Möglichkeit des Irrtums beinhaltet (ebd.: 142). Nur was ohne Zweifel übrig bleibt, kann als gewiss gelten und ist damit eines der gesuchten ersten Prinzipien (ebd.: 79, 110). Auf seiner Suche nach den unbezweifelbaren Prinzipien operiert DESCARTES mit zwei berühmten Hypothesen: der Traum-Hypothese (ebd.: 143ff) und der Dämon-Hypothese (ebd.: 146f). In seiner Traum-Hypothese führt er an, dass wir nicht sicher sein könnten, dass wir nicht gerade träumen etwas wahrzunehmen, da ein Traum von Wachheit nicht zu unterscheiden sei. In der Situation eines Traumes bestehe keine Möglichkeit für den Träumenden sich zu versichern, dass er nicht träumt. Ja, es ist sogar möglich zu träumen man sei aufgewacht. Wenn aber Traum von Wachheit nicht unterscheidbar ist, wie können wir dann behaupten, dass unsere Sinneswahrnehmungen als Basis sicheren Wissens dienen können? In seiner Dämon-Hypothese argumentiert Descartes damit, dass wir nicht sicher sein könnten, dass wir nicht von einem bösen Dämon in unseren Sinneswahrnehmungen getäuscht würden. Um Sicherheit zu erlangen, müssten wir die Möglichkeit des Vergleichs der Wirklichkeit mit unseren Wahrnehmungen besitzen. Wenn aber alle unsere Wahrnehmungen auf das Tun eines Dämons zurückzuführen sein könnten, wie können wir uns dann ihrer Gültigkeit sicher sein?36 Am Ende von Descartes‘ Suche nach sicherem Wissen bleibt von den vertrauten Gewissheiten praktisch nichts übrig. Er stellt am Ende seiner ersten Meditation fest: „[Ich] bin nunmehr genötigt anzuerkennen, dass alles, was ich früher für wahr hielt, bezweifelt werden kann, und zwar nicht aus Unbedachtsamkeit und Leichtsinn, sondern aus triftigen, wohl erwogenen Gründen“ (ebd.: 146).

Da uns unsere Wahrnehmung der physisch-materiellen Welt täuschen könne, könne Wissen folglich, so seine Überzeugung, ausschließlich auf der Seite des Geistes, im menschlichen Bewusstsein, entstehen – eine klassisch rationalistische Position.37 Mit dieser Ontologie nimmt Descartes eine radikale Subjektivierung von Erkenntnis vor. Erkenntnis liegt demnach in der Perspektive des Subjekts begründet und nicht im „unmittelbaren“ Objekt. Descartes entscheidet sich daher, Erkenntnis auf der Seite des Geistes und nicht auf der Seite der Materie zu suchen. Der einzig mögliche Weg zur Erkenntnis liegt deshalb seiner Meinung nach im richtigen Gebrauch der Vernunft und nicht in der Wahrnehmung bzw. der Empirie (DESCARTES 2006: 47ff). Lässt man sich auf diese sehr hohen Standards eines absolut sicheren Wissens ein, muss man Descartes ohne Zweifel Recht geben mit seiner Argumentation. Offensichtlich ist sicheres Wissen nur schwerlich zu erreichen. Als Menschen be36 Ein Argument, dass später von PUTNAM (1981) aufgegriffen wurde. Putnam modernisiert die Dämon-Hypothese von Descartes in Form seines viel diskutierten Beispiels über Gehirne im Tank, die von einem bösen Wissenschaftler mithilfe neuronaler Stimulationen über ihre Situation perfekt getäuscht werden. Beide Ideen wurden später von der Filmindustrie Hollywoods in den Filmen der Matrix-Serie aufgegriffen. 37 Descartes kann damit in einer ideengeschichtlichen Linie mit Platon gesehen werden.

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

finden wir uns offenbar in einer doppelt epistemisch intransparenten Situation, die uns eine sichere Verortung in einer Welt außerhalb unseres Bewusstseins unmöglich macht. Man kann deshalb nicht einmal wissen, dass überhaupt eine Welt jenseits oder außerhalb der eigenen Vorstellungen existiert (ebd.: 141ff). Dies gilt sogar unter dem Umstand, dass man, wie DESCARTES (2006: 146) selbst feststellt, aus lebenspraktischen Gründen geradezu gezwungen ist, von der Existenz dieser Außenwelt auszugehen. Ist Descartes damit mit seiner Suche nach der sicheren Basis des Wissens gescheitert? Nein, denn letztendlich findet er doch die Gewissheit, die unbestreitbar wahr sein muss – den vermeintlichen ‚Nullpunkt’ jeder Erkenntnissuche. Der methodische Zweifel beinhaltet nämlich seine eigene Überwindung, denn wenn ich zweifle, muss ich existieren – „ich denke, also bin ich“: Cogito ergo sum (ebd.: 79).38 Doch der Preis, den Descartes für die Offenlegung eines sicheren Wissensfundaments bezahlt, ist hoch: das Ich ist auf der Bühne des gesicherten Wissens alleine, alles andere sind zweifelhafte Vorstellungen. Der menschliche Geist ist seiner (materiellen) Umwelt entäußert, denn letztendlich können Menschen sich zwar der Existenz ihres Geistes, aber nicht der ihres Körpers sicher sein, da sie ja um letztere zu überprüfen auf ihre potenziell trügerischen Wahrnehmungen angewiesen wären. Descartes befindet sich in einer Sackgasse. Sein Geist ist gefangen in einem Zustand des Solipsismus. Sichere Erkenntnis über unsere (Um-) Welt ist von dieser Seite des Geist-Materie-Dualismus aus nicht zu erreichen. Doch mit einem Trick, gleichsam wie Münchhausen sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehend, entwindet sich DESCARTES der Solipsismusfalle durch eine Rekursion auf Gott (ebd.: 81ff, 160ff). Mit einem Gottesbeweis aus der scholastischen Philosophie,39 versucht Descartes zuerst die Existenz Gottes nachzuweisen: Er behauptet, die Idee der Unendlichkeit der Existenz Gottes könne nicht in der Endlichkeit des Menschen ihren Ursprung haben. Gott existiere also, und er wäre als Gott nicht vollkommen, wenn er die Menschen über das Wesen der Welt täuschen würde. Da Gott aber vollkommen sei, täusche er die Menschen nicht und deshalb existiere auch die körperliche Welt unserer Wahrnehmung. Ist der destruktive Teil in Descartes‘ Werk in seiner gedanklichen Schärfe bestechend, so kann man sich bezüglich des konstruktiven Teils durchaus RUSSEL (1999: 576) anschließen, der Descartes Ausweg aus der Solipsismusfalle durch seinen metaphysischen Rekurs auf Gott aus einer wissenschaftlichen Perspektive heraus als unbefriedigend erachtet. Doch was bleibt von Descartes‘ Philosophie mit Hinsicht auf die Geographie festzuhalten? Erstens spaltet Descartes die Welt in zwei Teile: den Geist des cogito und die Materie. Mit dieser Trennung aktualisiert er die dualistische Teilung der Welt aus der Antike und schreibt sie in der Philosophie der Moderne fest (SPIERLING 2006: 169). Zweitens macht er eine substanzialistische Raumauffas-

38 Wie David Hume später zeigen sollte, kann jedoch auch das Wissen um das Ich als Fundament des Wissens durchaus begründet infrage gestellt werden. Mehr dazu in Kapitel 2.2.4. 39 Wie er beispielsweise in der Version bei Thomas von Aquin berühmt geworden ist.

2.2. Erneuerung und Grenzen dualistischen Denkens und absoluten Wissens

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sung populär, die später in Form des Container-Raumes in der Geographie weite Verbreitung findet. Das moderne Raumkonzept Descartes‘ (und alle, die sich an es anlehnen, wie das Newtons, Galileis und Kants) erhält im Vergleich zum antiken Raumverständnis einen enormen Bedeutungszuwachs, indem es neue ontologische Wesenseigenschaften in sich aufnimmt: die Unendlichkeit, die Gleichförmigkeit und die Rationalität, mit deren Hilfe Raum beschrieben werden kann. Erst diese neuen ontologischen Eigenschaften des Raumes schaffen zusammen die Voraussetzung, um Naturerkenntnis in Form von mathematischen Naturgesetzen zu denken (HEIMSOETH 1971: 98f). Ich werde hierauf gleich nochmals zurückkommen. Drittens ändert sich mit Descartes die Perspektive auf Erkenntnis – sie wird im Subjekt zentriert und liegt nicht im Objekt oder der Welt der Ideen begründet. Viertens wäre in diesem dualistischen Weltbild sicheres Wissen über die Welt außerhalb von uns nicht möglich,40 da wir dann keine Möglichkeit haben, bezüglich der Wahrheit unserer Meinungen sicher zu sein. Von diesem Punkt aus ist jedoch eine empirische geographische Wissenschaft auf der Suche nach Erkenntnis über die Welt, in der wir leben, schlicht und ergreifend nicht möglich. Trotzdem bleibt uns offensichtlich nichts anderes übrig, als uns so zu verhalten, als ob wir Wissen über diese Welt besäßen. Fünftens ermöglicht Descartes mit der Trennung von Geist und Materie letztendlich vor allem ein neues, individualzentriertes Konzept von Erkenntnistheorie, denn „die Idee einer Disziplin, die sich mit der Natur, dem Ursprung und den Grenzen der menschlichen Erkenntnis beschäftigte – die Lehrbuchdefinition von Erkenntnistheorie – erforderte ein »das menschliche Bewusstsein« genanntes Forschungsgebiet – und dieses Forschungsgebiet war es, was Descartes geschaffen hatte“ (RORTY 2003: 159).

Die Vorstellung eines eigenständig existierenden menschlichen Bewusstseins gab es vor ihm nicht. Erst durch seine Abgrenzung des Bewusstseins von der Welt ist die Schaffung eines eigenständigen Forschungsgebietes über das menschliche Bewusstsein, den menschlichen Geist, möglich. Sie ist zudem die Voraussetzung für die Schaffung des oben beschriebenen neuen Raumkonzeptes, das mit der Entseelung und Versachlichung der Natur einhergeht. Ein schönes Beispiel für seine neue Art Natur zu denken liefert DESCARTES (1870a) in »Von der sichtbaren Welt« in seinen »Prinzipien«, in denen er den Versuch unternimmt, die Natur mit Hilfe mathematischer Modelle zu beschreiben und zu erfassen, die er – wie er in seinen Abhandlungen bereits ausgeführt hat – aus Experimenten ableitet: „Indem ich in Folge dessen in meinem Geiste alle Dinge, die sich je meinen Sinnen dargestellt hatten, durchging, war ich im Stande, jedes aus den von mir gefundenen Prinzipien bequem abzuleiten. Allein ich muss auch anerkennen, dass die Macht der Natur soweit und umfassend, und diese Prinzipien so einfach und allgemein sind, dass es keine besondere Wirkung gibt, die nicht in verschiedener Weise daraus abgeleitet werden könnte, und dass die größte Schwierigkeit meist in der Ableitung der bestimmten Formen besteht. Ich weiß hierfür kein

40 Zumindest nicht, wenn wir als Wissenschaftler nicht gewillt sind, Descartes Folge zu leisten auf seinem metaphysischen Argumentationsweg über die Existenz Gottes.

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte anderes Hilfsmittel, als Versuche anzustellen, deren Ergebnisse sich nach Verschiedenheit dieser Formen verschieden herausstellen. Ich bin jetzt so weit, dass ich die Gesichtspunkte kenne, nach denen die dazu dienlichen Versuche in der Regel anzustellen sind; allein sie sind auch solcher Art und Anzahl, dass weder meine Hände noch meine Mittel, und wären sie tausendfach grösser, dazu hinreichen würden. Ich kann deshalb auch nur nach der Zahl der von mir vollführbaren Versuche in der Naturkenntniss [sic] vorschreiten“ (DESCARTES 2006: 111)

Auch wenn die Ergebnisse von Descartes‘ eigenen empirischen Arbeiten aus heutiger Sicht noch recht unbefriedigend waren, legt er mit seiner rationalistischen Philosophie und experimentellen Vorgehensweise jedoch den Grundstein für eine neue Art Naturwissenschaft (FEYERABEND 2009: 277), die darauf abzielt, die Natur „mit mathematischer Exaktheit [zu] vermessen, [zu] berechnen und [zu] beherrschen“ (SPIERLING 2006: 169). Das Wesen der Natur liegt in dieser Perspektive in ihren Regularitäten, die als Naturgesetze gedacht werden, begründet (DETEL 2007: 60). Damit legt Descartes den Grundstein für einen positiven Naturbegriff in der Philosophie, demzufolge alles Natur ist, „was Teil des notwendigen Gesetzeszusammenhanges ist oder unter notwendige Gesetze fällt“ (HAMPE 2006: 127).41 Natur wird reduziert auf „mathematisch-quantitatives Sein, sonst nichts“ (HEIMSOETH 1971: 100). Sie wird nur noch mechanistisch und mathematisch in Form von Formeln und Modellen gedacht und damit letztlich „entwirklicht“ (HAMPE 2006: 122). Hinter der empiristischen Fassade der modernen cartesianischen Art von Naturwissenschaft wird damit ein metaphysischer Idealismus deutlich, dessen idealistisches Naturverständnis dafür verantwortlich ist, dass man sich in der Forschung möglichst schnell von der untersuchten, jedoch als unordentlich (im Sinne von nicht standardisiert) wahrgenommenen, Realität loslösen möchte, um zu objektiv (allgemein-) gültigen Erkenntnissen zu gelangen. Es ist dessen entseelte und versachliche Natur, die gegenwärtig in Teilen der Mensch-Umwelt-Forschung als eine äußere Umwelt verstanden wird, in der der Mensch in erster Line als externer Störfaktor gedacht wird (und aufgrund des von Descartes postulierten Dualismus von Mensch und Natur eigentlich systemimmanent auch gedacht werden muss). Ohne Descartes wäre also die bis heute existierende und gängige Unterscheidung zwischen Mensch und Natur sowie Physischer und Humangeographie genauso wenig denkbar, wie die Frage, wie es möglich ist, eine Beziehung zwischen dem Mensch und seiner Umwelt zu denken und zu untersuchen. 2.2.2. Empirismus und Abbildtheorie bei Locke und Newton Die Aufspaltung zwischen Geist und Materie und die Entwicklung eines neuen mathematisch-modellhaft fassbaren Naturverständnisses durch Descartes legen den Grundstein für die Philosophie von John Locke (1632–1704), der zusammen 41 Diesem positiven Naturbegriff gegenübersteht ein negativer Naturbegriff, dem entsprechend alles das als Natur betrachtet wird, das „ohne menschliche Planung und Intentionalität »von selbst« geschieht, also auch das Zufällige, das nicht gesetzesmäßig erfassbar ist“ (ebd.).

2.2. Erneuerung und Grenzen dualistischen Denkens und absoluten Wissens

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mit Isaac Newton (1642–1727) zum philosophischen Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften wird. Descartes‘ Solipsismusfalle wollen Locke und Newton dadurch entgehen, dass sie, wie schon Aristoteles, Erkenntnis aus der Erfahrung zu gewinnen versuchen. Sie beschreiten einen empirischen Ansatz, der in seiner experimentellen Anlage und in seinen mechanistischen Erklärungsmustern durchaus an den von Descartes anschließt. Locke zufolge ist der Vorrat von Vorstellungen über die Welt jedoch nicht angeboren, wie dies Descartes voraussetzt, sondern entsteht aus der Erfahrung (vgl. LOCKE 1873: 101 – II 1 § 2), die wiederum durch die Sozialisation geprägt ist (ebd.: 422ff – II 33). Grundlegend für Lockes Denken ist daher eine Verdoppelung der Welt, wie wir sie bereits bei Platon kennen gelernt haben. Zwar können seiner Meinung nach – und da stimmt er Descartes durchaus zu – nur Ideen Gegenstand unserer Erkenntnis sein; diese repräsentierten jedoch die wirkliche Welt außerhalb des Bewusstseins. Locke ist insofern die Schlüsselfigur einer jeden modernen Abbildtheorie. Dieser Theorie nach werden unsere Wahrnehmungen kausal durch Einwirken äußerer Gegenstände auf unsere Sinne verursacht, die sich mit Hilfe der rationalen Logik rekonstruieren lassen (ebd.: 101f – II 1 §3). Die Abbild- oder auch Repräsentationstheorie ist bis heute die erkenntnistheoretische Basis für die Mehrheit der Arbeiten in der deutschen Geographie. Newton entwickelt in der Physik von dem Raumkonzept Descartes‘ ausgehend das Konzept eines physisch-materiellen, substanzialistischen ContainerRaums entscheidend weiter. Er versteht wie Descartes Raum als einen dreidimensionalen Behälter, der endlich oder unendlich sein kann und ganz oder teilweise mit Materie gefüllt ist (vgl. NEWTON 1999: 28f). Sein Raumverständnis ist zudem absolut: „Der absolute Raum, seiner Natur nach ohne Beziehung zu irgendetwas Äußerem, bleibt immer gleichartig und unbeweglich. Ein relativer [Raum] ist für diesen Raum ein Maß bzw. eine beliebige bewegliche Dimension, die von unseren Sinnen durch die Lage zu den Körpern bestimmt wird und von den gewöhnlichen Leuten an Stelle des unbeweglichen Raumes benutzt wird, wie zum Beispiel die durch ihre Lage zur Erde bestimmte Dimension eines Raumes unterhalb der Erdoberfläche, eines Raumes in der Atmosphäre oder eines Raumes im Himmel. Der [zu einem Körper gehörende] absolute [Raum] und der [zu demselben Körper gehörende] relative [Raum] sind der Gestalt und der Größe nach identisch, aber sie bleiben nicht immer der Zahl nach identisch. Nämlich, wenn sich die Erde bewegt, um ein Beispiel anzuführen, so wird der Raum unserer Atmosphäre, der relativ und bezüglich der Erde gesehen immer derselbe bleibt, von dem absoluten Raum bald der eine Teil sein, in welchen die Atmosphäre übergeht, bald von ihm ein anderer Teil, [in welchen die Atmosphäre übergeht] und so wird er sich, absolut gesehen, beständig verändern“ (ebd.).

Dieses absolute Raumkonzept ist – wie EINSTEIN (2006: 96) erklärt – für Newton notwendig, weil er Raum nur so als erklärende Variable in die Physik einführen kann, um die Massenträgheit erklären und damit seiner Mechanik und seinen Bewegungsgesetzen einen Sinn geben zu können. Ohne den absoluten Raum wäre also sein relativer Distanz-Relationen-Raum sinnlos. Sein Raumkonzept ist dabei in dem Sinne absolut, dass der Raum „auf die Dinge wirkt, dass aber auf ihn nichts modifizierend einwirken [kann], das grenzenlose, ewig unveränderliche Gefäß allen Seins und Geschehens“ (ebd.). Raum und Zeit sind dann etwas „Hy-

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

perphysikalisches; sie sind nicht unmittelbar zugängliche, wenigstens nicht genau bestimmbare, unabhängige Urvariablen, nach welchen sich die ganze Welt richtet“ (MACH 1917: 443). Der absolute Raum Newtons impliziert deshalb auch einen räumlichen Determinismus (WERLEN 1999: 167). Raum und Zeit werden insofern zu einem metaphysischen „Monstrum“ (MACH 1917: 347), zu „selbstständigen und doch körperlosen Wesen“ (ebd.: 442). Interessanterweise funktionieren die meisten Teile von Newtons Mechanik auch ohne seinen absoluten Raum. Was hat ihn dann aber zu dessen Annahme veranlasst? Um diese Frage beantworten zu können, muss man wissen, dass zu Newtons Zeit das Ideal der Wissenschaften darin bestand, Einsicht in Gottes vollkommenes Wissen zu erhalten. CRAIG (1979: 2) nennt diese erkenntnistheoretische Weltsicht deshalb das Einsichtsideal der Wissenschaften. Der Erwerb von Wissen wird mit dem Einsichtsideal zum Selbstzweck, zu einem moralischen Gebot für gläubige Menschen, die sich auf diesem Wege Gott zunehmend annähern wollen. Vor diesem Hintergrund kann durchaus vermutet werden, dass Newtons Entwurf eines absoluten und ewig gültigen Raumes – und dessen vermeintliche empirische Bestätigung – letztlich von dem Versuch motiviert war, sich einer Einsicht in Gottes Schöpfung anzunähern. Weder zufällig noch überraschend betrachtet daher, wie WERLEN (1999: 163ff) detailliert herausgearbeitet hat, Newton den Raum als ein Attribut Gottes. Raum wird also spiritualisiert.42 Der unendliche Gott ist es, der die Vielheit der Welten im unendlichen, gottgeschaffenen Raum aufhebt (HEIMSOETH 1971: 98). Wenn Raum zugleich eine determinierende Wirkung auf die körperlichen Dinge zukommt, lässt sich anhand dessen dann nicht nur die Gottbestimmtheit der Natur demonstrieren (WERLEN 1999: 167), sondern durch die Forschung auch Einblick in Gottes „Buch der Natur“ gewinnen (HEIMSOETH 1971: 103). Wie bei Descartes steht also auch am Ende der Entwicklung einer empirischen Erkenntnistheorie durch Locke und Newton Gott als letztes metaphysisches Prinzip. Mit dieser erst auf den zweiten Blick als Metaphysik zu durchschauenden realistischen Ontologie setzen Locke und Newton die Existenz einer real und von uns unabhängig und absolut existierenden Außenwelt als Prämisse voraus, was sich – wie Berkeley und Hume zeigen werden – als problematisch und schwerlich haltbar erweisen wird. Eine Kritik, der sich insofern auch die mit den damit verbundenen Containerräumen operierende „klassische“ deutsche Geographie, aussetzen muss, zudem ein absolutes, substanzialistisches Raumkonzept erhebliche Probleme mit sich bringt, die theorieimmanent nicht auflösbar sind und erst durch den

42 LEIBNIZ zeigt später (2006) in seinen Briefen an Clark, in denen er das Raumkonzept Newtons diskutiert, und in seiner Erwiderung (1873) auf Locke, dass somit die Frage nach der Ontologie des Raumes zu einer Frage der Ontologie Gottes wird. Wie WERLEN (1999: 173) treffend dazu anmerkt, wird dann die Diskussion um Raum jedoch zu einer theologischen Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Welt. Im Sinne der Aufklärung ist damit in erkenntnistheoretischer Hinsicht aber natürlich nichts gewonnen.

2.2. Erneuerung und Grenzen dualistischen Denkens und absoluten Wissens

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Übergang zu einem relativen Raumbegriff beseitigt werden konnten (EINSTEIN 2006: 97).43 2.2.3. Berkeley oder die beginnende Auflösung antiker Dualismen Es ist schließlich George Berkeley (1685–1753), der auf dem Empirismus und der Abbildtheorie aufbaut, sie radikalisiert und konsequent weiterentwickelt (vgl. KLEMMT 1957: IX). BERKELEY will die Ungereimtheiten und Widersprüche unseres tradierten Denkens aufdecken, indem er die »Prinzipien der menschlichen Erkenntnis« untersucht (1957, Orig. 1710). Dabei legt er die Schwächen der Abbildtheorie Lockes mit der ihr immanenten Verdoppelung unserer Welt offen. Doch wie gelingt ihm das? Berkeley zeigt, dass man nicht Gegenstände wahrnimmt, sondern sich „Ideen“ bildet. Dabei ist es den Menschen aufgrund ihrer epistemologischen Situation nicht möglich, Wahrnehmungen mit den sie angeblich verursachenden Wahrnehmungsgegenständen zu vergleichen – denn dazu wäre man ja wieder auf Wahrnehmungen angewiesen.44 Jedes Gedankenexperiment, das versucht, sich der Wahrnehmung vorgängige, materielle Gegenstände ohne ein erkennendes Subjekt vorzustellen, scheitert zwangsläufig, weil es das voraussetzt, was es gerade ausschließen möchte: das Subjekt (BERKELEY 1957: 26 – §3).45 Folglich ist es unmöglich, Aussagen über Dinge außerhalb der Wahrnehmung zu treffen. Das Sein kann nur im Bewusstsein existieren. Der Dualismus von wahrgenommener Repräsentation und wirklichem Gegenstand fällt in sich zusammen, denn hinter dem empirischen Fakt der menschlichen Wahrnehmung ist für BERKELEY nichts identifizierbar: „Die Existenz einer Idee besteht im Perzipiertwerden. (…) Denn was sind die vorhin erwähnten Objekte [der angeblichen Außenwelt, Anm. d. V.] anderes als die sinnlich von uns wahrgenommenen Dinge, und was perzipieren wir anderes als unsere eigenen Ideen oder Sinnesempfindungen?“ (1957: 26f – §2 & 4).

Die Konsequenz seiner Überzeugung, dass Sein Wahrgenommenwerden bedeutet, ist die Ablehnung der Vorstellung einer unabhängig vom Menschen existierenden, materiellen Welt. BERKELEY vertritt damit im Gegensatz zu Locke den Standpunkt eines Immaterialismus, den er wie folgt begründet:

43 Die Diskussion in der Physik über das Newton’sche Raumkonzept wiedergeben zu wollen würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Für eine kurze Zusammenfassung der Problematik sei auf die bereits zitierten Arbeiten von Einstein und Mach verwiesen. 44 Die gleiche Argumentation greifen im 20. Jhd. Vertreter des kognitionstheoretisch begründeten Radikalen Konstruktivismus auf (bspw. FOERSTER 1985; GLASERFELD 2003; MATURANA 1987). 45 Berkeley schließt sich damit an einen rationalistischen Grundgedanken an, der bereits in Platons Höhlengleichnis angelegt ist.

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte „Wäre es aber auch möglich, dass feste, gestaltete, bewegliche Substanzen, die den Ideen, welche wir von Körpern haben, entsprächen, außerhalb des Geistes existierten, wie sollte es uns möglich sein, dies zu wissen? Entweder müssten wir es durch die Sinne oder durch Denken erkennen. Durch unsere Sinne haben wir nur Kenntnis unserer Sinnesempfindungen, Ideen oder jener Dinge, die (…) unmittelbar sinnlich wahrgenommen werden; aber die Sinne lehren uns nicht, dass Dinge außerhalb des Geistes oder unperzipiert existieren, die denjenigen gleichen, welche perzipiert werden“ (ebd.: 34 – §18).

Eine Kenntnis einer realen Außenwelt über die Wahrnehmung ist demnach nicht möglich (ebd.: 35 – §20). Aussagen über die reale Existenz materieller Dinge sind damit schlichtweg sinnlos. Ja, sie sind sogar erst die Voraussetzung jeder skeptischen Argumentation, deren Grundlage dann entfällt, wenn man nicht Ideen mit Urbildern vergleichen will, sondern die Ideen selbst als Urbilder betrachtet (ebd.: 73f – §86, §87). Dann sind jedoch Wahrnehmung und Wahrnehmungsgegenstand ein und dasselbe. Die innerweltliche Verdoppelung der Welt Lockes löst sich in einem phänomenologischen Monismus46 auf. Die Erkenntnistheorie Berkeleys hat natürlich auch Konsequenzen für sein Raumverständnis, das sich elementar von dem Lockes und Newtons unterscheidet. Unsere dreidimensionale Wahrnehmung von Raum ist für ihn auch kein Beweis für die Existenz eines dreidimensionalen Container-Raumes, sondern eher eine Art symbolische Ordnung, die der wahrnehmende Mensch in die von ihm wahrgenommenen Dinge hineininterpretiert: „Wenn wir (…) einen außer uns liegenden Raum und wirklich in ihm existierende Körper, die einen in größerer Nähe, die anderen in weiterer Entfernung von uns wahrnehmen können, so scheint dies einigermaßen dem oben Gesagten, dass sie nirgendwo außerhalb des Geistes existieren, zu widerstreiten. Die Erwägung dieser Schwierigkeit war das, was meinen »Versuch einer neuen Theorie des Sehens« veranlasste, der vor nicht langer Zeit veröffentlicht worden ist. Hierin wird gezeigt, dass Entfernung oder Draußensein vermöge des Gesichtssinnes nicht unmittelbar durch sich selbst perzipiert wird, und dass sie auch nicht auf Grund von Linien und Winkeln oder irgendetwas damit in notwendiger Verbindung Stehendem aufgefasst oder beurteilt wird, sondern vielmehr uns zum Bewusstsein durch gewisse sichtbare Ideen und das Sehen begleitende Wahrnehmungen gelangt, welche an sich selbst keine Ähnlichkeit mit oder Beziehung zu Entfernung und entfernten Dingen haben, vermöge einer Verbindung aber, welche wir durch Erfahrung kennen lernen, uns zu reichen für Entfernung und entfernte Dinge werden und uns diese ins Bewusstsein rufen, in derselben Weise, wie Worte irgendeiner Sprache die Ideen, zu deren Vertretung sie gebildet worden sind, ins Bewusstsein rufen“ (ebd.: 47 – §43).

Raumwahrnehmung ist deshalb für Berkeley immer an ein Erleben geknüpft, weshalb abstrakte und absolute Raum- und Zeitkonzeptionen für normale Menschen nicht nachvollziehbar seien (ebd.: 79f – §97). Berkeley wehrt sich auch entschieden gegen Newtons substanzialistische und absolute Raumkonzeption (ebd.: 87ff – §110ff), die – für einen Bischof, wie ihn, völlig unannehmbar – ja auf eine Art pantheistische Verschmelzung von Gott und Welt hinauslaufen müsste, die sich nur durch eine Unterscheidung von Gottesraum und Weltenraum und damit die Postulierung zweier unendlicher Räume aufheben ließe, womit jedoch 46 Idee der Einheit von Wahrnehmungswelt und „Außenwelt“.

2.2. Erneuerung und Grenzen dualistischen Denkens und absoluten Wissens

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in beiden Fällen erkenntnistheoretisch nichts gewonnen wäre (HEIMSOETH 1971: 113). Dem setzt Berkeley die Auffassung des Raumes als relativer Raum entgegen. Er begründet dies damit, dass der Raum ja immer durch die Vorstellung der relativen Position und relativen Bewegung von mindestens zwei Körpern (und der Vorstellungsleistung des Beobachters von ihnen) definiert werden könne (BERKELEY 1957: 88ff – §112ff). Berkeley vertritt damit als Erster eine entschieden relationale47 und relativistische Perspektive auf Raum.48 Diese Konzeption ermöglicht es ihm, sich sowohl einer Verdoppelung der Welt, wie auch einer pantheistischen Allheitskonzeption derselben zu entziehen.49 So modern Berkeleys Kritik50 am absoluten Raumkonzept Newtons und seine Idee eines relationalen Raumes aus heutiger Sicht anmuten mag, so wirft davon unabhängig seine Erkenntnistheorie erhebliche Probleme auf: Erstens beweist er zwar schlüssig, dass das Postulat der Existenz einer unabhängig von Menschen existierende Materie ein dogmatischer, ungerechtfertigter Glaube sei, argumentiert dann aber in einem (logisch unzulässigen) Schluss weiter, dass es keine Materie gebe. Dieser radikale Standpunkt des Sein-ist-wahrgenommen-werden führt sozusagen zu einer dogmatischen Umkehr des Realismus. Zweitens kann Berkeley in letzter Konsequenz die Dauerhaftigkeit der Existenz von Ideen bzw. Wahrnehmungen genauso wie Descartes nur durch einen Rekurs auf die Existenz Gottes sicherstellen – was ihm als Bischof jedoch nicht ungelegen gekommen sein dürfte (vgl. GABRIEL 1998: 106f). Am Schluss seiner Gedanken verfolgt also auch Berkeley eine metaphysische Argumentation, die dogmatischen Setzungen folgt. Lassen wir die Metaphysik Berkeleys beiseite, was können wir zusammenfassend für unsere Zwecke festhalten? Angesichts der Tatsache, dass auch heute noch die erkenntnistheoretische Basis der traditionellen, deutschen Geographie auf der Abbildtheorie Lockes und dem Raumkonzept Newtons aufbaut, erscheint der Anspruch Berkeleys, die Ungereimtheiten und Widersprüche unseres tradierten Denkens aufzudecken, ungebrochen aktuell wie nötig zu sein. Berkeley denkt

47 Raum meint im relationalen Sinne „die Beziehung zu materiellen Objekten und Beziehungen unter diesen (…) nicht aber zwischen einem Objekt und »Raum« [Hervorh. i. Orig.]“, da im Denken von Relationisten Raum an sich nicht existiert (WERLEN 1999: 168). Raum ist in dieser Perspektive vielmehr als eine Ordnung koexistierender Dinge zu betrachten (ebd.: 167). 48 LEIBNIZ (1873, 2006) entwickelt später eine relativistische Raumkonzeption, die in weiten Teilen Parallelen zu der Berkeleys aufweist. Da seine Argumentation jedoch erstens kaum substanziell über das Berkeley'sche Raumkonzept hinausweist und sich zweitens extrem metaphysisch begründet, wird hier auf eine detaillierte Darstellung seines Raumkonzeptes und seiner Philosophie verzichtet. Für die weitere Diskussion ist es ausreichend festzustellen, dass mit Berkeley und Leibniz eine relationale Perspektive auf Raum in die Diskussion eingeführt wurde, die später auch in der Geographie auf fruchtbaren Boden fallen sollte. 49 Die Voraussetzung dafür ist jedoch seine Negation des absolut-realen räumlichen Materiebegriffs, das dem absoluten Raumkonzept zugrunde liegt (HEIMSOETH 1971: 113f). Das Ergebnis des von ihm vertretenen Wahrnehmungsprimats aller Weltauffassung mag uns zunächst befremdlich erscheinen, ergibt aber vor diesem Hintergrund durchaus einen nachvollziehbaren Sinn. 50 Einschränkend muss gesagt werden, dass dies weniger für deren Motivation gelten mag.

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den Empirismus konsequent weiter und zeigt widerspruchsfrei, „dass wir Eigenschaften wahrnehmen, nicht Dinge, und dass die Eigenschaften durch den Wahrnehmenden bedingt sind“ (RUSSEL 1999: 657). Beobachter und Beobachtetes sind demnach untrennbar miteinander verbunden.51 Die Bedeutungen der Dinge sind dementsprechend nicht mehr sinnvoll als ihre Eigenschaften, sondern als symbolvermittelte Zuschreibungen der Subjekte zu verstehen. Damit erteilt Berkeley als Erster jeder Art von Essentialismus eine Absage. Aussagen über eine menschenunabhängige Realität, Außenwelt, absolute Wahrheit oder den absoluten Raum, die hinter unserer Wahrnehmung liegen sollen, sind deshalb nicht sinnvoll möglich und nichts weiter als Metaphysik. Die Unsicherheit des Menschen über die Welt lässt sich für ihn allein über den Glauben an Gott auflösen. Sichere Erkenntnis ist damit von der materiellen Seite des GeistMaterie-Dualismus aus jedoch folglich ebenfalls nicht zu erreichen. Kann Raum als substanzielles, absolutes Objekt jedoch nicht hinter der Wahrnehmung ausgemacht werden, dann verlieren alle Spielarten der geographisch empirischen Raumwissenschaft ihr Objekt und damit ihre erkenntnistheoretische Legitimation (WERLEN 1999: 224f). Auch die Raumwirtschaftslehre beschäftigt sich in diesem Sinne mit einem erkenntnistheoretisch leeren Begriff und muss daher eher der Metaphysik als einer modernen, aufgeklärten Wissenschaft zugerechnet werden. Auch wenn Berkeleys Arbeiten insofern erhebliche Bedeutung für die Geographie mit sich bringen und einer empirischen Geographie auf den ersten Blick im Wege zu stehen scheinen, steht für ihn (1957: §35, §40, §86), für manche vielleicht nach dem Gesagten überraschend, die Wirklichkeit unserer Wahrnehmungswelt nicht zur Debatte – sie ist für ihn ein empirisches Faktum. Sie aber zu reifizieren, sie zu einem Objekt zu machen, das als Zentrum eine eigene Wissenschaftsdisziplin legitimieren soll, ist nach Berkeley schlicht nicht mehr möglich, will man ihm nicht in seiner metaphysischen Argumentation über Gott folgen. Ein an Berkeley angelehntes, modernisiertes Raumverständnis kann folglich nur einer menschzentrierten, monistischen Konzeption folgen. Berkeley kann damit durchaus als „Urvater“ der modernen Phänomenologie verstanden werden. 2.2.4. Hume oder die empirische Untauglichkeit dualistischer Weltbilder Descartes‘ Weg des Rationalismus hatte die moderne Philosophie in eine Sackgasse geführt, aus der es nur einen metaphysischen Ausweg gab – Gott. Locke, Newton und Berkeley versuchen die sichere Erkenntnis demgegenüber in der Er51 Dass Beobachter und Beobachtetes nicht zu trennen sind, ist ein Kerngedanke Berkeleys, der später vor allem von Wissenschaftstheoretikern und Philosophen unterschiedlichster Couleur aufgegriffen wird. Im Radikalen Konstruktivismus von FOERSTER (2003: 44) wird diese Diagnose dabei genauso eines der Basisaxiome wie auch in der konstruktivistischen Wissens– und Wissenschaftssoziologie bei KNORR-CETINA (1984), dem Neopragmatismus bei RORTY (2003), dem Relativismus bei FINE (2000) und dem methodologischen Anarchismus und Relativismus von FEYERABEND (1977, 1995).

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fahrung zu finden. Doch auch sie verhaften mit den Grundlagen ihrer Arbeiten in metaphysischen Annahmen: Locke baut seine Philosophie auf einem erkenntnistheoretisch nicht haltbaren realistisch-dualistischen Weltbild auf, Newton und Berkeley beziehen sich wie Descartes auf das stärkste metaphysische Prinzip, Gott. David Hume (1711–1776) ist schließlich der erste Philosoph, der versucht, sich metaphysischen Letztbegründungen seiner Philosophie zu entziehen. Wie Berkeley ist Hume Empiriker. HUME geht in seinem »Traktat über die menschliche Natur« (Orig. 1741) also davon aus, dass „die einzig sichere Grundlage, die wir (…) Wissenschaft geben können, in der Erfahrung und Beobachtung liegt“52 (2004: 13 – Einführung).

Hume will die von Locke, Newton und Berkeley begonnene empirische Philosophie konsequent durchdenken (vgl. RUSSEL 1999: 668). Die empirische Philosophie soll sich also auch empirisch fundieren, anstatt sich auf metaphysische Annahmen zu stützen. Hume geht es jedoch um viel mehr. Darin, ihn auf die Absicht zu reduzieren lediglich den Empirismus zu Ende denken zu wollen, sieht CRAIG sogar nichts weniger als eine Trivialisierung seiner Leistung. Hume wollte nach der Ansicht CRAIGS (1979: 33) „ein ganzes, weit verbreitetes und viel verzweigtes Weltbild [überwinden] – ein echtes (dualistisches) Weltbild, das eine theologische und eine anthropologische Seite hatte, eine erkenntnistheoretische und eine ontologische Seite, und schließlich (und vielleicht sogar am wichtigsten) auch eine ethisch moralische Seite“.

Kurz: HUME will eine neue Perspektive auf Welt etablieren, die frei von jeder Metaphysik, Religion und Aberglauben sein sollte (HUME 2005: 10f): Er verfolgt damit kein geringeres Ziel als die der damaligen Zeit zugrunde liegende Weltauffassung entkräften zu wollen und wendet sich deshalb gegen die Vorstellung, dass das menschliche Erkenntnisvermögen dem göttlichen ähnlich sei und damit gegen das Einsichtsideal der Wissenschaften (CRAIG 1979: 2). Humes Ziel ist es sogar zu zeigen, dass es nicht möglich ist, sich durch Forschung dem göttlichen Wissen anzunähern oder gar in dieses Einblick zu bekommen. Wie begründet Hume diese Position und welche Konsequenzen folgen aus ihr für die Geographie? Schauen wir uns dazu zuerst einmal seine Argumentation genauer an. Nach HUME (2004: 17ff) zerfallen alle Bewusstseinsinhalte (perceptions) in Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas)53. Unter Eindrücken versteht 52 Hume hat das erste Buch des »Traktates« in Teilen später (1748) überarbeitet und unter dem Titel »Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand« als eigenständiges Werk veröffentlicht (CRAIG 1979). Die Angaben hier beziehen sich teilweise auf den Originaltext des »Traktates«, teilweise auf die » Untersuchung«. 53 Diese Unterscheidung stellt sich aus philosophischer Perspektive bei einer kritischen Prüfung als problematisch heraus. Die Problematik der Unterscheidung spielt aber faktisch für die Schlüssigkeit Humes späterer Argumentation keine Rolle. Daher ist es für seine nachfolgend geschilderten Schlussfolgerungen nicht relevant, ob sich diese Unterscheidung logisch halten lässt (KULENKAMPFF 1989: 40ff). Ihre Schilderung vereinfacht jedoch als Begriffsklärung den

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er dabei unmittelbare Wahrnehmungsinhalte, die sich aus Sinneswahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen (wie Gefühlen) zusammensetzen. Demgegenüber grenzt er Vorstellungen als nicht unmittelbare Bewusstseinsinhalte ab, die entstehen, wenn man sich mit nicht gegenwärtig existenten Dingen oder Gefühlen geistig auseinandersetzt. Das Bewusstsein besteht ausschließlich aus Eindrücken und Vorstellungen, die gleichwertig nebeneinanderstehen. Eindrücke sind dabei in der Regel unmittelbarer, plastischer in der Wirkung auf das Bewusstsein, da sie dessen erste Bausteine darstellen. Vorstellungen werden nämlich entweder gebildet aufgrund einer Gedächtnisleistung (memory) (Erinnerung an vergangene Sinneswahrnehmungen und Gefühle) oder mit Hilfe der Einbildungskraft (imagination). Durch die Einbildungskraft können die einzelnen Elemente der Eindrücke und Vorstellungen neu organisiert und strukturiert werden, wobei der Mensch frei ist, neue Kombinationen und Vorstellungen zu schaffen (ebd.: 25ff). Es ist letztendlich die Einbildungskraft, die die Welt über einzelne Eindrücke hinaus erschließt und überschaubar macht. Die Art wie Vorstellungen miteinander verknüpft und Urteile gebildet werden, ist für HUME wesentlich durch die Erziehung geprägt (ebd.: 236ff). Die Vorstellungen von der Welt sind folglich in hohem Maße sozial beeinflusst. Die sozial geprägte Einbildungskraft strukturiert die Lebenswelt in einem derart hohen Maße vor, dass bestehende Denkstrukturen als Vorstellungen neuen Generationen eingeschrieben werden.54 Bis hierhin ist die vorliegende Konzeption in Grundzügen mit denen von Locke und Berkeley identisch bzw. kompatibel. Doch jetzt kommt der entscheidende empiristische Wendepunkt: Wenn alle Vorstellungen und damit Erkenntnis nur aus neuen Variationen und Kombinationen von Eindrücken gewonnen werden, bedeutet dies, dass nichts in der Vorstellung erschaffen werden kann, was nicht vorher in Form eines Eindrucks vorhanden war: „Es pflegt von den Philosophen zugegeben zu werden, ist aber auch an sich ziemlich einleuchtend, dass nichts dem Geist je wirklich gegenwärtig ist als seine Perzeptionen, d. h. seine Eindrücke und Vorstellungen, und dass äußere Gegenstände uns nur durch die Perzeptionen, die sie veranlassen, bekannt sind. (…) Wenn nun dem Geiste nichts gegenwärtig ist als Perzeptionen, und Vorstellungen immer aus etwas entstanden sein müssen, das zuvor schon dem Geist gegenwärtig gewesen ist, so folgt, dass es uns unmöglich ist, eine Vorstellung von etwas zu bilden oder zu vollziehen, das von Vorstellungen und Eindrücken spezifisch verschieden wäre“ (ebd.: 82).

Einstieg in Humes Philosophie, weshalb es aus praktischen Gründen sinnvoll erscheint, sie hier darzulegen. 54 Hume sieht die Wirkungskraft der Erziehung vor allem begründet durch die stetige Wiederholung von Beziehungserklärungen und einer daraus resultierenden Gewohnheit, die Welt in der vertrauten Form zu betrachten. Dies erkläre auch, warum es starke Widerstände gegen wissenschaftliche Revolutionen gibt. In dem Gedanken der Prägung unserer Einbildungskraft durch unsere Sozialisation ergeben sich deutliche Parallelen zur pragmatischen Philosophie und zum sozialen Konstruktivismus, auf die später noch eingegangen wird.

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Erkenntnis kann folglich nur aus der Erfahrung gebildet werden. Daraus ergibt sich jedoch, dass alle Aussagen, die nicht auf Eindrücke zurückgeführt werden können, gehalt- und sinnlos sind: „Haben wir daher Verdacht, dass ein (…) Ausdruck ohne irgendeinen Sinn oder eine Vorstellung gebraucht werde (…), so brauchen wir bloß nachzuforschen, von welchem Eindruck stammt diese angebliche Vorstellung her? Und lässt sich (…) kein solcher aufzeigen, so wird dies zur Bestätigung unseres Verdachts dienen“ (HUME 2005: 22).

Derartige Aussagen können folglich nur ein Produkt der Einbildungskraft sein. Hiermit ist das Sinnkriterium gefunden, um sinnvolle von metaphysischen Aussagen abgrenzen zu können. Dieses Sinnkriterium ist in die Philosophiegeschichte als Hume’sches Rasiermesser eingegangen (vgl. GABRIEL 1998: 57). Wissen (knowledge) kann nur erlangt werden über Beziehungen zwischen Vorstellungen (relation of ideas)55 und über Tatsachen (matter of facts), die sich aus der Erfahrung erschließen (HUME 2005: 35). Man könnte jetzt vermuten, dass metaphysische Aussagen ihren Ursprung in einer chaotischen und zufälligen Tätigkeit der Einbildungskraft haben. Doch dann könnte den Menschen ihre Welt nicht als regelhaft erscheinen und wir müssten orientierungslos in unseren Lebenswelten umherirren. Folglich muss die Einbildungskraft auf allgemeinen Prinzipien der Assoziation von Vorstellungen basieren, die die Organisation und Strukturierung der Vorstellungen bedingen und so eine wiederkehrende, zumindest grundlegend gleichartige Konstruktion der Lebenswelt unterschiedlicher Individuen ermöglichen. Diese Assoziationsprinzipien, so Hume, gleichen also Axiomen, nach denen Erfahrungen in Beziehung zueinander gesetzt werden. Auf der Basis dieser Axiome ist es überhaupt möglich, über den unmittelbaren Eindruck hinaus weitergehende Vorstellungen zu den Funktionsweisen und Regelhaftigkeiten der Welt zu entwickeln. Sie versetzen die Menschen in die Lage, aus wiederholten Einzelerfahrungen zu lernen, Gelerntes zu generalisieren und so Handlungsfähigkeit in einer unübersichtlichen Welt zu erlangen. Sie können damit als Grundaxiome der menschlichen Erkenntnisweise verstanden werden. Die Assoziationsprinzipien, von denen die Rede ist, sind laut HUME Ähnlichkeit, zeitlicher und räumlicher Zusammenhang sowie Ursache und Wirkung (vgl. HUME 2004: 27). Nur wenn diese Prinzipien einer kritischen Überprüfung standhalten, wären Menschen in der Lage, zu sicherem Wissen zu gelangen – andernfalls würde die Einbildungskraft in die Irre führen. Will HUME die Prinzipien der Wirklichkeitsbildung nicht metaphysisch rechtfertigen, müssen sie entweder einer logischen – apriorischen – oder einer empirischen Prüfung standhalten. Dies ist der Gegenstand seiner Arbeit im weiteren Verlauf des ersten Buches seines »Traktates« und der Kern seiner »Untersuchungen«. kommt bei der Prüfung der Möglichkeit des Wissens und der Prinzipien der Beziehungsbildung in der Einbildungskraft schließlich zu folgendem Ergebnis:

55 Beziehungen zwischen Vorstellungen bilden beispielsweise Mathematik und Geometrie.

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Erstens sind Tatsachenerkenntnisse nicht streng beweisbar. HUME (2005: 36) argumentiert dazu, dass nur Dinge bewiesen werden können, deren Gegenteil in sich nur widersprüchlich denkbar sei. Die Negation empirischer Tatsachen kann jedoch gedacht werden, ohne sich selbst zu widersprechen. Sie sind deshalb nicht logisch zwingend, sondern nur logisch möglich. Tatsachen sind deshalb nicht Gegenstand eines sicheren Wissens, sondern stellen letztlich nur Wahrscheinlichkeitserkenntnisse dar. Ihre Beweiskraft erhalten Tatsachen deshalb nicht aus sich selbst heraus, sondern lediglich durch die sie in Beziehung setzenden Assoziationsprinzipien (vgl. HUME 2004: 200ff; HUME 2005: 99). Wenden wir uns folglich nun zuerst einer Überprüfung der Assoziationsprinzipien zu: Das Prinzip der Ähnlichkeit liegt den anderen zwei Prinzipien zugrunde, denn es ist die Basis für jeden Vergleich und jede Verallgemeinerung. Wie sich herausstellt, ist die Ähnlichkeit jedoch „(…) die furchtbarste Quelle des Irrtums (…)“ (HUME 2004: 75ff), denn sie verführt zu Verwechslungen, da Unterschiede oft kaum sichtbar sind. So werden bspw. sehr leicht Begriffe mit Vorstellungen verwechselt, und es kommt zwangsläufig zu falschen Schlüssen. Wenn Ähnlichkeit jedoch zu Verwechslung und Irrtum führt, kann sie nicht gleichzeitig eine sichere Basis der Erkenntnis sein. Das Prinzip von zeitlichem und räumlichem Zusammenhang entpuppt sich als gehaltlos, weil Raum und Zeit keine eigenständigen Gegenstände der Wahrnehmung sind. Sie können deshalb auch keine eigenständigen Gegenstände der Vorstellung sein. Damit erweisen sich Raum und Zeit als Anschauungsweisen des Menschen und sind nicht Apriori gegeben. Raum und Zeit sollten stattdessen selbst als Vorstellungen verstanden werden, die dazu dienen, unsere Wahrnehmungen zu ordnen und zu strukturieren (ebd.: 50, 55). Unsere Vorstellungen von Raum und Zeit existieren folglich als Produkte der Einbildungskraft nur im Bewusstsein. Sogar das Prinzip von Ursache und Wirkung, das Kausalitätsprinzip, lässt sich genau betrachtet weder als apriorisch logische noch als empirische Gewissheit halten. Wie HUME zeigt, ist aus einem Sein ein Sollen logisch nicht abzuleiten (vgl. HUME 2005: 39ff).56 Nur aus der Erfahrung der Wiederholung zwei aufeinander folgender Ereignisse wird geschlossen, dass es eine kausale Verbindung gebe. Aber die Erfahrung lässt diesen Schluss bei genauer Betrachtung nicht zu. Beobachtet werden zwei Ereignisse. Eine Verknüpfung zwischen beiden Ereignissen ist jedoch nicht beobachtbar, eine Aussage über kausale Wirkungen deshalb rein aus der empirischen Beobachtung heraus nicht möglich. Unsere Einbildungskraft empfindet beide Ereignisse als verknüpft, weil man gewohnt ist, sie in zeitlicher Folge zu beobachten (ebd.: 55f). Eine sinnvolle Begründung für eine kausale 56 Dieser Befund ist in die Philosophiegeschichte als Hume‘sches Gesetz eingegangen. Es besagt, „(…) dass man allein aus Prämissen, die sagen, was ist (…), nicht deduzieren kann, was sein soll, dass man aus Tatsachenfeststellungen keine Normen ableiten kann“ (KULENKAMPFF 1989: 104). Wer gegen Selbiges verstößt, handelt zwar wie HUME selbst zugibt streng intuitiv – unterliegt damit aber dem so genannten Naturalistischen Fehlschluss (HÜGLI & LÜBCKE 2005: 294).

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Beziehung beider Ereignisse über die Gewohnheit hinaus ist jedoch nicht möglich – schon gar nicht durch einen apriorischen Denkakt. Genauso wenig ist es möglich, einen apriorischen Grund anzugeben, weshalb sich die Zukunft genauso wie die Vergangenheit verhalten soll, sich die Abfolge von Ereignissen beim nächsten Mal genauso wieder zutragen soll wie beim letzten Mal. Sichere Aussagen über die Zukunft sind also logisch nicht möglich: „Die Annahme, die Zukunft gleiche der Vergangenheit, [kann] nicht durch Argumente irgendwelcher Art bewiesen werden (…), sondern [entstammt] einzig und allein der Gewohnheit“ (HUME 2004: 155). „Wenn wir glauben, dass Feuer erwärmt oder dass Wasser erfrischt, so tun wir dies [doch eben tatsächlich] nur, weil es uns zu viel Mühe macht, anders zu denken“ (ebd.: 284).

Anstatt von der Notwendigkeit einer Beziehung zwischen Ereignissen reden zu können, wie es das Kausalitätsprinzip behauptet, müsse festgestellt werden, dass es sich lediglich um eine Erwartung im erkennenden Subjekt handelt (vgl. HUME 2005: 91). Die Konsequenz ist erschütternd: Mithilfe der Induktion lässt sich kein sicheres Wissen gewinnen. Alle Erfahrungsschlüsse sind somit „nichts als eine Art von [subjektiver] Empfindung“. Behauptungen über kausale Zusammenhänge entspringen also folglich eher der Sphäre des Glaubens – und nicht der sicheren Gewissheit. Das Konzept der Kausalität basiert allein auf der Gewohnheit der Einbildungskraft (vgl. HUME 2004: 121f; HUME 2005: 59). „Die vermeintliche Verstandestätigkeit, in der alle Schlüsse aus der Erfahrung gründen sollten, gibt es nicht und kann es prinzipiell auch nicht geben“ (CRAIG 1979: 67). Zweitens geraten auch die Beziehungen zwischen Vorstellungen und damit das apriorische Wissen wie die Grundsätze der Mathematik in der Folge ins Wanken: Besonders der cartesianischen und Newton’schen Geometrie und Mechanik liegen die Grundsätze der Ähnlichkeit und des Raumes als eigenständige Entität zugrunde. Wenn aber Ähnlichkeit nicht überprüfbar und genauso wie Raum nur eine Anschauungsweise ist, dann sind wesentliche Basisbegriffe der Mathematik leer, dann ist die Mathematik selbst reine Metaphysik. Das heißt nicht, dass die Mathematik nicht weiterhin in sich schlüssig sein kann, aber es bedeutet, dass sie als Basis sicheren Wissens untauglich ist, da sie allein der Einbildungskraft entspringt und mit empirisch leeren Begriffen operiert (vgl. HUME 2004: 58ff). Drittens zeigt Hume, dass es nicht möglich ist, zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmungsgegenstand zu trennen. Hinter unserer Wahrnehmung kann nichts ausgemacht werden (ebd.: 82). Hume schließt sich damit dem Befund Berkeleys zur Unmöglichkeit des Wissens über eine Außenwelt an. Zuletzt stellt Hume schließlich sogar viertens das „Wissen“ um die Existenz des Ich als unbegründeten Schluss in Frage, den doch Descartes noch als einzige sichere Gewissheit postuliert hatte. Erinnern wir uns: Descartes Argument war, dass die Tätigkeit des Zweifelns ein Beweis für die Existenz des Ich sei. Hume bestreitet nicht, dass im Zweifeln Vorstellungen gebildet werden, jedoch dass diese ein Beweis für die Existenz eines eigenständigen Ich darstellen. Dies sei nicht logisch zwingend. Die Tatsache des Zweifelns sage nur etwas darüber aus, dass gezweifelt wird, sie konstituiere jedoch damit noch keine eigenständige Identität

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

eines Ichs. Denn diesem müsste ein eigenständiger und unveränderlicher Eindruck zugrunde liegen. Dieser beständige Eindruck liegt aber anscheinend nicht vor. Das Ich ist deshalb nichts weiter als der aktuelle Bewusstseinsinhalt. Folglich liegt kein hinreichender Grund außer dem Glauben dafür vor, die Existenz der Identität anzunehmen (ebd.: 266ff). Sogar das Ich scheint ein Produkt der tätigen Einbildungskraft zu sein. Am Ende dieser Analyse sieht sich Hume einer deprimierenden Bilanz gegenüber: Rein logisches Denken führt zu metaphysischen Aussagen. Wendet man sich der Erfahrung zu, um zu sicherem Wissen zu gelangen, sieht das Bild allerdings nicht besser aus: Der Mensch bewegt sich nicht auf dem Fundament sicheren Wissens, sondern auf dem der Spekulation. HUME (2004: 280) stellt abschließend fest, dass „alle Erkenntnis, die uns das Gedächtnis, die Sinne und der Verstand vermitteln, auf der Einbildungskraft oder der Lebhaftigkeit unserer Vorstellungen [beruht].“

Die Lebenswelt muss folglich verstanden werden als Produkt der Art und Weise wie Menschen ihre Wahrnehmungen ordnen, strukturieren und miteinander verbinden. Wie Hume gezeigt hat, ist jedoch keines der dabei angewendeten Ordnungsprinzipien notwendig oder zwingend – im Gegenteil, sie sind zu einem erheblichen Maß durch Sozialisation bedingt und damit kontingent. Folglich bieten weder der Verstand noch die Erfahrung ein gesichertes Wissensfundament: Alle bisherigen Gewissheiten entpuppen sich als Produkte der Einbildungskraft. Am Schluss ist noch nicht einmal ein rationaler Glaube an die Existenz eines eigenständigen Ichs geblieben und auch über eine Außenwelt kann man keine Aussagen machen – ja sogar was die Wahrnehmungen verursacht bleibt im Dunkeln. Hume vertritt jedoch keinen nihilistischen Standpunkt. Er behauptet nicht, dass es eine Außenwelt,57 die bestimmten Regelhaftigkeiten und Funktionsprinzipien unterlege, nicht gebe. Er argumentiert jedoch, dass diese, wenn sie existiere, prinzipiell für uns unerkennbar sei. Hume nimmt hier also einen agnostischen58 Standpunkt ein. Am Ende seiner Analyse ist Hume selbst über diese Befunde erschrocken: „Zunächst sehe ich mich durch die menschenleere Einsamkeit, in die mich meine Philosophie geführt hat, in Schrecken und Verwirrung gesetzt; ich könnte mir einbilden, ich sei ein seltsames, ungeschlachtetes Ungeheuer; das, nicht geeignet, sich unter Menschen zu mischen und mit Menschen zu leben, aus allem menschlichen Verkehr ausgestoßen worden und völlig einsam und trostlos gelassen worden ist“ (ebd.: 278f).

Was für ein Fazit ist aus alledem zu ziehen? Hume formuliert es selbst sehr prägnant: „Wenn wir den menschlichen Verstand bis in seine letzten Wurzeln verfolgen, so finden wir uns zu Anschauungen hingedrängt, die alle unsere Bemühungen und allen unseren Fleiß illusorisch zu machen scheinen und geeignet sind, uns vor jeder weiteren Untersuchung abzu-

57 Wie dies Berkeley noch dogmatisch mit seinem radikalen Immaterialismus behauptet. 58 Als Agnostizismus wird die Lehre von der Unerkennbarkeit des wahren Seins bezeichnet.

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schrecken. (…) Es bleibt uns also nur die Wahl zwischen falscher Erkenntnis oder gar keiner“ (ebd.: 280ff).

Zusammenfassend stellt Hume damit fest, dass er mit seinem Ziel, die Wissenschaft auf ein gesichertes empirisches Fundament zu stellen, gescheitert sei. Während Humes Urteil über seine eigene Arbeit insofern durchaus negativ ausfällt, muss man aus heutiger Sicht feststellen, dass sein großer Verdienst jedoch genau darin liegt erkannt zu haben, dass es ein absolut sicheres Fundament des Wissens für Menschen nicht geben kann. Die letzten Prinzipien der Welt, der Wahrheit und der Existenz sind für den Menschen nicht erfassbar. Eine gottähnliche Erkenntnis, wie sie das Einsichtsideal postuliert, ist nicht möglich. Die Annahmen über die Welt und unsere eigene Existenz beruhen auf reinem Glauben (vgl. BAUMANN 2002: 22). Unter der Prämisse der Befolgung logischer Prinzipien ist der moderne Skeptizismus damit geeignet, den metaphysischen Charakter dualistischer Weltbilder zu demonstrieren, mit denen wir seit der Antike zu operieren gewohnt sind, die sich aber letztlich nur auf der Basis metaphysischer Dogmen aufrechterhalten lassen und deshalb erkenntnistheoretisch mehr Probleme schaffen als lösen. Humes Philosophie und Agnostizismus sind insofern bis heute eine „Herausforderung“ für die Philosophie und Wissenschaftstheorie geblieben (HAUK 2003: 168f). Hume hat mit seinem Befund, dass ein wissenschaftliches Projekt sinnlos ist, das darauf abzielt, die wahre Struktur unserer Welt abbilden und erklären zu wollen – weil dies für Menschen grundsätzlich nicht durchführbar ist – gleichsam für alle dualistisch denkenden, realistischen und positivistischen Wissenschaftler die Büchse der Pandora geöffnet. Sein moderner Skeptizismus ist deshalb „eine echte Bedrohung für unser kognitives Selbstverständnis (…), weil sie genau die Wissensansprüche in Frage stellt, die wir im Alltagsleben und in den Wissenschaften selbstverständlich“ (GRUNDMANN & STÜBER 1996: 20) im Rahmen dualistischer Weltkonzeptionen erheben. Seine Philosophie stellt insofern nicht nur für Philosophen eine Herausforderung dar, sondern insbesondere auch für alle sich am erkenntnistheoretischen Commonsense orientierenden, empirisch arbeitenden Wissenschaften, für „die die skeptischen Schlussfolgerungen (…) gänzlich unannehmbar“ sind (WILLIAMS 2003: 975). Hume wurde dementsprechend heftig bekämpft oder ignoriert und es wurde versucht, seine Erkenntnisse mit Hilfe von Commonsense-Thesen zu entkräften (vgl. KULENKAMPFF 2005: XI), um den absoluten Wissensanspruch der traditionellen dualistischen Erkenntnistheorien zu verteidigen. Bereits KANT hielt es so bspw. in der »Kritik der reinen Vernunft« (1787, Orig. 1781) für einen Skandal, dass das skeptische Argument noch nicht widerlegt sei, wozu ihm bis heute wohl die meisten empirisch arbeitenden Wissenschaftler beipflichten würden. Für Kant war diese Diagnose der Anstoß, um seine idealistische Transzendentalphilosophie zu entwickeln. Kants Erwiderung auf Hume hat in der Folge enormen Einfluss in der Philosophie entwickelt und in der jüngeren Moderne eine Renaissance im Neukantianismus erfahren. Auch wenn Hume und Kant weitgehend komplementär gelesen werden können und sogar überraschend viele Gemeinsamkeiten teilen, bleibt jedoch der Umstand bestehen, dass Kants Projekt letztlich darauf ausgelegt

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ist, das Einsichtsideal und damit das Bild des Menschen als „quasigöttlichen Anteil an der Schöpfung“ (KEUTH 2000: 137ff) sowie den absoluten Wahrheitsbegriff zu verteidigen. Unabhängig davon, ob Kants Philosophie wirklich in sich schlüssig ist oder das Konzept der synthetischen Urteile Apriori nicht doch erhebliche Probleme aufwirft (KEUTH 2000: 8), bleibt damit in seiner Philosophie das Grundproblem erhalten, dass Kant das Konzept der absoluten Wahrheit nur auf metaphysischen Prämissen aufbauen kann und wegen des damit verbundenen apriorischen Dogmatismus hinter Hume zurückfällt, der ja gerade diese Art von Metaphysik bekämpfen möchte (CRAIG 1979: 14). Damit zeigt Kants Arbeit aber immanent und gegen seinen Willen, dass die Basis unserer Wahrheiten Meinungen sind und es keine sichere Basis der Erkenntnis geben kann. Auch Kants Konzept eines (objektiven) Raumes als Apriori der Anschauung kann im Vergleich mit Humes Konzept nicht recht überzeugen. Wie Kant in dem Kapitel »Von dem Raume« in seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1787: 71ff) darlegt, entsteht für ihn im Unterschied zu Hume Raum nicht im Zuge des Ordnens der Wahrnehmung durch das Subjekt (Ordnungsfunktion), sondern ist als Wahrnehmungsstruktur Apriori, d. h. als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, gegeben. Kant erklärt damit aber nicht, warum Menschen in der Form ordnen, wie sie es tun (RUSSELL 1999: 722) und wodurch Unterschiede in der räumlichen Ordnung entstehen könnten. Unterschiede in der räumlichen Ordnung sind m. E. jedoch nur möglich, wenn der Raum nicht als Apriori gegeben, sondern als subjektiv konstituiertes Ordnungssystem verstanden wird, da ein apriorischer Raum ja auch als Apriori des Denkens und der Erkenntnis fungieren würde, die zwangsläufig die Vielfalt menschlicher Wirklichkeitsentwürfe einschränken müssten. Kants transzendentales Raumkonzept lässt sich daher auch nicht mit einer modernen Humangeographie vereinbaren, die gerade von einer Vielheit von in sozialer Praxis entstandenen Räumen ausgeht (WEICHHART 1999: 90; ZIERHOFER 1999: 181). RUSSEL (1999: 723) wie auch WERLEN (1999: 219) halten denn auch Kants absolutes Verständnis des Raumes als Apriori für wenig plausibel und für nicht zwingend. WERLEN stellt dazu fest, dass Raum nicht bloß Apriori sein kann, da seine Vorstellung offensichtlich auf Erfahrung beruht, die sich, wie Kant durchaus zu Recht anmerkt, zwar nicht auf einen irgendwie gearteten Gegenstand zurückführen lässt, die aber „auf der Erfahrung der eigenen Körperlichkeit, deren Verhältnis zu den übrigen ausgedehnten Gegebenheiten (…) und deren Bedeutung für die eigene Handlungsmöglichkeiten und unmöglichkeiten“ beruht (WERLEN 1999: 222).

Raum, so schließt WERLEN (1999: 218) daraus, hätte nicht wie Kant annimmt einen apriorischen, sondern einen formal-klassifikatorischen Charakter.59 Ein solches Raumverständnis deckt sich aber weitgehend mit dem Humes. Kants Raumkonzept war insofern nicht in der Lage, der Raumdiskussion aus heutiger Perspek59 Dies bedeutet, dass Raum formal in dem Sinne sei, dass er „eine Art Grammatik für die Orientierung in der physischen Welt darstellt“ und klassifikatorisch in dem Sinne, dass er „Ordnungen ermöglich[t], ohne selbst eine Klasse zu werden“ (WERLEN 1999: 222).

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tive fruchtbare neue Impulse zu verleihen.60 Stattdessen erscheint es eher wie der Versuch, althergebrachte metaphysische Positionen in einem modernisierten Gewande zu verteidigen, das jedoch hinter den Hume’schen Diskussionsstand zurückfällt.61 Da Humes Argumente offensichtlich vor dem Hintergrund einer dualistischen Erkenntnistheorie und absoluten Wirklichkeits- und Wahrheitsentwürfen nicht entkräftbar und zudem in sich widerspruchsfrei sind (RUSSELL 1999: 668; SPIERLING 2006: 193), erscheint es mir sinnvoller, sich den von ihm aufgezeigten Problemen zu stellen, anstatt weiter seine Ergebnisse zu bekämpfen oder zu ignorieren. HEIDEGGER hält es in diesem Sinne in »Sein und Zeit« (1977, Orig. 1927) viel eher für den Skandal, dass immer wieder erwartet und versucht werde, das skeptische Argument zu widerlegen, als dass dessen Widerlegung immer noch nicht passiert sei (BAUMANN 2002: 22). Sich den von Hume aufgezeigten Problemen zu stellen hat jedoch erhebliche Konsequenzen für das Selbstverständnis von Wissenschaftlern und für die Bewertung der im wissenschaftlichen Prozess gewonnenen Erkenntnisse. Die von Hume diskutierten Probleme lassen sich erst auflösen, wenn man sich von absoluten Wissensansprüchen und dualistischen Weltbildern verabschiedet, da die skeptizistische Argumentation nur auf Basis der Logik im Rahmen eines dualistischen Weltmodells und eines totalitären Wissensbegriffs möglich ist (WILLIAMS 2003: 981). Insofern stellt natürlich auch der Skeptizismus keine final gültige philosophische Perspektive dar, sondern ist nur unter bestimmten Bedingungen und Prämissen haltbar. Verabschiedet man sich von diesen Grundlagen, löst sich auch das skeptische Argument im Nichts auf. Der moderne Skeptizismus liefert insofern hinreichende erkenntnistheoretische Anstöße dafür, sich vom Konzept einer absoluten Wirklichkeit und absoluten Außenwelt, und das heißt auch von einer absoluten Realität oder eines absoluten Raumes, zu verabschieden. Die mit diesen Konzepten verbundene Abbildtheorie ist ein schönes Beispiel, warum eine solche Verabschiedung gerade auch aus praktischen Gründen vernünftig ist. Die Abbildtheorie beruht auf dualistischen metaphysischen Annahmen, für die es keine empirische Evidenz gibt. Ihre Konsequenz stellt darüber hinaus eine enorm große Hürde für neue Erkenntnisse dar, da sie behauptet, wir würden uns der außerhalb von uns existierenden absoluten Wahrheit durch wissenschaftliche Erkenntnis immer mehr annähern. Die nach wie vor vorhandene Nähe zum Einsichtsideal wird hier überdeutlich. In diesem Wissenschaftsentwurf haben es aber – wie KUHN (1967) ausgeführt hat – neue Erkenntnisse, die nicht mit den alten Deutungsschemata vereinbar sind, notwendigerweise sehr schwer sich durchzusetzen. Wissenschaftlichen Revolutionen und 60 Allerdings muss angemerkt werden, dass es wahrscheinlich auch weder im Interesse noch in der Absicht Kants lag, zur Weiterentwicklung der Raumdebatte einen Beitrag zu leisten. 61 Weshalb sich erstens begründet, warum Kant in der vorliegenden Arbeit kein eigenes Kapitel gewidmet wird und sich zweitens die Frage stellt, warum Kants Raumkonzeption trotz seiner Schwächen im Gegensatz zu dem Humes recht intensiv in der Vergangenheit in der Geographie diskutiert wurde. Für einen Überblick zu dem bedeutenden Einfluss, den Kant in der Geographie ausgeübt hat, vgl. bspw. MAY 1970 und LIVINGSTONE 1992.

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Paradigmenwechseln, wie die der Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik, wurde so die Durchsetzung erheblich erschwert. Die Abbildtheorie ist in diesem Sinne eben nicht unschädliche Metaphysik, sondern kontraproduktiv, weil dogmatisch. Für Hume war die Einsicht in den Dogmatismus der Abbildtheorie ein durchaus wünschenswertes Ergebnis eines gemäßigten Skeptizismus, das für ihn zwangsläufig zu größerer Bescheidenheit der Wissenschaftler, weniger Dogmatismus, Fanatismus und Aberglaube führen könnte (HUME 2004: 286; HUME 2005: 188ff). Vielleicht liegt darin der Schlüssel, seine Philosophie nicht als Bedrohung, sondern als Chance aufzufassen. Was bleibt nun aber als Fazit für eine angewandte Wissenschaft wie die Geographie? Müsste sie sich jetzt nicht jeder Tätigkeit als Wissenschaft über unsere Lebenswelt enthalten, wenn alle ihre Bemühungen, sichere Erkenntnisse über diese Welt zu gewinnen, zum Scheitern verurteilt sind? Müsste sie nicht im Sinne WITTGENSTEINs (1963: Satz 7) schweigen, da sie zu sprechen nicht in der Lage ist? Die Antwort auf diese Frage kann ganz pragmatisch nur Nein lauten, denn als Menschen brauchen wir möglichst verlässliche Erkenntnisse über die Welt, in der wir leben. Hume selbst stellt fest, dass auch der größte Empirist und Skeptiker in seiner Alltagswelt gar keine andere Wahl hat, als sich nach den Prinzipien der Induktion und der Kausalität zu verhalten. Das induktive Schließen scheint instinktiv in der menschlichen Natur angelegt zu sein. Wir glauben weder „an die Realität der Außenwelt, weil es ein beweisendes Argument für diese Überzeugung gibt, noch hören wir auf, an dieser Überzeugung festzuhalten, wenn skeptische Argumente sie als unbegründet erweisen. Die Grundüberzeugungen des natürlichen Bewusstseins sind einfach unempfindlich für rationale Argumentationen welcher Art auch immer [Hervorh. .i. O.]“ (KULENKAMPFF 1989: 50). Menschen nehmen ihre Lebenswelt offenbar als eine holistische Einheit wahr, deren Gesamtexistenz nicht durch Zweifel an einer ihrer Dimensionen in Frage gestellt wird. Unsere tägliche Erfahrung zwingt uns ganz pragmatisch, an kausale Beziehungen zu glauben und uns mittels unserer Einbildungskraft in unserer Welt zu orientieren (vgl. HUME 2004: 203ff). Zweck dieses induktiven und empirischen Vorgehens ist es, praktisch mit der Alltagswelt als unserem Handlungsbezug zurechtzukommen (HUME 2005: 57f). Hume wendet sich also nicht gegen die uns eigenen praktischen Grundüberzeugungen, die uns unsere Welterschließung ermöglichen. Er hält einen solchen Angriff interessanterweise im Gegenteil sogar für aussichts- und sinnlos, weil wir ohne sie nicht überlebensfähig wären, auch wenn sie sich nicht vernünftig begründen lassen. Auch wenn der instrumentelle Nutzen unserer praktischen Grundüberzeugungen also nicht sinnvoll angreifbar ist, ist es dennoch möglich, „eine bestimmte Theorie ihrer Herkunft“ anzugreifen (CRAIG 1979: 37). Wogegen sich Hume wendet, ist genau eine solche Theorie, nämlich die, nach der die menschliche der göttlichen Erkenntnis ähnelt und der Mensch absolut sicheres Wissen erlangen kann. Hume zeigt, dass jede Untersuchung mit der Setzung von Prämissen beginnt, die durch nichts als Glauben gerechtfertigt werden können. Sie sind folglich auch immer kontingent – immer auch anders denkbar. Am Ende seiner Arbeiten erreicht Hume mit dieser schlüssigen Argumentation sein Ziel und entkräftet

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die zu seiner Zeit geltende Weltauffassung des Einsichtsideals. Als schlüssige Alternative rückt für Hume ein pragmatischer Begriff von Wissen in den Vordergrund: Unsere Wissensbestände müssen nicht als absolute Wahrheiten haltbar sein, da sie in erster Linie als Grundlage unseres Handlungsvermögens dienen – sie müssen nicht absolut gewiss sein, benötigen nicht die Prämisse einer unabhängig von uns real existierenden Welt, um für uns in bestimmten Kontexten nützlich zu sein und ihren Zweck zu erfüllen (CRAIG 1979: 22). Der Mensch steht somit „nicht etwa mit seiner Vernunft über der Welt“ und erschließt sie sich dank eines gottgleichen Erkenntnisvermögens, sondern er steht „mit seiner natürlichen Beschaffenheit in ihr drin“ (ebd.: 85), er ist ihr eigener Konstrukteur. Hume weist damit „dem Menschen einen Platz im Naturgeschehen zu (…), das er früher sozusagen von der Tribüne aus betrachtet hatte“ (ebd.: 24). Der unbeteiligte Beobachter wird zum Akteur. Der erkenntnistheoretische Dualismus zwischen Geist und Materie, Mensch, Kultur und Natur löst sich auf. Die Aufgabe, der sich eine bescheiden gewordene nichtdualistische Geographie gegenübersieht, hat HUME (2005: 12) folgendermaßen beschrieben: „Es gestaltet sich also schon allein zu einem nicht unbedeutenden Teil der Wissenschaft, die verschiedenen Vorgänge im Geiste zu erkennen, sie voneinander zu sondern, sie unter die passenden Rubriken zu bringen und die ganze scheinbare Unordnung zu regeln, in welcher man sie antrifft, wenn man sie zum Gegenstand der Überlegung und Untersuchung macht. Diese Aufgabe des Einordnens und Unterscheidens, deren Erfüllung in Bezug auf Körper der Außenwelt, die Gegenstände unserer Sinne,[62] kein Verdienst ist, steigt im Werte, wenn sie sich auf die geistigen Vorgänge richtet, entsprechend der Schwierigkeit und Mühe, die uns bei ihrer Durchführung begegnen.[63] Und können wir auch nicht über diese geistige Geographie [Hervorhebung C.S.] oder Umreißung der verschiedenen Teile und Kräfte des Geistes hinauskommen, so ist es wenigstens eine Genugtuung, so weit zu gelangen.“

Eine wesentliche Basis für die Entwicklung handlungsorientierter, konstruktiver Wirklichkeitsentwürfe muss damit in Humes Philosophie gesucht werden. Die Geographie als Wissenschaft ist seit Hume gezwungen, Abstand zu nehmen von ihrem Anspruch, sich in der Sphäre der absoluten Erkenntnis zu bewegen, und muss herabsteigen in die Niederungen der Alltagswelt. Eine Geographie, die sich an Humes Philosophie orientiert, muss in diesem Sinne das Geographie-Machen als ein Strukturieren von Sinnbezügen thematisieren, mit denen Menschen ihre Lebenswelt organisieren. Raum wird damit bei HUME (2004: 50ff) zu einer An62 Hume redet hier natürlich nicht von einer absoluten Außenwelt, sondern von der Außenwelt, wie sie sich uns in Form der „Gegenstände unserer Sinne“ präsentiert. Die „Gegenstände unserer Sinne“ sind nicht als Teil einer Aufzählung, sondern als Explikation der „Außenwelt“ zu verstehen. 63 Modern ausgedrückt sagt Hume in seiner Terminologie aus, dass die pure Ordnung und Unterscheidung unserer Wahrnehmung noch keine besondere wissenschaftliche Leistung darstellt, sondern dass von einer solchen erst dann gesprochen werden kann, wenn wir die Mechanismen unserer Ordnung und Strukturierung zu erklären trachten. Den Prozess der Ordnung und Strukturierung belegt er mit dem Terminus der geistigen Geographie. Es geht ihm also um das, was die heutige Geographie als ‚Geographie Machen’ (bspw. HARTKE 1962, BARTELS 1974, WERLEN 1997: 25ff) beschreibt.

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schauungsweise und einem Ordnungsschema des im Erkenntnisprozess befindlichen, wahrnehmenden Menschen. Raum existiert deshalb bei ihm nicht Apriori wie später bei Kant, sondern wird erst im Erkenntnisprozess erzeugt.64 Umwelt kann uns folglich als Begriff und Konzept auch nicht mehr ontologisch als etwas uns Äußerliches, Absolutes gegenübergestellt werden, sondern ist erkenntnistheoretisch als relationales Ordnungskonzept zu begreifen, mit dem Menschen sich ihres relational erfahrenen Lebensraumes entäußern, um sich von diesem abzugrenzen und so ihre Welt zu ordnen und zu erschließen. Im relationalen Bezug aller Objekte zum Subjekt wird letztlich die menschliche Umwelt erfahren, was mit einer endgültigen Überwindung jeder Art substanzialistischer Raumkonzepte einhergehen muss. Humes Philosophie kann damit wohl zu Recht als revolutionär65 betrachtet werden, denn sie verschiebt den erkenntnistheoretischen Rahmen von einer gottgleichen Erkenntnis hin zum Menschen und bildet damit die Voraussetzung für die Herausbildung neuer erkenntnistheoretischer Positionen. Wie EINSTEIN (1954: 290) und FEYERABEND (1995: 385ff) festgestellt haben, verliert nachfolgend wissenschaftliche Erkenntnis konsequenterweise ihre uneingeschränkte Distinktionsfähigkeit von Alltagswissen, denn jede Aussage kann nur in ihrem spezifischen empirischen wie theoretischen Kontext beurteilt werden. Vor diesem Hintergrund wird denn auch klar, was Einstein (1954: 290) meinte, als er postulierte, dass „das Ganze der Wissenschaft (…) nichts weiter als eine Verfeinerung des Alltagsdenkens [ist]“. Mit Hume findet also eine Entzauberung der Alltagswelt statt, die vollständige Rationalisierung unserer Weltauffassung und die Verbannung jeder Metaphysik. Humes Erkenntnistheorie bildet damit den Ausgangspunkt der ersten wirklich modernen, aufgeklärten Philosophie, die konsequent das erkennende Subjekt und seine Erkenntnispraxis66 in den Mittelpunkt stellt. Damit 64 WERLEN (1999: 218) würde dieses Raumkonzept daher formell-klassifikatorisch nennen (s. o.). 65 Um die Radikalität der von HUME betriebenen Umwälzung in der Erkenntnistheorie zu verdeutlichen, stellt CRAIG (1979: 36) sie mit der rund 100 Jahre jüngeren Evolutionstheorie von Darwin auf eine Stufe und hebt heraus, dass es „ja beide Male darum [ging], wo der Mensch auf der Skala einzustufen ist, die von den niedrigsten Lebewesen zu Gott hinaufführen“. Hume, wie später Darwin, gibt also auf diese Frage eine neue Antwort, die heute für uns fast selbstverständlich erscheint, indem sie den Menschen dem Tier näher einstufen als Gott. Die Vernunft, auf die sich Menschen so viel einbilden, zeichnet uns nach den Ergebnissen Humes also offenkundig weitaus weniger aus und macht uns weniger Gott ähnlich, als die Menschen bis dahin glaubten. Die jüngste Renaissance der Religion und des Kreationismus, sowie die Beharrlichkeit in der Verfolgung realistischer Weltbilder zeigen zudem, dass es auch noch heute für viele Menschen schwer zu sein scheint, sich von dieser Überzeugung zu trennen. 66 Die hier skizzierte Fokussierung auf Praxis lässt sich konsistent nur vor dem Hintergrund der Verabschiedung realistischer Weltbilder und des Einsichtsideals als Grundlage der Wissenschaft denken. Hierfür waren Humes Arbeiten epochal wichtig, wie CRAIG (1979: 24) herausstellt: „Hume hat es noch lange nicht zu einer Praxistheorie gebracht, aber er tat einen ersten und höchst wichtigen Schritt, indem er anfing, das alte Ideal der quasi-göttlichen Einsicht abzubauen, um dann, im positiven Teil seiner Philosophie, dem Menschen einen Platz im Naturgeschehen zuzuweisen, das er früher sozusagen von der Tribüne aus betrachtet hatte“.

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muss sich auch unser Verständnis von dem ändern, was wir Außenwelt und Natur nennen. Anstatt beide als unabhängig vom Menschen absolut existierende Gegebenheiten aufzufassen, die mit (beobachterunabhängigen) objektiven Methoden erforscht werden können, müssten wir spätestens seit Hume Außenwelt und Natur vielmehr als Chiffren für subjektrelationale Umwelten verstehen. Umwelt gleicht dann weitgehend dem, was Schütz und Luckmann (SCHÜTZ 1974; SCHÜTZ & LUCKMANN 2003) in phänomenologischer und sozial-konstruktivistischer Hinsicht als Lebenswelt bezeichnet haben, innerhalb derer Menschen analytisch unterschiedliche Teil-Umwelten abgrenzen, um sich zu orientieren. 2.2.5. Zwischenfazit – das Ende dualistischer Weltbilder und einer realistischen Ontologie? Ausgehend von den in der Antike angelegten dualistischen Weltbildern bilden sich in der Neuzeit mit Idealismus, Realismus und Empirismus drei äußerst einflussreiche erkenntnistheoretische Weltentwürfe heraus. Der schon in der Antike angelegte Streit über den richtigen Weg und die grundsätzliche Erkennbarkeit der Welt erhält dabei im Zuge der beginnenden Aufklärung neue Brisanz. Einerseits verfestigen, modernisieren und weiten sich die dualistischen Perspektiven auf Welt aus und schreiben sich endgültig im europäischen Bewusstsein fest, andererseits hinterfragen moderne Skeptiker die umfassenden Geltungsansprüche des produzierten Wissens immer radikaler. Descartes aktualisiert aus einer idealistischen und rationalistischen Perspektive heraus die antike dualistische Aufteilung der Welt und schreibt sie mit seiner Trennung zwischen Geist und Materie in der Philosophie der Moderne fest. Mit ihm ändert sich erstmals die Perspektive auf Erkenntnis, die nun ausgehend vom Subjekt und nicht vom Objekt her gesucht wird. Erst durch die Trennung des erkennenden Subjekts vom Erkenntnisgegenstand ist es nun möglich, die Natur als das Nichtmenschliche zu verstehen, zu entseelen und zu versachlichen, was wiederum ihre mathematische und mechanistische Vermessung, Berechnung, Modellierung und Beherrschung erlaubt. Zusammen mit seinem Entwurf eines substanzialistischen, absoluten Container-Raumes legt Descartes so das Fundament für die nach universellen Gesetzmäßigkeiten suchenden Naturwissenschaften, erschafft aber gleichzeitig durch seine Trennung von Mensch und Welt das Schnittstellenproblem der Geographie. Da, wie Descartes selbst in seiner skeptizistisch angetriebenen Suche nach der Grundlage sicherer Erkenntnis ausführt, von einem rationalistischen Standpunkt aus keine fruchtbare sichere Erkenntnis erreichbar ist, folgen Locke und Newton einem empirischen Erkenntnisweg. Wie Descartes haben sie zum Ziel, die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu erforschen und adaptieren dafür dessen Methodologie. Auch wenn sie wie Descartes dafür mit Experimenten arbeiten und sich möglichst schnell von der Untersuchung der ungeordneten Realität hin zur Theorieund Modellbildung bewegen wollen (und damit einem positiven Naturverständnis folgen), sind Locke und Newton im Gegensatz zu Descartes jedoch der Meinung,

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dass ihre Ideen die wirkliche Welt repräsentieren. Mit diesem Erkenntniskonzept manifestiert insbesondere Locke die dualistische Verdoppelung der Welt und die mit ihr zusammenhängende Abbildtheorie im Denken der modernen Naturwissenschaften. Newton adaptiert nicht nur das naturwissenschaftliche Forschungsprogramm von Descartes, sondern auch dessen absolutes Raumkonzept, ergänzt es um den Entwurf eines Distanz-Relationen-Raumes und entwickelt beide zur Grundlage seiner Mechanik weiter. Der absolute Raum hat für ihn eine determinierende Wirkung. Newton wird damit zum Urvater der Raumwissenschaft und der Raumwirtschaftstheorie. Newtons absolute Raumkonzeption und realistische Ontologie lassen sich jedoch – wie Berkeley und Hume darlegen – argumentatorisch nicht halten. Berkeley zeigt, dass auch dieses Wissenschaftskonzept auf nicht rechtfertigbaren metaphysischen Annahmen beruht. Auch naturwissenschaftliche Forschung erfolgt immer aus menschlicher Perspektive, da hinter dem empirischen Fakt der menschlichen Wahrnehmung kein gesonderter Zugang zu einer realen Außenwelt möglich ist. Die innerweltliche Verdoppelung der Welt Lockes löst sich in einem phänomenologischen Monismus auf. Da alle Aussagen über die Welt deshalb immer beobachterabhängig sind, ist es auch nicht möglich, die Position eines unbeteiligten Beobachters einzunehmen. Aussagen über die absolute (menschenunabhängige) Existenz materieller Dinge sind deshalb schlichtweg sinnlos. Auf dieser Grundlage entlarvt Berkeley den Glauben Newtons an eine absolute Realität, Außenwelt, Wahrheit und den absoluten Raum, die hinter unserer Wahrnehmung liegen sollen als reine Metaphysik. Er erteilt damit jeder Art von Essentialismen eine Absage und vertritt in der Folge als Erster auch eine entschieden relationale und relativistische Perspektive auf Raum, die immer an ein Erleben geknüpft ist. Berkeleys Feststellung, dass hinter der Wahrnehmung kein substanzielles, absolutes Objekt ausgemacht werden kann, entzieht allen Spielarten der geographischempirischen Raumwissenschaft, wie der Raumwirtschaftstheorie, bereits rund 250 Jahre vor deren Entstehung mit ihrem Objekt und ihrer erkenntnistheoretischen Legitimation, jede Grundlage. Hume radikalisiert die empiristische Erkenntnissuche und zeigt, dass das Ziel aller dualistisch geprägten Erkenntnistheorien, absolut wahres Wissen über die Welt zu gewinnen, nicht erreichbar ist. Eine gottähnliche Erkenntnis, wie sie das Einsichtsideal postuliert, ist nicht möglich. Er dekonstruiert dabei auch die letzten metaphysischen Annahmen der Philosophie und demonstriert, dass die Meinungen über die Beschaffenheit der Welt das Ergebnis schöpferisch-menschlicher Tätigkeit sind und keinen Einblick in die absolute Erkenntnis darstellen. Raum ist in der Konsequenz für Hume daher weder absolut noch ein der Wahrnehmung vorausgehendes Apriori, wie bspw. später Kant vorschlagen wird, sondern muss als Anschauungs- und Ordnungsweise des wahrnehmenden Menschen konzipiert werden – eine Raumkonzeption, die später Werlen als formell-klassifikatorisch bezeichnen wird. Hume schlussfolgert daraus, dass ein nicht-metaphysischer Zugang zu Welt nötig ist, der an die Lebenswelt der Menschen anschließt und das Ziel der Gewinnung wahrer Erkenntnis aufgibt. Er entwickelt einen alternativen Weg, der später von der pragmatischen Philosophie aufgegriffen wird, zunächst

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einmal jedoch Rationalisten wie Empiristen zu heftigem Widerstand anregt: Er propagiert die Aufgabe des Anspruches auf absolut sicheres Wissen und damit die Aufgabe eines absoluten Wahrheitsanspruches, da dann jede skeptische Argumentation haltlos wird. Die Verabschiedung der mit diesen Konzepten verbundenen Abbildtheorie erscheint ihm zudem vernünftig, da es für sie erstens keine empirische Evidenz gibt und sie zweitens durch ihre dogmatische Anwendung eine enorm große Hürde für neue Erkenntnisse darstellt. Stattdessen tritt Hume für einen menschzentrierten, nicht-metaphysischen und kontextgebunden Relativismus von Wahrheitsansprüchen ein, der sich an der praktischen Lebenswelt der Menschen anschließt. Für ihn rückt ein pragmatischer Wissensbegriff in den Vordergrund, demzufolge unsere Wissensbestände nicht absolut wahr sein müssen, um für uns in bestimmten Kontexten nützlich zu sein und ihren Zweck zu erfüllen. Mit einer solchen Perspektive lösen sich die skeptischen Probleme jedoch genauso wie die dualistischen Konzeptionen von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Natur und Kultur einfach auf. Erkenntnis wird vom Einblick in das göttliche Wissen zum Produkt des handelnden Menschen, der damit seine Lebenswelt ordnet und strukturiert, seine eigenen Geographien macht anstatt sie zu entdecken. Damit muss sich auch unser Verständnis von Umwelt ändern, die sich vor dem Hintergrund Humes nicht mehr sinnvoll als absolut existierende Außenwelt oder Natur (im positiven wie negativen Begriffsverständnis) begreifen lässt. Außenwelt und Natur müssen vielmehr als Chiffren für subjektrelationale Umwelten verstanden werden, die dann gleichzeitig den phänomenologischen und sozialkonstruktivistischen Charakter dessen annehmen, was Schütz und Luckmann als Lebenswelt bezeichnen. Die Abgrenzung verschiedener Teil-Umwelten ist dann zwar immer noch ohne Weiteres möglich, beschreibt jedoch keine ontologisch unterschiedlichen Gegenstandsbereiche mehr, sondern stellt lediglich eine analytische Differenzierung dar. Die Konsequenzen hieraus scheinen für das Selbstverständnis der Wissenschaftsgemeinde jedoch etwas Bedrohliches zu haben, tangieren sie doch vermeintlich deren Legitimation, da Aussagen folglich, wenn überhaupt, nur kontextspezifisch wahr oder falsch sein können.67 Die Kontingenz wissenschaftlicher Erkenntnis bedeutet jedoch nicht, dass alle Standpunkte einnehmbar oder gleich gut zu begründen sind. Wir sind deshalb nach wie vor in der Lage, (empirisch) sinnvoll begründete von sinnlosen Aussagen zu unterscheiden. Aufgabe des Wissenschaftlers ist es damit nicht mehr, dualistisch zwischen wahren und unwahren Aussagen zu unterscheiden, sondern möglichst gut, konsistent und überindividuell nachvollziehbar begründetes Wissen zu Verfügung zu stellen. Der moderne Skeptizismus Berkeleys und Humes dekonstruiert damit nicht nur den Geltungsanspruch der dualistischen, aus der Antike stammenden Weltbilder, sondern ruft zu

67 Wie sehr sich die wissenschaftliche Gemeinde von diesem Befund angegriffen fühlt, kann man an den teils heftigen Reaktionen auf FEYERABENDS Buch »Wider den Methodenzwang« (1995) ablesen.

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einem pragmatischen Umgang mit unserer Welt und unseren Wissensansprüchen auf. Dieser Befund kann vielleicht als Quintessenz von Humes Werk betrachtet werden und liest sich wie der Grundgedanke der Pragmatischen Philosophie, die sich erst rund 150 Jahre später entwickeln sollte.68 2.3. MENSCH-UMWELT-BEZIEHUNGEN IM KRITISCHEN RATIONALISMUS Den skeptischen Herausforderungen des erkenntnistheoretischen Agnostizismus ist im 19. und 20. Jhd. vor allem in den empirisch arbeitenden Naturwissenschaften wie der Geographie mit Argwohn gegenüber getreten worden. Im Spannungsfeld zwischen einem intuitiven Unbehagen, das mit dem erkenntnistheoretischen Agnostizismus einherging und den Problemstellungen, die dieser thematisiert, entstanden neue Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien. Auch in der Geographie lassen sich im Lauf der Zeit eine ganze Reihe unterschiedlichster Paradigmen identifizieren, die sich Erkenntnis in sehr verschiedener Weise nähern (vgl. DÜRR 1998: 36ff). Sehr vereinfacht gesprochen ist es für die deutsche Geographie jedoch möglich, zwei Hauptdenkrichtungen zu identifizieren, die sich dem erkenntnistheoretischen Agnostizismus entweder unversöhnlich gegenübersehen und ihn zu entkräften suchen, oder die versuchen, ihm Rechnung zu tragen. Auf der einen Seite stehen positivistische69 und realistische Ansätze, auf der anderen Seite alle im weitesten Sinne konstruktivistischen Ansätze.70 Vor allem positivistische und realistische Positionen haben in der Geographie historisch die weiteste Verbreitung gefunden (vgl. DÜRR 1998: 36ff; INKPEN 2005: 25ff; JOHNSTON 1983: 28; WARDENGA 2006: 32ff), wobei realistische Positionen lange Zeit eine fast hegemoniale Stellung in der Geographie einnahmen (REUBER & PFAFFENBACH 2005: 32; WARDENGA 2002: 10). Vor allem Karl Raimund Poppers (1902–1994) Kritischer Realismus bildet(e) für viele Geographen lange Zeit den ontologischen Referenzpunkt ihrer Arbeiten. Popper kann ohne Zweifel als einer der wohl einflussreichsten Vertreter einer modernen, realistischen Epistemologie im 20. Jhd. angesehen werden. Seine Wis-

68 Die Nähe des Pragmatismus zu Hume wird schon daran deutlich, dass der hier zitierte Craig im 20. Jhd. als einer der Hauptprotagonisten der Neo-Pragmatischen Schule argumentiert und sich mit JAMES (1994b: 21), einem der Hauptvertreter des klassischen Pragmatismus, explizit auf Gedanken Humes bezieht. 69 Die Grundidee des Positivismus liegt darin, dass „nur die Erfahrungswissenschaften Erkenntnisse gewinnen können“ und nur mit naturwissenschaftlichen Methoden gewonnene Erkenntnisse Gültigkeit besitzen (POPPER 1973: 511). 70 Damit soll in keiner Weise die existierende Paradigmenvielfalt in der Geographie negiert werden, wie sie bspw. von DÜRR (1998) oder auch ARNREITER & WEICHHART (1998) dargelegt wurden. Zu den konstruktivistischen Ansätzen im weitesten Sinne müssen in einer solcherart sehr stark vereinfachten Differenzierung sowohl systemtheoretische, phänomenologische als auch hermeneutische Ansätze gezählt werden.

2.3. Mensch-Umwelt-Beziehungen im Kritischen Rationalismus

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senschafts- und Erkenntnistheorie des Kritischen Rationalismus hat die Entwicklung der Geographie vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jhd. in ganz besonderem Maße geprägt und mit ihrer Drei-Welten-Lehre erheblichen Einfluss auf die Raum- und Umweltkonzepte der Geographie ausgeübt. Im Folgenden wird deshalb die poppersche Variante des kritischen Realismus rekonstruiert und kritisch gewürdigt, um anschließend zu beurteilen, ob eventuell mit Hilfe des von ihm vertretenen Kritischen Rationalismus die Schwächen einer realistischen, dualistischen Ontologie beseitigt werden können. 2.3.1. Grundzüge des Kritischen Rationalismus Historisch erhält die Entwicklung der Philosophie Poppers zunächst entscheidende Anstöße aus der neo-positivistischen Philosophie des Logischen Empirismus des Wiener Kreises. Später grenzt sich Popper jedoch von dieser entschieden ab und wird sogar zu einer ihrer schärfsten Kritiker (SPIERLING 2006: 314). Anschließend an die skeptische Erkenntnis, dass weder mit Hilfe des Rationalismus noch mit Hilfe des Empirismus sichere Aussagen über die Welt möglich sind, möchte Popper einen Ausweg aus dem im Kapitel 2.2. diskutierten erkenntnistheoretischen Dilemmas aufzeigen und so die Probleme dualistischer Erkenntnistheorien lösen. In seinem Hauptwerk »Logik der Forschung« (1984; Original 1934) versucht er ein Erkenntnismodell zu entwerfen, in dem rationalistische und empiristische Elemente integriert werden und das „das Verhältnis des erkennenden Subjektes zu seinem Erkenntnismodell thematisiert“ (SCHERER 1999: 6). Seine Erkenntnisphilosophie baut deshalb auf einem Subjekt-Objekt-Modell wissenschaftlicher Erkenntnis auf, in dem davon ausgegangen wird, dass der Erkenntnisgegenstand der Wissenschaft als Teil einer absoluten Realität unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert. Diese Überzeugung kann als ontologische Grundposition eines metaphysischen Realismus verstanden werden. Popper ist sich als Anhänger und glühender Verteidiger des Realismus durchaus darüber im Klaren, dass es keine hinreichenden Gründe gibt, die geeignet wären, die Annahme des Realismus zu beweisen (oder zu widerlegen). Er stellt selbst fest, dass der Realismus – wie auch der Idealismus – deshalb auf metaphysischen Annahmen basiert (vgl. ZEYER 2005: 50f). Ihm geht es folglich nicht um die Überwindung der Metaphysik, wie es noch Humes Anliegen war, sondern er möchte metaphysische Annahmen bewusst als Festsetzung in seine Erkenntnistheorie integrieren (POPPER 1973: 300). Dies begründet er mit einem Commonsense-Argument, indem er sich auf einen klassisch alltagsweltlichen Vernunftbegriff beruft: „Ich schlage vor, den Realismus als die einzige vernünftige Hypothese zu akzeptieren – als eine Vermutung, zu der noch nie eine vernünftige Alternative angegeben worden ist“ (POPPER 1973: 42).

Das damit zusammenhängende Subjekt-Objekt-Modell, das sich auch schon im Logischen Empirismus findet, baut demgemäß auf vier Axiomen auf (ZEYER 2005: 10):

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

1. Die Realität existiert unabhängig vom Menschen. Sie ist dem Erkenntnis suchenden Subjekt objektiv vorgegeben (ontologische Grundannahme). 2. Eine Erkenntnis der Realität ist grundsätzlich möglich durch systematische Beobachtungen. Mit deren Hilfe ist eine Überprüfung von wissenschaftlichen Theorien möglich, womit sich Erscheinungen kausal erklären lassen (empiristische Grundannahme). 3. Wissenschaftliche Methoden müssen verstanden werden als Regeln zum Erkenntnisgewinn, mit deren Hilfe ein Lernprozess begonnen und kontrolliert werden kann. Befolgt man diese Regeln, ist eine stetige, kumulative Vermehrung des Wissens möglich (methodologische Grundannahme). 4. Durch die stetige Wissensvermehrung sind immer bessere Problemlösungen und damit gesellschaftlicher Fortschritt möglich. Aus der Rationalisierung der Wissenschaft wird eine Rationalisierung der Lebenspraxis. Wissenschaftliche Aussagen über die Legitimität von Normen sind nicht möglich und daher wissenschaftlichen Urteilen unzugänglich71 (philosophische Grundannahme). 2.3.1.1. Falsifikation als Lösung des Induktionsproblems? Wie entwickelt Popper diese Axiome seiner Erkenntnistheorie? Poppers Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass „ein empirisch-wissenschaftliches System (…) an der Erfahrung scheitern können [Hervorh. .i. O.]“ muss (POPPER 1984: 15). Seine Arbeit muss folglich auf empiristischen Theorien aufbauen. Seine Philosophie nimmt von Humes Feststellung ihren Ausgang, dass mit Hilfe der Induktion kein sicheres Wissen gewonnen werden kann (ebd.: 5). Für Popper liegt das Problem der Induktion jedoch anders als für Hume darin, dass sich induktive Schlüsse nicht konsequent begründen lassen, da sie einen unendlichen Begründungsregress zur Folge hätten, zu dem lediglich ein dogmatischer Begründungsabbruch die Alternative wäre (KEUTH 2000: 11). Die Konsequenz ist, dass sich wissenschaftliche Aussagen durch Beobachtungen nicht verifizieren lassen (POPPER 1984: 15). Die Rettung der empirischen Vorgehensweise findet Popper in einer logischen Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation: „Nun wollen wir aber doch nur ein solches System als empirisch anerkennen, das einer Nachprüfung durch die „Erfahrung“ fähig ist. Diese Überlegung legt den Gedanken nahe, als Abgrenzungskriterium nicht die Verifizierbarkeit, sondern die Falsifizierbarkeit des Systems vorzuschlagen“ (ebd.: 15).

Wie gelangt Popper zu diesem Vorschlag? Eine induktive Verifikation ist wie dargelegt faktisch unmöglich, da sie eine unendliche Zahl bestätigender Fälle zu ihrem empirischen Beweis erfordern würde. Für die Falsifikation einer Aussage ist jedoch nur ein nichtzutreffender Fall von Nöten. Falsifikationen sind also logisch viel leichter zu erreichen als Verifikationen. Die Konsequenz für Popper ist,

71 Dieses Axiom wird auch das Werturteilsfreiheitspostulat der Wissenschaft genannt.

2.3. Mensch-Umwelt-Beziehungen im Kritischen Rationalismus

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dass Theorien nicht beweisbar, aber widerlegbar sind. Absolute Sicherheit über unser empirisches Wissen ist also nicht möglich: „Sicheres Wissen ist uns versagt. Unser Wissen ist ein kritisches Raten; ein Netz von Hypothesen; ein Gewebe von Vermutungen [Hervorh. .i. O.]“ (ebd.: XXV).

In diesem Wissenskonzept können Aussagen folglich prinzipiell lediglich einen hypothetischen Charakter annehmen. Man kann also durchaus sagen, dass Popper mit der Idee der Unsicherheit alles empirischen Wissens den Standpunkt eines Fallibilismus vertritt, der sich an Sokrates‘ Idee des Nichtwissens anschließt (ZEYER 2005: 272). Doch Popper ist in ontologischer Hinsicht kein Anhänger des Agnostizismus. Stattdessen vertritt er die Ansicht, dass eine absolute Wahrheit existiert und diese objektiven Charakter habe. Es sei lediglich das unvollkommene menschliche Wissen und Erkenntnisvermögen, das dafür verantwortlich sei, dass der Mensch die Strukturen der Welt nur approximativ über die Gesetze der Logik erfassen könne (SCHNEIDER 1998: 137). Daraus sei aber nicht zu folgern, dass wissenschaftliche Theorien nicht empirisch überprüft oder bestätigt werden können (LAUTH & SAREITER 2002: 96). Denn die objektive Gültigkeit einer Aussage sei dadurch erreichbar, dass sie Gegenstand möglicher Kritik und insofern intersubjektiv nachprüfbar wird (ZEYER 2005: 303). Dazu müssen Theorien so entwickelt werden, dass ihre Entstehung nachvollziehbar ist, weshalb allgemein akzeptierte Regeln der Vorgehensweise in der Wissensproduktion notwendig sind. Methodologische Festsetzungen sind für Popper deshalb eine Art Spielregeln des Wissenschaftsbetriebs. Er ist sich jedoch vollkommen im Klaren darüber, dass die Auswahl der Spielregeln zwangsläufig willkürlich und damit dogmatisch sein muss (ebd.: 304). Zur Überprüfung von Aussagen soll laut Popper die Deduktion genutzt werden. Dazu sind Allsätze aufzustellen, aus denen überprüfbare Einzelaussagen abgeleitet werden (POPPER 1984: 16). Zeigen sich die abgeleiteten Einzelaussagen als resistent gegen Widerlegungsversuche, kann davon gesprochen werden, dass sich ihre zugrunde liegende Theorie bewährt hat. Die Wissenschaftlichkeit einer Aussage setzt also ihre Falsifizierbarkeit voraus: „Insofern sich die Sätze einer Wissenschaft auf die Wirklichkeit beziehen, müssen sie falsifizierbar sein, und insofern sie nicht falsifizierbar sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit“ (POPPER 1984: 256).

2.3.1.2. Mensch-Umwelt-Beziehungen im Kritischen Rationalismus: Korrespondenztheorie und Drei-Welten-Lehre Die Prüfung der Einzelaussagen findet mit Hilfe der Wahrnehmung statt. Wichtig ist Popper dabei, dass Aussagen „zwar aufgrund von Sinneseindrücken akzeptiert oder verworfen [werden], (…) sich aber nicht auf Sinneseindrücke, sondern auf physische Gegenstände oder Vorgänge [beziehen];“ es geht „letztlich um die Kon-

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

frontation der Aussagesätze mit der Wirklichkeit“ (KEUTH 2000: XVII).72 Mit diesem Entwurf eines korrespondenztheoretischen Erkenntnismodells wird Poppers realistische Perspektive deutlich: Er versteht Wahrheit als Übereinstimmung einer Aussage mit der Realität (ebd.: 165). Poppers realistische Ontologie reflektiert in ihrer Grundstruktur ein dualistisches Weltbild von Leib und Seele. Er unterscheidet drei ontologisch verschiedene Teilwelten (POPPER 1973: 174ff): 1. Die Welt der „physikalischen Zustände“ (Außenwelt), 2. Die Welt der „Bewusstseinszustände“ (Wahrnehmungswelt), 3. Die Welt der „Ideen im objektiven Sinne, (…) die Welt der Theorien an sich“ (Ideenwelt). Grundsätzlich stehen Welt 1 und Welt 3 ohne direkte Verbindung zueinander. Allerdings kann der Mensch durch das Bewusstsein (Welt 2) eine „indirekte Verbindung zwischen der ersten und dritten Welt“ herstellen (ebd.: 175), indem er beide Welten miteinander in Beziehung setzt. Wahrheit besteht demgemäß aus der Übereinstimmung eines Vorgestellten, einer Idee (Welt 3) mit einer Tatsache (Welt 1). Die Wahrheit ist insofern objektiv, ist absolut. Die menschlich zugängliche Wahrheit bleibt jedoch für Popper eine Wahrscheinlichkeitswahrheit, die absolute Wahrheit ist dem Menschen aufgrund seiner epistemisch unklaren Situation unzugänglich (SCHNEIDER 1998: 136). Das bedeutet, dass Popper folglich verschiedene Arten von Wissen einführen muss. Dazu unterscheidet er objektives und subjektives Wissen. Objektives Wissen ist theoretisches Wissen, es besteht aus Argumenten, Theorien, abstrakten Problemstellungen. Subjektives Wissen umfasst demgegenüber Dispositionen und Erwartungen (POPPER 1973: 88). Betrachtet man diese Wissenskonzeptionen, fällt die Korrespondenz zu Poppers Drei-Welten-Theorie direkt ins Auge: Objektives Wissen kann es nur in der Welt 3 geben, während subjektives Wissen in der Welt 2 angesiedelt ist (KEUTH 2000: 355). Auch objektives Wissen wird zwar vom Menschen gemacht, es ist jedoch vorher schon objektiv vorhanden und wird lediglich entdeckt (POPPER 1973: 132f). Man könnte dementsprechend sagen, dass es also in dieser Welt 3 Dinge an sich, Ideen an sich gibt. Die Verbindung von Poppers Ontologie zu Platons Ideenlehre ist kein Zufall, sondern wird von POPPER auch direkt adressiert (ebd.: 133). Objektive Erkenntnis und objektives Wissen sind demnach frei von subjektiven Einflüssen, da dem entdeckenden Subjekt vorgängig. Deshalb folgert

72 Popper geht also strikt empirisch bei der Prüfung der Aussagesätze vor. Wieso nennt er seinen erkenntnistheoretischen Ansatz dann aber „Kritischer Rationalismus“? Popper verwendet den Begriff Rationalismus nicht als Abgrenzung zum Empirismus, sondern zum Irrationalismus (vgl. KEUTH 2000: XVI). Rationalität meint also für ihn nicht die epistemische Perspektive seiner Erkenntnismethodik, sondern beschreibt die Art der Vorgehensweise bei der Überprüfung von Meinungen. Die Vorgehensweise muss für ihn nachvollziehbar sein und ist dann am besten geeignet, zu dem bestmöglichen Ergebnis zu führen – sie ist deshalb vernünftig. Kritisch wird das Vorgehen dadurch, dass man gleichzeitig nicht nur bereit ist, aus Fehlern zu lernen, sondern vor allem dadurch, dass man ständig auf der Suche nach Fehlern und Vorurteilen ist (ebd.: 388f).

2.3. Mensch-Umwelt-Beziehungen im Kritischen Rationalismus

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er „Erkenntnis im objektiven Sinne ist (…) Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt. [Hervorh. .i. O.]“ (POPPER 1973: 126). 2.3.1.3. Poppers Wahrheitstheorie als Bollwerk gegen den Relativismus? Hat Popper in jungen Jahren selbst noch Vorbehalte gegen eine mögliche Rechtfertigung der Korrespondenztheorie, weil die Bestimmung des Begriffs der Wahrheit erhebliche Probleme aufwirft (POPPER 1984: 19), so lässt er diese nach der Lektüre von Tarskis semantischer Wahrheitsdefinition fallen und ändert seinen Standpunkt radikal (ebd.: 219). In einer Missinterpretation73 Tarskis ist sich Popper sicher, dass dieser es mit seiner Definition des Wahrheitsbegriffs geschafft hat, die Korrespondenztheorie zu rehabilitieren (KEUTH 2000: 172). Das Ergebnis ist, dass Popper von nun an keinen Grund mehr sieht, sich mit der Verwendung des Wahrheitsbegriffs zu beschränken (POPPER 1984: 219). Er räumt den Begriffen „‚Wahrheit‘ und ‚Falschheit‘ nun einen zentralen Stellenwert“ (ZEYER 2005: 273) in seiner Philosophie ein und begreift von diesem Zeitpunkt an Wissenschaft als Suche nach Wahrheit (KEUTH 2000: 167). Die Wahrheitsidee ist deshalb für Popper von Belang, da er sie als regulative Idee benötigt, um die Gültigkeit von Aussagen messen zu können (POPPER 1973: 42). Er benötigt eine absolute Wahrheit als Bezugspunkt, an die sich die wissenschaftliche Erkenntnis immer mehr annähert, auch wenn sie selbst für den Menschen prinzipiell nicht erkennbar ist. Die Existenz der absoluten Wahrheit ist gleichsam der Kern des Wissenschaftsbetriebes, der einer Suche nach bzw. Annäherung an die Wahrheit gleicht (ZEYER 2005: 274). Popper entwirft damit ein kumulatives Wissensmodell, in dem Wissen anwachsen und sich im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts durch das Lernen aus Fehlern der absoluten Erkenntnis immer mehr annähern kann. Er schließt deshalb „Eine Annäherung an die Wahrheit ist möglich.“ (POPPER 1984: XXV). Die Anwendbarkeit von sich später als falsch herausstellenden Theorien erklärt er damit, dass diese eben schon eine große Wahrheitsähnlichkeit erreicht hätten (KEUTH 2000: 180). Nicht zuletzt bildet die Idee der objektiven Wahrheit für Popper zudem das „entscheidende Bollwerk gegen den Relativismus“ 74 (POPPER

73 Tarski formuliert eine semantische Wahrheitsdefinition, nach der die Wahrheit einer Aussage in ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit bestünde. Damit will Tarski jedoch keinerlei erkenntnistheoretische Aussage verbinden – schon gar nicht eine realistische – seine Wahrheitsdefinition ist im Gegenteil rein semantisch und daher epistemologisch neutral, wenn nicht gar inhaltlich tautologisch. „Popper irrt also, wenn er annimmt, Tarski wolle eine Korrespondenztheorie rehabilitieren, die Wahrheit als Beziehung der Übereinstimmung zwischen Satz und etwas Wirklichem, einer Tatsache, definiert“ (ZEYER 2005: 168). 74 Die Bezeichnung „Relativist“ darf dabei nicht missverstanden werden. Unter einem Relativisten ist nicht jemand zu verstehen, der wissenschaftliche Erkenntnisse an sich, sondern vielmehr ihr Maß – die objektive, absolute Wahrheit – infrage stellt (vgl. CRAIG 1993: 314).

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

zit. nach ZEYER 2005: 314), das es ihm ermöglicht, seine Commonsense-Argumentation zur Stützung einer realistischen Ontologie zu verteidigen. Ziel von Poppers Erkenntnistheorie ist es also, einen Ausweg aus dem epistemologischen Agnostizismus zu finden, der mit unseren alltäglichen Wahrnehmungen von Welt und mit unseren Alltagskonzepten von Wahrheit kompatibel ist. Seine Philosophie ist dabei strikt rational, indem sie Erkenntnis vom erkennenden Subjekt löst. Popper entwirft eine Erkenntnistheorie, in der Erkenntnis zu etwas Objektivem, zu etwas Überindividuellem wird. Dies ist nur möglich, indem er den Menschen in der Welt 2 verortet, die zwischen der Welt 1 und der Welt 3 eine Mittlerposition einnimmt (vgl. HAUK 2003: 321f). Damit konnte Popper auch die besondere Position der Wissenschaft rehabilitieren, denn sie ist es, die den Menschen, die in der Welt 2 „gefangen“ sind, die Welten 1 und 3 erschließt. Die Wirkung von Poppers Erkenntnistheorie ist kaum zu unterschätzen. Die »Logik der Forschung« ist bis heute ohne jeden Zweifel „eines der meistdiskutierten erkenntnistheoretischen Bücher des 20. Jahrhunderts“ (SCHNEIDER 1998: 127). Vielleicht ist gerade der Charakter seiner Philosophie als „Mischung aus aufklärerischem, fortschrittsgläubigen Optimismus und der Dämpfung allzu hoher Erwartungen“ (ebd.: 137) der Grund für ihren durchschlagenden Erfolg. 2.3.2. Über die Schwierigkeiten von Letztbegründungen Vor dem Hintergrund der Ausführungen in den letzten Kapiteln wird deutlich, dass Poppers Lehre nicht gänzlich widerspruchsfrei ist, zum Teil sogar erhebliche Schwächen aufweist und sich zu zentralen Herausforderungen des Skeptizismus rein dogmatisch verhält. Die Hauptprobleme seiner Lehre gründen in Poppers realistischer Ontologie. Sein Drei-Welten-Modell bleibt ohne hinreichende Begründung, sein Konzept der Interaktion zwischen den drei Welten lückenhaft und unbefriedigend (ZIERHOFER 1999: 3). Um es zu rechtfertigen, stützt sich Popper im Wesentlichen auf die Korrespondenztheorie. Poppers zentrale argumentatorische Stütze der Korrespondenztheorie – Tarskis Wahrheitsdefinition – erweist sich schlicht als (s)eine Missinterpretation. Damit entfällt aber die Basis für Poppers objektiven und absoluten Wahrheitsbegriff (KEUTH 2000: 172). Die Folge ist, dass Poppers Wahrheitsdefinition eine aussagenlogische Tautologie darstellt, die nicht geeignet ist, die Korrespondenztheorie zu begründen (ebd.: 175). Wie Popper aber vor der Lektüre Tarskis bewusst war, wirft „die Korrespondenztheorie (…) schwierige Probleme auf, – so schwer wiegende Probleme, dass man sogar gute Gründe sehen kann, sie zu verwerfen“ (BAUMANN 2002: 156). Im Kern stellen sich drei Probleme im Zusammenhang mit der Korrespondenztheorie: Erstens basiert die Korrespondenztheorie auf einem Zirkelschluss. Nach ihr soll Wahrheit mit einer Übereinstimmung erklärt werden. Wie aber die Übereinstimmung beurteilt werden soll, ohne dass diesem Urteil der Wahrheitsbegriff zugrunde gelegt wird, der erst aus ihr abgeleitet werden soll, bleibt völlig unklar. Zweitens kann aber, wenn auf diesem Wege Wahrheit nicht definierbar ist, ein Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Wahrheit nicht nachgewiesen

2.3. Mensch-Umwelt-Beziehungen im Kritischen Rationalismus

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werden (WILLIAMS 1996: 146). Hat man ein realistisches (und also absolutes) Verständnis von Wahrheit, ist die Folge, dass man zwischen Wahrheit und Rechtfertigung keine notwendige und hinreichende Beziehung herstellen kann. Denn eine noch so gute Rechtfertigung einer Meinung ist nicht hinreichend, um von ihr auf Wahrheit schließen zu können. Denn um ihrerseits die Rechtfertigung auch als wahr zu erweisen, müsste man auch sie wieder begründen, was zwangsläufig zu einem infiniten Regress, einer dogmatischen Setzung oder zu einem Zirkelschluss, also direkt in das so genannte Agrippa-Trilemma, führt. Das bedeutet, dass Wissen vor einem realistischen Hintergrund unmöglich ist (ebd.: 153). Drittens stellt sich im Zuge der Korrespondenztheorie schließlich die Frage, was eine Tatsache ist (mit der ja unsere Meinung korrespondieren soll) und wodurch wir Tatsachen von unseren Beobachtungen und Urteilen unterscheiden können (vgl. BAUMANN 2002: 158). In Poppers Terminologie stellt sich also die Frage, wie Welt 1 und Welt 2 voneinander zu trennen sind – eine Frage, die schon Berkeley und Hume aufgeworfen haben. WELSCH (2000: 181) weist in diesem Kontext vor einem pragmatischen Erkenntnishintergrund darauf hin, dass die Rede von einer deutungsunabhängigen Welt 1 als Grundlage der realistischen Ontologie inkonsistent ist: „Sie behauptet, von einer Wirklichkeit vor, außerhalb und unabhängig von jeglicher Deutung zu sprechen, aber sie nimmt eben damit schon eine bestimmte und sehr folgenreiche Deutung dieser Wirklichkeit vor. Dieser widersprüchliche Zug – die Behauptung der so gedeuteten Wirklichkeit als einer Wirklichkeit vor jeder Deutung – bildet sogar den Kern des realistischen Paradigmas“. Eine klare Trennung scheint nur möglich zu sein, wenn man eine naivrealistische Perspektive einnimmt (was Popper als naturwissenschaftlicher Skeptiker75 jedoch ablehnt). Hilfreich wäre dies nicht: Deren Gültigkeit in Frage stellend würden sich – wie bereits diskutiert – nur umso mehr skeptische Gegenargumente erheben. BAUMANN (2002: 159) kommt deshalb hinsichtlich der Korrespondenztheorie zu dem Schluss, dass man „sicherlich die generelle Vermutung hegen [kann], dass die Rede von »Korrespondenz zu Tatsachen« gar nicht das leisten kann, was sie zu leisten verspricht: nämlich etwas in der Welt (eine Tatsache und eine Beziehung der Korrespondenz) zu identifizieren, das auf informative Weise erklärt, was unter »Wahrheit« zu verstehen ist. Letztlich, so kann man vermuten, besagt die Rede von Tatsachen genau dasselbe wie die Rede von wahren Sätzen. Dann taugen aber die Begriffe der Tatsache und der Korrespondenz zu Tatsachen nicht zur Erklärung des Wahrheitsbegriffs.“ Damit aber, dass der Wahrheitsbegriff auf diesem Wege nicht hinreichend definiert werden kann, ist seine Verwendung als zentrales Theorieelement höchst fragwürdig. Wenn eine Wahrheitsdefinition mehr als eine metaphysische Behauptung darstellen soll, müsste sich aus ihr zudem ein anwendbares Wahrheitskriterium ableiten lassen. Diese Anwendbarkeit setzt aber

75 Popper kann als naturwissenschaftlicher Skeptiker bezeichnet werden. Allerdings – und das unterscheidet ihn vom „klassischen“ Skeptizismus – geht er davon aus und behauptet sogar, dass man „durch Beobachtungen Tatsachen feststellen“ kann (CRAIG 1993: 128).

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

wiederum einen absoluten Wissensbegriff voraus. Wir müssten also erst einmal angeben können, unter welchen Bedingungen wir von einem sicheren, absoluten Wissen reden. Wie BAUMANN (2002: 86) darlegt, ist es aber gerade vor einem realistischen Hintergrund bis heute nicht gelungen, gemeinsam notwendige und hinreichende Bedingungen für Wissen zu definieren. Wenn wir, wie Hume gezeigt hat, aber kein absolutes Wissen erlangen können, wie können wir dann Urteile über die Wahrheit einer Aussage fällen, ja überhaupt sinnvoll mit dem Konzept einer absoluten Wahrheit umgehen? Diese Frage wird, wie Hume bereits aufzeigt hat, umso drängender, als Menschen im Alltag auf die Überprüfung der Wahrheit einer Aussage angewiesen sind. Ein Leben ohne Wahrheit ist nicht lebbar. Der Skeptizismus als Lebensform, wie ihn schon die pyrrhonische Skepsis vorschlägt, erscheint kaum alltagstauglich. Der Realismus hat auf diese Fragen bisher keine befriedigende Antwort liefern können. Die ihm zugrunde liegenden dualistischen Weltbilder der Antike lassen eine Antwort auf diese Fragen nicht zu. Wenn es jedoch nicht sinnvoll möglich ist, die Wahrheit einer Aussage zu bestimmen, dann kann ein Urteil über die Gültigkeit der realistischen These nicht gefällt werden. Sie ist demnach weder als wahr noch als falsch, sondern schlicht als wissenschaftlich nicht sinnvoll zu diagnostizieren, weshalb es sich anbietet, sie zu verwerfen. Diese Diagnose veranlasst KEUTH (2000: 399) zu dem Schluss zu kommen, dass Popper mit seiner Drei-Welten-Theorie „nur überkommene Vorstellungen“ verteidigt. Er löst sich nicht vom Bild einer absoluten Wahrheit, einer absoluten Realität, weil er Theorien sonst nicht falsifizieren könnte: „Der naturwissenschaftliche Skeptiker ist also bereit, die Ergebnisse verschiedener Beobachtungen als wahr anzusehen, sonst kann er der von ihm selbst zugrunde gelegten Tatsache niemals Rechnung tragen, dass in der Vergangenheit verschiedene Theorien widerlegt worden sind“ (CRAIG 1993: 129). Ohne einen absoluten Wahrheitsbegriff ist die Falsifikation als Methode sinnlos. Poppers Idee des wissenschaftlichen Prozesses als eine Annäherung an die Wahrheit ist jedoch nicht nur deshalb als problematisch zu bewerten (KEUTH 2000: 168): Sein Zuverlässigkeitskriterium der möglichst großen „Wahrheitsähnlichkeit“ einer wissenschaftlichen Aussage ist ebenfalls mehr als problematisch, da Menschen aufgrund ihrer epistemisch unklaren Situation keine Möglichkeit haben, Wahrheit zu erkennen. Wie soll dann aber die Abweichung einer Hypothese zur Wahrheit – die „Wahrheitsähnlichkeit“ – beurteilt werden können (ZEYER 2005: 314)? Mit dieser unbeantwortbaren Frage entpuppt sich das Konzept der „Wahrheitsähnlichkeit“ als metaphysischer, leerer Begriff und gesellt sich insofern zu den Ideen der soeben verworfenen Falsifikation, der absoluten Wahrheit und der objektiven Realität. Mit dem Scheitern seiner ontologischen Grundannahmen fallen in Folge auch die empiristischen, methodologischen76 und philosophischen Axiome von Poppers 76 Popper versucht ja die Rationalität seines Wissenschaftskonzeptes nicht mehr in der Perspektive, sondern in den Prozeduren, d. h. in der Methodik, zu verankern. Damit tauchen aber

2.3. Mensch-Umwelt-Beziehungen im Kritischen Rationalismus

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Lehre. Das kumulative Wissensmodell ist offenbar auf Sand gebaut. Poppers Erkenntnistheorie entpuppt sich als Neuauflage des Einsichtsideals, dessen Unhaltbarkeit bereits Hume belegt hat. Die Entsubjektivierung und Objektivierung der Erkenntnis lässt sich folglich auf Poppers Weg nicht argumentativ stringent erreichen, da der Forscher als Teil des Systems, das er untersucht, von selbigem forschungslogisch nicht zu trennen ist.77 Die Konzeption eines Subjekt-ObjektModells der Erkenntnis beruht demnach auf einer analytischen Illusion. Ein neutraler, externer Zugang der Wissenschaft zu ihrem Gegenstand ist nicht möglich (SCHERER 1999: 11). Den Wissenschaftler im Forschungsprozess zu entpersonalisieren, d. einen Blickpunkt „von niemand im Besonderen“ anzunehmen, wie es FINE (2000) metaphorisch ausgedrückt hat, ist nicht möglich. Das gilt umso mehr, wenn die untersuchten Forschungsgegenstände einen sozialwissenschaftlichen Charakter aufweisen. Besonders dann erscheint das Modell eines über allem schwebenden Bewusstsein als zentraler Erkenntnisinstanz unangemessen, weil es von feststehenden Identitäten ausgeht, anstatt deren lebensgeschichtliche Veränderungen mitzudenken und auch „die soziale Modifikation durch kommunikativen Austausch unberücksichtigt sein lässt“ (SCHNEIDER 1998: 29). Die von Popper geforderte Werturteilsfreiheit der Wissenschaft muss daher als Chimäre bezeichnet werden. Letztlich bleibt das Normative immanenter Bestandteil des Lebens und der Wissenschaft. Der kritische Rationalismus kann seinem eigenen Anspruch offensichtlich nicht genügen, einen Ausweg aus der von Hume zu ihrem Ende gedachten skeptischen Herausforderung zu entwickeln und die dualistischen Denkstrukturen zu retten. 2.3.3. Zwischenfazit Popper versucht mit seinem kritischen Rationalismus einen Ausweg aus der skeptischen Herausforderung zu finden, indem er ihn teilweise in seine Philosophie inkorporiert. Popper geht ebenfalls davon aus, dass die absolute Wahrheit für den Menschen unzugänglich ist, dieser sich der Wahrheit aber in einem stetigen Verbesserungsprozess seiner Erkenntnis immer mehr annähern kann. Die (wahre) Realität existiert also unabhängig vom Menschen und kann durch Beobachtung mit Hilfe stringenter Methoden objektiv erfasst werden. Die dieser Auffassung zugrunde liegenden korrespondenztheoretischen Annahmen rechtfertigt Popper mit seiner Drei-Welten-Lehre, die sich an die Ontologie Platons anlehnt.

Fragen auf, die auch dieses neue Konzept von Rationalität infrage stellen müssen. Als Advocatus Diaboli fragt so bspw. Poppers Schüler FEYERABEND (1977: 8), warum es beispielsweise rationaler sein sollte, sich geordnet als chaotisch zu verhalten und wer die Regeln festlegt, nach denen rationales Verhalten beurteilt wird und auf welcher Grundlage dies geschieht. 77 Hierauf hat in der Physik bereits Heisenberg hingewiesen. Vgl. Kapitel 4.4.2.

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

Wie sich zeigt, scheitert Poppers Lehre jedoch u. a. an der mangelnden Rechtfertigbarkeit seiner korrespondenztheoretischen Begründung der Wahrheit. Sein Ziel einer objektiven Erkenntnis ist für Menschen nicht erreichbar. Die Konsequenzen aus dieser Diagnose liegen auf der Hand: Wenn Poppers Erkenntnistheorie erhebliche Mängel, Inkonsistenzen und dogmatische Setzungen enthält, dann ist seine Ontologie genauso aus skeptischer Perspektive angreifbar, wie alle anderen dualistisch strukturierten, abbild- oder korrespondenztheoretischen, realistischen Erkenntnistheorien vor ihm. Poppers Vorschlag für eine neue Wissenschaftstheorie und ein kumulatives Erkenntnismodell ist daher nicht geeignet, die skeptische Herausforderung zu bestehen. Mit Rekurs auf Popper sind ein kumulatives Erkenntnismodell sowie die Subjekt-Objekt und Geist-Materie Dualismen der antiken Philosophie nicht zu halten. 2.3.4. Konsequenzen für die Geographie Die Konsequenzen für die Geographie aus dieser Diagnose liegen auf der Hand: Die auf Popper aufbauenden geographischen Paradigmen, wie die Raumwissenschaft und die Raumwirtschaftslehre, aber auch das Raummodell seiner DreiWelten-Theorie, das in der Geographie weite Verbreitung gefunden hat (vgl. Kapitel 4.1.3.), müssen sich dann mit dem Vorwurf der Metaphysik, des Dogmatismus, der logischen Inkonsistenz, der methodologischen Fragwürdigkeit und damit letztlich einer substanziellen Infragestellung ihres Wahrheitskonzeptes und ihrer eigenen Maßstäbe von Wissenschaftlichkeit konfrontieren lassen. Darüber hinaus hinterlässt der Rechtfertigungsmangel seines auf antiken Dualismen aufbauenden realistischen Weltbildes und der ihr zugehörigen Korrespondenztheorie ein wesentliches Problem für die geographische Mensch-UmweltForschung nicht nur ungelöst, sondern verschärft dieses sogar noch. Die mangelhafte Rechtfertigung der Korrespondenztheorie und seine problematische DreiWelten-Theorie bieten nämlich nicht nur für die Frage, wie es möglich ist, zwischen Materie und Sinn zu vermitteln, keine befriedigende Antwort, sondern schreiben deren Separierung in der Wissenschaftstheorie sogar noch fort. Poppers Lehre ist daher trotz ihres Erfolges nicht geeignet, um die wesentlichen epistemologischen Probleme der Schnittstellenforschung in der Geographie zu lösen. Aus dieser meta-theoretischen Analyse folgt m. E. nicht, dass man nicht weiterhin in methodologischer Hinsicht quantitativ-analytisch forschend arbeiten kann oder dass ein solches methodisches Vorgehen unwissenschaftlich wäre. Die erkenntnistheoretischen Probleme realistischer Ansätze können jedoch nicht ignoriert werden, will man den Anspruch wissenschaftliches Wissen zu produzieren nicht aufgeben. Da diese Probleme letztlich in dem absoluten Wahrheitskonzept des Realismus und in der zugehörigen Korrespondenztheorie angelegt sind, ist eine andere Erkenntnistheorie nötig, die es ermöglicht, Wahrheit und deren Rechtfertigung im Einklang mit der skeptischen Herausforderung zu denken.

2.4. Falschverstandene Konstruktivismen und die Vertiefung des Grabens

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2.4. FALSCHVERSTANDENE KONSTRUKTIVISMEN UND DIE VERTIEFUNG DES GRABENS Ausgehend von den erkenntnistheoretischen Problemen, die mit einem realistischen Weltbild verbunden sind, hat sich in der Geographie, vor allem seit den 1980er Jahren, eine ganze Bandbreite von Paradigmen als Alternative etabliert. Verkürzend kann – bei allen mit einer solchen Vereinfachung der Unterschiede zwischen verschiedenen Theorien und Ansätzen verbundenen Problemen – davon gesprochen werden, dass diese Paradigmen zwei großen Metaperspektiven zugeordnet werden können: dem Kritischen Rationalismus und dem Konstruktivismus (GEBHARDT & REUBER 2007: 86). Hier spiegelt sich in der Entwicklung der Geographie die Geschichte der Philosophie wider, die, wie HABERMAS (1988: 26) festgestellt hat, letztlich durch den Dualismus von Geist und Materie bestimmt ist. Im Zuge der Aufklärung hat schließlich, so HABERMAS (ebd.: 39), die Seite des Geistes und damit der Nominalismus über den Substanzialismus Oberhand bekommen, womit die Bedeutung der Dinge als Zuschreibung des erkennenden Subjektes verstanden wird.78 Daraus folgend gehen im Kern alle konstruktivistischen Positionen deshalb der Frage nach, welche Rolle unsere Bedeutungszuschreibungen in Kommunikation und für die Strukturierung unserer Wirklichkeit79 spielen (GEBHARDT & REUBER 2007: 86). Die Bezeichnung dieser Bedeutungszuschreibungen des erkennenden Subjektes als (Wirklichkeits-) Konstruktionen soll dabei verdeutlichen, dass die Strukturen der Wirklichkeit eben nicht einfach natürlich gegeben sind, wie dies der Positivismus nahelegen würde, sondern unser Eindruck der Welt das Ergebnis der Konstruktionsleistung des wahrnehmenden Menschen ist. Unser Bild der Welt ist daher ein von Menschen Hervorgebrachtes und nicht schlicht ein Spiegel der Natur, wie es wiederum alle Arten von realistischen Positionen nahelegen würden. Konstruktivistische Arbeiten können dementsprechend laut HACKING (2002: 81) auch verstanden werden als „verschiedene soziologische, historische und philosophische Projekte, bei denen es um die Darstellung oder Analyse von wirklichen, historisch eingebundenen, sozialen Interaktionen oder kausalen Wegen geht, die zur Entstehung oder Durchsetzung einer derzeit gegebenen Entität oder Tatsache geführt haben oder daran beteiligt waren.“ Auch wenn es durchaus unterschiedliche Ansichten zu den ideengeschichtlichen Wurzeln des Konstruktivismus gibt und diese von Demokrit über Platon, Berke78 Wie wir im vorangehenden Kapitel gesehen haben, lässt sich dies zwar mit Blick auf die Geographie und die Naturwissenschaften in der Absolutheit sicherlich nicht sagen, für die Geistes– und Sozialwissenschaften, denen Habermas ja entstammt, mag dies jedoch weitestgehend zutreffen. 79 Der Begriff der Wirklichkeit wird hier in bewusster Abgrenzung von dem der Realität verwendet, bei dem immer eine realistische Ontologie begrifflich mitschwingt. Wirklichkeit meint demgegenüber immer eine konstrukthafte Wirklichkeit, die im Prozess ihrer sozialen Herstellung objektiviert wird und dem Individuum dann als quasi natürlich erscheint.

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2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

ley, Kant bis Husserl, Vahinger und Mead gesehen werden (vgl. HACKING 2002: 81; HÖRISCH 2004: 148; KIESER 1999: 288; SCHMIDT 1993: 332, 344), ist doch klar, dass konstruktivistische Positionen dem Idealismus näher stehen als Realismus und Empirismus. Konstruktivistische Positionen, so könnte man vereinfachend sagen, gehen den klassischen Dualismus von Geist und Materie also eher von Seiten des Geistes aus an. 2.4.1. Unterschiede und Gemeinsamkeiten konstruktivistischer Positionen Natürlich ist es streng genommen nicht zulässig, von dem Konstruktivismus zu reden. Vielmehr existiert eine so große Vielzahl unterschiedlicher und teils sogar untereinander inkommensurabler konstruktivistischer Positionen, dass es nicht möglich ist, sie hier vertiefend zu diskutieren. Die in Tabelle 1 angegebenen Charakteristika zur Differenzierung einiger konstruktivistischer Grundtypen sollten bereits hinreichend verdeutlichen, dass der Begründungszusammenhang und die den einzelnen Ansätzen unterliegenden Ontologien teils stark voneinander abweichen. Daher existiert auch keine einheitliche konstruktivistische Ontologie oder Erkenntnistheorie. Selbst die hier präsentierte tabellarische Zusammenfassung der Theoriedebatten in einzelnen Schulen ist in diesem Lichte bereits gewagt, hat doch schließlich „jeder Forscher (…) in der Regel seinen eigenen Kopf, und dieser durchläuft auch noch eine lebenslange Entwicklung“ (JANICH 1992: 24f). Bei aller Unterschiedlichkeit teilen die meisten konstruktivistischen Positionen jedoch auch einige gemeinsame grundlegende Überzeugungen (SEDLACEK 2002: 42f; ULBERT 2003: 391): – Ein ontologischer Naturalismus und die Abbildtheorie werden abgelehnt. Die Realität ist weder objektiv noch erschließt sie sich unmittelbar aus sich selbst heraus: „die Natur spricht nicht“ (HÖRISCH 2004: 151); – Erkenntnis wird als Produkt menschlicher Konstruktionsleistung betrachtet; – Erkenntnis ist nur aus der Perspektive der Handelnden möglich, weshalb kulturell geteilte Sinnzusammenhänge von erhöhter Bedeutung sind; – Die Wirklichkeit ist daher nicht gegeben, sondern wird sozial hergestellt; – Forscher sind daher nicht nur Beobachter, sondern Konstrukteure der Erkenntnis; – Wahrheit ist relativ. Keine Wahrheit kann einen Absolutheitsanspruch erheben; – Erkenntnisse sind nicht im absoluten Sinne wahr oder falsch, sondern müssen sich in der (sozialen) Praxis bewährt haben, um als wahr zu gelten. Über diese basalen Gemeinsamkeiten hinaus ist aber keineswegs eindeutig klar, was mit „konstruktivistisch“ in der jeweiligen Wortverwendungspraxis gemeint ist, zumal, wie HICKMAN, NEUBERT & REICH (2004: VI) feststellen, „der Nachweis der Herkunft eigener Gedanken im Kontext der Wissenschafts- und Kulturgeschichte (…) gerade bei vielen konstruktivistischen Darstellungen bisher zu fehlen [scheint], weil diese öfter den Gedanken der Konstruktion von Wirklich-

2.4. Falschverstandene Konstruktivismen und die Vertiefung des Grabens

81

keiten gegen die bisherige Wissenschaft und Kultur stellten, statt ihn aus der Entwicklung und den Entwicklungstendenzen solcher Kontexte herzuleiten.“ Diese berechtigte Kritik an konstruktivistischen Arbeiten findet sicherlich zum Teil ihre Begründung darin, dass dem Konstruktivismus ein erzliberales Moment anhaftet, das weder Ansprüche darauf erhebt zu wissen, was die Wirklichkeit, noch was die Welt und die Wahrheit »wirklich« und »an-sich« sind (HÖRISCH 2004: 151).

Tabelle 1: Grundtypen konstruktivistischer Ansätze Ansatz

Subjektiv-konstruktive Kelly Psychologie

Orientierung im Rahmen der Debatte über Subjekt/ Biologistisch/ Akteure vs. kognitive vs. Struktur sozial/kulturelle Begründung Stark subjektivis- Streng biologistische Grundper- tisch/kognitiv spektive, aber strukturalistisch argumentierend Radikal Biologistisch/ subjektivistisch kognitiv

Radikaler Konstruktivismus

Foerster, Glaserfeld

Stark subjektivistisch

Tendenziell biologistisch/ kognitiv

Materialistischkonstruktive Kulturtheorie

Vygotsky

Strukturorientiert

Sozial/kulturell

Systemtheorie

Luhmann

Streng strukturalistisch

Methodischer Konstruktivismus

Gethmann, Janich

Akteursorientiert & strukturalistisch

Streng sozial, aber kognitionstheoretisch beeinflusst Sozial/kulturell

Sozial-kultureller Konstruktivismus

Berger & Akteursorientiert Sozial/kulturell Luckmann, & strukturalistisch Knorr-Cetina Foucault, Strukturalistisch Sozial/kulturell Bourdieu

Konstruktive Psychologie

Impliziter Konstruktivismus/ Poststrukturalismus Dekonstruktivismus

Dekonstruktivistische Diskurstheorie

(Haupt-) Vertreter

Piaget

Metaphysische Verortung

Naturalistischobjektivistisch

(Haupt-) Gegenstand

Entwicklungslogik des Wissenserwerbs

Relativistisch mit Subjektive WirkHang zum Solip- lichkeitskonstruksismus tionen & individuelle Lernmöglichkeiten Relativistisch mit Subjektive Wirknaturalistischlichkeitskonstrukobjektivistischem tionen Hintergrund AntimetaphyEntwicklungslogik sisch-marxistisch des Wissens& objektivistisch- erwerbs materialistisch Konstitution (sozialer) Systeme Antirealistisch, gemäßigt relativistisch Gemäßigt relativistisch

Rekonstruktion von Objektivierungen

Gemäßigt relativistisch

Offenlegung von Macht- und Ordnungsstrukturen Dekonstruktion bestehender Machtstrukturen und Symbolischer Ordnungen Dekonstruktion existierender Diskurse als Ausdruck symbolischer Ordnungen

Derrida, Deleuze

Strukturalistisch

Sozial/kulturell

Gemäßigt relativistisch

Foucault, Laclau & Mouffe

Strukturalistisch

Sozial/kulturell

Gemäßigt relativistisch

Konstitution sozialer Wirklichkeiten

Quelle: In Anlehnung an Reich 2004 und Knorr-Cetina 1989; verändert und ergänzt.

82

2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

Vielleicht erscheint auch gerade deshalb eine erkenntnistheoretische und ideengeschichtliche Verortung vielen Autoren als unnötig, insbesondere wenn sie davon ausgehen, dass schlussendlich auch ideengeschichtliche Positionen nichts anderes als Konstruktionen sind.80 Aus dieser Perspektive ist nicht nur die ganze Welt ein Konstrukt, sondern sie ist immer auch anders möglich. Viele Autoren schließen hieraus fälschlich in einem übersteigerten und intellektualistisch überspitzen und beängstigenden Wissenschaftsliberalismus, dass jede Position grundsätzlich vertretbar sei, keine grundsätzlich besser als die andere sei und sich daher die Wissenschaft auf die Dekonstruktion unserer Wirklichkeitskonstruktionen beschränken solle, um sie der gesellschaftlichen Diskussion zur Verfügung zu stellen (GEBHARDT et al. 2003a: 19). Es ist nicht nur diese Verweigerung der eigenen weltanschaulichen Positionierung bei gleichzeitig oft fast schon übertrieben wirkenden Betonung der Positionalität und Perspektivität eigener Forschung, die anregt, nach der gesellschaftspolitischen Verantwortung konstruktivistischer Positionen zu fragen.81 Die Enthaltsamkeit darin selbst offensiv Stellung zu beziehen, mutet dabei oft schon seltsam unentschieden bis ratlos an. Vordergründig liberal auftretend verfolgt sie doch eine klar normative Agenda, die bereits durch die Konstitution ihres Gegenstands und ihrer Fragestellung deutlich (und meist auch offen benannt) wird, um sich aber am Ende ihrer Analyse eines expliziten, normativen Urteils zu entheben und ihre Ergebnisse nur zur Diskussion stellen zu wollen.82 Dieser Haltung unterliegt die (oft von Kritikern und Vertretern des Konstruktivismus gleichermaßen) falsch verstandene Überzeugung einer idealistischen Beliebigkeit unserer Weltentwürfe.83 Diese Überzeugung ist es auch, die die meiste 80 Womit dann wiederum der Konstruktionscharakter unserer Welt in einem gewissen, wenn auch nicht ontologischen, Sinn absolut gesetzt wird. 81 So lautet bspw. der Titel der neunten Tagung zur Neuen Kulturgeographie 2012 in Hamburg „Kulturgeographische Forschungen nach dem Cultural Turn. Zum gesellschaftspolitischen Gehalt der Neuen Kulturgeographie“. Dass die gesellschaftspolitische Haltung einer konstruktivistischen Geographie nach dem Cultural Turn zum Thema der Tagung erkoren wurde, zeigt dabei, dass innerhalb der Community offenbar erhebliche Lücken in der gesellschaftspolitischen Positionierung konstruktivistischer Positionen ausgemacht werden, die zur Diskussion gestellt werden sollten. Bezeichnenderweise argumentierten die einzigen Vorträge, die das Tagungsthema direkt adressierten, jedoch aus der Perspektive der kritischen Theorie oder aus der des Pragmatismus (zum gesellschaftspolitischen Gehalt des Pragmatismus vgl. Kapitel 3.5.). 82 Unfreiwillig komisch wirkt es dann, wenn dadurch der meist gar nicht intendierte Eindruck entsteht, man wolle analog einer positivistischen Grundhaltung quasi objektiv und werturteilsfrei lediglich die Strukturen unserer Wirklichkeiten dekonstruieren. Dies führt auf Tagungen und Vorträgen regelmäßig zu recht absurden Diskussionen mit positivistischen Kollegen darüber, ob die als Konstruktion „entlarvten“ Strukturen der Wirklichkeit nicht doch schlicht existent seien, oder ob man deren Existenz nun in Abrede stellen wolle. 83 Dass die Konstruktionsweisen unserer Wirklichkeit jedoch nicht beliebig, sondern lediglich kontingent sind, wird bspw. im sozialen Konstruktivismus darin deutlich, dass individuelle Wirklichkeitsentwürfe mit der sozial hergestellten Wirklichkeit abgeglichen und von dieser bestätigt werden müssen. Man kann als Individuum insofern nicht einfach behaupten, was

2.4. Falschverstandene Konstruktivismen und die Vertiefung des Grabens

83

Kritik am Konstruktivismus hervorgerufen hat. Insbesondere die klassischen Naturwissenschaftler tun sich mit einer derart falsch verstandenen Kontingenzhypothese und der aus ihr folgenden radikalen Instabilität der Erkenntnis schwer (HACKING 2002: 59). 2.4.2. Von Kindern und Bädern: Konsequenzen für die Geographie Demgegenüber haben konstruktivistische Positionen insbesondere in den Sozialwissenschaften im Zuge des Cultural Turns weite Verbreitung gefunden, wobei die Humangeographie keine Ausnahme bildet (WARDENGA 2005: 16). So lässt sich seit geraumer Zeit in der Humangeographie eine stärker werdende Strömung weg von kritisch-rationalistisch und positivistisch fundierten naturwissenschaftlich und quantitativ geprägten Ansätzen und Methoden hin zu interpretativen, hermeneutischen und damit insgesamt qualitativen Methoden und Ansätzen beobachten (GEBHARDT & REUBER 2007: 87).84 Diese neue Strömung in der humangeographischen Forschung hat auch in Deutschland zu zahlreichen neuen Fragestellungen geführt (GEBHARDT et al. 2007; GEBHARDT et al. 2003b) und wichtige Impulse zur Entwicklung der Gesamtdisziplin beigesteuert (SAHR 2005). Aus der Perspektive einer integrativen Mensch-Umwelt-Forschung ist der Vormarsch konstruktivistischer Positionen in der Humangeographie jedoch mit einigen Problemen verbunden. Auch wenn die Untersuchung des Redens über Natur und die Bedeutungszuweisungen an Natur mittlerweile ein veritabler Bestandteil humangeographischer Forschungspraxis geworden sind (GRAEFE et al. 2010; WEICHHART 2005, 2007; ZIERHOFER 2003, 2007), so stoßen konstruktivistische Positionen jedoch regelmäßig an ihre Grenzen, wenn es um die Konzeptionalisierung der Verbindung und die Beziehung zwischen Mensch und Materie bzw. Natur geht (FALTER & HASSE 2002; SCHLOTTMANN et al. 2010).85 Aus der Perspektive positivistisch und kritisch-realistisch arbeitender Geographen schütten dabei konstruktivistische Geographen das Kind zudem mit dem Bade aus, wenn bspw. in diskursanalytischen (vgl. bspw. GLASZE & MATTISSEK 2009; HUSSEINI DE

man möchte, will man nicht von der Gesellschaft als pathologisch psychotisch kategorisiert werden – was Folgen bis hin zur Zwangseinweisung in eine Therapieeinrichtung haben kann, in der einem die Einsicht in die Richtigkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion nahegebracht wird. 84 Dabei lassen sich durchaus (erkenntnistheoretisch mehr oder weniger überzeigende) Mischformen zwischen beiden Ansätzen ausmachen, wie bspw. der Werlens, der mit seinem Konzept des Geographie-Machens eine Art realistisch eingehegten Konstruktivismus auf kritischrealistischer Basis propagiert (WERLEN 1999). 85 Schlottmann et al. schlagen zur Überwindung des Grabens zugleich einen post-dualistischen Zugang zur Welt vor, wie ihn bspw. LATOUR (1996b, 1998, 2007, 2010) mit der Actor-Network-Theory (ANT) und THRIFT (2000a, 2008) mit der Non-Representational-Theory (NRT) vertreten. Für eine Hinwendung zur ANT plädiert früh bereits auch JÖNS (2003).

84

2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

ARAÚJO 2011; MATTISSEK 2007) und systemtheoretischen Ansätzen86 im Anschluss an LUHMANN (vgl. bspw. EGNER 2006, 2008a; LIPPUNER 2010) das Wechselspiel zwischen Mensch und Materie sinnvoll nur noch als Teil von Kommunikation bzw. als Text gedacht werden kann. Ein Zugang zu nicht-sprachlich verfassten Wirklichkeiten und damit zu den materiell geprägten naturwissenschaftlich untersuchten Prozessen ist von vielen konstruktivistischen Positionen aus daher gar nicht mehr möglich.87 Damit wird die Idee der Welt jedoch von allem Nicht-Kulturellen hermetisch abgeschottet. Alles, was nicht oder nur schwer „diskursiv rechenschaftsfähig“ ist,, hat dann keinen Platz mehr (FALTER & HASSE 2002: 83). Umwelt, Natur und Materie können dann aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus jenseits ihrer Bedeutungsebene nicht mehr Gegenstand humangeographischer Forschung sein. Die berechtigte Kritik am Positivismus verleitet so offenbar viele Konstruktivisten in idealistischer Tradition dazu, alles außerhalb von Bedeutungsstrukturen als unwirklich abzutun (HAMPE 2006: 120). Auch Natur ist dann nichts weiter als ein Konstrukt, ein letztlich kontingentes Bedeutungskonzept (DEMERITT 2002).88 Das Problem einer integrativen Betrachtung von Mensch-Umwelt-Beziehungen wird hier also gleichsam schlicht aus einer mehr oder weniger modernisierten idealistischen Perspektive umgekehrt. Wenn jedoch alles nur noch in Bedeutungsstrukturen und Sprache aufgehoben ist, entwirklichen wir unsere Theorien und unsere Praxis und ignorieren, dass wir als erkennende und handelnde, endliche Wesen ein Teil der Natur sind und diese zweifellos einen erheblichen, wenn auch nichtdeterministischen Einfluss auf uns und unsere Erfahrung von ihr ausübt. In diesem Sinne ist es eben nicht hinreichend, die Welt nur als Bedeutungsgewebe, als Netz unserer kommunizierten Interpretationen zu verstehen (HAMPE 2006: 120). Der erkenntnistheoretische Graben zwischen den Raum- und Materiekonzepten kritisch-realistischer und konstruktivistischer Geographen wird so von beiden Seiten aus offenbar ganz im Sinne der Popper‘schen Drei-Welten-Theorie als un-

86 Diskurs– und Systemtheorie argumentieren zudem sehr stark strukturalistisch und lösen sich damit dezidiert von autonomen und selbstverantwortlichen Subjekten und Akteuren ab (vgl. GEBHARDT et al. 2003a: 11). So fruchtbar ein solcher Ansatz für Studien auf der Makroebene sein mag, so problematisch erscheint er jedoch für eine empirische Forschungsarbeit im Gelände. Gerade der gemeinsame empirische (Feld-) Zugang zur „Wirklichkeit“ scheint jedoch eine gute Voraussetzung für integrative Arbeiten in der Geographie zu bieten. 87 Gebhardt, Reuber & Wolkersdorfer erklären so bspw., dass Sprache für eine Geographie nach dem Cultural Turn „das entscheidende, für viele sogar das einzige Medium“ sei, „weil auch die materiellen Elemente unserer Lebenswelt dann (nur) als Symbole und Zeichen gesellschaftlicher Kommunikation relevant sein können“ (GEBHARDT et al. 2003a: 9). 88 FALTER & HASSE (2002: 83) haben hier zu Recht darauf hingewiesen, dass sich hinter einem solchen konstruktivistischen Verständnis der Welt oft ein Wille verbirgt, alle Werte und Dinge unserer Welt „in den Verfügungsbereich politischer Entscheidungen zu ziehen“ (ebd.), da es ja letztlich, so die konstruktivistische Position, politisch bedingt ist, was als Natur gilt. Der Duktus konstruktivistischer Positionen ist daher oft einer der Propagierung „schrankenlose[r] gesellschaftliche[r] ‚Freiheit‘, deren Kern jedenfalls im gesellschaftlichen Umgang mit Natur doch eher fragwürdig ist“ (ebd.).

2.4. Falschverstandene Konstruktivismen und die Vertiefung des Grabens

85

überbrückbar festgeschrieben. In diesem Sinne postuliert denn auch HARD (1999: 139f; 2002a: 216) als einer der profiliertesten Raumtheoretiker in der deutschsprachigen Geographie folgerichtig, dass sozialwissenschaftliche Aussagen über den physisch-materiellen Raum epistemologisch nicht möglich sind und eine physisch-materielle Verortung sozialer Sachverhalte ein sinnloses Unterfangen darstellt. An diesem von Gerhard Hard bereits seit dem Ende der 1970er Jahre immer wieder thematisierten Graben hat sich in der Zwischenzeit kaum etwas verändert. WARDENGA & MIGGELBRINK (1998: 37) stellen so am Ende des letzten Jahrtausends bereits fest, dass sich die Diskussion um Regionsbegriffe in der deutschsprachigen Geographie auf einer „zwischen den beiden Polen von Realismus und Konstruktivismus aufgespannten Skala bewegen“, und MIGGELBRINK (2000) demonstriert in ihrem Überblicksartikel zu Raumkonzepten in der Geographie ebenfalls eine scharfe Trennung zwischen physisch-materiellen und konstruktivistischen Raumkonzepten. Hinsichtlich integrativer Projekte zwischen Physischer und Humangeographie ergibt sich aus dieser Denkfigur eine nahezu unüberwindbare erkenntnistheoretische Trennmauer zwischen den in der Physischen Geographie dominierenden, positivistischen und (kritisch-) realistischen Auffassungen einerseits und konstruktivistischen Perspektiven auf Mensch-Umwelt-Interaktionen andererseits. Wenn die Diskussion über Raum in der Geographie jedoch auch immer eine Diskussion über das Verständnis dessen zum Ausdruck bringt, was wir als Umwelt bezeichnen, dann lässt sich auf dieser Basis keine gemeinsame Mensch-UmweltForschung betreiben. Der eher rudimentäre Kontakt zwischen den beiden Teildisziplinen ist daher zu einem nicht geringen Teil auch der Inkommensurabilität der in ihnen verbreiteten erkenntnistheoretischen Perspektiven geschuldet. Die Schuld hieran liegt dabei weder bei den einen noch bei den anderen Protagonisten. Vielmehr ist der Dualismus zwischen Geist und Materie, den wir in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich in den Blick genommen haben, eben weder von der einen noch von der anderen Seite aus auflösbar, ohne dass man von dem jeweils anderen erwartet mit fliegenden Fahnen die Seite zu wechseln. Die dualistische und antagonistische Spaltung der Disziplin hat in der Folge immer wieder zu Bekehrungsversuchen des jeweils anderen geführt.89 Konstrukti89 Ein entsprechender Ausschließlichkeitsanspruch der eigenen Position wird bspw. relativ unverblümt für integrative Arbeiten im Einleitungsbeitrag von Gebhardt, Reuber & Wolkersdorfer im Band zur Neuen Kulturgeographie (GEBHARDT et al. 2003a: 8f) formuliert, in dem es heißt, dass eine „Integration der Natur in eine Geographie des Sozialen (…) nur durch eine konstruktivistische Konzeption der Natur (…) verwirklicht werden kann“ (ebd.). Ein idealtypisches Ergebnis des Bemühens, das Soziale in den (biologistischen) Kategorien der Naturwissenschaften zu denken, bietet demgegenüber bspw. die Soziale Ökologie der Wiener Schule um Marina Fischer-Kowalski (z. B. FISCHER-KOWALSKI & ERB 2006; FISCHERKOWALSKI et al. 1997; FISCHER-KOWALSKI & WEISZ 1999). Auch die Bemühungen des Münchner Geographischen Institutes in den letzten Berufungsverfahren Humangeographen zu finden, die sich in die in München dominierenden positivistischen (und zum Teil geodeterministischen) Modellierungen von Mensch-Umwelt-Beziehungen (vgl. bspw. TEPFENHART et al. 2007) einpflegen lassen, legen von dieser Geisteshaltung beredet Zeugnis ab.

86

2. Kleine Geschichte erkenntnistheoretischer Dualismen und Raumkonzepte

vistische Humangeographen haben dazu vor allem Argumente der Science and Technology Studies (KNORR-CETINA 1984; LATOUR 2002; RORTY 2003) ins Feld geführt, die eine Naturalisierung menschlicher Erkenntnis in den Naturwissenschaften offengelegt und kritisiert haben. Zugleich brach sich nicht nur bei positivistischen und kritisch-rationalistisch geprägten Wissenschaftlern ein Unbehagen Bahn bezüglich des Unvermögens konstruktivistischer Perspektiven, Materialität in ihre Theoriebildung zu integrieren. Insbesondere die Aufhebung der Realität in Sprache und Diskursen blendet, so die Kritik, den praktischen und lebensweltlich erfahrbaren, unmittelbaren Einfluss von Materialität und Natur auf menschliche Handlungen aus. Auch innerhalb der Humangeographie hat dieser Umstand dabei zuletzt immer deutlicher vernehmbar die Forderung nach einer „Rematerialisierung“ humangeographischer Theoriekonzepte aufgeworfen (KAZIG & WEICHHART 2009; LEES 2002: 110). Die Suche nach einer „Hintergrundtheorie“ (WARDENGA & WEICHHART 2006: 18), die einen gemeinsamen Weg von Physischer und Humangeographie ermöglicht, stellt deshalb insbesondere Wissenschaftstheoretiker vor erhebliche Herausforderungen (DÜRR 1999: 196). Vor diesem Hintergrund mehren sich in den letzten Jahren die Forderungen nach dem Entwurf einer „post-dualistischen“ Geographie (BRAUN 2004; CLOKE & JOHNSTON 2005; GRAEFE et al. 2010; MEUSBURGER & SCHWAN 2003; ZIERHOFER 1999, 2003, 2007), die das geschilderte Problem vorwiegend aus einer kulturtheoretisch informierten, wissenssoziologischen und poststrukturalistischen Perspektive angehen, seine erkenntnistheoretische Dimension bis auf wenige pragmatisch inspirierte Ausnahmen jedoch nicht adressieren.90

90 Vgl. Kapitel 4.1.2.

3. PRAGMATISMUS ALS SCHLÜSSEL EINES NICHTDUALISTISCHEN MENSCH-UMWELT-KONZEPTES Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, stellen sich realistischen, positivistischen, idealistischen und vielen konstruktivistischen Positionen eine ganze Reihe Probleme, die vor allem an der dualistisch und antipodisch gedachten Bruchlinie zwischen Geist und Materie ansetzen und Anlass für eine jahrtausendealte erkenntnistheoretische Debatte über die Erkenntnismöglichkeit der Welt und damit das Verhältnis von Mensch und Umwelt waren. Die der dualistischen Strukturierung unserer Wirklichkeit innewohnenden erkenntnistheoretischen Widersprüche werden dabei in ihren Grundzügen bereits seit der Entstehung des modernen Skeptizismus intensiv debattiert. Wie WILLIAMS (1996: 176) bereits festgestellt hat, verlieren skeptische Argumentationen jedoch sofort ihre Schlagkraft, wenn wir uns von den etablierten erkenntnistheoretischen Dualismen lösen. Hume hat in diesem Sinne schon festgestellt, dass der Skeptizismus nicht widerlegbar ist. Er folgert daraus aber nicht, dass eine andere, bessere Erkenntnistheorie nötig sei (wie Kant und Russel), sondern dass die klassische Erkenntnistheorie irrelevant sei, weil sie uns nicht zu unserem täglichen Leben ertüchtigen könne (vgl. RORTY 2003: 158). Nötig ist folglich die Entwicklung einer antirealistischen und anti-fundamentalistischen Ontologie, die nicht nach Letztbegründungen sucht, sondern an unserer Lebenswelt anschließt. Anders formuliert ist nicht ein Zugang nötig, der nach der Ontologie der Untersuchungsgegenstände fragt, sondern der interpretativ erklären will, was Menschen unter Wirklichkeit und Wahrheit verstehen und wie sie zu ihnen gelangen (SCHERER 1999: 11). Eine (und ideengeschichtlich die erste konsistent formulierte) erkenntnistheoretische Alternative für die Konzeption eines nichtdualistischen Zugangs zu Mensch-Umwelt-Beziehungen, Materialität und Raum bietet die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus, die im Anschluss in Grundzügen rekonstruiert wird. Der Pragmatismus stellt kein geschlossenes erkenntnistheoretisches System oder Gedankengebäude dar. Vielmehr existiert auch hier eine Vielzahl an Ansätzen und Strömungen (NAGL 1998: 13). Zwischen den Philosophien der einzelnen Denker existieren erhebliche Unterschiede, sodass man streng genommen nicht von dem (einen) Pragmatismus reden kann. Alle pragmatischen Ansätze teilen jedoch gemeinsam den Versuch, Theorie mit Praxis und Erkenntnis mit Interesse zu vermitteln (CRAIG 1979: 3). Allen Pragmatisten gemeinsam sind darüber hinaus ein entschiedener Antifundamentalismus, ein strenger Fallibilismus91, die Über91 Unter Fallibilismus versteht man eine wissenschaftstheoretische Position, nach der Erkenntnis jeder sicheren Grundlage entbehrt. Selbstevidente Wahrheiten wie im Rationalismus, unfehlbare Beobachtungen wie im Empirismus und apriorische Prinzipien wie im idealistisch ge-

88

3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

zeugung des sozialen Charakters des Selbst und der Notwendigkeit zur Förderung einer kritischen Gemeinschaft von Forschenden, das Bewusstsein der und die Sensibilität für die Kontingenz unserer Wirklichkeiten sowie eine pluralistische Grundüberzeugung (HEPPLE 2008: 1531). Innerhalb der pragmatischen Philosophie kann grob unterschieden werden zwischen den klassischen Pragmatisten mit ihren wichtigsten Vertretern Charles Sanders Peirce, Ferdinand Canning Scott Schiller, William James, John Dewey und George Herbert Mead sowie den s. g. Neopragmatisten von Richard Bernstein über Richard Rorty, Hillary Putnam, Richard Shusterman, Stanley Cavell, Cornell West, Nancy Fraser, Edward Craig, Stanley Fish bis hin zu Hans Joas. Den Pragmatismus für die Geographie fruchtbar machen zu wollen würde angesichts der Vielzahl an Positionen und Perspektiven sowie der teils unglaublich anmutenden Produktivität pragmatischer Philosophen – allein das Lebenswerk Deweys umfasst mehr als 700 Aufsätze und etwa 40 Bücher – selbstverständlich den Rahmen einer jeden wissenschaftlichen Arbeit sprengen. Die vorliegende Arbeit wird sich daher auf die Rekonstruktion einiger Grundzüge des klassischen Pragmatismus beschränken und insbesondere deren Version bei Dewey zum Ausgangspunkt einer ersten Abschätzung möglicher Potenziale und Konsequenzen pragmatischer Positionen in und für eine geographische Mensch-Umwelt-Forschung nehmen. Im Zentrum der Darstellung steht dabei die für den Pragmatismus zentrale Idee eines experimentellen Erkenntnisprozesses. Das Ergebnis dieses Prozesses, so der Pragmatismus, bildet das, was Menschen unter Wahrheit verstehen und woraus sich ihre Wirklichkeiten ergeben. Um den Hintergrund der Ideengeschichte Deweys besser verstehen zu können, sind der Rekonstruktion der Grundelemente seiner Philosophie Kurzzusammenfassungen der Ideen seiner pragmatischen Vorgänger bzw. Zeitgenossen Peirce, Schiller und James vorangestellt, die Deweys Werk nachhaltig geprägt haben. Zusammen mit einigen Ausführungen zu der Rezeption des klassischen Pragmatismus durch die späteren Neopragmatisten (Kapitel 3.4.2.) mag dies dem einen oder anderen Leser eventuell einige Hinweise auf mögliche Anknüpfungspunkte für eigene pragmatische Arbeiten jenseits der Arbeiten Deweys bieten. 3.1. GRUNDZÜGE DES KLASSISCHEN PRAGMATISMUS Einige Grundzüge des Pragmatismus sind, wie JAMES (1994b: 21 & 55ff) als einer seiner Hauptvertreter anführt, bereits in der Philosophie von Sokrates, Locke, Berkeley und Hume angelegt.92 Im Gegensatz zu Sokrates, Locke und Berkeley

prägten Kantianismus werden daher abgelehnt. Wissen wird demgegenüber immer als vorläufig betrachtet (HÜGLI & LÜBCKE 2005: 199). 92 Worin auch einer der Gründe für die ausführliche Beschäftigung mit den Vorläufern des Pragmatismus in den vorangegangenen Kapiteln zu sehen ist. Das Verständnis für die Argumente des Pragmatismus wird so wesentlich erleichtert.

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

89

weisen die klassischen Pragmatisten Peirce, Schiller, James und Dewey jedoch die traditionellen Dualismen zwischen Geist und Körper, Subjekt und Objekt zurück, die Idealisten und Empiristen seit Descartes und Locke getrennt hatten. William JAMES (1994b: 22) hat den radikalen Bruch des Pragmatismus mit der ihm vorausgehenden Philosophie eindrücklich folgendermaßen beschrieben: „Der Pragmatismus wendet sich weg von Abstraktionen und Unzulänglichkeiten, weg von Problemlösungen, die nur Worte sind, weg von schlechten Apriori-Begründungen, von festgelegten Prinzipien, von geschlossenen Systemen, weg von dem Absoluten und den Ursprüngen. Er wendet sich vielmehr zu der Wirklichkeit und Angemessenheit, zu den Tatsachen, zum Handeln und zur Macht.“

Der Pragmatismus ist also keine Erkenntnistheorie im klassischen Sinne. Er lehnt die These ab, dass die Erkenntnistheorie dazu dient, eine Grundlage der Wissenschaften zu liefern, und behauptet, dass es einer solchen Grundlegung nicht bedarf (RORTY 2003: 14). Anstatt dessen ist er radikal subjekt- und handlungsorientiert, was schon in seiner Namensgebung deutlich wird, denn der Begriff Pragmatismus leitet sich aus dem Griechischen „Praxis“93 ab, was so viel bedeutet wie Handlung oder Tat (JAMES 1994: 18). Dementsprechend fragt der Pragmatismus aus einer empirischen Perspektive (ebd.: 21f), was Menschen unter Wahrheit verstehen, wie sie zu der Überzeugung von Wahrheit gelangen und wie sich für sie Wirklichkeit konstituiert (JAMES 2002a: 184). Im Kern versteht der Pragmatismus Wahrheit also nicht als eine den Dingen innewohnende Eigenschaft, sondern als Produkt des Erkenntnisprozesses. Aus unseren Wahrheiten bilden sich unsere Bilder der Wirklichkeit(en). Will man die Strukturen unserer Welt untersuchen, muss man sich folglich dem Begriff der Wahrheit zuwenden. Die Wahrheit einer Überzeugung liegt für die Pragmatisten wiederum in deren möglichen Konsequenzen, d. h. in ihrer Bedeutung für unsere zukünftigen Handlungen, begründet (HICKMAN 2004: 9). Hat eine Aussage keine Auswirkungen auf unsere zukünftigen tätlichen oder gedanklichen Praktiken, ist sie weder wahr noch falsch, sondern nichts sagend. Die Wahrheit einer Aussage bemisst sich also erst daran, ob sie sich experimentell bewährt, etwas zur Lösung eines Problems beiträgt und in diesem Sinne etwas nutzt. Ihre Wahrheit hängt also von ihren Folgen, ihrem Gebrauchswert in der Praxis ab. In diesem Sinne müssen sich alle unsere Überzeugungen, Werte und Theorien im Rahmen unserer Erfahrung als soziale und geschichtliche Wesen als brauchbar erwiesen haben (HEPPLE 2008: 1531). Wie gelangt nun der Pragmatismus zu diesen Überzeugungen? Betrachten wir, um die Argumentation des Pragmatismus besser verstehen zu können, zunächst dessen grundlegenden Entwurf durch Charles Sanders Peirce.

93 Der Begriff der „Praxis“ sollte nicht zu eng verstanden werden. In Pragmatismus bezeichnet Praxis mehr als nur eine klassisch-tätliche Handlung. Praxis bezeichnet jede Art von Handlungen – inklusive des Sprachgebrauchs und des Denkens (CRAIG 1979: 23).

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

3.1.1. Die semiotische Begründung des Pragmatismus – Charles S. Peirce Als Gründungsvater des amerikanischen Pragmatismus gilt gemeinhin der Philosoph und Semiotiker Charles Sanders Peirce (1839–1914) (NAGL 1998: 20).94 Peirce ist zugleich Mitbegründer des „Metaphysical Club“ in Cambridge (Massachusetts), der eine Art erkenntnistheoretischen Think-Tank darstellte, in dem schließlich die Idee der pragmatischen Philosophie geboren wird. Sie besagt, dass Wahrheit keinen absoluten Referenzpunkt hat und wendet sich insofern gegen jede Art erkenntnistheoretischen Fundamentalismus. Wie PEIRCE (2002b: 106; 5.41695) selbst feststellt, erfordert eine pragmatische Perspektive daher, alle bisherigen96 Überzeugungen aufzugeben. PEIRCE (2002a: 79; 5.384) geht so zwar durchaus von der Existenz einer absoluten, realen Welt aus, deren Erkenntnis das Ziel der Wissenschaft sei, allerdings ist für ihn Realität nicht im Sinne der Abbildtheorie zugänglich, sondern hat einen semiotischen Charakter (NAGL 1998: 38f) und stellt damit eine gemeinsam interpretierte Realität dar (MARTENS 2002: 17). Das Konzept der absoluten Realität ist für Peirce daher eher eine Art regulative Idee in seiner Philosophie.97 Ausgangspunkt seiner Theorie bildet die gemeinsam interpretierte Realität, als der „größte Teil unserer instinktiven Überzeugungen“ (PEIRCE 2002b: 112; 5.423). Der Kern seiner Philosophie besteht nun darin, dass unsere Wahrnehmungen und unser gesamtes Denken als zeichenvermittelt verstanden werden müssen (ebd.: 110; 5.421).98 Peirce entwirft dazu ein komplexes, dreirelationales Zeichenmodell: Dementsprechend hat ein Zeichen immer einen Zeichenkörper, der für jemanden in einer gewissen Hinsicht für etwas steht (PEIRCE 1931–1935: 2.228; 2000: 188)99. Auch (Sinnes-) Wahrnehmung ist daher für Peirce nie „rein“ oder „unmittelbar“, sondern bereits zeichenhaltig (vor-) strukturiert. Diese Vorstrukturiertheit ist als ein soziales Produkt zu verstehen, denn in unserem Sozialisationsprozess lernen wir vor allem, wie unsere Wahrnehmungen zeichenhaft zu deuten und in Form von Sprache auszudrücken sind. Unsere Erfahrung stellt daher immer bereits ihre eigene Interpretation dar (PEIRCE 2002a: 67; 5.369). Etwas neutral wahrzunehmen, ohne es gleichzeitig zu interpretieren, ist demnach nicht

94 Insbesondere sein Aufsatz »How to make our ideas clear« (1878) wird als „Geburtsurkunde“ des Pragmatismus (NAGL 1998: IX) bezeichnet. 95 Die Angabe nach der Seitenzahl bezieht sich auf die Standardzitation des Werkes von Peirce nach den Collected Papers. 96 An dieser Stelle sei nochmal darauf aufmerksam gemacht, dass zu dem damaligen Zeitpunkt keine andere Denkrichtung derart radikal mit der etablierten Erkenntnistheorie und Philosophie gebrochen hatte. 97 Hierin findet sich bemerkenswerterweise durchaus eine Parallele zu Popper. 98 Er bezeichnet dies als „Möglichkeitsbedingung des Denkens“ (OEHLER 1994: 39). 99 Mit diesem Denkansatz betritt Peirce völliges Neuland und begründet mit seinen umfangreichen Arbeiten die moderne Semiotik (NAGL 1998: X).

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

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möglich100, denn „unsere Wahrnehmungsinhalte [sind] die Ergebnisse erkenntnismäßiger Verarbeitung“ (PEIRCE 2002b: 106; 5.416). Interessant ist nun die Frage, wie Zeichen ihre Bedeutung erlangen und diese Bedeutung intersubjektiv fixiert, ja quasi-objektiviert wird. Nach Peirce erlangen Zeichen erst durch unser alltägliches Handeln ihre intersubjektive Bedeutung. Ihre Bedeutung – so der pragmatische Kerngedanke – besteht dabei in nichts anderem als den praktisch unterscheidbaren Konsequenzen, die ihr Gebrauch nach sich zieht (NAGL 1998: 12). Um den Sinn eines Gedankens zu erfassen, muss man also laut Peirce die Handlungsweise identifizieren, die der Gedanke bewirken kann. Die Handlungsweise ist dann gleichbedeutend mit der gesamten Bedeutung des Gedankens, wie der Pragmatist JAMES erklärt: „Die konkrete Tatsache, die allen unseren noch so subtilen Gedanken-Distinktionen zugrunde liegt, ist diese: Keine dieser Distinktionen ist so subtil, dass sie in irgendetwas anderem bestünde, als in einer Unterscheidung, die das Handeln beeinflussen kann“ (JAMES 1994: 18).

Diese praktisch unterscheidbaren Konsequenzen können nun – so Peirce – in einem Experiment überprüft werden. Die Theorie des experimentierenden Erprobens besagt, „dass ein Begriff, d. h. der rationale Bedeutungsgehalt eines (…) Ausdrucks, ausschließlich in seinem denkbaren Bezug auf die Lebensführung besteht. Da nun offensichtlich nichts, was sich nicht aus einem Experiment ergeben könnte, irgendeinen direkten Bezug auf das Verhalten haben kann, so wird man (…) darin eine vollständige Definition des Begriffs haben“ (PEIRCE 2002b: 100; 5.412).

Im Versuch diesen Gedanken griffig auf den Punkt zu bringen, verfasst PEIRCE 1878 in seinem Aufsatz »Über die Klarheit unserer Gedanken« seine berühmte Pragmatische Maxime, die zur Grundlage des Pragmatismus wird: „Überlegen Sie, welche denkbaren Wirkungen, die denkbarerweise auch praktische Auswirkungen haben können, Sie dem Gegenstand Ihres Begriffs in Ihrer Vorstellung zuschreiben. Dann ist Ihr Begriff dieser Wirkungen das GANZE Ihres Begriffs des Gegenstandes“ (ebd.: 111; 5.422).

Diese Aussage von Peirce wurde von den verschiedensten Pragmatisten – wie auch ihren Kritikern – sehr unterschiedlich gelesen. Was will die etwas sperrig formulierte pragmatische Maxime im Peirce‘schen Sinne besagen? Im Kern ist damit gemeint, dass die Bedeutung eines Begriffs nicht durch eine auf ihn selbst fixierte, selbstgenügsame oder gar introspektive Begriffsanalyse101 geklärt werden 100 Peirce lehnt sich mit diesem Gedanken an Kant an. Für Kant kann die „Erfahrung von Realität nicht als ein kausaler Widerspiegelungsvorgang gedeutet werden“ (MARTENS 2002: 21). Anstatt dessen muss „alles Reale, um überhaupt erkennbar zu sein, immer schon durch Anschauungsformen und Kategorien »bezeichnet« werden“ (ebd.). Man kann also sagen, dass Kant eine erste Theorie aufstellte, dass alles Erfahrbare „semiotisch mediatisiert“ (ebd.), nur durch Zeichen vermittelt erfassbar wird. Peirce schließt sich an diesen Gedanken an und entwickelt in der Folge seine pragmatische Semiotik, in der er sich aber von Kants transzendentalphilosophischen Elementen abwendet (ebd.). 101 Mit dieser Auffassung grenzt sich der Pragmatismus von der Analytischen Philosophie ab.

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kann, sondern nur im Hinblick auf seine potenziellen Konsequenzen in der Zukunft. Zeichen enthalten also keine Bedeutung, keinen Sinn in sich, sondern nur in der Sequenz ihrer künftigen Wirkungen. Was der Begriff bedeutet, wird offenbar daran, was er im Umfeld seiner „interpretants“ – seiner Folgezeichen – bewirken kann. Ein Zeichen gewinnt seine Bedeutung sozusagen erst im Kontext seiner Folgezeichen, in dem es sich in einer zukünftigen Anwendung bewähren muss (ebd.: 114; 5.427).102 Die Bewährung einer Aussage wird experimentell103 anhand ihrer Folgen überprüft. Mit ihrer Bewährung entscheidet sich dann auch die Frage nach ihrer Wahrheit, denn ob ein Fürwahrgehaltenes wahr oder falsch ist, muss „einen Unterschied in Bezug auf unsere Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten machen“ (HÜGLI & LÜBCKE 2005: 483), wobei unsere Überzeugungen als eine Art Handlungsregel fungieren (NAGL 1998: 22). Peirce geht also davon aus, dass Menschen die Wahrheit einer Aussage daran messen, ob sie einer experimentellen Erprobung bzw. einem konstruierenden Denken standhält. Ein Fürwahrhalten kann deshalb nicht zur quietistischen Ruhe eines selbstgenügsamen Wissens führen, sondern erzeugt vielmehr eine Art Handlungsdisposition. Erkenntnisse sind grundsätzlich veränderbar, da jede Aussage immer auch zukünftigen experimentellen Bewährungsproben ausgesetzt ist und in diesem Sinn nie als sicher gelten kann (PEIRCE 2002b: 114; 5.425). Wahrheit ist deshalb für Peirce immer zukunftszugewandt und nicht wie in der realistischen Ontologie vergangenheitsbezogen. Fallibilität und Neuinterpretation von Zeichen sind insofern wesentliche Elemente der pragmatischen Philosophie. Was hat es nun mit dieser experimentellen Art der Welterkundung auf sich, mit der Menschen nach der Meinung der Pragmatisten Urteile über Wahrheiten treffen und so Bedeutungen konstruieren? Um die experimentelle Methode als Basisaxiom des klassischen Pragmatismus zu verstehen, ist es nötig, sich mit einem grundlegenden Interpretationsschema zu beschäftigen, das Peirce in die Philosophie eingeführt hat: das Belief-Doubt-Belief-Schema104, das sich bei allen Klassikern des Pragmatismus wiederfindet. Demnach beruht unser lebensweltliches Verhalten auf einem Wechselspiel von Fürwahrhalten (belief), Zweifel (doubt) und erneutem Fürwahrhalten (belief) (vgl. Abbildung 2).

102 Hierin ergibt sich eine Parallele zu WITTGENSTEIN, der später in seinen »Philosophischen Untersuchungen« (1975: §43) davon reden wird, dass „die Bedeutung eines Wortes“ in seinem „Gebrauch in der Sprache“ liegt. HABERMAS (1981) greift später in seiner »Theorie Kommunikativen Handelns« ebenfalls Ideen der Sprachpragmatik Peirce‘ auf. 103 Mit experimentell ist sowohl eine praktische wie eine gedankliche Erprobung gemeint. 104 Sein berühmt gewordenes Interpretationsschema menschlicher Welterschließung entlehnt Peirce wiederum den handlungspsychologischen Arbeiten des schottischen Philosophen Alexander Bain (1818–1903) (NAGL 1998: 17).

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Abbildung 2: Belief-Doubt-Belief-Schema nach Peirce Quelle: Eigene Darstellung

In der Ausgangssituation stellt unser Fürwahrhalten die Summe aller bisher als wahr anerkannten Überzeugungen dar. Das Fürwahrhalten ist erstens die Grundlage, auf welcher Handlungen überhaupt erst möglich sind, und zweitens zugleich eine definierte Ausgangslage, die bestimmte Handlungsdispositionen (habit) nach sich zieht: „Die Überzeugung veranlasst uns zwar nicht, sofort zu handeln, aber sie versetzt uns in die Lage, uns auf bestimmte Art zu verhalten, wenn die Gelegenheit da ist“ (PEIRCE 2002a: 69; 5.373).

Unsere Überzeugungen werden im Normalfall nicht infrage gestellt und das hat sowohl gute Gründe wie auch Konsequenzen: „Solange einem die Pedanterie noch nicht alle Realität weggefressen hat, sollte man anerkennen, (…) dass es vieles gibt, was man nicht im Geringsten bezweifelt. Das aber, was man überhaupt nicht im Geringsten bezweifelt, muss man als untrüglich, als absolute Wahrheit ansehen, und man sieht es auch so an“ (PEIRCE 2002b: 107; 5.416).

Der Pragmatismus von Peirce anerkennt also, dass es gute Gründe gibt, Wahrheiten als „absolut“ anzusehen. Dieses Verständnis von absoluter Wahrheit ist jedoch nicht in einem metaphysischem Sinn zu verstehen. Wenn Peirce von absoluter Wahrheit redet, meint er stattdessen eine Art feste Überzeugung, was darin zum Ausdruck kommt, dass „absolute“ Wahrheit bei ihm radikal subjektzentriert wird:

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes „Das, von dem man unbedingt überzeugt ist, [kann] genau genommen keine falsche Überzeugung sein (…). Mit anderen Worten, es ist für den Einzelnen die absolute Wahrheit“ (ebd.: 109; 5.419).105

Dadurch, dass neue Ereignisse in unser Leben treten, die uns Anlass geben, an Teilen unserer Überzeugungen zu zweifeln, wird dieser Zustand des Fürwahrhaltens labil. Zweifeln kann sich auf empirische Problemstellungen wie auch fiktionale Situationen oder Gedankenexperimente erstrecken. Zweifel muss dabei verstanden werden als „ein vorweggenommenes Zögern darüber, was ich später einmal tun soll, oder bloß ein gedachtes Zögern in Bezug auf einen fiktiven Zustand der Dinge“ (PEIRCE 2002a: 88; 5.372, Anm. 20).

Dieser reale Zweifel zeichnet sich dadurch aus, dass er lebendig ist (ebd.: 70; 5.376), d. h. er wird als unangenehm, als störend empfunden und verursacht Verunsicherung. Er ist nie abstrakt wie bei Descartes.106 Der Zustand der Überzeugung ist dagegen „ein ruhiger und befriedigender Zustand, den wir nicht aufgeben oder in eine Überzeugung von irgendetwas anderem verändern möchten. Im Gegenteil, wir klammern uns hartnäckig nicht nur an das Überzeugtsein, sondern an das Überzeugtsein durch das, von dem wir gerade überzeugt sind“ (ebd.: 69; 5.372).

In dem Versuch, die durch reale Zweifel verursachte unangenehme Verunsicherung zu beseitigen, sieht Peirce den Motor jeder Erkenntnissuche: „Der Zweifel (…) regt uns zum Forschen an, bis er beseitigt ist“ (ebd.: 69; 5.373).

Zweifel werden also durch Forschungsprozesse ausgeräumt. Dabei beschränkt sich PEIRCE’ Forschungsbegriff nicht nur auf die Wissenschaft, sondern er konzeptionalisiert Forschen vielmehr als jede Art von – und damit auch alltägliche – „Anstrengung (…), um den Zustand der Überzeugung zu erreichen“ (ebd.: 69; 5.374). Ist der Zweifel ausgeräumt, treten wir erneut in einen Zustand des Fürwahrhaltens ein, bis neue Zweifel aufkommen: „Mit dem Zweifel beginnt also der innere Kampf, und mit dem Aufhören des Zweifels endet er“ (ebd.: 70; 5.375).

Doch wie werden die Zweifel durch Forschung ausgeräumt? Wichtig ist es zunächst festzustellen, dass das Ziel des Forschens sei, eine Meinung festzulegen. PEIRCE ist sich bei dieser Aussage bewusst, dass sie konträr zu den gängigen Wahrheitsansprüchen liegt, denn „wir möchten uns zwar einbilden, (…) wir suchten nicht bloß eine Meinung, sondern eine wahre Meinung. Aber stelle diese auf die Probe, und sie erweist sich als grundlos, denn so105 Wahrheit, Dogma und Ideologie liegen deshalb auch nahe beieinander – vor allem wenn man der Meinung ist, nur die eigene Wahrheit sei absolut gültig. 106 Dies hält Peirce allein schon deshalb für praktisch unmöglich, da wir so sehr in unserer Lebenswelt in Strukturen von Fürwahrgehaltenem operieren, dass wir dieses Bezugssystem niemals auf einen Schlag und radikal bezweifeln können.

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bald eine feste Überzeugung erreicht ist, sind wir völlig zufrieden gestellt, gleichgültig, ob die Überzeugung wahr oder falsch ist. Und es ist klar, dass nichts außerhalb des Bereichs unserer Erkenntnis das Ziel unseres Forschens sein kann, denn was unseren Verstand nicht beeinflusst, kann auch nicht das Motiv einer Anstrengung des Verstands sein. Das Äußerste, was wir behaupten können, ist, dass wir nach einer Überzeugung suchen, die wir für wahr halten. Aber wir halten jede unserer Überzeugungen für wahr, und daher ist die zuletzt vorgeschlagene Ausdrucksweise eine bloße Tautologie“ (ebd.: 70; 5.375).

Wahrheit bemisst sich deshalb – und dies ist ein weiterer Kerngedanke des Pragmatismus, den später vor allem Dewey genauer diskutieren wird – daran, ob die Akzeptanz einer Aussage als wahr, „uns bei genügender Erfahrung und Reflexion zu einem Verhalten führen würde, das darauf zielen würde, die Wünsche, die wir dann haben würden, zu befriedigen“ (ebd.: 89; 5.375, Anm.24).

Dieses Zitat darf nun nicht missverstanden werden. Peirce möchte natürlich nicht behaupten, dass wir nur das als wahr anerkennen, was uns glücklich macht oder wodurch unsere alltäglichen Wünsche befriedigt würden. Unter „befriedigen“ versteht Peirce vielmehr, dass sich erwartete Folgen einstellen – und das bedeutet in erster Linie, dass sich die als wahr akzeptierte Meinung in die (sozial geteilte) Struktur unseres bisher Fürwahrgehaltenen einfügt, ohne neuen Anlass zum Zweifeln zu bieten. Wir haben es hier also durchaus mit einem instrumentellen, aber keinem hedonistisch-beliebigen Wahrheitsbegriff zu tun. Wahrheit ist für Peirce nicht „Sache subjektiver Beliebigkeit, sondern gemeinsamer Interpretation von Realität“ (MARTENS 2002: 19). Der Forschungsprozess selbst verläuft in Form eines Experimentes (Abbildung 2), dessen Grundstruktur das Belief-Doubt-Belief-Schema widerspiegelt. Am Anfang des Experimentes steht eine für wahr gehaltene Überzeugung, von der, aus welchen Gründen auch immer, ein Anlass vorliegt, sie zu bezweifeln. Das Wesen107 des Experimentes liegt jedoch in seinem Zweck und Plan (PEIRCE 2002b: 113; 5.424). Der Zweck jeden Experimentes besteht darin, die Zweifel in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand auszuräumen und so wieder handlungsfähig zu werden. Dazu wird ein Plan entwickelt, wie das Experiment konkret durchzuführen ist. Ist der Entschluss gefallen das Experiment durchzuführen, werden die Gegenstände identifiziert, auf die die Hypothese eine Wirkung haben soll. Auf diese Gegenstände wird mittels der gebildeten Hypothese im praktischen Hauptteil des Experimentes eingewirkt und mögliche Veränderungen beobachtet. Aus der Beobachtung wird ein Urteil abgeleitet über die Übereinstimmung der Hypothese mit der erwarteten Veränderung. Ist eine Übereinstimmung vorhanden, wird die Hypothese als wahr angenommen. 107 Die Begriffsverwendung eines „Wesens“ mutet aus pragmatischer Perspektive seltsam an, da mit dem Begriff üblicherweise eine ontologisch-essenzialistische Konnotation verbunden ist, die der Pragmatismus ablehnt. Daher ist davon auszugehen, dass Peirce den Begriff nicht in diesem Sinne verstanden wissen will, sondern durch dessen Verwendung nur versucht zu betonen, dass sich der Bedeutungskern jedes einzelnen Experimentes in dessen individuellem Zweck und Plan ausdrückt.

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Gerade da diese Konzeption eines Experimentes zunächst recht mechanistisch klingen mag, ist es wichtig zu betonen, dass für Peirce das intellektuelle Zentrum des Experiments weder in Sinnesdaten noch in einer „formallogischen Argumentationskorrektheit“ (NAGL 1998: 26f) zu suchen ist, sondern sich in der Hypothesenbildung des Experimentierenden verortet. Wichtig ist aus der Perspektive von Peirce, dass neue Fragen gestellt, neue Entwürfe und Konstruktionen getestet werden.

Abbildung 3: Konzeption des Experiments bei Peirce Quelle: Eigene Darstellung

Während es, bspw. später für Popper, völlig unerheblich ist, wie Hypothesen zu Stande kommen, stellt Peirce gerade den Prozess der Hypothesenbildung ins Zentrum seiner Betrachtungen. Den kreativen Entwurfs- und Konstruktionscharakter unseres Experimentierens beschreibt er dabei mit dem Begriff des abduktiven Schließens (PEIRCE 1994: 5.171). Darin entwickeln wir in einem spontanen und kreativen Akt vorsichtig neue Vermutungen, aus denen wir neue Hypothesen bilden, die wir dann später einer Überprüfung unterziehen. Der Unterschied zu deduktivem und induktivem Schließen stellt sich folgendermaßen dar: „Abduction is the process of forming an explanatory hypothesis. It is the only logical operation, which introduces any new idea (…). Deduction proves that something must be; Induction shows that something actually is operative; Abduction merely suggests that something may be [Hervorh. .i. O.]“ (ebd.).

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Deduktive Schlüsse schließen von der Regel auf das Resultat. Sie sind daher analytisch und sicher, erweitern unsere Erkenntnis jedoch nicht. Induktive Schlüsse schließen vom Resultat mithilfe der Erfahrung auf die Regel. Sie sind daher nur wahrscheinlich, da sie als Allsatz nicht verifiziert werden können. Die ihnen zugrunde liegende Hypothese ist aber oft so naheliegend, dass man das Gefühl hat, nicht wirklich etwas Neues gefunden zu haben. Abduktive Schlüsse schaffen demgegenüber eine neue Verknüpfung von Resultat und Regel und schließen mit deren Hilfe auf den Fall. Im Unterschied zur Deduktion ist der Schluss nur wahrscheinlich (wie bei der Induktion), erweitert aber die Erkenntnis, da er eine neue Idee im Denken hervorbringt. Obwohl bei abduktiven Schlüssen eine neue Verknüpfung von Tatsachen und Regeln vorgenommen wird und abduktive Schlüsse insofern nach einer neuen Ordnung suchen, ist es nicht beliebig, welche Regeln und Tatsachen miteinander verknüpft und welche neuen Ordnungen damit hergestellt werden, denn abduktives Schließen zielt auf die Findung einer Ordnung ab, „die zu den überraschenden ‹Tatsachen› passt, oder genauer: die [die] handlungspraktischen Probleme, die sich aus dem Überraschenden ergeben, löst“ (REICHERTZ 2000: 284). Die so produzierten neuen Ideen werden dann nach dem bekannten Verfahren des Experiments routiniert logisch-deduktiv durchargumentiert und mithilfe induktiver Belege empirisch untermauert. Die Wahrheit einer Behauptung wird dabei i. d. R. nicht auf ein einzelnes Experiment bezogen, sondern auf eine (potenziell unendliche) Anzahl (MARTENS 2002: 37). Wahrheit ist deshalb nur eine vorläufige, auf die Zukunft verweisende, wenn auch begründete Wahrheit. Sie bleibt stets falsifikationistisch offen. Blendet man den für Peirce zentralen Gedanken der Abduktion aus, verleitet gerade der instrumentelle Charakter seiner pragmatischen Wahrheitskonzeption dazu, Peirce in einem positivistisch-sensualistischen Sinne (miss-) zu verstehen und anzunehmen, er ginge von der ontologischen Existenz wahrnehmbarer Dinge aus und halte sie für den einzigen Ansatzpunkt der Erkenntnissuche. Bei genauerer Betrachtung lässt sich eine solche Einschätzung jedoch nicht aufrecht halten, da sich das experimentelle Verfahren nicht nur auf empirische Gegenstände bezieht, sondern auch den zunächst chaotischen und ungeordneten Prozess der abduktiven Hypothesenbildung umfasst und sich zudem auch auf rein logisch verfasste Bereiche jenseits aller Empirie, wie die Mathematik, bezieht und insofern weit über die sensorische Erfahrung hinausgeht (NAGL 1998: 27). Peirce‘ Kritik an der apriorisch-bewusstseinsphilosophischen Denkschule verleitet ihn nicht dazu, dem anderen Extrem zuzufallen und das „Gegebene“, das „Positive“ zu überschätzen. Das pragmatische, experimentierende Erkunden von Begriffsbedeutungen findet bei ihm also keineswegs in szientistischer Verkürzung statt. „Er interpretiert Experimente nicht – wie später die Logischen Empiristen des »Wiener Kreises« – im Rahmen einer rigid verengten »Wissenschaftslogik«„ (ebd.: 28). Jedes Experiment besitzt für Peirce zudem eine ethische Dimension, denn jede als wahr anerkannte Hypothese muss rational akzeptabel sein und ist insofern auf die potenzielle Prüfung durch eine urteilskompetente, soziale Gruppe bezogen. Rationalität und Logik haben also ihre Wurzeln für ihn im „sozialen Prinzip“ (ebd.).

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Mit dem Verständnis der Welt als einer zeichenvermittelten Wirklichkeit, in der wir uns handlungspraktisch experimentell orientieren, legt Peirce den Grundstein des Pragmatismus. Dessen weitere Vertreter werden zwar einzelne Elemente seiner Philosophie verabschieden,108 seine Ideen jedoch in großen Teilen weiter entwickeln. 3.1.2. Pragmatismus als Humanismus – Ferdinand Canning Scott Schiller Ferdinand Canning Scott Schiller (1864–1937) arbeitet vor allem die lebensweltliche Perspektive in Peirce‘ Philosophie heraus. Er betont, dass der Pragmatismus in erster Linie erfassen möchte, wie Menschen alltäglich Wahrheit konzeptionalisieren und prägt dazu den Begriff des Humanismus (SCHILLER 2002 : 190), in dem er die Art und Weise der alltäglichen Erkenntnisgewinnung am besten repräsentiert sieht109: „Sodann war mir daran gelegen, eine Bezeichnung für das Grundprinzip zu finden, um das es sich schließlich handelte, nämlich dass wir berechtigt sind, die Philosophie als eine Betätigung des ganzen Menschen aufzufassen sowie anzuspielen auf den lange verkannten Satz des Protagoras. Der Mensch ist nun einmal tatsächlich das Maß aller Dinge, die er erkennt; und dass ein jeder für seine Erkenntnisse Anspruch auf Wahrheit erhebt, ist gleichfalls Tatsache und führt nicht zum Skeptizismus, sondern zu der tatsächlich bestehenden Vielfältigkeit und unaufhörlichen Fortbildung der wissenschaftlichen Anschauungen“ (ebd.: 191f).

Das Ziel des humanistischen Pragmatismus besteht deshalb für SCHILLER (2002: 199) darin, „sich einen menschlich brauchbaren Wahrheitsbegriff zu schaffen.“ Sein Zeitgenosse, der Pragmatist JAMES (1994a: 154), fasst den Kerngedanken von Schillers Lehre denn eindrücklich in der Art zusammen, dass „auch unsere Wahrheiten menschliche Erzeugnisse sind. Menschliche Motive bestimmen unsere Frage, menschliche Befriedigung steckt in unseren Antworten, und alle unsere Formeln enthalten ein aus menschlichen Fäden gewobenes Band. Dieses menschliche Element ist in so unentwirrbarer Weise in den Produkten der Erkenntnis enthalten, dass Schiller zuweilen die Frage aufwirft, ob in diesen Produkten überhaupt etwas anderes als dieses menschliche Element zu finden sei [Hervorh. .i. O.]“

108 Im weiteren Verlauf der Entwicklung des Pragmatismus verabschieden sich andere Philosophen vor allem von Peirce problematischer Idee der absoluten Realität als regulativer Idee bzw. als einem idealen Fluchtpunkt. Besonders seine damit zusammenhängende Vorstellung, dass nur die Wissenschaft zu wahren Erkenntnissen in einem unendlichen Prozess fähig wäre, der auf eben diesen idealen Fluchtpunkt hinausläuft, wird in der Zukunft distanziert betrachtet (SCHILLER 2002: 61). Eine detaillierte Debatte der Entwicklung innerhalb der pragmatischen Philosophie kann hier jedoch aufgrund der gebotenen Kürze nicht wiedergegeben werden. Stattdessen stellen die folgenden Kapitel die Veränderungen und Ergänzungen der pragmatischen Philosophie in den Vordergrund. 109 Implizit ist damit auch eine Kritik an dem in Teilen szientistischen Konzept von Peirce verbunden.

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SCHILLER (2002: 192) baut auf Peirce‘ Pragmatischer Maxime, dem Belief-DoubtBelief-Schema und der Konzeption des experimentellen Erprobens auf. Wahrheit ist deshalb nicht unabhängig von ihrem Erkenntnisprozess denkbar (ebd.: 203). Aussagen an sich können also nicht wahr sein, genauso wie es keinen Irrtum ohne Hinsicht auf einen Zweck geben kann (ebd.: 200). Für Schiller gibt es – einschließlich der Logik110 – keine Apriori mehr, da alle unsere Denkkategorien und -schemata menschliche Entwürfe seien. Behauptungen werden demnach vom Menschen aufgestellt111, indem er sie aus einer Anzahl möglicher Behauptungen auswählt, er hervorhebt „was für seine Zwecke [am Besten, Anm. d. Verf.] passt, was seine Aufmerksamkeit erregt, was seine Interessen beschäftigt“ (ebd.: 195). Jede Behauptung hat sich also bereits in dem Moment, in dem sie erhoben wird, gegen eine Anzahl anderer möglicher Behauptungen durchgesetzt. Dies muss allerdings nicht so bleiben, da sie – wie Peirce ausgeführt hat – wieder Gegenstand des Zweifels werden kann: „Es besteht also eine fortwährende Möglichkeit, dass sich eine Behauptung nicht fernerhin behaupten kann, sondern ersetzt werden muss. Wodurch? Natürlich durch eine bessere, zweckmäßigere, ansprechendere. Sobald man eine wertvollere hat, wird die alte minderwertig; sie wird abgesetzt, für »falsch« erklärt und die neue »Wahrheit« erhebt sich auf (und aus) den Trümmern der alten »Irrtümer«. Das ist das Wesentliche an der »pragmatischen« Prüfung der Behauptungen durch den Wert der Folgen, die sie nach sich ziehen [Hervorh. .i. O.]“ (ebd.: 196).

Behauptet werden kann jedoch nicht alles Beliebige. Es kann nicht alles für wahr erklärt werden, man muss wählen, wobei die Auswahl durch die gegebenen Möglichkeiten eingeschränkt ist (ebd.: 196). Wie SCHILLER betont (ebd.: 197), treten durch eine unterschiedliche Wahl immer wieder konkurrierende Wahrheitsansprüche auf, denn wenn der Mensch als soziales Wesen „Wahrheiten behauptet, beanspruchen dieselben nicht nur Gültigkeit für ihn, sondern auch für andere. Jeder hat anfangs dasselbe Recht, Ansprüche auf Wahrheit zu erheben. Daher wird es oft vorkommen, dass, was dem einen wahr und wertvoll erscheint (…), von dem anderen als »falsch« und wertlos verworfen wird. Deshalb sind so viele »Wahrheiten« strittig, deshalb ist die Wahrheit gewissermaßen eine Vielheit [Hervorh. .i. O.].“

Wahrheit, so lässt sich folgern, ist also für Schiller im Gegensatz zu Peirce‘ grundsätzlich fallibel, kontingent, kontextabhängig und sozial beeinflusst (ebd.: 198). Das Verständnis von Wahrheit hat damit wieder zurückgefunden zu der Konzeption bei den griechischen Sophisten. Wie deren, so stieß auch Schillers

110 „Selbst das logische Ideal kann nur in darauf angelegten menschlichen Köpfen gebildet werden und nur als wirklich vom Menschen Erstrebtes wirksam werden. Die so genannte Unabhängigkeit der Logik wäre damit endgültig beseitigt“ (SCHILLER 2002: 195). 111 Schiller orientiert seine Version des Pragmatismus sehr stark am Individuum. Man könnte durchaus soweit gehen zu sagen, dass Schiller – genauso wie später James – für eine individualistische Version des Pragmatismus steht, die im Spannungsverhältnis zu dem sozial konzeptionalisierten Entwurf von Peirce stehen, der später von Dewey aufgegriffen wird (MARTENS 2002: 22).

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Lehre auf mannigfaltigen Widerspruch. Diese Ablehnung erklärt sich für SCHILLER (2002: 203) vorwiegend psychologisch, denn „das Neue und das Ungewohnte kann sich nur allmählich dem alten Gedankenschatz anreihen und anpassen und bedarf deshalb der Wiederholung und der Auffindung mannigfaltiger Anknüpfungspunkte.“

Diese Idee wird später ein zentrales Element bei James sowie Dewey und ist einer der Kerngedanken in KUHNS »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (1967). 3.1.3. Der handlungsorientierte Pragmatismus – William James und John Dewey William James (1842–1910) ist neben Peirce der zweite Pragmatist im Metaphysical Club. Bereits früh diskutieren beide dort über ihre Entwürfe einer pragmatischen Philosophie (NAGL 1998: 50). James war es, der den Namen Pragmatismus erfunden und ihn in seinem berühmten Vortrag »Philosophical Conceptions and Practical Results« im September 1898 an der University of California in Berkeley in die wissenschaftliche Debatte eingeführt hat (OEHLER 1994: XIX). Er ist sicherlich einer der „prominenten Wegbereiter des Pragmatismus“ (LANGBEHN 2006: 155) und kann als der Philosoph bezeichnet werden, der ihn populär gemacht hat (NAGL 1998: 50). Hierzu trugen vor allem seine publizierten Vorlesungen112 sowie seine Streitschrift zur Verteidigung des Rechtes zu Glauben113 erheblich bei (ebd.: 50). John Dewey (1859–1952) steht für eine instrumentalistische und handlungsorientierte Variante des Pragmatismus und kann als der in den USA einflussreichste Pragmatiker bezeichnet werden (NAGL 1998: 16). Dewey hat zudem ein äußerst umfangreiches Gesamtwerk hinterlassen.114 Seine Philosophie versteht

112 »Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking« (1907); dt. »Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden« (1994a). 113 »The Will to Belief« (1897); dt. »Der Wille zum Glauben« (2002b). 114 Deweys Hauptwerke liegen in deutscher Übersetzung vor. Ein Großteil seiner Arbeiten ist aber nur auf Englisch zugänglich und wurde in einer 37–bändigen Werksausgabe zusammengefasst (»The Collected Works of John Dewey, 1882–1953«). Die angegebenen Zitationen beziehen sich entweder auf die deutschen Übersetzungen und geben daher immer Einzeltitel an, oder referieren auf das englische Original der Collected Works (CW), die nochmals in die Perioden der Early Works (EW) 1882–1898, Middle Works (MW) 1899–1924 und Late Works (LW) 1925–1953 unterteilt sind. Für die Zitation der CW hat sich eine Standardzitation in der Arbeit mit Dewey herausgebildet, der auch hier gefolgt wird. Dabei wird zuerst die Periode angegeben, danach die Bandnummer und schließlich die Seitenzahl. Die Zitationsangabe EW.1.120 wäre demnach bspw. ein Verweis auf den ersten Band der Early Works, Seite 120. Seine wichtigsten Bücher aufzuzählen ist angesichts seines reichhaltigen Gesamtwerks nicht einfach. Sicherlich zählen dazu jedoch »Demokratie und Erziehung« (1949) (engl. Orig. »Democracy and Education« 1916), »Die Suche nach Gewissheit« (2001) (engl. Orig.: »The Quest for Certainty. A Study of the Relation of Knowledge and Action« 1929), »Erfahrung und Natur« (1995) (engl. Orig. »Experience and Nature« 1925, überarb. 1929), »Wie wir

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sich von Anfang an nicht nur als Erkenntnis- oder Wahrheitstheorie, sondern widmet sich ebenso demokratietheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Studien. Die Philosophie von James weist mit der Deweys besonders hinsichtlich ihrer Wahrheitstheorie mannigfaltige Überschneidungen auf. Es bietet sich daher an, die theoretisch-konzeptionelle Weiterentwicklung des Pragmatismus durch beide Philosophen gemeinsam zu behandeln, wobei hier der Fokus der Darstellung auf der Philosophie Deweys liegt. JAMES (2002a: 171) wie auch DEWEY (2002a) lehnen sich in ihrer Grundauffassung des menschlichen Erkennens an das Konzept von Peirce an. Sie übernehmen von ihm dessen Belief-Doubt-Belief-Schema (JAMES 1994: 29; DEWEY 2001: 223ff; DEWEY 2002a: 19) sowie die Grundzüge des Konzepts der experimentellen Bewährung (JAMES 2006: 132; DEWEY 2001: 237; DEWEY 2002a: 132ff). Wie JAMES (1994a: 123) herausstellt, geht seine Wahrheitstheorie im Wesentlichen auf die von Schiller und Dewey zurück. Wahrheits- und Erkenntnistheorie können daher als „das Wesen des Pragmatismus“ (ebd.: 34) bezeichnet werden, das James konsequenterweise erstens als eine „Methode“ und zweitens als eine „genetische Wahrheitstheorie“ definiert.115 Beide hängen im Pragmatismus eng zusammen, denn „indem er erklärt, wie man zur Wahrheit gelangt“, erklärt er nebenbei „was Wahrheit ist“ (JAMES 2006: 129). Analog zu Peirce‘ Pragmatischer Maxime besteht der methodologische Charakter des Pragmatismus für JAMES (1994b: 17) im Versuch, jedes Urteil dahingehend zu interpretieren, „dass man seine praktischen Konsequenzen[116] untersucht. Was für ein Unterschied würde sich praktisch für irgendjemand ergeben, wenn das Eine und nicht das Andere wahr wäre? Wenn kein, wie immer gearteter Unterschied sich nachweisen lässt, dann bedeuten die beiden entgegengesetzten Urteile praktisch dasselbe und jeder Streit ist müßig“.

Der Pragmatismus wird insofern als Methode aufgefasst, als dass er bei Fragen nach der Wahrheit einer Aussage immer mit der Frage nach deren praktischen Konsequenzen reagiert:

denken« (2002c) (engl. Orig. » How we think« 1910, überarb. 1933) und »Logik: die Theorie der Forschung« (2002a) (engl. Orig. »Logic: The Theory of Inquiry« 1938). 115 Seine Wahrheitstheorie erklärt JAMES vor allem in seiner Vorlesung Der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus (Orig. 1907, hier zitiert als 2002a). 116 Mit praktisch sind sowohl Konsequenzen geistiger wie physischer Natur gemeint (JAMES 2006: 86), die einen Bezug zur Lebenserfahrung der erkennenden Personen haben. „Praktische Konsequenzen“ verweisen darauf, wie sich die Behauptung einer Aussage in unsere Lebenspraxis, unsere Lebenserfahrung einfügt. Wahrheit muss sich im Licht unserer bisherigen Erfahrungen bewähren, wenn sie sich als „Mittel zur Befriedigung eines Lebensbedürfnisses“ erweist. „Diese Idee, Wahrheit sozusagen zu entmetaphysizieren und sie zu einer pragmatisch entscheidbaren Sache zu machen, die in intimer Beziehung zu unserer Lebenspraxis steht, hat James als Kerngedanken seines Pragmatismus erfolgreich zu popularisieren versucht“ (HORSTMANN 1994: 12).

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes „Wie wird die Wahrheit erlebt werden? Welche Erfahrungen werden anders sein, als sie wären, wenn jenes Urteil falsch wäre? Was ist, kurz gesagt, der Barwert der Wahrheit, wenn wir sie in Erfahrungsmünze umrechnen?“ (JAMES 2006: 163).

Die im Pragmatismus offenbar vorhandene enge Verbindung von Wahrheit, Praxis, Erfahrung und Erkenntnis (-prozess) näher zu betrachten und ihre Konsequenzen aufzuzeigen, wird nun Gegenstand der nächsten Abschnitte sein. 3.1.3.1. Handlung und Wandel als Elemente der Erkenntnis Handeln und Erkennen sind für Dewey so eng miteinander verknüpft, dass sich die Unterscheidung von Theorie und Praxis auflöst. Deweys Handlungsbegriff ist, wie bei Weber, untrennbar mit Sinn verknüpft, da „menschliches Verhalten (…) nur unter dem Gesichtspunkt von Zwecken interpretiert und verstanden werden [kann]“ (DEWEY 2001: 246).

Dennoch propagiert Dewey keineswegs ein utilitaristisches Handlungskonzept, das Sinn und Tun streng trennt.117 Praxis und Theorie bilden für Dewey vielmehr eine vermittelte Einheit, denn Theorien können in Deweys Sinn letztendlich als eine Art hypothetische Handlungspläne bezeichnet werden, die mögliche Konsequenzen potenzieller Handlungen118 widerspiegeln. Theoriebildung als Denkakt kann deshalb treffend als „verzögertes Handeln“ bzw. als „jetzt stattfindende Erkundungshandlung“ bezeichnet werden (ebd.: 223). Auch das Erkenntnisobjekt existiert nicht bereits vor der Erkenntnis, sondern nimmt erst im Akt der Erkenntnis Form an und wird erst durch ihn als Objekt definiert (ebd.: 229f); man könnte deshalb auch sagen es wird erst durch die Erkenntnishandlung produziert. Der Erkenntnisprozess beginnt damit, dass aus der Masse der Sinnesdaten gezielt spezielle Wahrnehmungen ausgewählt und diese mit vorhandenen Wahrheiten und Hypothesen verknüpft werden. Diese für die Erkenntnis notwendige Verknüpfung hebt jedoch logischerweise die „Trennung von Erkennen und Tun“, von Theorie und Praxis auf (ebd.: 215). Erkenntnis ist einer ständigen Veränderung unterworfen, da sie selbst „Veränderung in dem Gegenstand der Erfahrung hervor[bringt]“ (ebd.). DEWEY (2001: 236) schlussfolgert daraus, dass „die Bemühung, eine vollendete Erfahrung direkt aufrechtzuerhalten oder sie genau zu wiederholen, (…) die Quelle irrationaler Sentimentalität und Unaufrichtigkeit [ist]“. Situationen und ihre Interpretationen beinhalten insofern immer ein einzigartiges Element, dass eine spätere, akkurate Reproduktion derselben Erkenntnis ausschließt. SUHR119 (2005: 132) identifiziert in dieser 117 Auf diesen Unterschied zwischen Dewey und Weber werde ich später noch in Kapitel 4.2. zurückkommen und ihn dort zumindest etwas eingehender diskutieren. 118 Es sei daran erinnert, dass eine Handlung auch in einem Gedankenexperiment bestehen kann. 119 Suhr kann zusammen mit Nagl als einer der profiliertesten Kenner des Pragmatismus in der deutschsprachigen Philosophie bezeichnet werden. Suhr hat zudem mehrere Bücher Deweys aus dem Englischen übersetzt. Er gehört damit sicherlich allein schon auf Grund seiner detail-

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

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Verknüpfung von Handeln und Erkenntnis eine vollständige Umkehrung der antiken Perspektive auf den Erkenntnisprozess: „Während sich das Wissen, die Erkenntnis vorher auf etwas Vorherbestehendes richtete, ist sie nun etwas, das mit der Veränderung der objektiven Situation einhergeht; Erkenntnis ist auf die Zukunft gerichtet, sie bezieht sich auf die zukünftigen Konsequenzen des veränderten Objekts. Erkennen ist ein Akt, der das modifiziert, was vorher existierte. Die Wirklichkeit selbst ist kontingent und unvorhersehbar, und nur deshalb ist auch Freiheit des Handelns möglich.“ Erkenntnis und Erfahrung müssen deshalb als Modi des Handelns verstanden werden (DEWEY 2001: 228). Während jedoch in der antiken Konzeption von Erkenntnis das Unwandelbare gesucht wird, steht in der pragmatischen Konzeption das Gegenteil, nämlich die Veränderung des Erkenntnisgegenstandes, der Wandel, im Zentrum der Betrachtung (SUHR 2005: 139f). Wandel und damit auch Zeit sind dabei für Dewey Qualitäten des Handelns. Eine Welt ohne Wandel (und daher auch ohne Zeit) wäre nur als eine vollständig determinierte und daher auch nicht mehr handlungsoffene Welt denkbar. Solange die Welt eine gewisse Handlungsoffenheit bietet, ist sie auch eine sich dynamisch verändernde Welt, in der die Vergangenheit und die Zukunft im gegenwärtigen Handlungsvollzug aufeinandertreffen, wie Dewey in einem Brief an seinen Kollegen Scudder Klyce erklärt: „Time is a quality of action; in a determined or completed world there could be no change. If there is change, there is indeterminateness or incompletedness – there are completings. The past is a quality of the present; so is the future. The past is the completed or finished quality; the future the finishing quality. Hence of course it is absurd to suppose that the present lies between the past and future; such ways of statement signify a transfer, without warning, over to the language of time as a measure of change“ (DEWEY 2005: 1915.05.29) 120

Das pragmatische Handlungskonzept und die pragmatische Philosophie sind deshalb grundsätzlich Theorien des dynamischen Wandels und nicht der Erklärung vermeintlich statischer oder stabiler Zustände. Diese Veränderung der Perspektive zieht tief greifende Konsequenzen für die Natur des Produktes des Erkenntnisprozesses nach sich. Erkenntnis kann nicht mehr sinnvoll als Entdeckung des Gegebenen betrachtet werden, sondern gleicht vielmehr einer Kontextualisierung, Interpretation und Konstruktion. Diese Veränderung der Erkenntnisperspektive äußert sich unter anderem darin, dass das, was früher als (Erkenntnis-) Objekt bezeichnet wurde, nun als Daten betrachtet wird. Daten bieten Stoff für Interpretationen und regen zum Nachdenken an. Im Gegensatz dazu hat der Begriff des Objekts eine endgültige Konnotation und fordert lierten Werkkenntnisse zu den kompetentesten Dewey-Rezipienten im deutschsprachigen Raum. 120 Dewey pflegte eine sehr umfangreiche Korrespondenz mit Kollegen, Freunden und Bekannten, die heute für wissenschaftliche Untersuchungen seines Werkes hilfreiche Interpretationshinweise liefern. Für seine gesammelte Korrespondenz hat sich eine Standardzitationsweise herausgebildet. Die erste vierstellige Zahl der gesammelten Korrespondenz gibt das Jahr an, in dem der Brief geschrieben wurde. Die zweite Zahl nennt die jeweilige Bandnummer, in dem der Brief zu finden ist, die dritte Zahl gibt die Seitenzahl im jeweiligen Band an.

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

„das Nachdenken nur in Gestalt von Definitionen, Klassifikationen, logischer Anordnung, Subsumption in Syllogismen usf.“ heraus (SUHR 2005: 135). Auf dieser Grundlage entwickelte sich die klassische Logik, die letztlich eine klassifikatorische Logik war. Daten können im Vergleich dazu als „Material zur weiteren Nutzung“ verstanden werden. Sie sind erst einmal nicht mehr als Zeichen, die als Beweismaterial, Hinweise liefern können „auf und von etwas, das erst noch zu erreichen ist; sie sind intermediär, nicht endgültig, Mittel nicht Endziel“ (ebd.). Obwohl diese Diagnose in Bezug auf Erkenntnisobjekte enge Parallelen zu den Konsequenzen skeptischer Philosophie aufweist121, ist die Begründung doch eine gänzlich andere: Sie leitet sich nicht ab aus der Dekonstruktion vermeintlich sicherer Erkenntnisgrundlagen, sondern bildet die Konsequenz der Rekonstruktion des alltäglichen, menschlichen Erkenntnisprozesses. Aufbauend auf dem sich dementsprechend verändernden Objektbegriff erweitert Dewey in seinen späten Arbeiten sein Handlungskonzept dahingehend, dass er Handlung nicht mehr als eine Art Interaktion zwischen Menschen oder zwischen Menschen und Dingen in bestimmten Handlungssituationen versteht, wie die klassische Handlungstheorie nahelegen würde. Um sein Handlungskonzept zu beschreiben, schafft er stattdessen den Begriff der Transaktion, mit der die Beziehung zwischen Menschen und Dingen, die sich in der Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Umwelt bilden, zu fassen versucht: „Transaction is inquiry which ranges under primary observation across all subjectmatters that present themselves, and proceeds with freedom toward the re-determination and re-naming of the objects comprised in the system. (…) If inter-action is procedure such that its inter-acting constituents are set up in inquiry as separate ‘facts’, each in independence of the presence of the others, then- transaction is fact such that no one of its constituents can be adequately specified as fact apart from the specification of other constituents of the full subjectmatter [sic]. (…) If inter-action develops the particularizing phase of modern knowledge, then- transaction develops the widening phases of knowledge, the broadening of system within the limits of observation and report. (…) If inter-action views things as primarily static, and studies the phenomena under their attribution to such static ‘things’ taken as bases underlying them, then transaction regards extension in time to be as indispensable as is extension in space (if observation is to be properly made), so that ‘thing’ is in action, and ‘action’ is observable as thing, while all the distinctions between things and actions are taken as marking provisional stages of subjectmatter [sic] to be established through further inquiry“ (DEWEY & BENTLEY 1996: LW 16.113f).

In dieser Perspektive verschwimmen die Grenzen zwischen Dingen und Handlungen, weil sich die Bedeutungen der Dinge im Erkenntnisprozess, d. h. in der Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Umwelt, bestimmen und verändern.122 Dinge können dann genauso in Aktion sein, wie Handlungen einen dinglichen Charakter annehmen. Dinge ermöglichen insofern spezifische Aktionen und können zugleich ihr Ergebnis darstellen. Die Unterscheidung zwischen Handlung und

121 Vgl. Kapitel 2.2.5. 122 Das Konzept der Transaktion wird in Kapitel (4.3) im Rahmen der Ausführungen zu Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Verhältnissen noch eingehender diskutiert.

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

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Ding wird dann aber zu einer Frage der temporären Fixierung von Forschungsgegenständen.123 Forschung ist dann jedoch nichts anderes als ein fortwährender Transaktionsprozess in problematischen Situationen (CUTCHIN 2008: 1566). Worin besteht nun aber der Sinn unserer Forschungsprozesse und der in ihr angestrebten Erkenntnis, wenn nicht einmal unsere Definition unserer Erkenntnisgegenstände dauerhaft Bestand haben kann und unverrückbare, gesicherte Ergebnisse auf einer solchen Basis dann natürlich ebenfalls nicht möglich sind? Die Antwort Deweys auf diese Frage spielt auf das Belief-Doubt-Belief-Schema von Peirce an (DEWEY 2002a: 19). Erkenntnis dient demnach der „Auflösung des in sich Unbestimmten oder Zweifelhaften“ (DEWEY 2001: 227) und muss verstanden werden als „Frucht der Unternehmungen, eine problematische Situation in eine entproblematisierte zu transformieren“ (ebd.: 243). Probleme können sowohl intellektueller, (alltags-) praktischer wie auch emotionaler Art sein und werden vom Individuum grundsätzlich als unangenehm und emotional irritierend (DEWEY 2001: 225f) empfunden, da sie die Fähigkeit des Individuums, seine Situation zu kontrollieren und mit seiner Welt handlungspraktisch zurecht zu kommen, infrage stellen und daher zu Verunsicherung führen. Unbestimmtheit und Zweifelhaftigkeit sind laut DEWEY (2001: 231) integrale Bestandteile unseres Lebens, da Ungewissheit letztlich ein charakteristisches Merkmal jeder praktischen Tätigkeit sei: „Ungewissheit ist in erster Linie eine Angelegenheit der Praxis. Sie bedeutet die Ungewissheit darüber, wie unsere gegenwärtigen Erfahrungen ausgehen; denn diese Erfahrungen sind von zukünftigen Gefahren wie von inneren Einwänden bedroht“ (ebd.: 223).

Mit jeder Handlung ist folglich ein gewisses Maß an Ungewissheit und das Risiko des Scheiterns verbunden. Menschen sind jedoch lebenspraktisch auf den Erfolg ihrer Handlungen angewiesen und versuchen deshalb, Ungewissheiten durch Erkenntnisgewinn auszuräumen bzw. zu minimieren. Um sich die eigene Autonomie und Freiheit zu erhalten, müssen Probleme daher in dem Sinn entproblematisiert werden, dass sie einer Problemlösung zugeführt werden, die es dem Individuum erlaubt, wieder die Kontrolle über seine Handlungssituation und damit Handlungsmacht zurückzuerlangen (DEWEY 2001: 293f). Dieser Gewinn an Kontrolle durch Erkenntnis vermittelt uns Sicherheit und versetzt uns in die Lage, uns alltagspraktisch angemessen zu verhalten. Sie stellt uns also eine Handlungsgrundlage zur Verfügung. Erkenntnis, so könnte man formulieren, ist demnach die „(…) unsere Handlungsfähigkeit erweiternde Antwort auf Probleme, die sich in einer bestimmten Situation stellen“ (HÜGLI & LÜBCKE 2005: 146). Es ist diese Vorstellung des tiefer liegenden Sinns einer jeden Handlung, die den instrumentalistischen Kern von Deweys Philosophie ausmacht. Dementsprechend ist es „ohne jeden praktischen Nutzen zu behaupten, ein Ding sei das, als was es, unabhängig von jeder Erkenntnis, erfahren wird. Wenn jemand Typhusfieber hat, dann hat er es; er muss es nicht suchen oder danach Ausschau halten. Aber um es zu erkennen, muss er suchen: Für das Denken, den Intellekt, ist das Fieber das, als was es erkannt wird. Denn wenn es erkannt ist, 123 Die Idee der Transaktion weist insofern durchaus eine Nähe zum Gedankengebäude der Akteurs-Netzwerk-Theorie von Latour auf.

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes dann kommen seine verschiedenen Erscheinungsformen, die direkten Erfahrungen, in eine Ordnung; wir haben zumindest jene Art von Kontrolle, die Verstehen genannt wird, und damit geht die Möglichkeit einer aktiveren Kontrolle einher [Hervorh. i. O.]“ (DEWEY 2001: 293f)).

Menschen, so die Grundidee des Pragmatismus, bewegen sich also in ihrer Alltagswelt, indem sie Lösungen für sich ihnen stellende Probleme suchen, die ihnen eine (neue) Grundlage für ihre Handlungen verschaffen (DEWEY 2001: 224). In diesem Sinne fällt auch das vermeintlich passive Erfahren oder Erleiden einer Situation unter den Begriff der Handlung (NEUBERT 2004b: 115), da Menschen auch in ausweglosen Situationen höchster Not Problemlösungsmöglichkeiten zumindest in Form von Gedankenexperimenten suchen werden, sei es auch nur, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die einzige Handlungsoption darin besteht, die Situation ohne Widerstand zu durchleiden, um sie schnellstmöglich zu beenden. Der Wert der Erkenntnis misst sich also daran, welchen praktischen Nutzen sie für die Menschen hat. Sie muss in unser Leben passen.124 Deshalb haben die im Handlungsvollzug gewonnenen Erkenntnisse für DEWEY zurecht eine zentrale Stellung in unserem Leben – und nicht aus einer Gerechtwerdung des Einsichtsideals heraus. Erkenntnis an sich ist deshalb für ihn genauso wenig möglich, wie sinnvoll konzeptionalisierbar. 3.1.3.2. Erkenntnisgewinn und Forschungsprozess Erkenntnis entsteht also für DEWEY im Rahmen transaktionaler Forschungsprozesse,125 die als aktiv und operational gelenkt verstanden werden (DEWEY 2002a: 134). DEWEY (2002a: 132ff) beschreibt in seinem Buch »Logik: Die Theorie der Forschung« verschiedene Stadien des Forschungsprozesses, die analytisch126 in sechs Phasen gliederbar sind (vgl. Tabelle 2). Ausgangspunkt des Forschungsprozesses ist, wie bereits beschrieben, dass eine Situation als zweifelhaft wahrgenommen wird. Diese Zweifelhaftigkeit hat für DEWEY (2001: 225f) immer eine emotionale, eine willens- und eine intellektuelle Dimension. Die emotionale Dimension äußerst sich bspw. in Form von Stress, den die ungeklärte Situation verursacht und

124 Wie FEYERABEND (1977: 8) ausführt, hatte interessanterweise bereits Homer den Wahrheitsbegriff in ein solches Konzept des „Passens“ (fitting) eingeordnet. Diese Auffassung von Wahrheit unterlag jedoch später der Konkurrenz mit Platons Wahrheitsbegriff. 125 Dewey bezieht sich mit dem Begriff Forschungsprozess wie PEIRCE (2002a: 69; 5.374) nicht nur auf wissenschaftliches Forschen, sondern auf die gesamte Bandbreite menschlichen Erkenntnisgewinns inkl. der Klärung alltäglich unbestimmter Situationen. 126 Die hier von mir vorgenommene Unterscheidung der Phasen muss als rein analytische Trennung verstanden werden. DEWEY (1995: 25) betont nämlich ausdrücklich, dass sich die nachfolgend vorgestellten Vorgänge im Erfahrungsprozess in einem so hohen Maße durchdringen und beeinflussen, dass eher von einer verworrenen, ungeordneten Gleichzeitigkeit und Totalität als von einem chronologisch-kontrollierten Handlungsablauf ausgegangen werden muss.

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

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die den Wunsch nach Klärung der Situation auslöst. In der intellektuellen Dimension des Denkens wird dann „die Reaktion auf das Zweifelhafte als solches“ (ebd.: 224) entworfen. Intellekt und Gefühl können daher im pragmatischen Forschungsprozess nicht mehr strikt dualistisch getrennt werden, sondern müssen als eine vermittelte Einheit begriffen werden. Zweifelhaft kann eine Situation immer nur im Hinblick auf eine bestimmte Frage werden. Die Fraglichkeit der Situation ist insofern nicht nur immer eine spezifisch rationale, sondern immer auch eine emotionale und leitet daher auf bestimmte Verfahren der Forschung hin. DEWEY (2002a: 132) formuliert deshalb treffend: „Forschen und Fragen sind bis zu einem gewissen Punkt synonyme Termini. Wir forschen, wenn wir fragen; und wir forschen, wenn wir danach suchen, was Antwort auf eine gestellte Frage gibt.“ Tabelle 2: Phasen des Forschungsprozesses nach Dewey Phase Kennzeichen Implikationen 1.

Unbestimmte Situation wird fraglich, d. h., sie ist ungewiss, ungeklärt, verworren und Situation zweifelhaft. Sie ist jedoch immer spezifisch zweifelhaft auf eine bestimmte Frage hin. Die Zweifelhaftigkeit ist daher einzigartig und leitet bereits auf die Verwendung bestimmter Verfahren der Forschung hin.

2.

ProblemIdentifikation eines auf Forschung drängenden Problems. Bestimmung des identifikation Problems wirkt zugleich auf die Relevanzbewertung möglicher Daten für eine Problemlösung zurück.

3.

Abduktive Hypothesenbildung

Bestimmung von Problemlösungsmöglichkeiten. Freier Entwurf von innovativen Vorschlägen (bei Peirce abduktive Einfälle), die das Problem Konsequenzen zuführen könnten, die zu seiner Auflösung führen. Dabei sind Fakten nicht für sich aussagekräftig. Sie werden erst aufgrund der Hypothesenbildung interpretierbar.

4.

Kompatibilitätsprüfung der Hypothese

Anschlussfähigkeit der Hypothese an bestehendes, argumentativ plausibles und vorexistierendes Interpretationsschema wird geprüft und soweit möglich hergestellt – alternativ Verwerfung der Hypothese (oder des Interpretationsschemas).

5.

Experiment

Erprobung der Hypothese an ihren Folgen. Operationale Verknüpfung der Ideen mit den Tatsachen im Rahmen des Funktionskreises der Bewährung (Idee als Handlungsplan).

6.

Urteil

Entweder Bewährung (Stabilisierung des Systems durch Bestimmung der Situation) oder Scheitern der Hypothese (Kreislauf beginnt erneut mit der unbestimmten Situation).

Quelle: Eigene Darstellung

Um ein aufgetauchtes Problem zu lösen, muss es also zunächst genauer identifiziert werden. Je nachdem wie das Problem bestimmt wird, erhalten unterschiedliche zur Verfügung stehende Daten Aufmerksamkeit. Problemidentifikation und die Relevanzbewertung von Daten hängen daher eng zusammen. Problemstellung

108

3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

und Wahrnehmung sind deshalb untrennbar verbunden, eine problem- und damit beobachterunabhängige (neutrale) Wahrnehmung ist nicht möglich. Dies veranschaulicht, dass bereits die Bestimmung127 der Gegenstände unserer Wahrnehmung gleichbedeutend mit dem Ergebnis einer Auswahl ist (SUHR 2005: 47). Die Wahrnehmung unserer Welt kann daher nie neutral sein: „Auch in dem Gebiet der Empfindungen entfaltet unser Geist in gewissem Sinne eine willkürlich auswählende Tätigkeit. Durch das, was wir einschließen und weglassen, stecken wir die Ausdehnung des Gebietes ab. Durch stärkere oder schwächere Betonung scheiden wir Vordergrund und Hintergrund. Durch die von uns hineingetragene Ordnung lesen wir die sinnliche Welt in der einen oder in der anderen Richtung. Kurz, wir bekommen den Marmorblock, aber wir selbst hauen die Statue aus“ (JAMES 1994a: 157).

Auf die Problemidentifikation folgt die Bestimmung von Problemlösungsmöglichkeiten. Dazu werden in einem abduktiven128, d. h. kreativen und spontanen Prozess, Hypothesen gebildet, die geeignet sind, das Problem Konsequenzen zuzuführen, die zu seiner Auflösung führen. Für den Prozess der Problemlösung muss auf Fakten, auf Tatsachen zurückgegriffen werden. Die Funktion von Tatsachen „besteht darin, als Beweismaterial zu dienen, und ihre Qualität als Beweismittel wird auf der Basis ihrer Fähigkeiten beurteilt, ein geordnetes Ganzes in Reaktion auf Operationen zu bilden, die durch die von ihnen veranlassten und unterstützen Ideen vorgeschrieben werden“ (DEWEY 2002a: 141). Fakten sind deshalb abseits von Ideen trivial. Sie sprechen nicht für sich, sondern sagen nichts aus: „Keine Tatsache [hat] für sich allein Beweiskraft (…). Tatsachen sind insoweit beweiskräftig und zur Überprüfung einer Idee dienlich, als sie fähig sind, miteinander organisiert zu werden“ (ebd.: 141).129

Die Organisation130 der Tatsachen legt bestimmte Hypothesenbildungen nahe, die die Beobachtung neuer Tatsachen nach sich zieht, womit wieder eine neue Organisation der Tatsachen entsteht, die wiederum die Entstehung neuer Vermutungen anregt – solange bis die Situation hinreichend bestimmt ist (vgl. DEWEY 2002a: 142). Ausgewählte Daten und Tatsachen werden also erst aufgrund der Hypothesenbildung interpretierbar. Problemidentifikation, Hypothesenbildung und Dateninterpretation sind daher im Transaktionsprozess verbunden und bestimmen sich letztlich zu einem großen Teil durch die gesamte Handlungssituation.131 127 Im Sinne von Aufmerksamkeitszuteilwerdung. 128 Zum Prozess der Abduktion vgl. eingehender die Kapitel 3.1.1. und 4.2.2. 129 Der kontingente Charakter von Tatsachen wurde wie in Kapitel 2.2.4. dargelegt bereits von Hume demonstriert. Die Auffassung, dass Tatsachen erst durch die Art wie sie miteinander in Beziehung gestellt werden interpretierbar und bewertbar werden, stellt einen gemeinsamen Kern von HUMEs Philosophie und dem Pragmatismus dar. 130 Organisation bezeichnet hier die Inbeziehungsetzung von Tatsachen zueinander, die deren Struktur ausmacht. 131 Wie DEWEY in seinem Buch »Kunst als Erfahrung« (1988) verdeutlicht, haben die zu Erfahrungen verdichteten Erkenntnisprozesse deshalb immer einen ästhetischen Gehalt und sind nicht nur auf die „reine“ Wahrnehmung von Sinnesdaten reduzierbar (NAGL 1998: 139f). Zum Begriff der Erfahrung bei Dewey vgl. Kapitel 3.1.3.5.

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

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Im Rahmen einer Kompatibilitätsprüfung der Hypothese wird deren Anschlussfähigkeit an das vorexistierende und für wahr befundene Interpretationsschema der Wirklichkeit geprüft bzw. hergestellt. Ist eine Hypothese nicht anschließbar, wird meist die Hypothese, seltener das inkompatible Interpretationsschema, verworfen. JAMES (1994b: 30) führt dazu ergänzend aus, dass eine neue Idee, die zu viele Änderungen alter Wahrheitsansprüche erfordert, sich normalerweise nicht durchsetzt und selbst Paradigmenwechsel demzufolge den größten Teil an präexistenten Wahrheitsansprüchen unangetastet lassen. Er begründet diese Diagnose damit, dass Hypothesen und aus ihnen abgeleitete neue Erkenntnisse immer im Lichte alter Wahrheitsbestände entstehen. In sie muss sich eine neue Hypothese mit so minimalem Reibungsverlust wie möglich einpassen, sodass an den entstehenden Wahrheitsstrukturen so wenig wie möglich verändert werden muss (JAMES 1994a: 106), denn „Jede neue Wahrheit ist ein Vermitteln, ein Mildern von Übergängen. Sie vermählt die alten Meinungen mit der neuen Tatsache, mit einem Minimum von Erschütterungen und einem Maximum von Kontinuität“ (ebd.: 30).

Dass die der Hypothesenbildung zugrunde liegenden Interpretationsschemata relativ selten infrage gestellt werden, liegt daran, dass sie die Summe der sich vorher bereits in anderen Problemlösungen bewährten Wahrheiten darstellen, die sich das Individuum entweder in eigenen Erkenntnisprozessen erschlossen hat, oder die es im Rahmen seiner Sozialisation internalisiert hat. Diese vorexistierenden Wahrheiten besitzen daher eine hohe Autorität, weshalb sie zu verwerfen üblicherweise überhaupt nur dann in Erwägung gezogen wird, wenn Probleme so gravierend sind, dass eine paradigmenimmanente Problemlösung nicht mehr möglich erscheint. Anschließend werden die verbleibenden Hypothesen experimentell an ihren Folgen erprobt (DEWEY 2001: 288ff), indem ihre Konsequenzen auf ihre Problemlösungskapazität hin untersucht werden. In dem den Forschungsprozess abschließenden Urteil wird entweder das Scheitern der Hypothese (Zweifelhaftigkeit der Situation kann nicht ausgeräumt werden) oder ihre Bewährung (Ausräumung des Zweifels durch Bestimmung der Situation) festgestellt (DEWEY 2002a: 149ff). Trifft Ersteres zu, beginnt der Kreislauf der Forschung erneut. Im zweiten Fall endet der Forschungsprozess (vorläufig), denn „wenn die Forschung mit dem Zweifel beginnt, dann endet sie mit der Schaffung von Bedingungen, die die Notwendigkeit des Zweifels beseitigen“ (ebd.: 19f).

Konnte eine Hypothese bestätigt werden, gilt die damit gewonnene Vorstellung als „gerechtfertigte Behauptung“132 (ebd.: 22). Doch eine neue Situation ist nie endgültig geklärt, sondern im Sinne der Transaktion selbst wiederum (potenziell) 132 Im Englischen: „warranted assertion“. Dewey zieht den Begriff der gerechtfertigten Behauptung den Ausdrücken Überzeugung und Erkenntnis vor, da er im Gegensatz zu diesen nicht zweideutig missverständlich ist und auf den Prozess der (experimentellen) Rechtfertigung verweist.

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Anlass oder zumindest Ausgangspunkt für neue zukünftige Zweifel, womit sich der Erkenntnis- und Erfahrungsprozess ins Unendliche fortsetzt (Abbildung 4). Gegenwärtige Handlungsfolgen, Erkenntnisse und Erfahrungen werden so zu zukünftigen Handlungs- und Erkenntnisbedingungen (DEWEY 2001: 224). Das Wissen, das wir im Rahmen unserer Forschungsprozesse herstellen, entspringt deshalb auch nicht der Introspektion eines einzelnen Hirns oder der Einsicht in den göttlichen Plan, sondern ist das Ergebnis einer sozial geprägten Erfahrung und Reflexion (HEPPLE 2008: 1531). Zusammenfassend kann Forschung und Erkenntnis damit als situierter, transaktiver und infiniter, nicht-linearer Prozess verstanden werden, der sowohl eine historische, wie auch eine kulturelle, soziale, politische und materielle Dimension aufweist.

Abbildung 4: Modell des Forschungsprozesses nach Dewey Quelle: STEINER 2009b: 22

3.1.3.3. Der prozessuale Wahrheitsbegriff Wie ist vor einem solchen erkenntnistheoretischen Hintergrund dann jedoch Wahrheit noch sinnvoll zu konzeptionalisieren? Wahrheit ist für DEWEY133 (2002a: 19f) nichts anderes als eine „gerechtfertigte Behauptbarkeit“134, die im Rahmen eines „epistemischen Projektes“ (BARKE 2003: 1037), also eines Er133 Das hier vorgestellte Wahrheitskonzept geht auf Dewey zurück. James lehnt sich explizit an den Wahrheitsbegriff von Dewey an und hält ihn für „die einzig haltbare Erklärung dieses Gegenstandes“ (JAMES 1994a: 123). Sein Wahrheitskonzept unterscheidet sich daher kaum von dem Deweys. Seine Aussagen dienen daher lediglich dazu, das Konzept Deweys anschaulicher zu erläutern.. 134 Im Englischen: „warranted assertibility“.

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

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kenntnisprozesses, kontinuierlich und kontextuell gebunden konstruiert wird. Wahrheit muss sich also bewähren. Sie ist nur im Prozess ihrer Überprüfung feststellbar: „Wahrheit ist für eine Vorstellung ein Vorkommnis. Die Vorstellung wird wahr, wird durch Ereignisse wahr gemacht. Ihre Wahrheit ist tatsächlich ein Geschehen, ein Vorgang, und zwar der Vorgang ihrer Selbst-Bewahrheitung, ihre Veri-fikation [sic]“ (JAMES 2002a: 163).

In diesem Sinne gilt im Pragmatismus eine Idee dann als wahr, wenn sie effektiv etwas dazu beitragen kann, dass Menschen mit der Welt, in der sie leben, zurechtkommen, ihre Ziele erreichen, Hoffnungen erfüllen und Bedürfnisse befriedigen können (WOOD & SMITH 2008: 1527). Diese Art von Wahrheiten kann jedoch nie unabhängig von ihrer jeweiligen Entstehungssituation eine absolute Gültigkeit beanspruchen. DEWEY (2001: 228) findet deshalb recht drastische Worte, wenn es um die Eingrenzung sicherer Erkenntnis geht: „Die Erreichung des relativ Sicheren und Erledigten findet freilich nur im Hinblick auf genau umgrenzte problematische Situationen statt; die Suche nach einer universalen Gewissheit, die für alle gelten soll, ist eine kompensatorische Perversion.“135

Im Gegensatz zu der Idee einer universalen Gewissheit referiert der Geltungsanspruch des Dewey‘schen Wahrheitsbegriffs der „gerechtfertigten Behauptbarkeit“ auf die Temporalisierung von Wahrheitsansprüchen in einem Prozess der stetigen Wahrheitsfindung. Wahrheit ist also endlich konzipiert und kann sich wandeln. Pragmatisten haben insofern im Gegensatz zu Realisten und Idealisten einen dynamischen Wahrheitsbegriff. Zudem ist Wahrheit – so könnte man in aktueller (wirtschafts-) geographischer Terminologie formulieren – kontext- und pfadabhängig und in diesem Sinne auch kontingent, jedoch nicht willkürlich (vgl. DEWEY 2001: 23; JAMES 2002a: 163ff). Der prozessuale Wahrheitsbegriff verweist einerseits in die Vergangenheit, hin auf bereits durchgeführte Untersuchungen und Beweisführungen, die andererseits immer in der Zukunft, in noch ausstehenden Forschungsprozessen, überprüft werden müssen. Diese zukünftigen Überprüfungen können sowohl zur Rechtfertigung neuer Behauptungen, wie auch zur Revision akzeptierter Wahrheiten führen. Wahrheit ist daher immer zukunftsgerichtet (DEWEY 2005: 1915.05.29; MARTENS 2002: 44), denn vorexistierende Ideen erlauben i. d. R. keine unmittelbare Verifikation. Meinungen über die Vergangenheit können nur „indirekt in ihren gegenwärtig fortdauernden Wirkungen“ verifiziert werden (JAMES 2002a: 172). Erst wenn Meinungen über die Vergangenheit mit ihren Wirkungen in Übereinstimmung sind, werden sie als wahr erachtet. Wahrheit wird folglich erst im Zuge ihres Überprüfungsprozesses erzeugt (ebd.: 174). Sie ist Ausfluss des Handelns als eines experimentierenden Erprobens. Wahrheit ist deshalb immer vom Kontext der Fragestellung bzw. der Hypo-

135 Diese „Perversion“, wie DEWEY (2001: 227f) sich ausdrückt, hat erhebliche Folgen, wenn sie „die Form des Wunsches annimmt, nicht gestört und beunruhigt zu werden“. Sie führt dann unweigerlich zu „Dogmatismus, Autoritätsgläubigkeit, Intoleranz und Fanatismus auf der einen Seite und zu unverantwortlicher Abhängigkeit und Faulheit auf der anderen“ (ebd.).

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

these sowie ihres Überprüfungszusammenhangs abhängig und kann deshalb nie absolut und für sich allein existieren: „Rein objektive Wahrheit, die nicht frühere Teile der Erfahrung mit neuer Erfahrung vermählte, eine Wahrheit, bei deren Befestigung die subjektive Befriedigung über diese Vermittlung keine Rolle gespielt hätte, ist nirgends zu finden“ (JAMES 1994: 33).

Wahrheit ist deshalb als ein Zwischenstand unserer aktuellen Weltsicht in Bezug auf einen Untersuchungsgegenstand136 zu betrachten. Mit diesem experimentalistischen Wahrheitsverständnis ist gleichzeitig eine Verabschiedung aller transzendentalen Wahrheitsansprüche verbunden (NEUBERT 2004a: 17). Wahrheit(en) sind demnach keine ewigen Ergebnisse eines kontemplativ-suchenden Geistes. Ihre Relevanz erhalten Sie dadurch, dass Sie Ausdruck unserer Versuche sind, mit der Welt zurechtzukommen. Sie sind daher immer in einen Handlungszusammenhang und in eine Argumentationstradition eingebettet (NAGL 1998: 54). Mit dem prozessualen Wahrheitskonzept wird deutlich, dass Wahrheit mehr und anderes ist als eine Korrespondenz unserer Aussagen mit einer „absoluten“ Wirklichkeit (DEWEY 1996: LW 14.179) oder eine Kohärenz unserer Behauptungen. Gegen Ersteres spricht die kreative Bedeutung der Problemidentifikation und der abduktiven Hypothesenbildung, denn „nur wer außerhalb der Natur steht und die Erkenntnis von irgendeinem äußeren Ort aus betrachtet, kann bestreiten, dass Erkennen ein Akt ist, der das verändert, was vorher existiert hat, und dass sein Wert in den Konsequenzen der Veränderung besteht“ (DEWEY 2001: 245).

Gegen die zweite Annahme spricht, dass die Kompatibilitätsprüfung der Hypothese unzulässig überbewertet und das Experiment ignoriert werden würde (vgl. NAGL 1998: 122). Im Sinne des Belief-Doubt-Belief-Schemas ist Wahrheit daher als etwas Kontingentes anzusehen, das nur so lange Bestand hat, bis es durch eine passendere Meinung abgelöst wird: „Die Wahrheit lebt tatsächlich größtenteils vom Kredit. Unsere Gedanken und Überzeugungen »gelten«, solange ihnen nichts widerspricht“ (JAMES 2002a: 168).

Wahrheit entspricht daher eher einer Konstruktion als einer Entdeckung. In dem Konstruktionsbegriff kommt dabei sowohl ihr erschaffener wie auch ihr nichtwillkürlicher Charakter zum Ausdruck (OEHLER 1994: XVII). Wahrheit ist also, wie JAMES (2006: 128; 2002a: 177) es auf den Punkt bringt, „eine Eigenschaft unserer Ansichten“, eine „Disposition unseres Denkens“. Sie ist „eine Beziehung, und zwar keine solche zwischen unseren Vorstellungen und nichtmenschlichen Wirklichkeiten, sondern eine zwischen begrifflichen Aspekten unserer Erfahrung und deren Empfindungsaspekten“ (JAMES 2006: 102).

Das im Erkenntnisprozess eingebettete Denken und Reden dient insofern zwar der Reflexion der Praxis, stellt aber gleichzeitig ebenfalls eine Praxis dar. Rhetorik kann dann als Werkzeug des intersubjektiven Vermittelns und Logik als innere 136 Der Terminus „Gegenstand“ ist hier ausdrücklich im abstrakten, nicht im materiellen Sinne, zu verstehen.

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

113

Struktur des Denkens begriffen werden. Damit sind Rhetorik und Logik Mittel um Einfluss auf die Praxis zu nehmen. Praxis ist dann als ein fortlaufender Strom zu verstehen, der Theorien, Wahrheiten, Meinungen, Tatsachen, Handlungen und Resultate hervorbringt. Das Dewey‘sche Wahrheitskonzept ist damit „einseitigen Akzentuierungen des Wahrheitsproblems (…) deutlich überlegen“ (NAGL 1998: 122), weshalb es viele Neo-Pragmatisten in ihre Arbeiten integrieren und auf ihm ihre Kritik an der Abbildtheorie aufbauen. Wie der amerikanische Dewey-Spezialist HICKMAN (2004: 9) zusammenfasst, wird also „nach Dewey (…) Wahrheit weder entdeckt, wie die Absolutisten behaupten, noch erfunden, wie die Relativisten meinen. Wahrheit wird vielmehr konstruiert, und zwar als Nebenprodukt aus Verfahren zur Lösung von Problemen [Hervorh. i. O.].“137

Dewey und James nehmen hier also eine erkenntnistheoretisch agnostizistische Position138 ein (JAMES 1994a: 120; 2006: 97, 137), in der Wahrheit nicht als ontologischer Status, als Wesenseigenschaft des Seienden konzipierbar ist, sondern das Produkt eines Bewährungsprozesses darstellt.139 3.1.3.4. Empirische Forschung als denotative Methode Indem Menschen pragmatisch-empirisch Erkenntnisse gewinnen, wenden sie, wie es DEWEY in seinem Buch »Erfahrung und Natur« (1995: 23ff) bezeichnet, eine denotative140 Methode an. Unter denotativer Methode versteht Dewey, dass Dinge einen tieferen Sinn im Prozess der Forschung und Erfahrung erhalten, weil sie die Theorie, die in diesen Prozess einfließt, in sich mit aufnehmen (Abbildung 5). Die primären Objekten alltäglicher Erkenntnissuche werden so durch Erforschung, Erklärung und experimentelle Überprüfung mit Hilfe der Erfahrung um neue Bedeutungen erweitert. Sie nehmen also erfolgreich erprobte Theorien in 137 Entdeckt werden kann nur, was bereits vorher existent war. Das Konzept der Entdeckung von Wahrheit referiert daher immer auf einen absoluten Wahrheitsbegriff. Wahrheit wird im Sinne des Pragmatismus jedoch auch nicht erfunden, denn eine Erfindung beinhaltet immer ein willkürliches, zufälliges Element. Die Metapher der Konstruktion von Wahrheit reflektiert dagegen ihre prozessuale Entstehung, die bestimmten Regeln folgt. 138 Pragmatische Wissenskonzeptionen beinhalten daher die „Preisgabe“ der Kant'schen Vorstellung, es gebe so etwas wie das „Wesen der menschlichen Erkenntnis“, den „Umfang und die Grenzen der menschlichen Erkenntnis“ oder die „Erkenntnissituation des Menschen.“ Dies wird sinnlos, weil weder ein absolutes „Wissen über die Außenwelt“ noch über die „natürliche Ordnung“ möglich ist (vgl. RORTY 1994: 25). Der Agnostizismus des Pragmatismus lässt sich jedoch auch auf das andere Extrem erkenntnistheoretischer Position anwenden, auf die Behauptung, unsere gesamte Lebenswelt wäre eine Konstruktion. Auch diese Behauptung – wenn sie absolut gesetzt wird, wie bspw. im Radikalen Konstruktivismus – entlarvt sich als nichts anderes als ein Glaubenssatz, für den es keine Belege geben kann. 139 Hierin zeigt sich eine bemerkenswerte Parallele zu Hume. 140 Denotation bezeichnet die Anwendung eines Begriffs im Gegensatz zu seiner Bedeutung, seiner Konotation.

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

ihre Bedeutungsstruktur mit auf. Erkenntnis muss also in pragmatischer Hinsicht verstanden werden als ein Prozess, der die Gegenstände verändert, die erkannt werden. Genau diese Verwobenheit der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt ist es, die Dewey in seinem Spätwerk mit dem Begriff der Transaktion kennzeichnet. Da jeder Erkenntnisgegenstand die im Forschungsprozess verwendeten Theorien und abgeleitete Interpretationen in sich aufnimmt, vermittelt das Konzept der Denotation zwischen dem klassischen Dualismus von Geist und Welt, Subjekt und Objekt und löst diese Dualismen im Erkenntnisprozess auf (vgl. DEWEY 2001: 244).

Abbildung 5: Modell der denotativen Methode nach Dewey Quelle: STEINER 2009b: 27 nach SUHR 2005: 15; verändert

3.1.3.5. Erfahrung, Natur und Umwelt Im Sinne der Denotation sind Dinge dann natürlich nicht mehr wie im Realismus sinnvoll als unmittelbare Gegebenheiten, sondern vielmehr „als Zeichen, als Fragen, als durch Sinn erfüllte Endergebnisse der Anwendung methodischer Forschung aufzufassen“ (SUHR 2005: 166). JAMES (2002a: 179) zufolge existieren Tatsachen daher auch nicht unabhängig von uns, denn „in dem Reiche der Wahrheitsprozesse tauchen Tatsachen unabhängig voneinander auf und bestimmen vorläufig unsere Überzeugungen. Aber diese Überzeugungen bestimmen unser Handeln, und solange sie dies tun, bringen sie neue Tatsachen zum Vorschein, die wiederum unsere Überzeugungen entsprechend umgestalten. So spielt sich das Aufrollen der Wahrheit unter doppeltem Einflusse ab. Aus Tatsachen ergeben sich Wahrheiten, diese aber dringen wieder weiter in die Tatsachen ein und fügen neue hinzu. Diese neuen Tatsachen schaffen oder offenbaren neue Wahrheiten und so geht es immer weiter bis ins Unendliche.“

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

115

Menschen weisen den Dingen dieser Welt daher nicht nur einseitig Bedeutungen zu, wie Konstruktivisten meinen, sondern werden ebenso durch die Dinge in ihrer Weltwahrnehmung und in ihrem Handlungsmöglichkeiten beeinflusst.141 Laut Dewey bauen wir so aus unseren Erfahrungen unsere Wirklichkeiten auf. Was ist jedoch Erfahrung?142 Zunächst einmal ist es wichtig zu betonen, dass DEWEYS eigener Erfahrungsbegriff (2001: 84ff) sich von einem naturwissenschaftlich-empiristischen Erfahrungsbegriff klar abgrenzt. Dewey sieht Erfahrung vielmehr wie auch James143 als etwas „Doppelläufiges“ an, als einen Begriff, der eine subjektive und objektive Seite zugleich enthält:144 „Erfahrung ist »doppelläufig« in dem Sinne, dass sie in ihrer primären Ganzheit keine Trennung zwischen Akt und Material, zwischen Subjekt und Objekt kennt, sondern beide in einer unanalysierten Totalität enthält“ (DEWEY 1995: 25).

Genau wie die Begriffe der Geschichte und des Lebens schließe der Erfahrungsbegriff ein, „was Menschen tun und leiden, was sie ersehenen, lieben, glauben, und ertragen, und ebenso, wie Menschen handeln und wie sie behandelt werden, die Arten und Weisen, wie sie tun und leiden, wünschen und genießen, sehen glauben, phantasieren – kurzum, Prozesse des Erfahrens [Hervorh. i. O.]“ (ebd.).

Erfahrung ist dabei an ein Erleben gekoppelt. Erleben kann jedoch immer nur in einer organischen Einheit einer Mensch-Umwelt-Beziehung stattfinden: „Leben bezeichnet eine Funktion, eine umfassende Aktivität, in der Organismus und Umwelt eingeschlossen sind“ (DEWEY 1995: 25f).

141 In der Kombination der Konzepte der Transaktion und Denotation liegt denn auch einer der Parallelen und möglichen Anschlusspunkte des Pragmatismus an die Actor-Network-Theory mit ihrer Vorstellung einer „Agency“ der Dinge. 142 Wichtige Anregungen für die Weiterentwicklungen meiner Annäherung an das Erfahrungskonzept Deweys verdanke ich der Diskussion mit Klaus Geiselhart. Für eine ausführliche Diskussion des Dewey‘schen Erfahrungskonzepts vgl. seinen Artikel in den Berichten zur deutschen Landeskunde (GEISELHART 2012). 143 Für James bezeichnet Erfahrung sowohl ein subjektives Erlebnis wie auch gleichzeitig das Ergebnis von Erkenntnisprozessen (James 2002a: 179). 144 Diese Feststellung gilt interessanterweise auch für den Begriff der Überzeugungen (DEWEY 2002a: 20) und den Begriff der Erkenntnis, der sowohl den Abschluss des Forschungsprozesses wie den Prozess selbst bezeichnet: „Wenn man sagt, die Gewinnung von Erkenntnis oder Wahrheit sei das Ziel der Forschung, ist diese Aussage nach der hier eingenommen Position eine Tautologie. Das, was die Forschung auf befriedigende Weise abschließt, ist per definitionem Erkenntnis; es ist Erkenntnis, weil es der angemessene Abschluss der Forschung ist. Aber man kann vermuten, und es ist vermutet worden, diese Aussage drücke irgendetwas Bedeutsames und nicht eine Tautologie aus. Als Tautologie definiert sie Erkenntnis als das Ergebnis kompetenter und kontrollierter Forschung“ (DEWEY 2002a: 20f).

116

3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

Dies bedeutet, dass Erfahrung-Machen an ein In-der-Welt-Sein gekoppelt ist; es trägt immer eine materielle Dimension in sich, die auf Natur145 als Teil unserer Umwelt verweist: „Es ist nicht die Erfahrung, die erfahren wird, sondern die Natur – Steine, Pflanzen, Tiere, Krankheiten, Gesundheit, Temperatur, Elektrizität und so weiter. Dinge, die auf bestimmte Weise miteinander agieren, sind Erfahrung; sie sind das, was erfahren wird. Auf bestimmte andere Weise mit anderen natürlichen Objekten verknüpft – mit dem menschlichen Organismus –, sind sie ebenso die Art, wie Dinge erfahren werden. Erfahrung reicht so in die Natur hinunter; sie hat Tiefe. Ebenso hat sie Breite und das in einem unendlich elastischen Ausmaß. Sie dehnt sich aus. Diese Ausdehnung macht die Schlussfolgerung aus [Hervorh. i. O.]“ (DEWEY 1995: 18).

Erfahrung ist daher weder subjektiv noch objektiv, sondern gleicht eher „einer Methode oder einem Organisationssystem“ (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.52; Übersetzung CS) über das wir mit unserer Umwelt in Verbindung stehen. DEWEY & BENTLEY (1996: LW 16.109) beschreiben diesen Gedanken einer holistischen und organischen Einheit von Mensch und Umwelt später mit dem Begriff des „organism-in-environment-as-a-whole“, der die kontinuierliche und beständige transaktive Koppelung menschlicher Erfahrung an Natur und Umwelt zum Ausdruck bringen soll. Die in der organischen Transaktion der Dinge angelegte Einheit unserer Erfahrung ist es, die wir im Denken analytisch auftrennen, um das Äußere vom Inneren zu unterscheiden: „Leben bezeichnet eine Funktion, eine umfassende Aktivität, in der Organismus und Umwelt eingeschlossen sind. Nur in der reflexiven Analyse bricht sie in äußere Bedingungen – eingeatmete Luft, eingenommene Nahrung, begangener Boden – und interne Strukturen – atmende Lungen, verdauender Magen, laufende Beine – auseinander“ (DEWEY 1995: 25f).

Dabei bemerken wir meist gar nicht, dass wir „den erfahrenen Stoff und die Operation und die Zustände des Erfahrens“ künstlich „entzweigerissen“ haben (DEWEY 1995: 26). Eine naturalistische (im Gegensatz zu einer rein analytischen) Trennung der erfahrenen Dinge von dem Akt des Erfahrens ist dabei nicht sinnvoll möglich; würde sie doch letztlich nur wieder zu dem nicht erreichbaren Dingan-sich zurückverweisen. Damit will Dewey keineswegs analog zu Berkeley behaupten, dass die Welt der menschlichen Erfahrung bedarf, um Existenz beanspruchen zu können. Deweys Anthropozentrismus verhält sich vielmehr erkenntnistheoretisch agnostisch, bezüglich einer objektiven Existenz der Welt und der Dinge. Diese ist für ihn (wie für Hume) aber auch nicht entscheidend für den Vorgang der menschlichen Welterfahrung. Was Dewey aber deutlich macht, ist dass – unabhängig davon, wie die Welt beschaffen sein mag – die menschliche

145 Auch wenn es eventuell zunächst so klingen mag, so ist es doch wichtig festzuhalten, dass Dewey Natur keineswegs als Gegensatz zu Kultur und auch nicht als das Andere des Menschen sieht. Sie ist für ihn lediglich eine Chiffre für die Totalität der uns umgebenden Phänomene (DEWEY 1996: EW.1.289): „Nature has its existence as a whole in space and time. Indeed, it is only a way of expressing the totality of phenomena of space and time. It is a mere aggregate, a collection. Its very essence is plurality, difference. It is divisible without limit.“

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

117

Erfahrung an unsere Existenz in der Welt gekoppelt ist. Ein Erfahrung-Machen ohne ein In-der-Welt-Sein ist für Dewey nicht möglich. Die Beziehung von Mensch und Umwelt sowie von Geist und Materie ist daher für ihn immer eine relationale Beziehung, die im transaktiven Prozess des Erfahrung-Machens entsteht. Das Erfahrung-Machen ist dabei als ein Vorgang zu verstehen, in dem praktische, emotionale und intellektuelle Vorgänge zu einer Einheit verschmelzen: „Bei einer elementaren Erfahrung ist es nicht möglich, Praktisches, Emotionales und Intellektuelles voneinander zu trennen und die Eigenschaften des einen über und gegen die der anderen zu setzen. Die emotionale Phase fügt die Teile zu einem einmaligen Ganzen zusammen. Intellektuell weist einfach auf die Tatsache hin, dass der Erfahrung eine Bedeutung innewohnt; praktisch zeigt an, dass der Organismus in einer wechselseitigen Beziehung zu den Dingen und Vorgängen seiner Umwelt steht“ (DEWEY 1988: 69).

Erfahrung muss deshalb laut DEWEY als eine Einheit von verschiedenen, sich gegenseitig durchdringenden Vorgängen verstanden werden. Aus diesen Vorgängen bildet sich eine holistische Erfahrungseinheit, deren Ergebnis nicht in Handlungs- und Geistesebene aufspaltbar und von der ihre emotionale Dimension nicht abspaltbar ist.146 Dewey identifiziert also im Erfahrung-Machen ein Kontinuum zwischen Geist und Umwelt, das mit der klassischen dualistischen Unterscheidung inkommensurabel ist, denn „Erfahrung ist nicht nur Erfahrung von der Natur, sie auch ein Teil der Natur, sie ist ein bestimmtes Stück des Reagierens eines Organismus auf die ihn umgebende Umwelt“ (SUHR 2005: 115).

Der Erfahrungsprozess findet seinen Abschluss, wenn seine verschiedenen Teile miteinander verbunden werden. In dieser Verbindung identifiziert Dewey denn auch abschließend eine ästhetische Komponente der Erfahrung, die dadurch entsteht, wenn „ihre verschiedenen Teile eine geschlossene Einheit bilden“ (ebd.). Der Abschluss einer Erfahrung muss dabei nicht unbedingt in einer emotional befriedigenden Klärung einer problematischen Situation liegen. Auch die Erfahrung des Scheiterns kann einen Erfahrungsprozess zum Abschluss bringen, wenn die praktischen, emotionalen und intellektuellen Gründe und Folgen des Scheiterns in einen stimmigen Gesamtzusammenhang integriert werden konnten (GEISELHART 2012: 36f), und insofern eine Einheit bilden. Erfahrung, und damit Wissen, entsteht also in der holistisch angelegten, transaktiven Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Umwelt. Sie besitzt immer eine materielle, emotionale und intellektuelle Komponente und verändert durch ihre transaktive Auseinandersetzung mit der Welt performativ die Situationen und Dinge, die gleichzeitig Gegenstand des Erfahrungsprozesses sind. Menschen lernen, wenn sie in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt neue Erfahrungen ma-

146 An dieser Stelle ist sich eine pragmatische Perspektive einig mit der phänomenologischen Sicht von Hasse (1999a), der m. E. zu Recht bemängelt, dass Gefühle kein Gegenstand der Humangeographie seien.

118

3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

chen und ihnen diese Erfahrungen in irgendeiner Form nutzen, d. h. etwas dazu beitragen, um in dieser Welt zurechtzukommen. 3.1.3.6. Erfahrung, Kultur und Wirklichkeit Die Gegenstände der Erfahrung sind jedoch nie gänzlich vollendet und abgeschlossen, sondern zugleich auch Ursachen und Mittel späterer Erfahrungen und damit Teil der Ungewissheit, die für das menschliche Dasein charakteristisch ist (DEWEY 2001: 236). Für Dewey ist Erfahrung also durch Kontinuität und Transaktion geprägt. In ihr wird Sinn kontinuierlich durch Handlung produziert, und zwar gleichzeitig aktiv wie passiv: Handlung umfasst sowohl das aktive Tun wie auch das Erfahren oder Erleiden, wodurch Handlungen Bedeutung erhalten, wenn beides als Einheit wahrgenommen wird (NEUBERT 2004b: 115). Der Prozess des Erfahrung-Machens beinhaltet daher Elemente des Forschungsprozesses und der Denotation (Tabelle 3), denn „Erfahrung ist (…) ein Prozess der Veränderung“, wie JAMES (2006: 106) diagnostiziert. Tabelle 3: Analytische Phasenaufteilung des Erfahrungsprozesses nach Dewey Phasen

Subjekt

Umwelt

I. Phase

Gleichgewicht

Integration

Ungleichgewicht, Bedürfnis, Mangel

Wird zu Gegenstand

Gefühl

Nimmt neue Qualität an

Konflikt

Desintegration

Wahrnehmung

Objekte mit neuer Bedeutung

Reflexion

Objekte werden zu Daten

Neuanpassung durch Handlung

Objekte werden Mittel

Manipulation

Objekte werden verändert

Vollendung

Objekte mit neuem, erweiterbaren Sinn

Ästhetische Einstellung

Unmittelbarer Sinn

II. Phase

III. Phase

IV. Phase

Quelle: Eigene Darstellung; nach DEWEY (2001: 237)

Das Modell der denotativen Methode fügt sich in Deweys Modell des Forschungsprozesses ein und erklärt, warum Wahrnehmungsgegenstände keine primären, d. h. der Interpretation vorgängigen Objekte der Sinneswahrnehmung sein können.147 Dewey geht hierbei wie auch Peirce davon aus, dass das Individuum 147

Vertreter des Kontextualismus stützen die Auffassung Deweys, dass die Existenz generischer Erkenntnisquellen bezweifelt werden muss (vgl. bspw. WILLIAMS 2003: 984).

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

119

zwar frei in seinen Entscheidungen ist, aber schon seine primären Wahrnehmungsgegenstände die Bedeutungen mitbringen, die ihnen von vorhergehenden Generationen eingeschrieben wurden, denn die Bedeutungsschemata und die damit verbundenen Sichtweisen auf Welt lernt das Individuum bereits im Rahmen seiner Sozialisation kennen und übernimmt diese weitgehend (DEWEY 1995: 30f). Der Einzelne findet sich also mit seiner Erfahrung der Welt bereits von Anfang an in einer sozio-kulturell vorstrukturierten Welt wieder (DEWEY 2002a: 59ff). Damit löst sich gleichzeitig der Streit über die höhere Wichtigkeit von Subjekt oder Struktur auf, da beide nicht voneinander zu trennen sind. Im Kontext der Denotation ist individuelle Wahrnehmung und Erfahrung immer bereits kulturell durch Bedeutungszuschreibungen im Rahmen der Sozialisation vorstrukturiert: „Wir dringen vorwärts in das Feld frischer Erfahrungen mithilfe der Überzeugungen, die unsere Vorfahren und wir uns bereits gebildet haben. Von diesen Überzeugungen hängt es ab, was wir an dem Neuen bemerken. Was wir bemerken, bestimmt unser Handeln, und durch unser Handeln gelangen wir wieder zu neuen Erfahrungen, und so geht es weiter“ (JAMES 1994a: 162).

Die sozio-kulturelle Vererbung von Vorstellungen dient der besseren Vorhersehbarkeit des Erfahrungsverlaufs, der Sicherstellung einer gemeinsamen Kommunikationsbasis und der Strukturierung unseres Lebens durch Regeln (vgl. JAMES 2006: 91). Daher ist es nicht möglich, Erfahrung als unmittelbaren, nichtbedeutungsaufgeladenen Eindruck, als reine Sinneswahrnehmung zu erleben (vgl. NEUBERT 2004b: 115). Wahrnehmungsgegenstände sind damit nicht mehr sinnvoll als eigenständige Objekte zu konzeptionalisieren, sondern sollten als Zeichen bzw. Artefakte einer der Wahrnehmung bereits vorgängigen sozio-kulturellen Interpretation verstanden werden, die wiederum nur interpretativ erschließbar ist.148 Auch die Wahrnehmung von Natur ist demnach kulturell bedingt (DEWEY 2002a: 59).149 Der Pragmatismus löst damit auch den Dualismus von Kultur und Natur in der Erfahrung auf.150 Die vorexistierenden Interpretationsschemata der Erfahrung spiegeln sich in Verhaltensgewohnheiten, kulturell tradierten Verhaltensmustern, Praktiken und Institutionen. Diese beinhalten den gesellschaftlich vorhandenen und akzeptierten sowie im Alltag zumeist unhinterfragten Vorrat an Wahrheiten und Überzeugungen. Handlungen werden daher vorwiegend als vorreflexive Routinen, als Gewohnheiten, realisiert (JAMES 1931: 115f). Durch die Bildung von Verhaltensgewohnheiten [habit] und kulturell tradierten Verhaltensmustern eignet sich das Individuum Bedeutungen an,

148 Dieses mit der Denotation einhergehende Konzept von Handlungsfreiheit einerseits und Begrenztheit des Individuums in seinen Weltentwürfen andererseits entspricht weitgehend den Ideen von Schütz sowie Berger & Luckmann auf, die später noch eingegangen wird. 149 Ausnahmen hiervon bilden lediglich rein physische Reaktionen, wie das Verbrennen einer Hand an einer Hitzequelle. 150 Dies war unter anderem das zentrale Thema in DEWEYs (1995) Buch »Erfahrung und Natur«. Das Umweltkonzept des Pragmatismus wird in Kapitel 4.3. noch eingehend diskutiert.

120

3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes „die in den Verhaltensmustern und Bräuchen [customs] kultureller Praktiken, Routinen und Institutionen enthalten sind, die seiner Existenz als Individuum vorausgehen. Aneignung meint hierbei jedoch nicht passive Angleichung an das bereits Bestehende. (…) Denn um auf kreative und konstruktive Weise auf sich verändernde Bedingungen zu reagieren, muss man zumindest teilweise seine ‘Ausrüstung an Überzeugungen religiöser, politischer, künstlerischer und ökonomischer Art‘ einer kritischen Prüfung und Neubewertung unterziehen“ (NEUBERT 2004b: 117).

Nötig ist also jeweils eine Untersuchung, inwieweit sich bestehende Verhaltensmuster auf neue Situationen übertragen lassen und damit Gültigkeit beanspruchen können. Gewohnheiten werden daher erst durchbrochen, wenn eine Situation anormal und in diesem Sinne problematisch wird und den Handelnden dadurch zur Reflexion zwingt (BECKERT 2009: 8). Die in der Reflexion immer mit angelegte Selbstkritik als kreative Tätigkeit und Teil des Konstruktionsprozesses ist somit immer auch eine Kritik der bestehenden Kultur. Kultur ist hier also vor allem als ein sozial vorstrukturiertes Interpretationsschema zu verstehen, das den Menschen in Verbindung mit seinen technischen und sonstigen Fähigkeiten in die Lage versetzt, sich in seiner Umwelt erfolgreich zu bewegen. Kultur, so kann man in Anlehnung an DEWEY (1995: 451f) sagen, bezeichnet den Modus unserer aktiven wie passiven Welterfahrung, also eine sich im Erkenntnisprozess ständig wandelnde Art, wie Menschen sich ihre Welt praktisch tätig erschließen. Kultur muss deshalb in pragmatischer Perspektive als die spezifische Art und Weise verstanden werden, wie Menschen ihre Umwelt sinnhaft strukturieren, interpretieren, gestalten und auf sie reagieren.151 Vor einem solchen Hintergrund sind dann alle Praktiken, die dazu beitragen unsere alltäglichen Handlungsbezüge zu strukturieren, kulturelle Praktiken. Ein solches Kulturkonzept kann jedoch, wie das Modell des Erkenntnisprozesses bei Dewey demonstriert, weder statisch noch überindividuell homogen sein, da offensichtlich unterschiedliche Menschen einer Gesellschaft gleichzeitig in verschiedenen sozialen Gruppen Teil verschiedener Interpretationsgemeinschaften sind. Daraus wird deutlich, dass ein objektivistisches, vergegenständlichtes Kulturverständnis nicht sinnvoll ist, sondern Kultur einer kontinuierlichen Veränderung und faktisch unendlichen Ausdifferenzierung unterworfen ist. Vor einem solchen Hintergrund stellt ein Kulturbegriff, der Kultur ein eigenständiges Wesen zuerkennt, sie also reifiziert152 und von anderen Lebensbereichen dualistisch abgrenzt, jedoch eine Simplifizierung der Komplexität unserer Welt dar, die ihr kaum gerecht wird und uns zu unfruchtbaren Fragen anleitet. Für Pragmatisten spielt Kultur als sozial vorstrukturiertes Interpretationsschema der Welt stattdessen vor allem im Rahmen unserer Erfahrungsprozesse eine wichtige Rolle. Erfahrungen sind demnach immer sozio-kulturell geprägt, 151 Das damit in Anschlag gebrachte Kulturverständnis des Pragmatismus weist Ähnlichkeiten zu der klassischen Begriffsdefinition von TYLOR (1873: 1) auf, der unter Kultur den „Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, versteht welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat“. 152 Reifizieren: Etwas verdinglichen, so behandeln, als ob es eine reale Existenz besäße.

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

121

bilden die Bausteine unserer Wirklichkeiten und definieren so unsere Vorstellungen unserer Umwelt. Eine nicht kulturell geprägte Wirklichkeit ist deshalb für Menschen nicht sinnvoll konzeptionalisierbar, denn „sie reduziert sich auf den Begriff dessen, was eben in die Erfahrung eintritt und noch nicht benannt ist, oder auf irgendeine Art ursprünglicheren Vorhandenseins in der Erfahrung, bevor sich eine Überzeugung von diesem Vorhandensein gebildet hat und bevor irgendein menschlicher Begriff darauf angewendet wurde. Es ist das, was absolut stumm ist“ (JAMES 1994a: 158).

Wirklichkeiten müssen deshalb als eine Art „sedimentierte“ Wahrheiten und Erfahrungen (JAMES 2006: 94) verstanden werden, als Erfahrungen, die nicht die jetzigen sind. Diese vergangenen Erfahrungen bilden wiederum den Kontext für unsere gegenwärtigen Handlungen und aktuellen Erfahrungsprozesse: „Things remote in space and time affect the issue of our actions quite as much as things which we can smell and handle. They really concern us, and, consequently, any account of them which assists us in dealing with things at hand falls within personal experience“ (DEWEY 1996: MW.9.194).

Letztlich ist es daher der Mensch, der die Vorstellungen über die Welt selbst hervorbringt: „Wir sind schöpferisch in unserem Erkennen ebenso wie in unserem Handeln. Wir erweitern sowohl die Subjekte als auch die Prädikate der Wirklichkeit. Die Welt ist in der Tat bildsam und erwartet ihre endgültige Formung von unseren Händen. Wie das Himmelreich duldet sie bereitwilligst menschliche Gewalttätigkeit. Der Mensch erzeugt Wahrheiten, die von der Welt gelten“ (JAMES 1994a: 164).

3.1.3.7. Glauben als Basis der Erkenntnis Wie gezeigt wurde, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Pragmatismus von James, Schiller und Dewey und dem Ansatz von Peirce darin, das Postulat der Existenz des Absoluten in Abrede zu stellen. Gleichwohl die Pragmatisten nach Peirce sich in dieser Frage einig sind, führt hier JAMES (2002a: 86) eine wichtige Unterscheidung ein, wenn er „zwar nicht die Existenz, aber doch die Realität des Absoluten“ anzuerkennen bereit ist. Dies sei, so JAMES (2002b) in seinem Text »Der Wille zum Glauben«, deshalb notwendig, weil ein Pragmatiker gezwungen sei, die Existenz des Glaubens an die absolute Realität anzuerkennen, die eine wesentliche Handlungsgrundlage für Menschen bilde. Ein solcher Glaube sei deshalb zutiefst menschlich und insofern sogar gerechtfertigt, wenn auch nicht begründet: „Unser Glaube an die Wahrheit selbst, z. B. dass es eine Wahrheit gibt und dass sie und unser Geist füreinander gemacht sind – was ist das anderes als die leidenschaftliche Bejahung eines Verlangens, in welchem uns die Gesellschaft unterstützt? Wir brauchen eine Wahrheit; wir brauchen den Glauben, dass unsere Versuche und Studien und Erörterungen unser Verhältnis zur Wahrheit immer mehr und mehr verbessern; und wir entschließen uns demgemäß unser Denkerleben durchzukämpfen. Fragt uns aber ein pyrrhonischer Skeptiker, wie wir dies alles wissen, kann dann unsere Logik eine Antwort finden? Nein! Sicher nicht. Es steht da eben der

122

3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes eine Willensakt dem anderen gegenüber, indem wir gewillt sind, durchs Leben zu gehen auf Grund einer Überzeugung oder einer Annahme, die jener seinerseits zu machen nicht beliebt [Hervorh. i. O.]“ (ebd.: 137). 153

James hebt hervor, dass die von Dewey benannte emotionale Seite des Zweifels Menschen zwingt, Entscheidungen gerade auch in Fragen zu treffen, die vernunftmäßig nicht entschieden werden können (ebd.: 138). Dieser Befund ist die Basis seines Plädoyers dafür glauben zu dürfen, wo die Grenze der Vernunft liegt (ebd.: 156), solange dieser Glauben keine dogmatischen Züge annimmt: „Wir [haben] das Recht (…), auf unser eigenes Risiko hin an jede Hypothese zu glauben, welche lebendig genug ist, unseren Willen zu erregen“.

3.1.4 Zwischenfazit: Zum Erkenntnis- und Wissenskonzept des klassischen Pragmatismus Zusammenfassend kann der Pragmatismus als neues und anderes Erkenntniskonzept verstanden werden (LANGBEHN 2006: 185), dass sich rigoros von „klassischen“154 erkenntnistheoretischen Positionen abgrenzt (Tabelle 4) und sich gegen rigide Absolutheitsansprüche sowie den objektivitätsbesessenen, pluralismusfeindlichen und zur Einheitswissenschaft drängenden Szientismus wendet (NAGL 1998: 56).155 Der Pragmatismus greift die Problemformulierungen des Skeptizismus auf und fragt nicht mehr nach dem Wesen der Dinge, der absoluten Wahrheit oder absoluten Erkenntnis und wie wir zu ihnen gelangen können, sondern nimmt erkenntnistheoretisch eine agnostizistische Position ein.156 Im Sinne Rortys könnte man den Pragmatisten daher als illusionslos bezeichnen, da seine Vertreter nicht davon ausgehen, dass irgendein Ereignis das Ergebnis eines höheren (Welt-) Planes ist oder ein Weltzweck existiert (NAGL 1998: 167). 153 Diese Haltung deckt sich mit der von Hume, der ebenfalls feststellt, dass Glauben unvermeidbar und jeder Versuch ihn abschaffen zu wollen deswegen absurd sei. Für ihn wie auch für JAMES besteht jedoch der entscheidende Punkt darin, dass wir nicht glauben dürften, dass sich die Fundamente unserer Meinungen und unseres Glaubens durch Vernunft fundieren ließen (CRAIG 1993: 116). 154 Die hier aufgeführten Charakteristika werden in Grundzügen sowohl von idealistischen wie auch allen Spielarten realistischer bis hin zu positivistischen Positionen geteilt. Es erscheint daher durchaus praktikabel, sie unter dem Begriff der „Klassischen Philosophie“ zu subsumieren. 155 Nicht überraschend bildet der Pragmatismus deshalb auch einen wesentlichen, erkenntnistheoretischen Referenzpunkt der seit einiger Zeit intensiv diskutierten Science and Technology Studies (STS). 156 Einer solchen Perspektivenverschiebung wurde von POHL (1993: 260) in der Geographie in Bezug auf semiotische Ansätze ein „Ausweichen“ vorgeworfen, das versuchen würde, „das ontologische Problem“ zu „verdampfen“. Ein solcher Vorwurf geht m. E. jedoch ins Leere, fordert er doch das ein, was er voraussetzt: Antworten auf die Frage nach dem Wesen der Dinge zu bieten und damit implizit dieses Wesen als gegeben anzunehmen.

123

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus Tabelle 4: Erkenntniskonzepte von klassischer Philosophie und Pragmatismus Klassische Philosophie154

Pragmatismus

Zentrale ontologische Fragestellung

Frage nach der absoluten Wahrheit/dem Wesen der Dinge und ihren Zusammenhängen

Frage nach Bedeutungen, ihren Konstitutionskontexten und Konstitutionsprozessen

Erkenntnistheoretische Methode der Welterschließung

Rationalistisch bzw. empiristisch

Agnostisch

Realitätsmodell

Dualistisch: Trennung von Theorie und Praxis sowie Geist und Lebenswelt

Holistisch: Einheit von Handlung und Erkenntnis sowie Denk- und Handlungswelt

Wirklichkeitsmodell

Wirklichkeit ist objektiv vorhanden; fundamentalistisch

Wirklichkeiten sind im Entstehen und veränderbar; antifundamentalistisch

Erkenntnisperspektive

Beobachter (Außenperspektive)

Teilnehmer (Innenperspektive)

Wahrnehmungskonzept

Wahrnehmung als (selektive) Abbildung

Wahrnehmung als selektive Aufmerksamkeit & Bedeutungszuschreibung

Erkenntniskonzept

Erkenntnis als Entdecken von Gegebenem (Einsichtsideal)

Erkenntnis als konstruktiver Prozess

Wahrheitstheorie

Korrespondenz-/Abbildtheorie

Wahrheit als gerechtfertigte Behauptbarkeit

Wahrheitsbegriff

Absolut (apriorisch), monistisch (dogmatisch)

Fallibel, kontextualistisch, pluralistisch, antifundamentalistisch (agnostisch)

Zeitliche Dimension der Wahrheitsprüfung

In Bezug auf Bestehendes/ Vergangenes

Zukunftsgerichtet

Wissenschaftsverständnis Wissenschaft als Entdecken Perspektive auf Forschungsgegenstand

Wissenschaft als Problemlösen

Forschungsgegenstand existiert Forschungsgegenstand wird im vor und unabhängig von ihrer wis- Forschungsprozess durch den Forsenschaftlichen Erforschung schenden konstituiert

Quelle: Eigene Darstellung

Folglich spielen für den Pragmatismus ontologische Fragen keine Rolle. Ontologische Fragen sind aber nicht nur unbeantwortbar, sondern bergen aus Sicht des Pragmatismus auch eine veritable Gefahr in sich, da sie letztendlich nur durch dogmatische Setzungen beantwortet werden können, mit denen anderen Perspektiven immer Gewalt angetan wird (RORTY 1992). Dogmen grenzen zudem unsere Möglichkeit, uns neue und nützliche Perspektiven auf die Welt zu erschließen, erheblich ein und begrenzen daher die menschliche Erkenntnisfähigkeit. Der Pragmatismus birgt insofern eine antifundamentalistische Grundhaltung, die seine Vertreter von Dewey bis Rorty eint (JEANNOT 1987). JAMES (1994a: 32) hat die

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

darin enthaltene kopernikanische Wende im Erkenntniskonzept des Pragmatismus plastisch beschrieben: „Er wendet sich weg von Abstraktionen und Unzulänglichkeiten, weg von Problemlösungen, die nur Worte sind, weg von schlechten Apriori-Begründungen, von festgelegten Prinzipien, von geschlossenen Systemen, weg von dem Absoluten und den Ursprüngen. Er wendet sich vielmehr zu der Wirklichkeit und Angemessenheit, zu den Tatsachen, zum Handeln und zur Macht. (…) Es bedeutet die freie Luft und die mannigfachen Gestaltungen der Natur, entgegengehalten dem Dogma, der Künstelei, dem Anspruch auf endgültige Wahrheit“.

Dewey plädiert deshalb dafür, ähnlich wie Feyerabend, ontologische Fragen zu überwinden und sich anderen Fragen zuzuwenden (RORTY 1994: 35). Anstatt Erkenntnis vom Erkenntnisgegenstand aus zu denken, denkt der Pragmatismus daher Erkenntnis vom Erkennenden aus und fragt danach was Menschen unter Tatsachen, Erfahrungen, Wissen, Wahrheit und Wirklichkeit verstehen, wie sie zu ihnen gelangen und mit ihnen umgehen. Der Pragmatismus ist daher einerseits radikal anthropozentrisch und erteilt damit jeder Art von Naturwissenschaft eine Absage, die davon ausgeht, die Dinge der Welt an sich erfassen zu können. Gleichzeitig betrachtet er den Menschen aber im Sinne seines Konzeptes der Transaktion als ein in der Welt seiendes Lebewesen, das sich die Welt in verkörperlichten Erfahrungsprozessen aneignet. Der Pragmatismus vermeidet so die Gefahr eines anthropozentrischen Solipsismus und damit der Isolation des Menschen von seiner Umwelt, wie sie in intellektualistisch übersteigerten konstruktivistischen Positionen gelegentlich zu finden ist, und nimmt dabei die Menschen mit ihren Wirklichkeiten157 und Wahrheitsansprüchen ernst, ohne die Absolutheit ihrer Wahrheitsansprüche zu akzeptieren. Der Streit zwischen Pragmatisten einerseits und Realisten oder Idealisten andererseits beginnt daher nicht bei der Definition von Wahrheit, die alle drei als „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ definieren. Der Streit beginnt bei der Frage, was Übereinstimmung und Wirklichkeit bedeuten. Wie im Kapitel 2.3. bereits ausgeführt, haben sämtliche Abbild- und Korrespondenztheorien enorme Probleme, ihr Konzept von Wahrheit und Wirklichkeit sinnvoll zu erklären. „Die traditionelle Philosophie seit Descartes hatte das Ich oder das Selbst außerhalb der natürlichen Welt angesiedelt und stand nun vor dem Problem, die Verbindung wieder herzustellen. (…) Das Problem der Erkenntnis überhaupt besteht deshalb, weil angenommen wird, es gebe einen Erkennenden überhaupt, der außerhalb der zu erkennenden Welt steht und der in Begriffen definiert wird, die den Eigenschaften der Welt antithetisch gegenüber stehen“ (SUHR 2005: 62).

Die klassische Philosophie hatte die Lebens- und Handlungswelt von der Denkund Erkenntniswelt getrennt (DEWEY 2001: 291) und damit den problematischen Dualismus von Subjekt und Objekt, von Geist und Materie, von Theorie und Praxis, von Kultur und Natur und von Mensch und Umwelt heraufbeschworen

157 Die sich, so sei erinnert, bei Dewey explizit auch auf Fiktionen und Gedankenexperimente erstrecken können.

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

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(ebd.: 28).158 Realisten wie auch Idealisten können deshalb Wahrheit als eine statische, unveränderliche Eigenschaft von Dingen konzeptualisieren (vgl. JAMES 2002a: 163), die mit menschlichem Leben und Erfahrungen grundsätzlich nichts zu tun hat und die dem Inhalt der Erfahrung nichts hinzufügt (ebd.: 180). Wahrheit kann demnach erkannt und besessen werden und verfügt über eine kontextunabhängige, unendliche und von menschlichen Lebensinteressen und Lebensverhältnissen unbeeinflusste Gültigkeit (vgl. HORSTMANN 1994: 12). Die klassischen erkenntnistheoretischen Positionen „vertreten die Ansicht, dass die Forschungstätigkeit jedes Element praktischer Tätigkeit ausschließe, das in die Konstruktion des erkannten Gegenstandes eingeht. Seltsam genug trifft dies sowohl auf den Idealismus wie auf den Realismus, auf Theorien synthetischer Tätigkeit wie passiver Rezeptivität zu. Denn nach ihnen konstruiert der Geist den erkannten Gegenstand nicht auf irgendeine beobachtbare Weise oder mithilfe praktischer offener Handlungen, die eine zeitliche Qualität haben, sondern durch irgendeine okkulte innere Operation. Das gemeinsame Wesen all dieser Theorien besteht kurzum darin, dass das, was erkannt wird, dem mentalen Akt der Beobachtung und Untersuchung vorausgeht und von diesen Akten gänzlich unbeeinflusst ist; andernfalls wäre es nicht unbewegt und unwandelbar“ (DEWEY 2001: 27).

Im Gegensatz dazu vertritt der Pragmatismus die Idee, dass es keine unveränderlichen Gegenstände gibt, die der Geist als unabhängiger Beobachter kontemplativ erkennen kann. Wenn man, so das pragmatische Argument, ontologische Eigenschaften postuliert, die für Menschen nicht überprüfbar sind, so ist diese Behauptung sinnlos, weil aus ihr keinerlei Konsequenzen für unser lebenspraktisches Handeln folgen. Aus pragmatischer Perspektive ist also die Behauptung der Existenz einer absoluten, erkenntnisunabhängigen Wirklichkeit schlicht sinnlos (CRAIG 1993: 104). Stattdessen sind für den Pragmatismus – wie oben ausgeführt – sowohl Wirklichkeit wie auch Wahrheit veränderlich. Dewey wie James lehnen deshalb jede Art von Abbildtheorie der Erkenntnis ab. Ihr Pragmatismus besagt, sehr einfach formuliert, dass Menschen Erkenntnisse im Laufe eines lebenspraktischen Forschungsprozesses gewinnen, den Erkenntnisgegenstand im Forschungsprozess verändern und formen und die gewonnenen Erkenntnisse für wahr halten, wenn sie sich in ihrem Herstellungsprozess bewähren. Erkenntnis, Wissen und Wahrheit sind also etwas, was durch und in der Praxis entsteht und kontinuierlich in alltäglichen Forschungsprozessen reproduziert wird und können deshalb keine ewig stabile Struktur besitzen, sondern sind kontextgebunden. Wissen kann demnach nicht mehr als Gegenstand betrachtet werden, der einmal erworben und unabhängig von seinem Produktionsprozess von jemandem besessen, aufbewahrt und transferiert werden kann, wie dies positivistische, kritischrealistische und idealistische Wissenskonzeptionen nahelegen würden (ROWLAND 2004: 34). Ein solches statisches und objektivistisches Verständnis von Wissen 158 DEWEYs Kritik (2001: 62ff) richtet sich hier neben Descartes und Hegel explizit und recht ausführlich an Kant, dem er vorwirft, reine Erkenntnis von praktischer Erkenntnis unterschieden zu haben und damit die alten Dualismen der klassischen Philosophie in der Moderne festgeschrieben zu haben.

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

mit dem ihm zugrunde liegenden absoluten Wahrheitsbegriff ignoriert schlicht, dass unser Wissen immer nur Gültigkeit in Bezug auf seinen experimentellen Entstehungsprozess und -kontext159 beanspruchen kann. Wenn sich unsere Umwelten jedoch permanent verändern und es keine stabilen Systeme gibt, sondern nur Zustände, die uns temporär als stabil erscheinen,160 dann muss auch unser Wissen von der Welt kontinuierlich im Fluss bleiben und grundsätzlich veränderbar und fallibel sein. Letztlich sind Wissen und Wahrheit dann jedoch immer nur im Plural denkbar. Der Pragmatismus, so könnte man schließen, postuliert bereits früh das »Ende der großen Erzählungen«, das LYOTARD (1999) später im Kontext der Postmoderne diagnostiziert. Jahrzehnte vor den ersten Poststrukturalisten haben sich so die klassischen Pragmatisten von Metanarrativen, objektiven Wahrheiten und Einheitstheorien abgewendet und stattdessen vorgezogen, die Welt auf eine neue Art zu denken, von der sie der Überzeugung waren, dass sie einen größeren Wert für die Menschen in der Auseinandersetzung mit einer unübersichtlichen und sich ständig verändernden Umwelt besitzt (WOOD & SMITH 2008: 1528). Mit einer pragmatischen Wissenskonzeption lässt sich natürlich kein grundlegender Unterschied mehr zwischen Alltags- und wissenschaftlicher Erkenntnis ausmachen. Letztere zeichnet sich lediglich durch ihren möglichst transparenten, intersubjektiv nachvollziehbaren Entstehungsprozess aus. Theorien geben deshalb keine Antworten auf Rätsel, sondern dienen als Werkzeuge dazu, in einer unsicheren Situation Handlungsfähigkeit herzustellen. Dies kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen, weshalb Erkenntnis nicht mit sicherem Wissen gleichgesetzt werden darf. An die Stelle sicherer Erkenntnis tritt – wie RORTY es in seinem Buch »Hoffnung statt Erkenntnis« (1994) zum Ausdruck bringt – vielmehr die Hoffnung auf die Erschließung neuer und vielfältiger Handlungsmöglichkeiten zur Gestaltung unserer Lebenswelt. „Die Pragmatisten sind (…) nicht der Ansicht, dass die Wahrheit das Ziel der Forschung ausmache. Das Ziel der Forschung ist der Nutzen; und es gibt so viele verschiedene nützliche Werkzeuge, wie es Zwecke gibt, denen sie dienen können“ (RORTY 1994: 47).

Der pragmatische Wissens- und Wahrheitsbegriff hebelt das skeptische Argument aus, indem er nicht auf absolute Wissensmaßstäbe rekurriert, sondern an seine alltägliche, kontextgebundene Verwendungspraxis anschließt. Nicht nur der Erkenntnisprozess ist an eine bestimmte Fragestellung gebunden, sondern auch die skeptische Infragestellung der Erkenntnisergebnisse. Wahrheit und Wissen über die Welt, in der wir leben, müssen daher streng pluralistisch gedacht werden, denn sie unterliegen immer einem begrenzten und kontingenten Gültigkeitshorizont unter definierten Entstehungsbedingungen. Sie unterliegen, so könnte man formulieren, ihrem epistemischen Kontext (BARKE 2003: 1039). Wahrheit und Wissen 159 Kontextabhängigkeit muss hier entsprechend der Definition von WILLIAMS (2003: 985) in dem Sinn verstanden werden, als dass „alle epistemischen Fragen innerhalb eines bestimmten Informations- und Methodenkontextes entstehen.“ Vgl. hierzu auch Deweys Konzept des Forschungsprozesses. 160 Vgl. Kapitel 3.1.3.1.

3.1. Grundzüge des klassischen Pragmatismus

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über die Welt sind relativ zu und kontingent in ihrem Herstellungsprozess – und gerade wegen dieser Kontextgebundenheit nicht beliebig. Wie sich abschließend bilanzierend zeigt, weisen die Positionen der klassischen Pragmatisten untereinander zahlreiche, z. T. signifikante Unterschiede auf Dewey schließt in seine Philosophie die gesamte (sozial-strukturierte) Umwelt des Menschen ein, womit Wahrheit in dem ihr zugrunde liegenden sozialkonsensualistischen Konstruktionsprinzip ihr subjektivistisch-relativistisches Element verliert. Gleichzeitig trägt er dazu bei, den Dualismus von Subjekt und Objekt, von Geist und Körper zu überwinden, denn wenn Handlung und Erkenntnis, Praxis und Theorie untrennbar verbunden sind, sind diese, wie auch die anderen klassisch erkenntnistheoretischen Dualismen, hinfällig. Dewey bildet mit dieser Leistung „den wichtigsten Zwischenschritt zwischen den dualistischen Theorien des menschlichen Geistes im neunzehnten Jahrhundert und der Überwindung dieses Dualismus im zwanzigsten“ (SUHR 2005: 10). Deweys Pragmatismus kann insofern als eine Vermittlung zwischen bisher dualistisch getrennten Gegenstandsbereichen gedacht werden. Wie Deweys Konzept des Forschungsprozesses zeigt, lassen sich Erkenntnissubjekt und -objekt, Geist und Welt nicht klar voneinander trennen, muss der Dualismus von Denken und Handeln aufgegeben werden, lässt sich Natur nicht erfahren, ohne sozio-kulturell vorgeprägt zu sein, ist Wahrnehmung immer bereits begrifflich vorstrukturiert und ist der Beginn und das Ende eines (intellektuellen) Forschungsprozesses immer mit einer emotionalen Seite verbunden. Der Pragmatismus, so bilanziert es der Neo-Pragmatiker RORTY (2003: 16), zeigt in diesen Befunden, dass es nicht nötig ist, die klassische Erkenntnistheorie und Metaphysik zu widerlegen, sondern verabschiedet sie einfach als Konzepte, die der menschlichen Lebenswelt nicht adäquat sind und daher nicht sinnvoll verwendet werden können (Tabelle 5). Die Philosophie Deweys scheint unter den geschilderten Ansätzen am besten geeignet, wesentliche Probleme der Lehren seiner Vorgänger aufzulösen, die vor allem aus der Idee einer absoluten Realität (Peirce) oder der radikalen Subjektzentrierung und der damit einhergehenden, problematischen, starken Relativierung des Wahrheitsbegriffes (Schiller, James) entstehen. Dewey schließt in seine Philosophie die gesamte (sozial-strukturierte) Umwelt des Menschen ein, womit Wahrheit in dem ihr zugrunde liegenden sozialkonsensualistischen Konstruktionsprinzip ihr subjektivistisch-relativistisches Element verliert. Gleichzeitig trägt er dazu bei, den Dualismus von Subjekt und Objekt, von Geist und Körper zu überwinden, denn wenn Handlung und Erkenntnis, Praxis und Theorie untrennbar verbunden sind, sind diese, wie auch die anderen klassisch erkenntnistheoretischen Dualismen, hinfällig. Dewey bildet mit dieser Leistung „den wichtigsten Zwischenschritt zwischen den dualistischen Theorien des menschlichen Geistes im neunzehnten Jahrhundert und der Überwindung dieses Dualismus im zwanzigsten“ (SUHR 2005: 10). Deweys Pragmatismus kann insofern als eine Vermittlung zwischen bisher dualistisch getrennten Gegenstandsbereichen gedacht werden.

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

Tabelle 5: Pragmatische Positionen im Vergleich Peirce

Schiller

James

Fokus

Allgemeine Theo- Mensch als Maßrie der Bedeutung; stab der Wahrheit Methode zur Begriffsanalyse; Semiotik; Experimentalismus

Erkenntnismöglichkeit

Holistisch Empiristisch Radikal empiris(empirische Erfah- (empirische Erfah- tisch (empirische Erfahrungen) rungen, fiktionale rungen) Erfahrungen und Gedankenexperimente)

Wahrheitskonzeption

Wahrheit als ideell Wahrheit als Belegitimiert Nützli- friedigendes ches

Wahrheit als Nütz- Wahrheit als geliches/Befriedirechtfertigte Begendes hauptbarkeit

Final monistisch (Ideal der absoluten Wahrheit)

Pluralistisch (stark relativistisch)

Pluralistisch (relativistisch)

Praktische und moralische Bedeutung von Begriffen für Verhalten

Dewey Instrumentalistisch: Funktion der Erkenntnis für die Praxis

Holistisch (empirische und theoretische Erfahrungen)

Pluralistisch (kontextualistisch)

Bewährungs- Wissenschaft sphäre von Wahrheitsansprüchen

Empirisch zugäng- Gesamte Lebensliche Welt welt

Gesamte Lebenswelt

Konstruktionsprinzip der Wirklichkeit

Individualistisch

Sozial-konsensualistisch

Sozial-konsensualistisch

Individualistisch

Quelle: Eigene Darstellung

Wie Deweys Konzept des Forschungsprozesses zeigt, lassen sich Erkenntnissubjekt und -objekt, Geist und Welt nicht klar voneinander trennen, muss der Dualismus von Denken und Handeln aufgegeben werden, lässt sich Natur nicht erfahren, ohne sozio-kulturell vorgeprägt zu sein, ist Wahrnehmung immer bereits begrifflich vorstrukturiert und ist der Beginn und das Ende eines (intellektuellen) Forschungsprozesses immer mit einer emotionalen Seite verbunden. Der Pragmatismus, so bilanziert es der Neo-Pragmatiker RORTY (2003: 16), zeigt in diesen Befunden, dass es nicht nötig ist, die klassische Erkenntnistheorie und Metaphysik zu widerlegen, sondern verabschiedet161 sie einfach als Konzepte, die der mensch-

161 In der Verabschiedung der klassischen Erkenntnistheorie und Metaphysik ergibt sich eine Gemeinsamkeit des Pragmatismus Deweys mit der Philosophie Wittgensteins und Heideggers.

3.2. Kontaktpunkte von Pragmatismus und Konstruktivismus

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lichen Lebenswelt nicht adäquat sind und daher nicht sinnvoll verwendet werden können. Nach Ansicht des amerikanischen Philosophen und Pragmatikers Hillary PUTNAM (2004: 96) verfolgt der klassische Pragmatismus mit diesem Erkenntniskonzept nichts weniger als ein neues aufklärerisches Projekt, das, wie man anfügen könnte, die von Hume angestrebte Entzauberung der Welt fortführt. Er stellt der für uns vertrauten eher statischen, objektivistischen und dualistischen Aufspaltung der Welt im Positivismus, Realismus, Idealismus und Konstruktivismus eine dynamische, prozessorientierte, transaktive und holistische Alternative entgegen, die es ermöglicht, sich in der geographischen Forschung mit Materialität und Natur als Teil unserer Welt zu beschäftigen. 3.2. KONTAKTPUNKTE VON PRAGMATISMUS UND KONSTRUKTIVISMUS Viele Vertreter des Pragmatismus – von Peirce über James und Dewey bis hin zu Rorty – weisen Berührungspunkte zum (sozialen) Konstruktivismus162 auf (vgl. GARRISON 2004; REICH 2004; STIKKERS 2004). Trotzdem haben sich die meisten konstruktivistischen Ansätze bisher kaum mit dem Pragmatismus auseinandergesetzt (vgl. REICH 2004: 41). Konstruktivisten wie auch Pragmatisten gehen davon aus, dass Wahrheiten und Wirklichkeiten kontextgebunden hergestellt und nicht vorgefunden werden. Beide Ansätze grenzen sich deshalb von Abbild- oder Korrespondenztheorien und den ihnen zugrunde liegenden metaphysischen oder realistischen Annahmen entschieden ab. Im Gegensatz zu diesen Ansätzen sehen sie den Menschen als „aktiven, eingreifenden und Realitätsmuster generierenden Beobachter, Teilnehmer und Akteur, der die Wirklichkeiten konstruiert, die zu ihm passen“ (REICH 2004: 29).

Wahrheit, Wirklichkeit und Realität sind deshalb in beiden Theorien relativ und plural zu denken. Wissenschaften sind in beiden Ansätzen „Weisen der Welterzeugungen (…) als kultur- bzw. kontextbezogener Beobachter, Teilnehmer und Akteure in wissenschaftlichen Rollen, die mit ihren Beobachtungen und Handlungen verschiedene Versionen von Welten produzieren und diskursiv bereitstellen“ (REICH 2004: 29).

Konstruktivisten wie auch Pragmatisten erheben Geltungsansprüche des von ihnen produzierten Wissens und lehnen daher eine Beliebigkeit von Wahrheitsan-

162 Natürlich ist der Konstruktivismus weit davon entfernt eine homogene Position darzustellen (vgl. Kapitel 2.4.1.). In Erweiterung von REICHs (2004) Differenzierung können sogar mindestens zehn verschiedene Spielarten des Konstruktivismus unterschieden werden. Die hier dargelegten Ausführungen beziehen sich vornehmlich auf sozial-konstruktivistische Ansätze, da der Pragmatismus mit allen konstruktivistischen Ansätzen inkommensurabel ist, die, wie der radikale Konstruktivismus, die Konstruktion der Wirklichkeit absolut setzen.

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

sprüchen ab. Sie sind folglich auf konsistente und nachvollziehbare Vorgehensweisen zur Rechtfertigung ihrer Wahrheitsansprüche – also der Anwendung von wissenschaftlichen Methoden – angewiesen. Wahrheitsansprüche müssen folglich nicht nur erhoben, sondern auch akzeptiert werden, womit ihnen ein konsenstheoretisches, sozial bedingtes Element eigen ist (FUCHS-HEINRITZ et al. 1995: 439). Im Unterschied zu Konstruktivisten würden Pragmatisten jedoch eher von der sozio-kulturellen Bedingtheit unserer Wirklichkeiten als von deren Konstruktion reden,163 da in ihrer Logik lediglich Individuen als Wirklichkeitskonstrukteure auftreten können. Eine „soziale Konstruktion“ kann daher in pragmatischem Sinne nur als soziale Bedingtheit der Wirklichkeitskonstruktion verstanden werden. Pragmatismus wie Konstruktivismus stehen experimentellen und instrumentellen Methoden aufgeschlossen gegenüber, da sie Zugang zu erfahrbaren Wirklichkeiten ermöglichen und erlauben, „Viabilität nicht als einem bloßen Meinen, sondern als einer relevanten (ressourcen- und lösungsbezogenen) Konstruktion nachzugehen“ (REICH 2004: 30). REICH (2004: 41ff) identifiziert zusammenfassend als wesentliche Gemeinsamkeiten von Pragmatismus und einigen Spielarten des Konstruktivismus: 1. Eine Ablehnung jeglicher Metaphysik und Letztbegründungen; 2. Die Betonung von experimentellen oder empirischen Fakten bei der Begründung von Wissensbeständen (Ablehnung des Idealismus wie auch des Realismus und Materialismus); 3. Eine Ablehnung extrem subjektivistischer wie strukturalistischer Positionen, wobei insbesondere DEWEY davon ausgeht, dass Menschen in ihren Interaktionen Diskurse (re-)produzieren und so Kulturen konstituieren; 4. Die Bedeutung des Pluralismus für Konstruktivismus und Pragmatismus, der nur in Demokratien möglich ist. Im umfangreichen Werk Deweys scheinen die Parallelen zwischen Konstruktivismus und Pragmatismus „besonders breit, facettenreich und vielschichtig angelegt zu sein“ (HICKMAN et al. 2004: VIf). Insbesondere DEWEYs Verständnis „der Erzeugung gemeinsam geteilter Bedeutungen durch Prozesse symbolvermittelter Interaktion“ kann als „genuin sozial-konstruktivistisch“ bezeichnet werden (NEUBERT 2004b: 117). Da eine generische Erkenntnis laut Dewey nicht möglich, sondern Erfahrung immer schon sozial vorstrukturiert ist, ist der Prozess der Wirklichkeitskonstruktion immer sozial bedingt. Subjekte sind insofern durch ihre sozialen und kulturellen Kontexte in ihren Konstruktionsmöglichkeiten eingeschränkt, sie können diese Strukturen jedoch auch verändern. Dewey geht auf diesem Gedanken aufbauend sogar so weit, in seiner unvollendeten neuen Einleitung zu seinem Buch »Erfahrung und Natur« (DEWEY 1995: 416) zu betonen, dass Erfahrung-Machen immer nur in kulturellen Bezügen denkbar ist, weshalb er

163 In diesem Sinne weist die pragmatische Philosophie Berührungspunkte mit dem Standpunkt von HACKING (2002) auf, der sich ebenfalls gegen die Vorstellung wendet, etwas könne „sozial konstruiert“ sein und Ideen und Konzepte stattdessen als Produkte gesellschaftlicher Prozesse begreift.

3.3. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Pluralität und Relativität als Methode

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den Begriff der Erfahrung aufgeben und ihn durch den Begriff der Kultur im Titel und Aufbau seines Buches ersetzen würde (ebd.: 450), da „Erfahrung immer wieder in einem [rein, Anm. d. Verf.] sensorisch wahrnehmenden Sinne missverstanden wurde“ (NEUBERT 2004a: 15), anstatt gleichzeitig zu sehen, „was erfahren wird, und die Weise, wie es erfahren wird“ (DEWEY 1995: 450). Insofern kann man durchaus argumentieren, dass „Pragmatismus und Konstruktivismus (…) ein gemeinsames Interesse an Kulturtheorie [haben]“ (NEUBERT 2004b: 114), zumal klassische Pragmatisten, wie Dewey und sein Freund und Soziologe Mead, ihre Ansätze als kritische Beiträge zur Kulturtheorie verstanden haben wollten. HICKMAN et al. (2004: VI) sehen deshalb in DEWEY nicht nur eine der zentralen Figuren des Pragmatismus, sondern zugleich einen bedeutsamen „Pionier konstruktivistischen Denkens“. NEUBERT (2004b: 114f) präzisiert diesen Befund, indem er Dewey sogar in die Riege der sozialen Konstruktivisten einreiht. Der Pragmatismus Deweys stellt damit einen entschiedenen Gegenentwurf zum radikalen Konstruktivismus dar (vgl. GARRISON 1997). Als Grundlage des symbolischen Interaktionismus von Mead (FUCHS-HEINRITZ et al. 1995: 511) bauen viele Ansätze der interpretativen Soziologie auf seinen Fundamenten auf. Der Pragmatismus ist daher gut geeignet, von seinen Erkenntniskonzepten aus sozialkonstruktivistische Ansätze weiterzuverfolgen, wie sie beispielsweise BERGER & LUCKMANN (2004) vertreten, solange das Schlagwort der „sozialen Konstruktion“ als das verstanden wird, als was es von den Autoren auch gemeint war: als Metapher für die soziokulturelle Bedingtheit unserer Wirklichkeitsentwürfe. Damit bietet sich der Pragmatismus auch als alternative erkenntnistheoretische Basis für viele theoretische Konzepte in der Geographie an, die auf sozialkonstruktivistischen Ansätzen aufbauen aber den Konstruktionsgedanken der Wirklichkeit nicht gleichzeitig absolut setzen. 3.3. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE KONSEQUENZEN: PLURALITÄT UND RELATIVITÄT ALS METHODE Wo es keine absoluten Referenzpunkte, keine Letztbegründungsinstanzen für Wahrheit geben kann, stellt sich die Frage, welche Konsequenzen daraus für das Verhältnis von Wissenschaft zu Ethik folgen und wie unter diesen Bedingungen Wissenschaft in theoretischer und methodologischer Hinsicht möglich ist. 3.3.1. Wissenschaft und Ethik Wenn für unsere Wahrheitsüberzeugungen keine letzten Gründe angegeben werden können, muss auch Forschung vom Glauben ausgehen. Forschung ohne Glauben ist nicht möglich, denn der Glaube an die potenzielle Gültigkeit einer Hypothese spielt für den Forschungsprozess eine entscheidende Rolle – sonst würde diese Hypothese nicht überprüft (JAMES 2002b: 152). Wie Dewey feststellt, sind

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

Wissenschaft, Kultur, Glaube, Verantwortung und Ethik stark voneinander durchdrungen, denn, so der deutsche Pragmatist Ludwig NAGL (1998: 124), „Wissenschaft ist Problemlösen, und diese pragmatische Einbettung von Theorie [in diesen Problemlösungsprozess, Anm. d. Verf.] impliziert jederzeit einen ethisch durchwirkten Handlungshorizont, in dem alles Forschen beginnt und endet. Auf minimalistische Weise kündigt sich dieser wertimplizierende Horizont schon im Leitwert der vermeintlich wertfreien Wissenschaft selbst, ihrem »Lob« der »Exaktheit« an [Hervorh. i. O.].“

Für Dewey gibt es deshalb ein Argumentationskontinuum zwischen Wissenschaft und Ethik, in dem es darum geht, von konkreten Problemen zu vorläufig gültigen Lösungen zu gelangen. Dass Wissenschaft und Ethik kaum voneinander zu trennen sind, hängt für Pragmatisten mit dem Verhältnis von Mitteln und Zwecken im wissenschaftlichen Forschungsprozess zusammen. In der instrumentellen Perspektive des Pragmatismus lassen sich wissenschaftliche Theorien als Werkzeuge, also als Mittel, verstehen, mit denen wir uns die Welt erschließen und kontrollierbar machen (JAMES 1994a: 33): „Wir liegen nicht ruhig auf dem Faulbett der Theorien, wir dringen vorwärts und bearbeiten mit ihrer Hilfe wiederholt die Natur“.

Ethische Werte und Regeln bestimmen wiederum den Zweck wissenschaftlicher Forschungstätigkeit. Betrachtet man diese Unterscheidung von Zweck und Mittel genauer, zeigt sich jedoch, dass Zwecke nicht unendlich gültig sind, sondern einem Wandel unterliegen, in dem sie sich kontinuierlich der jeweiligen Situation anpassen. Aktuell gültige Zwecke sind deshalb nicht mehr als ein Zwischenstadium auf dem Weg zu neuen Re-Interpretationen, sie sind also Mittel in einem neuen Funktionskreis. Mit Dewey müssen Zwecke als soziale Instrumente begriffen werden, die wie alle unsere anderen Überzeugungen auch im Hinblick auf die von ihnen verursachten Konsequenzen getestet, bestätigt oder verändert werden können. Als Konsequenz verschwimmt damit jedoch die Grenze zwischen Zweck und Mittel. Übertragen auf die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Ethik bedeutet dies, dass sich auch hier Zweck und Mittel nicht klar voneinander trennen lassen, sondern eher ein Kontinuum bilden. Akzeptiert man diese Auffassung, lässt sich jedoch die Behauptung, dass Wissenschaft frei von Werten sei, genauso wenig halten wie ihr Gegenstück, dass Werte jeder argumentatorischen Grundlage entbehren würden (NAGL 1998: 124). Im Gegenteil kann laut DEWEY (2001: 261) Wissenschaft sogar gar nicht anders als wertbeladen zu agieren, da ihren Ergebnissen immer Glaubenssätze und Auswahlentscheidungen vorausgehen. Wissenschaftliche Urteile werden dann aber immer auch zu Werturteilen: „If the use made of scientific resources, of technique of observation and experiment, of systems of classification, etc., in directing the act of judging (and thereby fixing the content of the judgment) depends upon the interest and disposition of the judger, we have only to make such dependence explicit, and the so-called scientific judgment appears definitely as a moral judgment“ (DEWEY 1996: MW.3.19).

Dass wissenschaftliche Erkenntnisprozesse inhärent auf Werturteilen und damit Glauben basieren, ist für den Forschungsprozess jedoch insofern unschädlich, da

3.3. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Pluralität und Relativität als Methode

133

sich alle Hypothesen in ihm bestätigen und insofern an ihren Konsequenzen messen lassen müssen (JAMES 2002b: 142). Wenn Forschung und Ethik als so eng verwoben betrachtet werden, kann es andererseits jedoch auch kein für sich existentes „Naturrecht“ geben, d. h. aber nicht, dass Werte und Normen beliebig konstruierbar sind, da sie an soziale Akzeptanz und damit an Aushandlungsprozesse geknüpft sind (DEWEY 2001: 254ff). Für Dewey befinden sich Ethik und Wissenschaft daher auf einem Kontinuum. Jedes wissenschaftliche Handeln ist letztendlich ein gesellschaftliches, ein politisches Handeln (NAGL 1998: 128), das für seine Ergebnisse deshalb auch eine politisch-gesellschaftliche Verantwortung übernehmen muss. Wissenschaftliche Theorien können daher also nie wert- und weltanschaulich neutral sein. 3.3.2. Pluralismus und Relativismus als wissenschaftstheoretisches Prinzip transdisziplinärer Forschung Eine so verstandene empirische Wissenschaft ist nicht geeignet, Belege zur Bestätigung oder Kritik einer Theorie zu liefern, sondern produziert methodisch geregelt ein spezifisches Erfahrungswissen durch die Schaffung von Tatsachen und Wahrheiten im Forschungsprozess. Die im Forschungsprozess gewonnenen Theorien sind folglich nicht mehr als Lösungen von Rätseln, sondern eher als Werkzeuge aufzufassen, die dazu dienen, in einer unsicheren Situation wieder Handlungsfähigkeit herzustellen (JAMES 1994: 24). Für den Pragmatismus gleicht daher der Erkenntnisprozess eher einer aktiven Teilnahme an der Veränderung der Welt als einer Entdeckung des Gegebenen (DEWEY 2001: 291): „Soweit es die Philosophie betrifft, besteht die erste direkte und unmittelbare Wirkung dieses Übergangs vom Erkennen, das zwar für den Erkennenden einen Unterschied ausmacht, aber keinen in der Welt, zum Erkennen, das eine zielgerichtete Veränderung in der Welt ist, in dem vollständigen Aufgeben dessen, was wir vielleicht den intellektualistischen Fehlschluss nennen können. Damit ist etwas gemeint, was man auch die Universalität der Erkenntnis als Maßstab der Realität nennen könnte.“

Die wissenschaftliche Entwicklung hat so jeweils funktionierende, aber teils konkurrierende Theorien hervorgebracht. Wenn man diesen Befund akzeptiert, führt dies, so JAMES (2006: 88f), logischerweise zum Zusammenbruch des Einsichtsideals und der Korrespondenztheorie als Grundlage der Wissenschaftstheorie.164 Theorien können keine letzten Antworten und keine absolute Sicherheit bieten. Sie haben immer einen endlichen Gültigkeitshorizont, bleiben aber trotzdem brauchbar. Wissenschaftliche Erkenntnisse könnten daher „nur insofern als wahr

164 DEWEY (2001: 27) gibt die Spiegelmetaphorik der etablierten Erkenntnistheorie auf, indem er eingängig feststellt, dass ihr Fehler darin liege, dass sie offenbar „den Vermutungen über das, was beim Akt des Sehens stattfindet, nachgebildet worden“ ist. Dieser Gedanke wird später ein Kernelement der Grundsatzkritik RORTYS an der Philosophie des 17.–20. Jhd. in seinem berühmten Buch »Der Spiegel der Natur« (2003).

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

gelten, als sie nützlich sind“ (ebd.: 89). Vor diesem Hintergrund ist eine wissenschaftstheoretische Einheitsperspektive, die eine absolute und alleinige Gültigkeit beanspruchen kann jedoch nicht möglich: „There is no kind of inquiry which has a monopoly of the honorable title of knowledge“ (DEWEY 1996: LW.4.176).

Die klassischen Pragmatisten von Peirce bis Dewey lehnen deshalb den Gedanken einer einzigen Wissenschaftstheorie und wissenschaftlichen Methode, wie er im modernen Szientismus vertreten wird, entschieden ab. Im Gegensatz zum Positivismus, logischem Empirismus und kritischem Rationalismus argumentiert der Pragmatismus antireduktionistisch und hebt die Komplexität und Historizität unserer Forschungsprozesse und -gegenstände hervor. Deweys Instrumentalismus hebt sich insofern entschieden von demjenigen der Positivisten und Kritischen Rationalisten ab. Für DEWEY (1996: LW.12.17) ist Rationalität ja gerade eine Angelegenheit der Beziehung von Mitteln und Konsequenzen – und nicht eine von fixen ersten Prinzipien und ultimativen Prämissen. Rationalität und Logik sind daher für Dewey auch keine ersten Prinzipien, sondern praktische „means-ends“ unserer alltäglichen Forschungsprozesse (GARRISON 2001: 280). Die daraus folgende Betonung der situierten Kontingenz unserer Lebens- und Erfahrungssituationen führt zu einer Ablehnung der weit reichenden Geltungsansprüche aktualistischer und kausal deterministischer Erkenntnismodelle (Tabelle 6). Tabelle 6: Erkenntniskonzepte in Logischem Empirismus, Positivismus, Kritischem Rationalismus sowie im Pragmatismus Logischer Empirismus (LE)/Positivismus (P) bzw. Kritischer Rationalismus (KR)

Pragmatismus

Forschungsleitendes Prinzip des Schließens

Induktion (LE/P), Deduktion (KR)

Abduktion

Forschungsleitende Prinzipien

Reduktionistisch

Antireduktionistisch

Simplizität

Komplexität

Aktualismus

Historizität

Kausal deterministisch

Situierte Kontingenz

Korrespondenztheoretisch

Konsenstheoretisch

Objektive Wahrheit

Soziale Konstruktion des Wissens

Physikalistischer Monismus

Epistemologischer Pluralismus

Wahrheitstheorie Wahrheitskonzept Erkenntnismodell

Quelle: KERSTING 2012; verändert und ergänzt

Dass Pragmatisten einen übersteigerten (im Sinne von absolut gesetzten) Rationalismus genauso ablehnen wie eine realistische Ontologie, die Idee absoluter Wahrheit, die Korrespondenztheorie und szientistische Wissenschaftskonzepte

3.3. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Pluralität und Relativität als Methode

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bedeutet keineswegs, dass sie deshalb Wissenschaft an sich ablehnen würden, wie ihnen immer wieder vorgeworfen wird. Wie absurd dieser Vorwurf ist, wird in einer Metapher von SHAPIN (1999: 12) deutlich: „It would be as if anyone who disagreed with an ignorant wine writer’s pompous prose was to be vilified for hating wine.“

Statt eine Einheitstheorie zu vertreten, plädiert der Pragmatismus für einen Pluralismus wissenschaftstheoretischer Perspektiven und betritt mit dieser Position zu seiner Zeit Neuland. James wird sogar zugeschrieben den Terminus des Pluralismus in die englischsprachige Philosophie überhaupt erst eingeführt zu haben (MENAND 2001: 143) und DEWEY (1996: LW.13.276) veranschaulicht die pluralistische Haltung des Pragmatismus in seinem Essay »Unity of Science as a Social Problem« (1938) mit seinem berühmten Satz: „In the house which science might build there are many mansions.“

Der für den Pragmatismus zentrale wissenschaftstheoretische Gedanke des Perspektivenpluralismus findet sich später auch im Werk FEYERABENDs165 (1995: 34), der dessen Konsequenzen folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Erkenntnis in diesem Sinne ist keine Abfolge in sich widerspruchsfreier Theorien, die gegen eine Idealtheorie konvergieren; sie ist keine allmähliche Annäherung an eine Wahrheit. Sie ist ein stets anwachsendes Meer miteinander unverträglicher (und vielleicht sogar inkommensurabler) Alternativen; jede einzelne Theorie, jedes Märchen, jeder Mythos, der dazugehört, zwingt die andern zu deutlicherer Entfaltung, und alle tragen durch ihre Konkurrenz zur Entwicklung unseres Bewusstseins bei“.

Der Pragmatismus wendet sich also gegen einen rigiden Reduktionismus unserer Zugangsweisen zu Welt, gegen eine, wie es Feyerabend (2005) genannt hat „Vernichtung der Vielfalt“. Die Offenheit des Pragmatismus für plurale Perspektiven darf jedoch nicht missverstanden werden. Der Neo-Pragmatiker BERNSTEIN (1991) hat diesbezüglich die Gefahren, die einem falsch verstanden Pluralismus innewohnen, eindrücklich herausgearbeitet, indem er einen fragmentierenden Pluralismus, einen schwabbeligen Pluralismus, einen polemischen Pluralismus und einen engagierten, fallibilistischen Pluralismus unterscheidet. Im fragmentierenden Pluralismus werden die Zentrifugalkräfte der einzelnen Perspektiven so groß, dass man nur noch innerhalb der eigenen, sehr kleinen Gemeinschaft kommunizieren kann. Im schwabbeligen Pluralismus arbeitet man zwar mit den Theorien und Perspektiven anderer, das Überschreiten der Theoriegrenzen gleicht jedoch wenig mehr als dem Wildern in anderen Revieren in Form eines aalglatten und

165 Damit soll keineswegs behauptet werden, dass Feyerabend diesen Gedanken aus dem Pragmatismus übernommen hat. Die Parallele der Argumentationen ist jedoch kaum zu übersehen. Da Feyerabend ebenfalls für eine kritisch pluralistische Perspektive auf Erkenntnis plädiert und deren Konsequenzen wie kaum ein zweiter Wissenschaftstheoretiker in seinem Werk ausdiskutiert hat, bietet es sich hier an, auf seine Argumente zurückzugreifen, um die wissenschaftstheoretischen Konsequenzen des Pragmatismus herauszuarbeiten.

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

oberflächlichen Theorieeklektizismus.166 Im polemischen Pluralismus gesteht man zwar dem Anderen die Möglichkeit unterschiedlicher Perspektiven zu, lässt eine grundlegende Haltung und den Willen zum Zuhören und Lernen jedoch vermissen. Pluralismus ist dann kaum mehr als eine rhetorische Worthülse. BERNSTEIN (1991: 336) plädiert daher für einen engagierten, fallibilistischen Pluralismus, der sich für die Konflikte zwischen unterschiedlichen Perspektiven interessiert, ihre jeweiligen Foki, blinden Flecken und Konsequenzen beleuchtet und sie anhand der jeweils kontextuell gebundenen Erfahrung testet. Erst in dieser Version ist ein Theorienpluralismus m. E. nach geeignet, einen Beitrag für die Entwicklung einer wahrhaft transdisziplinärer Perspektive zu liefern, wie ich sie bereits in der Einleitung zu diesem Buch umrissen habe. Auch der Pragmatismus muss dann weniger als ein fixes, als ein in Bewegung befindliches Gedankengebäude verstanden werden (BARNES 2008a: 1550). Die Diversität unterschiedlicher Ansätze ist so nicht länger als ein Problem, sondern als Teil der Lösung erfolgreich mit der Welt zu transagieren zu verstehen. 3.2.3. Pragmatismus und Methodologie Nimmt man den wissenschaftstheoretischen Pluralismus des Pragmatismus ernst, kann es folglich auch in methodologischer Hinsicht nicht die eine pragmatische Geographie geben, die Antworten auf alle Fragen enthält (BARNES 2008a: 1552). Der Pragmatismus bietet insofern keine Hilfe, wenn jemand auf der Suche nach einfachen, universell gültigen Regeln wissenschaftlichen Arbeitens ist; er bietet keine einfachen methodischen Handreichungen, wie sie der kritische Rationalismus Poppers oder positivistische Positionen suggerieren (HANDS 2004: 261, 269; RORTY 1994: 27). Auch wenn Deweys Philosophie mit ihrer Betonung der experimentellen Erprobung auf den ersten Blick zu empirischen, Hypothesen testenden, experimentellen Verfahren hinzudrängen scheint,167 veranschaulicht doch sein umfassender Forschungs- und Erfahrungsbegriff sowie sein holistisches Verständnis von Han166 Ein aalglatter und oberflächlicher Theorieeklektizismus wird postmodernen und kulturgeographisch inspirierten Theorien und Arbeiten gerne – und oft auch zurecht – vorgeworfen (bspw. MARTIN & SUNLEY 2001: 153; THRIFT 2000b: 689; WERLEN 2003: 259). Insbesondere Inkommensurabilitäten der einzelnen theoretischen Perspektiven unterliegenden Erkenntnistheorien werden oft recht hemmungslos ignoriert. Mir persönlich drängt sich dabei oft der Eindruck auf, dass dem ein sich durchwurstelnder Praktikalismus zugrunde liegt, der eine empirismusfixierte Theorieaversion mit der Bevorzugung schneller Ergebnisse kombiniert und daher das Bohren dicker theoretischer Bretter vermeidet. Wie Wolfgang WELSCH (1994: 19) zudem schon mit Blick auf die Postmodernedebatte bemerkt hat, erfordert ein Plädoyer für eine perspektivische Vielfalt immer auch Differenz – und steht damit einer durch einen eklektischen, indifferenten Einheitsbrei erzeugten Beliebigkeit unvereinbar gegenüber. 167 Vgl. Kapitel 3.1.3.2. Sie weist oberflächlich betrachtet deshalb durchaus Ähnlichkeiten mit den falsifikationistischen und empiristischen Methoden des Kritischen Rationalismus und des Positivismus auf.

3.3. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Pluralität und Relativität als Methode

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deln, das bspw. auch Denkakte mit einschließt, dass eine solche Eingrenzung, um nicht zu sagen szientistische Missinterpretation, des pragmatischen Prinzips experimenteller Erprobung dem umfassenden und komplexen Denkgebäude des Pragmatismus kaum gerecht würde. Ganz im Gegenteil ist man aus der pluralistischen Grundhaltung des Pragmatismus doch vielmehr geradezu gezwungen, sich auch für einen engagierten methodischen Pluralismus starkzumachen und jeder Art von szientistischer Verkürzung und Eingrenzung unserer Forschungsprozesse eine Absage zu erteilen. Dabei müssen sich auch die Methoden der Forschung den sich verändernden Gegenständen der Erkenntnis anpassen: „In principle, the history of the construction of suitable operations in the scientific field is not different from that of their evolution in industry. Something needed to be done to accomplish an end; various devices and methods of operation were tried. Experiences of success and failure gradually improved the means used. More economical and effective ways of acting were found–that is, operations which gave the desired kind of result with greater ease, less irrelevancy and less ambiguity, greater security. Each forward step was attended with making better tools. Often the invention of a tool suggested operations not in mind when it was invented and thus carried the perfecting of operations still further. There is thus no apriori test or rule for the determination of the operations which define ideas. They are themselves experimentally developed in the course of actual inquiries. They originated in what men naturally do and are tested and improved in the course of doing“ (DEWEY 1996: LW.4.100).

Das Wissenschaftskonzept des Pragmatismus weist hier erhebliche Parallelen zu der von Paul FEYERABEND (1924–1994) in seinem berühmten Buch »Wider den Methodenzwang« 168 (1995) dargelegten Idee einer anarchistischen Erkenntnistheorie auf, da beide die Wahl der verwendeten wissenschaftlichen Methoden und Theorien grundsätzlich als kontingent betrachten.169 Feyerabends Wissenschaftstheorie des „anything goes“ wurde oft im Sinne einer irrationalen, begründungslosen, methodischen Beliebigkeit der Vorgehensweise missverstanden. Feyerabend wendet sich jedoch klar gegen die Behauptung, Relativisten wollten die Regeln und Standards wissenschaftlichen Arbeitens abschaffen. Er ist sich im Gegenteil sicher, dass Relativisten sogar möglichst viele verschiedene Wissenschaftsentwürfe kennen lernen wollen, um neue Erkenntnisse zu erreichen und daher einem Methodenpluralismus offen gegenüberstehen: „Rather he [the relativist, Anm. d. V.] will try to learn as many of them as possible, he will try to improve them, to make them more flexible. For on his ventures into the unknown he needs all the help he can get“(FEYERABEND 1977: 18)

Nach Feyerabend liegt die Pointe der Vorgehensweise eines Relativisten darin, die Methoden und Standards zu wählen und für diese Wahl selbst die Verantwortung zu übernehmen, weil sie gerade nicht durch eine wissenschaftstheoretische Heilslehre vorgegeben sind. „Anything goes“ bezieht sich in diesem Sinn auf die

168 Englisches Original: »Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge« (1975). 169 Diese Parallele sieht auch FINE (2000: 68), der auf Deweys experimentellem Standpunkt eine Verteidigung des relativistischen Standpunktes Feyerabends aufbaut.

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

Wahl und nicht auf die Anwendung der Methoden zur Überprüfung von Hypothesen, deren konsistente, transparente und nachvollziehbare Anwendung von Feyerabend nicht in Frage gestellt wird. Die Nachvollziehbarkeit methodologischer Entscheidungen und Vorgehensweisen ist vor allem deshalb notwendig, weil gerade wissenschaftliche Wahrheiten in besonderem Maße dem Junktim sozialer Akzeptanz unterworfen sind. Nicht nur die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens müssen als soziale Konventionen aufgefasst werden, sondern auch die Akzeptanz der Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit ist hochgradig sozial bedingt. Wissenschaftliche Forschung wird daher erst „durch die Übernahme gewisser Rechtfertigungspraktiken ermöglicht, wobei es für diese Praktiken Alternativen gibt. Diese »subjektiven Bedingungen« sind jedoch keineswegs etwas »Unvermeidliches«, das sich durch »Reflexion auf die Logik der Forschung« entdecken ließe. Sie hängen lediglich davon ab, was eine Gesellschaft, Profession oder sonstige Gruppe für eine gute Begründung gewisser Behauptungen hält“ (RORTY 2003: 417).

Auch wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse können insofern als soziokulturell bedingt betrachtet werden und sind deshalb kontingent. Sie könnten sich daher mit einer Perspektivänderung der wissenschaftlichen Community verschieben (JAMES 1994: 128f). Aus Sicht des Pragmatismus muss sich jede Methode an ihren Ergebnissen und Konsequenzen experimentell messen lassen. Auch wenn alle klassischen Pragmatisten grundsätzlich hinter den etablierten Methoden und Praktiken wissenschaftlicher Forschung standen (HEPPLE 2008: 1532), bedeutet das deshalb noch lange nicht, dass sie jede wissenschaftstheoretische und methodologische Positionierung akzeptieren würden. Eine Methodologie, die bspw. die zukünftige Revision vergangener Annahmen und Erkenntnisse über einen quasi-absoluten Gültigkeitsanspruch ihrer Ergebnisse erschwert, disqualifiziert sich aus pragmatischer Perspektive von selbst. Die methodologische Offenheit des Pragmatismus macht es verständlich, dass sich aus ihm keine spezifischen, allgemein gültigen, methodischen Vorgehensweisen ableiten lassen (HEPPLE 2008: 1537). Sicherlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es sich geradezu aufdrängt, aus einer pragmatischen Perspektive mit qualitativen und reflexiven Methoden zu arbeiten (HEPPLE 2008: 1536). Interpretativ-zirkulär angelegte und in diesem Sinne hermeneutische Methodologien (SEIFFERT 1996) haben mit dem Pragmatismus viel gemeinsam. So hat RORTY (2003: 347) bereits darauf hingewiesen, dass einzelne Teile eines Systems nicht wirklich verstehbar sind, wenn nicht wenigstens ein gewisses Vorverständnis des Gesamten vorliegt. In der Art interpretativer Erklärungen bewegen wir uns dann so lange zwischen verschiedenen Vermutungen hin und her, bis sich das Ganze immer vertrauter anfühlt. „Nach diesem Interpretationsbegriff ist das Verstehen eher wie das Kennenlernen einer Person als wie das Durchlaufen eines Beweisganges“ (ebd.).

3.3. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Pluralität und Relativität als Methode

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Was Rorty hier schildert, ist letztlich nichts anderes als der zirkulär angelegt, sich tastend hin und her bewegende Forschungsprozess, wie wir ihn bei Dewey170 bereits kennen gelernt haben. Diese pragmatische Grundidee eines reflexiven, zirkulären und grundsätzlich als offen verstandenen Forschungsprozesses wurde von GLASER & STRAUSS (1967) bei der Entwicklung ihrer bekannten Methodologie der »Grounded Theory« aufgegriffen.171 Glaser & Strauss legten damit einen der ersten sich dezidiert auf den Pragmatismus berufenden methodischen Ansätze vor. Dessen Potenziale für eine pragmatisch inspirierte geographische Forschung wurden erst jüngst empirisch von STEINER (2009b) und theoretisch konzeptionell von einer Gruppe junger Geographen um Klaus Geiselhart (GEISELHART et al. 2012) veranschaulicht. Interpretative Methoden scheinen sich auch insofern aufzudrängen, als sich in der Soziologie ein ganzer Theoriestrang der interpretativen Soziologie im Anschluss an den Pragmatisten George Herbert Mead entwickelt hat (MEAD 1995; BLUMER 1975; BERGER & LUCKMANN 2004)172 und auch die Ethnomethodologie GARFINKELs173 (1967) sowie die Arbeiten GOFFMANNs174 (1959) Nähen zum Pragmatismus aufweisen. Dennoch wäre es grundlegend falsch, den Pragmatismus methodisch auf eine interpretative Perspektive verengen zu wollen (HAMPE 2006: 120; HEPPLE 2008: 1536). Quantitative Methoden und Verfahren, wie wir sie in der Psychologie und Soziologie, der Ökonometrie und den Naturwissenschaften weit verbreitet finden, waren ohne Zweifel in der Vergangenheit extrem erfolgreich und haben sich insofern in einem pragmatischen Sinne auch bewährt. Es wäre daher aus pragmatischer Perspektive unsinnig sie fallen zu lassen, haben sie doch ihre Brauchbarkeit auf dem Weg der Erkenntnissuche klar unter Beweis gestellt. Quantitative Methoden und Verfahren waren in den Natur- und Sozialwissenschaften vor allem auch deshalb erfolgreich, weil sie „einen Schutz vor ausufernden Spekulationen ohne ausreichendes empirisches Fundament“ (KERSTING 2012: 58) geboten haben. Quantitative Methoden mit ihren reduktionistischinduktiv und deduktiv-falsifikationistisch arbeitenden Modellbildungen zerlegen klar eingegrenzte Fragestellungen auf dem Weg ihrer Operationalisierung in möglichst kleine Einheiten, um experimentell mithilfe quantitativer Verfahren Regeln 170 Vgl. Kapitel 3.1.3.2. 171 Wie Strauss selbst dargelegt hatte, bezieht sich seine Theorie auf ein pragmatisches Weltbild. Eine ihm gelegentlich unterstellte Nähe zum kritischen Rationalismus sowie eine positivistische Epistemologie (bspw. REUBER & PFAFFENBACH 2005: 169f), muss daher als Missinterpretation betrachtet werden. 172 George Herbert Mead war mit John Dewey eng befreundet und wird dem klassischen Pragmatismus zugerechnet. Sein Schüler Herbert Blumer integrierte wesentliche Gedanken des Pragmatismus in seinen Symbolischen Interaktionismus, der wiederum im sozialen Konstruktivismus von Berger und Luckmann aufgegriffen wurde (HILDENBRAND 1998: 15). 173 Garfinkel kombiniert in seiner Ethnomethodologie im Wesentlichen den Pragmatismus mit dem Symbolischen Interaktionismus einerseits und Gedanken der Phänomenologie Husserls und Schütz‘ andererseits (ABELS 2004: 111; JOAS & KNÖBL 2004: 220ff). 174 Goffmann griff vor allem das Konzept der Handlungsorientierung bei Max Weber und die Idee der Rollenübernahme von Mead in seinen Arbeiten auf (ABELS 2004: 157).

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

und Gesetzmäßigkeiten psychischer, sozialer und natürlicher Prozesse und Phänomene zu identifizieren. Ihr Erklärungspotenzial und Erfolg basieren gerade darauf, dass sie die enorme Komplexität unserer Welt auf einige wenige eingegrenzte, beherrsch- und berechenbare Faktoren reduzieren und somit die Modellierung gering komplexer Systeme ermöglichen (NIPPER 2007: 130). Sie blenden dabei alle Arten von Kontexten aus oder reduzieren sie auf wenige Input-OutputFaktoren (KERSTING 2012: 58). Dasselbe gilt für das Zusammenspiel zwischen Forscher und dem Gegenstand seiner Erkenntnissuche (FINE 2000: 63), sowie die raumzeitlich gebundene Gültigkeit von Erkenntnis (SHAPIN 1998: 5). DEWEY (2001: 27) selbst bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Sie alle vertreten die Ansicht, dass die Forschungstätigkeit jedes Element praktischer Tätigkeit ausschließe, das in die Konstruktion des erkannten Gegenstandes eingeht. Seltsam genug trifft dies sowohl auf den Idealismus wie auf den Realismus, auf Theorien synthetischer Tätigkeit wie passiver Rezeptivität zu. Denn nach ihnen konstruiert der Geist den erkannten Gegenstand nicht auf irgendeine beobachtbare Weise oder mithilfe praktischer offener Handlungen, die eine zeitliche Qualität haben, sondern durch irgendeine okkulte innere Operation. Das gemeinsame Wesen all dieser Theorien besteht kurzum darin, dass das, was erkannt wird, dem mentalen Akt der Beobachtung und Untersuchung vorausgeht und von diesen Akten gänzlich unbeeinflusst ist; andernfalls wäre es nicht unbewegt und unwandelbar.“

Wie KERSTING (2012: 58) sehr anschaulich herausgearbeitet hat, liegt in dieser starken Eingrenzung von Forschungsprozessen gleichzeitig die Stärke, wie auch die Schwäche dieses Erkenntnismodells begründet: Positiv zu bewerten ist sicherlich, dass es durch die Reduktion auf wenige Faktoren Überblick verschaffen und so zu neuen Einsichten verhelfen kann. Problematisch ist dieses reduktionistische Vorgehen nicht an sich, denn man kann es einem Modell schlecht vorwerfen, dass es Komplexität reduziert. Darin liegen sein Sinn und seine Stärke. Problematisch wird es erst, wenn man es mit einer fundamentalistischen Erkenntnistheorie koppelt und das Modell mit der Realität verwechselt oder zumindest zu dessen Korrelat im Sinne der Korrespondenztheorie verklärt. Unter den Bedingungen, dass quantitative Methoden auf einer essenzialistischen und fundamentalistischen Ontologie beruhen, diskreditieren sie sich aus pragmatischer Perspektive daher eindeutig selbst. DEWEY (2001: 290f) bezieht hierzu eindeutig Stellung, wenn er hervorhebt, dass auch eine Erkenntnis der Natur letztendlich keine objektive Erkenntnis darstellen kann, da selbige methodisch immer im Rahmen transaktiver Forschungsprozesse entsteht: „Das alte Zentrum war der Geist, der seine Erkenntnisse mithilfe einer in sich vollständigen Ausstattung an Kräften gewann und sich nur auf ein vorgängiges äußeres Material richtete, das gleichermaßen in sich vollständig war. Das neue Zentrum sind unbegrenzte Interaktionen, die innerhalb eines Naturverlaufs stattfinden, der nicht unveränderlich und vollständig ist, sondern durch die Vermittlung bewusst vollzogener Handlungen zu immer neuen und anderen Resultaten gelenkt werden kann. (…) Weder das Ich noch die Welt, weder die Seele noch die Natur (…) ist das Zentrum, ebenso wenig wie entweder die Erde oder die Sonne das absolute Zentrum eines einzigen allgemeinen und notwendigen Bezugssystems ist. Jetzt gibt es ein sich bewegendes Ganzes von interagierenden Teilen; überall, wo es die Anstrengung gibt, sie in eine bestimmte Richtung hin zu verändern, entsteht ein Zentrum.“

3.3. Wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Pluralität und Relativität als Methode

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Schon lange vor jeder Positivismuskritik der kritischen Theorie (ADORNO et al. 1978) hat Dewey so darauf hingewiesen, dass Methode und Resultat immer eng miteinander zusammenhängen. Quantitative Verfahren müssen jedoch keineswegs mit einer positivistischen oder kritisch-realistischen Wissenschaftstheorie verkoppelt werden. Das Problem liegt nicht so sehr in den Verfahren begründet, sondern im dem objektiven Geltungsanspruch, der immer wieder mit deren Ergebnissen verknüpft wird. Gibt man den korrespondenztheoretischen, absoluten Geltungsanspruch quantitativer Verfahren auf und öffnet sich für den Gedanken von Kontingenz und Kontextualität, birgt dies jedoch Konsequenzen: Wenn man die Komplexität der Wirklichkeit und ihre Begleitphänomene wie Nicht-Linearität, Emergenz, Autopoiesis, etc. wirklich ernst nimmt (vgl. DIKAU 2006), können empirische Naturwissenschaften wie die Geomorphologie nie die gleiche Vorhersagekraft wie die theoretische Physik erreichen. KERSTING (2012: 58) argumentiert, dass hierin genau der Grund zu suchen sei, warum die empirischen Naturwissenschaften sich dem empirisch-experimentellen Erproben ihrer Hypothesen zunehmend durch dessen rechnergestützte Modellierung unter beherrschbaren Umweltbedingungen versuchen zu entziehen. Es sind genau diese Art von Empirismen, die versuchen, das „Kontingente oder Nicht-Abgeleitete aus unserer Erfahrung möglichst zu eliminieren“ (HAMPE 2006: 102). Demnach ist es gerade die auch nicht-sozialen Systemen eigene Komplexität, Offenheit, Nicht-Linearität, chaosmäßige Beschaffenheit und Unberechenbarkeit, die auch in den Naturwissenschaften die Ableitung von Naturgesetzen175 letztlich unmöglich macht – außer man hypostasiert das Modell zur Realität und geht damit in die Falle der Korrespondenztheorie und des Einsichtsideals. Unter diesen Bedingungen muss man sich jedoch auch davon verabschieden, dass ein kumulatives Wissens- (und Wissenschafts-) Konzept möglich ist. Dies birgt wiederum Konsequenzen für die Art und Weise, wie Modelle modellierte Einzelprozesse zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen versuchen. Eine epigenetische Wirkung und in diesem Sinne lineare und deterministische Integration einzelner Faktoren in ein Gesamtmodell ist dann nicht mehr sinnvoll möglich. Was bereits für die Naturwissenschaften ausgeführt wurde, ist im Bereich der Sozialwissenschaften fast schon evident. Die Idee der Existenz sozialwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten aus dem Positivismus (vgl. HOLDEN 2005: 40) muss der Pragmatismus aufgrund seiner Betonung von Kontingenz und Kontextabhängigkeit entschieden zurückweisen (BARNES 2008a: 1547), nimmt man die Idee der abduktiven Hypothesenbildung mit der ihr innewohnenden kontextgebundenen Handlungsfreiheit und damit -offenheit ernst. Soziale Regularitäten können unter diesen Umständen nicht analog zu theoretisch-physikalischen Gesetzen gedacht werden, sondern sind schlicht dem Umstand zu verdanken, dass

175 Die qua Definition unter allen denkbaren Umständen gültig sein müssten und sich damit jeder Kontextualität und Kontingenz entziehen würden.

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

sich menschliches Handeln an vergangenen Erfahrungen, Konventionen und Regeln orientiert (aber nicht orientieren muss) (VISKOVAIOFF 2004: 291). Gibt man jedoch den sehr weit reichenden Geltungsanspruch quantitativer Verfahren und ihre ontologische Fundierung auf, reduziert sich auch die Kritik an quantitativen Verfahren auf ein handhabbares Maß. Es spricht aus pragmatischer Perspektive nämlich überhaupt nichts dagegen, sie weiter zu verwenden – ist man sich ihrer Grenzen und blinden Flecke bewusst. Unter diesen Umständen können auch reduktionistische Modelle oder Menschenbilder, wie der Homo Oeconomicus, Erkenntnisse ermöglichen, die unsere Möglichkeiten, die Welt zu verstehen und erfolgreich mit ihr zu transagieren, bereichern (HEPPLE 2008: 1537). Quantitative Forschung sucht dann jedoch nicht mehr nach letzten Antworten, sondern trägt dazu bei, dass wir mit der Welt besser zurechtkommen. Ihre Ergebnisse bilden wie alle anderen Ergebnisse unserer Forschungsprozesse nicht das Ende, sondern lediglich einen temporären Zwischenstand unserer Erkenntnissuche ab, der wiederum selbst zum Ausgangspunkt neuer Fragen, Such- und Interpretationsprozesse werden kann. Hiervon ausgehend entpuppt sich jedoch der vermeintlich grundsätzliche Unterschied zwischen dem Vorgehen von Natur- und Geisteswissenschaften als Chimäre (RORTY 2003: 376ff). Der Pragmatismus ist aus dieser Perspektive für quantitative und naturwissenschaftliche Verfahren durchaus offen. Er nimmt unsere Ausgesetztheit der Welt gegenüber ernst, verwahrt sich aber davor, dass wir, nur weil wir mit quantitativen und naturwissenschaftlichen Verfahren arbeiten wollen und die Rolle von Materialität jenseits aller Semiotik ernst nehmen, vermeintlich in eine naiv positivistische oder realistische Ontologie zurückfallen müssten, wie der deutsche Neopragmatist Michael Hampe verdeutlicht: „Nur wenn wir der Welt zugestehen, dass sie auf uns wirkt und nicht nur von uns interpretiert wird, und wenn wir uns zugestehen, dass wir in der Welt wirken und sie nicht nur deuten, können wir und unsere Welt wirklich sein“ (HAMPE 2006: 121).

Der Pragmatismus steht einer Methodentriangulation (FLICK 2000) im Sinne eines undogmatischen und engagierten methodischen Pluralismus wissenschaftlicher Methoden deshalb nicht nur offen gegenüber, sondern er fordert sie geradezu heraus (HEPPLE 2008: 1537). Anstatt den unfruchtbaren Streit zwischen „Quantis“ und „Qualis“ zu befeuern, spricht er sich für ein entschiedenes Sowohl-als-auch aus. Es geht, wie KERSTING (2012: 62) treffend formuliert daher um einen „Übergang von der Einfalt zur Vielfalt, von der Orthodoxie zur Heterodoxie, vom Entwederoder-Denken zum Sowohl-als-auch-Denken. (…) Der einzige Vorwurf, der formuliert werden kann, richtet sich also nicht gegen den Reduktionismus als wissenschaftlichen Ansatz, sondern gegen WissenschaftlerInnen, die ihr Denken auf einen wissenschaftlichen Ansatz reduzieren. Der Vorwurf richtet sich gegen GeographInnen, die Integration fordern, es aber nicht wagen, aus ihren Denkkategorien auszubrechen, gegen GeographInnen, die Integration im Singular denken und die Suche nach der Möglichkeit von Integration auf die Suche nach der großen Einheitstheorie reduzieren. Integration erfolgt nicht mit der Reduktion von Widersprüchlichkeit, sondern im Umgang mit Widersprüchlichkeit. Integration erfolgt im Geiste eines Konstruktivisten, der sich mal traut ‚Körner zu zählen‘, oder im Geiste eines Realisten, der es wagt die historisch-kulturelle Einbettung seines Denkens zu hinterfragen.“

3.4. Rezeption des Pragmatismus in der Philosophie

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Der Pragmatismus ist damit geeignet, die Fesseln fundamentalistischer Philosophien und Wissenschaftstheorien abzuschütteln (HEPPLE 2008: 1533). Die Methodologie, die der Pragmatismus vertritt, ist aber weder ein einfaches noch ein bequemes Konzept. Es bietet keine einfachen Anleitungen, sondern fordert einen engagierten Pluralismus an Stelle dogmatischer Setzungen – einen Pluralismus, der dafür die Möglichkeit der Entwicklung einer wahrhaft transdisziplinären Perspektive in sich trägt. Und eine transdisziplinäre Perspektive, wie sie für integrative Projekte in der Geographie und für die Mensch-Umwelt-Forschung so wichtig wäre. Ihr Preis ist es, sich von vermeintlich absoluten Gewissheiten und Fundamenten der Wissenschaft zu verabschieden, Verantwortung für die gewählten Perspektiven und Methoden zu übernehmen und sich für diese zu rechtfertigen: „The fear of chaos, the longing for a world in which one need not to make fundamental decisions but can always count on advice, has made rationalists act light frightened children. ‘What shall we do?’, ‘How shall we choose?’, they cry when presented with a set of alternatives assuming that the choice is not their own, but must be decided by standards that are (a) explicit and (b) not themselves subjected to a choice. Relativism, however, brings choice into everything – hence the aversion. (…) The questions ‘What shall we do?, How shall we proceed? What rules shall we adopt? What standards are there to guide us?’ however are answered by saying: ‘You are grown up now, children, and so you have to find your own way’“ (FEYERABEND 1977: 16, 19).

Die mit der Übernahme einer pragmatischen Perspektive mögliche methodische Vielfalt und die engagierte Konfrontation unterschiedlicher Annäherungsweisen an die Welt können dabei fruchtbare neue Fragen anregen, die dazu ermuntern, neugierig zu bleiben und sich immer wieder experimentell auf die Suche nach alternativen und nützlichen Erklärungsmöglichkeiten für eine sich beständig wandelnde Welt zu machen. 3.4. REZEPTION DES PRAGMATISMUS IN DER PHILOSOPHIE Der klassische Pragmatismus übte zu Beginn des 20. Jhd. vor allem in Amerika einen enorm starken Einfluss auf die Debatten in der Philosophie und den Sozialwissenschaften aus (BERNSTEIN 1992: 815). Während insbesondere Deweys umfangreiches Werk in den USA weite Beachtung fand und speziell in den Erziehungswissenschaften und der Didaktik176 auf fruchtbaren Boden fiel, mag es zunächst erstaunen, dass seine Rezeption, wie auch die der anderen klassischen Pragmatisten, im deutschsprachigen Raum außerhalb eines engen didaktischen Rahmens bis heute als „marginal“ bezeichnet werden muss (NEUBERT 2004a: 27). 176 Die weit verbreitete Idee einer teilnehmerzentrierten und aktivierenden Lehre sowie die Verankerung von Lernprozessen in konkreten praktischen Problemzusammenhängen, mit anderen Worten die Übertragung des Prinzips des experimentellen Erprobens, des Machens eigener Erfahrungen, wie sie im projektorientierten Unterricht eingesetzt werden, lassen sich direkt auf Deweys zutiefst humanistische und demokratische Reformpädagogik (DEWEY 1949) zurückführen. Dewey wurde damit zu einem „Klassiker der Pädagogik“ (SUHR 2005: 88).

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

3.4.1. Der Niedergang des klassischen Pragmatismus Schon ab den 1930er Jahren verlor der Pragmatismus jedoch auch in den USA an Boden und wurde vom Siegeszug des Logischen Positivismus und der Analytischen Philosophie in den Hintergrund gedrängt. Der Logische Positivismus fand im Zuge des intellektuellen Exodus von Philosophen wie Reichenbach, Carnap, Tarski, Feigl und Hempel aus Deutschland und Österreich während des Dritten Reiches überaus schnell Verbreitung in den USA (BARNES 2008a: 1547; BERNSTEIN 1992: 815f). Die logische Finesse, das umfangreiche naturwissenschaftliche Wissen sowie eine enorm hohe argumentatorische und rhetorische Präzision seiner Hauptvertreter strahlten eine fast schon magische Faszination aus und gewannen viele Anhänger. Aus Perspektive des Logischen Positivismus fehlte dem Pragmatismus schlicht die Klarheit und Präzision, die erst mit dem Logischen Positivismus voll zur Entfaltung gekommen sei. Aus dieser sich weit verbreitenden Einschätzung entstand der bis heute kursierende Mythos, der Pragmatismus sei lediglich ein Vorgänger, eine Vorstufe des logischen Positivismus, besonders was dessen Verifikationsfähigkeitskriterium angeht (BERNSTEIN 1992: 816). Diese Mythenbildung ist umso erstaunlicher, als der Logische Positivismus doch fast alles beinhaltet, wofür der Pragmatismus gerade nicht steht. Der Positivismus ist fundamentalistisch, erkennt nur die Existenz des Positiven, des Beobachtbaren an, ist besessen von Sicherheit, Notwendigkeit und Universalität, glaubt an eine einzige Wahrheit und einzige Methode sowie Gesetze des Sozialen und besitzt einen unerschütterlichen Glauben an die absolute Realität (BARNES 2008a: 1547; HOLDEN 2005: 40). Parallel zum Siegeszug des logischen Positivismus fand die Analytische Philosophie immer mehr Anhänger. Moore, Russell und später Wittgenstein wurden zu den Vorbildern einer ganzen Generation von Philosophen in den USA, während pragmatische Positionen zunehmend marginalisiert wurden. Diese Entwicklung ging so weit, bis nach dem Zweiten Weltkrieg zum Zeitpunkt des Todes Deweys 1952, wie Bernstein es drastisch formulierte (BERNSTEIN 1992: 816), der klassische Pragmatismus quasi dem „Mülleimer der Geschichte“ [Übersetzung CS] übergeben worden war. In Deutschland wurde der Pragmatismus lange Zeit in seiner Bedeutung unterschätzt (vgl. NAGL 1998: 11), was erklärt, warum seine Rezeption in der philosophischen Debatte, aber auch als erkenntnistheoretische Grundlage für wissenschaftliche Arbeiten anderer Disziplinen, äußerst bescheiden geblieben ist. Dabei hatte es „der Pragmatismus von Anbeginn schwer, in seiner Breite und Tiefe rezipiert zu werden, weil die Rezeption schon von Anfang an von Missverständnissen durchsetzt war“ (HICKMAN et al. 2004: VII). STIKKERS (2004) zeigt in seinem Artikel eindrücklich auf, inwiefern gerade die rationalistischen Züge bei Peirce sowie der instrumentalistische Kern des Pragmatismus Sinn verkürzend von der

3.4. Rezeption des Pragmatismus in der Philosophie

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deutschen Philosophie missdeutet177 wurden, wozu sicherlich auch die lange Zeit unbefriedigende Übersetzungslage erheblich beigetragen hat (vgl. NEUBERT 2004a: 26). Nicht vergessen werden darf aber auch, dass im deutschsprachigen Raum zur Zeit der Entstehung des Pragmatismus positivistische Positionen und später der Kritische Rationalismus sowie die Analytische Philosophie nahezu hegemoniale Positionen eingenommen haben, die es anderen philosophischen Richtungen schwer machten, sich zu etablieren. Als diese sich dann ab den 1930er Jahren auch in den USA durchsetzten, verlor der klassische Pragmatismus auch noch seine Basis, von der er aus zum Sprung über den großen Teich hätte ansetzen können. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlug dem Pragmatismus besonders viel Widerstand von Seiten Schelers, Heideggers, Horkheimers und Adornos entgegen (vgl. (NAGL 1998: 10f). Vertreter der Kritischen Theorie wie SCHELER (1977) und HORKHEIMER (1967) warfen ihm einen einseitigen und eindimensionalen Utilitarismus sowie eine Nähe zum Logischen Positivismus vor. Sie erlagen damit nicht nur einer grundsätzlichen Missinterpretation des klassischen Pragmatismus, sondern reproduzierten letztendlich nur den in den USA entstandenen Mythos über die Nähe von Pragmatismus und Positivismus (JOAS 1992: 99). Die distanzierte Haltung der kritischen Theorie wurde erst durch HABERMAS und APEL aufgebrochen, die sich später dem Pragmatismus annäherten (ebd.: 11).178 Der häufigste Vorwurf an den Pragmatismus, sowohl in den USA als auch in Europa, richtet sich gegen seinen Wahrheitsbegriff (vgl. LANGBEHN 2006: 184). Die inhaltliche Kritik war jedoch meist sehr beschränkt. Stattdessen wurde vor allem normative Kritik geäußert. Besonders Schillers und Deweys Wahrheitstheorien mussten einen „wahren Sturm von Verachtung und Spott über sich ergehen lassen“ (vgl. JAMES 1994: 35; JAMES 2006: 100). Sie wurden nicht selten in die Nähe eines hemmungslosen, dem antiken Sophismus nahestehenden Relativismus gerückt (MAILLOUX 1995). Der pragmatische Wahrheitsbegriff sei, so z. B. RUSSEL (1999: 825) in seiner Kritik in Bezug auf das subjektivistische Wahrheitskonzept von James, „eine Abart des subjektivistischen Wahnsinns“ bzw. in der Aufgabe der absoluten Wahrheit bei Dewey ein Zeichen menschlicher Anmaßung und „Machtrausches“, das gleichsam die Büchse der Pandora öffne (ebd.: 835).179

177 So hat Habermas Peirce in der Vergangenheit eine positivistische Position bzgl. seiner Konsenstheorie vorgeworfen, diese Kritik aber später revidiert (vgl. MARTENS 2002: 8). 178 HABERMAS revidiert bspw. seinen früheren Positivismusvorwurf gegen Peirce in »Erkenntnis und Interesse« (1973), in dem er Peirce eine „sinnkritische Auffassung der Realität in Verbindung mit einem konsenstheoretischen (und keineswegs instrumentalistischen) Wahrheitsbegriff“ bescheinigt (ebd.: 407). HABERMAS entwickelt später mit seiner sehr einflussreichen »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981) einen Ansatz, der deutliche Parallelen zum Pragmatismus aufweist und Anleihen bei Mead macht. In ihm geht Habermas davon aus, dass sich Individuen in kommunikativen Handeln verständigungsorientiert über ihre gemeinsame Handlungssituation austauschen, um ihre Handlungen koordinieren zu können. 179 Diese Kritik ignoriert natürlich, dass der Pragmatismus gerade zu einer demütigen Haltung in Bezug auf unsere Erkenntnisfähigkeit auffordert, indem er das Einsichtsideal und die Korrespondenztheorie ablehnt. Der Vorwurf eines menschlichen Machtrausches und menschlicher

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

So kritisiert auch BURCKHART (2004) aus einer transzendentalpragmatischen Perspektive in Anlehnung an Apel, dass sowohl Pragmatismus wie auch Konstruktivismus erkenntnistheoretische Letztbegründungen vermissen lassen. Und auch NORRIS (1997) positioniert sich wie viele andere entschieden gegen alle antirealistischen Theorien inklusive des Neopragmatismus. Das übernächste Kapitel wird ausführlich die Gründe diskutieren, warum diese grundsätzlichen Kritiken in der vorliegenden Arbeit nicht geteilt werden, ja sogar am Kern der gesellschaftlichen Verantwortung des Pragmatismus vorbei gehen. 3.4.2. Der Erfolg des Neopragmatismus und die Renaissance des Pragmatismus Auch wenn der Pragmatismus insofern erheblich unter Druck geriet, war er dennoch nie gänzlich tot. Bereits in den 1960er Jahren zeigten sich die ersten Impulse zur Herausbildung eines Neopragmatismus, unter dessen Label heute recht verschiedene Ansätze und Richtungen pragmatischen Denkens subsumiert werden. Richard Bernstein publizierte Mitte der 1960er Jahre kurz hintereinander zwei Monographien über Peirce (BERNSTEIN 1965) und Dewey (BERNSTEIN 1966), denen eine intensivere Rezeption jedoch zunächst versagt blieb. Erst mit Richard RORTYS »Der Spiegel der Natur« (2003), dessen Original 1979 unter dem Titel »Philosophy and the Mirror of Nature« erschien, gelang pragmatischem Denken erneut der Durchbruch. Rortys Werk war ein so extremer Erfolg, dass die Druckerei die immense Nachfrage mit immer weiteren Neuauflagen kaum bedienen konnte (BARNES 2008a: 1548). Das überwältigende und anhaltende Interesse an Rortys Kritik der Abbildtheorie und der szientistisch argumentierenden Naturwissenschaften sowie der Linguistic Turn in den Sozialwissenschaften in den 1990er Jahren führten dazu, dass der Pragmatismus in den letzten 15 bis 20 Jahren wieder an Attraktivität gewonnen hat (NAGL 1998: 7; NEUBERT 2004a: 23; SANDBOTHE 2000b: 7). SANDBOTHE spricht sogar von einer »Renaissance des Pragmatismus« (2000a), insbesondere in der Version Deweys, und BERNSTEIN ruft gar einen »Pragmatic Turn« (2010) aus. Während das neu erwachende Interesse an der Philosophie von Peirce vor dem Hintergrund der sprachphilosophischen Wende in den Sozialwissenschaften recht eingängig ist, erklärt sich die Renaissance von Deweys Werk sicherlich zu einem großen Teil durch seine herausgehobene Position in der Philosophie Rortys, der Dewey zusammen mit Wittgenstein und Heidegger zu den drei wichtigsten Philosophen des 20. Jhd. zählt (RORTY 2003: 15). Auch wenn Rorty sicherlich der prominenteste (und umstrittenste) Vertreter des Neopragmatismus ist, wäre es jedoch ein Fehler, diesen auf seinen sichtbarsten Kopf zu reduzieren, denn die neopragmatische Strömung ist bei genauerer Betrachtung noch wesentlich heterogener, als es bereits der klassische Pragmatismus war. Dadurch, dass sie in zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen hineingewirkt hat, Anmaßung müsste sich daher eigentlich eher gegen die Erkenntnistheorien richten, die eine Erreichung oder Annäherung an die absolute Erkenntnis für möglich halten.

3.4. Rezeption des Pragmatismus in der Philosophie

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finden sich ihre Vertreter zudem nicht mehr nur in der Philosophie und Soziologie wieder. Zu den prominentesten Vertretern des Neopragmatismus gehören sicherlich neben den bereits genannten Richard Bernstein und Richard Rorty, Hillary Putnam, Richard Shusterman, Stanley Cavell, Cornell West, Nancy Fraser, Edward Craig, Stanley Fish und Hans Joas. Das Feld der neopragmatischen Philosophie ist insofern bei Weitem zu umfangreich geworden, um es hier im Einzelnen mit Hinblick auf seine Potenziale für die Geographie diskutieren zu können. Glücklicherweise ist dies für die in diesem Buch von mir verfolgten Zwecke aber auch gar nicht nötig. Alle auch (neo-)pragmatischen Positionen teilen zum einen, mit unterschiedlichen Akzentuierungen, eine antifundamentalistische Grundhaltung, einen entschiedenen Fallibilismus, die Überzeugung der sozialen Verfasstheit des Ichs und der Notwendigkeit einer kritischen Gemeinschaft von Forschenden, das Bewusstsein und die Sensibilität für radikale Kontingenz und Zufall sowie eine pluralistische Grundüberzeugung (HEPPLE 2008: 1531). Beginnend im klassischen Pragmatismus haben sich Pragmatisten so schon Jahrzehnte vor den ersten Poststrukturalisten von Meta-Narrativen, objektiven Wahrheiten und Einheitstheorien abund sich Perspektiven zugewendet, die ihrer Meinung nach einen höheren Gebrauchswert für die Menschen bereit halten, um mit der chaotischen und ungeordneten Wirklichkeit ihres Alltags zurechtzukommen (WOOD & SMITH 2008: 1527). Wahrheit und Objektivität werden deshalb auch von Neopragmatisten durchweg nicht mehr metaphysisch, sondern lebenspraktisch gedeutet (HORSTMANN 1994: 8). Zum anderen pausen sich die klassischen Wurzeln des Pragmatismus auch bei seinen heutigen Vertretern und ihren Standpunkten deutlich sichtbar durch, was einen zumindest groben Überblick erleichtert. Dementsprechend lassen sich im Neopragmatismus sehr vereinfachend zwei Lager unterscheiden (NEUBERT 2004b: 25): Das eine Lager (u. a. Putnam, Bernstein, Craig, Joas) schließt an den Grundbegriff der Erfahrung von James und Dewey an, während das andere Lager (u. a. Rorty und Fish) die Bedeutung von Sprache in den Vordergrund rückt. Der Disput zwischen den beiden Strömungen thematisiert dabei die Frage, „inwieweit wir bei unseren Beschreibungen von Erfahrungswirklichkeiten immer schon aus der Sicht (und in den Grenzen) einer bestimmten Sprache bzw. eines bestimmten Sprachspiels argumentieren – und damit von einer kulturell spezifischen Position aus sprechen- und inwieweit wir andererseits in der Lage sind, im Experimentieren mit unserer Welt den Kontakt zu einer Erfahrungswirklichkeit außerhalb der Sprache herzustellen, in der sich so etwas wie »Natur« in kultureller Brechung manifestiert“ (NEUBERT 2004b: 26).

Der Neopragmatismus ist daher niemals nur philosophiehistorisch motiviert, sondern immer in einen „postanalytischen Aneignungskontext“ eingebettet (NAGL 1998: 143). Hieraus wird auch verständlich, warum gegenwärtig so viele Literatur- und Sprachwissenschaftler unter den führenden Vertretern der postanalytischen und neopragmatischen Philosophie zu finden sind. Insbesondere in Deutschland wird das Bild des Pragmatismus durch seine neopragmatische Form bei Rorty und Putnam sowie durch den Disput der beiden Lager, für die sie stehen, geprägt. Die Dominanz von Rorty und Putnam im deutschen Diskurs darf

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass sich das Potenzial des Pragmatismus keineswegs in deren Debatte erschöpft. Da der klassische Pragmatismus jedoch in Deutschland nie in der gleichen Breite wie in den USA rezipiert wurde, „leidet die Diskussion um das Zukunftspotenzial des Pragmatismus im deutschsprachigen Raum an der unkritischen Orientierung an den von Rorty und Putnam vorgegebenen Topoi. (…) So wundert es nicht, dass insbesondere die Werke von William James und John Dewey nach wie vor überwiegend von Spezialisten rezipiert werden“ (KERTSCHER 2008: 60).

Dabei geraten jedoch insbesondere die Begriffe der Praxis und der Erfahrung, die bei James und Dewey eine zentrale Rolle einnehmen, aus dem Blick der aktuellen Debatte (KERTSCHER 2008: 61). Aus Perspektive der Geographie ist dies umso bedauerlicher, als gerade das pragmatische Verständnis von Praxis und Erfahrung fruchtbare Impulse für die Adressierung des Schnittstellenproblems in der Disziplin liefern könnte. Ich werde hierauf im Laufe der Arbeit noch eingehender zurückkommen. Die Debatte zwischen den sprach- und den erfahrungsorientierten Strömungen im Neopragmatismus erscheint mir zudem unter Rückgriff auf die Semiotik von Peirce in weiten Teilen ein Scheinproblem zu beleuchten. Peirce war es, der gezeigt hat, dass unser Sprachgebrauch immer in einen praktischen Erfahrungskontext eingebunden ist. Hier eine neue (künstliche?) Trennung zwischen Sprachpragmatik von einem erfahrungs- und praxisorientierten Pragmatismus konstruieren zu wollen, scheint mir hinter den Diskussionsstand des klassischen Pragmatismus zurückzufallen. Anstatt von grundsätzlich unterschiedlichen sollte man hier m. E. eher von komplementär ergänzenden und sich sogar gegenseitig überschneidenden Positionen ausgehen. Ich habe deshalb ganz bewusst die Entscheidung getroffen, mich hier auf die Arbeiten der klassischen Pragmatisten zu konzentrieren. Dabei steht der Erfahrungs- und Praxisbegriff insbesondere John Deweys im Vordergrund, dessen Potenzial für die Geographie aufzuzeigen und anzudiskutieren zentraler Fokus der vorliegenden Arbeit ist. Neopragmatische Positionen werden daher im Folgenden nur thematisiert, soweit sie für die Schärfung und die Interpretation der Positionen Deweys für den Entwurf eines antifundamentalistischen und nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Verständnisses von Nutzen sind – dies betrifft insbesondere die Theorie Kreativen Handelns von Hans Joas. Darüber hinaus die Positionen und das Werk weiterer Neopragmatisten im Einzelnen rekonstruieren und für die Geographie fruchtbar machen zu wollen, würde den handhabbaren Umfang diese Buches bei Weitem sprengen. Die hier erfolgte Eingrenzung darf insofern mitnichten als eine inhaltliche Be- (oder gar Ent-) wertung anderer pragmatischer Positionen missdeutet werden, sondern ist ausschließlich der notwendigen Schwerpunktsetzung einer jeden Forschungsarbeit geschuldet. Dass das Spektrum pragmatischer Positionen und Arbeiten mittlerweile äußerst umfangreich ist, deutet zugleich bereits an, dass der Pragmatismus noch enorme unerschlossene Potenziale für eine Inwertsetzung in der Geographie bereithält, die zu verfolgen eine spannende und lohnenswerte Aufgabe für die Zukunft ist.

3.5. Mehr als Relativismus? Zur gesellschaftspolitischen Haltung des Pragmatismus

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3.5. MEHR ALS RELATIVISMUS? ZUR GESELLSCHAFTSPOLITISCHEN HALTUNG DES PRAGMATISMUS180 Die normative Kritik am Pragmatismus und der gegen ihn erhobene Vorwurf des „Irrationalismus“ und „Relativismus“ kann in Anlehnung an RORTY (2003: 23) im Wesentlichen als ein Verteidigungsreflex der von Dewey attackierten erkenntnistheoretischen Positionen angesehen werden. Der in einer ähnlichen Weise einer „dadaistischen Erkenntnistheorie“ (ZEYER 2005: 277) bezichtigte FEYERABEND (1977: 16) stellt in diesem Sinne fest, dass derart heftige Reaktionen dem Glauben vieler Menschen entspringen, dass eine relativistische Wahrheits- und Rationalitätskonzeption die Tür zu Chaos und Willkürlichkeit öffne. Eine wahrheitsrelativistische Position einzunehmen bedeutet im Sinne des Pragmatismus jedoch nicht, dass es beliebig ist, was als wahr behauptet werden kann. Die im Erkenntnisprozess hervorgebrachten Wahrheiten müssen sich schließlich bewährt haben. Sie sind insofern zwar kontingent, aber eben auch pfadabhängig sowie kontextgebunden und daher alles andere als beliebig. Weil aber gleichzeitig der Pragmatismus dafür sensibilisiert, dass alle Wahrheitsbehauptungen Konsequenzen haben, erfordert er zugleich in letzter Konsequenz eine nicht zu unterschätzende normative Positionierung des forschenden Wissenschaftlers. Der Pragmatismus beschränkt sich nämlich eben nicht darauf, die Welt zu dekonstruieren, sondern will vielmehr die praktischen, immer auch in die Zukunft weisenden Konsequenzen einer spezifischen Konstruktionsweise unseres Denkens und unserer Welt aufzeigen. NAGL (2008: 192) spricht deshalb insbesondere bei DEWEY und RORTY von einem „ethisch-politischen Zukunftsbezug“, der aber auch in jeder anderen Form des Pragmatismus wirksam bleibe. Für die Entscheidung für oder wider eine bestimmte Wahrheit und ihre Konsequenzen müssen Wissenschaftler dann jedoch auch die Verantwortung übernehmen. RORTY kommt daher 1982 in »Consequences of Pragmatism« zu dem Schluss, dass James und Dewey „am Ende jener Straße warten würden, die Foucault und die französischen Poststrukturalisten zurzeit bereisen“ (RORTY 1982: XVIII).181

180 Das vorliegende Kapitel baut auf Ausführungen auf, die ich zusammen mit Klaus Geiselhart (GEISELHART & STEINER 2012) in unserem gemeinsamen Artikel über Pragmatismus und Geographie veröffentlicht habe und entwickelt diese weiter. Es greift dafür sowohl sinngemäß wie auch wörtlich auf die dortigen Ausführungen zurück, die im Sinne der besseren Lesbarkeit nicht detailliert und im Einzelnen als Eigenzitat kenntlich gemacht werden. 181 Dabei sollten Dewey, Foucault und die französischen Poststrukturalisten keinesfalls in einem scharfen Gegensatz zueinander gelesen werden. Dewey und Foucault teilen bspw. nicht nur eine anti-dualistische Grundposition, sondern auch die Ablehnung jeder Art von Unterdrückung und Ausbeutung, staatlicher Repression und Dominanz sowie ihren Optimismus, dass Veränderungen zum Besseren möglich sind. Dewey und Derrida sind sich einig in ihrer Ablehnung der Suche nach Gewissheit und Dewey und Latour teilen ähnliche Vorstellungen bzgl. des Verhältnisses von Mensch und Natur, der dualistischen Strukturierung unserer Lebenswelt, Wissen als sozialem Produkt und der Verortung von Handlung und Bedeutung im Verhältnis zwischen Menschen und/oder Dingen (CUTCHIN 2008: 1564).

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

Dass der Wahrheitsrelativismus dennoch auf so heftige Ablehnung stößt, führen SARTRE (2006: 1070f) wie auch FEYERABEND (1977: 19) zurück auf das Bedürfnis nach festen Bezugspunkten, auf die Angst vor der eigenen Freiheit, der Kontingenz von Regeln und Normen und der Notwendigkeit sich selbst für ein Projekt zu entscheiden und es auch verantworten zu müssen. Freiheit und die mit ihr verbundene Pflicht Verantwortung zu übernehmen, macht vielen Menschen einschließlich vielen Wissenschaftlern, so scheint es zumindest, Angst. Wie dargelegt gibt es aber gute Gründe, Wissenschaft als ein zutiefst ethisches und damit auch politisches Projekt zu verstehen, in dem Wissenschaftler dazu beitragen, Orientierungspunkte und plurale Perspektiven für Gesellschaften zur Verfügung zu stellen. Sich bewusst zu sein, dass nicht nur die eigene Perspektive einen berechtigten Anspruch auf Geltung erheben kann, ist gerade für die Funktionsfähigkeit demokratischer Systeme eine unabdingbare Voraussetzung. Der Versuch, sich dieser Verantwortung mit dem Verweis auf „letzte Dinge“ und „absolute Wahrheiten“ zu entziehen, geht deshalb aus pragmatischer Perspektive an der Aufgabe und der Verantwortung der Wissenschaft weit vorbei. Mit dieser Art zu denken rückt der Pragmatismus die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle wissenschaftlichen Arbeitens ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Für Dewey bspw. steht außer Frage, dass die aus dem Pragmatismus zwangsläufig resultierende Offenheit für die Anerkennung pluraler und konkurrierender Wirklichkeitsentwürfe und Wahrheiten nur in einem demokratischen Gemeinwesen dauerhaft lebbar ist, da autoritäre und totalitäre Regime kritische Wirklichkeitsentwürfe bekämpfen müssen, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Die Absage des Pragmatismus an jede Art von Dogmen, Ideologien und Denkverbote, die mit absoluten Wahrheitsansprüchen von Behauptungen immer einhergehen, mündet deshalb für Dewey in eine klare, normativ-demokratische Positionierung. Pragmatische Wissenschaft zu betreiben erfordert daher, politisch Stellung zu beziehen. RORTY (1992) löst diese These vom politiktheoretischen Hintergrund und verlangt von Wissenschaft, sie solle Grausamkeit vermeiden. Als Grausamkeit bezeichnet er alle Versuche andere Meinungen und Überzeugungen als unbegründet abzutun, ohne anzuerkennen, dass sie für die Menschen, die diese Überzeugungen haben, einen erlebten Wahrheitswert besitzen. Es geht daher im Pragmatismus nicht darum aus besserem Wissen heraus Recht zu haben, sondern die persönlichen Wahrheitswerte verschiedener Weltinterpretationen anzuerkennen und sich auf Grundlage einer Diskussion über Folgen, Nutzen und moralische Vertretbarkeit der jeweiligen Wahrheiten zu einigen, welche Wahrheiten im weiteren gesellschaftlichen Kontext anerkannt werden sollten. In diesem Sinne ist der Pragmatismus eine Philosophie der Verständigung. Der Pragmatismus fordert deshalb begründete Entscheidungen für oder gegen einen Wissensbestand an Stelle dogmatischer Setzungen bzw. intellektualistisch begründeter Nichtpositionierung, wie sie vielen Dekonstruktivisten eigen ist. Aus der antidogmatischen und antifundamentalistischen Perspektive des Pragmatismus folgt daher für Dewey der Auftrag, sich im Sinne einer Weiterentwicklung der Demokratie zu engagieren. Er schließt seinem Denken eine Pädagogik an, die von dem Gedanken geleitet ist, Menschen zu demokratiefähigen Individuen zu erzie-

3.5. Mehr als Relativismus? Zur gesellschaftspolitischen Haltung des Pragmatismus

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hen. Dewey wurde damit als Leitfigur der Reformpädagogik sehr einflussreich (DEWEY 1949, 2002b). Aus der Betonung der praktischen Konsequenzen von Wahrheitsbehauptungen ergibt sich auch die kritische Rolle, die der Pragmatismus im gesellschaftlichen Kontext einnehmen kann, indem er auffordert, bestehende und insbesondere auch hegemonial wirkende Wissensbestände auf ihre praktischen Auswirkungen hin zu untersuchen. JAMES (1994b: 22) betont, dass sich der Pragmatismus nicht nur abwenden will von allen Arten metaphysischer Gewissheiten, AprioriBegründungen und absoluten Wahrheitsansprüchen, sondern sich stattdessen der Wirklichkeit, dem Handeln und der Macht zuwendet. Peirce, James, Dewey und Mead haben dabei, wie JOAS (1992: 7) ausgeführt hat – trotz aller Unterschiede untereinander – in einer bis heute kaum zur Kenntnis genommenen Radikalität die Konsequenzen aus dem Ende metaphysischer Gewissheiten gezogen, ohne neue geschichtsphilosophische oder rationalitätstheoretische Gewissheiten an die Stelle der alten metaphysischen Gewissheiten zu setzen. Vielmehr galt es für sie zu klären, wie es möglich ist, ohne derartige Gewissheiten weiterhin Wissenschaft zu betreiben, ein individuell sinnvolles Leben zu führen, und wie Demokratie unter diesen Bedingungen zu denken ist. Während in diesem Anspruch eine Nähe von Pragmatismus und kritischer Theorie zu sehen ist beschreibt HETZEL (2008: 55) den Unterschied zwischen den beiden folgendermaßen: „Während Horkheimer und Adorno die Pathologien der Moderne als Ausdruck einer instrumentellen Rationalität interpretieren, deutet sie Dewey als Ausdruck eines Demokratiedefizits, eines Mangels an Partizipationsmöglichkeiten.“

In Anlehnung an Deweys bleibt dabei noch zu ergänzen, dass letztere schlussendlich nichts anderes als ein Defizit in der Anerkennung unterschiedlicher Lebenswirklichkeiten darstellen. Ebenso wie die kritische Wissenschaft verschließt der Pragmatismus daher nicht die Augen vor gesellschaftlichen Umständen, sondern nimmt sie besonders in den Blick und thematisiert immer wieder auch gesellschaftliche Machtfragen (ALLEN 2008). Er hat insofern erhebliche Gemeinsamkeiten mit der Philosophie von Habermas (ABOULAFIA et al. 2002), aber auch mit der Adornos und Gramscis (CUTCHIN 2008: 1564). Ein Dissens zwischen Pragmatismus und Kritischer Theorie besteht jedoch in der pragmatischen Ablehnung des Historischen Materialismus und in unterschiedlichen Vorstellungen, wie Konflikte gelöst oder Missständen abgeholfen werden kann. Während die kritische Theorie hier den Königsweg in der Bekämpfung hegemonialer Strukturen ausmacht, plädieren Pragmatisten für eine offene Verhandlung divergierender und widerstreitender Ansprüche und machen sich stark für ein Empowerment bisher wenige beachteter Meinungen und Positionen.182

182 Hierin ergeben sich denn auch Kontaktpunkte von Pragmatismus und Feminismus, soweit Letzterer nicht zu einer rein antihegemonialen Haltung neigt (HAMINGTON & BARDWELLJONES 2012).

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3. Pragmatismus als Schlüssel eines nichtdualistischen Mensch-Umwelt-Konzeptes

Die Sensibilität für die Pluralität, die jeweils unterschiedlich legitimierte Behauptbarkeit und Fallibilität konkurrierender Erklärungsansätze und Wirklichkeitsentwürfe, geht insofern mit der Ablehnung jeder perspektivischen oder ideologischen Verengung unseres Blicks auf die Welt einher. Die Vielfalt existierender Perspektiven ist für den Pragmatismus auch kein Defizit (wie die Kritik an relativistischen Positionen suggeriert), sondern stellt vielmehr eine seiner wesentlichen Stärken dar, denn es ist in letzter Konsequenz gerade die Vielfalt an Wahrheitsansprüchen, die immer wieder neue Fragen provoziert. Sie regt geradezu dazu an, neugierig und offenzubleiben und komplementäre Erklärungsansätze für den Wandel und die Dynamik unserer Lebenswelt zu suchen. Wie insbesondere DEWEY (2004) zeigt, bietet deshalb der Abschied von dogmatisch vertretenen Wahrheiten die beste Voraussetzung für eine fruchtbare und dynamische wissenschaftliche Debatte über praktisch sinnvolle Erklärungen und Interpretationen unserer Lebenswelt, die auf der Basis von Dogmen und absoluten Wahrheitsansprüchen nicht möglich ist. Der Pragmatismus ist insofern eine ethisch geprägte Philosophie des Engagements und der Verantwortung in und mit der Welt, deren Grundcharakterzug darin besteht, die Möglichkeit zu ergründen, dass es auch andere und uns möglicherweise bislang unbekannte, gerechtfertigte, nützliche und brauchbare Wege gibt, mit der Welt zu interagieren, in der wir leben.

4. POTENZIALE UND KONSEQUENZEN DES PRAGMATISMUS FÜR DIE GEOGRAPHISCHE MENSCH-UMWELT-FORSCHUNG Ausgehend von der Rekonstruktion der Grundzüge des Pragmatismus im letzten Hauptkapitel soll nun der Blick auf die Potenziale und Konsequenzen des Pragmatismus für eine geographische Mensch-Umwelt-Forschung und für die Adressierung des Schnittstellenproblems zwischen Human- und Physischer Geographie gelenkt werden. Dazu werde ich zunächst beleuchten, wie der Pragmatismus bisher in der Geographie und der Mensch-Umwelt-Forschung rezipiert wurde, welche Ansätze der Mensch-Umwelt-Forschung innerhalb und außerhalb der Geographie in Verwendung sind und wie sich die verschiedenen meta-theoretischen Konzeptionalisierungen des Verhältnisses von Menschen zu ihrer Umwelt in den Raumkonzepten der Geographie spiegeln. Anhand der Ergebnisse dieses ersten Unterkapitels soll später im Vergleich verdeutlicht werden, inwieweit sich eine pragmatische Perspektive auf Raum und Umwelt von den in der Geographie vertretenen abhebt und welche neuen Anknüpfungspunkte und Impulse sie für eine transdisziplinäre, geographische Mensch-Umwelt-Forschung leisten kann. Auf dem Weg hierzu wird im nächsten Unterkapitel diskutiert, wie sich das Handlungsverständnis in pragmatischer Perspektive hin zu einer Theorie kreativen Handelns verändert und welche Auswirkungen dies für die Konzeption von Raum und das Verständnis des Verhältnisses von Menschen zu ihrer Umwelt mit sich bringt. Im dritten großen Unterkapitel werde ich noch einmal ausführlicher rekonstruieren, wie Umwelt und Natur sowie das Verhältnis von Mensch und Umwelt in pragmatischer Hinsicht zu denken sind. Dabei werden insbesondere die Dewey‘schen Begriffe der Erfahrung und der Transaktion in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt, mit denen es möglich erscheint, die körperliche, emotionale, soziale und geistige Dimension unseres Lebens als vermittelte Einheit neu zu denken und das daraus resultierende holistische Verständnis von Mensch-Umwelt-Beziehungen den existierenden Perspektiven gegenüberzustellen. Dies hat wiederum erhebliche Auswirkungen darauf, wie Raum in pragmatischer Hinsicht zu denken ist, da sich die Konzeption von Mensch-Umwelt-Verhältnissen vor allem durch das jeweilige erkenntnistheoretische Raumkonzept und die Frage der Möglichkeit der Interaktion und Beziehung von Individuum und Gesellschaft mit seiner bzw. ihrer Umwelt bestimmt. Das so entwickelte Theorieangebot zur Lösung des Schnittstellenproblems in der Geographie weist weit über eine rein erkenntnistheoretische Dimension hinaus. Es löst nicht nur die erkenntnistheoretischen Dualismen in der Mensch-Umwelt-Forschung auf, sondern erhöht dadurch auch deren innere Konsistenz und Widerspruchsfreiheit und zeigt neue Wege auf, Materialität in humangeographi-

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

scher Forschung neu zu denken. Wie sich zeigen wird, ist es zudem auf Basis der pragmatischen Idee eines engagierten Pluralismus möglich, eine wirklich transdisziplinäre Perspektive für die Mensch-Umwelt-Forschung zu entwerfen, die zu vielfältigen neuen und fruchtbaren Fragestellungen anregt. 4.1. PRAGMATISMUS UND MENSCH-UMWELT-FORSCHUNG IN DER GEOGRAPHIE Das nachfolgende Kapitel ist in drei Abschnitte gegliedert, mit denen die Ausgangsposition einer pragmatischen Beschäftigung mit Mensch-Umwelt-Beziehungen umrissen werden soll. Im ersten Unterkapitel wird dazu die recht übersichtliche Rezeptionsgeschichte des Pragmatismus in der Geographie rekonstruiert. Anschließend werde ich versuchen, die existierenden Ansätze der MenschUmwelt-Forschung innerhalb und außerhalb der Geographie meta-theoretisch zu verorten und so einen Überblick über grundlegende Perspektiven in der MenschUmwelt-Forschung zu vermitteln. Da sich die Konzeption von Mensch-UmweltVerhältnissen vor allem durch das jeweilige erkenntnistheoretische Raumkonzept und die Frage der Möglichkeit der Interaktion und Beziehung von Individuum und Gesellschaft mit seiner bzw. ihrer Umwelt bestimmt, folgt im letzten Unterkapitel des Abschnitts noch eine Rekonstruktion der verschiedenen Raumkonzepte in der Geographie anhand deren Ergebnissen später im Vergleich verdeutlicht werden kann, inwieweit sich eine pragmatische Perspektive auf Raum und Umwelt von den in der Geographie vertretenen abhebt. Das nachfolgende Kapitel dient insofern vor allem dazu, eine Kontrastfolie zu entwerfen, die es ermöglicht, mögliche Anschlusspunkte und existierende Lücken für eine pragmatisch inspirierte geographische Mensch-Umwelt-Forschung zu identifizieren. Erst auf ihrer Grundlage wird es anschließend möglich sein zu beurteilen, inwieweit eine pragmatische Perspektive auf Mensch-Umwelt-Beziehungen neue und fruchtbare Impulse für eine transdisziplinäre, geographische Mensch-Umwelt-Forschung liefern kann. 4.1.1. Rezeption des Pragmatismus in der Geographie Im Vergleich zur Philosophie und Didaktik fällt die Rezeption des Pragmatismus in der Geographie deutlich fragmentarischer aus.183 Lange Zeit besteht zwischen Geographie und Pragmatismus sogar praktisch gar kein Kontakt (CUTCHIN

183 Das vorliegende Kapitel baut auf Ausführungen auf, die ich zusammen mit Klaus Geiselhart (GEISELHART & STEINER 2012) in unserem gemeinsamen Artikel über Pragmatismus und Geographie veröffentlicht habe, und entwickelt diese weiter. Es greift dafür sinngemäß wie auch wörtlich auf die dortigen Ausführungen zurück, die im Sinne der besseren Lesbarkeit im Folgenden nicht detailliert und im Einzelnen als Eigenzitat kenntlich gemacht werden.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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2008: 1557). Die weit verbreitete Weigerung unter Geographen, sich mit erkenntnistheoretischen Fragen zu beschäftigen, hat hierzu sicherlich erheblich beigetragen (vgl. ARNREITER & WEICHHART 1998: 76f). Die lange Zeit vorherrschende, fachdisziplinäre Hegemonie (kritisch-) realistischer und positivistischer geographischer Forschungsansätze dürfte hierfür ebenfalls maßgeblich mitverantwortlich sein. Die meisten (nicht nur deutschsprachigen) Geographen durchliefen aufgrund der Fachgeschichte unserer Disziplin eine realistische bzw. positivistische Sozialisation. Da diese in der Disziplin lange Zeit kaum kritisch infrage gestellt wurde, konnten insbesondere realistische Perspektiven in der Geographie über eine lange Zeit hinweg eine mehr oder weniger hegemoniale Position einnehmen (vgl. REUBER & PFAFFENBACH 2005: 32). Die Intensität der Rezeption des Pragmatismus im englischsprachigen Raum unterscheidet sich interessanterweise kaum von dessen deutschsprachigem Pendant. Das Themenfeld bleibt lange Zeit inhaltlich stark zersplittert. Dies verwundert allerdings auch kaum, denn pragmatische Ansätze werden nur von sehr wenigen Autoren überhaupt aufgegriffen (STEINER 2009b: 32). Im Angesicht dessen, dass es sich beim Pragmatismus um eine in den USA entstandene Philosophie handelt, ist die bis in die jüngste Zeit nur äußerst vereinzelt (WOOD & SMITH 2008: 1527) stattfindende Rezeption des Pragmatismus in der angelsächsischen Geographie jedoch mehr als erstaunlich (BARNES 2008a: 1543; HEPPLE 2008: 1530). Dies ist umso bemerkenswerter, als in den letzten Jahren die ‚Non-Representational-Theory‘ (NRT) in der angelsächsischen Geographie auf breites Interesse gestoßen ist, die zahlreiche Bezüge zum Pragmatismus aufweist (WOOD & SMITH 2008: 1527; JONES 2008).184 Sinnbildlich für den geringen Einfluss des Pragmatismus auf die angelsächsische Geographie ist auch, dass ein (knapper) Beitrag zum Stichwort Pragmatismus erst in die dritte Auflage des »Dictionary of Human Geography« aufgenommen wurde (GREGORY 1994). Wie BARNES (2006: 633) feststellt, können die sporadischen Veröffentlichungen mit pragmatischem Hintergrund in der englischsprachigen Geographie noch bis Anfang des neuen Jahrtausends weder beanspruchen einen konsistenten noch einen konzertierten Anlauf unternommen zu haben, den Pragmatismus für die Geographie fruchtbar zu machen. In seinem Buch »Philosophy and Human Geography« stellt JOHNSTON (1983: 134) zwar schon Anfang der 1980er Jahre fest, dass das positivistische Paradigma zunehmend unter Druck stehe, da sich seine Prämissen als nicht haltbar erwiesen. Einen Ausblick auf eine Pragmatische Geographie entwickelt er damit aber noch nicht. Die neuere Rezeptionsgeschichte des Pragmatismus beginnt jedoch fast zeitgleich mit FRAZIER (1981), der in dem ersten vorliegenden Aufsatz zu Pragmatismus und Geographie verschiedene pragmatische Ansätze gegeneinander abgrenzt. Kurz darauf referiert die »Social Geography« von JACKSON & SMITH (1984) zwar auf Konzepte Meads, stellt aber weiterreichende Bezüge zum philosophischen Pragmatismus noch nicht her. Im gleichen Jahr 184 Hierauf wird in Kapitel 4.1.2.5. noch näher eingegangen.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

skizziert SMITH (1984) in einem Zeitschriftenartikel erstmals Elemente einer pragmatisch inspirierten, „Humanistic Geography“. Der humanistische Ansatz, den Jackson und Smith vorschlagen, plädiert für die Verfolgung ethnographischer Methoden und teilnehmender Beobachtung sowie eine Hinwendung zur Handlungstheorie. In einer Zeit, in der gerade im angelsächsischen Kontext auf der einen Seite quantitative Verfahren und auf der anderen Seite marxistische Ansätze die Disziplinlandschaft dominieren, verwundert es jedoch nicht, dass diesem Plädoyer ein breites Echo versagt blieb (HEPPLE 2008: 1535). Erst ab Anfang der 1990er Jahre nimmt die Anzahl geographischer Arbeiten vor einem pragmatischen Hintergrund zu. Eine wachsende Gruppe von Publikationen findet sich im Bereich der geographischen Umweltforschung. WESCOAT (1992) arbeitet diesbezüglich den Einfluss von Dewey auf die Arbeiten von White über natürliche Ressourcen und Naturgefahren heraus. PROCTOR (1998b) unternimmt zum einen den Versuch, pragmatische und sozial-konstruktivistische Ansätze zusammenzuführen und so ein neues Verständnis von Natur in der Geographie anzuregen und macht dies zum anderen zum Ausgangspunkt eines pragmatisch inspirierten Umgangs mit den Paradoxien, die sich in Bezug auf umweltethische Frage in der Geographie oftmals stellen (PROCTOR 1998a). HINCHLIFFE (2000) widmet sich dem Themenkomplex experimentellen Wissenserwerbs im Outdoor-Management-Training, während HOBSON (2006) die Fruchtbarkeit des Pragmatismus für die Untersuchung umweltverantwortlichen Handelns im Rahmen einer ethisch orientierten Nachhaltigkeitsforschung betont.185 Auch die historische Verbindung von Physischer Geographie und Geowissenschaften mit dem Pragmatismus findet nun erste Beachtung. BAKER (1996) und HEPPLE (2008) arbeiten die gemeinsamen Wurzeln von Pragmatismus, Geologie und Geomorphologie heraus. Sie belegen eine enge Verbindung und eine wechselseitige Inspiration der Arbeiten von Grove Karl Gilbert, Thomas Chrowder Chamberlin, Nathaniel Shaler und William David Morris auf der einen und der Philosophie von Charles Sanders Peirce sowie William James auf der anderen Seite. Peirce‘ gewichtiger Einfluss auf die frühe Geologie und Geomorphologie zeigt sich besonders in deren Methodologie, die zunächst fast vollständig pragmatisch durchdrungen war. Hierbei griffen die frühen Geologen und Geomorphologen vor allem Peirce‘ Idee der abduktiven Hypothesenbildung und deren experimentellen Überprüfung in ihren Arbeiten auf und differenzierten sie für ihre Disziplinen aus. Davis‘ Arbeiten entstanden unter dem starken Einfluss des Peirce‘schen Pragmatismus in Harvard. Chamberlins Methode der multiplen Arbeitshypothesen in der Geomorphologie und Geologie war stark von James‘ Pluralismus und Deweys Instrumentalismus geprägt (HEPPLE 2008: 1538). RHOADS (1999) beleuchtet vor diesem Hintergrund das Potenzial des Pragmatismus für die Physische Geographie am Ende des 20. Jhd. und hinterfragt davon ausgehend die 185 Die Potenziale des Pragmatismus für die geographische Umwelt-Forschung werden in Kapitel 4.3. noch eingehender diskutiert.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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Trennung von Physischer und Humangeographie. Er plädiert für eine seiner Meinung nach überfällige (wenn auch von ihm selbst nicht geleistete) Entwicklung einer integrativen Perspektive. In der Gesundheitsgeographie arbeitet CUTCHIN (1999, 2002) die Potenziale des Pragmatismus für die Geographie heraus. HEPPLE (1995) debattiert die Potenziale vor allem eines Pragmatismus Putnam'scher Prägung für eine empirische, normative Politische Geographie anhand interregionaler Migrationsbewegungen in den USA, während BASSET (1999) sich kritisch aus verschiedenen philosophischen Perspektiven mit unterschiedlichen Konzeptionen von Fortschritt in der Humangeographie auseinandersetzt und MITCHELL (2001) aus einer Dewey‘schen Perspektive den Zusammenhang von Bildung und Demokratie am Beispiel einer von kanadischen Immigranten geführten Debatte über den Sinn von Bildung untersucht. Auf den fruchtbarsten Boden fällt der Pragmatismus in der Wirtschaftsgeographie. SUNLEY (1996) betont mit Bezug auf Bernstein und Putnam die Kontextabhängigkeit und insofern die einmalige Besonderheit wirtschaftsgeographischer Prozesse und greift vor diesem Hintergrund die Idee der Suche nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten an. BARNES wendet sich bereits früh aus pragmatischer Perspektive gegen das utilitaristische Menschenbild in der Ökonomie (1988), diskutiert die Rolle von Metaphern für die Theoriebildung (1991) und argumentiert (1996), wie auch GIBSON-GRAHAM (1996), auf der Basis von Rorty gegen den vorherrschenden Essenzialismus in der Wirtschaftsgeographie. Nach einer Phase relativer Ruhe entfalten pragmatische Ansätze in der Geographie erst wieder in der zweiten Hälfte der Nullerjahre verstärkt an Aktivität. In der Stadtgeographie legt BRIDGE (2005) eine pragmatische Interpretation aktueller urbaner Entwicklungsprozesse vor. Einen wesentlichen Schub erhalten pragmatische Perspektiven vor allem durch ein von WOOD & SMITH (2008) moderiertes Themenheft von GEOFORUM zu Pragmatismus und Geographie im Jahr 2008, in dem viele der bereits genannten Autoren zusammen mit einigen anderen in einer konzertierten Aktion auf das Potenzial des Pragmatismus hinweisen und für ihn werben. HEPPLE (2008) arbeitet dort einen Überblick über das Zusammenspiel von Pragmatismus und gegenwärtiger angelsächsischer Geographie sowie deren historischer Entwicklung aus und diskutiert die Implikationen des Pragmatismus für die geographische Forschung. BARNES (2008a) stellt in Kurzform die verschiedenen Spielarten des klassischen und des Neopragmatismus sowie deren Protagonisten vor und erörtert ihre Relevanz und Konsequenzen für die Humangeographie am Beispiel des Place-Konzeptes. Einem ähnlichen Projekt stellt sich auch CUTCHIN (2008), der in seinem Aufsatz einen Beitrag dazu leisten möchte, Deweys Philosophie für die Geographie zu erschließen und dazu eine auf Dewey aufbauende Rekonzeptualisierung von „Place“ diskutiert. Mit den Potenzialen lokal kontingenter Umsetzungspraktiken politischer Reformagenden der Zentralregierung in England beschäftigen sich COAFFEE & HEADLAM (2008) und plädieren für einen anpassungsfähigen „pragmatic localism“. Die Verbindung von Kritischer Theorie, Habermas‘ »Theorie kommunikativen Handelns« und der Auflösung der Geist-Körper-Dichotomie bei Dewey, nimmt BRIDGE (2005, 2008) am

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Beispiel performativer städtischer Räume in den Blick, während ALLEN (2008) sich darum bemüht, Macht, Pragmatismus und Raum zusammenzudenken. Verbindungen zwischen Ansätzen der Non-Representational-Theory und der ActorNetwork-Theory (ANT) auf der einen und dem Pragmatismus auf der anderen Seite herauszuarbeiten und das Potenzial ihrer Integration für die Geographie herauszuarbeiten, macht sich JONES (2008) zur Aufgabe. In der Folge wird es etwas ruhiger um das Thema Pragmatismus und Geographie. BARNES & SHEPPARD (2010) legen rund zwei Jahre nach dem Themenheft in GEOFORUM ein pragmatisch inspiriertes Plädoyer für einen engagierten Pluralismus in der Wirtschaftsgeographie vor und VALLANCE (2011) greift in seiner wirtschaftsgeographischen Verknüpfung von Wissen und Praxis pragmatische Ansätze auf. BARNETT (2012) wiederum wendet sich jüngst dem Themenkomplex von Geographie, Macht und Ethik zu und greift damit einen bereits in den 1990er Jahren angelegten Diskussionsstrang vor einem veränderten Hintergrund wieder auf. Betrachtet man diese Zusammenstellung pragmatisch inspirierter Arbeiten in der angelsächsischen Geographie, so ist es wichtig zu betonen, dass diese keineswegs eine selektive Auswahl jüngerer Veröffentlichungen darstellt, sondern deren Umfang mehr oder weniger vollständig abdecken dürfte.186 Auffallend bezüglich der Rezeption des Pragmatismus in der angelsächsischen Geographie ist zudem, dass der weit überwiegende Teil der Arbeiten auf Neopragmatisten Bezug nimmt, während Bezugnahmen auf den klassischen Pragmatismus die Ausnahme bleiben. Auch fünf Jahre nach dem Erscheinen seines Beitrages in dem genannten Themenheft von GEOFORUM ist daher HEPPLE (2008: 1536) uneingeschränkt zuzustimmen, dass es überwältigend offensichtlich ist, wie unterentwickelt die Verbindung von Geographie und Pragmatismus noch immer ist. Ist die Rezeptionsgeschichte des Pragmatismus in der englischsprachigen Geographie recht übersichtlich, so ist eine Rezeption pragmatischer Ansätze in der deutschsprachigen Geographie noch deutlich fragmentarischer. Zaghafte Ansätze zeigen sich vor allem im Zuge des Linguistic Turns, der ein zunehmendes Interesse an semiotischen Theorien und damit vor allem an Peirce nach sich zieht. Bereits HARD (1973: 111) hatte mit Verweis auf Peirce und dessen Konzept der abduktiven Hypothesenbildung darauf aufmerksam gemacht, dass eine Trennung von Meta-Theorie und Forschungspraxis eine künstliche Unterscheidung ist, die sich im Erkenntnisprozess aufhebt. Interessanterweise arbeitet er in der Folge jedoch nicht eingehender mit pragmatischen Ansätzen. Mit einem sprachanalytischen Fokus nähern sich WALTHER & HUGENTOBLER (1987) einem Raumplanungsprojekt in der Schweiz und verweist dazu an zwei Stellen auf Dewey, diskutiert die pragmatischen Grundlagen seiner Sprachanalyse jedoch nicht weitergehend. Einen klar pragmatischen Fokus präsentiert WALTHER im gleichen Jahr (1987), in dem er sich in einem Artikel den Peirce‘schen Gedan-

186 Zumindest sind mir auch nach eingehender Beschäftigung mit dem Pragmatismus keine weiteren Arbeiten bekanntgeworden. Nach bestem Wissen und Gewissen gehe ich daher davon aus, dass die vorgestellten Arbeiten relativ vollständig den Forschungsstand abdecken.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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ken der Abduktion zu Nutze macht. Darauf aufbauend arbeitet er den analytischen und erklärenden Gehalt von Situationsbeschreibungen heraus, umso auf pragmatischer Grundlage beschreibenden Ansätzen in der Geographie ein neues Basiskonzept zur Verfügung zu stellen. Auch später werden Walthers Arbeiten zwar durch pragmatische Gedanken inspiriert, wie z. B. in einem Artikel über die Akkumulation von Wissen über naturnahe Landschaften (1992), in dem er kurz auf William James verweist, allerdings spielt der Pragmatismus keine erkennbare forschungsstrukturierende Rolle in seinen weiteren Arbeiten. Erst Peter Weichhart bemüht sich zu Beginn der 1990er Jahre umfassender um eine Etablierung pragmatischer Ideen in der deutschsprachigen Geographie. Er greift die Rezeption des Transaktionskonzeptes von Dewey und Bentley in der Umweltpsychologie auf und diskutiert erstmals in mehreren Publikationen deren Potenziale für die Humanökologie (1990, 1991, 1993c), setzt sich aber nicht mit dem originärem Entwurf des Transaktionskonzeptes durch Dewey und Bentley auseinander. Dennoch gelangt Weichhart damals zu dem Schluss, dass das Transaktionskonzept für „die qualitative Weiterentwicklung der Humanökologie (…) aller Voraussicht nach sehr nützlich wäre“ (WEICHHART 1991: 234). Seine Absicht mit seinen damaligen Publikationen dazu anzuregen, das Transaktionskonzept für die humanökologische Forschung fruchtbar zu machen bleibt jedoch – eventuell auch wegen der sehr starken Referenz zur Umweltpsychologie – innerhalb der Geographie eine breitere Resonanz versagt. Es dauert danach über zehn Jahre bis ZIERHOFER (2002) schließlich sprachpragmatische Zugänge im Kontext des Liniguistic Turns aufgreift. Er referiert hierzu einerseits auf die Sprechakttheorien von Austin und Searle, andererseits auf die Theorie Kommunikativen Handelns bei Habermas und den Neopragmatismus Rortys, schließt seine Überlegungen jedoch nicht an den klassischen Pragmatismus an. Nachhaltig bemüht dem Pragmatismus in Deutschland zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen, haben sich erst in jüngster Zeit einige jüngere deutsche Geographen. Klaus GEISELHART (2009) hat sich so auf empirischer Ebene intensiv mit der Stigmatisierung und Diskriminierung von HIV-Infizierten in Botswana beschäftigt und dazu die Entwicklung von HIV- und AIDS-bezogenen Identitäten in den Blick genommen. Auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene zeigt er (2010) kurz darauf die Konsequenzen unterschiedlicher erkenntnistheoretischer Ansätze und die Fruchtbarkeit des Pragmatismus für die geographische Risikoforschung auf. Meine eigenen Publikationen zielen darauf ab, einen Beitrag zur Etablierung des Pragmatismus in der deutschsprachigen Wirtschaftsgeographie zu leisten und dafür seine Fruchtbarkeit in der empirischen Forschung anhand der Untersuchung von krisenbedingten, organisationalen Lernprozessen in Tourismusunternehmen aufzuzeigen (STEINER 2007, 2009b). Auf theoretisch-konzeptioneller Ebene habe ich mich in der Vergangenheit hierbei bemüht zu zeigen, dass der Pragmatismus das Potenzial besitzt, das Schnittstellenproblem in der Geographie zu überwinden, indem er den Dualismus von Materie und Sinn als ein philosophisches Scheinproblem entlarvt (STEINER 2009a). Damit wird es auch möglich, physisch-geographische und humangeographische Forschung und Theoriebildung als zwei Seiten der gleichen weltwerkundenden Forschungspraxis zu verstehen. Im Nachgang

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

einer Tagung über Pragmatismus und Geographie in Erlangen, die im November 2009 stattfand und die ich zusammen mit Klaus Geiselhart organisiert habe, ist ein Themenheft über Pragmatismus und Geographie in den »Berichten zur deutschen Landeskunde«187 entstanden, das sich bemüht hat, die Diskussion über die Fruchtbarmachung des Pragmatismus für die deutschsprachige Geographie soweit wie möglich zusammenzuführen. Die Einführung in das Themenheft sowie in Grundzüge des Pragmatismus leistet hierbei der Beitrag von Klaus Geiselhart und mir (GEISELHART & STEINER 2012), in dem wir in Kürze die Wahrheitstheorie und das Primat der Praxis im Pragmatismus anreißen und dessen Konsequenzen für die gesellschaftspolitische Haltung des Pragmatismus diskutieren. Mein eigener Beitrag (STEINER 2012) stellt die Konsequenzen des Pragmatismus für eine Neuausrichtung handlungsorientierter Ansätze in der Geographie in den Mittelpunkt. In Anlehnung an die Handlungstheorie Deweys und Joas' stellt er die dem Handlungsprozess innewohnende Kreativität und den damit verbundenen Wandel in den Mittelpunkt, die in vielen etablierten Handlungstheorien nur unzureichend konzeptionalisiert werden können. Anstatt Wandel als Resultat unintendierter Handlungsfolgen zu interpretieren, betrachtet das pragmatische Konzept kreativen Handelns Wandel als Ergebnis situierter Erfindung, die in abduktiv entworfenen Problemlösungsprozessen im Rahmen der reflexiven und performativen Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Wirklichkeit entsteht. Klaus GEISELHART (2012) betont demgegenüber nicht so sehr die Intentionalität des Handelns, sondern die sozial-psychologischen und pädagogischen Aspekte des Erfahrungsbegriffes bei Dewey. Dabei treten Fragen nach Bewusstheit, Affekten und unbewussten Reaktionsschemata in den Vordergrund der Betrachtungen. Kreativität erhält daher nicht nur im Rahmen von intendierten Problemlösungsprozessen, sondern auch als überspringender Funke, erhellender Gedankenblitz oder als eine aus der Not geborene Verzweiflungstat eine zentrale Stellung für die Erklärung der Irrwege und Sackgassen, die Individuen während ihrer Erfahrungsprozesse beschreiten und liefert auf diesem Weg einen wichtigen Beitrag für das Verständnis sozialer Performativität. Die historisch engen Verbindungen zwischen Pragmatismus und Geomorphologie thematisiert Philippe KERSTING (2012). Wie er zeigen kann, setzten sich in den Geowissenschaften trotz dieser engen Verbindungen nicht pragmatisch inspirierte, historisch-abduktive Ansätze, sondern reduktionistisch-mechanistische Vorgehensweisen hegemonial durch, von denen aus jedoch integrative Arbeiten mit im weitesten Sinne hermeneutisch arbeitenden Humangeographen nur schwer möglich sind. Kersting plädiert daher für einen Übergang von erkenntnistheoretischer Orthodoxie zur Heterodoxie, in dem sich reduktionistische und historischabduktive Verfahren fruchtbar ergänzen könnten. Stefan BERWING (2012) stellt in seinem Artikel die Semiotik Saussures der von Peirce gegenüber und zeigt, dass Saussures Semiotik im Gegensatz zu der Peirce’ mit den jüngst in der deutschsprachigen Kulturgeographie intensiv disku187 Siehe Heft 1/2012.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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tierten diskurstheoretischen Ansätzen im Anschluss an Foucault inkommensurabel ist. Wie Berwing deutlich machen kann, bietet Peirce’ triadisches Zeichensystem zudem den Vorteil, dass es auf nicht-essenzialisierende Weise auf außersprachliche Erfahrung Bezug nehmen kann, was es ermöglicht, die Diskurstheorie mittels einer Peirce‘schen Semiotik an die traditionell empirische Stärke der Geographie anzuschließen. Wie sich pragmatisch inspirierte empirische Forschung methodologisch gestalten lässt, diskutieren GEISELHART, PARK, SCHLATTER & ORLOWSKI (2012) in ihrem Beitrag über die Grounded Theory als einen aus dem Pragmatismus entstandenen Forschungsstil. Mit einem breiten Überblick über die Methodik und zahlreichen Verweisen, wo konkrete Tipps zur weiteren praktischen Umsetzung zu finden sind, machen sie deutlich, dass das Potenzial des Pragmatismus für die Geographie sich nicht nur auf meta-theoretische Fragen und Theoriebildung beschränkt, sondern sich auch methodisch ganz konkret und fruchtbar in empirische geographische Forschung umsetzen lässt. Obwohl Veröffentlichungen mit einem pragmatischen Hintergrund in den letzten Jahren insofern zugenommen haben, ist der Pragmatismus nach wie vor eine eher randständige, erkenntnistheoretische Perspektive in der Geographie geblieben. Eine planmäßige, konsistente und strukturierte Erschließung der Potenziale des Pragmatismus für die geographische Forschung steht bislang noch aus. 4.1.2. Mensch-Umwelt-Forschung und die Suche nach der Dritten Säule in der Geographie Mensch-Umwelt-Beziehungen sind seit langer Zeit Gegenstand der (geographischen) Forschung. Wurden diese in der Geographie zunächst mehr oder weniger naturdeterministisch gedacht, wie in den Ansätzen der Hettner‘schen Länderkunde, veränderten sich die Vorstellung und die Themen der Auseinandersetzung mit Mensch-Umwelt-Beziehungen im Laufe der Jahrzehnte erheblich. Das Landschaftskonzept als Nukleus der Geographie geriet konzeptionell immer mehr in die Defensive. An seine Stelle trat eine Diskussion um Raum und damit um Raumkonzepte, die sich immer mehr entlang der Bruchlinien und Subdisziplinen der Disziplin ausdifferenzierten. In der Frage nach adäquaten und teils auch „richtigen“ und „falschen“ Raumkonzepten188 drückte sich zu einem nicht unerheblichen Teil auch die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt aus. Die Frage nach den Raumkonzepten, die sich für Arbeiten in der Geographie eignen können, war umso schwerer zu beantworten, als sich in der Debatte über den Raum als zentralen Gegenstand der Geographie eine langsam tiefer werdende Spaltung der Disziplin spiegelte. Die Kieler Wende 1969 hinterließ gleich in dop188 Vgl. hierzu bspw. die teils recht erbittert geführte Debatte zwischen Hard und Blotevogel über die Erforschung von Wahrnehmungsräumen.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

pelter Hinsicht Spuren in der Disziplin. Sie führte dazu, dass sich zunehmend mehr Physische Geographen und zunächst auch die meisten jungen Humangeographen an positivistischen und kritisch-realistischen Wissenschaftskonzepten orientierten (vgl. POHL 2005: 43). Da aber in der nach Kiel zunehmend dominierenden kritisch-rationalistischen Perspektive keine unmittelbare Verbindung zwischen der physisch-materiellen und der sozialen Welt mehr herstellbar war,189 drifteten beide Teildisziplinen trotz einer gemeinsamen Wissenschaftstheorie immer weiter auseinander, letztendlich davon ausgehend, dass ihre Gegenstände so grundsätzlich verschieden seien, dass eine Bearbeitung der gleichen Themen praktisch ausgeschlossen sei. Auch wenn die sich damit abzeichnende Spaltung der Geographie zumindest aus wissenschaftspolitischen Gründen wohl kaum die Billigung der Mehrheit in der geographischen Gemeinschaft fand, schien man sich mehrheitlich einig darüber zu sein, dass die ontologische Spaltung der Disziplin letztlich etwas Unausweichliches habe, man eben sowohl Natur- wie auch Sozialwissenschaft sei. Physische Geographie und Humangeographie entwickelten sich so über Jahrzehnte immer weiter auseinander. Während die einen sich immer stärker an der Fach- und Forschungskultur der Naturwissenschaften orientierten, öffneten sich die anderen vor allem dem kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorieangebot ihrer Nachbarwissenschaften (WARDENGA & WEICHHART 2006: 12). Die dualistische Teilung der Welt hatte so letztlich auch eine innerdisziplinäre Spaltung der Geographie zur Folge. Physische und Humangeographen sprachen mithin irgendwann kaum mehr eine gemeinsame Sprache – es fehlte ihnen „sowohl an theoretisch-methodologischen als auch an empirischen Ansätzen“ (MÜLLER-MAHN & WARDENGA 2005b: 5), die den integrativen Charakter und die damit potenziell vorhandene Stärke des Faches in einer neuen Schnittstellenforschung auf zeitgemäße Weise neu formulieren. Die kritisch-rationalistisch motivierte Spaltung der Disziplin musste sich folgerichtig noch weiter verschärfen, als sich immer mehr Humangeographen im Zuge des Cultural Turns von quantifizierenden Perspektiven und Modellierungen ab- und sich im weitesten Sinne konstruktivistischen Ansätzen zuwendeten (vgl. WARDENGA 2005: 16). Da konstruktivistische Perspektiven mit positivistischen und (kritisch-) realistischen Erkenntnistheorien inkommensurabel sind und folglich auch zu ganz anderen fachtheoretischen Perspektiven hinleiten, vertiefte sich der sowieso schon bestehende Graben im Zuge des Cultural Turn nun noch mehr. Das Schweigen zwischen den beiden Teildisziplinen sowie die mangelnde Bereitschaft der anderen Seite überhaupt zuzuhören, ist daher zu einem nicht geringen Teil auch der Inkommensurabilität ihrer erkenntnistheoretischen Perspektiven geschuldet (FELGENTREFF & GLADE 2008: XVII; PROCTOR 1998a: 239). Fast zeitgleich mit der quantitativen Wende in der Geographie, gewannen Fragen der Beziehungen von Mensch und Umwelt jedoch vor dem Hintergrund des gesellschaftspolitischen Bedeutungsgewinns der ökologischen Frage seit den 1970er Jahren erheblich an Aufmerksamkeit. Gerade die Diskussion um die Fra189 Vgl. Kapitel 2.3.1.2.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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ge, wie die ökologische Nachhaltigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems hergestellt und damit langfristig die Balance zwischen Ökologie und Ökonomie gewahrt werden konnte, drängte mit dem ersten Bericht des Clubs of Rome über die Grenzen des Wachstums (MEADOWS et al. 1972) immer mehr in das öffentliche Bewusstsein. In der wissenschaftlichen Debatte schloss sich hieran vor allem eine Diskussion an, die von einem grundsätzlich problematischen Verhältnis von Mensch und Umwelt ausging und die den Ruf nach integrativen Forschungsansätzen in der Mensch-Umwelt-Forschung immer lauter werden ließ (bspw. HIRSCH 1995; MITTELSTRAß 1992). Die Problematisierung von Mensch-Umwelt-Beziehungen fiel mit ihren sehr konkreten Fragestellungen gerade in der Geographie auf fruchtbaren Boden und wurde dankend angenommen – unter anderem, weil viele Geographen in der Bearbeitung von Umweltfragestellungen eine Chance sahen, die Einheit der Disziplin zu bewahren. Seitdem hat sich das Theorie- und Forschungsfeld der Mensch-Umwelt-Forschung stark ausdifferenziert. Neben der Geographie haben auch andere Disziplinen Mensch-Umwelt-Fragen für sich entdeckt und eigene Zugänge und theoretische Perspektiven entwickelt, die zum Teil wiederum in der Geographie rezipiert werden. Das Angebot an Ansätzen, Modellen und Theorien in der Mensch-Umwelt-Forschung wurde daher in den vergangenen Jahrzehnten immer unübersichtlicher. 4.1.2.1. Von Menschenbildern, Umweltkonzepten und Naturvorstellungen Die zunehmende Unübersichtlichkeit an theoretischen Zugängen in der (geographischen) Mensch-Umwelt-Forschung ist nur zum Teil der fortschreitenden Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes geschuldet. Vielmehr resultiert sie auch aus den sehr grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Differenzen innerhalb des Faches, wird doch in der Frage nach der Erklärung konkreter Mensch-UmweltBeziehungen, wie in fast keiner anderen Frage in der Geographie neben der nach dem Raum, der erkenntnistheoretische Bezug geographischer Forschung sichtbar. Dies erklärt sich daraus, dass die Frage nach dem Verständnis von Mensch-Umwelt-Beziehungen immer auch das Verhältnis des (erkennenden) Menschen zu seiner (Um-) Welt tangiert. Es geht dabei darum, welchen Platz man dem Menschen in der Welt zuweist und der Frage, wie von diesem Platz aus Erkenntnis über diese Welt möglich ist. Letztlich verweist die Frage nach dem Verständnis von Mensch-Umwelt-Beziehungen deshalb immer auch auf die zugrunde gelegten erkenntnistheoretischen Weltbilder und Ontologien zurück. Unübersichtlich wird die Vielzahl an Perspektiven vor diesem Hintergrund vor allem dann, wenn mit ihr auch eine uneinheitliche Verwendung ihrer zentralen Begriffe verbunden ist, sodass verschiedene Ansätze in der Mensch-Umwelt-Forschung unterschiedliche Dinge mit den gleichen Begriffen bezeichnen. Wenn man Mensch-UmweltBeziehungen erforschen will, ist es daher sinnvoll, sich im Sinne einer begrifflichen Präzisierung mit den zugrunde gelegten Menschenbildern und Umweltkonzepten auseinanderzusetzen.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Wendet man sich dazu zunächst einer Bestimmung des Menschen in der geographischen Mensch-Umwelt-Forschung zu, fällt auf, dass die Konsequenzen unterschiedlicher Menschenbilder für die Mensch-Umwelt-Forschung erstaunlicherweise kaum diskutiert werden. Man wendet sich in der Diskussion stärker den Begriffen der Umwelt und des Systems zu, hinter denen scheinbar offensichtlichere Fallstricke vermutet werden, und blendet die konzeptionelle Leerstelle im unterstellten Menschenbild mehrheitlich einfach aus. Das ist deshalb problematisch, da in Europa das menschliche Selbstbild seit der Aufklärung tief greifend geprägt ist von DESCARTES‘ dualistischer Unterscheidung von Geist (res cogitans) und Materie (res extensa)190. Denn dadurch, dass Descartes Geist und Materie trennt, erschafft er erstmals in der Philosophiegeschichte die Idee eines eigenständig existierenden menschlichen Bewusstseins und grenzt es von der Welt ab (RORTY 2003: 159). Was das Mensch-Sein vermeintlich ausmacht, ist dann der Verstand, mit dem wir die Welt betrachten. Dies führt nicht nur zu einem neuen, individualzentrierten Erkenntniskonzept, in dem danach gefragt wird, wie der einzelne Mensch als Erkenntnissubjekt Wissen über die außerhalb von ihm als Objekt gedachte Welt gewinnen kann, sondern auch dazu, dass die Mensch-UmweltForschung sich bis heute mit der Frage beschäftigt, wie sich das Verhältnis von Sinn und Materie bestimmen lässt.191 Die zwei grundlegenden Antwortmöglichkeiten auf diese Frage führen schließlich zur Frontstellung der in der Geographie dominanten Perspektiven von kritischem Realismus und Konstruktivismus. So sehr sich beide Positionen unterscheiden und teils sogar bekämpfen so viel haben Sie aber auch gemeinsam, denn sie erklären Mensch-Umwelt-Verhältnisse nahezu spiegelbildlich in einem dichotomen Subjekt-Objekt-Schema. Während dabei Realisten der Erfahrung (stellvertretend für die Seite der Materie) den Primat im Erkenntnisprozess einräumen, sehen Konstruktivisten ihn aufseiten des Verstandes (stellvertretend für den Geist). Diese empiristische oder rationalistische Denkweise ist allerdings nicht hermetisch geschlossen. Realisten analysieren ihr empirisches Datenmaterial durchaus sehr rationalistisch und gehen dabei stark abstrahierend vor, wie in der Erforschung von Naturgesetzen, und Konstruktivisten können empirisches Material natürlich auch hinsichtlich der in ihm codierten Bedeutungsstrukturen analysieren. Beide Perspektiven sind aber recht radikal: Für die Einen existiert Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt, für die Anderen gibt es ohne erkennendes Subjekt keine Erkenntnis. Für die Einen liegt die Wahrheit in den Dingen, für die Anderen in menschlichen Ideen. Überspitzt könnte man sagen für die Einen ist (fast) alles Natur, woraus sich sämtliche naturdeterministischen, verhaltensbiologischen und neurowissenschaftlichen Erklärungsansätze für menschliches Verhalten ableiten (vgl. bspw. ALEXANDER 2011; EIBL-EIBESFELDT 1997; ROTH 2006; SINGER 2002; WILSON 1983), für die anderen ist alles Kultur – und das gilt dann sogar für die Natur selbst (vgl. bspw. ESCOBAR 1996; KRIEGER & JÄGGI 1997; SIXEL 2003). 190 Vgl. Kapitel 2.2.1. 191 Vgl. Kapitel 2.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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Besonders schön tritt dieser Konflikt in der Debatte um die (neuro-) biologische Determiniertheit – oder eben Nichtdeterminiertheit – menschlichen Handelns an die Oberfläche (KORF 2012). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es so schwer ist, zu gemeinsamen Betrachtungen in der geographischen Mensch-Umwelt-Forschung zu gelangen. Die Schwierigkeit Physisch-Materielles und Sozio-Kulturelles zusammen zu denken ist schlicht das logische Ergebnis der (meist implizit) in Anschlag gebrachten Menschenbilder und Positionierung des Menschen in der Welt. Die dualistische Aufteilung der Welt bei Descartes mündet so in eine metatheoretische Perspektive, in der der Mensch entweder als biologische Maschine oder, wie in der soziologischen Handlungstheorie192, als rationales, kommunizierendes oder soziales Wesen verstanden wird. Er wird so entweder auf seine Körperlichkeit reduziert, oder zum „intelligible[n] Wesen“, dessen Handeln „restlos in Kultur auf[geht]“ (HASSE 2003: 25f). Als lebender, fühlender, die Welt erfahrender und spürender Mensch, also als leibliches Wesen, kommt der Mensch in den hegemonialen Menschenbildern der (Human-)Geographie und Mensch-Umwelt-Forschung deshalb nicht vor, sieht man einmal von eher randständigen phänomenologischen Positionen ab (bspw. FALTER & HASSE 2002). In dieser geschilderten dualistischen Perspektive verwundert es kaum, dass mit Umwelt, gerade in der Mensch-Umwelt-Forschung, praktisch immer ein anthropozentrischer Umweltbegriff gemeint ist, der das „Um-den-Menschen-herumSeiende“ bezeichnet (MEYER-ABICH 1984: 19). Das Subjekt-Objekt-Verständnis von Mensch-Umwelt-Beziehungen wird so auch von Seiten des Umweltverständnisses fortgeschrieben (BRANDT 2000: 43). In einer solchen objektivistischen Perspektive, die schon in der Genesisgeschichte der Bibel angelegt ist, wird Umwelt „zur Verfügungsmasse“ degradiert (MUTSCHLER 2002: 211). Umweltethiker haben deshalb darauf hingewiesen, dass in einem anthropozentrischen Umweltbegriff die ganze „Überheblichkeit und Hybris“ der menschlichen Gesellschaft offenbar werde, für die sich der Wert nicht-menschlicher Teile der Welt vornehmlich durch ihren Wert für den Menschen bestimme (MEYER-ABICH 1984: 19). Einem anthropozentrischen Umweltbegriff entgegen steht eine relationale Perspektive. In ihr hängt die inhaltliche Bedeutung des Umweltbegriffs vom jeweils gewählten Gesichtspunkt der Betrachtung ab. Im Sinne der modernen Ökologie unterscheidet sich so die Bedeutung des Umweltbegriffs einerseits je nach betrachteter Spezies und andererseits danach, ob man einen „Einzelorganismus (Autökologie), eine bestimmte Population (Demökologie) oder ein Kollektiv von Organismen unterschiedlicher Spezies (Synökologie) untersucht“ (WEICHHART 2007: 942). In humanökologischer Perspektive kann so zwischen fünf verschiedenen Umwelten differenziert werden (ebd.): a) Einer nicht artifiziellen, physischen Umwelt, die sich wiederum untergliedern lässt in eine physiologische Umwelt (worunter der Komplex aller direkt wirkenden Außenweltfaktoren und aller direkten Einflüsse der betref192 Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel 4.2.1.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

fenden Organismen auf die Außenwelt verstanden wird) und eine ökologische Umwelt (verstanden als Komplex direkter und konkret greifbarer indirekter Lebewesen-Umwelt-Beziehungen); b) Die gebaute Umwelt der Artefakte. Sie ist ebenfalls physisch-materiell verfasst, zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie durch den Menschen hervorgebracht wurde; c) Die psychologische Umwelt oder auch „Merkwelt“ bzw. „Eigenwelt“, die sich individuell durch die subjektive Wahrnehmung und darauf aufbauende Wirklichkeitskonstruktion ergibt. Darüber hinaus sind zwei weitere Umwelten für den Menschen relevant (und da ist sie wieder, die implizite Annahme über das Mensch-Sein), nämlich d) Die sozioökonomische Umwelt, in der sich die sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen menschlichen Lebens abspielen; und e) Die ideologisch-kulturelle Umwelt, die als politischer und kultureller Rahmen Mensch-Umwelt-Beziehungen prägt und von diesen geformt wird. Bei allem Bemühen den Umweltbegriff relational zu verstehen, wird er jedoch auch in dieser Gliederung letztendlich auf den Menschen zentriert, was einerseits logisch erscheint, wenn man sich mit Mensch-Umwelt-Beziehungen beschäftigt, andererseits aber auch schlicht das Ergebnis eines dualistischen Subjekt-ObjektDenkschemas darstellt.193 Nimmt man noch einmal die von Weichhart ausdifferenzierten fünf Kategorien von Umwelten zur Hand, so fällt bei genauerer Betrachtung noch etwas Weiteres auf: WEICHHART (2007: 942) beklagt nämlich, dass der Umweltbegriff in der öffentlichen Debatte fast immer mit Natur gleichgesetzt wird. Dem stellt er das oben geschilderte, deutlich umfassendere Umweltverständnis entgegen. Betrachtet man sich jedoch die existierenden geographischen Arbeiten in der MenschUmwelt-Forschung, so ist auffällig, dass keine einzige von ihnen nur auf die Sphären der gebauten, psychologischen, sozioökonomischen oder ideologischkulturellen Umwelten fokussiert. Dies ergäbe auch kaum einen Sinn, denn dann würde eine solche Arbeit wahrscheinlich bspw. der Stadt-, Wahrnehmungs-, Sozial- oder Wirtschaftsgeographie zugeordnet. Verorten sich Arbeiten explizit in der Mensch-Umwelt-Forschung, erscheint daher immer der Kontakt des Menschen zu den „richtigen“ Umwelten, nämlich den „natürlichen“, den „nicht artifiziellen“, nicht menschlichen, nicht sozio-kulturellen Umwelten den Markenkern zu bilden. Letztlich verbirgt sich hinter der Idee der Mensch-Umwelt-Forschung insofern, auch wenn sie ein umfassendes Umweltkonzept vertritt, doch zumeist die Frage nach dem Verhältnis des Menschen, bzw. von menschlichen Gesellschaften, zur Natur als dem, „was keinem menschlichen Handeln zuzurechnen ist“ (ZIERHOFER 2000: 144). Aufgegriffen wird damit eine aristotelische Idee von Natur als das, was von selbst da ist und nicht durch menschliche Technik, Kultur und Zivilisation hervorgebracht oder beeinflusst wurde (BÖHME 2011: 558). Alternativ 193 Wir kommen auf Alternativen zu derartigen Sichtweisen später noch in Kapitel 4.3. zurück.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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wird auf einen Naturbegriff referiert, der Natur als das bestimmt, was „Teil des notwendigen Gesetzeszusammenhanges ist oder unter notwendige Gesetze fällt“ (HAMPE 2006: 127). Dazu wird die von den Empiristen begründete Idee experimenteller Methoden als zentrale Erkenntnisweise der neuzeitlichen Naturwissenschaften weiterentwickelt und auf diesem Weg versucht Wissen über die Natur „unter Laborbedingungen ausschnitthaft durch Objektivierung, Sektion, Mathematizität und Reduktion komplexer Zusammenhänge auf kohärente, allgemein gültige und gesetzesmäßige Aussagen“ zu gewinnen (VAAßEN 2011: 5). Natur wird in dieser Perspektive also mechanistisch und mathematisch in Form von Formeln und Modellen gedacht, von der chaotischen Ungeordnetheit individueller Umstände gereinigt und damit letztlich „entwirklicht“ (HAMPE 2006: 122). Dieses im Grunde idealistische Naturverständnis ist dafür verantwortlich, dass man sich in der Forschung möglichst schnell von der untersuchten, jedoch unordentlichen (im Sinne von nicht labormäßig standardisierten) Realität loslösen möchte, um zu objektiv (allgemein-) gültigen Erkenntnissen zu gelangen. Erst diese Versachlichung (und Entseelung) der Natur hat es letztlich ermöglicht, Umwelt vollständig als etwas dem Menschen Äußeres zu denken. Der Mensch fällt dadurch zuerst aus der „Natur heraus“ (VAAßEN 2011: 5) und taucht dann in dieser bereinigten Natur als externer Störfaktor auf. Wie mächtig diese Denkfigur ist, spiegelt sich in den stark physisch-geographisch geprägten Forschungsarbeiten zur Idee eines Anthropozäns (bspw. BORK & LANG 2003; BRAJE & ERLANDSON 2013; CRUTZEN 2002; EHLERS 2008; FOLEY et al. 2014; RUDDIMAN 2003) wider, in denen es zumeist um die Frage geht, inwiefern und wann eine menschliche Störung natürlicher Systeme und Gleichgewichte nachzuweisen ist. Die gedankliche Trennung des Menschen von der Natur und von seiner Umwelt spielt sowohl der Selbstbestätigung konstruktivistischer wie auch (kritisch-) realistischer Positionen in die Hand, denn nur auf der Grundlage diese Denkfigur können sie ihren jeweiligen Geltungsanspruch verteidigen. Diese Denkfigur hat jedoch erhebliche Konsequenzen, wie HAMPE (2006: 122) feststellt: „Das Bild des Subjektes als ein seiner ökologischen Nische mehr oder weniger gut angepasstes Naturprodukt, das, den Zwängen der es überwältigenden Gesetzmäßigkeiten ausgesetzt, für diese Natur irrelevant ist, unterschätzt unsere Relevanz als Kausalfaktor in einem zu einfachen Naturalismus. Die idealistische Subjektivitätstheorie hat die Tendenz, unsere Abhängigkeit zu unterschätzen, die Bedeutung unserer Kreativität und unseres Willens zu überschätzen und die sich daraus ergebenden Verantwortungen für die Konsequenzen unseres Handelns zu unterschätzen und uns selbst zu entwirklichen. Einmal kollabiert die Welt in unserer Kreativität, das andere Mal verschwinden wir selbst als Kausalfaktoren, die die Welt ändern können, in dieser.“

Die Entwicklung integrativer Ansätze in der Mensch-Umwelt-Forschung sieht sich daher grundlegenden metatheoretischen Herausforderungen gegenüber. Je nach Menschenbild, Umwelt- und Naturverständnis ergeben sich unterschiedliche und teils inkommensurable, weil sich gegenseitig widersprechende, Konzeptionalisierungen von Mensch-Umwelt-Beziehungen, die sich in einer extremen Heterogenität von Forschungsperspektiven in dem gesamten Feld der Mensch-UmweltForschung ausdrückt. Da die vorhandenen Ansätze ihre metatheoretischen Per-

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

spektiven überwiegend nicht explizit machen und diesbezüglich in sich auch nicht immer konsistent sind, erscheint eine erkenntnistheoretische Gliederung des Feldes kaum möglich. Um Ordnung in das Forschungsfeld zu bringen, möchte ich daher im Folgenden auf die prominente Unterscheidung des Politologen Robert COX (1981: 128ff) zurückgreifen, der aus einer marxistischen Position heraus zwischen problemlösenden und kritischen Theorien differenziert. Als problemlösende Theorien bezeichnet er solche Theorien, die versuchen, innerhalb des vorgegebenen Rahmens, in dem sie operieren, ein Problem zu lösen. Der Zweck der Theorien besteht darin, zu einer besseren Funktionsweise innerhalb des Systems beizutragen. Dabei geht man davon aus, dass sich das Problem mittels analytischer Isolation eingrenzen und erfolgreich bearbeiten lässt. Probleme werden also nur in Beziehung auf das Feld hin betrachtet, innerhalb dessen sie auftauchen. Dessen größerer Entstehungsrahmen wird nicht beachtet. Problemlösende Theorien arbeiten daher fragmentierend und adressieren jeweils unterschiedliche Teilsphären eines Problemzusammenhangs, wobei alle anderen Teile des Gesamtsystems als stabil und unverändert angenommen werden (was es in der Praxis möglich macht, sie zu ignorieren). Problemlösende Theorien und ihre Ergebnisse nehmen implizit die Rahmenbedingungen als natürlich gegeben an, unter denen sie entwickelt wurden. Sie sind daher als konservativ zu bezeichnen. Der Vorteil derartiger Theorien liegt darin, dass sie Zusammenhänge auf ein handhabbares Maß an Parametern reduzieren können, um anschließend Regularitäten oder gar Gesetzmäßigkeiten aufzeigen zu können. Die meisten problemorientierten Ansätze operieren auf einem positivistischen oder (kritisch-) realistischen Fundament. Kritische Theorien gehen über problemlösende Ansätze hinaus (COX 1981: 130). Sie stellen die im Rahmen problemlösender Theorien als gegeben angenommenen Rahmenbedingungen der Problemstellung infrage, zielen darauf ab, mögliche Alternativen zu dieser Ordnung zu finden und auf ihre Brauchbarkeit für eine Problemlösung hin zu untersuchen. Kritische Theorien wollen also zu einer strategischen Problemlösung gelangen, indem sie den Rahmen der Problementstehung problematisieren, während problemlösende Theorien allenfalls taktische Problemlösungen produzieren, die die bestehende Ordnung der Dinge bewahren wollen. Kritische Theorien erlauben daher eine normative Wahl zwischen Alternativen. In metatheoretischer Hinsicht tendieren sie deshalb zu kritisch-materialistischen und marxistischen Perspektiven. Cox‘ Differenzierung erfolgt vor seinem eigenen kritisch-theoretischen Hintergrund vor allem mit Blick auf institutionelle und politische Ordnungen und Rahmenbedingungen von Problemstellungen. Aufgrund ihrer offenen Formulierung lässt sie sich aber genauso auf jede andere grundlegende metatheoretische Perspektivverschiebung anwenden, die es ermöglicht, ein Problem anders zu rahmen, als es bisher geschehen ist. In den Wissenschaften kann dies dadurch erreicht werden, dass man eine Perspektivverschiebung auf der meta-theoretischen Ebene vornimmt, um sich mithilfe einer theoretisch-konzeptionell bedingten Veränderung der Problemdefinition andere Problemlösungsmöglichkeiten zu erschließen. Weitet man die Unterscheidung von Cox in dieser Art auf, muss man zwischen kritischen Theorien im engeren und denen im weiteren Sinne differenzieren. Bedenkt man gleichzeitig, dass jede

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kritische Theorie auch immer problemlösende Komponenten beinhaltet, wird deutlich, dass man es hier keineswegs mit sich gegenseitig ausschließenden Systematisierungskategorien zu tun hat, sondern dass der Übergang zwischen problemlösenden und kritischen Theorien als fließend betrachtet werden muss. Der nachfolgende Überblick (vgl. Abbildung 6) erhebt daher auch nicht den Anspruch, eine trennscharfe Positionierung der einzelnen Ansätze abzubilden, sondern will lediglich exemplarische Anhaltspunkte für eine Orientierung im Feld der MenschUmwelt-Forschung liefern.194

Abbildung 6: Ordnungsversuch exemplarisch ausgewählter Theoriestränge in der MenschUmwelt-Forschung195 Quelle: Eigene Darstellung

194 Die Liste der genannten Theorien und Ansätze erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, dies wäre auch praktisch kaum leistbar – schon gar nicht, wenn auch noch die Ansätze der Nachbardisziplinen in umfangreicherem Maße mit einbezogen würden. Stattdessen möchte ich hier anhand ausgewählter Beispiele einen Überblick über die grundsätzliche Strukturierung des Forschungsfeldes ermöglichen. Hierzu wurden exemplarisch einige der bekanntesten Theorien und Ansätze aus der geographischen und wirtschaftswissenschaftlichen MenschUmwelt-Forschung ausgewählt. Für einen aktuellen Literaturüberblick zur Mensch-UmweltForschung in den Sozialwissenschaften siehe ergänzend bspw. ZIERHOFER (2007a). 195 Ein Theoriefeld ordnen zu wollen ist natürlich immer eine heikle Angelegenheit. Einzelne Theoriestränge in Gänze bestimmten Kategorien zuzuordnen ist dabei nicht nur problematisch, weil man sich trefflich über die Kategorienbildung selbst und die Zuordnung eines Ansatzes zu einer bestimmten Kategorie streiten kann, sondern auch weil damit z. T. sehr heterogene Diskussionen und Standpunkte in einem Theoriefeld quasi-homogenisiert werden. Der Nachteil dieser Komplexitätsreduktion wird m. E. aber durch ihren Vorteil aufgewogen, einen Überblick zu vermitteln. Der Leser und die Leserin seien deshalb explizit darauf hingewiesen, dass das Theoriefeld der Mensch-Umwelt-Forschung natürlich deutlich vielschichtiger, verschlungener und unaufgeräumter ist, als ich es hier darstellen kann.

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4.1.2.2. Problemlösende Theorien und quantitative Modellierungen Problemlösende Theorien entwickeln sich in der Mensch-Umwelt-Forschung vor allem im Zusammenhang mit der angestrebten Lösung praktischer Probleme in der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und der Herstellung einer Balance zwischen Mensch und Umwelt. Die dazugehörigen Forschungsansätze und Theorien fragen daher danach, wie zwischen Mensch und Umwelt so vermittelt werden kann, dass sich konkrete Probleme auflösen, verringern oder zumindest managen lassen. Typisch hierfür ist bspw. die Umweltökonom(etr)ie mit ihren Ansätzen zur quantifizierenden Umweltbewertung (bspw. STERN 2006), der ökonometrischen Modellierung und Quantifizierung ökologischer Tragfähigkeiten und Services (bspw. COSTANZA et al. 1997), von Ökoeffizienzen (bspw. CYMEK 2003; SCHALTEGGER & STURM 1990) sowie kybernetische Mensch-Umwelt-Modelle aus der Physischen Geographie (bspw. TEPFENHART et al. 2007) und der geographischen Geoökosystemforschung (bspw. LESER 1997). Grundsätzlich ebenfalls problemlösend, jedoch Abstand nehmend von dem Gedanken linearer Systeme, sind GIS-basierte Modellierungen von Mensch-Umwelt-Systemen in Multi-AgentenModellen (bspw. BRUSE 2005). Rein problemlösende Theorien finden sich typischerweise in multidisziplinären Ansätzen aus der Mensch-Umwelt-Forschung wieder. Dies ist auch naheliegend, da sie sich in ihrer extremen Form nur bedingt für eine interdisziplinäre Perspektive eignen, wollen sie ihr Problem ja gerade möglichst isolieren und eingrenzen. Am ehesten wird eine integrierte Betrachtung noch in Form einer Addition unterschiedlicher (Teil-) Ergebnisse versucht. Um in einer interdisziplinären Betrachtung zusammenzufinden, müsste die analytische Isolation des Problems jedoch bereits aufgebrochen und eine Interaktion der jeweiligen Problematiken vorausgesetzt werden. Eine transdisziplinäre und in diesem Sinne Paradigmen übergreifende und aufbrechende Perspektive lässt sich jedoch mithilfe analytisch isolierender Modellierungen kaum erreichen. 4.1.2.3. Auf kritischem Wege – gegenstandsbezogene, akteursorientierte und politisch-ökonomische Ansätze Eine Interaktion unterschiedlicher Problemdimensionen von Mensch-UmweltBeziehungen wurde früh bspw. in der Entwicklung der Risiko-, Naturgefahren-, und Vulnerabilitätsforschung diskutiert (bspw. BANKOFF et al. 2004; DIKAU & POHL 2007; FELGENTREFF & GLADE 2008; STEINER & THIMM 2009). Die Risiko-, Naturgefahren-, und Vulnerabilitätsforschung entwickelte sich zunächst aus einer rein problemlösenden Perspektive, die anfangs stark naturwissenschaftlich geprägt war. Durch die Komplexität der empirischen Problemstellungen wurden dann mit der Zeit immer mehr sozialwissenschaftliche, akteursorientierte und politischökonomische Perspektiven integriert (POHL 2008). Das Theoriefeld ist daher heute sehr breit aufgestellt bis hin zu kritischen Ansätzen.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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Auch die Klimawandelanpassungsforschung (bspw. BENDER et al. 2011; HECHT 2009; HILLER & PROBST 2008) schwankt zwischen extrem szientistischen und sogar geodeterministisch argumentierenden Ansätzen (bspw. TEPFENHART et al. 2007), rein problemlösenden Arbeiten (bspw. ABEGG 1996; ABEGG et al. 1994; LANDAUER & PRÖBSTL 2008) bis hin zu kritischeren Perspektiven, die den gesellschaftlichen Rahmen der diskutierten Probleme mit in ihre Überlegungen einbeziehen (bspw. STEIGER & MAYER 2008). Von einem vorwiegend rein problemlösenden Ansatz angewandter Entwicklungshilfe entwickelten sich die Ansätze der Sustainable Livelihoods Forschung (bspw. BOHLE 2001; CHAMBERS & CONWAY 1992; DE HAAN & ZOOMERS 2005; SNEDDON 2000) ebenfalls zu einer zunehmend kritischeren Theorieperspektive. Der Frage nachgehend, wie eine nachhaltige Lebensunterhaltssicherung möglich ist, nimmt die Sustainable Livelihoods Forschung dabei heute auch die soziopolitischen und institutionellen Bedingung der Bedrohung von Lebensunterhaltssicherungsstrategien armer und verletzlicher Bevölkerungsgruppen zunehmend in den Blick. Handlungsorientierte Ansätze, die sich für die Produktionsprozesse von Mensch-Umwelt-Geographien interessieren, sind dagegen zumeist deutlicher im Feld der kritischen Theorien zu verorten. Je nach handlungstheoretischem Konzept können sie zugleich auch konstruktivistische Elemente in Bezug auf ihr Raumkonzept enthalten, hängen aber zumeist in Anlehnung an das Handlungskonzept von Werlen einem allenfalls eingehegten Konstruktivismus an, der sich letztlich kritisch-realistisch fundiert.196 Insbesondere Ansätze der geographischen Konfliktforschung mit Blick auf den Umweltbereich (bspw. FLITNER 2008) operieren oft mit handlungsorientierten Konzepten und betten sich nicht selten in die Perspektive einer Politischen Ökologie (bspw. COY & KRINGS 2000; KRINGS 2007, 2008) ein. Die Politische Ökologie fragt dabei danach, wie sich ökologische Probleme aus ihrer politischen Dimension heraus verstehen lassen, welche politischen Konflikte ihnen innewohnen und sie produzieren oder wie im Rahmen des latenten Konfliktes zwischen sozialen, ökonomischen und ökologischen Zielen nachhaltigere Gesellschaft-Umwelt-Verhältnisse möglich sind. Sie thematisieren damit die politisch-ökonomische Dimension von Mensch-Umwelt-Beziehungen und gehen den in ihnen wirkenden Machtbeziehungen und politischen Steuerungsmechanismen nach. Derartige Forschungsansätze sind besonders prominent im Bereich der geographischen Entwicklungsforschung (bspw. AMMERING et al. 2008; BECKEDORF 2012; GRAEFE 2008; GRANER 1998; WEHRHAHN 1994). Ihre Ergebnisse werden immer wieder auch im Bereich der Politikfeldberatung, z. B. in der Zusammenarbeit mit Entwicklungshilfeorganisationen, relevant. Gerade die Perspektive einer Politischen Ökologie geht damit über die in der humangeographischen Mensch-Umwelt-Forschung verbreiteten und zuvor diskutierten Konzepte mittlerer Reichweite (FLITNER 2003: 213) deutlich hinaus und bietet sich für integrative Forschungsdesigns geradezu an. 196 Vgl. Kapitel 4.1.3.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Etwas komplizierter ist die Diagnose im Bereich der Sozialökologie, die in drei extrem unterschiedliche Theoriekonzepte zerfällt: die Wiener und die Frankfurter Schule der Sozialökologie und die „neo-holistische“ Sozialökologie von Hard, die bereits konstruktivistischen Ansätzen zuzurechnen ist. Die Wiener Schule der Sozialökologie (FISCHER-KOWALSKI & ERB 2006; FISCHER-KOWALSKI et al. 1997; FISCHER-KOWALSKI & WEISZ 1999) entwirft ein biologistisch-behavioristisches Verständnis gesellschaftlicher Naturverhältnisse mit evolutionstheoretischem Einschlag, bedient sich der dementsprechend einschlägigen Terminologie und eines grundsätzlich eher mechanistischen Denkens. Letztlich stellt sie die Trennung zwischen Mensch und Umwelt sowie Mensch und Natur damit nicht infrage und bleibt insofern recht konservativ. Für die Entwicklung einer wirklich transdisziplinären und in diesem Sinne Paradigmen übergreifenden Perspektive auf Mensch-Umwelt-Beziehungen scheint der Ansatz mir daher nicht wirklich geeignet zu sein. Die Sozialökologie der Frankfurter Schule (bspw. BECKER 2003; BECKER & JAHN 2003, 2006; JAHN 2003, 2005) fokussiert dagegen „das Geflecht der vermittelnden Beziehungen und Verhaltensformen zwischen Individuen, Gesellschaft und Natur sowie die sich darin herausbildenden Muster“ (JAHN 2005: 32) und ist insofern klar den kritischen Theorien zuzuordnen, innerhalb deren Tradition sie sich auch explizit verortet. Sie fragt danach, inwiefern die Regulationsformen gesellschaftlicher Naturverhältnisse gestört oder nicht adäquat entwickelt sind und wie sich im gesellschaftlichen Diskurs sozial-ökologische Problemlagen und Konflikte ausbilden. Sozialökologische Forschung wird dabei in dem Sinn als transdisziplinäre Forschung verstanden, als dass sie Disziplingrenzen überschreitet und Lösungen für alltagsweltliche Probleme sucht (JAHN 2005: 35f). Ihre Forschungsgegenstände konstituieren und verändern sich im Laufe des Forschungsprozesses. Das im Forschungsprozess erarbeitete neue Wissen muss anschließend in der zweiten Phase eingebunden werden in praktische Problemlösungen und in den Fundus des Disziplin übergreifenden wissenschaftlichen Wissens. In der dritten Phase werden dann die neuen praktischen und theoretischen Erkenntnisse in das bestehende Wissensgebäude integriert; sie führen so zu einem neuen gesellschaftlichen Mehrwert des Forschungsprozesses. Durch diese Rückkoppelung wird das Problemverständnis in Wissenschaft und Gesellschaft verändert und so eine neue Ausgangssituation für folgende Forschungsprozesse geschaffen (JAHN 2005: 37). Die Sozialökologie der Frankfurter Schule erteilt dabei der szientistisch oder sozial verkürzten Entwicklung von Problemlösungen eine klare Absage, die sie für die Untersuchung des komplexen Zusammenhangs „von gesellschaftlichen Handlungsmustern“ und „natürlichen, technischen, ökonomischen und kulturellen Wirkungsgefügen in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen“ als nicht adäquat einschätzt (JAHN 2003: 547).197 Sie postuliert stattdessen ein Denken in Relationen, mit dem sie die dualistische Teilung der Welt in Geist und Materie überwinden will. Da die Sozialökologie Frankfurter Provenienz weder auf der erkenntnistheo197 Hier zeigen sich erhebliche Parallelen zum Pragmatismus.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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retischen Ebene erklärt, wie sie das tun will, noch sich hinreichend von konstruktivistischen und postdualistischen Ansätzen abgrenzt, bleibt ihre (meta-) theoretisch-konzeptionelle Basis in wesentlichen Teilen jedoch nebulös (vgl. ZIERHOFER 2006: 178). Auch wenn der Ansatz auf der fachtheoretischen Ebene ein eingängiges Bild von Mensch-Umwelt-Beziehungen entwirft, leistet er daher keinen Beitrag zu Lösung der meta-theoretischen Probleme in der Konzeptionalisierung transdisziplinärer Mensch-Umwelt-Forschung. 4.1.2.4. Konstruktivistische Theorien Die dritte Spielart sozialökologischer Ansätze stammt von Gerhard HARD (1997). Sie wird später von DÜRR (1999) als „neo-holistische“ Geographie bezeichnet. Mit ihr schlägt Hard eine Kombination positivistischer und konstruktivistischer Perspektiven im Forschungsablauf vor. Ein Sozialökologe müsste demnach erfassen (HARD 1997: 110), wie die „reale“ ökologische Situation in den Naturwissenschaften wahrgenommen wird, bevor er untersuchen kann, wie Menschen ethnoökologisch die ökologische Situation wahrnehmen und interpretieren (einschließlich der Akteure und der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Basis der jeweiligen Ethnoökologie). Danach muss die Beziehung zwischen der realen Ökologie und den symbolischen Ökologien herausgearbeitet und untersucht werden, wie sich Menschen auf der Basis ihrer symbolischen Ökologien verhalten und handeln, zu welchen Ergebnissen ihr Verhalten und ihre Handlungen mit Hinblick auf die reale Ökologie führen und wie das Ergebnis der oftmals unrealen Ökologien wahrgenommen, interpretiert und legitimiert wird. Hards Idee eines Oszillierens zwischen Konstruktion und Dekonstruktion hat sicherlich ihren Charme – letztlich stellt sie aber die Trennung zwischen Physisch-Materiellem und SozioKulturellem nicht infrage, sondern betont sogar deren grundsätzliche Inkompatibilität (ebd.: 111). In letzter Konsequenz verknüpft Hards Entwurf daher realistische und konstruktivistische Perspektiven eher in einer Art rationalistischer Pendelbewegung miteinander, als dass er den Graben zwischen ihnen wirklich zu überwinden trachtet. Hards Entwurf eignet sich daher zwar gut für die Entwicklung einer interdisziplinären, nicht jedoch für die Entwicklung transdisziplinärer Perspektiven in der Mensch-Umwelt-Forschung. Klar auf der Seite konstruktivistischer Perspektiven auf Mensch-UmweltBeziehungen angesiedelt sind ebenfalls neuere system- und komplexitätstheoretische Ansätze aus der Humangeographie198, die zumeist von der Systemtheorie Niklas Luhmanns inspiriert wurden (bspw. BYRNE 1998; DIRKSMEIER 2008; EGNER 2006, 2007, 2008a, b, c; EGNER et al. 2008; KLÜTER 2003; LIPPUNER 2005, 2010; RATTER 2001, 2006; RATTER & TREILING 2008). Im Unterschied zu den älteren Arbeiten über Geoökosysteme (bspw. LESER 1997) beziehen sie vor allem Aspek198 Für einen ausführlicheren und immer noch recht konzentrierten Überblick über unterschiedliche Systemtheorien sei vor allem EGNER (2008a) empfohlen.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

te der Autopoiesis, Selbstorganisation, Selbstreferentialität, Emergenz, strukturellen Kopplung und nicht-linearer Dynamiken in (komplexen) Systemen in ihre Überlegungen mit ein. In der Physischen Geographie werden neuere Systemtheorien und die ebenfalls Nichtlinearität und Emergenz199 betonenden Komplexitätstheorien vor allem in der Geomorphologie und Hazardforschung rezipiert (bspw. DIKAU 2006; ELVERFELDT 2012; ELVERFELDT & GLADE 2010; ELVERFELDT & KEILER 2008; HARRISON 2001; ZEHETMAIR 2009, 2012). Systemtheoretische Perspektiven bieten für integrative Arbeiten vor allem den Vorteil, den beiden großen Teildisziplinen der Geographie wieder eine gemeinsame Sprache und theoretische Denkfigur zur Verfügung zu stellen (EGNER 2006: 103). Ob damit – trotz der zwischenzeitlich sehr interessanten Anwendungen systemtheoretischer Ansätze in der empirischen Forschung – eine Überwindung der die Disziplin trennenden Dualismen möglich ist, muss jedoch infrage gestellt werden. Insbesondere die Anschlussmöglichkeiten der soziologischen an die kybernetischen Systemtheorien wurden eine ganze Zeit lang recht intensiv im Rahmen der Diskussionen um die Dritte Säule diskutiert (vgl. WARDENGA & WEICHHART 2006). Wie sich in der Diskussion herausstellte, verbergen sich hinter ähnlichen Begriffen in beiden theoretischen Ansätzen jedoch gänzlich andere Konzepte, sodass eine Verbindung beider Systemtheorien in einem integrativen und interdisziplinären Ansatz letztlich nicht befriedigend gelang. Darüber hinaus erscheint es aber auch in grundsätzlicher Weise fraglich, inwieweit die soziologische Systemtheorie überhaupt für eine Überwindung dualistischer Erkenntniskonzepte geeignet ist. Dabei spielt nicht so sehr eine Rolle, dass die Systemtheorie weitgehend ohne Subjekte und Akteure und d. h. eigentlich ohne den einzelnen Menschen auskommt und insofern sehr strukturalistisch und funktionalistisch argumentiert. Interessiert man sich für strukturelle Zusammenhänge, wäre dies – abseits sich daraus ergebender methodologischer Probleme in der Empirie bzgl. der Einbeziehung qualitativer Forschungsdesigns – zu verschmerzen. Problematisch ist vielmehr, dass in dieser Perspektive Umwelt immer das ist, was System nicht ist. Systeme werden wiederum als in sich geschlossen gedacht, d. h. dass sie ausschließlich auf der Grundlage der ihnen eigenen Codes funktionieren, und allenfalls durch ihre Umwelten irritiert werden können (aber nicht müssen). Es ist vor allem diese „Überbetonung der selbstreferentiellen Systemgeschlossenheit“ in autopoietischen Systemen, die es schwierig macht humanökologisch motivierte integrative Bemühungen zu unterstützen (STEINER 2003: 56), denn die angestrebte integrative Überschreitung von Systemgrenzen wird natürlich problematisch, wenn System und Umwelt Apriori als sich ausschließende Kategorien gedacht werden.

199 Hierin bestehen Kontaktpunkte der Komplexitäts- und der soziologischen Systemtheorie.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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Ein weiteres Problem in der Verwendung neuerer Systemtheorien für integrative Ansätze erwächst – genau wie bei den Diskurstheorien200 – aus deren besonderer Aufmerksamkeit für Kommunikation. Zwar interessiert sich die Systemtheorie entgegen landläufiger Kritik in der Humangeographie für mehr als nur für Kommunikation (vgl. EGNER 2006: 103) und ist insofern offener als die Diskustheorie. Sie räumt der Sprache jedoch den Primat in der menschlichen Welterschließung ein. Es wird also davon ausgegangen, dass die Welt erst durch sprachliche Unterscheidungen in der Art hervorgebracht wird, wie sie gedacht wird. EGNER (ebd.: 106) schlussfolgert daraus logisch, dass eine systemtheoretische Sichtweise den gesamtdisziplinären Übergang zu einer konstruktivistischen Perspektive nötig machen würde. Weder Systemtheorie noch Diskurstheorie sind daher geeignet, um den Dualismus von Sinn und Materie zu überwinden, da eine konstruktivistische Position nach wie vor die Trennung von Geist und Materie voraussetzt und erkenntnistheoretisch festschreibt. Die Entwicklung eines transdisziplinären Zugangs zu Mensch-Umwelt-Beziehungen im Sinne eines Paradigmen übergreifenden Vorgehens ist dann aber nicht möglich. Die Konzentration auf die rein sprachliche Ebene (SCHLOTTMANN 2007: 19), die teilweise schon überbetont wird, blendet zudem den ganz praktischen Zusammenhang von Materialität, Natur und menschlichen Handlungen aus und hat m. E. zu Recht zur Forderung einer „Rematerialisierung“ humangeographischer Theoriekonzepte geführt (KAZIG & WEICHHART 2009; LEES 2002: 110). Das Verdienst sprachpragmatische Ansätze für die Mensch-UmweltForschung im deutschsprachigen Raum erschlossen zu haben, kommt fast ausschließlich Wolfgang ZIERHOFER (1997, 2001, 2002) und Antje SCHLOTTMANN (2007) zu. Zierhofer entwickelt eine eigene Interpretation der Sprachpragmatik, in der er die Handlungstheorie von Weber und Schütz um sprachpragmatische Elemente in Anlehnung an Austin und Habermas‘ »Theorie kommunikativen Handelns« erweitert und weiterentwickeln möchte, um sie anschließend mit Giddens‘ Begriff der Strukturation zusammenzubringen. Strukturierungsprozesse mitsamt ihren materiellen Folgen sollen so sprachpragmatisch interpretiert werden (ZIERHOFER 1997: 87). Auch wenn dieser Grundgedanke bestechend ist, erscheint es problematisch, dass Zierhofer die meta-theoretischen Inkommensurabilitäten der genannten Theorien nicht adressiert und unerwähnt lässt, wie er die verschiedenen Theorieelemente miteinander aussöhnen will. Der Ansatz wirkt daher etwas eklektisch. Davon abgesehen ist es jedoch interessant, dass sich zwischen Zierhofers Grundintention und der Entwicklung der pragmatischen Philosophie bemerkenswerte Parallelen feststellen lassen. Zierhofers Konzept ähnelt einer Neuerfindung der handlungsorientierten Grundidee des Pragmatismus einschließlich ihrer sprachpragmatischen Reinterpretation durch Rorty. Da Zierhofer sich kaum der Mühen des Versuchs unterzogen hätte, Schütz‘ Handlungstheorie mit der Gid-

200 Diskurstheoretische Arbeiten über Mensch-Umwelt-Beziehungen sind mir aus der Geographie nicht bekannt. Zu ihrer grundlegenden Konzeption vergleiche jedoch bspw. GLASZE & MATTISSEK 2009; HUSSEINI DE ARAÚJO 2011; MATTISSEK 2007.

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dens‘ zu verbinden,201 wenn ihm der Einfluss des Pragmatismus auf die Theorieentwicklung von Schütz geläufig gewesen wäre, war ihm der klassische, handlungsorientierte Pragmatismus offenbar jedoch unbekannt, als er seine Idee entwickelte. Wie auch Rorty beschränkt Zierhofer den pragmatischen Grundgedanken jedoch allein auf seine sprachpragmatische Spielart. Er lässt damit nicht nur die Möglichkeiten ungenutzt, die sich mit dem deutlich weiter gefassten sprachpragmatischen Handlungskonzept im Anschluss an Peirce ergeben würden,202 sondern er beraubt sich zugleich – wie er selbst feststellt (ZIERHOFER 1997: 89) – des (erfahrungsbasierten) Zugangs zu sozialwissenschaftlich relevanten Sachverhalten außerhalb von Sprachspielen203, wie sie in psychischen Prozessen oder der Bedeutung der materiellen Infrastruktur für die Strukturierung der Gesellschaft relevant werden.204 Dem Problem der Entmaterialisierung der Humangeographie sehen sich daher auch die vorliegenden sprachpragmatischen Theorieentwürfe gegenüber. Darüber hinaus schreibt der alleinige Fokus auf in Sprache aufgehobene Bedeutungsstrukturen genau die dualistische Trennung zwischen Geist und Materie fort, deren Überwindung Zierhofer ein Anliegen ist, wenn er weiter beabsichtigt, sein sprachpragmatisches Konzept an das relationale Weltbild der Evolutionstheorie und Ökologie anzuschließen (ZIERHOFER 1997: 81). SCHLOTTMANN (2007) entwickelt im Vergleich zu Zierhofer eine leicht abgewandelte Version der Sprachpragmatik für die Sozialgeographie. Auch sie referiert auf Austin und Searle, möchte diese jedoch aus einer dezidiert handlungstheoretischen Perspektive für die Geographie fruchtbar machen205 und wendet sich gegen die Idee, alle Wirklichkeit ließe sich semantisch begreifen (ebd.: 7). Die Fruchtbarkeit des Konzepts Searles sieht Schlottmann dabei in dessen kritisch-realistischer Grundhaltung begründet (ebd.: 12).206 Searles Unterscheidung beobachterunabhängiger von beobachterabhängigen Tatsachen ermögliche es, so

201 Die beide miteinander inkommensurabel sind, da Giddens sich im Gegensatz zu Schütz eindeutig in einem kritisch-realistischen Weltbild und im Rahmen eines utilitaristischen Handlungskonzeptes verortet. Vgl. zum utilitaristischen Handlungskonzept bei Weber und Giddens sowie dessen Differenz zu einem pragmatischen Handlungsverständnis auch Kapitel 4.2.1.2. 202 Vgl. hierzu ausführlicher BERWING 2012. 203 Dies ist die logische Konsequenz seines Bezugs auf die Arbeiten von RORTY, der ja jede Bezugnahme auf Erfahrung ablehnt, da diese für ihn auf eine Außenwelt verweist, über die wir seiner Meinung nach keine Erkenntnis erlangen können (1994: 25). 204 Hier würde eine Anbindung der Idee Zierhofers an den Pragmatismus sicherlich neue Möglichkeiten eröffnen. Eine sprachpragmatische Erweiterung könnte so auch einen wirklich holistisch angelegten Beitrag zur Mensch-Umwelt-Forschung leisten. Zierhofer ist in diesem Sinne vollauf Recht zu geben, wenn er fragt, ob es nicht sinnvoll wäre, „Begriffe von Gesellschaft, Person, Handlung, Interaktion, Identität etc. zu verwenden, die die ökologische Dimension des Lebens gleich in ihrer vollen Vielfalt mitbedenken?“ (ZIERHOFER 1997: 92). Für einen pragmatischen Vorschlag in dieser Hinsicht vgl. Kapitel 4.3. 205 Was bspw. darin deutlich wird, dass sie im Gegensatz zu Zierhofer oder der Actor-NetworkTheory weiterhin einer Anthropozentrierung der Erkenntnis und der Idee eines intentionalen Akteurs verpflichtet bleibt (SCHLOTTMANN 2007: 11). 206 In der er durchaus Ähnlichkeiten zu der Werlens aufweist.

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Schlottmann, sprachliche Beschreibungen nicht nur relativ zu den sie bestimmenden Semantiken, sondern auch zu den sie bezeichnenden Materialitäten zu interpretieren. Damit ermögliche Searles Konzept einen neuen Beitrag zur Rematerialisierung humangeographischer Forschung, da Sprache und Materie als kulturell verwoben betrachtet werden (ebd.: 12). Raumsemantiken und GeographieMachen seien dann, so Schlottmann, alltägliche Praktiken des Konstruierens, Strukturierens und Vergegenständlichens, die es nicht nur zu dekonstruieren gelte, sondern die auch ein hohes Maß an Selbstreflexivität der beteiligten Wissenschaftler erfordert (ebd.). Der hier nur grob skizzierte Entwurf eines sprachpragmatischen Ansatzes wirft natürlich einige Fragen auf. Schlottmann selbst weist so z. B. darauf hin, dass alles, was nicht direkt ausgesprochen, sondern vom Hörer eher intuitiv erfasst wird und ebenfalls einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Situation liefert, nach wie vor einen blinden Fleck der Sprechakttheorie darstelle (ebd.: 17). Hier, so Schlottmann, stelle sich die Frage, ob für die Bearbeitung dieser Lücke nicht kognitionstheoretische Ansätze oder Perspektiven des semiotischen Pragmatismus weiter helfen würden (ebd.). Zu klären ist m. E. aber auch, wie die Verwobenheit von Materie und Sprache erkenntnistheoretisch genauer gedacht werden kann und wie sich der implizit im Realismus – auch in dem Searles – angelegte Dualismus zwischen Realität und Repräsentation auflösen lässt. Der sprachpragmatische Ansatz Schlottmanns wirft insofern eine Reihe meta-theoretischer Probleme auf, kann jedoch noch keine konsistente oder bereits ausformulierte Lösung für diese Problemstellungen anbieten.207 Der in Bezug auf das Raum-Machen durch Sprache gewinnende Ansatz Schlottmanns könnte daher durch eine Stärkung seiner momentan noch etwas unbefriedigenden metatheoretischen Basis an Überzeugungskraft hinzugewinnen. Dass Schlottmann im Fazit ihres Artikels (ebd.: 20) auf Sandbothe, als einen der prominentesten Vertreter des deutschen Pragmatismus, Bezug nimmt, unterstreicht die Vermutung, dass sich der Pragmatismus hierfür besonders eignen könnte. 4.1.2.5. Postdualistische Ansätze Vor dem geschilderten Hintergrund ist in den letzten Jahren vermehrt die Forderung nach der Entwicklung theoretischer Ansätze erhoben worden, die die dualistische Strukturierung der Welt überwinden (BRAUN 2004; CLOKE & JOHNSTON 2005; GRAEFE et al. 2010; MEUSBURGER & SCHWAN 2003; STEINER 2009a; ZIERHOFER 1999, 2003, 2007). SCHLOTTMANN et al. (2010) bezeichnen derartige 207 Dies alles von einem einzigen Aufsatz zu erwarten ging über das Leistbare natürlich auch hinaus. Trotzdem bleiben einige unaufgelöste und insofern unbefriedigende Unschärfen übrig, die sich teils sogar intentional widersprechen. So ist einerseits davon die Rede, dass der Ansatz eben nicht auf den Begriff der Repräsentation angewiesen sei und sich loslöse von korrespondenztheoretischen Perspektiven (ebd.: 12), andererseits betont Schlottmann dann wieder in ihrem Fazit, dass Sinneseindrücke und Forschungsaufzeichnungen repräsentationalen Charakter hätten, was sich in ihrer sprachlichen Ausdrucksweise zeige (ebd.: 20).

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Ansätze daher als postdualistisch. Die meisten Ansätze gehen das geschilderte Problem aus einer kulturtheoretisch informierten, wissenssoziologischen und poststrukturalistischen Perspektive an. Eine besonders prominente Stellung haben hier in den vergangenen Jahren vor allem die Actor-Network-Theory (ANT) (bspw. HINCHLIFFE 2012; JÖNS 2003; WHATMORE 2002; ZIERHOFER 1999)208 und die Non-Representational-Theory (NRT) (bspw. LORIMER 2005, 2008; THRIFT 2008) eingenommen. Phänomenologische, humanökologische und pragmatische Ansätze nehmen demgegenüber eine deutlich marginalere Position ein. Wenden wir uns zuerst den Ideen von ANT und NRT zu, bevor wir die Versuche den Dualismus zu überwinden in der Phänomenologie, der Humanökologie und im Pragmatismus näher betrachten. ANT und NRT wollen die dualistische Teilung der Welt mit Hilfe von Konzepten wie Netzwerken, Hybridität und Performativität überwinden. Sie referieren vor allem auf Arbeiten von Bruno Latour, Michael Callon, Donna Haraway, Michel Serres und anderen und befinden sich innerhalb der Geographie noch in einer recht frühen Entwicklungsphase. Die Anzahl an vorliegenden Arbeiten, die mit den Konzepten der genanten Autoren operieren, ist deshalb noch recht begrenzt. BRAUN (2002) legt bspw. eine Studie vor, die sich für die kognitive und politische Performativität von Ideen über Umwelt interessiert. JÖNS (2003) bemüht sich als eine der Ersten explizit darum, die Idee der ANT für die Mensch-UmweltForschung zur erschließen, indem sie die ANT modifiziert und erweitert und so an die Mensch-Umwelt-Geographie anschlussfähig machen will. Von Latour als ein gesellschaftstheoretischer Gegenentwurf zu den hegemonialen Dichotomien von Objekt und Subjekt sowie Natur und Gesellschaft entworfen, geht die ANT konzeptionell von einer Symmetrie der Beziehungen zwischen Menschen und Nichtmenschen aus, deren Verbindungen als dynamisches Netzwerk gedacht wird (BINGHAM 2009; JÖNS 2003: 105f).209 Das Netzwerk bildet sich dabei in alltäglichen Praktiken, die Menschen mit anderen Menschen und Nichtmenschen, d. h. Elementen der belebten und unbelebten Natur, technischen Artefakten, sozialen Akteuren und Institutionen, verbindet. Sowohl Menschen wie Nichtmenschen sind in diesem Netzwerk gleichermaßen handlungsmächtig, worunter jedoch kein intentionaler Akt im Sinne der klassischen Handlungstheorie verstanden wird, sondern nur das Potenzial, eine Wirkung hervorzurufen oder auszulösen; in der Sprache der Theorie zu verantworten. Handlungsfähigkeit („agency“) wird daher als

208 HICHLIFFE (2012) fasst in seiner neuen lehrbuchartigen Einführung in die »Geographies of Nature« den aktuellen Forschungstand in der Geographie zusammen und referiert dazu unter anderem auf Ansätze der ANT. Strenggenommen gehört er deshalb eigentlich nicht in die Reihe der hier exemplarisch angeführten originären Beiträge, die die ANT in die MenschUmwelt-Debatte eingeführt haben. Als eine erste Einführung ist sein Buch dennoch äußerst empfehlenswert. 209 Wichtig ist hier anzumerken, dass die unterstellte Symmetrie jedoch rein mit Blick auf die empirische Analyse der Netzwerkbeziehungen gedacht wird. Sie behauptet keineswegs, dass die Machtbeziehungen zwischen Menschen und Nichtmenschen generell gleich strukturiert sind (JÖNS 2003: 108f).

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im Netzwerk verteilt („distributed“), als relationaler Effekt der „Assemblage“ aller Elemente des Akteurs-Netzwerkes betrachtet. Sowohl Menschen wie auch Nichtmenschen wird daher nicht nur eine Art Akteursstatus zuerkannt, sondern auf Grund ihrer Relationalität auch jeweils ein Teil der Handlungsverantwortung. Um Verwechslungen mit dem Konzept intentional handelnder Akteure zu vermeiden, werden die so verstandenen Akteure in der Theoriesprache der ANT mit dem Begriff der Aktanten belegt. Im Unterschied zu den klassischen Handlungstheorien werden menschliche Intentionen auch als Teil des Gesamtnetzwerkes betrachtet, wodurch sie jenseits des Individuums wirken können. Die Trennung von Intention und Individuen wird dann soweit radikalisiert, dass Intentionen letztendlich nur sozialen Institutionen, nicht aber Individuen zugebilligt werden. Vor diesem veränderten Handlungskonzept wird hervorgehoben, dass die Grenze zwischen Menschen und Nichtmenschen fragil geworden sei. Immer mehr Aktanten wie Roboter, Computer, Messinstrumente, Prothesen oder gar Cyborgs, würden so die über lange Zeit als natürlich interpretierte Grenze zwischen Menschen und Nichtmenschen auflösen. Da sie oft sowohl menschlich wie auch nichtmenschlich zugleich sind, werden sie mit dem Begriff der Hybriden belegt. JÖNS (2003: 102) diagnostiziert nun, dass mit der Fokussierung auf Materialität und soziomaterielle Hybridität in der ANT „die Bedeutung und besonderen Eigenschaften immaterieller und dynamisch hybrider Erscheinungen weitgehend ausgeblendet“ werden. Sie schlägt daher vor, das Konzept um die Idee dynamischer Hybride zu ergänzen, worunter sie solche Aktanten versteht, die in der Lage sind, Bedeutungsstrukturen der Welt zu verändern. Sie bilden demnach „Knotenpunkte zwischen Materialitäten und Immaterialitäten und deren historisch hybriden Varianten“ (ebd.: 104).

Dabei wird Materie durch die Zuweisung von Bedeutungen und ihre oft gleichzeitige physische Veränderung in Zeichen transformiert. Als Resultat entstehen so genannte „soziomaterielle Hybride“ (ebd: 108), die schlussendlich die ontologische Grenze zwischen Natur und Kultur, Objekt und Subjekt verwischen. JÖNS (ebd.: 110) fasst die Leistungsfähigkeit der ANT für die Mensch-UmweltForschung wie folgt zusammen: „Damit [mit dem Entwurf der ANT, CS] schuf er eine Möglichkeit, die Mitwirkung zuvor vernachlässigter nichtmenschlicher Entitäten für die Schaffung und Stabilisierung sozialer Beziehungen zu untersuchen (soziale Strukturen), die Existenz ontologisch 'unreiner' Aktanten anzuerkennen (soziomaterielle Hybridität), Historizität und potenzielle Vermittlungsarbeit sowohl menschlichen als auch nichtmenschlichen Akteuren zuzugestehen (Rekonstruktion der Geschichte und Handlungsverantwortung von Dingen) und auf schlüssige Weise zu konzeptionalisieren, wie der Einbezug von immer mehr Aktanten in Netzwerkbildungsprozesse zu längeren und mächtigeren Akteursnetzwerken führen kann (Macht).“

Eine ausführliche Kritik an der ANT würde den Rahmen der hier vorliegenden Arbeit sprengen. Aus theorieinterner Perspektive hat JÖNS (2003: 110ff) einige wichtige Punkte jedoch bereits andiskutiert. Zu hinterfragen erscheint sicherlich die Trennung von Individuum und Intention, die fehlende Unterscheidung zwischen Natur und dem Begriff von Natur, die (zu) starke Konzentration auf Materialitäten und die Vernachlässigung von Immaterialitäten wie Emotionen, sozialen

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Interessen, Zielen und Vorstellungen und das binäre Aktantenkonzept von Menschen und Nichtmenschen. Mit Blick auf Letzteres schlägt JÖNS (ebd.: 113) nun vor, „geistige bzw. mentale Entitäten“ als dritten Aktantentyp einzuführen und damit sowohl Gedanken, Erinnerungen wie auch Gefühlen ihren starken (und individuenunabhängigen?) Einfluss auf menschliche Handlungen zuzugestehen. Sowohl der Theorieentwurf Latours wie auch dessen Weiterentwicklung von Jöns in der Geographie scheint so aber gleichsam durch die Hintertür die Trennung von Gefühl, Geist und Körper wieder festzuschreiben, die gerade zu beseitigen ist. Der Dualismus zwischen Mensch und Umwelt wird, so drängt sich der Eindruck auf, deshalb nicht auf grundsätzlicher Ebene hinterfragt, sondern nur neu ausformuliert.210 Zu diesem Eindruck scheint es zu passen, dass sowohl Sprache wie auch Theorieaufbau an einigen Stellen recht konstruktivistisch anmuten, wenn bspw. davon gesprochen wird, dass Netzwerke (scheinbar recht mechanistisch und interaktionistisch)211 als „ein komplexes dynamisches Beziehungsgeflecht aus verschiedensten materiellen und immateriellen Bausteinen“ (JÖNS 2003: 114) konzipiert werden, Bedeutungen Dingen zugewiesen werden,212 oder Menschen als dynamische Hybride durch ihre „performance, bzw. Vermittlungspraxis“ die „vermeintlichen Zwischenräume zwischen der Welt und den Worten“ schließen, indem sie „als Wesen, die Elemente beider Domänen vereinen“, „zwischen Materie und Zeichen vermitteln“ (ebd.: 115). Zumindest die sprachliche Darstellung drängt hier den Verdacht auf, dass sich hinter dem Reden von Domänen in der ANT die Idee unterschiedlicher Welten verbirgt, zwischen denen vermittelt werden soll. Wird dann noch die Idee „supramenschliche[r] Akteure“, wie „gespeicherte[n] Informationen, Wissen, Interessen, Ideen, Bilder[n], Vorstellungen, Gedanken und Gefühle[n]“ (ebd.: 117) eingeführt, fühlt man sich doch stark an Poppers Drei-Welten-Lehre213 erinnert, die nun lediglich in neuem Gewand

210 Dieses Problem sieht Jöns offenbar selbst ebenso (ebd.: 114): „Bei der Diskussion verschiedener gesellschaftstheoretischer Entwürfe wies Wolfgang Zierhofer darauf hin, dass jedes Konzept, das mit mehr als einer Kategorie arbeitet, sich früher oder später mit der peinlichen Frage konfrontiert sieht, wie die verschiedenen Bereiche verbunden sind. In Bezug auf die Drei-Welten-Theorie von Karl Popper argumentierte er zum Beispiel, dass dieses Konzept es nicht geschafft hätte, Interaktionen zwischen der mentalen, materiellen und sozialen Welt auf schlüssige Weise zu konzeptionalisieren. Nach den Erkundungen zu möglichen Inkonsistenzen des akteursnetzwerktheoretischen Aktantenkonzepts gilt diese Beobachtung auch für eine überzeugende Verbindung von Menschen und Nichtmenschen.“ Etwas später stellt JÖNS (ebd.: 129) weiter fest, dass „die konzeptionelle Symmetrie zwischen Menschen und Nichtmenschen weiterhin und zu ihrem Nachteil einen in kartesischen Dualismen gefangenen, reduktionistischen Blickwinkel impliziert, den sie eigentlich zu überwinden beansprucht.“ 211 Vgl. zu einem interaktionistischen Mensch-Umwelt-Verständnis und seinem transaktionistischen Gegenentwurf aus Perspektive des Pragmatismus Kapitel 4.3.1. 212 Im Vergleich hierzu stellen Bedeutungen aus pragmatischer Perspektive das emergente Resultat der Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Umwelt dar und werden nicht „zugewiesen“, was sprachlich doch weiterhin eine Trennung von Ding und Bedeutung suggeriert. 213 Vgl. Kapitel 2.3.1.2.

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daherzukommen scheint. Dem Menschen kommt in diesem Entwurf dann wieder die Aufgabe zu, zwischen der Welt 1 und der Welt 3 zu vermitteln. Auch wenn zahlreiche Annahmen oder zumindest Formulierungen214 der ANT insofern diskutabel erscheinen, unterbreitet die ANT sicherlich einen interessanten, viel versprechenden und vergleichsweise neuen Vorschlag, Materialität, Sinn, Menschliches und Nichtmenschliches in der empirischen Untersuchung der Konfiguration von Mensch-Umwelt-Beziehungen und den in ihnen aufgehobenen Machtstrukturen zusammenzudenken. Ob der Ansatz wirklich dazu geeignet ist, die grundlegende, dualistische Strukturierung unserer Lebenswelt zu überwinden, erscheint mir jedoch ob der oben ausgeführten Kritik als fraglich. Fraglich ist allerdings auch, ob man dies von dem Ansatz überhaupt erwarten sollte. LATOUR (1996b, 1998, 2002, 2007, 2010) ist mit seinem Entwurf der ANT nämlich gar nicht daran gelegen, eine nichtdualistische Epistemologie zu entwickeln. Ganz im Gegenteil, versteht er doch Erkenntnistheorie als soziales, um nicht zu sagen politisches Projekt (LATOUR 2010: 31). Die ANT zielt daher auch nicht auf die Skizzierung einer neuen Erkenntnistheorie ab, sondern auf den Entwurf einer Gesellschaftstheorie, die das Verhältnis des Sozialen zu seiner Umwelt neu bestimmen will. Dadurch, dass sich Latour der erkenntnistheoretischen Frage mit Verweis auf das Politische entzieht, lösen sich die schwebenden erkenntnistheoretischen Fragen jedoch natürlich nicht auf. Offenbar ist Latour dieser Umstand durchaus bewusst, wenn er selbst in seinem späteren Werk rückblickend beginnt, sich in eine ideengeschichtliche Linie mit William James und Alfred Whitehead einzureihen (LATOUR 2005: 28; SCHMIDGEN 2011: 164). Während James ihm vor allem als Inspiration für die Entwicklung seiner Ding-Geschichte (1990: 79f) dient, spielt Whitehead eine bedeutende Rolle für die Formulierung von Latours Position in den Science Studies (1996a: 89; 2002: 137ff; 2012: 412). ANT und Pragmatismus teilen bei allen Unterschieden daher eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten, die es lohnend erscheinen lassen, die ANT vor einem pragmatischen Hintergrund neu zu durchdenken und teilweise neu zu formulieren.215 Die Gemeinsamkeiten von ANT und Pragmatismus, wie bspw. die einer grundsätzlich nichtdualistischen Perspektive, die Betonung von Dynamik und Wandel, das Plädoyer für die Offenheit empirischen Arbeitens sowie die Idee,

214 Die ANT pflegt zum Teil ein recht sperriges Vokabular, das es nicht einfach macht, sich den dahinterliegenden Gedankenentwürfen anzunähern und das mir deshalb auch anfällig für Missverständnisse zu sein scheint. In der Wissenschaft gängige Vokabeln werden in völlig neuartiger Weise umdefiniert (bspw. Handlung, Handlungsfähigkeit, Verantwortung, Hybride, usw.) und um Neologismen (Aktanten, soziotechnische Arrangements, usw.) ergänzt. Insofern will ich nicht ausschließen, dass auch ich hier einer Missinterpretation erlegen bin. Dann würde es sich aber im Sinne einer Verbesserung der Theorierezeption ggf. anbieten, über das verwendete Vokabular nachzudenken. 215 Ein solches Vorhaben wäre umso mehr ein lohnendes Unterfangen, als mir keine Arbeit bekannt ist, die sich dem bisher gewidmet hätte.

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dass Menschen in und durch ihre Praxis mit der Welt verbunden sind, bieten hierfür einige Ansatzpunkte. Das Interesse der ANT an der Untersuchung von Praktiken und an deren Materialitäten ist einer der Ausgangspunkte für die NRT Nigel THRIFTS (vgl. 2000a, 2004a, 2008) und Hayden LORIMERS (2005, 2008), die beide betonen, dass in der Kulturgeographie auf mehr als nur auf Repräsentationen Bezug genommen werden sollte. Demnach sei es nicht sinnvoll, die Welt ausschließlich als diskursives Phänomen zu begreifen, da ein erheblicher Teil der Welt sich durch Interaktionen zwischen verschiedenen Elementen der Welt bestimmt, die in keiner Art und Weise diskursiv verfasst sind. Für die NRT wird Wirklichkeit daher nicht nur sprachlich geschaffen, sondern entsteht im Rahmen mobiler Praktiken (THRIFT 2000a) und performativer Prozesse.216 In der Theoriebildung der NRT finden sich über Performanz- und Performativitätskonzepte hinaus zudem Elemente der ANT, des Poststrukturalismus, der Komplexitäts-, Relativitäts- und Relationalitätstheorien sowie der pragmatisch und phänomenologisch inspirierten Soziologie Erving Goffmanns wieder. Die NRT betont insofern zum einen besonders die Körperlichkeit unserer Praktiken und Erfahrungen und greift zum anderen stärker als die ANT auf Zugänge zur Welt wie Sinnlichkeit und Emotionalität zurück, um die Beziehung von Menschen mit dem Nichtmenschlichen zur verstehen (GRAEFE et al. 2010: 191). Besonders Thrift geht es dabei darum, die Aufmerksamkeit auf Praktiken und die durch sie betonten Abläufe von Ereignissen (”flows of events”) zu lenken,217 statt sich wie bisher oft nur auf kontemplative Denk- und Handlungsmodelle in den Sozialwissenschaften zu konzentrieren (THRIFT 2000a). Die NRT wendet sich dazu der Produktion von Wissen als einem kreativen Prozess zu, der als Teil der sich stetig entfaltenden Welt verstanden wird. In diesem Sinne meint Nicht-Repräsentation das im Werden begriffene: die Welt als Momentaufnahme einer durch Praxis vermittelten Ereigniskette. Die NRT ist daher praxisund lebensorientiert und wendet sich Kreativität, Spezifizität, Offenheit, Fluidität, Risiko, Unsicherheit und einer pluralistischen Perspektive auf Wissen von und in der Welt zu. Sie argumentiert deshalb immer vorläufig, fallibilistisch und experimentell und ist letztlich politisch, da sie ein aktives Engagement in der Welt erfordert (JONES 2008: 1603; THRIFT 2000a) – alles Elemente, die auch für den Pragmatismus charakteristisch sind. Die erkenntnistheoretische Dimension der NRT wird jedoch von ihren Protagonisten allenfalls randlich adressiert. THRIFT (1999, 2000a, 2004b, 2009) erwähnt so bspw., dass er einige Anregungen für seine Theorieentwicklung Vertretern des klassischen Pragmatismus verdanke, und lehnt sich wie Latour dazu vor allem an James und Whitehead an (2008: 6). Genauso greift er aber auch auf Deweys Idee des ‚embodiment‘ kultureller Praktiken und Ästhetiken zurück und baut

216 Vgl. zu Performativitätsansätzen auch Kapitel 4.2.3. 217 Hierin findet sich eine starke konzeptionelle Nähe zum Pragmatismus Deweys wieder, der die Welt ebenfalls als eine Kette von in Praxis verbundenen Ereignissen interpretiert (vgl. Kapitel 4.3.2.).

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damit eine Brücke zu den gegenwärtig in der Humangeographie intensiv diskutierten Performativitätskonzepten (2008: 148f). Dass angesichts der starken konzeptionellen Nähe zwischen Pragmatismus und NRT deren Beziehung in der Vergangenheit nicht stärker herausgearbeitet wurde, erstaunt daher etwas – zumal es aufgrund dieser Nähe umso fruchtbarer erscheint, die NRT pragmatisch zu durchdenken (JONES 2008: 1600).218 Vor diesem Hintergrund ist es doch bemerkenswert, dass der Pragmatismus als eine mögliche erkenntnistheoretische Basis für nichtdualistische Ansätze bisher in der Mensch-Umwelt-Forschung weitgehend unbeachtet geblieben ist. Phänomenologische Ansätze spielen in der Mensch-Umwelt-Forschung bisher allenfalls eine randliche Rolle, obwohl einige ihrer Kerngedanken, wie der des holistischen Charakters des Erlebens, das für Phänomenologen immer mit Leiblichkeit, Emotionen und Sinnlichkeit einhergeht, durchaus anschlussfähig an die momentan viel beachtete NRT Thrifts sind. Erste umfassendere Beachtung fand die Phänomenologie in der Geographie im Rahmen der »Humanistic Geography«. In der deutschsprachigen Mensch-Umwelt-Forschung wird sie heute vor allem von Jürgen Hasse vertreten, der die Verbindung von Erleben und Gefühl (FALTER & HASSE 2002; HASSE 1999a, b) sowie die Rolle und die Entstehung von Atmosphären219 in und für die Auseinandersetzungen von Menschen mit ihrer Umwelt thematisiert und hervorhebt (HASSE 2002a, b, 2012). Dabei diagnostizieren Falter und Hasse nicht nur, dass die Kategorie des subjektiven Erlebens in der Humangeographie weitgehend unterbelichtet ist, sondern auch, dass die emotionale und sinnliche Dimension unseres Daseins in der geographischen Forschungspraxis zu kurz kommt. Gefühle und Sinnlichkeit seien eben weder materiell noch primär zeichenhaft und damit semiotisch verfasst und fielen deshalb durch das Analyseraster der gegenwärtigen Forschungslandschaft hindurch. Gegen den „substraktionsanthropologischen Begriff vom Menschen“, der Menschen als geistige Wesen unter Abzug ihrer „Gefühle und leiblichen Vitalität“ zu isolieren trachtet (FALTER & HASSE 2002: 85), setzen sie die Ästhetisierung menschlicher Erlebniswirklichkeit, die das emotionale, sinnliche und leibliche Sich-in-etwas-befinden zum Thema macht, anstatt sich auf das rein intellektualistische (Nach-) Denken über Situationen, Orte und Räume zu beschränken. Der Mensch wird deshalb als Teil der Natur und in der Natur seiend begriffen und damit dem gesellschaftlich „entfremdete[n] und desorientierte[n] Verhältnis zur Natur“ entgegengesetzt, das kennzeichnend ist für dualistische Denkfiguren. Die Sensibilisierung für das eigene Natursein soll so dazu beitragen, sich bewusst zu machen, dass „wir Natursein an uns selbst erfahren können“ (FALTER & HASSE 2002: 88). Das Erleben des eigenen Naturseins ermöglicht es dann, ein „verstehendes Wissen von der Natur“, 218 Für eine erste Näherung, wie NRT und Pragmatismus zusammenzudenken sein könnten, sei auf die Skizze der Anti-Representational-Theory von JONES (2008) verwiesen. 219 Atmosphären lassen sich demnach als „räumlich ergossene Gefühle“ definieren, „in deren Bann man hineingeraten kann“ und die man dann „in affektivem Betroffensein“ erlebt. „Atmosphären entstehen überall dort, wo Menschen von situativem Erscheinen be– und getroffen werden” (FALTER & HASSE 2002: 84).

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

das Naturprozesse „vom Erleben her auslegt“, zu entwickeln (ebd.: 91). Dabei geht es nicht um die vermeintliche Aufdeckung von kausalen Beziehungen, wie es für die Naturwissenschaften typisch ist, sondern um ein Bedeutungswissen, das Ereignisse auf ihren „Geschehenssinn“ hin untersucht und verstehen möchte. Während sich Kausalwissen auf Dinge bezieht, beschäftigt sich Bedeutungswissen mit „Qualitäten, Charakteren oder Atmosphären“, in die der Beobachter immer bereits involviert ist und die auch nicht verstanden werden können, ohne dass der Beobachter Teil von ihnen ist (ebd.). Eine phänomenologische Mensch-Umwelt-Forschung tritt daher dafür ein, den bisher vernachlässigten Dimensionen des Bedeutungswissens einen Platz zu geben in der wissenschaftlichen Untersuchung der Beziehung von Menschen zu ihrer Umwelt. Dabei betonen Falter & Hasse, dass es zentral ist, sich den Unterschied zwischen Kausalwissen und Bedeutungswissen deutlich zu machen und zu vergegenwärtigen, dass beide Wissensarten für das Verständnis eines Geschehnisses wichtig sind. Werden Sie auseinandergerissen, entsteht letztlich eine „Hypertrophie der Mittel und Insuffizienz des Sinns“ (ebd.), wie dies typisch ist für die rationalistischen Spielarten des naturwissenschaftlichen Realismus und des sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus. Werden sie durcheinandergebracht, entsteht eine Art esoterischer Aberglaube. Die phänomenologische Mensch-Umwelt-Forschung unterbreitet mit diesem Konzept ein äußerst interessantes Theorieangebot, mit dem es möglich erscheint, die gängigen Dualismen zwischen Mensch und Umwelt in der Theoriebildung und empirischen Arbeit hinter sich zu lassen. Dass auf diese Art und Weise die Bereiche der Gefühle, Sinnlichkeit und Ästhetik über ihre Schlüsselfunktion für das Erleben unseres Lebens neu in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden, ist nicht nur überzeugend, sondern ist auch geeignet, eine Lücke in der gegenwärtigen Forschungslandschaft zu schließen. Das Theoriegebäude der Phänomenologie bricht insofern zwar mit zahlreichen Dualismen, unterbreitet auf der erkenntnistheoretischen Ebene jedoch kein ausformuliertes und konsistentes Theorieangebot, um Mensch-Umwelt-Beziehungen umfassend neu zu verstehen. Diese etwas überraschende Diagnose begründet sich darin, dass große Teile der Phänomenologie in ihrer erkenntnistheoretischen Basis entweder, wie Husserl, einer idealistischen Perspektive oder, wie Hartmann, einer realistischen Metaphysik verbunden bleiben (HÜGLI & LÜBCKE 2005: 490). Erst mit Schütz‘ Theorie der Lebenswelt (SCHÜTZ & LUCKMANN 2003) beginnt sich die Phänomenologie von idealistischen und realistischen Fundierungen zu lösen. Schütz’ Theorieentwicklung war nämlich maßgeblich geprägt von den Arbeiten George Herbert Meads und William James, mit denen sich Schütz nach seiner Emigration in die USA vertraut machte (ABELS 2004: 58; HILDENBRAND 1998: 17). Es verwundert daher nicht, dass Schütz Version der Phänomenologie und der klassische Pragmatismus erhebliche Gemeinsamkeiten teilen und es durchaus möglich erscheint, phänomenolo-

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gische Konzepte und Theorien auf der erkenntnistheoretischen Basis des Pragmatismus neu auszuformulieren und an diese anzuschließen.220 Den vielleicht schillerndsten postdualistischen Ansatz der geographischen Mensch-Umwelt-Forschung bildet die Humanökologie (bspw. STEINER 2003, WEICHHART 1991, 2003, 2005, 2007) – allein schon, weil unter ihrem Namen „höchst unterschiedliche, heterogene und zum Teil sehr diffuse Konzepte, die oft miteinander gar nicht kompatibel sind,“ (WEICHHART 1993b: 214) subsumiert werden. Für Peter Weichhart, mit Dieter Steiner einer ihrer Hauptprotagonisten im deutschsprachigen Raum, stellt die Humanökologie einen Sammelbegriff dar, der alle Denkansätze umfasst, die den Anspruch erheben einen Beitrag zur „Bearbeitung der Frage leisten zu können, wie denn die Existenz des Menschen in der Welt zu begreifen und zu erklären ist“ (ebd.: 214). Da ein derart weit gefasstes Begriffsverständnis jedoch jeden Differenzierungswert innerhalb der Umweltforschung verlieren würde (FLITNER 2003: 215), grenzt Weichhart das Konzept im Folgenden stark auf jene Ansätze ein, die sich um eine „konzeptionelle Überwindung der Dichotomie zwischen Mensch und Natur bemühen und dabei ausdrücklich auch Überlegungen zur ontologischen Deutung ihrer als Ganzheiten aufgefassten Erkenntnisobjekte anstellen“ (WEICHHART 1993b: 214).

Die holistische Idee der Humanökologie reicht ideengeschichtlich bis in die 1920er Jahre zurück (ebd.: 208). Ursprünglich entwickelte sich das Konzept der Human Ecology aus der Chicago-School of Sociology um Park und Burgess, die wiederum stark durch die Arbeiten der Chicagoer Pragmatisten, und hier vor allem durch die Arbeiten von Dewey, Mead und Cooley, beeinflusst waren (HENNING 2012: 84). Die Entwicklung der Humanökologie war deshalb bereits zu ihren Anfängen stark durch den klassischen Pragmatismus geprägt. Burgess und Park führten zahlreiche aus der naturwissenschaftlichen Ökologie stammende Begriffe und Modelle mit dem Ziel in die Soziologie ein, gesellschaftliche Prozesse besser beschreiben zu können (FLITNER 2003: 216). Die Kombination einer pragmatischen Grundhaltung mit einer ökologisch inspirierten Gesamtbetrachtungsperspektive trägt sich in dem Ansatz bis heute fort. Wenig erstaunlich fragt die Humanökologie deshalb noch heute recht grundsätzlich danach, wie die Existenz des Menschen in der Welt auf nichtdualistische Weise zu begreifen ist. Sie möchte dabei den Beziehungen, Interaktionen und wechselseitigen Abhängigkeiten in der Grundkonstellation des humanökologischen Dreiecks von Individuum, Gesellschaft und Umwelt nachgehen, die jedoch – und das ist entscheidend – in keine Richtung deterministisch gedacht werden (FLITNER 2003: 216). Allerdings unterscheiden sich die beiden heute im deutschsprachigen Raum vor allem bekannten Versionen der Humanökologie von Steiner und Weichhart doch recht signifikant.

220 Hierzu könnte neben dem klassischen Pragmatismus die bisher in der Geographie meines Wissens nach noch gar nicht rezipierte Philosophie Richard Shustermans mit ihrer Betonung der Körperlichkeit von Erfahrungen einen lohnenden Ansatzpunkt liefern.

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Die Züricher Schule der Humanökologie von STEINER (bspw. 2003) „bemüht sich um eine systemisch inspirierte „Integration“ ganz unterschiedlicher Perspektiven“ (FLITNER 2003: 216). Sie ist dabei allerdings recht weit davon entfernt, ein in sich geschlossenes Konzept darzustellen. Vielmehr muss sie als im Suchen nach einer angemessen Konzeptionalisierung der Beziehungen zwischen Mensch, Gesellschaft und Umwelt begriffen werden. Auf diesem Weg versucht sie sowohl Hilfe von der Handlungstheorie wie auch der Systemtheorie und dem Behaviorismus zu erhalten und plädiert dabei für ein Bild des Menschen als Teil der Natur, in der er sich bewegt. Hierzu referiert STEINER dezidiert auf die phänomenologischen Konzepte der Mitwelt (ebd.: 66ff) und des Erlebens (ebd.: 69) bei Gernot Böhme (ebd: 71). So sympathisch Steiners Plädoyer und seine dezidierte Offenheit für pluralistische Perspektiven auch wirken, so sehr bleibt der Eindruck seines Konzepts doch auch mit inneren Widersprüchen behaftet. Die recht eklektisch anmutende Kombination von Handlungstheorie, Systemtheorie, Behaviorismus und Phänomenologie will nicht recht in ihren Prämissen und Weltbildern zusammenpassen, was er selbst ebenfalls konstatiert (ebd.: 61f). Auch sein Vorschlag der Rückkehr zu einer humanökologisch-holistisch verstanden Landschaftsgeographie (ebd.: 73f) erstaunt etwas vor dem Hintergrund der disziplingeschichtlichen Debatte über den Landschaftsbegriff. Nichtsdestotrotz adressiert seine Idee einer holistischen Humanökologie in sehr grundsätzlicher Weise die Frage nach der Unterscheidung von Mensch und Umwelt und stellt damit gerade den Rahmen unserer Problemdefinition zur Disposition. WEICHHART (1993b) plädiert mit seiner Humanökologie nicht nur für eine Überwindung der Trennung zwischen Mensch und Natur, sondern sieht beide als Aspekte eines ganzheitlichen Zusammenhangs, dessen Schwerpunkt er jedoch aufseiten der Natur verortet. In dieser Perspektive sind Menschen und ihre Umwelten Teil eines natürlichen Zusammenhangs. Weichharts Perspektive steht somit in Opposition zu konstruktivistischen Ansätzen, die Natur als kulturelles Konzept verstehen. Wie in Kapitel 4.1.1 bereits ausgeführt bemüht er sich zu Beginn der 1990er Jahre umfassender um eine Etablierung des Transaktionskonzeptes, das er aus der Umweltpsychologie aufgreift und diskutiert erstmals in mehreren Publikationen dessen humanökologische Potenziale (1990, 1991, 1993c) – ohne sich allerdings mit dessen originärem Entwurf durch Dewey und Bentley auseinanderzusetzen. Weichhart fällt daher die ideengeschichtlich Nähe zwischen Pragmatismus und Humanökologie auch nicht auf, die erklärt, warum sich das Transaktionskonzept Deweys und Bentleys so gut und potenziell fruchtbar (WEICHHART 1991: 234) in Weichharts eigene humanökologische Perspektive einzufügen vermag. Vielleicht auch, weil Weichhart stark auf die Rezeption des Transaktionskonzeptes in der Umweltpsychologie verweist, bleibt seinem Plädoyer für eine transaktionistische Perspektive ein breiterer Widerhall in der Geographie versagt. In den späteren Jahren erweitert Weichhart seinen Ansatz um die Idee der Behaviour Settings, die er den Arbeiten der Wiener Sozialökologie entnimmt (bspw. FISCHER-KOWALSKI & ERB 2006; FISCHER-KOWALSKI et al. 1997; FISCHER-KOWALSKI & WEISZ 1999) und versucht sie mit Werlens Handlungstheorie (WERLEN 1988) zu verknüpfen. Auch Weichharts Version der Humanöko-

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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logie ist daher durch einen etwas eklektisch anmutenden Aufbau gekennzeichnet, dessen innere Widersprüche im Spannungsfeld von Handlungstheorie und Wahrnehmungspsychologie nicht aufgelöst werden (FLITNER 2003: 218). Obwohl der Pragmatismus insofern zahlreiche Anknüpfungspunkte für Theorien und Konzepte in der Mensch-Umwelt-Forschung bietet und sogar für die Entwicklung einer größeren Anzahl der heute diskutierten Konzepte einen wesentlichen Beitrag geliefert hat, ist die Anzahl dezidiert pragmatisch inspirierter Arbeiten in der Mensch-Umwelt-Forschung noch immer sehr begrenzt (WOOD & SMITH 2008: 1527).221 Der Einfluss von Dewey auf die Arbeiten von WHITE über natürliche Ressourcen und Naturgefahren ist schon Anfang der 1990er Jahre Thema (WESCOAT 1992). Mit experimentellem Wissenserwerb im Outdoormanagement Training beschäftigt sich HINCHLIFFE (2000) aus pragmatischer Perspektive. PROCTOR (1998a) diskutiert die Konsequenzen des Pragmatismus in der Umweltethik und adressiert damit bewusst die normative Dimension der MenschUmwelt-Debatte und HOBSON (2006) betont die Fruchtbarkeit des Pragmatismus für die Untersuchung umweltverantwortlichen Handelns im Rahmen einer ethisch orientierten Nachhaltigkeitsforschung. In ihren Übersichtsaufsätzen reißen HEPPLE (2008) und BARNES (2008a) neben anderen Themen die erkenntnistheoretische Position des Pragmatismus in Bezug auf ein nichtdualistisches MenschUmwelt-Verständnis immerhin an. Die Auflösung der Geist-Körper Dichotomie thematisiert BRIDGE (2008) in einem Artikel vor dem Hintergrund der Konstitution städtischer Räume und kombiniert hierzu Habermas »Theorie Kommunikativen Handelns« mit Deweys Konzept der Transaktion – auch hier ist die MenschUmwelt-Beziehung jedoch nur ein Thema unter anderen.222 Das Transaktionskonzept Deweys greift auch CUTCHIN (2008) in seinem Aufsatz auf, der Deweys Metaphysik in Bezug auf ihre Implikationen für das Verständnis von Kontingenz und Wandel, des situierten Sozialen und von Transaktion und damit auch MenschUmwelt-Beziehungen abklopft. Anhand dieser Elemente diskutiert Cutchin anschließend die Fruchtbarkeit der Dewey‘schen Philosophie für eine Rekonzeptionalisierung des Verständnisses von Place in der Geographie. Auf grundsätzlicherer Ebene erörtern lediglich PROCTOR (1998b) und STEINER (2009a) die erkenntnistheoretisch andersartige Konzeption von Mensch und Umwelt sowie Materie und Geist im Pragmatismus und grenzen sie ab gegenüber divergierenden Perspektiven wie dem Konstruktivismus und dem Kritischen Realismus. Obwohl verschiedene Autoren immer wieder auf das Potenzial des Pragmatismus für eine integrative und in diesem Sinne transdisziplinäre Mensch-UmweltForschung explizit hingewiesen haben oder implizit darauf verweisen, ist der konzeptionelle Entwicklungs- und empirische Forschungsstand daher insgesamt noch

221 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 4.1.1. Da es mir sinnvoll erschien gerade die Überblickkapitel zum Literaturstand so zu verfassen, dass deren Lektüre jeweils eigenständige möglich ist, ließ sich eine gewisse Doppelung der Ausführungen leider nicht vermeiden. 222 Zum Konzept der Transaktion und seinen Implikationen für eine pragmatische MenschUmwelt-Forschung vgl. Kapitel 4.3.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

recht unbefriedigend entwickelt.223 Dies erstaunt umso mehr, als eine Reihe von Arbeiten den erheblichen Einfluss des Pragmatismus auf die historische Entwicklung und sein Potenzial für die heutige Geomorphologie herausgearbeitet haben und auf dieser Basis zunehmend auch die Trennung von Physischer und Humangeographie zur Diskussion stellen (BAKER 1996; RHOADS 1999; KERSTING 2012).224 Wenngleich immer wieder pragmatisch inspirierte Arbeiten der geographischen Mensch-Umwelt-Forschung insbesondere auf das Potenzial der nichtdualistischen Erkenntnistheorie des Pragmatismus und seines Transaktionskonzeptes für eine wirklich transdisziplinäre und pluralistische Mensch-Umwelt-Forschung hingewiesen haben (bspw. CUTCHIN 2008; HEPPLE 2008; WEICHHART 1991), steht eine konsistente und detaillierte Erschließung des Pragmatismus und des Transaktionskonzeptes für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung noch immer aus.225 Gerade die nichtdualistische Erkenntnistheorie des Pragmatismus, so scheint es, kann dabei eine fruchtbare meta-theoretische Basis für andere nichtdualistische, theoretische Topoi und Perspektiven bieten und damit helfen, deren eigene Ansätze zu schärfen. Dabei ist es gerade die Toleranz des Pragmatismus für völlig unterschiedliche Wissenschaftsentwürfe, die es ermöglicht, dass das gesamte Spektrum theoretischer Perspektiven in der Mensch-Umwelt-Forschung weiterhin seinen Platz und Gehör finden kann, solange die Vertreter der jeweiligen Disziplinen bereit sind, sich von einigen als absolut angenommen und lieb gewonnen Prämissen und Wahrheitsansprüchen zu verabschieden.226 4.1.3. Raumkonzepte in der Geographie „Raum“ ist eine der zentralen Kategorien in den Arbeiten aller Geographen. Er wird – je nach eigener Positionierung – als der oder als ein wesentliche(r) Kern (-gegenstand) der Geographie betrachtet (HARD 2002a: 211), über den sich das „Wesen“ der Disziplin bestimmt. Das jeweils angelegte und in der Wissenschaftslandschaft äußerst heterogene Verständnis von Raum korrespondiert dabei mit den Vorstellungen über die Erkenntnismöglichkeit von Welt und thematisiert insofern die Möglichkeit des erkenntnistheoretischen Zugangs zur Umwelt (WERLEN 1999: 138). Der Raumbegriff, so könnte man sagen, ist eine fachspezifische Metapher für die Welt in der und über die Geographen Erkenntnisse erlangen

223 Erstaunlicherweise hat sich auch in der Philosophie keine umfangreichere Debatte über das Natur– und Umweltverständnis des Pragmatismus entwickelt. ALEXANDER (2010) widmet sich hier dem Potenzial Deweys für die Entwicklung einer Ökoontologie, während ESPOSITO (1977) sich für die Naturphilosophie von Peirce interessiert und GARRISON (2001) sich mit den Auswirkungen des Transaktionskonzepts Deweys auf ein verändertes Handlungskonzept beschäftigt. 224 Vgl. Kapitel 4.1.1. 225 Hierzu einen Beitrag zu leisten, ist das zentrale Anliegen in Kapitel 4.3. des vorliegenden Buches. 226 Vgl. hierzu Kapitel 3.3.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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wollen. Sie ist deshalb so wirkmächtig, weil schon in der Philosophie klassischerweise alles Seiende im Raum gedacht wird (HEIMSOETH 1971: 95).227 Insofern kulminiert die erkenntnistheoretische Debatte in der Geographie, soweit sie überhaupt geführt wird, fast immer im Verständnis dessen, was als „Raum“ (und damit was als „Umwelt“) bezeichnet wird. Spätestens im „Raum“, so könnte man etwas despektierlich ausdrücken, werden Geographen mit der Erkenntnistheorie konfrontiert (oder müssten konfrontiert werden, gelegentlich ignorieren sie diese Konfrontation auch einfach). Die „Raumfrage“ kann insofern vielleicht als die geographische, erkenntnistheoretische Fragestellung schlechthin verstanden werden. In der Diskussion über Raum, so könnte man sagen, verhandeln Geographen daher ihre eigene Positionierung in der Welt, grenzen sich von dieser ab und bringen so ihr Verständnis dessen zum Ausdruck, was wir als Umwelt bezeichnen. Das jeweilige Raumverständnis ist deshalb auch entscheidend für die unterschiedliche Konzipierung des Verhältnisses von Mensch und Natur bzw. Umwelt. Der Widerstreit um die Deutungshoheit dessen, was als Raum zu bezeichnen in der Geographie als legitim anerkannt ist, spiegelt insofern nicht nur strittige erkenntnistheoretische Positionierungen wider, sondern kann ebenso als disziplinpolitische Auseinandersetzung über die Definition des Gegenstandsbereiches der jeweils in Rede stehenden Perspektiven und Ziele geographischer Forschung sowie die Möglichkeit der Einheit des Faches verstanden werden. Mit diesem Buch eine für die Geographie vergleichsweise neue erkenntnistheoretische Perspektive auf Mensch-Umwelt-Beziehungen in die Diskussion einführen zu wollen, ist daher ein fachpolitisch höchst brisantes Vorhaben. Es durchzuführen, ohne seine „räumlichen“ Konsequenzen im Kontrast zu den bisher eingeführten Perspektiven darzulegen, wäre angesichts der Stellung „des Raumes“ in der Geographie daher höchst widersinnig. Interessanterweise war Raum in den bisher vorgelegten Arbeiten mit pragmatischem Hintergrund jedoch kein Thema und auch in der Philosophie existiert bislang keine Arbeit, die konsistent das Raumverständnis des klassischen Pragmatismus erschließt. Ich werde daher im Folgenden zuerst die bisher in der Geographie diskutierten Raumkonzepte vorstellen. Die Rekonstruktion eines pragmatischen Raumkonzeptes in Anlehnung an die Philosophie Deweys werde ich dann später im Anschluss an die Erläuterung seines Konzeptes der Transaktion herausarbeiten. Mithilfe deren Gegenüberstellung arbeite ich abschließend das Potenzial und die Konsequenzen eines pragmatischen Verständnisses von Raum für die Geographie in Bezug darauf heraus, wie wir Mensch-Umwelt-Beziehungen in fruchtbarer Art und Weise neu denken können und welche Anknüpfungspunkte sich daraus innerhalb der bestehenden Theorielandschaft ergeben. Die kritische Reflexion dessen, „was Raum ist“ bzw. wie wir Raum verstehen können, beschäftigt die deutschsprachige Geographie bereits seit den 1970er Jahren (vgl. bspw. HARD 1969, 1987, 1989, 2003b; BARTELS 1974; EISEL 1980, 227 Dieser Umstand dient als (disziplinintern wie -extern durchaus kritisch beäugte) Legitimation für Geographen, sich mit (fast allen) denkbaren Forschungsgegenständen zu beschäftigen.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

1982; BLOTEVOGEL et al. 1986, 1987; KLÜTER 1986, 1987a, b, 1994; POHL 1993; WEICHHART 1993a; RHODE-JÜCHTERN 1995; WERLEN 1993, 1995a, 1999).228 Waren vor allem in den 1970er Jahren theoretisch-konzeptionelle Beiträge zum Thema Raum in der deutschen Geographie noch eher Mangelware, wird Raum und Raummachen spätestens seit Werlens »Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen« und seiner dortigen Diskussion der „Ontologie von Gesellschaft und Raum“ breit thematisiert. An theoretischen Reflexionen über Raum herrscht deshalb seit mehr als einem Jahrzehnt kein Mangel mehr (vgl. bspw. ARNREITER & WEICHHART 1998; GLÜCKLER 1999; HARD 1999; MIGGELBRINK 2000, 2002; REDEPENNING 2006; RHODE-JÜCHTERN 1998, 2006; SAHR 2003b; SCHLOTTMANN 2005; WARDENGA 2001, 2002, 2006; WEICHHART 1999; ZIERHOFER 1999). Im Zuge des Spatial Turn in den Sozialwissenschaften hat das Thema Raum auch in den Nachbarwissenschaften eine neue Aktualität gewonnen, wie an zahlreichen Veröffentlichungen ersichtlich wird (bspw. DÖRING & THIELMANN 2008; DÜNNE & GÜNZEL 2006; GEPPERT et al. 2005; LÖW 2001; MARESCH & WEBER 2002). Der alltagsweltlich scheinbar eindeutige Raumbegriff weist jedoch, wie HARD (2002b: 236) feststellt, bei genauer Betrachtung erhebliche Fallstricke und Unschärfen auf: „Beim Nachdenken über »Raum« werden Wort und Begriff »Raum« ziemlich regelmäßig reifiziert und kosmisiert: Der Begriff wird tendenziell ununterscheidbar vom Begriff eines Dings an sich und von einem unklaren Begriff des Universums selber.“

Raum wird oft sowohl bezogen auf Physisch-Materielles, Psychisches und Soziales, ohne klar zu artikulieren, auf was sich der Autor gerade mit dem verwendeten Raumbegriff bezieht (vgl. MIGGELBRINK 2002: 39). Nähert man sich dem Raumbegriff von seiner begrifflichen Verwendungspraxis und der ihr zugrunde liegenden Ontologie her, lassen sich daher mehrere Raumkonzepte unterscheiden. Die Anzahl der so identifizierten Raumkonzepte schwankt je nach Autor erheblich und sollte – wie HARD (2003b: 17) betont – nicht als vollständig oder abschließend verstanden werden, sondern kann sich mit theoretischen Weiterentwicklungen und Moden verändern. So unterscheidet HARD (2003b: 16) sieben, WEICHHART (1999) sechs, WERLEN (1999) fünf und WARDENGA (2002: 8) sowie POHL (1993: 259f) vier Raumkonzepte (vgl. Abbildung 7).

228 Die deutschsprachige Geographie greift dabei zunehmend Raumtheorien aus der französischen und angelsächsischen Debatte auf und bezieht diese in ihre Reflexionen ein. Um die Darstellung hier nicht überkomplex zu gestalten, wird deshalb auf eine gesonderte Besprechung der dort vertretenen Raumkonzepte verzichtet – sie finden sich mittlerweile fast ausnahmslos zumindest in den auf Deutsch publizierten Übersichtswerken wieder. Für einen Überblick über die angelsächsische Raumdebatte sei hier lediglich auf das sehr informative Übersichtswerk von CRESSWELL (2004) verwiesen.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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Abbildung 7: Raumkonzepte im Vergleich Quelle: Eigene Darstellung

Wie HARD (1999) und WARDENGA (2006) ausführen, hat sich historisch die Verwendung des Raumbegriffs in der Geographie ausdifferenziert von einem anfangs naiv-positivistisch holistischen (Landschafts-) Raumbegriff über diverse physischmaterielle Konzepte, die Idee eines Wahrnehmungsraumes bis hin zum Entwurf sinnkonstituierter Räume, wie sie von WERLEN in der Sozialgeographie etabliert wurden (vgl. WERLEN 1999: 223). Gemeinsam haben diese Konzepte, dass sie Raum vor einem realistischen Weltbild denken229 und damit einfügbar sind in korrespondenztheoretische Welt229 Das soll nicht bedeuten, dass die aufgeführten Autoren eine realistische Positionierung einnehmen. Mag dies für Werlen oder Pohl und sogar Weichhart mehr oder weniger einge-

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

bilder, denen zumeist die auf antike Vorbilder zurückgehende Drei-Welten-Lehre Poppers230 zugrunde liegt231 (HARD 2002b: 237), oder dass sie den Raumbegriff in bewusster Abgrenzung vom Realismus bilden. Die realistischen Raumkonzepte spiegeln so die klassischen Denkstrukturen über unsere Welt wider. Der Container-Raum stellt das in der Physischen Geographie am weitesten verbreitet Raummodell dar. Seine Eigenschaften können vermessen und kartiert werden. Der Distanz-Relationen-Raum bewegt sich bereits auf einer höheren Abstraktionsebene und geht davon aus, dass sich Raum erst durch das Verhältnis von Objekten zueinander konstituiert. Er ist das Raumkonzept der Raumstrukturforschung sowie der Raumwirtschaftstheorie (bspw. SCHÄTZL 1998). Diese beiden substanzialistischen Raumkonzepte gehen im Ursprung auf Aristoteles, Descartes und Newton zurück232 und bilden die Grundlage naturwissenschaftlich geprägter Herangehensweisen an das Verhältnis von Mensch und Natur bzw. Umwelt. Relationale Raumvorstellungen, wie wir sie in idealistischer Form bei Berkeley, Leibnitz und Kant und in empiristischer Variation bei Hume vorgefunden haben, finden sich in den geographischen Ideen von Wahrnehmungsräumen, sozialen Räumen und konstruktivistischen Raumkonzepten wieder. Während substanzialistische Raumvorstellungen heute vorwiegend als Kürzel für die Thematisierung der Beziehungen zwischen den materiellen Gegebenheiten der physischen Welt verwendet werden und insofern vor allem die Physische Geographie dominieren, werden relationale Raumkonzepte fast ausschließlich in der Humangeographie verwendet233 und dort meist als ein abstraktes Konzept des Redens über materielle und soziale Gegebenheiten gedacht. Die Räume der Wahrnehmung und des Sozialen sind im Vergleich zum substanzialistischen Distanz-Relationen-Raum Newton’scher Prägung sehr viel abs-

schränkt zutreffen. Die Kategorienbildung von Hard oder Wardenga zielt jedoch eher auf die in Verwendung befindlichen Raumkonzepte ab, als dass sie sich mit dieser erkenntnistheoretisch selbst verorten würden (vgl. HARD 2002b: 237). In Bezug auf die oben geäußerte These, dass sich die zusammenfassend vorgestellten Raumkonzepte in eine realistische Ontologie einfügen lassen, muss einschränkend betont werden, dass die konstruktiven Räume bei WARDENGA in einem streng erkenntnistheoretisch konstruktivistischen Sinne eine eigene Kategorie bilden würden, die außerhalb einer realistischen Ontologie in einer konstruktivistischen Logik stehen müssten. Versteht man jedoch konstruktive Räume analog zu Werlens Idee Mentaler Räume, lassen sich sie sich durchaus im Kontext von Poppers Welt 3 verorten. 230 Vgl. zu Poppers Drei-Welten-Lehre Kapitel 2.3.1.2. 231 Dies ist bspw. explizit in Werlens Ontologie der Fall (vgl. WERLEN 1999: 32ff). 232 Vgl. zu den Raumkonzepten in der antiken Philosophie und der Philosophie der Neuzeit Kapitel 2. 233 Was nicht heißen soll, dass alle Humangeographen Raum relational denken. Dies ist ganz eindeutig nicht der Fall, da auch in der Humangeographie substanzialistische Raumvorstellungen weit verbreitet sind. Gleichzeitig gibt es natürlich auch Physische Geographen, die Raum relational denken. Die hier vorgenommene vereinfachte Darstellung spiegelt jedoch sicherlich die weit überwiegende Verwendung der Raumkonzepte in den beiden geographischen Teildisziplinen wider.

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trakter. Um die Möglichkeit der Erforschung von Wahrnehmungsräumen, mit denen die individuellen Wahrnehmungen von Menschen abgebildet werden sollten (bspw. BLOTEVOGEL et al. 1986), entbrannte in der Geographie in den 1980er Jahren ein intensiver Streit. Insbesondere HARD (1987) argumentierte hier, dass ein solches Projekt aus epistemischen Gründen nicht praktisch durchführbar sei, da Wahrnehmungen individuell seien. Wahrnehmungsräume seien deshalb individuell-subjektiv-solipsistische Räume. Würden Wahrnehmungen des Raumes kommuniziert, wären sie sofort Teil des sozialen Raums. Dementsprechend wurde dann ab Mitte der 1980er Jahre ein deutlicher Trend erkennbar, „Raumkonzepte als handlungs- und kommunikationsrelevante Abstraktionen“ zu konzeptionalisieren (MIGGELBRINK 2002: 202). Diese neuen Raumkonzepte fokussierten sich zunächst auf soziale Räume (bspw. WERLEN 1999), die verstanden wurden als sozial beeinflusste und menschlich produzierte Bedeutungszuschreibungen an die physisch-materielle Welt. Mit dieser Idee verliert Raum seine unmittelbare Gegenständlichkeit und wird konzeptionalisiert als ein kommuniziertes, „subjektkonstituiertes Sinnphänomen“ (HARD 1999: 134), das laut Werlen im Handlungsvollzug entsteht. Demzufolge machen Menschen Geographien in Form von „alltäglichen Regionalisierungen“ (WERLEN 1997, 1999), die unsere Welt – und damit auch unsere zukünftigen Handlungsmöglichkeiten – strukturieren. Dieses Raumkonzept Werlens stieß jedoch nicht nur auf breites Interesse, sondern auch auf erhebliche Vorbehalte: „Es geht dabei (noch immer!) vor allem um das altgeographische Raumkonzept, mit dem ein physisch-materieller Raum gemeint ist. Ohne eben diesen physisch-materiellen ‚Raum‘, fühlt auch der Sozialgeograph, ist die Geographie ‚enträumlicht‘; die mentalen Räume (‚Raumvorstellungen‘), die von Handlungssubjekten konstituierten und vom Sozialgeographen rekonstruierten Räume, die Raumabstraktionen als Elemente sozialer Kommunikation – diese blutleeren (d. h. entmaterialisierten) Räume sind, zumindest für viele Geographen, gar keine wirklichen Räume. Es geht ja fast nie um die Frage: Sozialgeographie mit oder ohne Raum, es geht immer um die Frage: mit oder ohne den ‚wirklichen‘, den ‚geographischen‘, den physisch-materiellen Raum [Hervorh. i. O.]“ (HARD 1999: 138).

Die Debatte darüber, wie nun soziale Räume an physisch-materielle Gegebenheiten anschließbar sind, sieht sich jedoch einem grundlegenden erkenntnistheoretischen Problem gegenüber: Denn als Sinnphänomen wären diese Räume logisch Poppers Welt 3, der Welt der Ideen zuzuordnen. Laut der Korrespondenztheorie und Poppers Drei-Welten-Lehre234 stehen Welt 1 und Welt 3 ohne direkte Verbindung zueinander. ZIERHOFER (1999: 1) hat dies als „Repräsentationsschwierigkeiten (…) in der ‚Kontaktzone‘ von Sinn und Materie“ beschrieben. Eine Verbindung ist nur indirekt über das Bewusstsein des einzelnen Menschen (Welt 2) möglich, das aber wiederum sozial nicht zugänglich ist.

234 Vgl. Kap.2.3.1.2.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

HARD (1999: 139f) schließt daraus, dass sozialwissenschaftliche Aussagen über den physisch-materiellen Raum epistemologisch nicht möglich sind,235 weshalb es, so EISEL (1982: 129), „keine Möglichkeit [gibt], in einem vernünftigen Sinne von Gesellschaftswissenschaft als ‚räumlicher“ Wissenschaft zu sprechen“, wenn „Raum“ immer auch physisch-materiell mitgedacht wird. Kommunikation und soziale Systeme ließen sich nämlich nicht physisch-materiell fixieren (HARD 1987: 144; HARD 2002a: 216). HARD (2002a: 218) schlussfolgert daraus, dass sich die Fragestellungen der Geographie verschieben müssen: „Eine sozialwissenschaftliche Sozialgeographie müsste zur Untersuchung der »Raumwirksamkeit sozialer Systeme« eher Fragen beantworten wie: ‚Welche sozialen Systeme generieren welche Räume (d. h. Raumabstraktionen, räumliche Abbildungen) zu welchem Zweck und mit welchen Folgen?‘„

Raumabstraktionen in diesem Sinne können als Orientierungsmuster verstanden werden, um Selbst- und Fremdhandeln zu leiten (vgl. HARD 1987: 132). Dabei besteht die Funktion von Raumabstraktionen meist darin, „komplexe Sachinformationen durch einfachere räumliche Informationen zu ersetzen“ (HARD 2002b: 238). Mit Hilfe von Raumabstraktionen werden Handlungsentscheidungen gefällt und Handlungen implementiert. Der Handelnde schafft aber die verwendeten Raumabstraktionen nicht ad hoc selbst, sondern greift auf gesellschaftlich vorhandene Raumabstraktionen zurück (vgl. HARD 2002a: 220). Man kann also durchaus im Sinne Deweys von einer indirekten, gesellschaftlichen Beeinflussung individueller Handlungen durch sozial produzierte, räumliche Konstrukte reden. Deshalb entfalten weniger die Raumabstraktionen einzelner Menschen, als vielmehr diejenigen, die auf sozialer Ebene in sozialen Systemen und sozialen Organisationen produziert und kommuniziert werden den größten handlungsleitenden Einfluss (ebd.: 226). In ontologischer Hinsicht lässt sich dieses „neue“ Raumverständnis an zwei grundlegend unterschiedliche Perspektiven anschließen, was in theoretischen Debatten immer wieder zu Missverständnissen und Ungenauigkeiten geführt hat. Entweder wird es an eine realistisch-aufgelockerte Perspektive der Sinn- und Bedeutungsdimension menschlicher Handlungen in räumlicher bzw. relationaler Perspektive angebunden (und verbleibt damit innerhalb der realistischen Konzeption der Welt 3 Poppers), wie sie bspw. WERLEN (1997, 1999) und GLÜCKLER (1999) vertreten, oder es orientiert sich an den sich zunehmend etablierenden konstruktivistischen Perspektiven236 in der Geographie. 235 MIGGELBRINK (2002: 45) argumentiert ähnlichen, wenn sie feststellt, dass „für den gesamten Bereich [des Raumes als materielle Umwelt, Anm. d. Verf.] gilt, dass es in der Sozialtheorie keinen Zugang zur materiellen Umwelt geben kann, der unabhängig von der sozialen Praxis zu denken wäre, und dass eine Reduktion von Raum auf den materiellen Aspekt die Beobachterrelativität negieren würde.“ 236 Zum Konstruktivismus vgl. Kapitel 2.4.1. Ohne die dortigen Ausführungen wiederholen zu wollen, ist es hier wichtig anzumerken, dass die epistemischen Grundlagen des Konstruktivismus zumeist nicht Gegenstand der Explikation des jeweiligen Raumverständnisses in der Geographie sind.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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Wie ein erkenntnistheoretisch konstruktivistisches Raumverständnis außerhalb einer (kritisch-) realistischen Logik aussehen könnte, zeigt MIGGELBRINK (2000), indem sie in „nachmetaphysischer Perspektive“ differenziert zwischen zwei konstruktivistisch sinnvoll verwendbaren Raumkonzepten. Einerseits kann demnach Raum als Medium der Wahrnehmung verstanden werden (ebd.: 338), als eine Ordnungsweise der Lebenswelt, die gleichzeitig eine „Bedingung der Möglichkeit von Unterscheidungen“ (ebd.) darstellt. Räume sind demnach zu verstehen als „Ordnung, die durch das Denken von Menschen entsteht“ (ebd.). Die Nähe eines solchen Raumverständnisses zu den Raumkonzepten von Hume und Kant ist hier überdeutlich.237 In einem zweiten, semiotisch-konstruktivistischen Verständnis muss Raum dagegen aufgefasst werden als „kommunizierbare Form der Sinngebung“ (ebd.), die erst im Akt der Sinnzuweisung entsteht und im Gegensatz zu der ersten Auffassung der Wahrnehmung nicht als Medium vorausgeht. Versteht man Raum in diesem Sinn als semantisches Konzept, lassen sich physisch-materielle Räume nicht mehr als eigenständige ontologische Entitäten konzipieren, sondern können sich nur sprachvermittelt konstituieren. Sie sind damit dann selbst wiederum Teil einer semantischen Raumkonstruktion (ebd.: 344). Dieses zweite konstruktivistische Raumkonzept hat somit enge Bezüge zu einem systemtheoretisch orientierten Raumverständnis (bspw. KLÜTER 1986; POTT 2007; REDEPENNING 2006). Wie bereits HARD (1999: 150) in Anlehnung an Luhmann ausführt, kommt Raum zwar eigentlich in der Systemtheorie nicht explizit vor, jedoch seien hier nur zwei Raumkonzepte sinnvoll denkbar: Raum ist entweder als gesellschafts- und damit systeminternes sozial-kommunikatives Phänomen oder als gesellschaftsexternes Phänomen zu verstehen. Gesellschaftsinterner Raum kann verstanden werden „als eine besondere Form von Text, als durch bestimmte Eigenschaften charakterisiertes Element sozialer Kommunikation [Hervorh. i. O.]“ (KLÜTER 1994: 144). Sollte der gesellschaftsexterne Raum thematisiert werden, würde er – hier die Parallele zur semantischen Konzeption – wiederum zu einem gesellschaftsinternen Phänomen der Kommunikation. „Räumliche Orientierung ist dabei eine spezifische Sinnkomponente, die unter Rückgriff auf bestimmte Chiffren Information verkürzt und so Kommunikation vereinfacht“ (KLÜTER 1994: 159).

Raum als wissenschaftliches Konzept kann es – wie Systemtheoretiker und semantische Konstruktivisten plausibel einwenden – folglich nur als sozialen, kom-

237 Deutlich wird dagegen nicht, wie sich ein solches Raumverständnis zu der Differenz von Hume und Kant über den Raum als Apriori und damit über die Schwächen von Kants Raumkonzept verhält, da eine Erörterung Humes in der Geographie nach meinem besten Wissen bisher praktisch nicht stattgefunden hat. Ich vermute, dass die meisten Geographen hier jedoch bislang auch schlicht kein Problem identifiziert hatten, zu dem es gegolten hätte sich zu verhalten. Da Kant in der Geographie deutlich intensiver rezipiert wurde als Hume, folgen die meisten Raumkonzepte eher Kants Entwurf eines apriorischen Raumes als Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung (vgl. Abbildung 7).

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

munizierten Raum geben. Sobald sich Menschen, wie im Wissenschaftsbetrieb, über Raum austauschen, handelt es sich bei dem thematisierten Raum um einen sprachlich-kommunikativen Raum, der bestimmten Zwecken dient. Alle gesellschaftsexternen Raumkonzepte haben dann demzufolge mehr oder weniger einen solipsistischen Charakter und sind gesellschaftlich unzugänglich. Eine völlig andere Perspektive auf Raum eröffnet dagegen ZIERHOFER (1999) mit seiner »Geographie der Hybriden«. Er schlägt als Basis des geographischen Raumverständnisses eine „nichtdualistische und gleichzeitig nicht-metaphysische Ontologie“ vor (ebd.: 1), die auf sprachpragmatischen Grundlagen aufbaut, die von Zierhofer in erkenntnistheoretischer Sicht jedoch nicht eingehender ausgeführt werden.238 Zierhofer argumentiert, dass Raum und Zeit nicht als Ausgangspunkte der geographischen Betrachtungsweise fungieren können, da ansonsten die Bedeutung von Raum und Zeit im Rahmen einer Ontologie bestimmt werden können müsste (ebd.: 2). Dies ist jedoch wie gezeigt vor dem Hintergrund einer Drei-WeltenTheorie nicht möglich. Ein solcher Versuch ist daher zum Scheitern verurteilt. In Abgrenzung zur Drei-Welten-Theorie plädiert Zierhofer deshalb in Anlehnung an Latour für eine monistische Sichtweise der Welt, in der drei phänomenale Bereiche unterschieden werden können: „Sinn wird als emergentes Phänomen des Materiellen begriffen, und auf andere, aber analoge Weise geht das Soziale aus Sinn hervor. Diese Unterscheidung wird als Leistung einer beobachtenden Instanz betrachtet“ (ZIERHOFER 1999: 2f).

Raum und Zeit, so schließt ZIERHOFER aus dieser Perspektive, sind dann eben nicht Ausgangspunkt einer geographischen Betätigung, sondern deren Ergebnis (ebd.). Natur und Kultur sind insofern nur unterschiedliche Denkkategorien der Zuschreibung eines erkennenden Subjektes an denselben Gegenstand. Da das Erkenntnissubjekt in jeden Gegenstand seine kulturelle Perspektive mit einbringt, macht es in der Konsequenz keinen Sinn, „die Natur weiterhin als Gegenstand oder gar als transzendentale Kategorie zu betrachten“ (ebd.: 11). Die Trennung der drei Welten Poppers löst sich daher für ihn in einer monistischen Perspektive auf. So überzeugend diese Argumentation für sich auch steht, bleiben mit Zierhofers Konzept einer hybriden Geographie jedoch auch erhebliche begriffliche und konzeptionelle Unklarheiten bestehen. Die zentralste Frage dabei bezieht sich

238 In seinem zwei Jahre später erschienenen Artikel über den »Ort des Raumes in der Sprache« (ZIERHOFER 2001) macht er etwas eingehendere Bemerkungen hierzu und bezieht sich bspw. explizit auf Wittgensteins Sprachphilosophie. Doch obwohl er im Anschluss Inhalte der Sprechakttheorie genauer ausführt, erklärt er nicht, auf wen sich seine sprachpragmatischen Ausführungen stützen, obwohl sich bspw. die Nähe zu Searles Theorie geradezu aufdrängt. Dies ist umso bemerkenswerter, als Searle eine verhältnismäßig traditionelle Auffassung von Wahrheit und Wirklichkeit gegen pragmatische und relativistische Philosophien zu verteidigen versucht und insofern kaum geeignet erscheint, um auf Basis seiner Philosophie eine nicht-metaphysische Geographie zu begründen.

4.1. Pragmatismus und Mensch-Umwelt-Forschung in der Geographie

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auf den Widerspruch zwischen dem Begriff der Geographie der Hybriden und den geschilderten Inhalten des damit vertretenen Konzeptes. Einerseits will die poststrukturalistische Begrifflichkeit der Hybridität ja gerade aussagen, dass Menschliches und Nichtmenschliches nicht zu trennen sind (vgl. LATOUR 2002: 211ff), andererseits setzt der Begriff der Hybridität ja doch gerade voraus und kommuniziert eben auch, dass es klar unterscheidbare Kategorien gibt, denen ein Element dann zugleich (hybrid) angehört. Die Trennung von Physischer und Humangeographie will Zierhofer auch gerade durch eine Untersuchung jener „Netze“ überwinden, die durch Hybriditäten charakterisiert werden (ZIERHOFER 1999: 12). Dieses begrifflich persistente Durchscheinen einer dualistischen Ontologie verträgt sich natürlich kaum mit der von Zierhofer in Anlehnung an Latour vorgeschlagenen nichtdualistischen Raumauffassung und seiner monistischen Perspektive auf Welt, sodass die Frage offenbleibt, wie Zierhofer – auch vor dem Hintergrund der wahrheits- und wirklichkeitstheoretisch eher konservativen Positionierung der Sprachpragmatik Searles – diesen Konflikt auflöst. Zusammenfassend lassen sich also insgesamt (mindestens) sechs theoretischmethodologisch unterschiedliche Begriffsverwendungen von „Raum“ identifizieren (MIGGELBRINK 2002: 43ff): 1) Raum als physisch-materielle Umwelt, 2) Raum als Differenz, über dessen Konstruktion Identitäten und Zuschreibungen konstituiert werden, 3) Raum als gesellschaftliche Räumlichkeit, 4) Raum als formal-klassifikatorischer Ordnungsbegriff im Rahmen einer Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen (WERLEN), 5) Raum als Element von Kommunikation und 6) Raum als Metakonzept (ZIERHOFER). Betrachtet man diese Kategorisierung, fällt auf, dass die in den klassischen Kategorisierungen nach dem DreiWelten-Modell dominanten physisch-materiellen Raumkonzepte nur im ersten Raum, die Räume der dritten Welt in den Raumkonzepten zwei und drei vertreten sind und mit den Räumen fünf und sechs jüngst neue Spieler das Spielfeld der geographischen Raumauffassung betreten haben. Während die geschilderten Raumkonzepte in der Geographie in der Vergangenheit intensiv diskutiert wurden, etabliert sich seit einiger Zeit neben den genannten Raumkonzepten auch ein phänomenologisches Raumverständnis (HASSE 1999b, 2007, 2010, 2012). Theoretischer Bezugspunkt der geographischphänomenologischen Arbeiten ist meist das umfangreiche Werk des deutschen Philosophen und Phänomenologen Hermann Schmitz (*1928). In Anlehnung an Schmitz identifiziert Hasse (HASSE 2007) sechs verschiedene Raumtypen. Als erste Raumkategorie nennt Hasse den mathematischen Raum, der weitestgehend identisch ist mit dem Physisch-Materiellen und dem Distanz-Relationen-Raum, deren Gemeinsamkeit HASSE im „Aristotelischen Denken des Raumes in der Kategorie physischer Körper“ sieht (ebd.: 5). Die Beschränkung dieses Raumkonzeptes liegt für die Phänomenologie in seiner kühlen Rationalität begründet, die das Raumerleben von ihrem Begriff des Raumes ontologisch abtrennt und gleichzeitig als nichtrational abwertet (ebd.: 6). Der mathematische Raum kann daher in gewisser Hinsicht als entwirklichter, weil völlig in Abstraktion aufgehender, Raum verstanden werden. Die im mathematischen Raum geordneten Dinge erhalten zweitens im symbolischen Raum eine Ordnung ihrer Bedeutungen, die kultu-

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rell spezifisch ausdifferenziert sind (ebd.: 7f). Diese Bedeutungen gehen jedoch über die reine Sinndimension hinaus, denn sie werden nicht nur kognitiv erfasst, sondern auch in ihrer Unterschiedlichkeit gespürt, wie im Beispiel des ZuhauseSeins deutlich wird. Nicht nur die menschlich produzierten Dinge, sondern auch die der Natur erhalten hier ihre Bedeutungen, weshalb der Mensch sich im symbolischen Raum „als Wesen auf der Grenze zwischen Kultur und Natur“ erlebt (ebd.: 10). Dass die symbolischen Ordnungen der Dinge immer kulturell vermittelt sind, weist bereits darauf hin, dass Raum drittens auch immer eine soziale Dimension aufweist. Diese ist milieuspezifisch ausdifferenziert und schafft als sozialer Raum eine „Ordnung der Menschen nach Zugehörigkeiten“, die sich entlang von Fremd- und Selbstzuschreibungen identitär ausbildet (ebd.: 10). Einen sozialen Raum kann es daher nicht ohne symbolischen Raum geben und umgekehrt. Diese Räume werden viertens immer leiblich erlebt. 239 Es ist die leiblich spürbare und erlebte situative Betroffenheit, in der Mensch und Welt miteinander verbunden sind. „In Korrespondenz von Sinn und Sinnlichkeit verfugen sich Kultur und Natur. Die Dinge im geosphärischen (mathematischen) Raum werden im sozialen Raum der Gesellschaft symbolisch aufgeladen, können emotional im Medium des Landschaftlichen aber erst dann auch miterlebt werden, wenn die kulturellen Chiffren am eigenen Leib als Stimmung auch aufgehen“ (ebd.: 13).

Der Mensch wird zum Betroffenen, indem ihm die Stimmung eines Ortes und eines Raumes „auf den Leib rückt“ (SCHMITZ 1967:16 zit. nach HASSE 2007: 14), ihm unter die Haut fährt. Soziale Spannungen, romantische Stimmungen, bedrückende Stille zwischen Menschen werden gespürt und lassen sich weder auf der Bedeutungsebene noch im sozialen Raum fassen. Das leibliche Erleben der Welt findet also großteils atmosphärisch statt in Form von „Gefühle[n], die räumlich in die Weite ergossen sind“ (HASSE 2007: 14). Diese Atmosphären sind geprägt von Halbdingen, wie sie Schmitz genannt hat, Dinge die keinen Ort besitzen aber räumlich wahrgenommen werden, wie „Gerüche, Geräusche, Tempi, der Wind, Temperaturen etc.“ (ebd.: 14). Über ihr leibliches Erfahren werden Menschen auf ihr Mitsein in der Welt aufmerksam. Man kann sich Ihnen gegenüber nicht neutral verhalten und sie rein rationalistisch erfassen, der Sturm, der einen fast umweht oder das kalte Wasser, in dem man nach einem Schiffsunglück schwimmen muss, betreffen einen unmittelbar als Teil der Natur, in der man sich zugleich bewegt (ebd.). Sich selbst spürend verbindet das leibliche Erleben den Menschen mit der Welt. In ihm kommen daher Kultur und Natur zusammen (ebd.: 15) und überschreiten die Grenzen des rein kognitivistischen und rationalistischen Weltentwurfs der modernen Naturwissenschaften, die die Welterfahrung gerade von derartigen als nicht-objektiv betrachteten Erlebnisdimensionen zu reinigen trachtet (ebd.). Die geschilderten vier Raumdimensionen bilden also einen „ganzheitlichen Erlebniszusammenhang“, der fünftens als Situationsraum bezeichnet werden kann. Er ist durch „die wechselseitige Durchdringung aller für eine konkrete Le239 Zum Konzept des Leibes vgl. ausführlicher auch Kapitel 4.3.6.1.

4.2. Potenziale einer pragmatischen Theorie „Kreativen Handelns“

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benslage relevanten Raumbeziehungen gekennzeichnet“, weshalb man auch von einem „situationistischen Holismus“ reden kann (ebd.: 17). Es ergibt deshalb keinen Sinn, ihnen jeweils eine eigenständige ontologische Existenz zu unterstellen. Vielmehr ist ihre Trennung nur analytisch sinnvoll möglich, denn die unterschiedlichen Raumdimensionen sind in ihrer Existenz aufeinander angewiesen: „Der mathematische Raum ist (nicht nur) für den Menschen Bedingung seines körperlichen In-der-Welt-Seins. Die sich im sozialen Raum konstituierenden symbolischen Verweisungen setzen (zumindest auch) die Existenz realer materieller und verorteter Dinge voraus, die im leiblichen Raum als Bedeutungen erlebt werden und mit gefühlsadäquaten kulturellen Werten korrespondieren. Auf den einzelnen Ebenen des Räumlichen vollziehen sich ebenso Wechselwirkungen wie zwischen ihnen“ (ebd.: 19).

Erst im – sechstens – Denkraum ist es möglich, die holistische Einheit des Welterlebens nachdenkend reflexiv aufzubrechen. Das wissenschaftlich „disziplinierte“ Denken aus Realismus und Konstruktivismus überspringt dabei regelmäßig „den Bereich der Gefühle und der Leiblichkeit“ (ebd.: 22), baut ihren Begriff einer vermeintlichen Objektivität auf der damit verbundenen Vereinzelung und Entwirklichung der leiblich erfahrenen Welt auf und hypostasiert so ihre letztlich idealistischen Vorstellungen der Welt, in der wir Menschen leben. Da die Phänomenologie insgesamt innerhalb der Geographie eher ein Schattendasein am Rande der innerdisziplinären Debatte fristet und nur von wenigen Fachvertretern rezipiert wird,240 verwundert es nicht, dass auch ihr hier nur grob gezeichneter Beitrag zur Raumdebatte bisher kaum zur Kenntnis genommen worden zu sein scheint. Dies ist umso bedauerlicher, als eine phänomenologische Perspektive sich wie gezeigt abwendet von dualistischen Ontologien und für ein holistisches Raumverständnis eintritt, das sich insofern ideal für eine integrative Betrachtung von Mensch-Umwelt-Beziehungen eignet. 4.2. POTENZIALE EINER PRAGMATISCHEN THEORIE „KREATIVEN HANDELNS“241 Unabdingbar für das Verständnis des pragmatischen Umwelt- und Raumkonzeptes242 ist ein tiefer gehendes Verständnis der Handlungstheorie des Pragmatismus, denn seine Handlungstheorie bildet nicht nur den Dreh- und Angelpunkt der pragmatischen Erkenntnistheorie,243 sondern ist der entscheidende Baustein um die Bedeutung von Kontingenz, Wandel und Kreativität in Mensch-Umwelt-Be240 Vgl. Kapitel 4.1.2.5. 241 Das vorliegende Kapitel wurde in einer vorhergehenden Version bereits in den Berichten zur deutschen Landeskunde (STEINER 2012) veröffentlicht. Der vorliegende Text stellt eine weiter entwickelte Fassung dar. Sie greift sowohl sinngemäß wie auch wörtlich auf den Ursprungstext zurück, dessen Zitate und Paraphrasen ich im Sinne der besseren Lesbarkeit im Folgenden nicht detailliert und im Einzelnen als Eigenzitat kenntlich gemacht habe. 242 Vgl. Kapitel 4.3. 243 Vgl. Kapitel 3.1.3.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

ziehungen aus pragmatischer Perspektive heraus nachvollziehen zu können. Mit seiner Hilfe ist es möglich zu verstehen, wie wir die Welt, in der wir leben, permanent performativ hervorbringen, warum diese Welt ständigem Wandel unterliegt und inwiefern und warum Menschen immer wieder im Rahmen der Abduktion neue, innovative Ideen generieren und generieren müssen, um mit ihrer sich verändernden Umwelt zurechtzukommen. Es erscheint daher sinnvoll, das Handlungskonzept des Pragmatismus noch einmal etwas genauer zu beleuchten, um die Potenziale einer pragmatischen Perspektive auf Mensch-Umwelt-Beziehungen und für eine (wirtschaftsgeographische)244 Mensch-Umwelt-Forschung herausarbeiten zu können. Dabei fällt zunächst einmal auf, dass Wandel, Performativität, Kreativität und Innovation nicht nur Kernelement des Handlungskonzepts des Pragmatismus sind, sondern sich als Themen seit einiger Zeit auch einer erhöhten Aufmerksamkeit in der geographischen Forschung erfreuen. Die Entstehung kreativer Räume wird dabei z. B. in der Wirtschaftsgeographie in Untersuchungen zur Kreativwirtschaft, Innovationssystemen, translokalen Lernprozessen oder der performativen Herstellung (globaler) Märkte in den Blick genommen (vgl. bspw. BERNDT & BOECKLER 2009; LANGE & STÖBER 2008; RYGUL 2008; SCHILLER 2011). Wandel, Performativität, Kreativität und Innovation sind aber auch in vielen anderen Bereichen der Geographie von erhöhtem Interesse, seien es sozialgeographische Prozesse der Identitätsbildung und sozialen Organisation oder städtische Räume, die Untersuchung der Möglichkeiten zur Verringerung des Ausmaßes der Verletzlichkeit sozialer Gruppen im Kontext der Risikoforschung oder Fragen der Anpassung sozialer Systeme an den Klimawandel – immer stehen neben Veränderungen, denen die beteiligten Akteure ausgesetzt sind und die sie selbst produzieren, neue Ideen und Problemlösungen sowie die Hervorbringung neuer sozialer Tatsachen und deren Folgen im Zentrum der Betrachtung. Eine akteursorientierte Untersuchung der Entstehung kreativer Räume mithilfe der gängigen handlungstheoretischen Konzepte sieht sich dabei jedoch dem Problem gegenüber, dass die in der Sozialgeographie etablierten und in anderen humangeographischen Forschungszusammenhängen verwendeten Handlungstheorien Kreativität, Innovation und intendierter Wandel nur unbefriedigend erklären

244 Mit diesem bewusst eingeklammerten Zusatz möchte ich weder zum Ausdruck bringen, dass ich mit meinen Ausführungen andere Teildisziplinen der Geographie ausschließen möchten, noch möchte ich die Mensch-Umwelt-Forschung auf eine geographische oder gar wirtschaftsgeographische Perspektive verengen. Vielmehr möchte ich damit zum Ausdruck bringen, dass es mir als Wirtschaftsgeograph nun einmal am leichtesten fällt, die Potenziale eines pragmatischen Handlungskonzepts für die Mensch-Umwelt-Forschung am Beispiel der Wirtschaftsgeographie durchzuspielen, da ich hier die Theorielandschaft, ihre Problematiken und mögliche Anschlusspunkte im Vergleich zu anderen Teildisziplinen der Geographie oder zu anderen Fächern schlicht eben am besten kenne. Meine Beispiele werden sich deshalb im Folgenden vor allem an Beispielen aus der Wirtschaftsgeographie orientieren. Die generelle Argumentation dürfte jedoch ohne weiteres auf andere (sub-) disziplinäre und thematische Kontexte übertragbar sein.

4.2. Potenziale einer pragmatischen Theorie „Kreativen Handelns“

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können, da in den meisten Handlungstheorien Wandel lediglich als Ergebnis unintendierter Handlungsfolgen oder externer Schockereignisse konzeptionalisierbar ist. Ein solches Verständnis erscheint jedoch für Situationen als unangemessen, in denen Akteure gezielt und erfolgreich nach Problemlösungen suchen und dabei gleichsam Geographien kreativen Wandels hervorbringen. Die Untersuchung kreativer Räume erfordert daher aus wissenschaftstheoretischer Perspektive eine Veränderung der zugrunde gelegten Handlungstheorie. Damit stellt sich die Frage, worin die Gründe der konzeptionellen Mängel etablierter Theorien zu suchen sind. Um dies zu klären, werde ich zunächst einige der wichtigsten handlungstheoretischen Modelle grob skizzieren, um anschließend vergleichend herauszuarbeiten, warum den diskutierten Handlungskonzepten eine Schwäche in der Konzeptionalisierung kreativen Wandels innewohnt. Um Wandel als intendierten und kreativen Prozess adäquat verstehbar zu machen, werde ich danach als Alternative ein pragmatisches Handlungskonzept kreativen Handelns vorstellen, das auf der Handlungstheorie Deweys basiert und das später durch Hans Joas weiter ausdifferenziert wurde. 4.2.1. Etablierte Handlungstheorien im Vergleich Handlungstheoretische Konzepte nehmen in der Humangeographie spätestens seit WERLENs (1988, 1997, 1999) Entwurf einer handlungsorientierten Sozialgeographie eine bedeutende Rolle ein (WEICHHART 2008: 247ff). Mithilfe seiner handlungstheoretisch konsequenten Weiterentwicklung der von HARTKE (1962: 115) in die Diskussion eingebrachten Forderung nach der Analyse des alltäglichen „Geographie-Machens“ ist es gelungen, dessen Praktiken in den Fokus (sozial-) geographischer Untersuchungen zu rücken. Mit dieser Konzeption findet eine paradigmatische Wende statt, in der nicht mehr der „reifizierte Raum“, sondern sein „alltagsweltlicher und raumwissenschaftlicher Reifikationsprozess“ sowie dessen „soziale Konsequenzen“ (WERLEN 1997: 63) in den Fokus sozialgeographischer Untersuchungen rücken. Der Entwurf einer handlungstheoretischen Sozialgeographie hat insofern der geographischen Theorieentwicklung nicht nur wichtige neue Impulse verliehen, sondern auch dazu beigetragen, den „Raumfetischismus“ (BELINA 2008: 528) der traditionellen Geographie zu überwinden. Von der Handlungstheorie zu reden ist dabei natürlich unzulässig (Werlen 2004: 321). Vielmehr existiert eine große Zahl unterschiedlicher Theorieentwürfe, die mit ihren spezifischen Stärken und Schwächen für die Untersuchung jeweils unterschiedlicher Probleme geeignet sind (Werlen 1988: 113). 4.2.1.1. Normorientierte Handlungstheorien Theorien des normorientierten Handelns, wie bspw. die von PARSONS (1951) und MERTON (1936), konzentrieren sich auf die Rolle von Normen für die Handlungen von Individuen. Die Ansätze gehen davon aus, dass der Mensch grundsätzlich

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sinnvoll nur als soziales Wesen, als Homo Sociologicus, konzeptionalisierbar ist. Um in der Gesellschaft zurechtzukommen, muss das Individuum seine Bedürfnisse mit denen anderer Individuen abstimmen. Hierfür benötigt es Kompetenzen, die es durch die Internalisierung sozio-kulturell definierter Werte- und Normensysteme im Rahmen seiner Sozialisation erwirbt, wodurch eine affektual emotionale Bindung an die Gemeinschaft entsteht. In seinem Handeln reproduziert das Individuum die gesellschaftlich an es herangetragenen Werte- und Normensysteme und trägt so zur Erhaltung der gesellschaftlichen Gemeinschaft bei. Gemeinschaftliche Solidarität und Inklusion sind daher die wesentlichen Treiber der sozialen Interaktion; Konflikte entstehen vor allem durch Sozialisationsprobleme und gesellschaftliche Exklusionsprozesse (vgl. SCHUBERT 2007: 5). Da der Ansatz davon ausgeht, dass Individuen in ihren Handlungsmöglichkeiten durch die (normativen) Strukturen und Regeln der Gesellschaft eingeschränkt sind (WERLEN 1995b: 25f), kommt in diesem Ansatz ein gewisser struktureller Determinismus zum Tragen, der individueller Kreativität und davon ausgehendem Wandel keinen Raum lässt. Wandel wird daher in diesem Handlungsmodell vor allem als Ergebnis „unintendierter Handlungsfolgen“ (MERTON 1936) diskutiert. 4.2.1.2. Utilitaristische Handlungstheorien Zweckrationale, nutzenorientierte Handlungstheorien, gehen im Kontrast zu normorientierten Ansätzen von einem methodologischen Individualismus aus und basieren auf den Menschenbildern eines Homo Rationalis, Homo Oeconomicus oder Satisfizers (vgl. BECKERT 2009; WERLEN 1988: 116ff).245 Sie finden sich bspw. bei WEBER (2005), PARETO (1955) und SCHÜTZ (1971, 1974) wieder und liegen Rational Choice Theorien, raumwissenschaftlichen und neoklassischen Theorien sowie der Verhaltensökonomie, aber auch der frühen Phänomenologie zugrunde. Insbesondere die Theoriebildung in den Wirtschaftswissenschaften ist 245 Im Gegensatz zu dem über vollständige Informationen verfügenden und zweckrational, nutzenmaximierenden Homo Oeconomicus bezieht zwar das Menschenbild des Satisfizers die Unmöglichkeit perfekter Informationen ein und ermöglicht damit gerade in den Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftsgeographie wichtige Modifikationen und Weiterentwicklungen der bestehenden (neoklassischen) Modelle, wie sie von der Verhaltensökonomie entwickelt wurden. Aber auch der Satisfizer rüttelt nicht an der Prämisse „einer im Prinzip perfekten Rationalität des Menschen in alltagsweltlichen Entscheidungssituationen. (…) Das empirische Faktum, dass Menschen bei der kognitiven Bewältigung von lebensweltlichen Problemen im Stande sind, subjektive Formen von Rationalität und Kausalität zu verwenden, ist in diesen Ansätzen konzeptuell nicht vorgesehen“ (WEICHHART 2008: 244). Bis heute wird jedoch – gerade in den Wirtschaftswissenschaften und auch in großen Teilen der Wirtschaftsgeographie – rationales Handeln nach wie vor „naturalisiert“ (BECKERT 2009: 5). Schon Adam SMITH (1978) postuliert, dass es in der natürlichen Neigung des Menschen liege, Handel zu treiben, woraus ein Menschenbild des Nutzen maximierenden, rational handelnden Menschen abgeleitet wurde, der dem Mainstream der wirtschaftswissenschaftlichen Modelle zugrunde liegt.

4.2. Potenziale einer pragmatischen Theorie „Kreativen Handelns“

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dabei aufs Engste – so eng wie in keiner anderen Sozialwissenschaft (BECKERT 2009: 5) – mit einem utilitaristischen Handlungsparadigma verbunden. Utilitaristische Handlungstheorien postulieren, dass das treibende Motiv sozialen Handelns in der möglichst effizienten und zweckrationalen Erzielung eines Nutzens246 zu suchen sei – Menschen streben einer solchen utilitaristischen Handlungskonzeption folgend also mit dem geringst möglichen Mitteleinsatz die größtmögliche Befriedigung ihrer Bedürfnisse an (vgl. FUCHS-HEINRITZ et al. 1995: 702). Da also Handlungen in Hinblick auf ihre Zwecke konzeptionalisiert werden, geht der Sinn einer Handlung dieser logisch voraus. Das Handlungsziel besteht vor dem eigentlichen Handlungsakt. Handlungen sind deshalb ergebnisorientiert ausgerichtet. Um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, muss das Individuum Entscheidungen fällen, wofür es auf seinen subjektiven Wissensvorrat zurückgreifen muss. Besteht eine Diskrepanz zwischen subjektiv verfügbarem und objektiv richtigem Wissen, ist die Gefahr groß, dass eine Handlung zu unbeabsichtigten Ergebnissen führt. Unwissenheit oder Gewissheit bestimmen daher wesentlich über den Handlungserfolg (WERLEN 2004: 325). Um Unsicherheiten zu minimieren, schaffen sich die Akteure institutionalisierte Austauschordnungen, die den Interaktionsprozess regeln. Dadurch, dass alle Akteure innerhalb der gegebenen Ordnung zweckrational ihre eigenen Interessen verfolgen, entsteht ein inhärent zum Gleichgewicht tendierendes Austauschsystem, da bei einmal festgelegten Handlungszielen die unter den gegebenen Bedingungen optimalen Handlungsmittel und letztendlich auch alle Handlungen determiniert sind (BECKERT 2009: 9). Die gleichen Strukturbedingungen führen daher immer wieder zu den gleichen Handlungsabläufen, womit sich schließlich ein quasi-stabiler, final fast schon statischer, Systemzustand herausbildet, in dem Wandel nur noch durch externe Schocks, Fehlentscheidungen aufgrund von Informationsasymmetrien oder unbeabsichtigten Handlungsfolgen entstehen kann (WERLEN 1997: 151). Aus dem utilitaristischen Handlungsmodell folgt so letztlich auch immer ein ihm immanenter „situativer Determinismus“ (LATSIS 1972). Dieses Gedankengebäude erlaubt es, menschliches Handeln in kausalen Beziehungen zu entwerfen, es mathematisch zu formulieren, es vermeintlich vorhersagbar zu machen und damit letztlich zu vernaturwissenschaftlichen (BECKERT 2009: 5). Die Vorhersagbarkeit menschlichen Handelns beruht dabei neben der Zweckrationalität des Utilitarismus auf der Überzeugung, dass die Zukunft der Vergangenheit gleichen wird, da sie auf den gleichen Annahmen einer allen gemeinsamen Rationalität beruht. Es ist diese Absolutsetzung einer gemeinsamen Rationalität, die letztlich eine ahistorische247 und damit weitgehend kontextlose Art zu denken nach sich zieht (COX 1981: 132). 246 Was unter Nutzen zu verstehen ist, wird nicht näher bestimmt und kann daher variieren (FUCHS-HEINRITZ et al. 1995: 702). In diesem Umstand begründet es sich, dass utilitaristische Theorien sowohl mit dem Menschenbild des Homo Oeconomicus, wie auch dem des Satisfizers operieren können. 247 Die Annahme, dass dem Verhalten des Menschen eine über alle Zeiten gleiche Art von Rationalität zugrunde liegt und gelegen hat, ist deshalb ahistorisch, weil sie unterstellt, dass seit

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Lässt sich eine unvorhergesehene Systemdynamik nicht durch externe Schocks, Fehlentscheidungen aufgrund von Informationsasymmetrien oder unbeabsichtigte Handlungsfolgen erklären, lassen es utilitaristische Handlungstheorien allenfalls noch zu, Wandel auf die Wirkung irrationaler Verhaltensweisen zurückzuführen, wie dies bspw. im Konzept des Herdenverhaltens (bspw. BANERJEE 1992; SCHARFSTEIN & STEIN 1990) getan wird. Alle dem unterstellten Rationalitätsmodell nicht entsprechenden Handlungen werden damit jedoch letztendlich zu „defizitären Handlungsweisen (…) nicht-rationalen Handelns“ erklärt und stigmatisiert (JOAS 1992: 58). Diese Diagnose trifft nicht nur auf das klassische Modell utilitaristischen Handelns zu, sondern auch auf GIDDENS’ Theorie der Strukturierung (1997) und dessen Adaption für die Geographie durch WERLEN (1997). Giddens versucht, normorientierte und zweckrationale Ansätze miteinander zu verbinden. Durch die Handlungen von Individuen, so seine These, werden gesellschaftliche Strukturen (re-) produziert, die wiederum als Regeln und Ressourcen von den Individuen verinnerlicht werden und die nachfolgende Handlungsoptionen zugleich eingrenzen, wie auch ermöglichen. Strukturen sind deswegen sowohl das Medium wie auch das Ergebnis sozialen Handelns. Dieser doppelläufige Charakter von Strukturen hebt den Dualismus zwischen Individuum und Struktur auf, der für die klassische Soziologie konstitutiv ist (GIDDENS 1997: 77f). Da GIDDENS jedoch einer zweckrationalen Perspektive auf Handlungen verbunden bleibt (1997: 53), impliziert auch seine Handlungstheorie einen situativen Determinismus. Es ist genau dieser situative Determinismus, der es in letzter Konsequenz nicht zulässt, Kreativität, gezielte Innovation und intendierten Wandel angemessen zu adressieren. Dass utilitaristische Handlungstheorien gerade in der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung248 extrem einflussreich und dominie-

dem Anbeginn der Zeiten eine bestimmte Idee von Rationalität Gültigkeit habe, nach der sich Menschen verhielten. Ihre Vertreter ignorieren dabei, dass ihre spezifische Art zu denken und die Welt zu betrachten ihrer eigenen Epoche und kulturellen Prägung entstammt. Anzunehmen, diese Art zu denken wäre universell und über alle Zeiten und damit auch gesellschaftlichen Kontexte hinweg beständig, setzt deshalb voraus die historische Entwicklung und damit den kulturellen Kontext ihrer Entstehung zu ignorieren (COX 1981: 133). 248 Die Wirtschaftswissenschaften haben sich bereits in der marginalistischen Revolution zwischen 1870 und 1890 von umfassenderen Gesellschaftstheorien verabschiedet und ein stark formalistisches und striktes Modell zweckrationalen Handelns entwickelt (JOAS 1992: 290), mit dessen Hilfe es möglich war, die bis dahin dominierende objektive Wertlehre der Arbeitswerttheorie der klassischen und marxistischen Ökonomie durch eine subjektive Wertlehre zu ersetzen. Die subjektive Wertlehre ermöglichte es, den Wert einer Sache nicht aus der in sie eingegangenen Arbeitskraft zu erklären, sondern aus dem mit ihr verbundenen individuellen Nutzenzuwachs im Sinne des zusätzlichen Ausmaßes individueller Bedürfnisbefriedigung. Mit ihrer Hilfe konnten neue und viel versprechende Herangehensweisen an Entscheidungsprobleme individueller Marktteilnehmer und ihrer aggregierten Entscheidungen und Handlungsfolgen entwickelt werden (ebd.). Nutzenmaximierung wird damit jedoch zum Leitziel ökonomischen Handelns per se erhoben. Die marginalistische Revolution legte mit dieser Idee, die der Grenznutzentheorie und der Gleichgewichtstheorie der Märkte zu Grunde

4.2. Potenziale einer pragmatischen Theorie „Kreativen Handelns“

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rend wurden, muss dabei besonders verwundern: Denn schließlich ist ja, wie BECKERT (2009: 10) zurecht anmerkt, der moderne Kapitalismus die „durch ständige kreative Umwälzungen von Handlungssituationen charakterisierte Wirtschaftsformation par excellence“. Dass nach wie vor die allermeisten wirtschaftswissenschaftlichen (und die überwiegende Mehrheit der wirtschaftsgeographischen)249 Theorien sich relativ einseitig auf utilitaristische Handlungstheorien beziehen und insofern mit einem Handlungskonzept operieren, das die Kreativität, den Wandel und die Dynamik kapitalistischer Wirtschaftssysteme gerade nicht hinreichend erklären kann und gleichzeitig daran glauben, menschliches Verhalten im Rahmen „ökonomischer“ Gesetzmäßigkeiten vorhersagen zu können, muss einen als Außenstehenden deshalb doch zumindest erstaunen.250 4.2.1.3. Verständigungsorientierte Handlungstheorien Interpretativ argumentierende, verständigungsorientierte Handlungstheorien, wie sie bspw. von MEAD (1995) und BLUMER (1975) im Symbolischen Interaktionismus formuliert wurden, gehen davon aus, dass Menschen auf der Basis von Bedeutungszuschreibungen handeln, die in sozialen Interaktionen entstehen und die in einem wechselseitigen Interpretationsprozess entwickelt und modifiziert werden (BLUMER 1975: 81). Die Akteure zeigen sich ihre Situationsinterpretationen durch ihre Handlungen gegenseitig an, beziehen sie aufeinander, gleichen sie ab, verständigen sich so im Kommunikationsprozess auf eine gemeinsame soziale Wirklichkeit (BERGER & LUCKMANN 2004) und versichern sich ihrer personalen und gruppenspezifischen Identitäten (BLUMER 1975; MEAD 1995). Der Sinn einer Handlung bildet sich also erst im Handlungs- und Kommunikationsprozess heraus und ist insofern kontextabhängig. Menschen müssen dem Ansatz entsprechend

liegt, das Fundament für die gesamte neoklassische Ökonomie (SÖLLNER 1999: 41ff), die über weite Strecken des 20. Jhd. die Wirtschaftswissenschaften dominiert. 249 Zur Kritik des Rationalitätsmodells und Menschenbildes des Homo Oeconomicus in der Wirtschaftsgeographie vergleiche bspw. BARNES 1988. 250 Dies gilt insbesondere im Angesicht der nun schon mehrere Jahre andauernden Finanz– und Wirtschaftskrise und den innerdisziplinären Reflexionen in den Wirtschaftswissenschaften darüber, warum sie ihrem eigenen Anspruch nur unzureichend gerecht werden konnten, die Krisenentstehung im Vorfeld besser vorherzusagen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman fragt so bspw. im Rückblick auf die von nur wenigen Wirtschaftswissenschaftlern vorausgesagte Krisenentwicklung „How Did Economists Get It So Wrong?“ (KRUGMANN 2009). Das Handelsblatt betitelte am 25.08.2008 mit Blick auf die Diskrepanz zwischen Krisenentwicklung und Theoriebildung der Wirtschaftswissenschaften „Wissenschaft mit Motorschaden?” (Handelsblatt 25.08.2008) und Alan Greenspan, ehemaliger Vorsitzender der amerikanischen Notenbank, der Federal Reserve, bekannte in einem Hearing vor dem U.S. House of Representatives (2008: 36f): „I found a flaw in the model that I perceived is the critical functioning structure that defines how the world works. (…) I was shocked, because I had been going for 40 years or more with very considerable evidence that it was working exceptionally well.”

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

daher in erster Linie als kommunizierende Wesen, als Homo Communicans verstanden werden, die auf Kopräsenz angewiesen sind. Durch den Abgleich sozialer Wirklichkeiten entsteht mittels einer Horizontverschmelzung eine Interpretationsund Wertegemeinschaft. Die so geschaffene soziale Wirklichkeit bildet anschließend den Bedingungsrahmen zukünftiger Handlungen. Mit diesem Handlungsmodell verbunden ist eine Perspektivverschiebung, die sowohl strukturellen wie auch situativen Determinismen eine Absage erteilt. Vielmehr gehen verständigungsorientierte Theorien davon aus, dass „Menschen [nicht] handeln (…), weil sie sich funktional zu Strukturbedingungen verhalten, sondern, weil sie den Bedingungen eine Bedeutung geben und damit die Bedingungen selbst schaffen“ (ABELS 2004: 44).

Da im interpretativen Paradigma Sinn nicht dem Handeln vorausgehend, sondern kontext- und prozessabhängig verstanden wird, sind Sinnstrukturen in diesem Handlungskonzept grundsätzlich einem permanenten Wandel unterworfen (ABELS 2004: 38). Das verständigungsorientierte Handlungskonzept steht Wandel insofern im Vergleich zu den anderen Handlungsmodellen am offensten gegenüber. Durch seine Verständigungsorientierung und die geforderte Horizontverschmelzung weist es jedoch gleichzeitig eine stark konsensorientierte, wirklichkeitsstabilisierende Komponente auf, in der individuelle Kreativität nur randlich thematisiert wird. Dies ist umso erstaunlicher, weil viele interpretative Ansätze auf den Pragmatismus zurückgehen (SUHR 2005: 9), in dem Kreativität ein zentrales Element bildet. Zusammenfassend lässt sich damit feststellen, dass Kreativität in der „Tradition der soziologischen Handlungstheorie“ eine „Randstellung“ einnimmt (JOAS 1996: 213), die es nicht erlaubt, die Vielfalt menschlicher Handlungen angemessen zu erklären. 4.2.2. Das pragmatische Konzept Kreativen Handelns – eine fruchtbare Basis zum Verständnis von Innovation und intendiertem Wandel Will man die Konstitution kreativer Räume in der Geographie besser verstehen, ist daher eine neue Perspektive auf Handeln notwendig. Ein fruchtbares Angebot unterbreitet hierfür wie kein anderes erkenntnistheoretisches Konzept der klassische Pragmatismus, da er davon ausgeht, dass sich „Bewusstsein, Erkenntnisse und Bedeutungen im Verlauf der kreativen Lösung von Handlungsproblemen entwickeln“ (SCHUBERT 2009: 345). Der Pragmatismus stellt damit insgesamt eine „Theorie situierter Kreativität“ bzw. „Theorie der Kreativität des menschlichen Handelns“ dar (JOAS 1996: 197), die versucht, „eine Welt verständlich zu machen, in der Kreativität möglich ist“ (PAPE 1994: 9). Vergleicht man den im Pragmatismus Deweys fußenden und von Joas weiter ausgebauten Ansatz kreativen Handelns mit den bislang in der Geographie diskutierten Ansätzen (Tabelle 7), wird deutlich, dass sich das kreative Handlungskonzept des Pragmatismus grundlegend von den zuvor diskutierten unterscheidet. Be-

4.2. Potenziale einer pragmatischen Theorie „Kreativen Handelns“

207

trachten wir dazu das kreative Handlungskonzept des Pragmatismus im Anschluss an Dewey noch einmal etwas genauer als wir dies zuvor251 getan haben. Dabei ist es zuvorderst wichtig zu betonen, dass der Pragmatismus mit einem relativ weiten Handlungsbegriff operiert, der neben klassisch-tätlichen Handlungsakten auch sprachliche und gedankliche Akte umfasst. Aus pragmatischer Perspektive handeln Menschen, weil sich ihnen eine für sie zweifelhafte bzw. problematische Situation stellt (DEWEY 2002a: 19), die sie aufzulösen versuchen (ebd. 132ff),252 um wieder die Kontrolle über ihre Handlungssituation und damit Handlungsmacht zurückzuerlangen (DEWEY 2001: 293f). Tabelle 7: Etablierte Handlungsmodelle und kreatives Handeln im Vergleich Normorientiertes Handeln

Zweckrationales/ Nutzenorientiertes Handeln

Wert-/ verständigungsorientiertes Handeln

Kreatives Handeln

Subjektmodell

Homo Sociologicus

Homo Rationalis Homo Oeconomicus

Homo Communicans Problemlösender Mensch

Zielorientierung

Sozial-kulturelle Kompetenz (Solidarität)

Kosten-/NutzenMaximierung (Effizienz)

Verständung/ Identität (Authentizität)

Problemlösung

Bezugsrahmen

Abstimmung verschiedener Bedürfnisse

Objektives Wissen subjektiver Wissensvorrat

Intersubjektive Bedeutungen

Herstellung einer Handlungsgrundlage

Situation

Reproduktion von Werten/Normen

Gewissheit/ Ungewissheit

Kopräsenz/ Abwesenheit

Zweifelhafte Handlungssituation

Ordnung

Gesellschaftliche Gemeinschaft

Austauschordnung, Märkte

Wertegemeinschaft

Negotiated Order

Modus Operandi

Solidarität, Inklusion

Optimum, Gleichgewicht

Horizontverschmelzung

Situierte Erfindung

(Freiheit)

Quellen: WERLEN 2004, 324; SCHUBERT 2009; verändert und ergänzt

Menschen suchen also alltäglich nach Lösungen für sich ihnen stellende Probleme, um sich eine (neue) Grundlage für ihre Handlungen zu verschaffen (DEWEY 2001: 224). Nachdem das Problem genauer eingegrenzt wurde, werden in einem abduktiven, d. h. kreativen und spontanen Prozess Hypothesen zu seiner Lösung gebildet.253 Diese abduktive Hypothesenbildung ist es, die die Schlüsselrolle im Problemlösungsprozess einnimmt. Sie ist bestimmend dafür, dass Kreativität in theoretischer Hinsicht überhaupt denkbar wird. Wie lässt sich diese Behauptung nun begründen? Grundsätzlich stehen zur Hypothesenbildung zwei klassische Verfahren logischen Schließens zur Verfügung, das der Deduktion und das der Induktion. 251 Vgl. Kapitel 3.1.3. 252 Der Problemlösungsprozess wurde detailliert bereits in Kapitel 3.1.3.2. beschrieben und wird daher hier nicht noch einmal wiederholt. 253 Vgl. hierzu auch die grundlegenden Ausführungen in Kapitel 3.1.1.

208

4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Während deduktive Schlüsse zwar sicher sind, unsere Erkenntnis jedoch nicht erweitern, und induktive Schlüsse als Wahrscheinlichkeitsschlüsse auf Hypothesen hinleiten, die so naheliegen, dass sie nicht wirklich neu für uns wirken, schaffen abduktive Schlüsse eine neue Verknüpfung von Tatsachen und Erklärung, die Erkenntnis erweiternd wirkt, da sie eine neue Idee im Denken hervorbringt. Abduktive Schlüsse zielen auf die Findung einer Ordnung ab, „die zu den überraschenden ‹Tatsachen› passt, oder genauer: die [die] handlungspraktischen Probleme, die sich aus dem Überraschenden ergeben, löst [Hervorh. i. O.]“ (REICHERTZ 2000: 284).

Sie gehen insofern weit über die wenig Erkenntnis erweiternden Schlüsse von Deduktion und Induktion hinaus. Dabei ist es keineswegs beliebig, welche Regeln und Tatsachen miteinander verknüpft und welche neuen Ordnungen hergestellt werden, denn die neuen Erklärungsangebote und Problemlösungen müssen sich anschließend experimentell bewähren. Dieses etwas abstrakt klingende Konzept abduktiven Schließens lässt sich gut am Beispiel eines Calvin & Hobbes Comics veranschaulichen (Abbildung 8).

Abbildung 8: Calvin & Hobbes – Newtons Erstes Bewegungsgesetz Quelle: WATTERSON 2006 (CALVIN AND HOBBES © 1995 Watterson. Reprinted with permission of UNIVERSAL UCLICK. All rights reserved)

Calvin ist ein kleiner, ziemlich aufgeweckter Junge, der ungerne zur Schule geht. Er bekommt nun in der Schule in einer Klausur die Aufgabe gestellt, Newtons erstes Bewegungsgesetz in eigenen Worten wiederzugeben. Er ist offensichtlich über die Aufgabe entsetzt. Höchstwahrscheinlich hat er schlicht keine Ahnung, weil er vermutlich lieber wieder mit Hobbes (seinem, wenn keine anderen Menschen dabei sind, zum Leben erwachenden Plüschtiger) draußen gespielt hat, anstatt zu lernen. Anstatt aber aufzugeben oder zuzugeben, dass er keine Ahnung hat und sich so wieder einmal eine schlechte Note einzuhandeln, kommt er auf eine Idee, die ihm einen Ausweg bietet: Er erfindet einfach eigene Wörter, mit denen er die Aufgabe beantwortet. Sichtlich zufrieden mit sich selbst schließt er mit der Feststellung, dass er Schlupflöcher liebe. Warum ist dieser Comicstrip nun besonders geeignet, um das Prinzip der Abduktion zu veranschaulichen? Im Prinzip führt uns Calvin hier nichts anderes als

4.2. Potenziale einer pragmatischen Theorie „Kreativen Handelns“

209

die abduktive Lösung eines Problems vor. Anstatt auf konventionellem Weg nach einer inhaltlichen Lösung für sein Problem zu suchen (und bspw. zu versuchen bei seinem Sitznachbarn abzuschreiben), hat er einen abduktiven Geistesblitz: Er definiert das sich ihm stellende Problem einfach wörtlich. Dies ermöglicht es ihm, den konventionellen, inhaltszentrierten Problemlösungsweg zu verlassen und mithilfe der Erfindung eigener Phantasiewörter eine neue und überraschende Antwort zu präsentieren, die jedoch durchaus zu der Aufgabenstellung passt. Obwohl seine Antwort zweifelsfrei der Aufgabenstellung entspricht, macht sie gleichzeitig eine inhaltliche Überprüfung und damit auch eine schlechte Bewertung seiner Antwort unmöglich, was ihm ein Schlupfloch für die vertrackte Aufgabe bietet, da sich seine Lösung ja ohne Zweifel in die Aufgabenstellung einfügt. Die Idee der Abduktion zielt genau auf die Erzeugung solcher neuer Problemlösungshypothesen ab (JOAS 1992: 11). Wie das Beispiel zeigt, ist die kreative und schöpferische Erzeugung neuer Hypothesen keinesfalls willkürlich, irrational oder geschieht gar kritiklos – im Gegenteil. Da sich die Hypothese in das bestehende Weltbild und in die konkrete Handlungssituation einfügen muss, folgt auf spontane Kreativität Überlegung, auf suchende Spinnerei Kritik, auf „Intuition folgt strenges Denken; nach dem Wagnis kommt Vorsicht; nach der Phantasie und Imagination kommt die Wirklichkeitserprobung“ (JOAS 1996: 373). Die abduktive Erfindung neuer Handlungsmöglichkeiten geht insofern immer einher mit dem Durchspielen der Konsequenzen alternativer Handlungsvollzüge. In diesem Sinne wird jeder Lehrer – streng formell beurteilt – zugeben müssen, dass Calvin die Aufgabe gelöst hat. Ob Calvin damit bei seiner Lehrerin durchkommt und sie ihm für seine Lösung die volle Punktzahl gibt, wird sich jedoch erst noch zeigen müssen. Obwohl die in der Abduktion offenbar werdende Kreativität einem überspringenden Funken, einem erhellenden Gedankenblitz oder auch einer aus der Not geborenen Verzweiflungstat (wie in Calvins Klausur) gleichen mag, ist sie immer in einen bestimmten Kontext eingebunden. Kreativität ist also immer eine „integrierte Kreativität“ (ebd.), in der situierte Erfindungen hervor gebracht werden, die sich in eine sozial konstituierte Interpretation und Ordnung der Wirklichkeit einfügen müssen. Gerade dieses Sich-einfügen-müssen ist dafür verantwortlich, dass Menschen sich in der Erprobung möglicher Problemlösungen eben oft auch auf Irrwegen und in Sackgassen wiederfinden, deren Entstehung nur unzureichend durch ein Konzept unbeabsichtigter Handlungsfolgen zu verstehen ist. Hier zeigt sich eindrücklich, dass es nicht hinreichend ist, die existierenden Handlungstheorien einfach nur schlicht um eine kreative Komponente zu erweitern. Die zentrale Rolle, die Kreativität für die Bewältigung alltäglicher Probleme und Herausforderungen spielt, zwingt vielmehr dazu, die in Verwendung befindlichen Handlungskonzepte radikal neu zu denken. Die Konsequenz der Idee situierter Kreativität besteht nämlich darin, dass Strukturen keine determinierende Wirkung auf Handlungen ausüben können. Im Gegensatz zu utilitaristischen Handlungskonzepten wird im Prinzip der Abduktion zudem deutlich, dass eine zweckrationale Trennung von Handlungszielen und –

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

mitteln von der jeweiligen Handlungssituation nicht sinnvoll ist (DEWEY 1949: 137ff).254 Anstatt Zwecksetzung und Handeln in cartesianischer Tradition zu trennen und so die klassische Differenzierung zwischen Geist und Körper bzw. Materie fortzuschreiben (JOAS 1996: 230ff), sieht der Pragmatismus in beidem eine vermittelte Einheit (STEINER 2009a),255 die sich aus dem körperlich-praktischen Bezug menschlichen Handelns ergibt (DEWEY 2001: 231). Handlungsziele sind demnach oft zunächst relativ unbestimmt und recht abstrakt auf eine Entproblematisierung einer Situation ausgerichtet. Erst durch die Situations- und Problembestimmung sowie die abduktive Hypothesenbildung wird eine klarere Zielbestimmung und die Auswahl potenziell zur Verfügung stehender Handlungsmittel (die eben nicht situativ determiniert sind) möglich. Wie JOAS (1992: 294) festgestellt hat, gilt deshalb „Zwecksetzung den Pragmatisten nicht als ein außerhalb von Handlungskontexten stattfindender Akt des Bewusstseins,“ da Zwecksetzung vor dem Hintergrund unserer verkörperlichten „Fertigkeiten, Gewohnheiten und Weisen des Bezugs auf die Umwelt“ stattfindet (JOAS 1996: 232). Zwecksetzung kann daher nur „ein Resultat der Reflexion auf Widerstände gegenüber dem vielfältig orientierten Verhalten eines Wesens“ in dessen Welt sein (JOAS 1992: 294). Die anfänglichen Handlungsziele sind deshalb nicht notwendigerweise geeignet, das Handlungsergebnis zu erklären. Vielmehr reifen und wandeln sich Handlungsziele oft während des Handlungsvollzugs. Die abduktive Hypothesenbildung bringt dabei sowohl ein gewisses Maß an Unbestimmtheit wie auch individuelle Entscheidungsspielräume in den Handlungsverlauf ein, womit Freiheit und Kreativität im Handlungsprozess überhaupt möglich werden. Die im Problemlösungsprozess gewonnenen Einsichten, neuen Handlungsgrundlagen und Wirklichkeitsbilder sind jedoch nur so lange gültig, bis sie erneut infrage gestellt werden. Sie sind zudem einer ständigen Veränderung unterworfen, weil sich im Handlungsverlauf die Dinge für den Handelnden insofern denotativ verändern (DEWEY 2001: 236), als dass der Problemlösungsgegenstand die in der Hypothesenbildung verwendeten Theorien und Interpretationen als Bedeutungsstrukturen neu in sich mit aufnimmt. Menschen kreieren so kontinuierlich im Handlungsprozess immer neue Vorstellungen ihrer Umwelt. Dies betrifft nicht nur die Ebene rein geistiger, individueller Wahrheits- und Wirklichkeitsvorstellungen: Da für Pragmatisten Dinge in unserer Vorstellung immer als etwas existieren, das eine Relevanz sowie Auswirkungen und in diesem Sinne Konsequenzen hat, bilden Theorie und Praxis eine Einheit. Handeln ist deshalb immer in ein In-derWelt-Sein eingebettet. Verändern sich unsere Wahrheits- und Wirklichkeitsvorstellungen, muss dies daher immer auch praktische Konsequenzen für die Definition und Formung der Handlungssituation mit sich bringen, in deren Rahmen sich unsere Wahrheitsvorstellungen experimentell gebildet und bewährt haben. Unsere

254 Dies wurde früh auch von einigen wenigen pragmatisch beeinflussten Ökonomen wie Veblen oder Cooley so gesehen. Sie akzeptierten das Modell rationalen Handelns in der Konsequenz daher „weder als historischen Idealtyp noch als psychologische Annahme“ (JOAS 1992: 293). 255 Vgl. hierzu auch Kapitel 3.1.3.5.

4.2. Potenziale einer pragmatischen Theorie „Kreativen Handelns“

211

veränderten Vorstellungen der Welt wirken deshalb handlungspraktisch relevant auf die Definition und Formung unserer Handlungssituation und damit Lebenswirklichkeiten zurück. Verkürzt gesagt wird so unsere Umwelt durch das In-derWelt-agieren kontinuierlich neu hervorgebracht und geformt. 4.2.3. Kreatives Handeln, Performativität und Reflexivität Dieser Kerngedanke des klassischen Pragmatismus – dass eine Vorstellung im Handlungsvollzug „wahr gemacht“ und damit Wirklichkeit wird (JAMES 2002a: 163) – bildet die Wurzel der Idee, die gegenwärtig unter dem Begriff der „Performativität“ in der (Wirtschafts-) Geographie (bspw. BARNES 2008b; BERNDT & BOECKLER 2007, 2009; DIRKSMEIER 2009; NASH 2000; THRIFT 2004a) und den Nachbardisziplinen wie der (Wirtschafts-) Soziologie, den Gender und Science and Technology Studies (ASPERS 2007; BUTLER 2010; CALLON 2010; CALLON et al. 2002; DU GAY 2010; FLIGSTEIN & DAUTER 2007; MITCHELL 2005) zunehmend Beachtung findet und die ursprünglich im Rahmen der neo-pragmatischen Sprechakttheorie AUSTINs (1962) Popularität erlangte. Austin legt in seinem vom Pragmatismus inspirierten Buch »How to do Things with Words« dar, wie wir im Rahmen von Sprechakten die Welt nicht nur sprachlich beschreiben und uns über sie kommunikativ austauschen, sondern sie durch Sprechakte selbst verändern und hervorbringen. Das Aussprechen eines Satzes wie: „Herr Dekan, ich begrüße Sie“, schafft in diesem Sinn eine Tatsache, indem es selbst eine Handlung vollzieht – die des Begrüßens. Den wirklichkeitsschaffenden Handlungs- und Aufführungscharakter derartiger Sprechakte hebt Austin mit ihrer Bezeichnung als performativ besonders hervor, einen Begriff, den er vom englischen Verb »to perform« (dt. auf- bzw. durchführen) ableitet (ebd.: 6). Während jedoch in vielen Performativitätstheorien – vor allem in solchen, die in den Theaterwissenschaften und der Diskurstheorie Popularität erlangt haben – oft zwischen Performanz (als aufführende Handlung) und Performativität (als wirklichkeitskonstituierende Funktion des Zeichengebrauchs bspw. über Sprache) differenziert wird (vgl. DIRKSMEIER 2009: 250; FISCHER-LICHTE 2004: 56), macht eine solche Unterscheidung aus einer pragmatischen Perspektive aufgrund ihres erweiterten Handlungsbegriffs wenig und wenn dann allenfalls analytisch Sinn. Denn eine Trennung von Performanz und Performativität schreibt die althergebrachte Trennung von Handlung, Körperlichkeit und Emotionalität auf der einen und Vergeistlichung, Sprachlichkeit und Rationalität auf der anderen Seite nur fort, die im Pragmatismus ja gerade als eine in der transaktiven Praxis vermittelte Einheit begriffen werden. Dementsprechend ist es nicht überraschend, dass nicht nur Sprache einen performativen Charakter besitzt. Wie der Wirtschaftssoziologe MACKENZIE (2007) eindrucksvoll anhand des Derivatehandels zeigen kann, können bspw. auch ökonomische Theorien und Modelle mittels materieller Settings wie dem Computerhandel eine performative Wirkung auf das Verhalten der Akteure an den Finanzmärkten entfalten. MacKenzie gelingt es nachzuzeichnen, wie die Entwicklung

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

und Implementierung eines völlig neuen Vorhersagemodells für den Handel spezieller Finanzderivate dazu führt, dass Investmentbanker ihr Marktverhalten immer mehr an dem Modell ausrichten, obwohl das Modell anfangs das Marktgeschehen nur äußerst unzureichend abbildet. Da das Modell jedoch das Einzige ist, das es den Händlern erlaubt, das Marktgeschehen vorauszuberechnen, stellen seine Modellrechnungen die beste verfügbare Handlungsgrundlage dar. Für die Händler ist es deshalb sinnvoll, ihr Marktverhalten an den Modellrechnungen auszurichten. Je mehr dies geschieht, desto mehr nimmt nun die Vorhersagekraft des Modells zu, bis die Wirkung seiner Existenz schließlich die Wirklichkeit hervorgebracht hat, die es ursprünglich nachmodellieren sollte. Wie die beiden angerissenen Beispiele veranschaulichen, bringen Handlungen daher sowohl faktisch, materiell wie auch auf Bedeutungsebene performativ die Bedingungen hervor, unter denen sich spätere Handlungen vollziehen (DEWEY 2001: 224). Handlungen sind damit einerseits immer historisch kontextualisiert und verändern andererseits gleichzeitig reflexiv die Bedingungen, unter denen sie stattfinden, weshalb Menschen sich in ihrer Welt kontinuierlich neu orientieren und dazu immer wieder kreativ neue Probleme lösen müssen (DEWEY 1927: 12). Handlungen haben daher grundsätzlich einen kreativen, performativen und reflexiven Charakter. Abduktion und Deduktion sorgen dabei im Handlungsprozess dafür, dass sich kein quasi-stabiles System herausbilden kann, in dem Wandel ausschließlich durch „unbeabsichtigte Handlungsfolgen“ oder externe Einwirkung wie Schockereignisse erklärt werden kann. Die unserer Welt aus pragmatischer Perspektive innewohnende kreative Dynamik ist vielmehr ein unhintergehbarer Sachverhalt des Handelns, da dies auf kontingenten Situationsinterpretationen der Akteure beruht, die sich experimentell entwickeln und situierte Erfindungen nötig machen. Kreativität und Entscheidungsfreiheit bei einer jeden Handlung sind zudem die Voraussetzung dafür, dass Wandel durch Innovation überhaupt möglich ist. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass alles Handeln gleichermaßen kreativ ist. Vielmehr gehen auch Peirce und Dewey davon aus, dass erfolgreiche Problemlösungen habitualisiert und in Routinen überführt werden (JOAS 1996: 287). Unterbrochen, oder zumindest modifiziert, werden Gewohnheiten und Routinen erst, wenn eine Situation durch Anomalien oder neue Erfahrungen problematisch und deshalb ein neuer Problemlösungsprozess erforderlich wird, in dem die Routinen und Gewohnheiten „einer kritischen Prüfung und Neubewertung“ unterzogen werden (NEUBERT 2004a: 117). Selbstkritik ist also immanenter Teil des kreativen Handelns und letztlich auch eine Kritik der bestehenden Kultur. 4.2.4. Kreatives Handeln als Erweiterung des handlungstheoretischen Theorieangebotes in Wirtschafts- und Sozialgeographie Die Schwäche der diskutierten Handlungstheorien in der Konzeptionalisierung von Wandel, Kreativität und Innovation ist in deren inhärenter Tendenz zur Ausbildung stabiler bzw. zu Gleichgewichtszuständen neigender Systeme begründet.

4.2. Potenziale einer pragmatischen Theorie „Kreativen Handelns“

213

Normorientierte Handlungstheorien implizieren einen strukturellen Determinismus, während zweckrationale, nutzenorientierte Handlungstheorien und Giddens’ Theorie der Strukturierung einen situativen Determinismus beinhalten, die individueller Freiheit, Kreativität, Innovation und intendiertem Wandel keinen Platz einräumen. Verständigungsorientierte Handlungstheorien stehen Wandel im Vergleich zwar offener gegenüber, weisen jedoch durch ihre Notwendigkeit zur Horizontverschmelzung auf dem Weg zu einer Wertegemeinschaft auch eine stark stabilitätsorientierte Komponente auf, die individuelle Kreativität nur ansatzweise adressiert. Kreativität nimmt daher in der soziologischen Handlungstheorie eine Randstellung ein. Mit der Einführung einer pragmatischen Perspektive im Anschluss an die Philosophie und Handlungstheorie von Dewey und Joas ist es möglich, ein alternatives Verständnis der Zielorientierung menschlichen Handelns als Problemlösung zu entwickeln, mit dem eine neue Handlungsgrundlage in einer zweifelhaft gewordenen Situation hergestellt werden soll. Die im Problemlösungsprozess stattfindende abduktive Hypothesenbildung und denotative Veränderung der Gegenstände unserer Erfahrung führen schließlich zu einem neuen Verständnis von Kreativität als situierter Erfindung, das es ermöglicht, Wandel als aktiven und intendierten Prozess zu begreifen, anstatt ihn allein als das Ergebnis unintendierter Handlungsfolgen oder externer Schocks zu verstehen. Abduktion und Deduktion bieten dabei eine konzeptionelle Erklärung für die permanente Veränderung unserer Wirklichkeiten, wie wir sie bspw. in der Reflexivität von Märkten und der Entwicklung immer wieder neuer Marktstrategien der beteiligten Akteure beobachten können und die sich eben nicht in die existierenden, auf dynamisch-stabile Gleichgewichtssysteme abzielenden Modelle einfügen lassen. Eine empirische Untersuchung der Geographien kreativen Wandels und der Konstitution kreativer Räume muss insofern ihren Fokus hin zur Analyse der abduktiven Bildung von Problemlösungsmöglichkeiten, deren Erprobung und Konsequenzen verschieben und somit einen Beitrag leisten zum Verständnis der reflexiven und performativen Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Umwelt. Mensch-Umwelt-Beziehungen haben demnach grundsätzlich einen dynamischen Charakter. Die Veränderung der handlungstheoretischen Grundlage stellt dabei mehr als nur eine komplementäre Erweiterung bisheriger Perspektiven dar. Mit ihr ist zugleich ein Paradigmenwechsel in der Sicht auf das Verhältnis von Mensch und Umwelt verbunden, in dem erstens die cartesianische Trennung von Körper und Geist aufgehoben und mit dem Konzept kreativen und situierten Handelns im Rahmen der transaktiven Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Welt eine neu begründete Rematerialisierung und Verkörperlichung der Humangeographie möglich wird, ohne auf positivistische oder kritisch-realistische Positionen zurückgreifen zu müssen. Welche Rolle das Konzept der Transaktion im Rahmen kreativer Handlungsprozesse für die Mensch-Umwelt-Beziehungen spielen und welche Konsequenzen dies für eine geographische Mensch-Umwelt-Forschung impliziert, wird im nächsten Kapitel noch eingehender beleuchtet. Zweitens bietet eine Theorie kreativen Handelns akteursbezogenen Performativitätsansätzen in der Geographie eine neue handlungs- und meta-theoretische Grundlage an. Drit-

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

tens wird dem deterministischen Impuls normorientierter und zweckrationaler Handlungskonzepte die Idee einer situierten Handlungsfreiheit des Menschen entgegengesetzt. Wandel wird so zum Normalfall, während Stabilität allenfalls als temporäre Fixierung einer grundsätzlich unsicheren Wirklichkeit aufgefasst werden kann. Die Art und Weise wie Menschen versuchen Unsicherheiten und Probleme in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt zu bewältigen, ist daher weder als Versuch zu interpretieren, sich an Veränderungen der Umwelt anzupassen, wie dies deterministische Perspektiven nahe legen würden, noch einen „Normalzustand“ wieder herzustellen, wie dies eine positivistische Perspektive tun würde, und auch nicht als Versuch, sein Verhalten zu „verbessern“ und zu „optimieren“, wie eine kritisch-rationalistische und andere realistische Perspektiven suggerieren würden. Vielmehr muss die Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Umwelt in pragmatischer Perspektive als ein in der Praxis verankerter, kreativer und situierter Lernprozess begriffen werden, der nicht nur konstitutiv für das menschliche Dasein ist, sondern der von einem In-der-Welt-Sein geprägt ist und dieses wiederum ebenfalls prägt. Die Theorie Kreativen Handelns stellt daher eine fruchtbare Alternative zum handlungstheoretischen Theorieangebot in der Geographie dar, mit deren Hilfe es möglich ist, die Konstitutions- und Entwicklungsprozesse kreativer Räume neu zu denken und die mit der Idee von Kreativität als situierter Erfindung dem Individuum nicht nur seine Freiheit zurückgibt, sondern ihm auch eine Mitverantwortung für die Welt zuweist, in der wir leben. So gesehen sind Kreativität und Freiheit nicht nur Voraussetzungen für die Erklärung intendierten Wandels, sondern auch die Voraussetzung dafür, dass eine andere Welt möglich und erreichbar ist. 4.3. POTENZIALE EINES TRANSAKTIONISTISCHEN MENSCH-UMWELT-VERSTÄNDNISSES Das bereits in Kapitel 3.1.3. verschiedentlich angerissene Konzept der Transaktion spielt in Deweys Philosophie eine zentrale Rolle dafür, wie das Verhältnis von Mensch und Umwelt in seiner Version des Pragmatismus zu denken ist. Das Konzept der Transaktion ist allerdings recht sperrig, wenn man sich das erste Mal mit ihm beschäftigt. Es setzt relativ viel Vorwissen in pragmatischem Denken voraus, das man sich naturgemäß erst im Laufe der Beschäftigung mit dem Pragmatismus und mit dem Konzept der Transaktion erwirbt. Hier einen Einstig zu finden, der gut nachvollziehbar ist, gleicht deshalb durchaus einer Herausforderung. Die Entwicklung und Ausformulierung der Idee der Transaktion zieht sich zudem in DEWEYS Werk über einen Zeitraum von fast 25 Jahren hin. Erste Anlagen und Ideen zu seiner Transaktionstheorie lassen sich bereits seinem Werk »Experience and Nature« (1925) entnehmen. Seine Gedanken zu dem Verhältnis von Körper und Geist sowie Mensch und Umwelt entwickeln sich dann u. a. in dem Essay »Body and Mind « (1927) und einem seiner anderen Hauptwerke »Logic: The Theory of Inquiry« (1938) weiter, bis er schon fast am Ende seines langen

4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

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und arbeitsintensiven Lebens den Versuch unternimmt, sein Konzept der Transaktion zusammen mit Arthur F. BENTLEY in »Knowing and the Known« (1949) genauer auszuformulieren. Eine Rekonstruktion der historischen Entwicklung seiner Theorie erscheint wenig sinnvoll, da in seinen frühen Werken die Idee der Transaktion zwar bereits jeweils eine recht zentrale Rolle einnimmt, jedoch immer in einem so spezifischen Kontext diskutiert wird, dass ein roter Faden in der Entwicklung der Gesamtidee auf diese Weise nur schwierig nachzuzeichnen wäre, ohne seine jeweiligen Werke in größerem Umfang zu referieren. Die folgenden Abschnitte werden daher versuchen, sein Konzept thematisch gegliedert aufzuschließen. 4.3.1. Von Interaktion zu Transaktion Für den ersten Schritt auf diesem Weg bietet es sich an, mit Deweys und Bentleys Unterscheidung von Selbst-Aktion (self-action), Interaktion (interaction) und Transaktion183 (transaction) zu beginnen, in der sie den Schlüssel ihrer Idee verorten (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.4). Selbst-Aktion, Interaktion und Transaktion stellen für DEWEY & BENTLEY (ebd.: LW.16.100) Ebenen der Organisation und Präsentation menschlichen Forschungsverhaltens in und mit Bezug auf die Welt dar, in der sich das menschliche Verständnis der Welt spiegelt. In der Perspektive der Selbst-Aktion werden die Dinge betrachtet, als würden sie im Rahmen eigenständiger Kräfte wirken („things are viewed as acting under their own powers“, ebd.). Voraussetzung hierfür ist die Idee, dass es unabhängig existierende Entitäten wie Akteure, das Bewusstsein, das Ich und ihnen innewohnende Kräfte und Fähigkeiten gibt, die Ereignisse auslösen können (ebd.: LW.16.71). In der Geographie ist eine selbstaktionistische Perspektive typisch für (geo-) deterministische Perspektiven, die natürlichen Umweltfaktoren ein Wirkungsprimat auf soziale Systeme einräumen. Diese Art zu denken findet sich in der frühen Landeskunde und der Integrationsstufenlehre, die bestimmend wird für die Gliederung der Disziplin entsprechend eines Schichtmodells, in dem die physischgeographischen Geofaktoren die Grundlage für die humangeographische Entwicklung eines Raumes bilden. Auch wenn mit der quantitativen Wende in der Geographie derartige Denkfiguren in die Defensive gedrängt wurden, spielen geodeterministische Argumentationsfiguren nach wie vor eine gewisse Rolle in der Mensch-Umwelt-Forschung. Wie AUFENVENNE (2011) herausgearbeitet hat, finden sie sich häufig in Arbeiten über die Wirkungen des Klimawandels auf menschliche Gesellschaften. TEPFENHART et al. (2007) versuchen so bspw. aus 183 Um Missverständnissen vorzubeugen, muss hervorgehoben werden, dass der von Dewey und Bentley verwendete Transaktionsbegriff nicht mit dem aus der Ökonomie bekannten gleichzusetzen ist. Mit Transaktion ist im Pragmatismus etwas gänzlich anderes gemeint. Das diesbezügliche Begriffskonzept des Pragmatismus wird im Folgenden genauer erläutert.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

der Modellierung der zukünftigen Schneemengen direkt Vorhersagen für das Überleben der deutschen Alpinskigebiete kausal abzuleiten und ignorieren dabei vollständig die reflexive Wirkung sich verändernder gesellschaftlicher Faktoren, wie bspw. sich potenziell verändernder Nachfragestrukturen im Tourismus oder einer erhöhten Zahlungs- und Risikobereitschaft potenzieller Wintersporttouristen aufgrund sich verändernder Klimabedingungen. Interaktion sieht die Dinge demgegenüber als in kausalen Beziehungen zueinander stehend („thing is balanced against thing in causal interconnection“, DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.100). Der wesentliche Unterschied zwischen Selbst-Aktion und Interaktion besteht also darin, dass in Letzterem die Dinge so organisiert werden, dass sie sich als auf der Basis des jeweils anderen operierend präsentieren. Hier finden sich bspw. in sich geschlossene und insofern als unabhängig formulierte, effizient arbeitende Systeme, wie die Newton’sche Mechanik, oder aus einem größeren Zusammenhang analytisch isolierte Elemente und ihre Beziehungssysteme, wie sie für die Medizin und die Naturwissenschaften typisch sind. Eine interaktionistische Denkweise geht daher mechanistisch und kausalistisch an die Welt heran und will durch die Zerlegung komplexer Phänomene in einzelne Teile Erkenntnisse gewinnen. Stillschweigend geht man dabei davon aus, dass ein Verständnis des Gesamtsystems durch die Untersuchung von Teilsystemen und deren Wechselwirkung möglich ist. Das Gesamte wird daher als die Summe seiner Teile gedacht. Hierbei lassen sich zumindest zwei verschiedene Systemvorstellungen ausmachen. Erstens existiert ein rationalistisches Systemverständnis, dessen systematische Einheit durch eine kalkulierende Ordnung, logische Abhängigkeit oder (geometrische) Deduktion beschrieben werden kann (GESSMANN 2009: 702). Den verschiedenen Systemen wohnt jeweils eine ihnen eigene Dynamik inne, die sie von anderen Systemen abgrenzt. Trotz dieser Abgrenzung agieren Systeme jedoch nicht völlig losgelöst voneinander, sondern können sich gegenseitig beeinflussen und verändern (EGNER 2008a: 35). Dieses Systemverständnis ist nicht nur für die Mathematik, sondern auch für die moderne, nach Gesetzmäßigkeiten suchende Naturwissenschaft kennzeichnend und hat sich in der Physischen Geographie in einer recht einfachen Spielart vor allem in der geographischen Geoökosystemforschung etabliert.184 In der Mensch-Umwelt-Forschung liegt dieses noch recht einfache interaktionistische Systemverständnis auch vielen Formen (quantitativer) Modellierungen zugrunde – mit Ausnahme der Komplexitäts- und Nichtlinearen Systemtheorien, deren Systemverständnis komplexer angelegt ist. Es findet sich ebenfalls in allen Ansätzen, die auf utilitaristischen Handlungstheorien mit ihrem Denken in dynamischen Gleichgewichtssystemen aufbauen, wie bspw. die Sozialgeographie Werlens oder der größte Teil der wirtschaftsgeographischen Theoriebildung (vgl. STEINER 2012: 18ff). Typisch ist es auch für politisch-ökonomische

184 Wie EGNER (2008a: 35) diesbezüglich ausführt, stellt vor allem der in der Physischen Geographie einflussreiche Entwurf von Lesers Geoökosystemforschung eine relativ simplifizierende und erstaunlicherweise sogar weitgehend theorieaverse Variante der Systemtheorie dar.

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

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Ansätze, die Mensch-Umwelt-Beziehungen analytisch aufgliedern und in Form von sich gegenseitig kausal beeinflussenden Subsystemen denken, wie dies bspw. für die politische Ökologie mit ihren „Mehrebenenanalysen“ und „damit verbundenen Erklärungsketten“ (KRINGS 2008: 6) oder für die Sozialökologie der Wiener Schule kennzeichnend ist. Neuere systemtheoretische Ansätze beziehen demgegenüber zweitens vor allem Aspekte der Autopoiesis, Selbstorganisation, Selbstreferentialität, Emergenz, strukturellen Kopplung und von nicht-linearen Dynamiken in (komplexen) Systemen in ihre Überlegungen mit ein.185 Gerade bei medizinischen oder naturwissenschaftlichen Phänomenen ist es darüber hinaus gehend einleuchtend, dass Forschungsergebnisse nur in einem größeren Zusammenhang des Gesamten sinnvoll interpretiert werden können (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.103). Hier schließt die Perspektive der Transaktion an. In ihr greift man zu Beschreibungen und Benennungen, um mit Aspekten und Phasen von Handlungen und Ereignissen umgehen zu können, ohne auf isolierte Elemente, letzte oder unabhängig existierende Dinge, Entitäten, Wesen, oder Realitäten zurückgreifen zu müssen und ohne die Beziehungen zwischen den Dingen von den Dingen zu trennen: „Trans-action [sic]: Where systems of description and naming are employed to deal with aspects and phases of action, without attribution to „elements“ or other presumptively detachable or independent ‘entities’, ‘essences’, or ‘realities’, and without isolation of presumptively detachable ‘relations’ from such detachable ‘elements’“ (ebd.: LW.16.101f).

Transaktion beschreibt vielmehr eine funktionale Beobachtung eines Ganzen: „Transaction: Functional observation of full system, actively necessary to inquiry at some stages, held in reserve at other stages, frequently requiring the breaking down of older verbal impactions of naming“ (ebd.: LW.16.71).

Es geht also darum, eine Situation in ihrer Ganzheit zu begreifen, da man davon ausgeht, dass komplexe Phänomene Eigenschaften besitzen, die sich nicht allein aus der Summe ihrer Teilelemente ableiten lassen. Der Blick auf Ereignisse als Gegenstand der Forschung verändert sich damit dahingehend, dass es dann nicht mehr möglich ist, sie von ihrem Umfeld und ihrer Umwelt loszulösen: „Situation: Event as subjectmatter [sic] of inquiry, always transactionally viewed as the full subject-matter [sic]; never to be taken as detachable ‘environment’ over against object“ (ebd.: LW.16.71).

Einzelaspekte eines Gesamten bestimmen sich daher in Relation zu dessen anderen Teilen. Es ist deshalb nicht möglich einzelne Teile als eigenständige Elemente abzugrenzen oder für sich zu fixieren. Transaktion repräsentiert also eine Ebene des Forschungsprozesses, in dem Beobachtungen und Beschreibungen vorgenommen werden, ohne einzelne Phasen oder Aspekte des untersuchten Ereignisses ontologisch zu isolieren und unabhängigen Akteuren, Elementen oder interagierenden Systemelementen zuzuschreiben:

185 Für eine etwas detailliertere Diskussion der genannten Ansätze vgl. Kapitel 4.1.2.4.

218

4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung „Transaction (…) represents that late level in inquiry in which observation and presentation could be carried on without attribution of the aspects and phases of action to independent selfactors, or to independently inter-acting elements or relations“ (ebd.: LW.16.112).

Transaktion beschreibt also einen ganzheitlichen Forschungsprozess im Rahmen der praktischen Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Umwelt, der sich von der klassischen interaktionistischen Perspektive abhebt. Die transaktionistische Perspektive geht davon aus, dass ein Verständnis des Gesamtzusammenhangs nur durch dessen holistische Betrachtung möglich ist: „Transaction is inquiry which ranges under primary observation across all subjectmatters [sic] that present themselves, and proceeds with freedom toward the re-determination and renaming of the objects comprised in the system. (…) If inter-action is procedure such that its inter-acting constituents are set up in inquiry as separate ‘facts’, each in independence of the presence of the others, then transaction is fact such that no one of its constituents can be adequately specified as fact apart from the specification of other constituents of the full subjectmatter [sic]. (…) If inter-action [sic] develops the particularizing phase of modern knowledge, then transaction develops the widening phases of knowledge, the broadening of system within the limits of observation and report“ (ebd.: LW 16.113f).

Der Unterschied zwischen Interaktion und Transaktion ist grundsätzlicher als es auf den ersten Blick scheinen mag, denn während Interaktion eine Perspektive auf die praktisch-forschende Auseinandersetzung mit Umwelt beschreibt, in der Ereignisse unter der Prämisse betrachtet werden, dass sie korrekt beschrieben worden sind, bevor man die in ihnen wirkenden Verbindungen erforscht, versteht Transaktion jede Art von Beschreibung nur als ersten, vorläufigen Versuch, eine Situation zu erfassen; eine Situation, deren Beschreibung sich im Verlauf der weiteren Forschungsprozesse immer wieder neu verändert: „If inter-action [sic] is inquiry of a type in which events enter under the presumption that they have been adequately described prior to the formulation of inquiry into their connections, then transaction is inquiry of a type in which existing descriptions of events are accepted only as tentative and preliminary, so that new descriptions of the aspects and phases of events, whether in widened or narrowed form, may freely be made at any and all stages of inquiry“ (ebd.: LW.16.113).

Die Unterscheidung zwischen vermeintlich stabilen Zuständen, die wir Dinge nennen, und ihren Veränderungsprozessen wird somit kontingent. Eine transaktionale Perspektive zwingt deshalb dazu, den vorläufigen, kontingenten und konstruierten Charakter jeder Beschreibung zur Kenntnis zu nehmen (GARRISON 2001: 287). Dies schlägt sich auch nieder in dem unterschiedlichen Verständnis von Begriffen zwischen einer inter- und einer transaktionistischen Perspektive. Während in der ersten Perspektive von verwendeten Begriffen angenommen wird, dass sie adäquat die Dinge der Welt beschreiben und benennen, geht man in zweiter Perspektive davon aus, dass Begriffe und damit Objekte der Forschung grundsätzlich offen sind für Veränderungen und Verschiebungen von Bedeutungsstrukturen und sich deshalb auch die Begriffe sowie ihre Inhalte im Verlauf von Forschungsprozessen verändern können, wenn man ein anderes Verständnis des Gesamten entwickelt (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.113). Die Objekte der Forschung gehen dann der Forschung, der Auseinandersetzung mit der Welt, nicht mehr voraus,

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

219

sondern werden operational vor dem Hintergrund praktischer Problembewältigungen geschaffen. Sie sind das Produkt menschlicher Aktivität. In der Geographie findet sich ein transaktionales Verständnis von MenschUmwelt-Beziehungen bisher lediglich ansatzweise in den Humanökologien von WEICHHART (bspw. 1991, 1993b, c) und STEINER (bspw. 2003) wieder. Beide Perspektiven bleiben aber in ihrer metatheoretischen Verortung etwas unbestimmt.186 Es erscheint daher sinnvoll das Transaktionskonzept und seine Konsequenzen noch etwas genauer in den Blick zu nehmen. 4.3.2. Dinge und Ereignisse Wenn die Objekte der Forschung in transaktionistischer Sicht als Produkt menschlicher Aktivität verstanden werden, muss sich das Verständnis von Dingen radikal verändern. Dinge können nichts Statisches mehr sein wie aus Perspektive der Interaktion. Die Unterscheidung von Dingen (thing) und Aktivitäten (action) hat dann letztlich nur provisorischen Charakter (ebd.: LW.16.113). DEWEY (1996: LW.1.5f) geht in dieser Perspektive sogar soweit, dass für ihn auch die Dinge der Natur lediglich aus einer Abfolge von Ereignissen (events) und nicht aus Substanzen bestehen: „Nature is viewed as consisting of events rather than substances, it is characterized by histories.“

Was wir Ding nennen, ist dann nichts anderes als ein zeitlich und räumlich ausgedehntes Ereignis, ein analytisch isolierbares Element in einem transaktiven Prozess permanenten Wandels. Alles, um mit Parmenides zu sprechen, ist im Fluss. Die Welt ist geprägt von emergenten Prozessen, die eine historische Abfolge situativ einzigartiger Ereignisse hervorbringen. Auf Grund der räumlichen, zeitlichen und situativen Einzigartigkeit dieser Prozesse entziehen sich Veränderungen des Gesamten jedoch einer vollständigen und exakten Prognostizierbarkeit. Der historische Weg zu einer dynamisch transaktiven Perspektive war ein langer. Nachdem Sokrates, Platon und Aristoteles mit ihrer Perspektive auf die Welt bestimmend für die europäische Philosophie geworden waren,187 zementierte sich zunächst eine dualistische Perspektive auf Welt, die von der Idee feststehender, unendlicher Ideen bzw. Substanzen ausging. Besonders der starke Einfluss von Aristoteles in den empirischen Wissenschaften führte dazu, dass die Dinge, und gerade die der Umwelt in der wir leben, daher als Substanzen gedacht wurden, die ein eigenes Wesen besitzen und grundsätzlich stabil sind, wenn nicht äußere Kräfte auf sie wirken. Hieraus entstanden die interaktionistischen Theorien. Die beständigsten Dinge wurden dementsprechend als ewig betrachtet, auch wenn

186 Vgl. Kapitel 4.1.2.4. 187 Vgl. Kapitel 2.1.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

der Begriff der Ewigkeit durchaus bereits im Mittelalter problematisiert wurde.188 Als ein typisches Sinnbild der Ewigkeit galten Berge, weshalb in ihnen auch, wie in der griechischen Mythologie, der Sitz der Götter verortet wurde. Dass auch Berge und ihre Gesteine nicht ewig sind, wurde erst recht spät wissenschaftlich hinterfragt. Erst 1815 entwickelte der englische Vermesser und Ingenieur William Smith die Grundlagen der modernen Geologie mit seiner ersten geologischen Karte von England, Wales und Teilen Schottlands. Ihr zugrunde lag eine Revolution des Denkens. Die vorherrschende Meinung zur Zeit Smiths in Europa lautete, dass die Erde erst vor rund 6.000 Jahren von Gott erschaffen worden wäre und seitdem mehr oder weniger unverändert existiere. Smith postulierte nun, dass die Abfolge der Gesteinsschichten Großbritanniens und die Tatsache, dass man in ihnen Fossilien von Tieren und Pflanzen fände, sich nur erklären ließe, wenn man davon ausginge, dass die Erde bedeutend älter sei und sich die Fossilien und die Gesteinsschichten zu Zeiten gebildet hätten, als noch andere natürliche Bedingungen vor Ort geherrscht hätten. Diese These widersprach nicht nur religiösen, sondern auch den bis dahin hegemonialen wissenschaftlichen Überzeugungen. Es dauerte daher nochmals 16 Jahre, bis 1831 Smiths Leistung schließlich auch wissenschaftlich und gesellschaftlich anerkannt wurde (WINCHESTER 2003). Der Glauben an die Vollendetheit der Schöpfung189 wurde dann durch Charles DARWINS Evolutionstheorie weiter erschüttert, die er 1859 in seinem berühmten Buch »Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life«190 veröffentlichte. Nachfolgend dynamisierten sich auch andere Theorien in den Naturwissenschaften, so z. B. die des Raumes bei Einstein.191 Offensichtlich fiel es den Naturwissenschaften jedoch schwer, sich von vermeintlich feststehenden Grundlagen zu lösen. Dass die Lage der Kontinente auf der Erde stabil sei, wurde bspw. erst zehn Jahre vor Deweys Buch »Experience and Nature« mit Wegeners Entwicklung der Grundzüge der Plattentektonik (WEGENER 1915) grundsätzlicher in Zweifel gezogen. Bis sich Wegeners Theorie in den 1960er Jahren wirklich durchsetzen konnte, sollte Dewey jedoch schon lange tot sein. Es verwundert daher, dass Deweys Dynamisierung und Prozessualisierung der (Natur-) Philosophie ebenso auf Widerstände traf. Die Idee, dass die Dinge der Welt als zeitlich und räumlich ausgedehnte Ereignisse zu begreifen sind, muss damals noch viel mehr als heute befremdlich geklungen haben. Dass Dewey seine Idee der Existenz als Ereignis sehr anschaulich gerade an einem Beispiel aus den Geowissenschaften veranschaulicht, mag insofern kein Zufall sein: 188 Vgl. bspw. die Problematisierung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit bei AUGUSTINUS (1838). 189 Da man davon ausging, dass die Schöpfung als göttliche Schöpfung ja vollkommen sein müsste, musste sie logischerweise auch als vollendet gedacht werden. Denn als nicht vollendet wäre sie ja, so die damalige scholastische Denkfigur, nicht vollkommen gewesen. 190 Deutsch: »Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein«. 191 Vgl. Kapitel 4.4.1.

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

221

„Even the solid earth mountains, the emblems of constancy, appear and disappear like the clouds. A thing may endure yet not be everlasting; it will crumble before the gnawing tooth of time, as it exceeds a certain measure. Every existence is an event“ (DEWEY 1996: LW.1.63).

Ereignisse sind demnach nicht mit Substanzen zu verwechseln, da sie nicht (in sich) abgeschlossen, nicht unvergänglich, sondern endlich, unvollständig und unabgeschlossen sind: „Events, being events and not rigid and lumpt' substances, are ongoing and hence as such unfinished, incomplete, indeterminate“ (ebd.: LW.1.126f).

Ereignisse haben deshalb auch keine präfixierte Essenz oder Bedeutung. Bedeutungen bilden sich vielmehr erst als Konsequenz transaktionaler Prozesse heraus, in denen Ereignisse dann als in Raum und Zeit verortet wahrgenommen und im Forschungsprozess als Objekte operational fixiert werden. Objekte entstehen also für Dewey im Rahmen transaktionaler Forschungsprozesse, die als aktiv und operational gelenkt verstanden werden (DEWEY 2002a: 140ff). Auch wenn Objekte insofern als im Forschungsprozess geronnene Ereignisse aufgefasst werden können, verlieren sie nie gänzlich ihre Ereignisqualität (GARRISON 2001: 288). Objekte sind dann eher als Fakten, als etwas Gemachtes, zu verstehen, das ohne den Verweis auf andere Elemente nicht sinnvoll gedacht werden kann: „If inter-action [sic] is procedure such that its inter-acting constituents are set up in inquiry as separate ‘facts’, each in independence of the presence of the others, then transaction is fact such that no one of its constituents can be adequately specified as fact apart from the specification of other constituents of the full subjectmatter [sic]“ (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.113).

Die Dinge und Objekte der Welt bestimmen sich daher in transaktionistischer Perspektive immer dynamisch und relational..192 4.3.3. Organismus und Umwelt Die transaktionistische Konzeption von Dingen hat Folgen für die Art und Weise, wie das Verhältnis von Mensch zu Umwelt gedacht werden muss. Die Unterscheidung von Mensch oder – wie Dewey und Bentley es allgemeiner ausdrücken – Organismus und Umwelt ist vor dem Hintergrund einer transaktionistischen Denkfigur nämlich nicht mehr trennscharf aufrechtzuerhalten. Der Unterschied zwischen einer interaktionistischen und einer transaktionistischen Perspektive ist auch hier erheblich: „If inter-action [sic] assumes the organism and its environmental objects to be present as substantially separate existences or forms of existence, prior to their entry into joint investigation,

192 Die dynamische Perspektive auf Welt und die Idee die Welt als eine Kette von Ereignissen zu begreifen findet sich später auch in der Non-Representational-Theory wieder (vgl. Kapitel 4.1.2.5.), für die sich der Pragmatismus deshalb als erkenntnistheoretische Basis durchaus anbieten würde.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung then transaction assumes no pre-knowledge of either organism or environment alone as adequate, not even as respects the basic nature of the current conventional distinctions between them, but requires their primary acceptance in common system, with full freedom reserved for their developing examination“ (ebd.: LW.16.114).

Die Begründung dafür, dass Organismus und Umwelt nicht scharf zu trennen sind, entwickelt Dewey bereits vor seiner Zusammenarbeit mit Bentley in »Experience and Nature« und seiner »Theory of Inquiry«. Dewey führt dort aus, dass sich ein Organismus in seinen Aktionen und seinem Verhalten immer auf seine Umwelt bezieht. Es ist deshalb nicht möglich, sein Verhalten ohne seine Integration in eine bestimmte Umwelt zu verstehen: „An organism acts with reference to a time-spread, a serial order of events, as a unit, just as it does in reference to a unified spatial variety. Thus an environment both extensive and enduring is immediately implicated in present behavior. Operatively speaking, the remote and the past are ‘in’ behavior making it what it is. The action called ‘organic’ is not just that of internal structures; it is an integration of organic-environmental connections“ (DEWEY 1996: LW.1.213).

Diese Verbindung von Organismus und Umwelt ist letztlich, so Dewey, in dem Umstand des Lebens selbst begründet, das ohne eine funktionale und umfassende Verbindung von Organismus und Umwelt nicht möglich wäre: „Life denotes a function, a comprehensive activity, in which organism and environment are included. Only upon reflective analysis does it break up into external conditions-air breathed, food taken, ground walked upon-and internal structures-lungs respiring, stomach digesting, legs walking“ (ebd.: LW.1.19).

Als lebende Organismen stehen auch Menschen in einer transaktionalen Verbindung mit ihrer Umwelt. Auf diese Verbindung sind sie als Lebewesen auch angewiesen, um zu überleben: „Whatever else organic life is or is not, it is a process of activity that involves an environment. It is a transaction extending beyond the spatial limits of the organism. An organism does not live in an environment; it lives by means of an environment. Breathing, the ingestion of food, the ejection of waste products, are cases of direct integration; the circulation of the blood and the energizing of the nervous system are relatively indirect. But every organic function is an interaction of intra-organic and extra-organic energies, either directly or indirectly. For life involves expenditure of energy and the energy expended can be replenished only as the activities performed succeed in making return drafts upon the environment-the only source of restoration of energy. Not even a hibernating animal can live indefinitely upon itself. The energy that is drawn in is not forced in from without; it is a consequence of energy expended. If there is a surplus balance, growth occurs. If there is a deficit balance, degeneration commences. There are things in the world that are indifferent to the life-activities of an organism. But they are not parts of its environment, save potentially. The processes of living are enacted by the environment as truly as by the organism; for they are an integration“ (ebd.: LW.12.32).

Der Rhythmus des Lebens selbst ist es, so GARRISON (2001: 291), in dem sich das Oszillieren zwischen harmonischem Funktionieren und disharmonischer Funktionsstörung spiegelt (was sich physisch-materiell in Stoffwechselbedürfnissen oder Störungen und kognitiv durch das Entstehen einer zweifelhaften Situation

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

223

ausdrücken kann). Und dieser Rhythmus bestimmt wiederum das Verhältnis zwischen Organismus und Umwelt: „As a moving equilibrium, a function is serial or temporal. This temporal phase introduces the ground of distinction between organism and environment; that is between those sets of factors that represent the maintenance of function (organism) and those which intervene first as disturbing and then as restoring equilibrium (environment). In any non-temporal crosssection there is no basis for distinguishing organism and environment“ (DEWEY 1996: LW.13.378f).

Überdenkt man die Unterscheidung zwischen Organismus und Umwelt also in Bezug auf deren temporale Dimension, dann verschwimmt die Grenze zwischen Organismus und Umwelt letztlich auch materiell. Was gerade noch Umwelt war, wird jetzt eingeatmet oder absorbiert, in den Organismus eingebaut oder von ihm abgesondert und damit wieder Teil seiner Umwelt. Was Organismus und was Umwelt ist, variiert deshalb im Laufe der Zeit (GARRISON 2001: 291). Der Unterscheidung von Organismus und Umwelt liegt insofern letztlich ebenfalls nichts anderes als die analytische Isolation eines zeitlich und räumlich ausgedehnten Ereignisses zu Grunde, das an und für sich in einen größeren Ereigniskomplex integriert und ohne diesen nicht vollständig zu verstehen ist. Wir können ein einziges Organ in seiner Funktion genauso wenig verstehen wie die Existenz eines ganzen Organismus, wenn wir seine Einbettung in einen größeren Zusammenhang ausblenden. Es braucht das transaktive Zusammenspiel des Ganzen, damit ein Organ und ein Organismus funktionieren und ihre Weiterexistenz sichern können. Das Leben selbst bedingt insofern funktional koordinierte Transaktionen, die notwendig sind, um es zu erhalten. Ein Organismus ist also letztlich, wie DEWEY & BENTLEY (1996: LW.16.103) es ausgedrückt haben, immer nur als ein transaktiver „organism-in-environment-as-a-whole“ versteh- und denkbar. Wie GARRISON (2001: 277) mit Blick auf die Transaktionstheorie richtig hingewiesen hat, wird letztlich die Unterscheidung zwischen Organismus und Umwelt, zwischen internen und externen Prozessen, arbiträr, wenn man Organismen – und damit auch menschliche Individuen – im transaktionistischen Sinne als funktionale Prozesse, als Kette von Ereignissen und Aktivitäten versteht, die darauf ausgelegt sind, das eigene Leben zu sichern und zu bewältigen. Ihre Unterscheidung ist damit nicht weniger legitim. Sie kann aus einer solchen Perspektive Legitimität jedoch nicht mehr aus einer ontologischen, sondern nur noch aus einer methodologischen Begründung heraus beanspruchen. Dies sah auch DEWEY (1996: LW.1.212) bereits in »Experience and Nature« so: „A living organism and its life processes involve a world or nature temporally and spatially 'externe to itself but internal' to its functions.“

Das Verständnis von Umwelt verändert sich auf diese Weise eher hin zu dem eines Mediums. Unsere Umwelt ist das Medium in und durch das wir leben: „’Environment’ is not something around and about human activities in an external sense; it is their medium, or milieu, in the sense in which a medium is intermediate in the execution or carrying out of human activities, as well as being the channel through which they move and the vehicle by which they go on“ (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.244).

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Ein solches Umweltverständnis muss sich, so Dewey und Bentley, auch in der Art und Weise spiegeln, wie wir Ökologie denken. Gerade in der Ökologie wäre eine Perspektivverschiebung von einer interaktionistischen hin zu einer transaktionistischen Perspektive besonders fruchtbar, um das gesamte Gefüge adäquat in den Blick zu bekommen: „Ecology is full of illustrations of the interactional (where the observer views the organism and the environmental objects as if in struggle with each other); and it is still fuller of illustrations of the transactional (where the observer lessens the stress on separated participants, and sees more sympathetically the full system of growth or change). The issue is not baldly that of one or the other approach. It is not even an issue as to which shall be the basic underlying construction since foundations in general in such questions are much less secure than the structures built upon them. It is, in view of the past dominance of the interactional procedure in most scientific enterprise, rather an issue of securing freedom for wider envisionment“ (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.120).

Wie Dewey & Bentley jedoch selbst feststellen, lässt sich eine solche Perspektivverschiebung kaum belegen. Dass pragmatische Ansätze auch über 60 Jahre nach der Publikation von »Knowing and the Know« kaum Eingang in die MenschUmwelt-Forschung gefunden haben demonstriert, dass sich an dieser Diagnose leider kaum etwas geändert hat – ein Umstand, der sich nach wie vor durch die hegemoniale, strikte meta-theoretische Separierung von Geistes- und Sozialwissenschaften auf der einen und Naturwissenschaften auf der anderen Seite begründet, die in der Trennung von Organismus und Umwelt wurzelt: „Today we find transactional as well as interactional procedures used in the details of physiological and biological inquiry; but for general formulations we find little more than preliminary approaches to the transactional. This is seen on the large scale in the heavily theoretical separation that is maintained between the organism and the environment and the attribution of many activities to the former as if in independence“ (ebd.: LW.16.116).

4.3.4. Akteure, Kultur und Umwelt Wenn Individuen und Umwelt jedoch nur in methodologischer Hinsicht analytisch unterschieden werden können, muss sich auch das Verständnis von Akteuren verändern, wie DEWEY & BENTLEY argumentieren: „Actor: A confused and confusing word; offering a primitive and usually deceptive organization for the complex behavioral transactions the organism is engaged in. Under present postulation actor should always be taken as postulationally transactional, and thus as a trans-actor“ (1996: LW.16.260).

Subjekte, Menschen, sind in diesem Sinn ebenfalls als transaktionale, individuelle Ereignisse zu verstehen. Akteure müssen demnach als eine Art temporal isolierte Phase einer Aktivität verstanden werden, die ihre eigene Aktivität danach ausrichten, das dynamische und sich im kontinuierlichen Wandel befindliche Ganze funktional zu erhalten. Das Subjekt steht als Trans-Akteur demnach seiner Umwelt nicht mehr distanziert und unbeteiligt im Erkenntnisprozess gegenüber, sondern ist transaktiv mit ihr verwoben. Umwelt ist dann das, was die Funktionalität

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

225

des Gesamten, von dem Akteure ein Teil sind, sowohl stört, behindert, wie auch stützt. Akteure versuchen insofern ihre Beziehung zu ihrer Umwelt kontinuierlich zu beeinflussen, wobei die transaktiven Beziehungen immer komplexer werden je komplexer der involvierte Organismus ist: „What the organism actually does is to act so as to change its relationship to the environment; and as organisms get more complex and human this change of relationship involves more extensive and more enduring changes in the environmental order. The aim is not to protract a line of organic events parallel to external events, but to form a new scheme of affairs to which both organic and environmental relations contribute, and in which they both partake“ (DEWEY 1996: LW.1.216).

Was in einem transaktionalen Sinn als Umwelt, Situation und Kontext und was als Organismus, Subjekt und Akteur gilt, entwickelt und verändert sich daher im Laufe der Zeit (GARRISON 2001: 291). In einem solchen dynamischen Verständnis von Akteur und Umwelt wäre es ein Fehler, Umwelt auf ein Bündel physisch-materieller Bedingungen zu reduzieren. Vielmehr sind die physisch-materiellen Bedingungen unseres Lebens immer als verwoben mit unseren kulturellen Lebensbedingungen zu betrachten. Alles andere würde auf einen kruden Naturdeterminismus und stark vereinfachenden Naturalismus herauslaufen (HAMPE 2006: 122), den man mit dem Verweis auf die Ideen der Abduktion und Deduktion klar zurückweisen muss. Wenn unsere Erfahrung193 im Umgang mit unserer Umwelt194 einem Organisationssystem (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.52) und insofern einem Werkzeug gleicht, mit dem wir in unsere Umwelt und in das Feld der Natur vordringen, dann kann man unsere transaktive Beziehung zu dieser Umwelt nicht auf rein Physisch-Materielles beschränken, wie Dewey bereits in »Experience and Nature« ausführt: „Nature and experience are not enemies or alien. Experience is not a veil that shuts man off from nature; it is a means of penetrating continually further into the heart of nature“ (DEWEY 1996: LW.1.5).

Nimmt man die transaktive Beziehung zwischen Organismus und Umwelt ernst, ist es Unsinn, die Erfahrung unserer Umwelt von dieser Welt künstlich ontologisch zu trennen (DEWEY 1995: 26). Eine naturalistische Trennung der erfahrenen Umwelt von dem Akt des Erfahrens würde letztlich nur wieder zu einem Denken in Wesenheiten und Substanzen zurück verweisen. Die menschliche Erfahrung der Welt ist an unsere Existenz in der Welt gekoppelt. Da unsere Erfahrung jedoch immer kulturell geprägt ist,195 muss auch die Umwelt als Medium, in dem sich

193 DEWEY & BENTLEY (1996: LW.16.263) verwahren sich bei ihrer Verwendung des Begriffs der Erfahrung explizit davor, diesen auf rein sensorische Prozesse zu verkürzen – vielmehr steht der Begriff für sie für die holistische Auseinandersetzung zwischen Akteur und Umwelt. Da der Begriff jedoch immer wieder zu Missverständnissen geführt hat, empfehlen sie gleichzeitig, ihn nicht mehr an zentraler Stelle zu verwenden. 194 Vgl. Kapitel 3.1.3.5. 195 Vgl. Kapitel 3.1.3.6.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Menschen bewegen, immer sowohl physisch-materiell wie auch zugleich kulturell gedacht werden: „What is called environment is that in which the conditions called physical are enmeshed in cultural conditions and thereby are more than ‘physical’ in its technical sense. (…) Narrowing of the medium is the direct source of all unnecessary impoverishment in human living“ (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.244).

Aus einer transaktiven Perspektive ergibt es schlicht keinen Sinn, dass Subjekt quasi zu entwirklichen und es, wie die idealistischen Subjektivitätstheorien, mitsamt den kulturell geprägten Bedeutungen, die die Dinge für das Subjekt haben, der Welt antipodisch entgegenzusetzen (HAMPE 2006: 122). Kultur ist daher in transaktiver Perspektive elementarer Bestandteil der Umwelt. Beide sind letztlich füreinander co-konstitutiv. 4.3.5. Body-Minds als Auflösung des Geist-Materie-Dualismus Dass Umwelt und Natur kulturell geprägt sind, ist die Seite transaktionalen Denkens, die interaktionistisch denkende Naturalisten am ehesten irritieren mag. Dass die transaktive Beziehung zwischen Umwelt und Organismus auch Konsequenzen für unsere Konzeption des Bewusstseins und des Verstandes impliziert, mag wiederum bei Konstruktivisten auf Befremden stoßen. Dass Geist und Körper gemeinsam zu denken sind, versteht sich für Dewey genauso, wie dass Natur und Kultur eine Einheit bilden: „Every 'mind' that we are empirically acquainted with is found in connection with some organized body. Every such body exists in a natural medium to which it sustains some adaptive connection“ (DEWEY 1996: LW.1.212).

Es verwundert daher nicht, dass es bislang nicht gelungen ist, die Existenz eines entkörperlichten und in diesem Sinne entkontextualisierten Geistes mit eigener Psyche, Kognition oder mentaler Funktion empirisch nachzuweisen196 (GARRISON 2001: 292). Den gegenteiligen Gedanken, dass Körper und Geist stattdessen eine transaktive Einheit bilden, entwickelt Dewey bereits 1927 in seinem Essay »Body and Mind« und veranschaulicht deren Verbindung am Beispiel des Essens: „The being who eats and digests is also the one who at the same time is sorrowing and rejoicing; it is a commonplace that he eats and digests in one way to one effect when glad, and to another when he is sad. Eating is also a social act and the emotional temper of the festal board enters into the alleged merely physical function of digestion. Eating of bread and drinking of wine have indeed become so integrated with the mental attitudes of multitudes of persons that they have assumed a sacramental spiritual aspect. There is no need to pursue this line of thought to other functions which are sometimes termed exclusively physical. The case of taking and assimilating food is typical. It is an act in which means employed are physical while the quality of the act determined by its consequences is also mental. The trouble is that in-

196 Als solches wäre er allenfalls als transzendentes Wesen zu denken, würde sich dann aber empirischen menschlichen Forschungsprozessen ebenfalls entziehen.

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

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stead of taking the act in its entirety we cite the multitude of relevant facts only as evidence of influence of mind on body and of body on mind, thus starting from and perpetuating the idea of their independence and separation even when dealing with their connection. What the facts testify to is not an influence exercised across and between two separate things, but to behavior so integrated that it is artificial to split it up into two things“ (DEWEY 1996: LW.3.28f).

Das Beispiel zeigt, dass Körper, Gefühl und Geist so eng miteinander verbunden sind, dass ihre Trennung fast schon abwegig erscheint, denkt man intensiver über sie nach. Dies wird umso deutlicher, wenn man sich die enge Verbindung von Geist und Körper im Rahmen von Handlungen vor Augen führt, in der eben ihre Verbindung geradezu Voraussetzung der Handlungsfähigkeit ist. Die holistische Einheit des aktiven und transaktiven menschlichen Lebens ist auf die körperliche und geistige Qualität von Handlungen geradezu angewiesen: „I have used, in passing, the phrases ‘wholeness of operation’, ‘unity in action’. What is implied in them gives the key to the discussion. In just the degree in which action, behavior, is made central, the traditional barriers between mind and body break down and dissolve. Were this the fit time and place, it could be shown, I think, that the habit of regarding the mental and physical as separate things has its roots in regarding them as substances or processes instead of as functions and qualities of action. In contrast to such a notion, it is asserted that when we take the standpoint of human action, of life in operation, body presents itself as the mechanism, the instrumentality of behavior, and mind as its function, its fruit and consummation“ (DEWEY 1996: LW.3.28).

Während der Körper im Handlungsprozess für die Handlungsmittel und Möglichkeiten des Handlungsvollzugs steht, steht der Geist für dessen Früchte und Konsequenzen (ebd.: LW.3.31). Es braucht in diesem Sinne sowohl den Körper, der redet, zuhört oder sieht, wie auch die Luft, um Schall zu übertragen und Papier und Druckerschwärze, um nicht ausgesprochene Wörter und Texte mitzuteilen, wie auch den Geist, der die körperlichen Aktionen initiiert und aus ihnen die operativen Konsequenzen zieht. Da Handlung und Erkenntnis insofern im Pragmatismus nicht sinnvoll voneinander zu separieren sind,197 müssen folglich auch Geist und Körper als eine integrale Ganzheit betrachtet werden. Dennoch hat sich die Trennung zwischen Geist und Körper so tief in unserer Denkweise verankert, dass sie fast alle Themenbereiche des Lebens durchzieht: „I do not know of anything so disastrously affected by the tradition of separation and isolation as is this particular theme of body-mind. In its discussion are reflected the splitting off from each other of religion, morals and science; the divorce of philosophy from science and of both from the arts of conduct. The evils which we suffer in education, in religion-for example the fundamentalist attack about the evolution of men rests upon the idea of complete separation of mind and body-in the materialism of business and the aloofness of ‘intellectuals’ from life, the whole separation of knowledge and practise:-all testify to the necessity of seeing mindbody as an integral whole“ (DEWEY 1996: LW.3.27).

197 Vgl. Kapitel 3.1.3.1.

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Mangels eines besseren Ausdrucks spricht Dewey daher immer von Body-Mind oder Mind-Body, um die holistische Einheit der beiden zu betonen.198 Etwas rein Mentales, Entkörperlichtes kann es in dieser Perspektive nicht geben, da der Organismus immer einen Körper braucht, um zu denken. Das Gedachte als auf etwas Verweisendes und in diesem Sinne als Zeichen könnte ohne Teil eines transaktiven Prozesses zu sein weder existieren noch mitgeteilt werden, wie DEWEY & BENTLEY veranschaulichen: „Precisely where is the event that is named when the name ‘sign’ is applied? Sign is process that takes place only when organism and environment are in behavioral transaction. Its locus is the organism and the environment, inclusive of connecting air, electrical and light-wave processes, taken all together. It is these in the duration that is required for the event, and not in any fictive isolation apart from space, or from time, or from both. A physiologist studying breathing requires air in lungs. He can, however, temporarily take for granted the presence of air, and so concentrate his own attention on the ‘lungs’-on what they do-and then make his statement in that form. He can, that is, for the time being, profitably treat the transaction as interactional when the occasion makes this advantageous“ (ebd.: LW.16.138).

Das Gedachte ist deshalb weder losgelöst von dem Denkenden, noch von der Situation seiner Entstehung zu betrachten. In diesem sind Bedeutungen als der Inhalt des Gedachten und der Verstand bzw. Geist co-konstitutiv. Sie entstehen für Dewey gleichzeitig in einem Prozess transaktionaler, funktionaler Koordination in der forschenden Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt. Der Verstand und der Geist sind für ihn daher auch nichts anderes als „the whole system of meanings as they are embodied in the working of organic life“ (ebd.: LW.1.230). Der Verstand werde erst als etwas Entkörperlichtes wahrgenommen, wenn Menschen sich mit anderen Menschen kommunikativ austauschen und dabei kommunikative Zeichen und ihre Bedeutungen auf einmal als vermeintlich unabhängig von ihrem Entstehungskontext (und ihren Konsequenzen) wahrnehmen (ebd.: LW.1.198). DEWEY & BENTLEY (1996: LW.16.266) empfehlen daher, den Begriff der Bedeutung am besten gar nicht mehr zu verwenden und ihn durch direktere Ausdrücke zu ersetzen: „Meaning: A word so confused that it is best never used at all. More direct expressions can always be found. (Try for example, speaking in terms of ‘is’ or ‘involves’) The transactional approach does away with that split between disembodied meanings and meaningless bodies for meanings which still enters flagrantly into much discussion.“

Die eigenständige, entkörperlichte Existenz von Bedeutungen, wie sie im Begriff des Mentalen angedeutet wird, wird von Dewey daher schlicht in Abrede gestellt. Er versteht das Mentale vielmehr als etwas, was in einer transaktionalen Beziehung mit der Welt steht und Konsequenzen hat: „[The mental:] But a thing which has or exercises the quality of being a surrogate of some absent thing is so distinctive, so unique, that it needs a distinctive name. As exercising the function we may call it mental. Neither the thing meant nor the thing signifying is mental. Nor is

198 Hierfür würde sich der Terminus des Leibes anbieten (vgl. Kapitel 4.3.6.1), der Dewey anscheinend nicht geläufig war.

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

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meaning itself mental in any psychical, dualistic, existential sense. A probable rain storm, as indicated to us by the look of the clouds or the barometer, gets embodied in a word (…) can be treated for certain purposes just as an actual rain storm would be treated. We may then term it a mental entity. Such a theory, it will be noted, explains the mental on the basis of a logical function. It does not start by having something psychical under a logical operation“ (DEWEY 1996: MW.14.56f).

Damit löst sich die ontologische Unterscheidung von innen und außen ganz im Sinne der Transaktion auf, die der Trennung von Mentalem und Materiellem unterliegt (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.111f). Konsequenterweise weisen daher DEWEY & BENTLEY (1996: LW.16.112) auch die konstruktivistische Idee, dass Sprache eine eigene Wirklichkeit ohne Bezug zur materiellen Umwelt konstituiere, entschieden zurück:199 „We reject the ‘no man's land’ of words imagined to lie between the organism and its environmental objects in the fashion of most current logics, and require, instead, definite locations for all naming behaviors as organic-environmental transactions under observation. We tolerate no finalities of meaning parading as ‘ultimate’ truth or ‘absolute’ knowledge, and give such purported finalities no recognition whatever under our postulation of natural system for man in the world. To sum up: Since we are concerned with what is inquired into and is in process of knowing as cosmic event, we have no interest in any form of hypostatized underpinning. Any statement that is or can be made about a knower, self, mind, or subject-or about a known thing, an object, or a cosmos-must (…) be made on the basis, and in terms, of aspects of event which inquiry, as itself a cosmic event, finds taking place.“

Sprache ist für Dewey & Bentley nichts der Welt Externes, wie die Analytische Philosophie oder der Logische Positivismus Russel‘scher Prägung postulieren (SLEEPER 1996: xvi). Worte verstehen sie stattdessen als operationale Mittel, um in eine bestimmte Art der Transaktion mit der Welt einzutreten (SLEEPER 1996: xvi). Deweys Idee der Body-Minds verwurzelt insofern mentale und sprachliche Akte wieder in der Welt. Im Gegensatz zu vielen Poststrukturalisten eliminieren sie auf diesem Weg aber gerade nicht das Subjekt bzw. den Akteur (GARRISON 2001: 295). Body-Minds bezeichnen in diesem Sinne einen lebenden Organismus, der in einer transaktiven, forschenden Beziehung mit seiner Umwelt steht und insofern Teil von Situationen ist, in denen die transaktive Teilnahme an Diskursen und Kommunikation ein elementarer Bestandteil unseres sozialen Lebens und der Auseinandersetzung mit unserer sozialen Umwelt ist (GARRISON 2001: 292). 4.3.6. Konsequenzen und Anschlusspunkte eines transaktionistischen MenschUmwelt-Verständnisses für eine Geographie der Mitwelt Eine transaktionistische Perspektive auf Mensch-Umwelt-Beziehungen bricht, wie gezeigt wurde, auf breiter Front mit gewohnten interaktionistischen Perspektiven. Den Dreh- und Angelpunkt für ihr Verständnis von Mensch-Umwelt-Beziehungen 199 Auch hierin zeigt sich eine bedeutende Parallele zur NRT und die Anschlussfähigkeit des Pragmatismus an die Debatte über eine Re-Materialisierung der Humangeographie.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

bildet dabei die Idee der Body-Minds, die als konstitutive Bedingung menschlichen Erfahrung-Machens und Prozessierens mit der Welt angesehen werden kann. 4.3.6.1. Body-Minds und Leiblichkeit – Kontaktpunkte zwischen Phänomenologie und Pragmatismus Die Idee der Body-Minds weist augenfällig weit reichende Übereinstimmungen mit der Idee des Leibes aus der anthropologischen Phänomenologie auf. Als Leib wird dort der lebendige, fühlende und beseelte menschliche Körper verstanden, der als Vollzugsorgan des menschlichen Lebens fungiert und unmittelbar erlebt wird (vgl. bspw. MERLEAU-PONTY 1974). Der Leib bildet dabei als subjektiv gespürter Körper die Bedingung der Welterfahrung und des Welterlebens des handelnden, wahrnehmenden und fühlenden Subjektes (GESSMANN 2009: 427; LINDEMANN 2011: 591).200 Im Unterschied zum Körper, der als Begriff nur auf rein Physisch-Materielles bezogen wird und daher auch „objektiv“ vermessen werden kann, entzieht sich der Leib jeder Art von Objektivierungsverfahren (BÖHME 2011: 554). Der Leib wird daher in der Phänomenologie, genauso wie die Body-Minds im Pragmatismus, gleichzeitig als Gegenstand der Selbsterfahrung wie auch als Mittel der Welterschließung verstanden, denn „das leibliche Spüren ist immer ein Sich-Spüren“ (BÖHME 2011: 560). Der menschliche Zugang zur Welt findet immer mittels der eigenen Leiberfahrung statt. BÖHME (2011: 561) veranschaulicht diesen Umstand am Beispiel des Atmens: „Der schwere Atem ist eine Leiberfahrung, die den Leib selber als etwas erfahren lässt, das auf den Austausch mit der übrigen Natur angewiesen ist. (...) Das Beispiel zeigt also, was Selbst-Natur-Sein heißen kann, nämlich sich aktiv auf das einzulassen, was einem von der eigenen Natur her widerfährt. Dass das so ist, sieht man am deutlichsten dort, wo der Betroffene von seiner Natur am Ende überwältigt wird: Gerade wo – etwa wie im schweren asthmatischen Anfall – die Atemnot überwältigend wird, ist die Identifikation des Betroffenen mit dieser Not im Ringen um Atem am größten.“

Die Ähnlichkeit des gewählten Beispiels zu den Ausführungen von Dewey und Bentley in Kapitel 4.3.3. verdeutlich noch einmal, wie sehr sich die Konzepte des Leibes und der Body-Minds gleichen. Dass Menschen Teil dieser Welt sind, erfahren sie letztlich über den Umstand des bewussten leiblichen Prozessierens, bzw. Transagierens mit ihr. Es ist der leibliche Charakter des menschlichen Inder-Welt-Seins, der die Absurdität der künstlichen dualistischen Trennung von Körper und Geist veranschaulicht und Menschen mit ihrer Verstandestätigkeit wieder materiell, sensuell und emotional in der Welt verankert, der ihnen verdeut-

200 In der Phänomenologie lassen sich mehrere unterschiedliche Leibbegriffe ausmachen. Das hier geschilderte subjektorientierte Leibkonzept ist dabei typisch für die Philosophie Husserls, Merleau-Pontys und Sartres und grenzt sich bspw. deutlich von dem ebenfalls sehr prominenten Leibkonzept Plessners ab (LINDEMANN 2011: 591).

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

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lich, dass sie Teil der Natur sind, denn „der Leib ist die Natur, die wir selbst sind“ (BÖHME 2011: 554). Wie HAMPE (2011: 250ff) verdeutlicht, ist die Leiblichkeit des menschlichen Daseins jedoch nicht nur in einem subjektiven und individualistisch privaten Sinne zu verstehen. Die Leiblichkeit der Welterschließung findet vielmehr auch öffentlich, und in sozial geteilten Situationen statt. Die Bedeutung, die leibliche Erfahrungen für Menschen erlangen, ist daher immer auch Teil sozio-kulturell bedingter Zuschreibungsprozesse, die sich in die leibliche Welterfahrung einschreiben. Die menschliche Existenz als Body-Mind oder Leib zu denken ermöglicht es so, Mensch und Umwelt als holistische Gesamtheit im Sinne eines transaktiven ‚organism-in-environment-as-a-whole‘ zu betrachten. Phänomenologie und Pragmatismus sind insofern mit ihrer holistischen Zurückweisung der dualistischen Positionen von Realismus und Konstruktivismus durchaus aneinander anschlussfähig und argumentieren in die gleiche Richtung. 201 Mithilfe des Pragmatismus ist es deshalb möglich der phänomenologischen Perspektive einer „Geographie des Menschen“ (Korf 2012: 159) auch eine nichtdualistische meta-theoretische Basis jenseits von Idealismus oder Realismus anzubieten. 4.3.6.2. Sprachspiele jenseits des Sprachkäfigs Nimmt man eine solche nichtdualistische und holistische Perspektive auf MenschUmwelt-Beziehungen ein, ergibt es logischerweise auch keinen Sinn, wie in Teilen der konstruktivistischen Humangeographie, Diskurse und Sprachspiele zu entwirklichen und zu hypostasieren, indem ihnen eine eigenständige Existenz unabhängig von den ihnen zugrunde liegenden Erfahrungsprozessen von Subjekten unterstellt wird. Um Missverständnissen vorzubeugen: Nichts würde Dewey ferner liegen als der Entleiblichung vieler poststrukturalistischer und konstruktivistischer Ansätze einen dumpfen Naturalismus entgegenzusetzen, der blind für symbolische Ordnungen und Logik ist. Dewey plädiert jedoch für eine Philosophie, die Logik nicht als etwas von Natur Getrenntes betrachtet, um sie als Apriori der Forschung zu postulieren, die in die vermeintlich ontologisch separierte Sphäre einer Welt der Ideen verweist, wie bspw. die Analytische Philosophie sowie der Logische Positivismus argumentieren. Vielmehr sieht er Logik als in Kontinuität 201 Eine pragmatische Perspektive bietet sich deshalb als metatheoretischer Bezugspunkt auch für phänomenologische Ansätze in der Geographie an. Von ihr aus ließe sich bspw. an die Arbeiten von Hasse anschließen, der Plessners und Böhmes phänomenologische Leibphilosophie als Gegenmodell zu einem übersteigerten Sozialkonstruktivismus mit seinen (einseitig) „logozentristischen Erklärungsmodellen von Geschehnissen in der sozialen Wirklichkeit“ positioniert (HASSE 2003: 27). Von einem pragmatisch gedachten Leibkonzept aus ließen sich jedoch durchaus auch Brückenschläge zur ANT mit ihrem Konzept der dynamischen Hybriden (bspw. JÖNS 2003: 119) sowie zur Praxistheorie (bspw. EVERTS et al. 2011) mit ihrer Betonung der Rolle von Emotionen im Rahmen von Praktiken denken.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

mit der Gesamtheit der Kontexte stehend, mit denen Organismus und Umwelt in Transaktion stehen (DEWEY & BENTLEY 1996: LW.16.138). Nur dadurch, dass das menschliche Leben von einer durch die Sprache ermöglichten, kollektiven Reflexivität geprägt ist, wird es in dieser Perspektive daher noch nicht un- oder übernatürlich. Dass Menschen sich die Welt zu einem großen Teil auf sprachliche Weise erschließen, könnte man deshalb in Anlehnung an Peirce und Wittgenstein vielmehr als konstitutiv für einen Teil der menschlichen Naturgeschichte verstehen (HAMPE 2011: 236). Die Sprache-Welt-Beziehung ist demnach eine, die der Natur im Zuge des transaktiven Erfahrung-Machens inhärent ist und ihr nicht antipodisch gegenübergestellt werden kann.202 4.3.6.3. Von der Umwelt zur Mitwelt Die leibliche Verankerung des Menschen in der Welt hat zur Konsequenz, dass Umwelt neu gedacht werden muss. Gleicht sie einem Medium oder Milieu, in dem und durch das Menschen leben, kann sie nichts mehr dem Menschen rein Externes sein, sondern bildet einen integralen und mit ihm transaktiv verwobenen Teil seiner Existenz. Das Ergebnis einer transaktionalen Perspektive auf die Welt ist daher eine holistische Sicht auf die Dinge, die bisher als unverrückbar getrennt Betrachtetes als integrierte Gesamtheit entwirft. Die Umwelt kann hier nur als eine räumlich und zeitlich situierte und insofern relationale und relative sowie sich entsprechend der Veränderungen unserer Erfahrungsräume dynamisch wandelnde Umwelt gedacht werden. Was man als Umwelt bezeichnet, bleibt dann notwendigerweise immer kontingent. Mit einer solchen Abkehr von einer substanzialistischen hin zu einer prozessualen Bestimmung des Mensch-UmweltVerhältnisses ist dann auch das gängige Subjekt-Objekt-Denken unangemessen, in dem Umwelt als dem Menschen gegenüber gedacht wird. Den Menschen als Teil des prozessualen Ganzen zu verstehen, dezentriert ihn deshalb in der Welt. In einer solchen Denkweise erscheint es konsequent, sich von dem Begriff der Umwelt zu trennen und ihn durch den Begriff der Mitwelt zu ersetzen. Mit dem Begriff der Mitwelt sind zwei grundlegende verschiedenartige Bedeutungsinhalte verbunden, die sich aus den unterschiedlichen theoretisch-konzeptionellen Herkünften des Begriffs erklären. Zum einen prominent geworden ist der Begriff in der Philosophischen Anthropologie bzw. Phänomenologie. Zum anderen findet er sich gleichwohl auch an exponierter Stelle in der Umweltethik-Debatte wieder. Während in der Philosophischen Anthropologie bzw. Phänomenologie Mitwelt in Abgrenzung von der Selbstwelt und Umwelt als eine intersubjektive Welt gedacht

202 Aus den semiotischen Konzepten des klassischen Pragmatismus, bspw. bei Peirce (vgl. Kapitel 3.1.1), ließen sich daher eventuell auch fruchtbare Impulse für sprachpragmatische Ansätze in der Geographie (bspw. SCHLOTTMANN 2007; ZIERHOFER 1997) ableiten. Durch das Zusammendenken von Sprache und Erfahrung könnte es auf diesem Wege auch möglich werden, den „Sprachkäfig“ (BERWING 2012) vieler poststrukturalistischer Ansätze zu verlassen.

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

233

wird (bspw. HEIDEGGER 1977), die sich durch die Fähigkeit des Menschen sich exzentrisch zu sich selbst zu verhalten und die Perspektive anderer Menschen auf ihn selbst zu erfassen erklärt (PLESSNER 1975: 293ff), geht der Mitweltbegriff aus der Umweltethikdebatte deutlich weiter. Während die Philosophische Anthropologie und Phänomenologie den Begriff der Mitwelt nämlich auf die Sphäre der Menschen beschränken, drückt sich innerhalb der Umweltethikdebatte im Begriff der Mitwelt die Auffassung aus, dass der Mensch als Teil der Natur mit anderen „Tieren, Pflanzen, mit Erde, Wasser, Luft und Feuer aus der Naturgeschichte hervorgegangen“ ist (MEYER-ABICH 1984: 19). Argumentativer Hebel, um den Menschen in der Welt zu verankern und ihn nicht objektivistisch der Umwelt gegenüberzustellen, ist auch hier die Leiblichkeit des menschlichen Daseins (ebd.: 134). In umweltethischem Sinne geht es also gerade darum, einem nicht-anthropozentrischen Mensch-Umwelt-Verständnis begrifflich Ausdruck zu verleihen und die Einheit von Mensch und Mitwelt zu betonen. Der Begriff der Mitwelt zielt darüber hinaus auch darauf ab, den Gedanken des Gleichgeborenseins von Menschen auf die übrige Welt auszudehnen (MEYER-ABICH 1988: 131). Dem folgend kann die Mitwelt in pragmatischer Perspektive verstanden werden als die Gesamtheit der räumlich und zeitlich situierten Ereignisse, Aktivitäten und Dinge, die mit einem Organismus (auch einem menschlichen) transaktiv verbunden ist. Die Mitwelt vereint in ihrer holistischen Anlage Physisch-Materielles mit Emotionalem, Psychischem, Sozio-Politischem und Kulturellem und ist dasjenige, auf das sich alle Arten praktischer (inklusive kognitiver) Forschungsprozesse mit ihren physischen und physiologischen Implikationen ausrichten. Eine pragmatische Perspektive auf die Welt schließt daher alle Formen transaktionaler Beziehungen im Prozess individueller, leiblicher Erfahrungen mit ein. Neben den etablierten materie- oder sinnzentrierten Logiken sensibilisiert eine Veränderung der metatheoretischen Basis so für die Relevanz von Gefühlen und der sinnlichen Wahrnehmung, verdeutlicht die metatheoretische Legitimation der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Gegenständen und bietet daher auch nicht-repräsentationalen Theorien ein metatheoretisches Zuhause.203 Gibt man die Außenperspektive auf Umwelt auf und denkt die Welt als Mitwelt, lässt sich auch die moralische Sonderstellung des Menschen in der Welt nicht mehr halten (VAAßEN 2011: 2), die ihn legitimiert seine Umwelt wie ein Objekt, wie pure „Verfügungsmasse“ zu behandeln (MUTSCHLER 2002: 211). Auf der ethischen Ebene stellt sich daraus abgeleitet die Frage, ob der Mitwelt nicht ein Eigenwert im Ganzen und nicht nur ein Wert für den Menschen zugebilligt werden muss (MEYER-ABICH 1988: 138). Eine Neuverortung des Menschen im Kosmos führt so auch zu der ethischen Frage des Umgangs mit der Mitwelt. Die Mitwelt als solche anzuerkennen bedeutet dabei nicht zwangsläufig Differenzen

203 Das Transaktionskonzept ermöglicht es insofern auch, die Inkonsistenzen der NRT im Spannungsfeld zwischen ihren pragmatischen Wurzeln und ihres neurobiologischen Affektkonzeptes aufzulösen, ohne dabei die Rolle von Affekten und Gefühlen für das menschliche Agieren in Abrede zu stellen.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem egalisieren zu wollen (ebd.: 136). Eine Ungleichbehandlung von Teilen der Mitwelt wird aber begründungsbedürftig, sie wird zu einer ethisch-normativen Frage (ebd.: 137). In diesem Zusammenhang diskutieren seit einiger Zeit auch einige angelsächsische Pragmatisten in der Geographie (bspw. BARNETT 2012; CUTCHIN 2008; PROCTOR 1998a), ob wir als Menschen nicht auch der nichtmenschlichen belebten und unbelebten Umwelt einen eigenen Platz in unseren ethischen Überlegungen einräumen und ihnen bspw. im Kontext räumlicher Planung eine eigene Stimme zugestehen müssten. Diese Frage ist natürlich hoch politisch, denn sie hat Konsequenzen dafür, wie wir mit Natur umgehen. Lässt man sich auf eine Mensch-Mitwelt-Geographie ein, stellt sich letztlich die Frage, ob es unter solchen Vorzeichen NichtPolitische Ökologien überhaupt geben kann. Im Gegensatz zu der normativen Enthaltsamkeit kritisch-rationalistischer und dekonstruktivistischer Positionen bietet sich eine pragmatische Perspektive deshalb gerade für eine normativ engagierte Mensch-Mitwelt-Forschung an – bspw. auch, aber eben nicht nur, in der Nachhaltigkeitsdebatte. 4.3.6.4. Das Ende der Natur Wenn Dinge nicht mehr substanzialistisch, sondern transaktiv-prozessual als zeitlich und räumlich ausgedehnte Ereignisse in einem Prozess permanenten Wandels gedacht werden, erhält unsere Mitwelt inklusive dessen, was wir gewohnt sind Natur zu nennen, eine individuelle geschichtliche Dimension. Das Verständnis von Natur204 ändert sich in einer solchen Perspektive radikal. Natur ist dann weder das unabhängig von der Zeit existierende Stofflich-gegebene, das sich durch ihm innewohnende Gesetze entwickelt und bewegt, noch das, was seinem Wesen nach ohne menschliche Planung und Intentionalität wirkt und dadurch seine Existenz sichert. Vielmehr muss auch Natur „als Ganze (…) oder in Ausschnitten als die lange Folge eines einzelnen einmaligen Ereignisses“ betrachtet werden (HAMPE 2011: 298). Mit einer solchen Historisierung des Naturverständnisses muss Natur letztlich als raumzeitliche Ereignishaftigkeit aufgefasst werden. Sie ist, so Dewey (1996: EW.1.289), als Chiffre für die Totalität der uns umgebenden raumzeitlichen Phänomene zu verstehen. Begreift man Natur in diesem holistischhistorisierenden Sinne als Ereignis,205 verliert jedoch der Naturbegriff jede differenzierende Kraft. HAMPE (ebd.: 300) plädiert daher analog zu Dewey auch für ein „begriffliches Ende der Natur oder für ein Ende der Karriere des Naturbegriffs“, da er sich weder eignet, um eine Wesenheit ontologisch abzugrenzen, noch um ein antipodisches Gegenstück zur Kultur zu entwerfen. Eine solche historisierende Perspektive führt logisch zu einer Art zeitlichen und räumlichen „Vereinzelung der Wirklichkeit“, zu einer „Zersplitterung des 204 Vgl. Kapitel 4.1.2.1. 205 Wie dies bspw. auch Heidegger und Whitehead vertreten (vgl. HAMPE 2011: 290).

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

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Weltblocks in für sich stehende Individualitäten, die sich nicht wiederholen“ (ebd.: 291f) – und das gilt dann nicht nur für die Individualität der menschlichen Existenz, sondern für alle Ereignisse in der Mitwelt.206 4.3.6.5. Für eine idiosynkratische Neubestimmung der Geographie Auch die Perspektive von Welt als Ereignis birgt erhebliche wissenschaftstheoretische und methodologische Konsequenzen, muss man sich mit ihr doch von einer interaktionistischen Idee von Gleichgewichtssystemen und teleologischen Vorstellungen von Entwicklung zu Gunsten der Ideen kontinuierlicher und grundsätzlich unvorhersehbarer Veränderungen in einem komplexen Ganzen verabschieden.207 In methodologischer Hinsicht ist die Geographie mit einer solchen prozessualhistorischen Perspektive schließlich besonders gefordert, sich mit raumzeitlichen Besonderheiten und individuellen Konfigurationen von Ereignissen auseinanderzusetzen, denn sie erlauben es uns schließlich überhaupt, unterschiedliche Geographien der Mitwelt auszudifferenzieren. Sich nicht mit den Individualitäten der Welt zu beschäftigen, würde die Geographie direkt auf den Weg der abstrakten Wissenschaften, wie der Physik oder der Mathematik, führen. Wissenschaftstheoretisch gesprochen erfordert eine transaktive Perspektive deshalb eine Stärkung idiosynkratischer Ansätze in der geographischen Forschung, für deren Anwendung in der Geomorphologie jüngst bereits KERSTING (2012) plädiert hat. Hierbei stellt sich der Disziplin allerdings wiederum die Frage, wie idiosynkratischen Perspektiven mehr Raum gegeben werden kann, ohne dass sie in alte Konzepte, wie die der Landschaftsgeographie, zurückzufallen droht. Anders als man vermuten könnte, schließt eine solche Aufmerksamkeitsverschiebung m. E. eine nomothetische Forschung jedoch keineswegs aus. Dies wäre in Sinne der undogmatischen Haltung des Pragmatismus auch kontraproduktiv. Dewey würde denn auch keineswegs in Abrede stellen, dass es nützlich sein kann analytisch Teile des Gesamten zu isolieren und unter vereinfachenden Prämissen nach gleichartigen Prozessen zu suchen, die man in Form von Gesetzen beschreiben kann. Nimmt man das Transaktionskonzept und seine Konsequenzen ernst, muss man sich dabei aber die Grenzen einer solchen Vorgehensweise vergegenwärtigen und sich hüten Modelle und Theorien über die Welt zu hypostasieren – ist es doch gerade eine solche Hypostasierung, die bestehende Erkenntnisse gegen Veränderung immunisieren und damit Erkenntnisfortschritten im Wege steht. Gefordert wäre daher eine nomothetische Forschung, die von konkreten und in diesem Sinne besonderen und individuellen empirischen Gegenständen ausgeht und sich darüber bewusst ist, dass ihre Theorien und Modelle über Regularitäten und

206 Hieraus ließen sich Anschlusspunkte zwischen Pragmatismus und NRT entwickeln, da beide die Idee teilen, die Welt prozessual als Kette von Ereignissen zu begreifen. 207 Insofern wäre zu fragen, ob sich die Transaktionstheorie nicht auch als meta-theoretische Grundlage für Kompexitätstheorien (bspw. DIKAU 2006) anbietet.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Zusammenhänge immer Abstraktionen und Vereinfachungen der chaotischen Wirklichkeit bleiben. Gesetzmäßigkeiten und Wiederholungen in der Natur zu identifizieren ist dann als „das Produkt unserer Erklärungsinteressen und nicht als etwa durch die Wirklichkeit Vorgegebenes aufzufassen“ (HAMPE 2011: 292). Es spricht insofern nichts dagegen weiterhin nomothetische Erkenntnisabsichten zu verfolgen, solange man sich davor hütet den auf diesem Wege identifizierten Gesetzen, Theorien und Modellen eine eigenständige Existenz jenseits ihrer Entstehungskontexte und der mit ihnen verbundenen Erklärungsinteressen zuzuschreiben. 4.3.6.6. Wege zu einer holistischen Geographie der Mitwelt In disziplintheoretischer Hinsicht führt eine transaktive Mitwelt-Perspektive schließlich dazu, dass die Unterscheidung von Physio- und Humangeographie ernsthaft hinterfragt werden muss, unterliegt dieser Perspektive doch die Vorstellung von zwei klar ontologisch zu unterscheidenden Gegenstandsbereichen, die sich vor dem Hintergrund eines holistischen Mitweltkonzeptes aber nicht mehr aufrechterhalten lässt. Dass humangeographische Fragen immer auch eine leibliche Dimension haben, mag dabei schnell einzusehen sein. Dass aber auch die Vorgänge, die wir üblicherweise als rein „natürlich“ betrachten und die Gegenstand der Physiogeographie sind, so tief von der transaktiven Beziehung von Mensch und Mitwelt durchdrungen werden, dass es fraglich geworden ist, ob sich menschlich unbeeinflusste, rein „natürliche“, Ökosysteme überhaupt finden lassen, mag sich nicht unmittelbar erschließen. Genau dies wird jedoch nun auch zunehmend im Rahmen der empirisch Debatte zur Idee eines Anthropozäns in den Geowissenschaften und der Physischen Geographie diskutiert (bspw. BORK & LANG 2003; BRAJE & ERLANDSON 2013; CRUTZEN 2002; EHLERS 2008; ELLIS et al. 2013; FOLEY et al. 2014; RUDDIMAN 2003, 2013; SMITH & ZEDER 2013). Unabhängig davon, ob man den Begriff des Anthropozäns für sinnvoll erachtet, verdichten sich dabei offensichtlich die empirischen Hinweise darauf, wie sehr das globale Ökosystem bereits seit vielen tausend Jahren durch die transaktive Beziehung zwischen Mensch und Mitwelt geprägt wird. Die Aufteilung der Disziplin in Frage zu stellen bedeutet natürlich nicht, dass man sich nicht weiterhin mit unterschiedlichen Fragen und Gegenständen beschäftigen könnte. Die Gliederung der Geographie in Teildisziplinen lässt sich dann aber nicht mehr aus der vermeintlichen ontologischen Unterschiedlichkeit unserer Erkenntnisobjekte, sondern nur noch analytisch begründen. Die ontologische Grundlage für den Graben in unserer Disziplin löst sich auf, wenn wir realistische und konstruktivistische zu Gunsten pragmatischer Perspektiven hinter uns lassen. Aus einer zweigeteilten Disziplin mit einer dritten Säule als Brücke wird eine holistisch verstandene Geographie der Mitwelt, die sich schlicht für unterschiedliche, eher sozial- oder naturwissenschaftliche Problemstellungen interes-

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

237

siert – aber nicht vergisst, dass diese in einen größeren Ereigniskontext eingebettet sind. 208 4.3.6.7. Kein neues Einheitsparadigma für die Geographie Der Pragmatismus bietet der Geographie mit seinem Transaktionskonzept eine bisher weitgehend unerschlossene Grundlage, um Mensch-Umwelt-Beziehungen neu zu denken. Eine transaktionistische Mensch-Umwelt-Forschung steht dabei für eine Wissenschaft, die das menschliche Erleben des In-der-Welt-Seins zu ihrem Gegenstand macht. Sie ist Apriori weder physisch- noch humangeographisch, sondern sowohl zu sozialwissenschaftlich wie auch ökologischen Perspektiven und Terminologien offen. Die Konsequenzen einer pragmatisch-transaktionistischen Perspektive berühren insofern eher die Denkweisen, Forschungsperspektiven, Fragestellungen, Methodologien und das Selbstverständnis der Geographie, als dass sie sich in ein spezifisches Theoriegebäude oder eine bestimmte Methodik übersetzen ließen. Sie weisen auf eine fruchtbare Einheit geographischer Forschung hin, ohne die Sinnhaftigkeit separater Bearbeitungsstrategien für zu untersuchende Teilprobleme mit ontologischen Argumenten zu begründen oder abzustreiten. In pragmatischer Perspektive geht es daher nicht darum, bestehende Konflikte in einem neuen unreflektierten ontologischen Monismus aufzulösen. Eine pragmatische, transaktive Perspektive auf Geographie, die sich qua Definition mit Mensch-Umwelt-Beziehungen beschäftigt, fordert vielmehr zu einem engagierten Pluralismus unterschiedlicher Herangehensweisen an die Welt auf, die von der Ökologie bis hin zur Soziologie und Psychologie alle Dimensionen des menschlichen In-der-Welt-Seins umfasst, und bietet insofern eine ideale Grundlage für eine wirklich transdisziplinäre Forschung an der Schnittstelle der beiden großen geographischen Teildisziplinen. Statt eines neuen Einheitsparadigmas für die Geographie, fordert eine pragmatische Perspektive deshalb eine pluralistische Vielfalt an theoretischen Zugängen. Der Pragmatismus bietet sich deshalb als undogmatische, meta-theoretische Basis für eine nichtdualistische Mensch-Mitwelt-Forschung an, mit der es gelingen könnte, die Gräben hinter sich zu lassen, in denen sich Realisten und Konstruktivisten verschanzt haben.

208 Ein transaktionistisches Mitweltkonzept bietet sich daher nicht nur wegen dessen ideengeschichtlicher Nähe zur Humanökologie (vgl. Kapitel 4.1.2.5) zukünftig als deren erkenntnistheoretische Basis an.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

4.4. RÄUME IN PRAGMATISCHER PERSPEKTIVE Als Konsequenz der Idee der Transaktion muss sich nicht nur das Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Umwelt hin zur Idee des Lebens in der Mitwelt verändern, sondern auch das mit dem Mitweltverständnis zusammenhängende Raumkonzept wandeln. Wenn Selbstaktion die Dinge als eigenständige und unabhängige Entitäten denkt und so letztlich einen Container-Raum entwirft,209 dann ist die Denkfigur der Interaktion logisch an einen relationalen, aber nichtsdestotrotz ontologisch in Teilwelten gegliederten Raum gebunden. Die Frage ist dann, welches Raumkonzept mit einem transaktiven Verständnis der Welt einhergeht. Die Frage ist umso schwieriger zu beantworten, als die überwältigende Randständigkeit des Pragmatismus in geographischen Diskursen sich auch in einer ihrer zentralsten Debatten – der über den Raum – spiegelt. Dass in der Geographie bislang keine systematische Erarbeitung des Raumkonzeptes des klassischen Pragmatismus vorliegt, ist insofern wenig verwunderlich. CUTCHIN (2001, 2008) und BARNES (2008a) kommt zwar das Verdienst zu, die Konsequenzen des Pragmatismus für ein geographisches Verständnis von „Place“ am Rande einiger ihrer Aufsätze andiskutiert zu haben, jedoch findet auch hier keine konsistente und umfassendere Ausarbeitung eines pragmatischen Raumkonzeptes statt. Dass das Raumverständnis Deweys aber auch in der Philosophie bisher nicht systematisch aufbereitet wurde, mag demgegenüber doch etwas verwundern. Es kann nur gemutmaßt werden, woran das liegen könnte. Die vielleicht am nächsten liegende Vermutung ist aus meiner Perspektive, dass Spatial Turn und Pragmatic Turn so vergleichsweise junge Entwicklungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind, dass sie wahrscheinlich bisher schlicht noch nicht den Weg zueinander gefunden haben. Das folgende Kapitel versteht sich daher auch als ein Beitrag dazu, beide zusammenzuführen und ihre Gedanken für die Geographie fruchtbar zu machen. 4.4.1. Pragmatismus und Raum Aus der agnostizistischen Position des Pragmatismus muss ein Versuch, ontologisch zu bestimmen, was Raum oder Mitwelt „an sich“ sind als sinnloses Unterfangen verstanden werden,210 da für den Pragmatismus Annahmen über das Wesen der Welt reine Metaphysik sind. Ist die Ablehnung einer eigenständigen Raum- und Mitwelt-Ontologie durch den klassischen Pragmatismus Dewey‘scher Prägung insofern zweifellos evident, bleiben seine Ausführungen darüber, wie er Raum genauer denkt, zumeist jedoch recht fragmentarisch.

209 Vergleiche zu den geschilderten Raumkonzepten das Kapitel 4.1.3. 210 In der Ablehnung einer Ontologie des Raumes haben ein pragmatisches und das von Zierhofer skizzierte Raumverständnis eine Gemeinsamkeit.

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

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In seinen Arbeiten diskutiert Dewey zwar an unterschiedlichen Stellen211 das Raumverständnis verschiedener Philosophen von der griechischen Antike bis zu Leibnitz, Locke und Kant, gesteht aber in einem Brief an einen Kollegen, den Philosophen Scudder Klyce, im Jahr 1915 (DEWEY 2005: 1915.05.29)212, dass er sich schwer tue, Raum in seinem Denken zu berücksichtigen: „It is true that I do not readily introduce the space factor in my thinking.“

Dewey arbeitet zwar schon in seinem frühen Werk mit Raumbezügen, benutzt den Begriff jedoch in erster Linie, um andere Elemente seiner Philosophie zu erklären. In seiner »Psychologie« von 1887 spielen so bspw. Raum und Zeit eine zentrale Rolle, um Wahrnehmung als zentrales Element jeder neuen Wissensproduktion zu verorten und zu erklären. Eine systematisch ausgearbeitete eigene Raumkonzeption fehlt aber in Deweys Werk. Trotzdem lässt sich eine pragmatische Raumkonzeption relativ gut über die in seinem Werk an verschiedenen Stellen zu findenden Ausführungen über Raum rekonstruieren. Hierfür bietet es sich an, mit seinem frühen Essay »The Psychological Standpoint« über die Aufgaben der Psychologie zu beginnen, in dem er Elemente einer pragmatischen Herangehensweise an Raum erstmals anreißt: „It is indeed the business of the psychologist to show how (not the ideas of space and time, etc., but) space, time, etc., arise, but since this origin is only within or for consciousness, it is but the showing of how knowledge develops itself; it is but the showing of how consciousness specifies itself into various given forms. He has not been telling us how knowledge became, but how it came to be in a certain way, that is, in a certain set of relations. In making out the origin of any or all particular know-ledges (…), he is but showing the elements of knowledge. And in doing this, he is performing a twofold task. He is showing on the one hand what place they hold within experience, i.e., he is showing their special adequacy or validity, and on the other he is explicating the nature of consciousness or experience. He is showing that it is not a bare form, but that, since these different elements arise necessarily within it, it is an infinite richness of relations“ (DEWEY 1996: EW.1.130).

Liest man dieses Zitat vor dem Hintergrund der antifundamentalistischen Grundhaltung und der Handlungszentrierung des Pragmatismus wird deutlich, dass ein pragmatisches Verständnis von Raum nicht an einer Raumontologie ansetzen kann, sondern entsprechend des Grundgedankens des Pragmatismus danach fragen muss, auf welche Art und Weise Menschen ihre Wirklichkeit erleben und zu

211 Vgl. DEWEYS »Leibniz's new Essays concerning the Human Understanding« (1996: EW.1) und seine »Contributions to a Dictionary of Philosophy and Psychology« (1996: MW.2). 212 Dewey pflegte eine sehr umfangreiche Korrespondenz mit Kollegen, Freunden und Bekannten, die heute für wissenschaftliche Untersuchungen seines Werkes hilfreiche Interpretationshinweise liefern. Für seine gesammelte Korrespondenz hat sich eine Standardzitationsweise herausgebildet. Die erste vierstellige Zahl hinter dem Erscheinungsjahr der gesammelten Korrespondenz gibt das Jahr an, in dem der Brief geschrieben wurde. Die zweite Zahl nennt die jeweilige Bandnummer, in dem der Brief zu finden ist, die dritte gibt die Seitenzahl im jeweiligen Band an.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

ihren Vorstellungen von Raum gelangen.213 Es geht also darum eine Idee zu entwickeln, wie Menschen sich ihre Vorstellungen von Raum und Zeit im Rahmen von Erfahrungsprozessen bilden. Schon in seinem Frühwerk geht Dewey so davon aus, dass das Selbst Subjekt und Objekt im Prozess der Wahrnehmung erschafft, in dem es sie räumlich differenziert und ihnen eine Position zuweist: „All objects, as perceived, are projected in space, and given definite position. This is seen most clearly in the case of sensations of touch and sight, which form the especial data of space perception. (…) The mere presence of simultaneous sensations, however, is not identical with perception of spatial coexistence. The mind must recognize their distinction, and construe them spatially“ (DEWEY 1996: EW.2.142).

Raum und Zeit sind vermittelt des leiblich-transaktiven214 Wahrnehmungsprozesses daher immer auch eine Art Gedanken gewordenes Gefühl: „Space and time, in themselves, are feeling determined by thought“ (ebd.: EW.3.74).

Raumwahrnehmung ist insofern immer leiblich geprägt. Indem der Mensch von seinem eigenen Leib als Zentrum seiner Wahrnehmung ausgeht, konstruiert er den ihn umgebenden Raum immer relational. Die Leiblichkeit als Bedingung des Erlebens und Erfahrung Machens bildet daher für den Pragmatismus, wie in der Phänomenologie auch, den Dreh und Angelpunkt seines Raumverständnisses. Eine nicht-relationale Raumwahrnehmung ist dem Menschen insofern auch nicht möglich: „The starting-point is the position of the body, and that the perception of any spatial position depends upon the ability to place the object definitely with reference to other objects. An isolated object can hardly be placed at all“ (ebd.: EW.2.164).

Diese Differenzierungsleistung ist daher auch die Voraussetzung für die Möglichkeit von Vielfalt, ohne deren Existenz alles in einem ontologischen Monismus zusammenfiele.215 Die Separierung vom Selbst und die Differenzierung und relationale Positionierung von Objekten im Raum lässt sich deshalb als die fundamentale Funktion und Tätigkeit des Geistes verstehen, mit der er sich seiner eigenen Existenz versichert und diese von Anderem abgrenzt (ebd.: EW.2.150). Die vom Selbst unterschiedenen Objekte werden als einer gemeinsamen, jedoch äußeren Welt zugehörig betrachtet, während alle Ideen über diese Objekte dem eigenen Selbst zugeschrieben werden (ebd.): „The separation of objects in space from self is the fundamental form in which the universal activity of mind, as a distinguishing activity, manifests itself. In perception this discriminating factor predominates over the unifying. The action of the unifying function of mind is wit-

213 Die Anbindung unterschiedlicher Raumkonzepte an das menschliche Erleben des in der Welt Seins hat der Pragmatismus gemein mit phänomenologischen Raumkonzepten (vgl. Kapitel 4.1.3). Hierauf wird später noch genauer eingegangen. 214 Zur konzeptionellen Verbindung des Transaktions- mit dem Leibkonzept vgl. Kapitel 4.3.6.1. 215 Gegen einen solchen ontologischen Monismus spricht sich Dewey denn auch dezidiert in seinen Reflexionen über »Leibniz's new Essays concerning the Human Understanding« aus (ebd.: EW.1.289).

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

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nessed in the fact that particular objects are identified as such and such, and that all objects are regarded as constituting one world, while all ideas about them are referred to one self. The predominance, however, of the distinguishing function is witnessed by the fact that each of these objects is distinct from every other, and all from the self. This is manifested in the existence of space.“

Aufgrund dieser extremen Form der Differenzierung und Selbst-Externalisierung (sic) erscheint uns Menschen die Welt als vollkommen äußerlich und unabhängig von uns zu existieren (ebd.: EW.2.151). Auf diese Weise erschafft der Mensch nicht nur das denkende Subjekt, sondern konstruiert auch eine äußere (Um-) Welt, die durch Relationen miteinander und mit dem Subjekt verbunden ist. Diese Relationen beschreiben eine Koexistenz der Dinge: „Dinge, die geschehen, finden im buchstäblichen Sinne des Ausdrucks statt [take place] (…) und die Bedingungen dieses irgendwo stehen in Koexistenz miteinander sowie in Koexistenz mit Dingen, die woanders stattfinden. Lokalisierung, Orte und Stätten sind relativ zueinander; sie koexistieren [Hervorh. i. O.]“ (DEWEY 2002a: 283).

Relationen zwischen den Dingen können zum einen formal oder technisch gedacht und insofern auch quantitativ gemessen werden (DEWEY 2005: 1915.05.29) und entsprechen dann dem Konzept eines Distanz-Relationen Raums. Zum anderen beinhaltet jedoch schon die Rede von Teilen dieses oder jenes eine Differenzierungsleistung, der eine qualitative (sic) Unterscheidung einer Ausdehnung (ebd: „extensity or spread outness“) unterliegt. Dabei muss der Raum zugleich mit der Zeit prozesshaft zusammengedacht werden, denn die räumliche Unterscheidung von Teilen meint, so Dewey, letztendlich nichts anderes als Dinge zu unterscheiden, die sich in einer anderen Art und Weise verändern als andere Dinge (ebd.). Ohne unterschiedliche Arten und Geschwindigkeiten von Wandel gibt es deshalb keine Wahrnehmung unterschiedlicher Teile. Aufgrund der sich über Zeit im Raum verändernden quantitativen und qualitativen Relationen sind Objekte einer permanenten Dynamik und damit Veränderung unterworfen: „We recognize that objects are not only separated in space and time, but that they are in dynamic relations with each other; that they are constantly exchanging places in space, and passing into each other in time“ (DEWEY 1996: EW.2.207f).

Während die Differenzierung der Wahrnehmung in räumlicher Hinsicht geschieht, erfolgt die notwendige Differenzierungsleistung im Gedächtnis über Zeitrelationen (ebd.: EW.2.154). Realer (im Sinne von für Menschen lebenspraktisch relevanter) Raum und reale Zeit benötigen sich daher gegenseitig und können als Ausmaß und Beständigkeit von Wandel („extensity and persistency of change“) verstanden werden (DEWEY 2005: 1915.05.29). Die Welt der Dinge ist daher eine Welt, die von der sich wandelnden Konstitution von Relationen in Zeit und Raum im Verhältnis zum denkenden Subjekt bestimmt ist: „Every thing is constituted by relations. The world of things in space and time is simply a vast complex of relations“ (DEWEY 1996: EW.5.26).

Raum wäre dann gleichzeitig eine Art Möglichkeit der Erfahrung, die in der Zeit potenziell realisiert wird. Zu einem solchen Raumverständnis passt der Hinweis

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

von JAMES (1994a: 141), dass jeder Raum nur innerhalb seiner „Erfahrungsgrenzen“ Wahrheit beanspruchen kann. Ein Raumverständnis als Möglichkeit der Erfahrung darf nicht missverstanden werden. Es meint keineswegs wie bei Kant ein Apriori. Raum wird im Sinne des Pragmatismus vielmehr erst im Handlungsvollzug des Forschungsprozesses konstituiert und ist insofern als Modus des Erfahrung-Machens und insofern des Handelns zu verstehen. Raum und Zeit lassen sich folglich als sich dynamisch verändernde Anschauungsformen und Ordnungsschemata interpretieren, die sich im Rahmen leiblicher Erfahrungsprozessen herausbilden und dann ggf. reflexiv bewusstwerden. Mit Hilfe ihrer symbolischen Kodierung kommunizieren wir über sie und orientieren uns in ihnen (DEWEY 1996: LW.11.246). Raum existiert insofern in erster Linie als eine relationale Bedeutungsstruktur: „It is of the very nature of a relation to have no existence, no meaning, except for a thinker“ (ebd.: EW.5.26).

Die Bedeutung des Raumes für jemanden kann insofern, wie DEWEY argumentiert (ebd.: EW.3.74), durchaus als eine spezifische und in diesem Sinne einzigartige Form des im Erkenntnisprozess produzierten Wissens („forms of knowledge conditioned by the self“) verstanden werden, die, einmal in der Welt, weiter in uns wirkt und uns beeinflusst („yet conditioning self as it works in us“). Unsere Raumvorstellungen, so lässt sich schlussfolgern, haben daher aus pragmatischer Perspektive immer einen performativen und reflexiven Charakter. Raum ist deshalb als eigenständige, apriorische Kategorie nicht sinnvoll denkbar, da die Konstitution von Raum immer bereits von den ihr vorhergehenden sozialen Bedingungen und sozial geteilten Interpretationsschemata beeinflusst ist: „When we are told that the question of the origin of space experience has nothing at all to do with the question of the nature and significance of the space experienced, the statement is simply evidence that the one who makes it is still at the static standpoint; he believes that things, that relations, have existence and significance apart from the particular conditions under which they come into experience, and apart from the special service rendered in those particular conditions“ (ebd.: MW.1.124).

Das aus dem Pragmatismus insofern folgende undogmatische, nicht-metaphysische und agnostische Verständnis von Raum- und Zeit als Ordnungs- und Bedeutungsschema des erkennenden Menschen schließt sich insofern nahtlos an die Vorstellungen an, die wir bereits bei Hume sowie im phänomenologischen Raumverständnis vorgefunden haben. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Raum und Zeit für Dewey eine zentrale Stellung in unserem Erkenntnisprozess einnehmen. Wissenschaft, Erkenntnissuche und die durch sie produzierten Wahrheiten sind, so lässt sich mit Dewey sogar schlussfolgern, immer in Raum und Zeit verortet: „In fact (…) all truths, according to the practice of all inquiries which rank as scientific in their knowledge-status, are about space-time subjectmatters [sic]“ (DEWEY 2005: 1945.06.11).

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

243

Aus Sicht der Geographie lässt sich damit ganz unbescheiden schlussfolgern, dass der Spatial-Turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften (bspw. DÜNNE & GÜNZEL 2006; GÜNZEL 2007) wenig verwunderlich war – deutet der klassische Pragmatismus doch bereits nachvollziehbar darauf hin, dass Wahrheit und Wissen nicht nur zeitlich, sondern immer auch räumlich und damit geographisch situiert sind. Wissen ist immer kontextgebunden. Eine entkontextualisierte, universell gültige Erkenntnis ist daher auch nicht erreichbar. Das Geographie-Machen befindet sich insofern im Herzen der menschlichen Erkenntnissuche. DEWEY (2002a: 283) spitzt diese Einsicht denn auch in der Schlussfolgerung zu, dass „Geschichte nicht getrennt von Geographie geschrieben werden kann.“

Die dualistischen Raumkonzepte des Realismus, sowie die Dualismen von Geist und Materie, Kultur und Natur müssen sich in einem solchen Raumkonzept natürlich auflösen. Raum könne daher, so DEWEY (1996: MW.12.148), auch keine metaphysische Realität beanspruchen, sondern sei vielmehr subjektiv und phänomenal zu verstehen: „Space, distance (…) is merely phenomenal; or, in a more modern version, subjective. It is not, metaphysically speaking, real.“

DEWEY (ebd.: LW.1.347) distanziert sich mit diesem Raumkonzept schlusslogisch von dem absoluten, ontologischen Raumkonzept Newton’scher Prägung, wie wir es oft in der Physischen Geographie finden, da Raum und Zeit dann nicht mehr sinnvoll als eigenständig existente „container“ oder „envelopes“ denkbar sind (ebd.: LW.1.347). Der implizite Determinismus substanzialistischer Raumkonzepte216 lässt sich erst auflösen, wenn Raum ganz im pragmatischen Sinne als Produkt des Erkenntnisprozesses aufgefasst wird und diesem nicht vorausgeht: „Newtonian space-time was absolute and to take the position I do take under the conditions that were set by Newtonian physics would have been to precondition knowing – including value-subjectmatters [sic] – by external conditions. But not when space-time itself stands for the conclusions of the most competent inquiries which we are able to make at a given time“ (DEWEY 2005: 1945.06.11).

Wenn Raumvorstellungen aber das Ergebnis von Erfahrungs- und Erkenntnisprozessen sind, ist Raum immer ein individuell und zeitlich spezifischer und in diesem Sinne einzigartiger Raum. Im Angesicht der großen Anzahl von Individuen und der theoretisch unendlich möglichen Veränderungen ihrer Raumentwürfe im Verlauf ihres Lebens muss Raum dann jedoch immer im Plural gedacht werden. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive der Humangeographie mag diese Schlussfolgerung heute kaum mehr überraschend erscheinen – für die Zeit, in der Dewey diesen Gedanken geäußert hat, war er jedoch revolutionär. Lange vor den ersten Konstruktivisten, Poststrukturalisten und Phänomenologen entwickelt Dewey damit das erste erkenntnistheoretisch konsistent begründete, relativistische, plurale und leibzentrierte Raumkonzept der Philosophiegeschichte. 216 Vgl. hierzu 2.2.2

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Von Bedeutung ist zudem, dass sich ein solch neues und plurales Raumverständnis keineswegs nur in die Sozialwissenschaften (und die Psychologie) mit ihrer Betonung der Kontingenz menschlicher Weltperspektiven einfügt, wie Dewey ebenfalls anmerkt, sondern sich in der Physik in neuen, relativistischen Raumkonzepten, wie bspw. dem Einsteins, spiegelt. Die Konsequenzen dieses Befunds sind dabei für die Geographie weit reichender, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn wenn relative Raumkonzepte nun auch in den Naturwissenschaften wohl begründeten Einzug halten, dann ist unter diesen Bedingungen der Versuch, unterschiedliche Raumkonzepte in Human- und Physischer Geographie durch einen ontologischen Unterschied der untersuchten Gegenstände begründen zu wollen, zum Scheitern verurteilt. Schließt man sich den Überlegungen Einsteins mit Blick auf dessen Raumkonzept an, so stellt Dewey nämlich logisch fest, müsse man letztlich auch die Kant’schen apriorischen Begriffe von Raum und Zeit verabschieden, da Raum und Zeit entsprechend der modernen Physik keine apriorische Existenz zukommen kann. Raum und Zeit sind demnach nicht als eigenständige Relationen zwischen unabhängigen Ereignissen zu verstehen, sondern als Ergebnis beobachterabhängiger Verknüpfungen, die in kontingenten Ordnungen resultieren und ihre Gültigkeit durch die Gültigkeit ihrer Ergebnisse (und insofern durch ihre Konsequenzen) und nicht durch eine Korrespondenz mit der absoluten Wahrheit erhalten: „For the conclusion of Einstein, in eliminating absolute space, time and motion as physical existences, does away with the doctrine that statements of space, time and motion as they appear in physics concern inherent properties. For that notion, it compels the substitution of the notion that they designate relations of events. As such relations, they secure, in their generality, the possibility of linking together objects viewed as events in a general system of linkage and translation. They are the means of correlating observations made at different times and places, whether by one observer or by many, so that translations may be effected from one to another. In short, they do the business that all thinking and objects of thought have to effect: they connect, through relevant operations, the discontinuities of individualized observations and experiences into continuity with one another. Their validity is a matter of their efficacy in performance of this function; it is tested by results and not by correspondence with antecedent properties of existence“ (ebd.: LW.4.117).

Dewey befindet sich in seiner Ablehnung gegenüber einem Kant’schen, apriorischen Raumkonzept in Übereinstimmung mit James, der sich entschieden von dem metaphysischen Raumverständnis bei Kant abgrenzt und stattdessen ein zugleich holistisches sowie plurales Verständnis von Raum demonstriert. JAMES zufolge (1994a: 112) sind nämlich „kosmischer Raum und kosmische Zeit (…) eben keineswegs angeborene Anschauungen, wofür Kant sie erklärte, sie sind vielmehr ganz offenbar ebenso künstliche Konstruktionen wie irgend andere wissenschaftliche Gebilde. Die große Mehrheit der Menschen macht von diesen Begriffen keinen Gebrauch, sondern lebt in mehrfachen Zeiten und Räumen, die einander durchdringen und durcheinanderlaufen.“

Die Existenz beobachterabhängiger, kontingenter, pluraler räumlicher Ordnungen schließt sich mit einem Kant’schen, apriorischen Raum dabei insofern aus, als dass der Kant’sche Raum ja auch als Apriori des Denkens und der Erkenntnis

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

245

fungiert und daher zwangsläufig die Vielfalt menschlicher Wirklichkeitsentwürfe und Lebenswelten einschränkt. Kants transzendentales Raumkonzept lässt sich daher auch nicht mit einer modernen Humangeographie vereinbaren, die ja gerade von einer Vielheit von in sozialer Praxis entstandenen Räumen ausgeht. Damit wird dann natürlich auch das auf einem Kant’schen Verständnisses von Raum als Apriori aufbauende Raumkonzept einer sich im Kritischen Realismus Poppers verortenden Sozialgeographie, wie wir sie bspw. bei Werlen und Glückler wiederfinden, obsolet. Zugleich von der Pluralität von Raum auszugehen und eine kritisch-realistische Ontologie zu vertreten, ist demnach in sich selbst widersprüchlich. Im Gegensatz zu einer solchen Perspektive habe Einstein, so DEWEY (1996: LW.16.106), ja gerade Raum und Zeit selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen neben den eigentlich untersuchten Ereignissen erklärt: „Einstein's treatment, arising from new observations and new problems, brought space and time into the investigation as among the events investigated. It did more than that: it prepared the scene for the particle itself to go the way of space and time.“

In der Folge müsse sich nun auch der Umgang und die Herangehensweise an wissenschaftliche Problemstellungen ändern, indem auch in naturwissenschaftlichen Untersuchungen immer die beobachterabhängige und damit sozio-kulturelle Komponente217 bei Untersuchungen darüber mitgedacht werden, wie sich Forschungsgegenstände selbst im Forschungsprozess konstituieren und verändern:218 „Space and time were still taken as entities on their own account and hence as separate from one another and also from what was supposed to take place within their fixed framework-that

217 Eigentlich müsste dann natürlich auch die leibliche Komponente mitgedacht werden. Die klassischen Pragmatiker äußern Derartiges zwar nicht explizit, es wäre aber im Sinne der obigen Ausführungen nur konsequent. 218 Dieser Gedanke Deweys findet sich später (wenn auch nicht immer explizit) bspw. in dem berühmten und äußerst kontrovers diskutierten Buch »Der Spiegel der Natur« des Neopragmatikers Richard RORTY (1979), den Arbeiten der sozialen Konstruktivistin Karin KNORRCETINA (1984) über die »Anthropologie der Naturwissenschaften« sowie in dem jüngst erschienen, äußerst lesenswerten Buches des Anthropologen Philippe DESCOLA (2011) mit dem Titel »Jenseits von Natur und Kultur« wieder, in dem Descola die cartesianische Trennung von Natur und Kultur aus einer anthropologischen Perspektive anhand empirischer Beispiele hinterfragt und der Neopragmatist Michael HAMPE (HAMPE 2011) verwendet diese Argumentation in seinem äußerst unterhaltsam geschriebenen und empfehlenswerten jüngsten Buch »Tunguska oder das Ende der Natur«, in dem er den Streit zwischen unterschiedlichen naturund wissenschaftstheoretischen Konzepten in dialogischer Form aufbereitet. Deweys Philosophie ist insofern tief in die STS und die moderne Naturphilosophie eingesickert. Da die erkenntnistheoretische Basis der dort geübten Kritik an gesellschaftlich hegemonialen Wissenschafts- und Naturkonzepten jedoch oftmals kaum erwähnt wird, erscheint es lohnenswert, sich ihre Wurzeln in Erinnerung zu rufen. Denn eine Rückbesinnung auf die pragmatischen Wurzeln der STS ermöglicht erstens eine erkenntnistheoretische Stärkung ihrer Argumentation und eröffnet zweitens neue Anschlusspunkte für ggf. bisher getrennt gedachte Theorien und Theorietraditionen.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung is, they were not seen nor yet treated as the how of nature but as its essential what. The doctrine of relativity however completes the tale. Space and time are names for orders of events which moreover are integrally connected with each other. How things go on at last as far at least as scientific inquiry is concerned, has won the victory over what and what for. The victory will be achieved however only when inquiry into social whats and what fors is systematically viewed and treated as an included subordinate factor in determining how the subjectmatter proceeds; thereby attaining scientific status. That is to say, the spatial-temporal order specifically involved constituting the resolution of a given problematic indeterminate situation“ (ebd.: LW.16.340).

Im Gegensatz zu einem apriorischen Raumkonzept ist ein solches relativistisches Verständnis von Raum auch wiederum kompatibel mit dem eingangs skizzierten Konzept nicht determinierter, multipler Erfahrungsräume des Pragmatismus: „The space-time in the new physics doesn’t of itself determine what behavioural space-time must be (…). It does free the observer of behavioural events to construct his or behavioural space-time in terms of what he observes and doesn’t stand in the way of that construction as the separate space and separate time of Newtonian physics did“ (DEWEY 2005: 1941.04.15 (15212)).

Raum und Zeit sind dann als in Praxis entstehend und diese beschreibend zu denken und haben insofern einen adverbialen Charakter:219 „Now that the Newtonian framework is replaced by that of relativity (…), the old separations of space and time from each other, and of both of them from the events taking place within them, have lost all shadow of standing. Space and time, instead of being nouns or names of ‘entities’ are now qualifications of events, more accurately represented by adverbial form than even by adjectival phrases“ (DEWEY 1996: LW. 16.414).

Die Diskrepanz zwischen leiblich erlebter und scheinbar objektiv quantitativgemessener Zeit wird vor diesem Hintergrund nur zu gut verständlich. Die alltägliche Erfahrung, dass die Zeit manches Mal dahinzurasen scheint, wenn wir Dinge konzentriert tun, der Tag voll mit Abzuarbeitendem gepackt ist oder wir uns den Dingen widmen, die wir lieben und die Erfahrung, dass sich die Zeit endlos ziehen kann, wenn man nur zehn Minuten im Regen an einer nicht überdachten Bushaltestelle warten muss, wird so verständlich. Dass die mechanisch gemessene Zeit scheinbar objektiven Charakter hat liegt dabei nur daran, dass ihre Messung Teil eines anderen Handlungsmodus (nämlich dem der Konstruktion einer Uhr) ist. Eine relativistische und erfahrungszentrierte Wahrheitskonzeption wie die des Pragmatismus, so kann man aus dieser Diagnose schlussfolgern, benötigt demnach auch ein relativistisches Raum-Zeit-Konzept und umgekehrt.

219 Dewey reißt diesen Gedanken zwar bereits etwas früher in einem Brief an Jack Lamb an (DEWEY 2005: 1948.09.04 (15165)), entwickelt ihn zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht konsistent weiter.

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

247

4.4.2. Mitwelt und Raum Unsere Erfahrungsräume hängen eng mit dem zusammen, was wir Um- oder Mitwelt nennen.220 Verabschieden wir uns von der Vorstellung „externer Objekte“ oder nicht-menschlicher „Realitäten“ (ebd.: MW.6.457) sind es ja gerade die sich im Verlauf des Lebens stetig ausweitenden Erfahrungsräume, die wir uns als sich immerzu verändernde Welt in Relation zu uns selbst erschließen und von der wir uns gleichzeitig zu unterscheiden trachten: „The infant (…) begins with an environment of objects that is very restricted in space and time. That environment steadily expands by the momentum inherent in experience (…). As the infant learns to reach, creep, walk, and talk, the intrinsic subject-matter of its experience widens and deepens. It comes into connection with new objects and events which call out new powers, while the exercise of these powers refines and enlarges the content of its experience. Life-space and life-durations are expanded. The environment, the world of experience, constantly grows larger and, so to speak, thicker“ (ebd.: LW.13.48f).

Es ist unsere spezifische Mitwelt, die situierte Handlungsprobleme für uns aufwirft und uns zu neuen alltäglichen Forschungsprozessen anregt, in denen wir unserem bereits existierenden Verständnis unserer Welt immer neue Dimensionen hinzufügen. Mitwelt kann also genau wie Raum nur als eine relationale und sich entsprechend der Veränderungen unserer Erfahrungsräume dynamisch wandelnde Mitwelt gedacht werden. Raum und Mitwelt befinden sich also ständig im Fluss der Transaktion zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem. Wenn man dementsprechend aussagt, dass Menschen in ihrer Mitwelt leben, ist damit nicht gemeint, dass man sie in einem Container oder in Relation zu anderen Objekten verortet. Die Aussage meint vielmehr, dass Menschen in einer Serie von Situationen leben, die von einer holistischen Transaktion zwischen Menschen, anderen Organismen und der unbelebten Welt geprägt ist. Menschliche Erfahrungen sind daher in dem Sinne immer verortet, dass sie in einer spezifischen Situation der Transaktion zwischen einem Individuum und seiner Mitwelt stattfinden: „An experience is always what it is because of a transaction taking place between an individual and what, at the time, constitutes his environment, whether the latter consists of persons with whom he is talking about some topic or event, the subject talked about being also a part of the situation; or the toys with which he is playing; the book he is reading (in which his environing conditions at the time may be England or ancient Greece or an imaginary region); or the materials of an experiment he is performing. The environment, in other words, is whatever conditions interact with personal needs, desires, purposes, and capacities to create the experience which it had. Even when a person builds a castle in the air he is interacting with the objects which he constructs in fancy“ (DEWEY 1996: LW.13.25).

Raum ist daher genauso wie die Mitwelt ein fluider Gegenstand. Er ist dynamisch, ständig in Veränderung begriffen, wird von uns in der Transaktion mit unserer Mitwelt permanent neu hervorgebracht. Es ist dabei auch unsere eigene Kreativi-

220 Vgl. Kapitel 4.3.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

tät im Rahmen situierter Erfindungen,221 die dazu beiträgt, permanent unsere Mitwelt zu verändern. Und es ist unsere sich kontinuierlich verändernde menschliche und nichtmenschliche Mitwelt, die uns Handlungsmöglichkeiten eröffnet und Raum bietet für neue kreative Wege mit ihr umzugehen. Eine von Dewey beeinflusste Mensch-Mitwelt-Geographie muss daher transaktive Prozesse in ihrem Zentrum positionieren und von dort aus im leiblichen Erfahrungsprozess eingebettete Gefühle, Praktiken, Diskurse und Gedankengebäude von Menschen weiter verfolgen. Wie damit deutlich geworden sein dürfte, postuliert der klassische Pragmatismus zwar bezüglich des Moduses unserer Welterschließung eine klare Anthropozentrierung seines Raum- und Mitweltverständnis. Die resultierenden Vorstellungen von Raum und Mensch-Mitwelt-Beziehungen werden von ihm jedoch nicht ontologisch überhöht und hypostasiert. Vielmehr geht der Pragmatismus schlicht vom menschlichen Erleben des In-der-Welt-Seins aus, in dem der Mensch seine Mitwelt als in praktischer Hinsicht nicht sinnvoll hinterfragbare holistische Einheit leiblicher, emotionaler und sozio-kulturell geprägter Erfahrungen erlebt, innerhalb derer er durch räumliche und zeitliche Differenzierung Ordnung schafft und sich so einen Überblick und damit eine Handlungsgrundlage verschafft. „Dinge an sich“ sind für den Menschen nicht erfahrbar, da er bereits im Akt der Wahrnehmung eine Auswahl in Bezug auf seine Aufmerksamkeit fällt und Bedeutungszuschreibungen und Kategorisierungen vornimmt. Die Vorstellung einer objektiv erkennbaren physisch-materiellen Welt ist somit nicht sinnvoll konzeptionalisierbar, da hierzu der Mensch nicht als erkennendes Subjekt vorhanden sein dürfte. Sobald wir die Welt (und das bedeutet auch die Welt, die wir als physisch-materielle Welt bezeichnen) im Handlungsvollzug erkennen, ist sie eine vom Menschen in dieser Art und Weise im Erfahrungsprozess erkannte Welt, die andere gleichzeitige Erfahrungen ausschließt.222 Da sich der Pragmatismus erkenntnistheoretisch agnostisch verhält, darf diese Aussage jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass er damit eine Aussage darüber treffen wollte, ob und in welcher Weise die physisch-materielle Welt absolut gesehen existieren würde. Einerseits sind in pragmatischer Hinsicht im Gegenteil sowohl der Glaube wie auch der Unglaube an die absolute Existenz der Welt zulässig, andererseits ist die Frage danach, wer hier Recht hat, für Pragmatisten bedeutungslos, da erkenntnistheoretisch nicht entscheidbar. Die meisten Pragmatisten würden wohl argumentieren, dass sich der Glaube an die Existenz der Dinge zumeist bewährt und insofern bewahrheitet hat, der damit verbundene Wahrheitsanspruch jedoch prekär bleibt und seiner kontinuierlichen Bewährung in unseren Erfahrungs- und Forschungsprozessen ausgesetzt bleibt. Da in derartige praktische Erfahrungen aus der Perspektive Deweys zudem immer gleichzeitig leibliche wie emotionale und rationale Elemente eingehen, ist

221 Vgl. Kapitel 4.2.2. 222 Ein Umstand, auf den in der neuen Physik bspw. HEISENBERG (1927) in seiner Unschärferelation hingewiesen hat.

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

249

eine rein geistige oder rein materielle Erfahrung, die es möglich machen würde, auf ein diesbezügliches Wesen der Erfahrung zu fokussieren, nicht sinnvoll denkbar. Die auf diesem praxisorientierten Verständnis des Erfahrungskonzepts aufbauende tiefe Ablehnung der cartesianischen Trennung von Körper und Geist (DEWEY 1996: EW.1.96) spiegelt sich insofern denn auch im Raum- und Mitweltverständnis des Pragmatismus wider und ist dafür verantwortlich, dass Raum und Mitwelt im Rahmen des Pragmatismus nur als holistische Konzepte einer vielfältigen Heterogenität sinnvoll denkbar sind. 4.4.3. Ein pragmatisches Raumkonzept als Erweiterung des geographischen Theorieangebotes Das pragmatische Verständnis von Raum liegt mit seinen erkenntnistheoretischen Grundlagen quer zu den in der Geographie etablierten realistischen Perspektiven auf Raum. Sein Handlungsbezug weist zwar grundlegende Ähnlichkeiten zu dem Werlens auf, anders als dieser verortet der Pragmatismus jedoch die in leiblichpraktischem Erleben entstehenden Räume nicht in einer realistischen Ontologie und bindet sie auch nicht an einen absoluten und unabhängig existierenden physisch-materiellen Raum an. Ein pragmatisches Raumverständnis weist insofern Überschneidungen mit dem ersten von MIGGELBRINK (2000) identifizierten konstruktivistischen Raumverständnis auf. Der Pragmatismus versteht Raum als Ordnungsweise des erkennenden Subjektes, konzipiert ihn jedoch nicht im Kant’schen Sinne als der Wahrnehmung vorausgehendes Medium. Diese Vorstellung von Raum teilt das pragmatische Verständnis mit dem zweiten von MIGGELBRINK identifizierten konstruktivistischen Raumkonzept. Im Gegensatz zum semantischen und strukturalistisch-diskursanalytischen oder sprachpragmatischen Konzept wird Raum im Pragmatismus jedoch nicht als rein semantisches Konstrukt verstanden, sondern als subjektiv in Praxis223 hergestelltes, sozio-kulturell geprägtes Bedeutungskonzept, das Teil eines sowohl leiblich, emotional und sinnhaft geprägten Prozesses des Erfahrung-Machens ist. Unsere Raumvorstellungen dienen daher aus pragmatischer Perspektive vor allem dazu, Unsicherheit und Unbestimmtheit zu beseitigen, handlungspraktische Probleme zu lösen und Menschen eine Handlungsgrundlage zu eröffnen. Sie haben daher Konsequenzen und müssen sich an diesen bewähren.

223 Hier sei noch einmal auf den sehr weit gefassten Handlungsbegriff des Pragmatismus hingewiesen, der auch Gedankenexperimente oder Theoriebildungen einschließt. Zudem weist der Pragmatismus in seiner semiotischen Variante bei Peirce natürlich Berührungs- und Anknüpfungspunkte zu semiotischen und diskursanalytischen Konzepten auf. In der Betonung des Handlungsbezuges und der Einheit leiblicher, emotionaler und sinnbezogener Elemente unserer Erfahrung liegt auch der zentrale Unterschied zu dem bspw. von Zierhofer vertretenen sprachpragmatischen Konzept.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

Insofern reicht es in einer Pragmatischen Geographie nicht hin, nur die Konstitution und Konstruktionsweise von Raumabstraktionen zu thematisieren. Eine pragmatische Thematisierung von Raum bliebe unvollständig, würde man dessen individuelle und gesellschaftliche Funktion und deren Konsequenzen nicht aufzeigen. Man könnte sagen, dass eine Pragmatische Geographie Räume dementsprechend nicht nur de- oder rekonstruieren will, sondern sie auch in ihren Veränderungen und Wirkungen zu deuten und zu erklären trachtet. Im Gegensatz zu dekonstruktivistischen Ansätzen fordert der Pragmatismus deshalb dazu auf, nicht bei einer intellektualistischen Dekonstruktion unserer Raumvorstellungen stehen zu bleiben, sondern sich der Welt engagiert zuzuwenden und zu untersuchen, welche Konzepte von Raum und Um- oder Mitwelt welche performativen und reflexiven Konsequenzen für die alltägliche, praktische Gestaltung unserer Lebenswelten und die geographische Forschung mit sich bringen. Raum kann dabei für den Pragmatismus, ähnlich wie für die Systemtheorie, nur als menschliches Ordnungskonzept sinnvoll diskutiert werden. Beobachterunabhängige, physisch-materielle Räume können in diesem Sinn nicht Gegenstand menschlicher Forschungspraxis sein. Anders als in systemtheoretischer und in vielen (sprach-) konstruktivistisch geprägten Perspektiven verortet der Pragmatismus Raum jedoch nicht nur im Rahmen von Semantiken und sozialen Systemen. Er geht vielmehr davon aus, dass sich unsere Raumkonstruktionen nicht nur als sprachlich verfasste Wirklichkeiten und insofern als Sinnkonzept im Rahmen sozialer Systeme bewähren müssen, sondern postuliert, dass sie sich auch lebenspraktisch und damit auch in der materiellen, leiblichen und emotionalen Dimension unserer Lebenswelt bewähren müssen. Sie bestehen zwar aus Bedeutungsstrukturen, diese sind jedoch immer im Rahmen der Transaktion mit leiblichemotionalen, primär nicht semantisch-verfassten Erfahrungen verwoben. Wer sich dies nur schwer vorstellen kann, der möge sich fragen, welche Folgen für das Leibempfinden, die eigenen Raumvorstellungen und zukünftigen Handlungsdispositionen es haben mag, wenn man aus Versehen (und insofern eben nicht bewusst und sprachlich reflektiert) erfolglos versucht hat, den benachbarten Besprechungsraum durch eine geschlossene Glaswand hindurch zu betreten. Der klassische Pragmatismus Dewey‘scher Prägung grenzt sich vor einem solchen holistischen Erfahrungskonzept von dem Postulat autopoietischer sozialer bzw. sprachlicher Systeme ab und erteilt der einseitigen Akzentuierung semantischer Raumkonzepte im Zuge des Linguistic Turns eine klare Absage. Das pragmatische Raumverständnis bildet somit eine Brücke zwischen Bedeutung und Bedeutungsträger, indem es den zwischen den beiden existierenden Graben überwindet, den Realismus und Konstruktivismus postulieren. Die Frage danach, wie Sinn und Materie zusammengedacht werden können, entpuppt sich damit als ein Scheinproblem, das erst dadurch entsteht, dass man beide antipodisch gegenüberstellt, anstatt in ihnen, wie der Pragmatismus, eine im Erfahrungsprozess vermittelte integrative Einheit zu sehen. Menschen schaffen in diesem Sinne im Rahmen sozio-kulturell geprägter, individueller, praktischer und eingeleibter (SCHMITZ 2009: 31) Erfahrungsprozesse Räume als temporär fixierte Bedeutungskonzepte. Raum und Umwelt können da-

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

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her im Pragmatismus weder Apriori gegeben sein, noch den Ausgangspunkt geographischer Forschung bilden. Raum ist daher in pragmatischer Perspektive grundsätzlich kontingent, anpassungsfähig und dynamisch zu verstehen, weshalb die Existenz (und damit das Sich-Bewährt-Haben) unterschiedlicher Raumkonzepte anerkannt und gleichzeitig gefragt werden muss, welche Vorstellungen von Raum und Umwelt am Ende alltäglicher Forschungs- und Erfahrungsprozesse stehen. Das Raumkonzept des Pragmatismus weist insofern mit seiner final holistischen224, nicht-metaphysischen, pluralen, relativen und nichtdualistischen Perspektive auf Raum Parallelen zu einem poststrukturalistischen Raumverständnis wie dem Zierhofers auf. Das Raumkonzept Deweys weicht aber in einigen entscheidenden Punkten von dem Zierhofers ab. Während Zierhofer sein Raumkonzept sprachpragmatisch begründet und an eine Handlungstheorie im Sinne Werlens anschließen will, Raum als eine Art Meta- und Sinnkonzept versteht, daher für ein monistisches Raumverständnis plädiert, und dieses gegen ein plurales Raumverständnis abgrenzet, wendet sich der Pragmatismus explizit gegen monistische Raumentwürfe und hebt dafür den holistischen und zugleich pluralen Charakter von Raum hervor, der sich aus der Multidimensionalität unserer praktischen Erfahrungen speist. Das Raumkonzept Deweys bleibt dabei konsequent an den erweiterten Praxis- und Erfahrungsbegriff des Pragmatismus angebunden und geht daher über die bei Zierhofer im Vordergrund stehende Sinndimension hinaus, da es sowohl leibliche wie auch emotionale Erfahrungen einbezieht. Man kann daher schlussfolgern, dass das Raumkonzept des Pragmatismus deutlich umfassender und gleichzeitig pluraler ist als dasjenige, das Zierhofer entwickelt. Die Brücke zwischen Physischer und Humangeographie, die der Pragmatismus damit zu schlagen in der Lage ist, ist zudem stabiler und breiter angelegt als das Angebot der hybriden Räume, das sich letztlich doch auf die Netze beschränkt, „die sich nicht ohne Weiteres der Natur oder Kultur zurechnen lassen“ (ZIERHOFER 1999: 12). Mir scheint der Unterschied zwischen beiden Konzeptionen von Raum jedoch nicht unüberbrückbar zu sein. Der Kerngedanke Zierhofers, die prekäre Konstitution der Abgrenzung von Menschlichem und Nichtmenschlichem durch den Versuch einer Kombination sprachpragmatischer mit Actor-Network-theoretischen Ansätzen in die Raumdebatte hineinzutragen, ließe sich m. E. gut mit der pragmatischen Idee der Transaktion vermitteln und erweitern. Der Pragmatismus könnte daher für die weitere Konzeptionalisierung und Untersuchung hybrider Räume

224 Um Missverständnissen vorzubeugen sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass dieses Raumkonzept anti-fundamentalistisch und anti-essenzialistisch verfasst ist und insofern nicht gleichgesetzt werden darf mit dem monistischen Landschaftskonzept wie es sich bspw. in den Arbeiten von Bobek und Schmithüsen findet (BOBEK 1957; BOBEK & SCHMITHÜSEN 1949). Die Dichotomie zwischen Kultur und Natur wird im Pragmatismus nicht über den Raum, sondern über den Erkenntnisweg aufgelöst. Der Raum des Pragmatismus ist daher das Ergebnis, nicht der Ausgangspunkt der Analyse.

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4. Potenziale des Pragmatismus für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung

eine geeignete Grundlage darstellen, die deren Fokus aufweitet und ihr damit fruchtbare neue Perspektiven eröffnet. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Raum und Umwelt in pragmatischer Perspektive daher in dreierlei Hinsicht neu gedacht werden müssen. Erstens unterbreitet der Pragmatismus eine Möglichkeit, die dualistische Verdoppelung (bzw. Verdreifachung) der Welt, wie wir sie idealtypisch in den Räumen eins bis drei bei Popper wieder finden, durch eine radikale Anthropozentrierung sowie Leib- und Praxisorientierung zu überwinden. Die eigenständige Ontologie realistischer und idealistischer Räume löst sich dann im pragmatischen Verständnis eines holistischen Raumes auf, in dem die leibliche, emotionale und rationale Erfahrungswelt eine Einheit bilden. Die Anthropozentrierung des Pragmatismus geht daher nicht mit einer Absage an die materielle und leibliche Dimension unseres Lebens einher. Sein Raumverständnis deckt sich insofern weitgehend mit einem phänomenologischen Denken über Raum, geht diesem jedoch ein halbes Jahrhundert voraus, unterbreitet ihm eine neue und in sich konsistente erkenntnistheoretische Grundlage und betont dabei nachdrücklich die Relevanz der phänomenologischen Idee des Leibes (bzw. der Body-Minds, wie Dewey sie genannt hat) für das Denken über Raum. Auf dieser Basis erteilt der Pragmatismus gleichzeitig substanzialistischen und apriorischen wie auch rein semantisch gedachten Raumkonzepten eine Absage: Auf der einen Seite geht ja auch das, was wir die physisch-materielle Welt nennen, auf eine relationale Erfahrung mit einer leiblichen, emotionalen und sinnverfassten Ebene zurück; auf der anderen Seite impliziert auch jede Kommunikation immer eine materielle, und wie wir aus der Didaktik wissen, auch eine emotionale Seite. Raum ist daher zwar immer auch ein Sinnkonzept, es ist aber genauso unangemessen ihn auf seine Sinndimension zu reduzieren wie auf seine materielle Dimension.225 Ihre Verbindung finden beide in der Leibzentrierung menschlicher Erfahrungen. Zweitens ist das pragmatische Raumverständnis ein dynamisches. Dabei betont der Pragmatismus, dass anders als es eine konstruktivistische Position nahelegen würde, nicht nur unsere Raumabstraktionen in permanenter Veränderung begriffen sind, sondern sich auch unsere Mitwelten ständig wandeln. Unsere sich ständig verändernde Erfahrung von Raum hängt dabei mit dessen ständigem Wandel eng zusammen, wobei sich keine einfachen kausalen Abhängigkeitsbeziehungen zeichnen lassen. Vielmehr liegt es nahe, die Dynamik und den Wandel unserer Mitwelt und unserer Erfahrung metaphorisch eher als Teil eines großen Fließens zu betrachten, das keine klare Richtung und kein Ziel hat und das von ihm mitgeführte Treibgut durch Wirbel, Soge, Stromschnellen und Wasserfälle immer wieder so durcheinanderwirbelt, dass Ordnungen nur relational und temporär fixierbar sind. Daraus erklärt sich auch, dass drittens Raum immer im Plural zu verstehen ist. Der Pragmatismus erkennt in diesem Sinne an,

225 Diese Überzeugung unterscheidet bspw. den klassischen Pragmatismus Deweys (und den Neopragmatismus Shustermans) von dem Rortys, der ähnlich wie die Diskurs– und Systemtheorie davon ausgeht, dass nichts außerhalb der Sprache liegt (vgl. BARNES 2008a: 1551).

4.4. Räume in pragmatischer Perspektive

253

dass mehrere konkurrierende und sich bewährt habende spezifische und einzigartige Raumkonzepte und -erfahrungen nebeneinander existieren. Er ist insofern offen für die Diversität und Pluralität menschlicher Raumentwürfe, die für Pragmatisten jedoch in letzter Konsequenz immer in einem einzigen holistischen Erfahrungsraum aufgehoben sind. Nach wie vor können deshalb verschiedene Räume je nach Sinnzusammenhang und Forschungsziel analytisch unterschieden werden, diese sind aber immer an die jeweilige Situation und den handlungspraktischen Bezug ihrer Sinn- und Bedeutungszuweisung gebunden. Sie bilden insofern unterschiedliche Raumdimensionen des einen holistischen Erfahrungsraumes. Anstatt eigenständige Entitäten darzustellen, die außerhalb menschlicher Sinnzusammenhänge denkbar wären, ist deren Verwobenheit in jeder forschungspraktischen Tätigkeit mitzudenken. Insofern können wir in pragmatischer Hinsicht zwar sowohl von sozialen wie physisch-materiellen Räumen und (Um- oder Mit-) Welten reden, diese Ausdrücke beschreiben jedoch keine unterschiedlichen ontologischen Gegenstände, sondern lediglich unterschiedliche Sinnzusammenhänge der Art wie Menschen ihre Mitwelt erleben, sinnhaft strukturieren und ordnen. In dieser Perspektive lösen sich folglich die in Kapitel 4.1.3. vorgestellten, getrennt gedachten Kategorien von Raum in einer individuellen Totalität unserer Erfahrungsräume auf. Mit diesem Raumkonzept ist es folglich möglich, die dualistische Trennung zwischen Materie und Sinn und damit zwischen Physischer und Humangeographie zu überwinden und als Scheinproblem der cartesianischen Trennung unserer Wissenschaftswelt beiseitezulegen. Was Physische und Humangeographen trennt sind insofern weniger ontologisch unterschiedliche Gegenstände oder Räume, auf die sie sich beziehen. Was uns trennt, ist eine unterschiedliche Perspektive auf die Welt und wie wir mit ihr transagieren. Ein pragmatisches Verständnis von Raum macht es in diesem Sinne möglich, uns der Konsequenzen unserer bisherigen Raumentwürfe bewusst zu werden und deutet darauf hin, dass die Verantwortung für die Trennung der Disziplin bei uns liegt und sich nicht mit äußeren erkenntnisoder wissenschaftstheoretischen Widerständen rechtfertigen lässt.

5. FAZIT – PRAGMATISCHE WEGE ZU EINER GEOGRAPHIE DER MITWELT Ziel dieses Buches war es, einen Beitrag zur Überwindung des Schnittstellenproblems in der Geographie und zur Entwicklung einer integrativen und transdisziplinären Perspektive auf Mensch-Umwelt-Beziehungen und ihre Raumkonzepte zu leisten. Hierbei bin ich von der These ausgegangen, dass sich der tiefe Graben zwischen Physischen und Humangeographen sowie zwischen Natur- und Geistesbzw. Sozialwissenschaftlern nicht nur durch unterschiedliche Fragestellungen und Methodiken erklären lässt, sondern auch und vor allem in unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Zugängen zur Welt wurzelt. Wie sich gezeigt hat, verweist die diesbezügliche ideengeschichtliche Ursachenforschung bis weit in die Antike zurück. Im Versuch sicheres Wissen über die Welt zu gewinnen, bildet sich in der europäischen Philosophie eine die Denkgewohnheiten bis heute strukturierende zutiefst dualistische Erkenntnisperspektive heraus. Sie mündet in zwei grundverschiedene Positionen, die Erkenntnis entweder von der Seite der Vernunft oder von der Seite der Erfahrung aus suchen. Aus ihnen bilden sich die Ontologien und Epistemologien von Idealismus und Rationalismus einerseits (aus denen später die meisten konstruktivistischen Theorien entstehen) sowie Realismus und Empirismus andererseits. Mit ihnen verbunden ist eine metaphysische Verdoppelung der Welt, die zwischen einer „wirklichen“, menschenunabhängig existierenden und einer Welt der Wahrnehmungen und Ideen ontologisch unterscheidet. Verbunden werden beide über die Idee einer Abbild- bzw. Korrespondenztheorie der Wahrheit. Der in der Antike angelegte Streit über den richtigen Weg und die grundsätzliche Erkennbarkeit der Welt erhält im Zuge der beginnenden Aufklärung neue Brisanz: Die dualistischen Perspektiven auf die Welt verfestigen, modernisieren und weiten sich aus und schreiben sich endgültig im europäischen Bewusstsein fest. Gleichzeitig geraten die dualistischen Erkenntnisperspektiven zunehmend unter Druck, weil sich, wie insbesondere Descartes, Berkeley und Hume nachweisen, eine Korrespondenz unserer Wahrnehmung mit der Welt weder auf rationalistischem noch auf empirischem Weg eindeutig belegen lässt und daher sicheres Wissen mit Hilfe dualistischer Epistemologien nicht erreichbar ist. Die Konsequenz der Verdoppelung der Welt ist es zudem, dass der Mensch als erkennendes Subjekt von seinem Erkenntnisgegenstand gedanklich getrennt wird, was es wiederum ermöglicht, die Natur als das Nichtmenschliche zu verstehen, sie zu entseelen und zu versachlichen. Die Trennung von Natur und Geist erlaubt es einerseits, die Natur mathematisch und mechanistisch zu vermessen, zu berechnen und zu modellieren und so das Fundament für die modernen nach universellen Gesetzmäßigkeiten suchenden Naturwissenschaften zu legen, trennt jedoch andererseits Mensch und Welt so radikal, dass erst durch diese Trennung der

5. Fazit – Pragmatische Wege zu einer Geographie der Mitwelt

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Gegenstand der Schnittstellenforschung in der Geographie entsteht, die ja gerade danach fragt, wie Mensch und Umwelt (bzw. Geist und Welt, Subjekt und Objekt, Sinn und Materie, Kultur und Natur, Intellekt und Gefühl, Denken und Tun, usw.) zusammengedacht werden können. Während die dualistischen Erkenntnistheorien durch den modernen Skeptizismus unter immer fundamentaleren Rechtfertigungszwang geraten, etabliert sich ausgehend von Newton und Locke gleichzeitig eine Gegenbewegung, die versucht, den erkenntnistheoretischen Kern der dualistischen Ontologien mit Blick auf die Abbild- und Korrespondenztheorie zu modernisieren und damit zu retten. Parallel zu diesen erkenntnistheoretischen Debatten verändert sich auch die Auffassung von Umwelt und Raum. Aristoteles entwirft erstmals das Konzept eines absoluten und substanzialistischen Raumes, der grundlegend für die spätere Entwicklung der Naturwissenschaften im Allgemeinen und für geodeterministische und raumwissenschaftliche Ansätze in der Geographie im Besonderen wird. Descartes operiert mit einem substanzialistischen, absoluten Container-Raum. Newton adaptiert das absolute Raumkonzept von Descartes, ergänzt es um den Entwurf eines Distanz-Relationen-Raumes und schreibt dem absoluten Raum in seiner Mechanik eine determinierende und insofern erklärende Wirkung zu. Newton wird damit zum Urvater der Raumwissenschaft und der Raumwirtschaftstheorie. Berkeley und Hume zeigen nicht nur, dass sich Lockes und Newtons realistische Ontologie erkenntnistheoretisch nicht halten lässt, sondern stellen erstmals die Beobachterabhängigkeit menschlicher Erkenntnis heraus. Berkeley entlarvt darauf aufbauend die innerweltliche Verdoppelung der Welt Lockes und den Glauben Newtons an eine absolute Realität, Außenwelt, Wahrheit und den absoluten Raum als reine Metaphysik. Er vertritt in der Folge als Erster auch eine entschieden relationale und relativistische Perspektive auf Raum und entzieht so bereits rund 250 Jahre vor deren Entstehung allen Spielarten der geographischempirischen Raumwissenschaft ihre erkenntnistheoretische Legitimation. Hume demonstriert schließlich, bis heute unwiderlegt, dass das Ziel aller dualistisch geprägten Erkenntnistheorien, absolut wahres Wissen über die Welt zu gewinnen, nicht erreichbar ist. Raum ist in der Konsequenz für Hume weder absolut noch ein der Wahrnehmung vorausgehendes Apriori, wie bspw. später Kant vorschlagen wird, sondern muss als Anschauungs- und Ordnungsweise des wahrnehmenden Menschen konzipiert werden. Hume schlussfolgert daraus, dass ein nicht-metaphysischer Zugang zu Welt nötig ist, der an die Lebenswelt der Menschen anschließt. Er entwickelt hierzu einen alternativen Weg, der später von der pragmatischen Philosophie aufgegriffen wird, zuvor jedoch Rationalisten wie Empiristen zu heftigem Widerstand anregt: Er propagiert die Aufgabe des Anspruches auf absolut sicheres Wissen und damit die Aufgabe eines absoluten Wahrheitsanspruches. Die Verabschiedung der mit diesen Konzepten verbundenen Abbildtheorie erscheint ihm zudem vernünftig, da es für sie erstens keine empirische Evidenz gibt und weil sie zweitens durch ihre dogmatische Anwendung eine enorm große Hürde für neue Erkenntnisse darstellt. Stattdessen tritt Hume als Erster für einen anthropozentrischen, nicht-metaphysischen und kontextgebundenen Relativismus von Wahrheitsansprüchen ein, der sich an der praktischen Lebenswelt der Men-

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5. Fazit – Pragmatische Wege zu einer Geographie der Mitwelt

schen anschließt. Für ihn rückt ein pragmatischer Wissensbegriff in den Vordergrund, dementsprechend unsere Wissensbestände nicht absolut wahr sein müssen, um für uns in bestimmten Kontexten nützlich zu sein und ihren Zweck zu erfüllen. Erst auf einer solchen Basis lassen sich die skeptischen Probleme auflösen. Erkenntnis wird dann jedoch vom Einblick in das göttliche Wissen zum kontingenten, aber keineswegs beliebigen Produkt des handelnden Menschen, der damit seine Lebenswelt ordnet und strukturiert, seine eigenen Geographien macht, anstatt sie zu entdecken. Dadurch muss sich auch das Verständnis von Umwelt ändern, die sich vor dem Hintergrund Humes nicht mehr sinnvoll als absolut existierende Außenwelt oder Natur begreifen lässt. Außenwelt und Natur müssen vielmehr als Chiffren für subjektrelationale Umwelten verstanden werden. Diese bis heute unwiderlegten Schlussfolgerungen Humes stoßen auf erhebliche Vorbehalte und Abwehr, widersprechen sie doch dem realistisch geprägten Common Sense. Vor allem naturwissenschaftlich und empirisch arbeitende Realisten machen sich auf die Suche nach einer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, mit der sie der skeptischen Herausforderung Humes entgegentreten konnten. Es ist schließlich vor allem die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie Poppers, die scheinbar einen Ausweg aus den theorieimmanenten Problemen der unterschiedlichen Spielarten realistischer Ontologien präsentiert. Sein Kritischer Rationalismus gibt die Idee der Erreichbarkeit sicherer Erkenntnis auf, hält jedoch an der Idee der absoluten Wahrheit als regulativer Idee fest und behauptet, dass sich der Mensch der absoluten Wahrheit in einem stetigen Verbesserungsprozess seiner Erkenntnis objektiv immer mehr annähern kann. Die dieser Auffassung zugrunde liegenden korrespondenztheoretischen Annahmen rechtfertigt Popper mit seiner Drei-Welten-Lehre, die sich an die Ontologie Platons anlehnt und die Existenz einer Physisch-Materiellen-, einer Wahrnehmungs- und einer Welt der Ideen postuliert. Aus der Verdoppelung der Welt in den klassisch dualistischen Erkenntnistheorien wird so eine Verdreifachung der in Rede stehenden Raumkonzepte. Wie sich zeigt, scheitert Poppers Lehre jedoch u. a. an der mangelnden Rechtfertigbarkeit seiner korrespondenztheoretischen Begründung der Wahrheit. Sein Ziel einer objektiven Erkenntnis ist für Menschen nicht erreichbar. Seine Ontologie ist genauso angreifbar wie alle anderen dualistisch strukturierten, abbildoder korrespondenztheoretischen, realistischen Erkenntnistheorien vor ihm. Poppers Vorschlag für eine neue Wissenschaftstheorie und ein kumulatives Erkenntnismodell ist daher nicht geeignet, die skeptische Herausforderung zu bestehen. Mit Rekurs auf Popper sind die Subjekt-Objekt- und Geist-Materie-Dualismen der antiken Philosophie nicht zu halten. Die auf Popper aufbauenden geographischen Paradigmen, wie die Raumwissenschaft und die Raumwirtschaftslehre, aber auch das Raummodell seiner Drei-Welten-Theorie, das in der Geographie weite Verbreitung gefunden hat, sehen sich mit dem begründeten Vorwurf der Metaphysik, des Dogmatismus, der logischen Inkonsistenz, der methodologischen Fragwürdigkeit und damit letztlich einer substanziellen Infragestellung ihres Wahrheitskonzeptes und ihrer eigenen Maßstäbe von Wissenschaftlichkeit konfrontiert. Obwohl diese Einwände schwer wiegen, tun sie erstaunlicherweise dem bis heute erheblichen Einfluss von Poppers Wissenschaftstheorie in der naturwissenschaft-

5. Fazit – Pragmatische Wege zu einer Geographie der Mitwelt

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lich geprägten Geographie und Mensch-Umwelt-Forschung genauso wenig Abbruch, wie der Wirkung seines Raummodells. Dies ist umso erstaunlicher, als seine dualistische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ein wesentliches Problem für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung nicht nur ungelöst lässt, sondern es sogar noch verschärft: Die mangelhafte Rechtfertigung der Korrespondenztheorie und sein problematisches Drei-Welten-Konzept bieten nämlich nicht nur für die Frage, wie es möglich ist zwischen Materie und Sinn zu vermitteln keine befriedigende Antwort, sondern schreiben deren Separierung in der Wissenschaftstheorie sogar dogmatisch weiter fest. Poppers Lehre ist daher trotz ihres Erfolges nicht geeignet, um die wesentlichen epistemologischen Probleme der Geographie und der Mensch-Umwelt-Forschung zu lösen. Aus ihrer Perspektive ist eine wirklich transdisziplinäre, geographische Mensch-Umwelt-Forschung schlicht und ergreifend nicht erreichbar. Diese Diagnose ist ebenso gültig für die sich in den letzten 25 Jahren verstärkt in der Humangeographie etablierenden konstruktivistischen Positionen, die als eine Art modernisiertes, idealistisches Spiegelbild zu realistischen Perspektiven das Problem von der anderen Seite des Grabens aus angehen. Letztendlich geraten viele konstruktivistische Ansätze in Descartes Solipsismusfalle und trennen die Verbindung von Ratio und Umwelt vollständig auf. Sie sind daher ebenfalls weder in der Lage einen substanziellen Beitrag zur Überwindung des Schnittstellenproblems in der Geographie und der Mensch-Umwelt-Forschung beizusteuern noch tragen sie dazu bei, die etablierten dualistischen Perspektiven auf die Welt und unsere Erkenntnismöglichkeit zu überwinden. Ihre Raumkonzepte konzentrieren sich dementsprechend fast ausschließlich auf soziale Räume, die als Sinnkonzept und damit als Ergebnis von Bedeutungszuschreibungen im Rahmen von Kommunikation aufgefasst werden. Ein nichtsprachlich verfasster Zugang zur Umwelt ist aus ihrer Perspektive nicht möglich, was zur nachvollziehbaren Forderung einer Rematerialisierung der Humangeographie geführt hat. Wenn sich jedoch sowohl realistische wie idealistische und konstruktivistische Erkenntnistheorien als ungeeignet herausgestellt haben, um das Schnittstellenproblem in der Geographie zu lösen und einen wirklich transdisziplinären Zugang in der Mensch-Umwelt-Forschung zu entwickeln, muss sich die geographische Mensch-Umwelt-Forschung erkenntnistheoretisch umorientieren. Die vorliegende Arbeit hat sich deshalb in ihrem weiteren Verlauf mit der für sie zentralen Frage beschäftigt, wie sich Mensch-Umwelt-Beziehungen und Raum in nichtdualistischer Weise konzeptionalisieren lassen, hat hierfür den klassischen Pragmatismus vorgeschlagen und im Anschluss danach gefragt, welche Konsequenzen und Potenziale dies für eine transdisziplinäre Mensch-Umwelt-Forschung mit sich bringt. Der Pragmatismus bietet der Geographie und der Mensch-Umwelt-Forschung eine vergleichsweise neue und unerschlossene erkenntnistheoretische Basis, von der aus sich vielfältige theoretische und methodische Anknüpfungspunkte eröffnen. Er verabschiedet sich radikal von den Denkfiguren realistischer und idealistischer Weltbilder und wendet sich ab von dem Ziel, absolut wahre und sichere Erkenntnis über die Welt zu gewinnen. Anstatt Erkenntnis vom Erkenntnisgegen-

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5. Fazit – Pragmatische Wege zu einer Geographie der Mitwelt

stand aus zu denken und ontologische Fragen zu stellen, denkt der Pragmatismus Erkenntnis vom Erkennenden aus und fragt danach, was Menschen unter Tatsachen, Erfahrungen, Wissen, Wahrheit und Wirklichkeit verstehen, wie sie lebenspraktisch zu ihnen gelangen und welche Konsequenzen ihre Überzeugungen mit sich bringen. Es ist dabei insbesondere der Pragmatismus Deweys, der Wahrheit, Theorie und Praxis nicht mehr als etwas Getrenntes, sondern als eine im Erfahrungsprozess vermittelte Einheit auffasst. Zentral für seine Philosophie ist die Entwicklung einer neuen Handlungstheorie, die erklären will, wie Kreativität und Wandel möglich sind. Dazu entwirft der Pragmatismus ein neues Verständnis der Zielorientierung menschlichen Handelns als Problemlösung, mit dem neue Handlungsgrundlagen in zweifelhaft gewordenen Situationen hergestellt werden sollen. Die im Problemlösungsprozess stattfindende abduktive Hypothesenbildung und denotative Veränderung der Gegenstände unserer Erfahrung führen schließlich zu einem neuen Verständnis von Kreativität als situierter Erfindung, das es ermöglicht, Wandel, Innovation und Kreativität als aktiven und intendierten Prozess im Rahmen der permanenten Veränderung unserer Wirklichkeiten zu begreifen, anstatt diese allein als Ergebnis unintendierter Handlungsfolgen oder externer Schocks zu verstehen, wie dies typisch für die etablierten Handlungstheorien ist. Eine empirische Untersuchung der Geographien kreativen Wandels und der Konstitution kreativer Räume muss insofern ihren Fokus hin zur Analyse der abduktiven Bildung von Problemlösungsmöglichkeiten, deren Erprobung und Konsequenzen verschieben und somit einen Beitrag leisten zum Verständnis der dynamischen, reflexiven und performativen Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Umwelt. Wandel wird so zum Normalfall, während Stabilität allenfalls als temporäre Fixierung einer grundsätzlich unsicheren und in permanenter Veränderung begriffenen Wirklichkeit aufgefasst werden kann. In einem solchen Gedankengebäude ergibt es keinen Sinn, das Verhalten von Menschen im Rahmen der Mensch-Umwelt-Forschung simplifizierend nur als „Anpassung“ an natürliche Veränderungen zu denken, wie es bspw. in der oft interaktionistisch argumentierenden Klimawandelforschung der Fall ist. Akzeptiert man nämlich die Idee einer dem Handeln innewohnenden Kreativität, lassen sich (geo-)deterministische oder behavioristische Denkfiguren in Bezug auf menschliche „Anpassungen“ an Umweltveränderungen schlicht nicht mehr logisch aufrechterhalten. Auch der teleologische Impetus der Idee, dass menschliche Reaktionen auf Umweltveränderungen eine Art Versuch darstellen, einen „Normalzustand“ wieder herzustellen, wie dies eine positivistische Perspektive nahelegt, lässt sich so vermeiden. Der menschliche Versuch, Unsicherheiten und Probleme in der Auseinandersetzung mit der Umwelt auszuräumen, wird schließlich auch nicht von vornherein als Versuch betrachtet, menschliches Verhalten zu „verbessern“ und zu „optimieren“, wie eine kritisch-rationalistische und andere realistische Perspektiven suggerieren. Vielmehr muss im Sinne des kreativen Handlungskonzeptes des Pragmatismus die transaktive Bezugnahme von Akteuren auf ihre Umwelt als ein in der Praxis verankerter, situierter und kreativer Lernprozess aufgefasst werden, der wiederum reflexive Wirkungen auf das Ge-

5. Fazit – Pragmatische Wege zu einer Geographie der Mitwelt

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samte hat. Er also ist nicht nur konstitutiv für das menschliche Dasein, sondern ist von dessen In-der-Welt-Sein geprägt und prägt Selbiges wiederum ebenfalls. Entscheidend für diese Denkfigur ist das Konzept der Transaktion und die Idee der Body-Minds, mit denen der klassische Pragmatismus Dewey‘scher Prägung ein holistisches und facettenreiches Bild der Beziehung von Menschen zu ihrer Umwelt zeichnet, das vermeintlich ontologische Brüche zwischen PhysischMateriellem, Kognitivem, Emotionalem und Psychischem als philosophische Scheinprobleme entlarvt und im Konzept der Transaktionen auflöst. Die Idee der Body-Minds bildet dabei – analog zum Leibkonzept der Phänomenologie – als Bedingung der Welterfahrung des handelnden, wahrnehmenden und fühlenden Subjektes den Dreh- und Angelpunkt der Überwindung dualistischer Erkenntniskonzepte; denn dass wir als Menschen Teil dieser Welt sind, erfahren wir letztlich über den Umstand des bewussten leiblichen Prozessierens mit ihr. Der Pragmatismus begreift insofern die Beziehungen von Menschen zu ihrer Umwelt als die eines in der Welt seienden Lebewesens, das mit der Welt über leibliche und kreative Prozesse verbunden ist. Damit wird die cartesianische Trennung von Körper und Geist jedoch obsolet. Die Ideen der Body-Minds und der Transaktion ermöglichen es daher, Mensch und Umwelt als holistische Gesamtheit im Sinne eines ‚organism-in-environment-as-a-whole‘ aufzufassen. Während in der traditionellen Philosophie der Mensch der natürlichen Welt antithetisch gegenübergestellt wird, verortet der Pragmatismus also den Menschen innerhalb der Welt und löst so die ontologische Unterscheidung zwischen Erkenntnisobjekt und -subjekt zwischen Theorie und Praxis, Kultur und Natur sowie Mensch und Umwelt auf. Umwelt kann vor diesem Hintergrund nur sinnvoll als Medium oder Milieu gedacht werden, in dem und durch das wir leben. Sie bildet einen integralen und mit jedem Organismus transaktiv verwobenen Teil seiner Existenz. Das Verhalten und die Aktionen eines Organismus beziehen sich daher immer situativ auf seine konkrete Umwelt. Es ist deshalb nicht möglich, sein Verhalten ohne seine Integration in eine bestimmte Umwelt zu verstehen. Die Umwelt definiert sich dabei permanent neu, da die Abgrenzung zwischen Mensch und Umwelt im Rahmen leiblicher Transaktionen, in denen Menschen bspw. Luft ein- oder ausatmen und sie so entweder zum Teil ihres Organismus machen oder von ihm abscheiden, fluide wird. Zweitens wandelt sich auch das menschliche Verständnis der Mitwelt permanent im Rahmen unserer abduktiven und denotativ geprägten Erfahrungsprozesse. Was als Mitwelt bezeichnet wird, ist daher jederzeit im Wandel begriffen und insofern immer räumlich und zeitlich situiert. Mitwelt und Raum verändern sich daher ständig im Fluss der Transaktion zwischen Mensch und Welt. Mit einer solchen Abkehr von einer substanzialistischen hin zu einer prozessualen Bestimmung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses ist dann aber das gängige Subjekt-Objekt-Denken über Mensch-Umwelt-Beziehungen unangemessen. Der Mensch wird folglich in der Welt dezentriert, in der er mitexistiert. Die Umwelt wird zur Mitwelt, die sich nur relational und relativ bestimmen lässt und sich permanent dynamisch verändert. Eine solche Perspektivverschiebung hat erhebliche ethische Konsequenzen, denn wenn die Sonderstellung des Menschen in der Welt fällt, muss man sich

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5. Fazit – Pragmatische Wege zu einer Geographie der Mitwelt

auch der Frage stellen, ob der Mitwelt nicht ein Eigenwert im Ganzen und nicht nur ein Wert für den Menschen zugebilligt werden muss. Eine Ungleichbehandlung von Teilen der Mitwelt wird dadurch begründungsbedürftig, sie wird zu einer ethisch-normativen Frage. In einem solchen Gedankengebäude muss sich auch das Verständnis von Raum verändern. Der Pragmatismus versteht Raum als Ordnungsweise des erkennenden Subjekts, konzipiert ihn jedoch nicht im Kant’schen Sinne als der Wahrnehmung vorausgehendes Medium. Im Gegensatz zum semantischen und strukturalistisch-diskursanalytischen oder sprachpragmatischen Konzept wird Raum im Pragmatismus nicht als rein semantisches Konstrukt verstanden, sondern als subjektiv im Handlungsvollzug hergestelltes, sozial geprägtes Bedeutungskonzept, das Ergebnis eines sowohl leiblichen wie sinnhaft geprägten, holistischen Erfahrungsprozesses ist. Räume entstehen in diesem Sinne im Rahmen sozio-kulturell geprägter, individueller, praktischer und leiblicher Erfahrungsprozesse. Räume können deshalb weder Apriori gegeben sein noch den Ausgangspunkt geographischer Forschung bilden. Raum ist daher im Pragmatismus vielmehr grundsätzlich kontingent, anpassungsfähig und dynamisch zu verstehen und weist einen final holistischen, nicht-metaphysischen, pluralen, relativen und nichtdualistischen Charakter auf, der sein Zentrum im leiblichen (Er-)Leben des Raumes findet. Da unsere Raumvorstellungen immer Konsequenzen implizieren, gilt es aus Perspektive des Pragmatismus nicht nur Räume zu dekonstruieren, sondern sie auch in ihren Veränderungen und Wirkungen zu deuten und zu erklären. Zu untersuchen ist dann, welche Konzepte von Raum und Um- oder Mitwelt welche performativen und reflexiven Konsequenzen für die alltägliche, praktische Gestaltung unserer Lebenswelten und die geographische Forschung mit sich bringen. Dewey & Bentley dynamisieren und temporalisieren also mit ihren Konzepten der Body-Minds und der Transaktion unsere Vorstellungen dessen, was wir als Organismen, Mitwelt und Raum konzipieren und führen uns vor Augen, dass auch die Dinge, die wir gewöhnlich als statische Einheiten erachten, lediglich zeitlich und räumlich ausgedehnte Ereignisse sind, die sich gegenseitig durchdringen und permanent zu ihrer gegenseitigen Veränderung beitragen. Die Dinge der Welt sind folglich nicht mehr klar ontologisch voneinander unterscheidbar, sondern lassen sich lediglich als analytisch isolierte Elemente in einem transaktiven Prozess permanenten Wandels konzeptionalisieren. Die Mitwelt kann demnach als die Summe der Situationen, Ereignisse, Aktivitäten und Objekte verstanden werden, die mit einem Organismus transaktiv verbunden sind. Sie vereint in ihrer holistischen Anlage Physisch-Materielles mit Sozio-Politischem und Kulturellem und ist dasjenige, auf das sich alle Arten praktischer (inklusive kognitiver und emotionaler) Forschungsprozesse mit ihren physischen und physiologischen Implikationen ausrichtet. Eine solche Philosophie der Mensch-Mitwelt-Beziehungen ist historisch gesehen durchaus als revolutionär zu bezeichnen und steht den Arbeiten Darwins oder Wegeners in nichts nach, denn mit ihr baut die Naturphilosophie erstmals nicht auf dem Gedanken der Existenz von Substanzen auf, sondern wendet sich

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hin zu einer historisierenden, prozessualen, die Integriertheit der Welt betonenden Perspektive. Die Welt in dieser Art als Ereignis zu betrachten zieht erhebliche wissenschaftstheoretische und methodologische Konsequenzen nach sich, da dann auch Wissen- und Wahrheit nicht länger statisch und objektivistisch gedacht werden können. Stattdessen werden beide im Pragmatismus relational, kontextabhängig, veränderlich und insofern kontingent und relativ gedacht. Wissen und Wahrheit entstehen im Laufe lebenspraktischer Forschungsprozesse, die den Erkenntnisgegenstand verändern und formen. Erkenntnisse werden in diesem Sinn dann für wahr gehalten, wenn sie sich in ihrem Herstellungsprozess bewähren und in die bestehenden Erfahrungen und Weltbilder einfügen lassen. Vor diesem prozessualen und dynamischen Hintergrund lässt sich die ontologische Begründung der Ideen von (mehr oder weniger stabilen) Gleichgewichtssystemen und teleologischen Entwicklungen sowie des mit ihnen verbundenen nomothetischen Wissenschaftskonzeptes nicht mehr halten, denn wenn man sich von der Idee objektiver, absoluter Wahrheiten abwendet, ist empirische Wissenschaft nicht länger geeignet, um Theorien zu verifizieren oder zu falsifizieren, sondern produziert lediglich im Verlauf des Forschungsprozesses methodisch geregelt ein spezifisches Erfahrungswissen durch die Schaffung von Tatsachen und Wahrheiten – die immer nur in ihrem jeweiligen (experimentellen) Entstehungsprozess und -kontext Gültigkeit beanspruchen können. Nomothetische Ansätze verlieren vor diesem Hintergrund keineswegs ihre analytische Berechtigung, wohl aber muss man sich ihrer Grenzen stets gegenwärtig sein und sich hüten, die aus ihnen abgeleiteten Modelle und Theorien über die Welt zu hypostasieren. Satt nach absoluten Gesetzmäßigkeiten in der Welt zu suchen, sollte man sich vielmehr wieder verstärkt in wissenschaftlicher Arbeit der Idee kontinuierlicher und grundsätzlich unvorhersehbarer Veränderungen in einem komplexen Ganzen zuwenden, die logischerweise zur Beschäftigung mit raumzeitlichen Besonderheiten und individuellen Konfigurationen von Ereignissen Anlass gibt. Eine transaktive Perspektive regt deshalb zu einer Stärkung idiosynkratischer Ansätze in der geographischen Forschung an. Ein Nebeneinander beider Ansätze muss dabei aus Sicht des Pragmatismus jedoch sogar begrüßt werden, denn wenn absolutes und objektiv gültiges Wissen für Menschen nicht erreichbar ist, ist eine wissenschaftstheoretische Einheitsperspektive, die ja eine alleinige und in diesem Sinne absolute Geltung beanspruchen könnte, ebenfalls nicht haltbar. Die klassischen Pragmatisten befürworten deshalb einen – wie Bernstein es nennen würde – engagierten Methodenpluralismus, der grundsätzlich jeder methodischen Annäherung an die Welt offen gegenübersteht, die der Komplexität und Historizität unserer Forschungsprozesse und -gegenstände gerecht zu werden versucht und die sich für die Konflikte zwischen unterschiedlichen Perspektiven interessiert, ihre jeweiligen Foki, blinden Flecken und Konsequenzen beleuchtet und sie anhand der jeweils kontextuell gebundenen Erfahrung testet. Der Pragmatismus steht daher einer Methodentriangulation im Sinne eines undogmatischen und engagierten methodischen Pluralismus wissenschaftlicher Methoden deshalb nicht nur offen gegenüber, sondern er fordert sie geradezu heraus. In seinem Sinne muss man sich

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daher für ein entschiedenes „sowohl-als-auch“ quantitativer wie qualitativer Methoden aussprechen. Die Vielfalt existierender Perspektiven ist für den Pragmatismus auch kein Defizit (wie die Kritik an relativistischen Positionen suggeriert), sondern stellt vielmehr eine seiner wesentlichen Stärken dar, denn es ist in letzter Konsequenz gerade die Vielfalt an Wahrheitsansprüchen, die immer wieder neue Fragen provoziert und kreative Problemlösungen anregt. Der Pragmatismus propagiert insofern eine agnostische, nichtfundamentalistische und relativistische Erkenntnistheorie, die die Kontingenz, den dynamischen Wandel sowie die Performativität und Reflexivität der Entwicklung unserer Welten besonders hervorhebt. Dabei sensibilisiert er für die Relativität des eigenen Standpunktes und die Pluralität unterschiedlichster Perspektiven und stellt der uns vertrauten eher statischen, objektivistischen und dualistischen Aufspaltung der Welt im Positivismus, Realismus, Idealismus und Konstruktivismus eine dynamische, prozessorientierte, transaktive und holistische Alternative entgegen. Zusammengefasst weist das Raum- und Mitweltkonzept des Pragmatismus für die Geographie und die Mensch-Umwelt-Forschung vor allem vier Vorteile auf: Erstens überwindet es die dualistische Spaltung und Verdoppelung (bzw. Verdreifachung) der Welt durch eine radikale Leib- und Praxisorientierung, in der die leibliche, emotionale und rationale Erfahrungswelt in eine holistische Einheit integriert werden. Damit erteilt der Pragmatismus sowohl substanzialistischen und apriorischen wie auch rein semantisch gedachten Raumkonzepten eine Absage. Für ihn ist es deshalb genauso sinnlos, die Dinge der Welt an sich erfassen zu wollen (wie dies Realisten möchten), wie die menschliche Lebenswelt zu entwirklichen und so zu behandeln als gäbe es nichts außerhalb von Texten (wie dies intellektualistisch übersteigerte konstruktivistische Positionen gelegentlich vertreten). Einseitigen Naturalisierungen, Reduktionismen und Determinismen setzt er deshalb genauso wie einer solipsistischen Isolation des Menschen das Menschenbild eines in der Welt seienden, kreativen und innovativen Lebewesens entgegen, das sich die Welt im Rahmen seiner Erfahrung transaktionistisch einverleibt. Dabei nimmt der Pragmatismus die Menschen mit ihren Wirklichkeiten und Wahrheiten ernst, ohne die Absolutheit ihrer Wahrheitsansprüche zu akzeptieren. Raum lässt sich dann zwar nach wie vor als Sinnkonzept denken, es ist aber genauso unangemessen ihn auf diese wie auf seine materielle Dimension zu reduzieren. Der Pragmatismus regt insofern dazu an, unsere Ausgesetztheit der Welt gegenüber ernst zu nehmen, einzugestehen, dass wir die Welt nicht nur interpretieren und die Welt ebenso auf uns wirkt wie wir auf sie, ohne in eine naiv positivistische oder realistische Position zurückzufallen. Die diesbezügliche pragmatische Vermittlungsleistung ermöglicht es, metawissenschaftliche und methodische Inkonsistenzen etablierter Konzepte auf der Basis der klassischen erkenntnistheoretischen Philosophie zu vermeiden, die in der Vergangenheit zu erheblichen „Verrenkungen“ in der Theoriebildung und Forschungspraxis geführt haben. Die Geographie liefert hier immer wieder anschauliche Beispiele dafür, wie „kreative“ Kombinationen erkenntnistheoretisch inkommensurabler Konzepte entwickelt wurden, um sinnvolle Theoriebildung mit intuitiver Welterfahrung zu verbinden. Der Pragmatismus nimmt solche Versuche nicht nur ernst, sondern unterbreitet ihnen ein

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durchargumentiertes Angebot, mit dem es möglich ist, einem unreflektierten Theorie-Eklektizismus zu entgehen und die innere, konzeptionelle Widerspruchsfreiheit geographischer (Mensch-Umwelt-) Forschung zu verbessern. Zweitens dynamisiert der Pragmatismus unsere Vorstellungen von Raum und Mitwelt, die für ihn in permanenter Veränderung begriffen sind. Ordnungen sind in ihnen nur relational und temporär fixierbar. Im Gegensatz zu den eher statischen dualistischen Ansätzen ist eine pragmatische Perspektive sowohl hinsichtlich ihrer Erkenntnistheorie wie ihres Forschungsdesigns und ihres Untersuchungsgegenstandes prozessorientiert und rückt deshalb Wandel in das Zentrum ihrer Betrachtungen. Sie eignet sich deshalb vor allem für Fragestellungen, die nicht nur strukturanalysierend oder deskriptiv vorgehen wollen, sondern stattdessen auf die Entwicklung eines Verständnisses prozessualer Veränderung und des Wandels unserer Mitwelten und menschlicher Handlungsstrukturen abzielen. Daraus erklärt sich auch, dass Raum und Mitwelt drittens immer im Plural zu verstehen sind. Der Pragmatismus erkennt in diesem Sinne an, dass mehrere konkurrierende und sich bewährt habende spezifische und einzigartige Raumkonzepte und -erfahrungen nebeneinander existieren. Er ist insofern offen für die Diversität und Pluralität menschlicher Mitwelten und Räume. Es ist deshalb nach wie vor möglich, in der Geographie und der Mensch-Mitwelt-Forschung verschiedene Räume je nach Sinnzusammenhang und Forschungsziel analytisch zu unterscheiden und zu untersuchen, solange deren holistische Verwobenheit in jeder forschungspraktischen Tätigkeit mitgedacht wird. Eine pragmatische Perspektive ist daher sowohl anschlussfähig an sozial- und kulturwissenschaftliche wie auch semiotische Theorien als auch an die Physische Geographie. Die Wahl einer pragmatischen Perspektive ermöglicht es dabei, den Menschen sowohl als Konstrukteur seiner Lebenswelt aufzufassen, wie auch Mensch und Mitwelt durch die transaktionistische Überwindung der dualistischen Trennung von Geist und Materie, Kultur und Natur zusammenzudenken. Hierdurch ergeben sich neue Anknüpfungspunkte für die Schnittstellenforschung zwischen Physischer und Humangeographie. Das erkenntnistheoretische Problem der Schnittstellenforschung, die Frage nach der Einheit der Geographie und nach der grundsätzlichen Möglichkeit transdisziplinärer Forschung kann damit viertens als Scheinproblem beiseitegelegt werden. Seine Lösung erfordert nicht mehr als ein neues Selbstverständnis des Menschen und eine Neudefinition seines In-der-Welt-Seins. Denn die Unterschiede zwischen den beiden großen Teildisziplinen der Geographie lassen sich – nimmt man den Pragmatismus ernst – kaum mehr sinnvoll und widerspruchsfrei durch eine ontologische Differenz ihrer Gegenstände begründen. Wenn der Graben zwischen den beiden großen Teildisziplinen der Geographie in pragmatischer Perspektive aber keiner sein muss, dann eröffnet die so neu gedachte Disziplinlandschaft auch neue Möglichkeiten für einen Dialog zwischen Physischer und Humangeographie, der beiden Disziplinen ihre unterschiedlichen Forschungsstile belässt, sie miteinander konfrontiert und der Apriori weder physisch- noch humangeographisch definiert ist. Der Pragmatismus verdeutlicht insofern, dass das, was Wissenschaftler trennen mag, in unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt

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und wie Menschen mit ihr transagieren, begründet ist. Ein pragmatisches Verständnis von Raum und Mitwelt ruft uns daher ins Bewusstsein, dass die Verantwortung für die Spaltung der Geographie und die Schwierigkeiten in der Entwicklung transdisziplinärer Perspektiven bei den jeweiligen Wissenschaftlern liegt und sich nicht mit äußeren erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Widerständen rechtfertigen lässt. Das pragmatische Konzept der Transaktion erscheint insofern eine ideale und bisher kaum erschlossene Grundlage für eine transdisziplinäre, geographische Mensch-Mitwelt-Forschung zu bieten, die ihren Gegenstand nicht ontologisch in zwei Teile zerreißt, um hinterher um seine Integration zu kreisen. Der Pragmatismus weist auf eine fruchtbare Einheit geographischer Forschung hin, ohne die Sinnhaftigkeit separater Bearbeitungsstrategien für zu untersuchende Teilprobleme in einem unreflektierten ontologischen Monismus aufzulösen. Eine transaktionistische Mensch-Mitwelt-Forschung wird damit zu einer Wissenschaft, die das menschliche Erleben des In-der-Welt-Seins zu ihrem Gegenstand macht und die sowohl zu sozialwissenschaftlich wie auch ökologischen Perspektiven und Terminologien offen ist. Macht man sich ihren Standpunkt zu eigen, wird aus einer zweigeteilten Disziplin mit einer dritten Säule als Brücke eine holistisch verstandene Geographie der Mitwelt, die sich zwar nach wie vor für unterschiedliche, eher sozial- oder naturwissenschaftliche Problemstellungen interessieren mag – aber nicht vergisst, dass diese in einen größeren Ereigniskontext eingebettet sind. Der handlungsorientierte, klassische Pragmatismus Dewey‘scher Prägung entwirft so insgesamt ein holistisches und facettenreiches Bild der relationalen, relativen und dynamisch sich wandelnden Beziehung von Menschen zu ihrer Mitwelt, das mit vertrauten Denkschemata bricht und im Sinne HARDs (2003a: 13) neue Perspektiven eröffnet, Dinge anders zu sehen. Die Konsequenzen einer pragmatisch-transaktionistischen Perspektive berühren daher eher die Denkweisen, Forschungsperspektiven, Fragestellungen, Methodologien und das Selbstverständnis der Geographie, als dass sie sich in ein spezifisches Theoriegebäude oder eine bestimmte Methodik übersetzen ließen. Es wäre daher inadäquat zu erwarten, dass man den Pragmatismus einfach als neue „Erklärungsmaschine“ in die Geographie importieren könnte und heraus käme dann die Pragmatische Geographie (BARNES 2008: 1551). Anknüpfungspunkte an bereits etablierte Perspektiven und Theorien der geographischen Mensch-Umwelt-Forschung bieten sich vom Pragmatismus ausgehend jedoch wie diskutiert mannigfaltig. Um ihn in der Theorieentwicklung und empirischen Arbeit weiterhin fruchtbar zu machen, gilt es deshalb jeweils zu prüfen, welche Konsequenzen eine pragmatische Lesart für bestehende Gedankengebäude und Theorien, wie die Humanökologie, die Phänomenologie, die ANT oder die NRT mit sich bringen würde. Wenn ich also vorschlage, einige der geschilderten Theorien auf eine pragmatische Basis zu stellen, möchte ich keineswegs einer unkritischen und eklektischen Verschmelzung von Theorien das Wort reden. Es geht darum zu erproben, welche erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Probleme bestehender Theoriegebäude auf diesem Weg gelöst werden können und welche neuen und ggf. fruchtbaren Perspektiven dies in der spezifischen Untersu-

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chung konkreter Fälle eröffnet. Eine pragmatische Geographie in Anlehnung an Dewey muss sich dabei ihrer jeweiligen Stärken, Schwächen und Grenzen immer bewusst bleiben und ihre Offenheit bewahren, sich durch die Konfrontation mit anderen theoretischen Perspektiven und Ideen selbst weiterzuentwickeln. Auch wenn der Pragmatismus insofern nicht letzte Antworten liefern kann (und will) und eine unbequeme Meta-Perspektive darstellen mag, deren Konsequenzen jeweils im konkreten Fall herausgearbeitet werden müssen, so hat er doch auch entschiedene Vorteile. Da er sich nicht rigide auf eine einzige Perspektive und einen theoretischen Ansatz verengen lässt, ist andererseits die Spannbreite möglicher Themenfelder einer transaktionistischen und holistischen MenschMitwelt-Forschung breit gefächert (Abbildung 9).

Abbildung 9: Perspektive und mögliche Themenfelder einer transaktionistischen Mensch-Mitwelt-Forschung Quelle: eigene Darstellung

Forschungsarbeiten könnten sowohl an den sozio-materiellen, den leiblichen, den individuellen oder gesellschaftlichen Dimensionen unserer Mitwelt-Erfahrungen ansetzen, wobei diese final immer als miteinander untrennbar verwoben und als durch permanenten Wandel und Unsicherheit gekennzeichnet zu betrachten sind. Die in sozio-materiellen Umwelten eingebettete Praxis von Individuen299 mit ihren leiblichen, kognitiven und emotional erlebten sowie sozial kommunizierten Erfahrungsräumen bildet dabei einen der Hauptansatzpunkte, um ein Verständnis von Mensch-Mitwelt-Beziehungen zu entwickeln. Die sich aus individueller Pra299 Hierbei sei nochmals explizit auf den erweiterten Praxisbegriff des Pragmatismus hingewiesen, der sowohl tätliche, wie auch sprachliche und gedankliche Akte umfasst. Aus der Perspektive des klassischen Pragmatismus ist es also durchaus möglich, auf der Basis von Handlungs- und Praxistheorien zu arbeiten, wie auch semiotische Ansätze zu verfolgen, solange man sprachliche Systeme nicht hypostasiert und sie von der Lebens– und Erfahrungswelt ontologisch abtrennt.

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xis herausbildenden sozialen und normativen Strukturen und die politische Ökonomie der Gesellschaft beeinflussen dann wiederum reflexiv, wie sich MenschMitwelt-Verhältnisse konkret ausgestalten. Aus meiner ganz persönlichen Lesart des handlungsorientierten Pragmatismus bietet es sich an, einige, potenziell fruchtbare Themenfelder einer pragmatischen Mensch-Mitwelt-Forschung besonders hervorzuheben. In Anbetracht der Tatsache, dass der Erfahrungsbegriff für Dewey eine zentrale Rolle spielt, drängt es sich bspw. auf, dem erlebten Raum als Forschungsgegenstand mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als dies bislang in der geographischen Forschung geschehen ist. Bedingt durch die grundsätzliche Unsicherheit und den permanenten Wandel unserer Mitwelten rücken sicherlich auch Risiken, Krisen, Verwundbarkeiten und die Frage nach der Nachhaltigkeit unserer gesellschaftlichen Naturverhältnisse verstärkt in den Blick. Welchen Beitrag zu den dabei identifizierten Problementstehungen und -lösungen gesellschaftliche Normen, Machtbeziehungen und gesellschaftliche Institutionen liefern, ist dabei aus Sicht des Pragmatismus nicht nur eine Frage praktischer Konsequenzen, sondern auch des in ihm angelegten ethisch-politischen Zukunftsbezugs. Welche kreativen Lösungen Menschen für die sich ihnen vor diesem Hintergrund stellenden multidimensionalen Probleme finden, welche Lernprozesse sie durchlaufen und welche Innovationen dabei geschaffen werden, ist schließlich nicht nur eine der zentralsten Fragestellungen des Pragmatismus, sondern muss zweifellos angesichts der sich verschärfenden globalen ökologischen Probleme auch einen der Hauptfoki einer transaktionistischen Mensch-Mitwelt-Forschung darstellen. Das Ermutigende am Pragmatismus ist dabei jedoch, dass er nicht zu Resignation und Defätismus im Angesicht der globalen Probleme anstiftet, sondern mit einer positiven Grundhaltung der menschlichen Kreativität entgegentritt, die sich diesen Problemen widmet, ohne deshalb alles rosarot zu malen. Nun erlaube ich mir keine Illusionen darüber, dass ich alle Leser mit meinen Ausführungen restlos überzeugt habe. Zweifel und offene Fragen bleiben sicherlich und dies ist im Sinne des Pragmatismus auch gut so, denn es sind ja gerade die Zweifelhaftigkeiten, die neue Forschungsprozesse befeuern und uns anregen nach immer neuen Antworten zu suchen. Wer immer jedoch auf ganz grundsätzlicher Ebene skeptisch geblieben sein mag in Bezug auf die hier präsentierte, praxisorientierte Lösung des Schnittstellenproblems und die von mir vertretene nichtdualistische und agnostische Perspektive des Pragmatismus, mag sich ernsthaft fragen, ob er denn zufrieden ist mit dem Zustand der Geographie, wie er sich heute präsentiert, welche Alternativen sich bieten und welche Konsequenzen ein „Weiter-wie-bisher!“ haben mag; welche Konsequenzen für die Geographie als Disziplin und welche für die Frage nach der Möglichkeit transdisziplinärer Forschungsansätze in der Mensch-Umwelt(sic!)-Forschung es hat, wenn man weiterhin an den gewohnten Epistemologien festhält. Wie vor dem Hintergrund der gewohnten Trennung von Materie und Geist, von Natur- und Sozialwissenschaften Mensch und Umwelt als Einheit gedacht werden können, ohne in krude Geodeterminismen und holistische Landschaftsgeographien zurückzufallen; wie die Einheit von Physischer- und Humangeographie anders gedacht werden sollte, als

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auf der Grundlage einer neuen Erkenntnistheorie, die uns da, wo die bisher in der Geographie etablierten Erkenntnistheorien nur Gräben, ja ganze Canyons aufreißen, ein holistisches Bild unserer Welt zeigt, das nicht nur das Trennende, sondern auch das Ganze immer mitdenkt. Eine Erkenntnistheorie, die uns unsere unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugangsweisen zu unserer Welt lässt, die sich freut, dass wir so viele Möglichkeiten haben, forschend in die Welt vorzudringen. Die uns aber deutlich macht, dass unsere pluralen Forschungsperspektiven nicht durch ontologische Gräben voneinander getrennt sind, sondern nur durch unsere analytischen und forschungspraktischen Entscheidungen. Eine Erkenntnistheorie, die uns deutlich macht, dass es deshalb nicht die eine richtige Perspektive auf die Dinge geben kann und die uns deshalb zur Toleranz anderen Perspektiven gegenüber mahnt, ohne uns einen kruden Relativismus von Werten und Normen aufzuzwingen, dementsprechend wir alle Haltungen und Perspektiven unbesehen ihrer praktischen und damit auch ethischen und moralischen Konsequenzen zu akzeptieren hätten. Und die eine erkenntnistheoretische Perspektive darstellt, die uns die Frage nach den Konsequenzen unserer Forschungsergebnisse und Wahrheiten stellt und uns (im Gegensatz zu der Rede von der werturteilsfreien Wissenschaft) insofern nicht nur auf unsere Verantwortung für unser (auch wissenschaftliches) Tun hinweist, sondern die uns auch unsere Freiheit und Möglichkeit, immer auch anders zu handeln, deutlich macht. Eine Perspektive, die offen ist für neue und kreative Wege mit der Welt zurechtzukommen, die neugierig ist auf neue, verstörende und ungewöhnliche Problemlösungen, die uns nicht in das Korsett eines dogmatisch zu beschreitenden Erkenntnisweges zwängen will und die uns letztlich so deutlich macht, dass eine andere Welt erreichbar ist. Was es benötigt, ist im Grunde nicht mehr als die Bereitschaft, sich von der Vorstellung zu verabschieden, wir könnten die absolute Erkenntnis erreichen oder ihr nahekommen, die Bereitschaft, die Komplexität unserer (Um- oder besser Mit-) Welt und ihre permanente Veränderung anzuerkennen, statt uns auf der angstgetriebenen Suche nach dem ewig Sicheren zu verlieren. Was wäre das für eine Wissenschaftswelt, die als Konsequenz aus all dem gesagten dem gewagten Gedanken offen gegenübertreten könnte, dass wir – egal mit welchen Fachtheorien wir über welche Gegenstände arbeiten – am Ende unseres epistemologischen Weges alle doch auf demselben großen Baum Platz finden könnten? Die Idee einer Dritten Säule der Geographie mit eigenem Problematisierungsstil wäre dann zwar in solch einer wirklich transdisziplinären Perspektive hinfällig, weil sich insgesamt unsere Perspektiven auf uns selbst und unsere Beziehung zur Welt verändern würden. Ich hoffe jedoch, dass eine solche neue Basis es ermöglichen würde, wieder zu einer gemeinsamen Sprache zu finden. Denn wer von uns könnte dann noch sagen, er sei kein Waschbär?

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erdkundliches wissen Schriftenreihe für Forschung und Praxis

Begründet von Emil Meynen. Herausgegeben von Martin Coy, Anton Escher und Thomas Krings.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0425–1741

126. Rainer Vollmar Anaheim – Utopia Americana Vom Weinland zum Walt Disneyland. Eine Stadtbiographie 1998. 289 S. mit 164 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07308-0 127. Detlef Müller-Mahn Fellachendörfer Sozialgeographischer Wandel im ländlichen Ägypten 1999. XVIII, 302 S. mit 59 Abb., 31 Fotos und 6 Farbktn., kt. ISBN 978-3-515-07412-4 128. Klaus Zehner „Enterprise Zones“ in Großbritannien Eine geographische Untersuchung zu Raumstruktur und Raumwirksamkeit eines innovativen Instruments der Wirtschaftsförderungs- und Stadtentwicklungspolitik in der Thatcher-Ära 1999. 256 S. mit 14 Abb., 31 Tab., 14 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-07555-8 129. Peter Lindner Räume und Regeln unternehmerischen Handelns Industrieentwicklung in Palästina aus institutionenorientierter Perspektive 1999. XV, 280 S. mit 33 Abb., 11 Tab. und 1 Kartenbeilage, kt. ISBN 978-3-515-07518-3 130. Peter Meusburger (Hg.) Handlungszentrierte Sozialgeographie Benno Werlens Entwurf in kritischer Diskussion 1999. 269 S., kt. ISBN 978-3-515-07613-5 131. Paul Reuber Raumbezogene Politische Konflikte Geographische Konfliktforschung am Beispiel von Gemeindegebietsreformen 1999. 370 S. mit 54 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07605-0 132. Eckart Ehlers / Hermann Kreutzmann (Hg.)

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High Mountain Pastoralism in Northern Pakistan 2000. 211 S. mit 36 Abb., 20 Fotos, kt. ISBN 978-3-515-07662-3 Josef Birkenhauer Traditionslinien und Denkfiguren Zur Ideengeschichte der sogenannten Klassischen Geographie in Deutschland 2001. 118 S., kt. ISBN 978-3-515-07919-8 Carmella Pfaffenbach Die Transformation des Handelns Erwerbsbiographien in Westpendlergemeinden Südthüringens 2002. XII, 240 S. mit 28 Abb., 12 Fotos, kt. ISBN 978-3-515-08222-8 Peter Meusburger / Thomas Schwan (Hg.) Humanökologie Ansätze zur Überwindung der Natur-Kultur-Dichotomie 2003. IV, 342 S. mit 30 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08377-5 Alexandra Budke / Detlef Kanwischer / Andreas Pott (Hg.) Internetgeographien Beobachtungen zum Verhältnis von Internet, Raum und Gesellschaft 2004. 200 S. mit 28 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08506-9 Britta Klagge Armut in westdeutschen Städten Strukturen und Trends aus stadtteilorientierter Perspektive – eine vergleichende Langzeitstudie der Städte Düsseldorf, Essen, Frankfurt, Hannover und Stuttgart 2005. 310 S. mit 32 s/w- und 16 fbg. Abb., 53 Tab., kt. ISBN 978-3-515-08556-4 Caroline Kramer Zeit für Mobilität Räumliche Disparitäten der individuellen Zeitverwendung für Mobilität in Deutschland 2005. XVII, 445 S. mit 120 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08630-1

139. Frank Meyer Die Städte der vier Kulturen Eine Geographie der Zugehörigkeit und Ausgrenzung am Beispiel von Ceuta und Melilla (Spanien / Nordafrika) 2005. XII, 318 S. mit 6 Abb., 12 Tab., 3 Farbktn., kt. ISBN 978-3-515-08602-8 140. Michael Flitner Lärm an der Grenze Fluglärm und Umweltgerechtigkeit am Beispiel des binationalen Flughafens Basel-Mulhouse 2007. 238 S. mit 8 s/w-Abb. und 4 Farbtaf., kt. ISBN 978-3-515-08485-7 141. Felicitas Hillmann Migration als räumliche Definitionsmacht 2007. 321 S. mit 12 Abb., 18 Tab., 3 s/wund 5 Farbktn., kt. ISBN 978-3-515-08931-9 142. Hellmut Fröhlich Das neue Bild der Stadt Filmische Stadtbilder und alltägliche Raumvorstellungen im Dialog 2007. 389 S. mit 85 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09036-0 143. Jürgen Hartwig Die Vermarktung der Taiga Die Politische Ökologie der Nutzung von Nicht-Holz-Waldprodukten und Bodenschätzen in der Mongolei 2007. XII, 435 S. mit 54 Abb., 31 Tab., 22 Ktn., 92 z.T. fbg. Fotos, geb. ISBN 978-3-515-09037-7 144. Karl Martin Born Die Dynamik der Eigentums­ verhältnisse in Ostdeutschland seit 1945 Ein Beitrag zum rechtsgeographischen Ansatz 2007. XI, 369 S. mit 78 Abb., 39 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09087-2 145. Heike Egner Gesellschaft, Mensch, Umwelt – beobachtet Ein Beitrag zur Theorie der Geographie 2008. 208 S. mit 8 Abb., 1 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09275-3 146. in Vorbereitung 147. Heike Egner, Andreas Pott Geographische Risikoforschung

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Zur Konstruktion verräumlichter Risiken und Sicherheiten 2010. XI, 242 S. mit 16 Abb., 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09427-6 Torsten Wißmann Raum zur Identitätskonstruktion des Eigenen 2011. 204 S., kt. ISBN 978-3-515-09789-5 Thomas M. Schmitt Cultural Governance Zur Kulturgeographie des UNESCOWelterberegimes 2011. 452 S. mit 60 z.T. farb. Abb., 17 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09861-8 Julia Verne Living Translocality Space, Culture and Economy in Contemporary Swahili Trade 2012. XII, 262 S. mit 45 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10094-6 Kirsten von Elverfeldt Systemtheorie in der Geomorphologie Problemfelder, erkenntnistheoretische Konsequenzen und praktische Implikationen 2012. 168 S. mit 13 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10131-8 Carolin Schurr Performing Politics, Making Space A Visual Ethnography of Political Change in Ecuador 2013. 213 S. mit 36 Abb., 2 Ktn. und 10 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10466-1 Matthias Schmidt Mensch und Umwelt in Kirgistan Politische Ökologie im postkolonialen und postsozialistischen Kontext 2013. 400 S. mit 26 Abb., 12 Tab. und 16 Farbtafeln mit 8 Fotos und 12 Karten, kt. ISBN 978-3-515-10478-4 Andrei Dörre Naturressourcennutzung im Kon­ text struktureller Unsicherheiten Eine Politische Ökologie der Weideländer Kirgisistans in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche 2014. 416 S. mit 29 Abb., 14 Tab. und 35 Farbabb. auf 24 Taf., kt. ISBN 978-3-515-10761-7

Die geographische Mensch-Umwelt-Forschung ringt seit vielen Jahren um die Entwicklung integrativer Ansätze, mit deren Hilfe die dualistische Spaltung des Faches entlang natur- oder sozialwissenschaftlicher Perspektiven überwunden und die Einheit des Faches wieder hergestellt werden kann. Lösungsansätze hierzu wurden vor allem auf fachtheoretischer und methodischer Ebene gesucht. Demgegenüber plädiert der vorliegende Band für eine erkenntnistheoretische Neuausrichtung der Geographie mit Hilfe einer nicht-dualistischen, nicht-fundamentalistischen und prozessorientierten Perspektive. Hierzu schlägt er die Philosophie des klas-

sischen Pragmatismus vor und diskutiert dessen Potenziale und Konsequenzen für die geographische Mensch-Umwelt-Forschung sowie die ihr zugrunde liegenden Handlungs-, Umwelt- und Raumkonzepte. Mit dem resultierenden Vorschlag einer pragmatisch inspirierten, holistischen Geographie der Mitwelt leistet das Buch einen wichtigen Beitrag, um die gängigen Dichotomien zwischen Natur und Kultur sowie Materie und Sinn zu überwinden und eröffnet neue Perspektiven zur Untersuchung komplexer Problemlagen im Schnittfeld der beiden großen geographischen Teildisziplinen.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10878-2