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German Pages 200 [242] Year 2017
Philosophische Bibliothek
William James Pragmatismus
Meiner
W I L LI A M JA M E S
Pragmatismus Ein neuer Name für einige alte Denkweisen
Übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Schubert und Axel Spree
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
P H I L O S O P H I S C H E BI BL IO T H E K BA N D Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking erschien 1907 bei Longmans, Green & Co., London/New York. Die vorliegende Übersetzung beruht auf dem Text in Band 1 der Works, hg. v. Frederick H. Burkhardt, Fredson Browers und Ignas K. Skrupskelis, Cambridge (Mass.)/London: Harvard University Press 1975 ff.
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INHALT
Einleitung. Von Klaus Schubert und Axel Spree . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . v
WILLIAM JAMES
Pragmatismus Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Erste Vorlesung Das gegenwärtige Dilemma der P hilosophie . . . . . . . . . . . . 5 Zweite Vorlesung Was heißt Pragmatismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Dritte Vorlesung Einige philosophische Probleme, pragmatisch betrachtet . 53 Vierte Vorlesung Eines und Vieles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Fünfte Vorlesung Pragmatismus und gesunder M enschenverstand . . . . . . . . . 101 Sechste Vorlesung Der Wahrheitsbegriff des P ragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . 121 Siebte Vorlesung Pragmatismus und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Achte Vorlesung Pragmatismus und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
EINLEITUNG DER HERAUSGEBER
. In der Folge Das Herz eines Captains der Kultserie Raumschiff Enterprise muss sich Captain Jean-Luc Picard, der Philosoph unter den Raumschiff-Kommandanten, einer Herzoperation unterziehen. Er verlässt zu diesem Zweck die Enterprise und begibt sich in einem Shuttle zu einer Raumbasis, auf der die Operation durchgeführt werden soll. Begleitet wird Picard nur von dem jungen, sich sichtlich unbehaglich fühlenden Fähnrich Wesley Crusher, der kurz vor seiner Aufnahmeprüfung in die Akademie der Sternenflotte steht. Es entspinnt sich folgender Dialog: Picard: Ich habe dir doch ein Buch gegeben. Hast du es inzwi schen gelesen, Wesley? Crusher: Nur zum Teil. Picard: Besser als gar nicht. Crusher: Mir bleibt leider nur wenig Freizeit. Picard: Es gibt kaum etwas Wichtigeres als das Studium der Philosophie. Crusher: Bei meinem Examen wird mich sicher niemand nach William James fragen. Picard: Nach wichtigen Dingen wird nie gefragt.
Es mag aus europäischer Sicht verwunderlich erscheinen, dass ausgerechnet William James dem Fernsehpublikum quasi als Inbegriff der Philosophie präsentiert wird. Gerade aus der Sicht des 22. Jahrhunderts (in dem die Science-Fiction-Serie angesie delt ist) dürften hierfür doch ganz andere Kandidaten infrage kommen, selbst wenn man sich auf den amerikanischen Raum zu beschränken hätte; zu denken wäre z. B. an Charles Sanders Peirce, John Dewey oder auch Willard Van Orman Quine. Die Wahl James’ erklärt sich aber wohl nicht nur dadurch, dass er ein amerikanischer Philosoph war, sondern zudem einer, der in
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den USA bis heute so bekannt und populär ist, dass er in einer Fernsehserie stellvertretend für die weitgefächerten philosophi schen Interessen eines Raumschiff-Kommandanten genannt werden kann. James’ anhaltende Popularität als Philosoph hängt parado xerweise damit zusammen, dass er zur Philosophie nicht unbe dingt ein professionelles Verhältnis hatte. Sein Studium beginnt der 19-Jährige in den Naturwissenschaften, namentlich in Che mie, Biologie und Anatomie.1 Später wechselt er zur Medizin, wo ihn besonders die neu entstehende experimentelle Physiolo gie und Psychologie interessiert. Durch die 1890 erschienenen Principles of Psychology ist James bis heute mindestens ebenso sehr als Psychologe wie als Philosoph bekannt. Seine wichtigs ten und bekanntesten philosophischen Arbeiten, die 1906 und 1907 gehaltenen Pragmatismus-Vorlesungen ebenso wie die Vorlesungsreihe Das pluralistische Universum von 1907, sind dagegen ‚populärphilosophische‘ Vorlesungen 2 und richten sich erklärtermaßen nicht an ein Fachpublikum. 3 Dennoch schreckt James keineswegs vor den ‚großen‘ philosophischen Themen zurück, was letztlich zu einer Behandlung führt, die aus euro päischer Sicht manchem als hemdsärmelig, ja als ‚typisch ameri kanisch‘ erscheinen mag. Genau dies waren auch die Vorwürfe, denen sich der Prag matismus im Allgemeinen und James’ Variante des Pragma tismus im Besonderen bei ihrem ersten Auftreten Anfang des Als Standardwerk für James’ Biographie gilt bis heute Perry 1936. – Siehe auch die deutschsprachige Einführung von Diaz-Bone/Schubert 1996. 2 Der vollständige Titel der ersten Ausgabe der Pragmatismus-Vor lesungen lautet: Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking. Popular Lectures on Philosophy by William James (vgl. Works Bd. 1, S. 193). – Vgl. außerdem James 1899. 3 Vgl. James 1914, S. 1: „Da diese Vorlesungen nicht für ein Fachpubli kum bestimmt sind, und ihre Zahl nicht allzu groß sein wird, so glaubte ich, von allen Spezialproblemen absehen zu müssen: nur einige Fragen von allgemein philosophischem Interesse sollen hier zur Erörterung ge langen.“ 1
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20. Jahrhunderts ausgesetzt sahen. Das bevorzugte Dokument der Kritik bildete James’ Vorlesungsreihe Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking, die bereits ein Jahr nach ihrer Veröffentlichung auch in deutscher Übersetzung vorlag. Vor allem im deutschen Sprachraum reagierte man mit arro ganter Überheblichkeit und unverhohlener Ablehnung auf diese „Modephilosophie […] aus dem Lande des Dollars“4 , der man im vollen Bewusstsein der eigenen Überlegenheit philoso phischen Primitivismus, Irrationalismus, Opportunismus und Schlimmeres vorwarf.5 Was William James betrifft, so hält sich bis heute hartnäckig die Auffassung, er sei maßgeblich daran beteiligt gewesen, den durchaus ernstzunehmenden pragma tistischen Ansatz eines Charles Sanders Peirce in unzulässiger Weise zu popularisieren, ihn also zu vergröbern und zu verwäs sern und auf Probleme zu applizieren, für die Peirce’ Pragmatis mus nie gedacht war und auch nicht geeignet ist. 6 Insbesondere James’ Entwurf einer pragmatistischen Wahrheitstheorie in der sechsten seiner Pragmatismus-Vorlesungen war von Anfang an heftigster Kritik auch in diesem Sinn ausgesetzt. Dass für diese 4 C.
Gutberlet: „Der Pragmatismus“ [1908]; zitiert nach Joas 1992b,
S. 119. 5 Vgl. dazu bereits den Bericht über den III. Internationalen Kongreß für Philosophie (Elsenhans 1909, bes. S. 711 ff.). – Außerdem Joas 1992b. 6 Peirce selbst hatte sich bereits 1905 vom Pragmatismus, wie er zu diesem Zeitpunkt von James und F. C. S. Schiller vertreten wurde, abge setzt. Dort heißt es: „So fühlt der Verfasser nur, nachdem sein Sprössling ‚Pragmatismus‘ so befördert wurde, daß es Zeit ist, ihm den Abschieds kuß zu geben und ihn seinem höheren Schicksal zu überlassen. Gleich zeitig bittet er zu dem Zweck, die ursprüngliche Definition präzise auszu drücken, die Geburt des Wortes ‚Pragmatizismus‘ ankündigen zu dürfen, das häßlich genug ist, um vor Kindsräubern sicher zu sein.“ (Peirce 1970, S. 394) – In der frühen deutschsprachigen Diskussion über den Pragma tismus war dieser „Karl S. Peirce“ übrigens allenfalls aus zweiter Hand bekannt, wofür z. B. die Tatsache ein Indiz ist, daß sein Name häufig falsch, etwa „Pierce“ oder „Pearce“, geschrieben wurde (vgl. Joas 1992b, S. 117) – ein Lapsus, der selbst dem erklärten Pragmatisten und ersten Übersetzer der James’schen Vorlesungen, Wilhelm Jerusalem, noch un terläuft (vgl. James 1908, S. 2 und 28 f.).
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Auffassung durchaus Gründe vorgebracht werden können, soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Die Reduzierung der Phi losophie James’ auf eine sicherlich schwierige und in ihrer pole mischen Zuspitzung vielleicht auch fragwürdige Wahrheitstheo rie ist jedoch ebenso wenig akzeptabel wie die Unterstellung, allein die populärphilosophische Zurichtung enthebe von der Mühe einer ernsthaften Auseinandersetzung.
. Neben dem Vorwurf des ‚Amerikanismus‘ gehörte es zwar auch zu den Kennzeichen der außer-amerikanischen, besonders der deutschsprachigen Rezeption, „alles Ernsthafte im Pragma tismus auf europäische Quellen zurückzuführen“7; es ist auf der anderen Seite aber nicht zu leugnen, dass wir es hier mit dem ersten eigenständigen amerikanischen Beitrag zur Philo sophie überhaupt zu tun haben. 8 War dieser Befund diesseits des Atlantiks vielfach Anlass zur Häme, so implizierte er für die amerikanische Seite doch auch die Emanzipation von der übermächtigen europäischen Tradition. Selbstverständlich gab es auch in den USA heftige Diskussionen über Wert und Un wert des Pragmatismus – eine Tatsache, die bei der hiesigen „Identifikation von Pragmatismus und Dollar“ geflissentlich übersehen wurde.9 Entscheidender für die Tatsache, dass dem Pragmatismus auch jenseits des Atlantiks eine eher kurze Blüte beschieden war, war jedoch der Aufstieg der analytischen Phi losophie, die in ihren Ursprüngen – wie Michael Dummett ge zeigt hat – keine anglo-amerikanische Philosophie ist, sondern deutlich mitteleuropäische Züge trägt.10 Man mag es als Ironie der Geschichte ansehen, dass die erste eigenständige amerika 7
Joas 1992b, S. 120. Zur sowohl positiven als auch negativen Konnotierung der Behaup tung, der Pragmatismus sei „die Philosophie der Neuen Welt“, siehe DiazBone/Schubert 1996, S. 67 f. sowie Rorty 1994, S. 11 f. 9 Ebd., S. 119. 10 Vgl. Dummett 1988, S. 7 ff. 8
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nische Philosophie, deren Eigenständigkeit nicht zuletzt durch die konsequente Ausrichtung an einem Ideal der Demokratie begründet war, einer Philosophie weichen musste, deren Ver treter aufgrund der Repressionen einer antidemokratischen Po litik gezwungen waren, ihre europäische Heimat zu verlassen.11 Tatsache ist jedoch, dass die etwa seit Mitte des 20. Jahrhun derts etablierte Vorherrschaft der analytischen Philosophie an den amerikanischen Universitäten – eine Vorherrschaft, deren nachgerade hegemonialer Charakter aus europäischer Sicht nur schwer nachzuvollziehen ist – wenig Raum ließ für konkurrie rende philosophische Theoreme, was nicht nur der amerikani sche Pragmatismus, sondern auch unliebsame kontinentaleuro päische Ansätze, wie etwa der Dekonstruktivismus, zu spüren bekamen.12 Gegen Ende des Jahrhunderts wendet sich das Blatt: Die ‚post-analytische‘ Philosophie steht vielfach unter dem Signum eines „Neo-Pragmatismus“.13 Wenn man auch nicht so weit ge hen muss wie Richard Rorty, der Autoren wie W. V. O. Quine, 11 Vgl.
ebd., S. 8: „Mehr als eine dieser [mitteleuropäischen philoso phischen] Strömungen [des 19. Jahrhunderts] hat […] im zwanzigsten Jahrhundert zur Herausbildung der analytischen Philosophie beigetra gen, die vor Hitlers Machtergreifung nicht so sehr als britisches, son dern eher als mitteleuropäisches Phänomen betrachtet werden mußte. Der Wechsel des wissenschaftlichen und philosophischen Schwerpunkts hinüber auf die andere Seite des Atlantik […] war in erster Linie freilich eine langfristige Auswirkung politischer Ereignisse, besonders der Ver treibung so vieler Flüchtlinge vor dem Naziregime nach Amerika“. 12 Vgl. hierzu den Sammelband von Dasenbrock 1989. – Die soeben gegebene Einschätzung bezieht sich auf die Etablierung des Pragmatis mus als philosophischer Richtung an den amerikanischen Universitäten. Dass James’ Einfluss auf zahlreiche amerikanische Intellektuelle und die amerikanische Kultur insgesamt groß und nachhaltig war, belegt der Aufsatz von Posnock 1997. Wie gleich das erste der von Posnock ange führten Beispiele zeigt, bestand dieser Einfluss interessanterweise nicht selten darin, den jeweils ‚Beeinflussten‘ gerade vom Studium der Philo sophie abzuhalten (vgl. Posnock 1997, S. 322). 13 Vgl. den Abschnitt „Pragmatism after the linguistic turn“ in Rorty 1998, S. 634 f.
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Nelson Goodman, Hilary Putnam und Donald Davidson rund heraus als „Neopragmatisten“ einstuft,14 so ist doch nicht zu übersehen, dass gerade in Kreisen analytischer Philosophen eine Rückbesinnung auf den Pragmatismus, auch und gerade in seiner klassischen amerikanischen Form, stattfindet. Bei spiele hierfür ließen sich viele anführen: Hilary und Ruth Anna Putnams Engagement für die Philosophie William James’,15 Richard Rortys Eintreten für John Dewey (dem neben Wittgen stein und Heidegger dritten der seiner Meinung nach „bedeu tendsten Philosophen unseres Jahrhunderts“16), des Weiteren die Arbeiten von Joseph Margolis17 oder – auf dem Gebiet der Ästhetik – Richard Shusterman.18 Und auch dort, wo die expli zite Berufung auf pragmatistische Gedanken fehlt (wie etwa bei Nelson Goodman), sind die zentralen Grundannahmen häufig besser mit den Theoremen des Pragmatismus vereinbar als mit denen der analytischen Philosophie – wenn auch ein direkter Einfluss kaum nachweisbar sein dürfte.19 Auch im deutschen Sprachraum gibt es deutliche Anzeichen für ein gesteigertes Interesse am Pragmatismus und den Arbei ten seiner ‚Klassiker‘. Dies belegen nicht zuletzt zahlreiche neu erschienene Ausgaben und Übersetzungen 20 und Einführun gen zu einzelnen Autoren oder zum Pragmatismus insgesamt.21 Noch 1992 beurteilte Hans Joas die deutschsprachige Rezeption 14 Rorty
1994, S. 13. Vgl. Putnam/Putnam 1990b, Putnam 1990c, 1995a, 1997a und 1998. 16 Rorty 1987, S. 15. 17 Margolis 1986. 18 Shusterman 1994. 19 In Bezug auf Goodman, der zumindest die pragmatistische Wahr heitstheorie an einer Stelle explizit kritisiert (vgl. Goodman 1984, S. 149 ff.), ist hier in erster Linie an solche pragmatistischen Forderungen wie der nach dem Einbezug des Handelns und des ‚menschlichen Faktors‘ überhaupt in die Erkenntnistheorie zu denken. 20 Vgl. z. B. Peirce 1986 – 9 3. – Zu nennen sind außerdem die Über setzungen der wichtigen philosophischen Arbeiten John Deweys durch Martin Suhr. Vgl. auch Suhr 1994. 21 Vgl. z. B. Nagl 1992, 1998; Oehler 1993; Suhr 1994; Diaz-Bone/S chu bert 1996, Waschkuhn 2001. 15
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insbesondere der Arbeiten von William James und John Dewey ausgesprochen negativ. 22 Mittlerweile scheinen zumindest die editorischen Voraussetzungen für eine Veränderung dieser Situation geschaffen zu sein. Die Fruchtbarkeit der Auseinanderset zung mit William James jedoch wird sich, so steht zu erwarten, wieder einmal am Umgang mit der Eingangshürde ‚pragma tistische Wahrheitstheorie‘ erweisen. Nur dann nämlich, wenn deren vermeintliche oder auch tatsächliche Unzulänglichkeiten nicht gleich zum Abbruch der Auseinandersetzung führen, son dern ein gewissermaßen ‚wohlwollendes‘ Verständnis im Ge samtkontext des James’schen Pragmatismus angestrebt wird, lassen sich Impulse für gegenwärtige philosophische Probleme überhaupt gewinnen. . Die überaus heftigen Diskussionen, die den Pragmatismus seit seinem ersten Auftreten begleiten, entzündeten sich mehrheit lich am Konzept der Wahrheit, das James in seiner sechsten Vorlesung ausführlich behandelt. Die Angriffe, die sich an diese Darstellung anschlossen, waren so zahlreich, dass James sich genötigt fühlte, eine Art Fortsetzung der Pragmatismus-Vor lesungen fast ausschließlich der Auseinandersetzung mit den Kritikern des pragmatistischen Wahrheitsbegriffs zu widmen. 23 Tatsächlich gesteht James in der zweiten Vorlesung zu, dass der Ausdruck ‚Pragmatismus‘ nicht nur zur Bezeichnung der von ihm dargelegten ‚Methode‘, sondern auch „in einem viel wei teren Sinne“ gebraucht werde, nämlich zur Bezeichnung einer bestimmten Wahrheitstheorie. In den Vorlesungen nimmt denn auch das Problem der pragmatistischen Wahrheit eine dominie 22 Vgl.
Joas 1992b, S. 139: „Das Interesse an James, das vor dem Ers ten Weltkrieg lebendig war, ist […] nicht wieder erwacht. Am spektaku lärsten aber ist die anhaltende Ignoranz gegenüber der Philosophie John Deweys in Deutschland. Kein Denker von seiner intellektuellen Größe scheint mir in Deutschland kontinuierlich so stiefmütterlich behandelt worden zu sein wie er.“ 23 The Meaning of Truth. A Sequel to ,Pragmatism‘ (Works Bd. 2).
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rende Stellung ein, nicht nur was die erwähnte sechste Vorle sung, „Der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus“, betrifft: „In einer Vorlesung über den ‚gesunden Menschenverstand‘ werde ich zu zeigen versuchen, was ich unter Wahrheiten verstehe, die aufgrund von Überalterung versteinert sind. In einer anderen Vorlesung werde ich die Idee weiter ausführen, dass unsere Ge danken proportional zum Erfolg ihrer Vermittlungsfunktion wahr werden. In einer dritten Vorlesung werde ich aufzeigen, wie schwierig es ist, in der Entwicklung der Wahrheit subjektive von objektiven Faktoren zu unterscheiden.“ (S. 43)24 Die harsche Kritik, die sich in der Folge am pragmatistischen Konzept der Wahrheit entzündete, sollte demnach nicht als unfairer Angriff auf einen vermeintlich marginalen Punkt missverstanden wer den: Sie richtet sich vielmehr auf einen offensichtlich zentralen Bestandteil des James’schen Pragmatismus. Es ist hier nicht der Ort, diese Diskussion abermals zu rekon struieren. Stattdessen wollen wir auf Ansätze zu einer ‚kontex tualisierenden‘ Lesart der James’schen Wahrheitstheorie hin weisen, die grundsätzlich aus zwei Schritten zu bestehen hat: In einem ersten Schritt ist diese Theorie als Wahrheitstheorie zu rekonstruieren, wobei offensichtliche Missverständnisse ebenso zu klären sind wie ungenaue oder missverständliche Formulie rungen James’. In einem zweiten Schritt ist der gedankliche Ge halt dieser Theorie im Kontext des James’schen Pragmatismus als Ganzem darzulegen. Damit geht die Auslegung über eine bloß historisch-stimmige Rekonstruktion hinaus; sie versucht – ganz in James’ Sinn –, zu einem produktiven Umgang mit der philosophischen Tradition, in diesem Fall: mit William James, zu gelangen. Hilary Putnam hat in mehreren Publikationen 25 darauf hin gewiesen, dass das Zerrbild der James’schen Wahrheitstheo rie, wie es bis heute in den Köpfen der Philosophen existiert, mindestens ebenso sehr auf ungenauer Lektüre beruht wie auf allzu grobschlächtigen Formulierungen James’. Beispielsweise 24 Seitenzahlen 25 Vgl.
im Text beziehen sich auf die vorliegende Ausgabe. v. a. Putnam 1995a und 1997b; außerdem Putnam 1995b.
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wird James’ Wahrheitstheorie seit der Kritik Bertrand Russells gerne durch folgenden Satz charakterisiert: „Das ‚Wahre‘ ist letzten Endes und alles in allem nur das Nützliche in unserem Denken“.26 Tatsächlich findet sich dieser Satz bei James nicht. Stattdessen heißt es: „‚Das Wahre‘ ist, um es sehr kurz zu sagen, nur das Förderliche im Prozess unseres Denkens, ebenso wie ‚das Richtige‘ nur das Förderliche im Prozess unseres Handelns ist. Es ist förderlich auf beinahe jede Art und Weise, förderlich auf lange Sicht und für den ganzen Prozess: denn was sich als förder lich für die gegenwärtige Erfahrung erweist, muss sich nicht für alle zukünftigen Erfahrungen als gleichermaßen förderlich und befriedigend erweisen.“ (S. 136) Laut Putnam überlesen Russell und viele spätere Kritiker nicht nur die Floskel „um es sehr kurz zu sagen“, die bei wohlwollendem Verständnis einen Hinweis hätte geben können auf eine mögliche Missverständlichkeit der folgenden ‚Definition‘, sie ignorieren darüber hinaus auch die Formulierung „auf beinahe jede Art und Weise“ – Putnam zu folge „offensichtliche Hinweise darauf, dass wir es hier mit ei ner thematischen Darstellung zu tun haben und nicht mit einem Versuch, eine Definition des ‚Wahren‘ zu formulieren“.27 Der Hauptfehler bei der verbreiteten Gleichsetzung von Wahrheit und Nützlichkeit besteht nach Putnam darin, dass die von James vorgenommene Zuordnung verschiedener Typen von Nützlichkeit zu verschiedenen Typen von Aussagen nicht zur Kenntnis genommen wird: „Im Falle paradigmatischer, ‚Tatsachen‘ betreffender Aussagen, einschließlich wissenschaft licher Aussagen, gibt es eine Nützlichkeit, die James wieder holt erwähnt: die Zweckmäßigkeit der Voraussage, während andere Desiderata – Bewahrung der herkömmlichen Lehre, Einfachheit und Kohärenz […] – auf alle Arten von Aussagen 26
Putnam 1995a, S. 17 f. S. 19. – In ähnlicher Weise werde James’ Formulierung „Das Wahre ist die Bezeichnung für alles, was sich im Rahmen von Überzeugungen und aus exakten, klar angebbaren Gründen als gut erweist“ (S. 49) so aufgefasst, als hätte James geschrieben: „aus welchen Gründen auch immer“ (vgl. Putnam 1995a, S. 87). 27 Ebd.,
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anwendbar seien.“28 Nützlichkeit hat demnach unterschiedliche Ausprägungen oder Dimensionen, sie bezeichnet nicht einfach das, was in irgendeiner willkürlich gewählten Hinsicht zweck dienlich oder befriedigend ist. Darüber hinaus betont James die Notwendigkeit der lebenspraktischen Relevanz, die das Krite rium des Wahren in bestimmten Situationen quasi außer Kraft setzt. Die ‚Verpflichtung zur Wahrheit‘ gilt demzufolge nicht losgelöst von den konkreten Umständen, wie James an einem schlagenden Beispiel deutlich macht: „Wenn Sie mich nach der Uhrzeit fragen und ich antworte Ihnen, dass ich in der Irving straße 95 wohne, so mag meine Antwort tatsächlich wahr sein, aber Sie werden kaum einsehen, warum es meine Pflicht sein sollte, diese Antwort zu geben. Eine falsche Adresse würde den Zweck ebenso gut erfüllen.“ (S. 143) Stellen wie diese legen zum einen den Schluss nahe, dass für James das Merkmal ‚wahr‘ nur eines unter vielen Beurteilungskriterien ist, denen Aussagen, Überzeugungen usw. zu entsprechen haben. Zum anderen be steht für James ein enger Zusammenhang zwischen der Wahr heit einer Aussage oder Überzeugung und ihrer Bestätigung oder Verifikation, wobei Letzteres als ein in praktische Zusam menhänge eingebetteter, dynamischer Prozess begriffen wird. Für James darf „unser Verständnis des Wahrheitsbegriffs nicht als mysteriöser mentaler Akt dargestellt werden […], durch den wir uns mit einem von den Praktiken, mittels derer wir entscheiden, was wahr und was nicht wahr ist, völlig unabhängigen Verhältnis, genannt ‚Korrespondenz‘, in Verbindung bringen“.29 In der soeben gegebenen Fassung nähert sich James’ pragma tistische Behandlung der Wahrheit sehr stark zeitgenössischen philosophischen Tendenzen, vor allem aus dem Lager der analy tischen Philosophie, an. Auch Putnam betont diese Nähe und folglich die Aktualität der James’schen Philosophie. Trotzdem zeigen sich gerade aus ‚post-analytischer‘ Sicht auch Mängel in James’ Argumentation, wenn auch weniger in ihren expliziten Thesen als vielmehr in dem allgemeinen Anspruch, diese Argu 28 Ebd. 29
Ebd., S. 21.
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mente führten zu einer pragmatistischen Theorie der Wahrheit. Haben doch die Begriffsanalysen der analytischen und im enge ren Sinne sprachanalytischen Philosophie gezeigt, dass der Re spekt vor vermeintlich ehrwürdigen philosophischen Begriffen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle unangebracht ist. Bei James besteht dieser Respekt freilich nicht in stummer Ehr furcht vor überkommenen Definitionen der Wahrheit, wohl aber in dem Bestreben, überhaupt eine allgemeine und verbindliche Theorie der Wahrheit zu entwerfen. Aus differentialistischer Sicht erscheint dieser Versuch – gerade angesichts der Ehrwür digkeit des Konzepts sowie der zahlreichen divergierenden Be stimmungsversuche30 – als von vornherein verfehlt. Und auch aus ‚strategischen‘ Gründen wäre es für James selbst sowie vor allem für die an ihn anschließende Diskussion über den Prag matismus allemal dienlicher gewesen, den Ausdruck ‚Wahrheit‘ zu meiden und den theoretischen Gehalt stattdessen unter ei nem anderen, weniger verfänglichen Ausdruck zu verhandeln; dies jedenfalls war die philosophisch erfolgreichere – allerdings auch weit weniger bekannt, um nicht zu sagen: populär gewor dene – Strategie John Deweys.31 Dass diese Strategie ihrerseits auch nicht vollständig vor ‚pragmatistischen Missverständnis sen‘ zu schützen vermag, zeigt das Beispiel Nelson Goodmans, dessen Versuch, den Begriff der Wahrheit einem Konzept von ‚Richtigkeit‘ unterzuordnen (bei gleichzeitigem Festhalten an einem propositionalen Wahrheitsbegriff), 32 beständig als 30 Zum
Überblick allein der verschiedenen Ansätze im 20. Jahrhun dert vgl. Skirbekk 1977. 31 Vgl. dazu Thayer 1981, S. 193: „The notion of warranted assertion is bound up with the idea (or theory) of inquiry, for Dewey. In a similar way, the notion of truth is bound up with the idea of warranted assertion. Having both witnessed and participated in the difficulties the pragmatists had run into in explaining the meaning of ‚truth‘, aware of divergent views among the followers of James (and in James himself) over this idea and of a general failure to make themselves understood, Dewey was tempted to give up the terms ‚truth‘ and ‚falsehood‘ altogether and replace them with less misleading equivalents, where equivalents were needed.“ 32 Vgl. Goodman/Elgin 1989, S. 202 ff.
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ropagierung eines pragmatistischen Wahrheitsbegriffs miss P deutet wird. . Neben der vermeintlichen Gleichsetzung von ‚Wahrheit‘ und ‚Nützlichkeit‘ war es vor allem James’ Metaphorik, die gerade die deutschsprachige Rezeption des Pragmatismus entscheidend geprägt hat: Die Verbindung des ehrwürdigen philosophischen Konzepts ‚Wahrheit‘ mit der Begrifflichkeit des Finanzmarkts erschien – wie bereits angedeutet – als unerhörter Ausdruck eines typisch amerikanischen Zugriffs. In diesem Zusammen hang ist in erster Linie an James’ Rede vom ‚Barwert‘ (cashvalue) unserer Vorstellungen zu erinnern oder auch an den Ver gleich der Wahrheit mit dem Funktionieren von Geldscheinen: „Wahrheit lebt tatsächlich zum größten Teil vom gegenseitigen Kredit. Unsere Gedanken und Überzeugungen ‚zirkulieren‘, so lange sie nicht infrage gestellt werden, ebenso wie Banknoten zirkulieren, solange niemand sie zurückweist.“ (S. 127) Wenn die Diskreditierung des Pragmatismus als ‚Philoso phie des Dollars‘ tatsächlich eine zentrale Motivation in James’ Barwert-Metapher hatte, darf dies mit Fug als übersetzungs bedingtes Missverständnis eingestuft werden. Zwar ist ‚Bar wert‘ die wörtliche Übersetzung des englischen ‚cash-value‘ (und insofern weicht auch die vorliegende Neuübersetzung in diesem Punkt nicht von der Erstübersetzung ab), allerdings ist die Konnotation im Englischen eine vollkommen andere. Das Oxford English Dictionary (OED) gibt für „cash-value“ zwei Be deutungen an: zum einen die versicherungstechnische Bedeu tung „the value of a policy, etc., cashed before it matures“ (d. i. der Wert, den beispielsweise eine Lebensversicherung aufweist, wenn sie vorzeitig ausbezahlt wird); zum anderen die philoso phische Bedeutung „the empirical content of a concept, word, or proposition“. 33 Als erste Fundstelle für die philosophische Verwendung des Ausdrucks nennt das OED James’ Aufsatz 33 Burchfield
1972, S. 449.
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„Philosophical Conceptions and Practical Results“ von 1898. 34 Tatsächlich aber wird der Ausdruck im englischen Sprachraum bis heute in eben dieser Bedeutung – „empirischer Gehalt ei nes Begriffs, eines Ausdrucks oder einer Aussage“ – gebraucht, ohne dass dies als fragwürdige Vermischung der hehren Welt der Philosophie mit der profanen Welt des Finanzmarkts auf gefasst würde. Ob dies als weiterer Beleg für James’ anhalten den Einfluss auf die englischsprachige Philosophie angesehen werden darf, sei dahingestellt. In jedem Fall hat der Ausdruck die anrüchige Konnotation, die er bei seiner ersten Verwendung möglicherweise noch besaß, längst verloren. Einen stärkeren Zusammenhang zwischen den gerade ange sprochenen Welten stellt James’ Kreditmetapher her. Doch auch hier greift der Vorwurf des kruden Materialismus nicht. Im Ge genteil: James’ Vergleich des ‚Zirkulierens‘ unserer Überzeu gungen mit dem Zirkulieren von Geldscheinen läuft keineswegs auf die ‚materialistische‘ Behauptung hinaus, das Wahre sei letztlich das, was den höchsten ‚Profit‘ zu erwirtschaften in der Lage sei – wobei dieser Profit in persönlicher Befriedigung oder irgendeiner nicht näher spezifizierten Nützlichkeit bestehen würde. Stattdessen betont James die Abhängigkeit des Funktio nierens unserer wahren Überzeugungen von den interaktiven Handlungen der Akteure in einem gesellschaftlichen Feld, und das heißt: vom Vorhandensein eines Handlungssystems, in dem die Frage nach der materiellen Basis der ausgetausch ten Überzeugungen weit weniger relevant ist als die gemein sam akzeptierten Konventionen, die das Funktionieren dieses Austauschs gewährleisten. Anders gesagt: Ebenso wie der Wert eines Geldscheins nicht in dem Wert des bedruckten Papiers besteht, sondern vielmehr das Ergebnis einer konventionellen Übereinkunft ist, ebenso besteht der Wert der Wahrheit weni ger in der Übereinstimmung der betreffenden Überzeugung mit 34 Ebd. –
Vgl. Works Bd. 1, S. 268: „The great English way of investi gating a conception is to ask yourself right off, ‚What is it known as? In what facts does it result? What is its cash-value, in terms of particular experience? and what special difference would come into the world ac cording as it were true or false?‘“
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dem materiellen Gegenstand, sondern vielmehr in der Fähigkeit dieser wahren Überzeugungen, in einem Handlungssystem zu funktionieren. Was also auf den ersten Blick wie eine unzuläs sige materialistische Herangehensweise erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen gerade als Kritik am Materialismus – mit Hilfe ‚materialistischer‘ Metaphern. Bei alledem darf jedoch nicht übersehen werden, dass es zu den wichtigsten Kennzeichen des James’schen Pragmatismus gehört, das rigide Entweder-oder wo immer es geht durch ein flexibles Sowohl-als-auch zu ersetzen. Im vorliegenden Zusam menhang bedeutet dies, dass James den konventionellen oder wenn man so will: virtuellen Charakter der Wahrheit lediglich für wichtiger erachtet als den ‚materiellen‘; keinesfalls stellt er die Notwendigkeit der direkten Verifikation insgesamt infrage. Dies zeigt der Fortgang der eingangs dieses Abschnitts zitier ten Stelle: „Aber dies alles verweist auf irgendwelche direkten Verifikationen, ohne die das Gebäude der Wahrheit ebenso zu sammenbrechen würde wie ein Finanzsystem ohne irgendeine Geldabdeckung. Sie akzeptieren meine Verifikation in einer Sache, ich akzeptiere Ihre in einer anderen. Wir nutzen unsere Wahrheiten gegenseitig. Aber die Überzeugungen, die von irgendjemandem tatsächlich verifiziert wurden, sind die Grund pfeiler des ganzen Überbaus.“ (S. 127 f.) Es handelt sich dem nach um eine Akzentverschiebung, nicht um eine vollständige Ersetzung: Wohl steht das ‚gegenseitige Nutzen‘ der Wahrheiten an erster Stelle, aber die Relevanz der direkten Verifikationen wird dadurch nicht negiert, sondern lediglich in ihrem Stellen wert relativiert. Bezieht man diese Einschätzung auf James’ Pragmatismus als Ganzem, so relativieren sich auch solche Aussagen wie Hans Joas’ Kennzeichnung der „Grundidee des Pragmatismus“ als der „Umstellung von der fundierenden Rolle des Bewußtseins auf die fundierende Rolle des Handelns“35: Das interaktive Han 35
Joas 1992b, S. 116 – Vgl. auch Putnam 1987, S. 87: „the heart of prag matism […] was the insistence on the agent point of view. If we find that we must take a certain point of view, use a certain ‚conceptual system‘, when we are engaged in practical activity […] then we must not simul
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deln von Akteuren übernimmt die fundierende Rolle, aber die Bedeutung des ‚Bewusstseins‘ darf ebenso wenig rundheraus geleugnet werden wie die Bedeutung der ‚Materie‘. Für James bedeutet die Fundierung der Philosophie im Handeln freilich auch, dass sich über die Materie, über das wahre Sein der Dinge, kaum etwas Sinnvolles sagen lässt, wenn die Eigenheiten und In teressen der Akteure ausgeblendet werden. Insofern stimmt er mit dem englischen Pragmatisten F. C. S. Schiller überein, des sen „Humanismus“ James in seiner siebten Vorlesung als die jenige Lehre beschreibt, „der zufolge auch unsere Wahrheiten in unübersehbarem Maße vom Menschen selbst gemacht sind. Menschliche Beweggründe bestimmen alle unsere Fragestellun gen, in unseren Antworten steckt immer auch die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, alle unsere Formeln enthalten ein menschliches Element.“ (S. 149) In der Vorlesungsreihe Das pluralistische Universum, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Pragmatismus-Vorle sungen entstanden ist, bezieht James diese relativierende, antiessentialistische und letztlich pluralistische Sichtweise auf das Konzept der Rationalität: „Aber die Rationalität hat zum mindesten vier Seiten, eine intellektuelle, eine ästhetische, eine moralische und eine praktische, und es ist nicht leicht, eine Welt zu finden, die in allen diesen Hinsichten gleichzeitig in höchstem Grade rational ist.“ Nachdem er diese Auffassung mit einer Reihe von Beispielen illustriert hat, kommt James zu folgender Einschätzung, die die ‚Finanzmarkt-Metaphorik‘ der Pragmatismus-Vorlesungen um das Bild verschiedener Wäh rungen erweitert: „Die Rationalität, die uns in einer Münzart gegeben wird, verlieren wir wieder in einer anderen.“36 Ebenso wie ‚Wahrheit‘ ist auch ‚Rationalität‘ nur ein leerer Begriff, so lange nicht in Betracht gezogen wird, wer mit den verschiede nen Wahrheiten bzw. Rationalitäten aus welchen Gründen, mit welchen Absichten und Interessen umgeht. Mehr noch: Gerade taneously advance the claim that it is not really the way things are in themselves“. 36 James 1914, zit. nach Neudruck 1994, S. 70.
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aufgrund dieser handlungstheoretischen Fundierung kann es in James’ Darstellung der unterschiedlichen Rationalitäten keine Hierarchie geben; das Argument, beispielsweise die na turwissenschaftliche Auffassung der Welt sei ‚rationaler‘ oder ‚wahrer‘ als etwa die ästhetische, entbehrt fortan der Grund lage. Gegen den erkenntnistheoretischen ‚Monismus‘ realisti scher Prägung, wonach es genau eine wahre Beschaffenheit der Welt gibt, setzt James einen handlungstheoretisch begründeten Pluralismus verschiedener Betrachtungsweisen: Intellektuelle, ästhetische, moralische und praktische Zugänge zur Welt bilden eine untereinander gleichberechtigte Pluralität, und der Erfolg der einzelnen Zugänge ist weniger eine Frage der ‚Abbildungs genauigkeit‘ einer nie ganz objektiv feststellbaren Wirklichkeit, sondern vielmehr – gut pragmatistisch – eine Frage des Errei chens menschlicher Ziele und der Befriedigung menschlicher Interessen. Nicht zuletzt mit dieser pluralistischen Konzeption trägt James zur „unerhörten Modernität des amerikanischen Pragmatismus“37 bei. . Wie bereits die Darstellung von Hilary Putnams Interpretation der James’schen Wahrheitstheorie gezeigt hat, richtet sich das in den letzten Jahren erneut erwachte Interesse am Pragmatismus auch und gerade auf William James. Neben der ‚Wiederentde ckung‘ durch Philosophen der analytischen Richtung finden sich auch Versuche, James als Vorläufer oder gar Begründer postmoderner Philosophie zu lesen. 38 In diesen Auslegungen stehen insbesondere die zentrale Rolle des Handelns und das Element des Konstruktiven bei der Herstellung von Überzeu gungen und Wahrheiten im Vordergrund – so etwa bei der Be 37 Joas
1992a, S. 7 – Völlig ohne Bezugnahme auf James oder über haupt auf den Pragmatismus vertritt Gottfried Gabriel einen Pluralismus von komplementären Erkenntnisformen (vgl. Gabriel 1991, S. 202 ff.). Die Rede von der ‚Modernität‘ des Pragmatismus bezieht sich also nicht nur auf solche Fälle, bei denen ein direkter Einfluss nachweisbar ist. 38 Vgl. Griffin u. a. 1993.
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zugnahme der Radikalen Konstruktivisten auf James. 39 Aber auch außerhalb der Philosophie werden vielfach Anzeichen für eine „Rückkehr des William James“ ausgemacht. 40 Hier sind neben einer erstaunlichen Renaissance der James’schen Emotionstheorie in der neueren psychologischen Forschung41 vor allem zwei Bereiche zu nennen, in denen der Pragmatismus zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dies betrifft einerseits die Rezeption in der Soziologie und andererseits den Rekurs auf die politischen Ideen, die demokratietheoretischen Positionen und neuerdings – auf James und Dewey aufbau end – den demokratischen Experimentalismus des Pragmatis mus. Wenn auch noch nicht von einem Durchbruch die Rede sein kann, ist doch auffallend, dass gerade in den theoretisch und methodisch besonders innovativen Forschungsfeldern der Soziologie und Politikwissenschaft der Bezug zum pragmatisti schen Denken aktiv gesucht wird. Aus Sicht des sozialwissenschaftlichen Mainstreams im deutschsprachigen Raum wird der Pragmatismus i. d. R. ledig lich als eine Art Zwischenstufe bzw. als Wegbereiter des Be haviorismus und der frühen, empirisch orientierten Forschung in der amerikanischen Psychologie und Sozialpsychologie, So ziologie und Politikwissenschaft angesehen. 42 Darüber hinaus wird er gelegentlich auch – im umgangssprachlichen Sinne – als amerikanisch-pragmatistischer Ansatz zur Lösung politischer und sozialer Probleme aufgefasst. Dieser Art selektiver Wahr nehmung entgeht, dass der Pragmatismus in den USA einen völlig eigenständigen Weg bei der Etablierung der modernen Sozialwissenschaften eröffnete. Diesen Zusammenhang für die deutschsprachige Diskussion herausgearbeitet zu haben, ist vor allem das Verdienst von Hans Joas, der darüber hinaus 39 Vgl.
Glasersfeld 1996, S. 84 f. Return of William James“ ist der Titel eines Aufsatzes von Frank Lentricchia, in dem er sich mit James’ Bedeutung für den sog. „New Pragmatism“ bzw. für die „Against Theory“-Debatte in der Lite raturwissenschaft auseinandersetzt (vgl. Lentricchia 1988). 41 Vgl. Reisenzein u. a. 1995. 42 Vgl. Falter 1982. 40 „The
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aber auch den Vorwurf erhebt: „Statt sich mit der philosophi schen Problemlage zu beschäftigen, von der aus die klassischen Soziologen das Projekt Soziologie begannen, erzeugt sich diese Disziplin eine mythische Vorgeschichte.“43 Bis zu einem gewis sen Grad trägt dieses Rezeptionslücke bis heute dazu bei, dass das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen diesseits und jenseits des Atlantiks sehr unterschiedlich gedeutet werden kann. Den Kern dieses Unterschiedes bildet ein den amerikanischen Sozialwis senschaften alternativ zur Verfügung stehender Handlungsbe griff, der es erlaubt, eine Soziologie – und wie noch gezeigt wird, auch eine Politikwissenschaft – von und für eine reale Welt zu entwickeln. Dieser Handlungsbegriff überwindet jenen traditio nellen, kontinental-europäischen Leib-Seele-Dualismus, der menschliches Handeln entweder einem rationalistischen Uti litarismus oder einem moralisch-imperativen Normativismus unterwirft: „Der Pragmatismus Amerikas stellt eine ganz ei genständige Weise dar, die Kreativität des Handelns zu deuten; nicht dichterischer Ausdruck oder materielle Produktion und revolutionäre Umwälzung sind dabei die leitende Metapher, sondern die kreative Problemlösung durch experimentierende Intelligenz.“44 Leider haben die substanziell weiterführenden Anregungen von Hans Joas bisher noch zu wenig zur Weiterentwicklung und sozialwissenschaftlichen Theoriebildung beitragen können. Eine Ursache hierfür mag die aktuell ohnehin recht innova tionsfeindliche Grundstimmung sein. Eine weitere Ursache mag darin liegen, dass hier die philosophischen Grundlagen dieses – der realen sozioökonomischen und politischen Dynamik mo derner Gesellschaften deutlich angemesseneren – Ansatzes bis heute nur vereinzelt aufgearbeitet wurden. 45 Eine vorurteilsfreie Rezeption des Pragmatismus könnte auch in einem weiteren sozialwissenschaftlichen Bereich von 43
Joas 1989, S. IX f. Ebd., S. XVII; ausführlich Joas 1992c. 45 Zum Beispiel Schubert 2003. 44
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Nutzen sein. Im Gegensatz zum eher bescheidenen Fortschritt in der Theorie ist die sozialwissenschaftliche Methodendis kussion bereits seit geraumer Zeit in Bewegung. Hier erfahren insbesondere die qualitativen Methoden und die anhaltende Diskussion über (re-)konstruktive bzw. post-positivistische Methoden einen erheblichen Bedeutungszuwachs. 46 Letzterer speist sich vor allem aus der Unzufriedenheit empirisch-prak tisch orientierter Sozialwissenschaft an den methodologischen Grenzen konventioneller Forschungsmodelle, solcher, die – traditionell dualistisch – Theorie und Empirie als Gegensatz paar auffassen. Die entscheidend von Karl Popper geprägte Forschungslogik der Sozialwissenschaften beschränkt sich be kanntermaßen strikt auf den Überprüfungs- und Begründungs zusammenhang von Theorien. Die Entdeckung und Entwick lung von Theorien – und damit ein wichtiges Scharnierelement zwischen Theorie und Gegenstandsbereich – wird dagegen aus den erkenntnislogischen Überlegungen völlig herausgenommen und der Intuition des Forschers überantwortet. Zu dieser Kritik und Neuorientierung kann aus pragmatistischer Sicht einiges beigetragen werden, nicht nur, weil der pragmatistische Hand lungsbegriff die strikte Trennung zwischen theoretischer und re aler Welt generell nicht nachvollzieht, sondern weil, erstens, die Abduktion als weit über den Pragmatismus hinaus reichender, bereits von James als „tremendously important“47 bezeichne ter Beitrag Charles S. Peirce’ zur sozialwissenschaftlichen Me thodendiskussion immer noch ein Schattendasein führt. 48 Der sozialwissenschaftliche Methodenpluralismus könnte, zweitens, durchaus auch von der Aufnahme und Weiterentwicklung der bislang recht wenig bekannten ‚Methode der Bedeutungsan reicherung‘ – Deweys denotative Methode 49 – profitieren, zu der James in der siebten Vorlesung über den Pragmatismus die wichtigsten Stichworte liefert: „Wir sind sowohl in unserem ko gnitiven als auch in unserem sonstigen aktiven Leben schöpfe 46
Zum Beispiel Bohnsack 1999; Wagner 1999. So James 1903 in einem Brief an Peirce; Letters 1961, S. 203. 48 Siehe aber: Reichertz 2013. 49 Vgl. Dewey 1995. 47
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risch tätig. Wir fügen sowohl den Subjekten als auch den Prä dikaten der Wirklichkeit etwas hinzu. Tatsächlich ist die Welt formbar und wartet darauf, dass wir etwas mit ihr anfangen. Ebenso wie das Himmelreich erträgt sie bereitwillig, dass wir Hand an sie legen.“ (S. 158; Hervorhebungen im Original) Eine entscheidende Veränderung, nämlich Zweifel am rationalistisch verkürzten Weltbild, hat die aktuelle Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften bereits bewirkt; als weiterer Schritt käme es jetzt darauf an, im pragmatistischen Sinne die Welt auch als offen und gestaltbar anzusehen: „Aus pragmatisti scher Sicht gibt es nur eine Welt, und diese Welt ist unvollendet und an allen Ecken und Enden im Wachsen begriffen, insbe sondere dort, wo denkende Wesen am Werk sind.“ (S. 159/7. Vorl.) Ein wichtiges Desiderat für die soziologische Forschung ist weiterhin die Anregung von Wilhelm Hennis, der den Einfluss von William James’ „Vielfalt religiöser Erfahrung“ auf die reli gionssoziologischen Thesen Max Webers rekonstruiert hat. 50 Hennis weist überzeugend nach, dass Webers „Formel ‚An trieb zum Handeln‘ … im ersten, vor der USA-Reise geschrie benen PE -Aufsatz (Protestantische Ethik; KS/AS) nicht ein einziges Mal vorkommt … Im zweiten PE -Aufsatz, also sicher nach Kenntnis von James’ Gedanken, werden die ‚praktischen Antriebe zum Handeln‘ zum durchgehenden Ordnungsprin zip …“. 51 Dieser Hinweis ist auch insofern von großer Bedeu tung, als James sich bereits in der „Vielfalt …“ auf die pragma tistische Maxime von Peirce bezieht, wie sie dann auch hier in der zweiten Pragmatismus-Vorlesung vorgetragen wird. Weit da von entfernt, Webers originäre Leistung zu schmälern oder gar „Webers Werk eine ‚pragmatische‘ Philosophie aufzupfropfen“, verweist Hennis auf den „Schlüsselsatz für eine Interpretation von Webers ‚Pragmatismus‘ … in der ‚Religionssoziologie‘ des 50
Hennis 1996. Ebd., S. 64; Weber war 1904 auf Kongressreise in den USA, wo ihn sein ehemaliger Freiburger Kollege und damalige Harvard-Professor Hugo Münsterberg mit William James persönlich bekannt machte. 51
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‚alten Teils‘ von WuG (Wirtschaft und Gesellschaft; KS/AS): ‚Denn der Effekt des Handelns ist es, der uns angeht.‘“52 Diese – vorsichtig ausgedrückt – Geistesverwandtschaft zwischen We ber und James unterstreicht einmal mehr die Dringlichkeit der bereits zitierten Forderung von Hans Joas’, „sich mit der philo sophischen Problemlage zu beschäftigen, von der aus die klassi schen Soziologen das Projekt Soziologie begannen.“ Der Pragmatismus stimuliert aktuell auch die politisch-theo retische und die politikwissenschaftliche Debatte. Erstere er hielt durch Richard Rorty Auftrieb, der einen pragmatistischen Gegenentwurf zum idealistischen, gelegentlich elitär-konser vativ verstandenen Kommunitarismus vertritt. Knapp zusam mengefasst unterscheidet sich die vom Pragmatismus geprägte demokratietheoretische Position vom Kommunitarismus im Wesentlichen durch die positive Bewertung des Individualis mus, der offenen (Massen-)Demokratie und der politischen und sozialen (Interessen-)Vielfalt als Grundlage gesellschaft lichen Fortschritts und gesellschaftlicher Veränderung. Vom klassischen Liberalismus unterscheidet sie sich dagegen vor allem durch das umfassende – nicht rationalistisch verkürzte – Menschenbild, die Höherbewertung sozialer Verantwortung und öffentlichen Engagements vor der Verfolgung egoistischer Ziele. 53 Die liberalen Prinzipien, so kann zugespitzt argumen tiert werden, bilden die normative Basis für die pragmatischen, auf Gestaltung und Verbesserung zielenden Prozesse.54 In ver schiedenen Publikationen macht Richard Rorty vor allem durch seinen Aufruf zum konkreten politischen Engagement der (seit Vietnam passiven) amerikanischen Linken und Intellektuellen von sich reden.55 Da diese Debatte inzwischen selbst in den Mas senmedien eine gewisse Resonanz findet, wird im deutschspra chigen Raum sicher zum ersten Mal auch der demokratietheo retische Hintergrund des Pragmatismus vermittelt. Zumindest 52
Ebd., S. 66, inklusive Fußnote 206. Vgl. auch Schönherr-Mann 1996. 54 Vgl. auch Anderson 1994. 55 Zum Beispiel Rorty 1997. 53
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wird der Pragmatismus nach nunmehr über dreißig Jahren auch wieder in der Politischen Theorie diskutiert. 56 Mit seinem Plädoyer für breites, aktives Engagement, für die Übernahme sozialer Verantwortung und gegen jede Form des Rückzugs auf theoretische Positionen – die letztlich nur in ‚Besserwisserei‘ münden – zielt Rorty auf die Rückbindung des bloß Theoretischen an die konkrete Praxis.57 In diesem Bemü hen spiegelt sich die anti-dualistische Position des Pragmatis mus und das hierauf basierende zentrale Element der pragma tistischen Handlungstheorie, das auch einer politischen Theorie lediglich instrumentellen Status zuweist und deren Funktion als individuelle Orientierungs- und Handlungshilfe sich in der Realität, d. h. bei den konkreten Versuchen politischer Gestal tung und Verbesserung, immer wieder bewähren muss. 58 Auf diese Grundfigur, dass nämlich Theorien einerseits Leitfunk tion haben und als Handlungsorientierung dienen, sich ande rerseits aber immer an der Wirklichkeit – genauer: daran, in welchem Maße sie sich verwirklichen lassen – messen müssen, verweist auch James in der sechsten Pragmatismus-Vorlesung: „Das wesentliche Moment ist der Vorgang des Geführtwerdens. Jede Vorstellung, die uns hilft, mit der Wirklichkeit oder ihrem Zusammenhang – sei es praktisch oder intellektuell – umzugehen, jede Vorstellung, die unseren Fortschritt nicht in Enttäu schungen münden lässt, die wirklich passt und unser Leben an die komplexen Zusammenhänge der Wirklichkeit anpasst, jede solche Vorstellung wird in einem Maße mit ihr übereinstimmen, das den Anforderungen genügt. Sie wird sich an dieser Wirk lichkeit bewähren“ (S. 131; Hervorhebung im Original). Vor diesem Hintergrund wird eine kürzlich erschienene Stu die über das politische Denken von William James interessant. Ohne zu behaupten, dass dieser explizit zu einer politischen Theorie beigetragen habe, gelingt Joshua Miller die Rekonstruk tion eines für das politische Weltbild von James charakteris 56
Zuletzt bei Brecht 1961, jetzt z. B. wieder in Brodocz/Schaal 1999. Vgl. auch Festenstein 1997. 58 Vgl. hierzu auch das ‚pragmatistische‘ Programm des Begründers der politischen Ideengeschichte G. H. Sabine 1941, S. vi. 57
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tischen demokratischen Individualismus. 59 Im Vergleich mit anderen Pragmatisten, insbesondere Dewey und Mead, wurde James bisher als radikaler Individualist dargestellt. Dies er weist sich jedoch bei näherer Betrachtung als ein Zerrbild, das möglicherweise aufgrund seiner Herkunft und Bekanntheit als Psychologe entstand. Miller zeichnet dagegen ein Bild, in dem deutlich wird, welchen Raum soziale und politische Belange im intellektuellen Werk von James eingenommen haben und dass er sehr klare – auch aus heutiger Sicht emanzipatorische – poli tische Vorstellungen verfolgte. 60 Im Mittelpunkt seines – und in den Grundzügen auch für den Pragmatismus insgesamt charakteristischen – demokratischen Individualismus stehen das Individuum und dessen individuelle Verantwortung als Motor allen sozialen, ökonomischen und po litischen Geschehens. Dies ist jedoch nicht nur als empirische, sondern auch als normative Feststellung zu verstehen, d. h. er fordert vom Individuum explizit aktive Handlungsbereitschaft, unmittelbares soziales Engagement und offene politische Partizipation. Hierzu gehört auch die – evolutionstheoretisch beeinflusste – Überzeugung, dass erst breites, massenhaftes politisches Engagement sowohl für jenes hohe Maß an Konti nuität sorgt als auch die vielen notwendigen Anpassungen und Veränderungen hervorbringt, die eine langfristig stabile ge sellschaftliche Entwicklung gewährleisten. Gleichzeitig sieht er in der massenhaften Partizipation auch das einzige probate Mittel, um einer tendenziell undemokratischen Elitenbildung entgegenzuwirken. Ein weiteres zentrales Element des demo kratischen Individualismus ist die Aufforderung zu Toleranz und Respekt gegenüber Andersdenkenden, anderen Kulturen, Ethnien, Religionen und zwischen den Geschlechtern. James fordert darüber hinaus Großzügigkeit gerade auch gegenüber Opponenten. Diese sozialen Eigenschaften und Fähigkeiten sind in erster Linie als individuell zu erbringende Leistung zu 59
Miller 1997. Siehe im Einzelnen ebd. mit vielen bibliographischen und biogra phischen Nachweisen. 60
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sehen, dürfen aber nicht als kollektive oder gar individuelle Forderung gegenüber anderen betrachtet werden. Kennzeich nend für diese Haltung ist auch James’ Einstellung gegenüber Idealen: Es reicht nicht, Ideale zu haben, es kommt vielmehr darauf an, entsprechend den Idealen zu handeln. In dieses Bild passt die Grundeinstellung, dass das öffentliche Wohl Vorrang vor der privaten Bequemlichkeit genießt. Trotz dieser Maximen hat James aufgrund der Betonung des Individuums, des indi viduellen Antriebs und der daraus folgenden pluralistischen Interessenheterogenität aber eher ein gesellschaftliches Kon flikt- als ein gesellschaftliches Harmoniemodell vor Augen. Die James’sche Definition von Politik ist folgerichtig: „the peaceful resolution of conflict“. 61 Diese kurze Skizze verdeutlicht die politische ‚Bottom-up‘Orientierung des demokratischen Individualismus, der eine politische Ordnung favorisiert, in der die politischen Entschei dungsprozesse – nicht nur in formaler Hinsicht – ‚von unten nach oben‘ verlaufen. Er steht damit den radikaldemokratischen und sog. ‚Grassroot‘-Bewegungen nahe, zumindest aber weist er in pluralistischen Konsens- und Konkurrenzprozessen der ‚Basis‘ und den unteren politischen Ebenen besondere Bedeu tung zu. Es ist daher nicht überraschend, dass Miller auch eine strikt anti-absolutistische und anti-imperialistische Haltung James’ dokumentiert. Beides, ‚Bottom-up‘-Orientierung und Anti-Imperialismus, spiegelt sich in folgendem Zitat: „I am against bigness and greatness in all their forms, and with the invisible molecular moral forces that work from individual to individual … The bigger the unit you deal with, the hollower, the more brutal, the more mendacious is the life displayed. So I am against all big organizations as such, national ones first and foremost; against all big successes and big results; and in favor of the eternal forces of truth which always work in the individual … under-dogs always, till history comes, after they are long dead, and puts them on the top.“62 61 62
Ebd., S. 54. Perry 1936, Bd. 2, S. 315 f.
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Auf zwei weitere, maßgebliche Einflusslinien des Pragmatis mus soll abschließend nur noch kurz verwiesen werden. Nach recht kurzer Rezeptionsphase gehört die Politikfeldanalyse (im Anglo-Amerikanischen: „policy analysis“) heute weitgehend zum etablierten Bestand der Politikwissenschaft. Die gängige Definition dieser Teildisziplin verrät bereits, dass es sich hier um ein originäres Ziehkind des Pragmatismus handelt: Poli tikfeldanalyse beschäftigt sich mit der Frage, was politische Akteure tun, warum sie etwas tun und welche Folgen und Un terschiede daraus entstehen. 63 Ganz offensichtlich handelt es sich hier – politikwissenschaftlich-konstruktiv gewendet – um die pragmatistische Methode, wie sie James in der zweiten Pragmatismus-Vorlesung ausführt: „ … besteht die pragmati sche Methode darin, … (die) … praktischen Folgen zu unter suchen. Welchen Unterschied würde es für irgendjemanden in praktischer Hinsicht bedeuten, wenn eher dieses als jenes Ur teil zutreffen würde? … Es handelt sich nur dann um eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung, wenn wir in der Lage sind, irgendeinen praktischen Unterschied aufzuzeigen …“ (S. 30 f.). Der unmittelbare Einfluss des Pragmatismus auf die Entste hung der ‚policy analysis‘ geht allerdings auf die Chicago-School of Pragmatism – die James ebenfalls in der zweiten Vorlesung rühmt – zurück. Im Wirkungskreis von John Dewey und George Herbert Mead – und damit unmittelbar beeinflusst vom prag matistischen Denken – formierte sich neben der Chicago-School of Sociology auch die ‚New Science of Politics‘ (später: „policy analysis“), zu deren Begründern Charles E. Merriam und Ha rold D. Lasswell zählen. Von hier aus verbreitet sich dieser – zur damaligen Zeit revolutionär – strikt empirische, an den prakti schen Inhalten der Politik orientierte Ansatz in den USA rasch – im deutschsprachigen Raum wird die ‚neue Politikwissenschaft‘ etwa ab Ende der 1970er Jahre rezipiert. Inzwischen existiert auch ein empirisch arbeitender, poli tikwissenschaftlicher Forschungszweig, der sich explizit auf pragmatistische Wurzeln beruft. Dabei wird der pragmatisti 63
Vgl. Schubert/Bandelow 2014, S.4.
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sche Experimentalismus bzw. die pragmatistische Grundidee vielfältiger Entwicklungswege und -varianten forschungsleitend genutzt. Exemplarisch seien hier zwei wegweisende Arbeiten genannt. Im Rahmen des politischen Integrationsprozesses der Europäischen Union lokalisieren Charles F. Sabel und Jona than Zeitlin (2010) eine neuartige ‚experimentelle Architektur‘: Die von europäischen Institutionen ausgehenden inhaltlichen Anregungen und politisch-konstruktiven Impulse werden von den Mitgliedsländern (oft sehr) unterschiedlich und den natio nalen Bedingungen entsprechend umgesetzt. Dies ist in vielen Fällen aus europäischer Sicht erwünscht und wird gefördert, sofern die nationalen Erfahrungen anschließend auf europäischer Ebene rückgekoppelt und von allen Beteiligten reflek tiert werden. Angestrebtes Resultat dieser ‚experimentell‘ vor anschreitenden Politik ist dann, dass sich schließlich gemeinsam getragene Ziele herauskristallisieren und auf national durchaus unterschiedlichen Wegen gleiche bzw. vergleichbare Ergebnisse erzielt werden. Innerhalb dieser neuartigen politischen ‚Archi tektur‘ wird der kontinuierliche Austausch gefördert und ein Prozess erzeugt, der das gegenseitige Lernen und Verbessern in den Vordergrund rückt und das traditionell hierarchische, politisch-bürokratische Anweisen und Kontrollieren ersetzt. Aus pragmatistischer Perspektive zeigt Gary Herrigel (2010) in einer Längsschnittstudie, dass und in welchem Maße industri elle Entwicklung als kreativer (Problemverarbeitungs-)Prozess rekonstruiert werden kann, der von den jeweils verantwortlich handelnden, reflektiven Akteuren ausgelöst und gesteuert wird. Über die Zeit hinweg führen diese Prozesse zu klar unterscheid baren, national und branchentypisch variierenden industriellen und politisch-ökonomischen Strukturen, die spezifische For men der Kontinuität und Entwicklung ermöglichen. Anderer seits entwickeln die beteiligten Akteure bei Störungen oder dem Auftreten von gravierenden Neuerungen immer wieder eigenständige, kreative Lösungen, bei denen ggf. die vorhan denen Strukturen und Handlungsbedingungen angepasst oder zielabhängig verändert werden.
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Während der vorbereitenden Arbeiten zur Neuausgabe dieses zuerst 2001 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft er schienenen Bandes verstarb im Juli 2016 überraschend mein Mitherausgeber Axel Spree. Seinem Andenken ist dieses Buch gewidmet. Münster, Herbst 2016
Klaus Schubert
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W I L LI A M JA M E S
Pragmatismus Ein neuer Name für einige alte Denkweisen
In Erinnerung an John Stuart Mill, von dem ich zum ersten Mal die pragmatische Offenheit des Geistes lernte und den ich mir in meiner Phantasie gerne als unseren Anführer vorstelle, wenn er noch lebte.
VORWORT
D
ie folgenden Vorlesungen wurden im November und De zember 1906 am Lowell-Institut in Boston und im Januar 1907 an der Columbia-Universität in New York gehalten. Sie wurden ohne Erweiterungen oder Anmerkungen gedruckt. Es hat den Anschein, als sei die sogenannte pragmatische Be wegung – ich mag diese Bezeichnung nicht, es scheint aber zu spät zu sein, sie zu ändern – ziemlich unerwartet und wie aus heiterem Himmel entstanden. Einige Strömungen, die in der Philosophie schon immer vorhanden waren, wurden sich plötz lich ihrer selbst und ihrer gemeinsamen Aufgabe bewusst. Dies geschah in so vielen Ländern und aus so unterschiedlichen Blickwinkeln, dass hieraus zahlreiche, miteinander nicht über einstimmende Darstellungen resultierten. Ich habe versucht, das Bild, so wie es sich mir darbietet, zu vereinheitlichen, und es in groben Zügen skizziert, ohne mich mit weniger wichtigen De tailfragen zu beschäftigen. Meiner Meinung nach hätten viele überflüssige Auseinandersetzungen vermieden werden können, wenn unsere Kritiker bereit gewesen wären, so lange zu warten, bis wir unsere Botschaft einigermaßen klar formuliert haben. Für diejenigen, die durch meine Vorlesungen Interesse an dem Gegenstand gefunden haben, gebe ich einige weitere Lite raturhinweise. In Amerika bilden John Deweys Studies in Logical Theory die Grundlage. Beachten Sie auch Deweys Beiträge in der Philosophical Review, 15. Jg., S. 113 und 465, in Mind, 15. Jg., S. 293 und im Journal of Philosophy, 4. Jg., S. 197.1 Für den Anfang sind die Ausführungen von F. C. S. Schiller in seinen Studies in Humanism vermutlich am besten geeignet, insbesondere die Kapitel 1, 5, 6, 7, 18 und 19.2 Seine früheren Aufsätze sowie die kritische Literatur zu diesem Thema sind in den Fußnoten vollständig nachgewiesen. Weiterhin ist zu erwähnen : Le Rationnel von J. Milhaud (1898)3 und die ausgezeichneten Beiträge von Le Roy in der Re-
4 Vorwort
vue de Métaphysique, Jg. 7, 8 und 9 ;4 ebenso Beiträge von Blon del und De Sailly in den Annales de Philosophie Chrétienne, 4. Série, Jg. 2 und 3. 5 Papini kündigt ein Buch über Pragmatis mus in französischer Sprache an, das sehr bald erscheinen soll. 6 Um zumindest dieses eine Missverständnis zu vermeiden, möchte ich betonen, dass es keine logische Verbindung gibt zwischen dem Pragmatismus, wie ich ihn verstehe, und der von mir kürzlich begründeten Lehre des „Radikalen Empirismus“7. Letztere steht auf eigenen Füßen. Man kann sie völlig ablehnen und trotzdem Pragmatist sein. Harvard University im April 1907
Erste Vorlesung DAS GEGENWÄRTIGE DILEMMA DER P HILOSOPHIE
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m Vorwort zu seiner hervorragenden Essay-Sammlung Ketzer schreibt Chesterton : „[ Es gibt ] Menschen – und zu denen zähle ich –, die nach wie vor der Ansicht sind, daß die Vorstel lung, die sich ein anderer von der Welt als ganzer macht, das Wichtigste und in praktischer Hinsicht Folgenreichste ist, was man über den Betreffenden wissen kann. Wir sind der Ansicht, daß es für eine Zimmerwirtin wichtig ist, das Einkommen ihres Untermieters zu kennen, daß es aber noch wichtiger für sie ist, seine Grundsätze zu kennen. Wir sind der Ansicht, daß es für einen General, der einen Feldzug unternimmt, wichtig ist, über die zahlenmäßige Stärke des Gegners Bescheid zu wissen, daß es aber noch wichtiger für ihn ist, die Grundsätze des Gegners zu kennen. Unserer Meinung nach ist die Frage nicht, ob das Weltbild Einfluß auf den Gang der Ereignisse hat, sondern ob auf lange Sicht außer dem Weltbild irgendetwas sonst den Welt lauf beeinflußt.“1 Ich stimme in dieser Sache mit Chesterton überein. Ich weiß, dass Sie, meine Damen und Herren, alle Ihre eigene Philoso phie haben und dass die Art und Weise, wie diese Philosophie die Sichtweise in Ihren verschiedenen Welten prägt, das Inter essanteste und Wichtigste ist, was man über Sie erfahren kann. Wie Sie wissen, trifft dasselbe auch auf mich zu. Und doch muss ich gestehen, dass mich bei dem Gedanken an die Verwegenheit des Unterfangens, das ich nun in Angriff nehmen will, eine ge wisse Beklommenheit erfasst. Denn etwas für jeden von uns so Bedeutsames wie die Philosophie ist nicht einfach eine techni sche Angelegenheit. Vielmehr drückt sie die mehr oder weniger unbestimmten Empfindungen darüber aus, was uns das Leben wirklich bedeutet. Man hat sie nur teilweise aus Büchern. Sie ist Ausdruck der ganz individuellen Art und Weise, wie wir die Bewegung und den Einfluss des Kosmos wahrnehmen und
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Erste Vorlesung
fühlen. Ich kann nicht davon ausgehen, dass viele von Ihnen sich wissenschaftlich mit dem Kosmos auseinander setzen, und doch stehe ich hier mit dem dringenden Wunsch, Sie für eine Philosophie zu interessieren, die in einem nicht geringen Maße wissenschaftlich behandelt werden muss. Ich möchte Ihre Sym pathie für eine zeitgenössische Strömung gewinnen, an die ich fest glaube, und muss doch zu Ihnen, die Sie ja keine Studenten sind, wie ein Professor sprechen. An welches Universum ein Professor auch immer glauben mag, es muss auf jeden Fall ein Universum sein, über das man mit einiger Ausführlichkeit spre chen kann. Mit einem Universum, das sich in zwei Sätzen de finieren lässt, kann der professorale Intellekt nichts anfangen. Lassen Sie sich nicht mit solch billigen Erklärungen abspeisen ! Ich habe in eben diesem Saal Freunde und Kollegen gehört, die versucht haben, eine populäre Darstellung der Philosophie zu geben, aber sehr bald wurden sie trocken und akademisch, und die Ergebnisse waren wenig ermutigend. Mein Vorhaben ist also sehr gewagt. Der Begründer des Pragmatismus hielt hier am Lowell-Institut vor kurzem selbst eine Reihe von Vorträgen, die eben jenen Namen im Titel führten – brillante Geistesblitze erleuchteten tiefste Finsternis ! Ich glaube, niemand von uns hat alles verstanden, was er sagte – gleichwohl stehe ich hier, um ein ähnliches Wagnis zu unternehmen.2 Ich wage es, weil die Vorträge, von denen ich spreche, auf breite Resonanz stießen und eine große Zuhörerschaft anspra chen. Gestehen wir es uns ruhig ein : Es ist immer auf seltsame Weise faszinierend zuzuhören, wenn über tiefsinnige Dinge ge sprochen wird, selbst dann, wenn weder wir noch die Diskutie renden sie verstehen. Die Probleme versetzen uns in Erregung, wir fühlen die Gegenwart des Unendlichen. Wenn irgendwo in einem Salon eine Auseinandersetzung über die Willensfreiheit beginnt, über die Allmacht Gottes oder über Gut und Böse, dann spitzen alle Anwesenden sofort ihre Ohren. Die Erkennt nisse der Philosophie betreffen uns ganz unmittelbar, und die kuriosesten philosophischen Behauptungen reizen auf ange nehme Weise unseren Sinn für Spitzfindigkeiten und unseren Einfallsreichtum.
Das gegenwärtige Dilemma der Philosophie
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Ich glaube zutiefst an die Philosophie, und ich glaube auch, dass zurzeit wirklich etwas Neues auf uns Philosophen zu kommt. Ich fühle mich deshalb, sei es zum Guten oder zum Bösen, dazu gedrängt, Ihnen einiges über diese neue Situation mitzuteilen. Philosophie ist zugleich die erhabenste und die alltäglichste aller menschlichen Beschäftigungen. Sie wirkt in der hintersten Ecke und eröffnet die weitesten Ausblicke. „Man wird davon nicht satt“, sagt man, aber sie kann unseren Seelen Mut machen. Und wenn auch ihre Eigenarten, ihr Zweifeln und Infragestel len, ihre Sophisterei und ihre Dialektik für den gewöhnlichen Menschen häufig abstoßend sind, so kommt doch keiner von uns ohne das weithin strahlende Licht aus, das sie über die An gelegenheiten der Welt verströmt. Zumindest dieser Glanz und die dunklen und geheimnisvollen Kontraste, die ihn begleiten, tragen dazu bei, dass die Philosophie weit mehr als nur profes sionelles Interesse erregt. Die Geschichte der Philosophie ist zu einem großen Teil die Geschichte des Aufeinanderprallens verschiedener Mentalitä ten. Wenn diese Auffassung auch manchen meiner Kollegen unseriös erscheinen mag, so werde ich doch von solchen Zusam menstößen ausgehen, um eine ganze Reihe von philosophischen Meinungsverschiedenheiten zu erklären. Welche in seiner Men talität begründete Neigung ein akademischer Philosoph auch immer haben mag – bei seiner philosophischen Arbeit wird er stets versuchen, sie zu unterdrücken. Persönliche Wesenszüge werden gewöhnlich nicht als Begründung anerkannt, deshalb zieht er nur sachliche Argumente für seine Schlussfolgerungen heran. Und doch ist er auf Grund seiner Mentalität in erheblich stärkerem Maße voreingenommen als durch all seine strikt ob jektiven Grundsätze. Auf die eine oder andere Weise bestimmt diese Mentalität – ebenso wie Tatsachen oder Prinzipien – das, was er für wahr hält, und führt so zu einer eher einfühlsamen oder aber eher kühlen Betrachtung der Welt. Ein Philosoph verlässt sich auf seine Mentalität. Er wünscht sich eine zu dieser Mentalität passende Welt, und deshalb wird er von jeder Dar stellung der Welt überzeugt sein, die auch tatsächlich zu dieser
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Erste Vorlesung
Mentalität passt. Er glaubt, dass Menschen mit einer anderen Mentalität nicht im Einklang mit dem Wesen der Welt stehen, und insgeheim hält er sie für inkompetent und „nicht völlig auf der Höhe“ des philosophischen Geschäfts – selbst dann, wenn ihr argumentatives Geschick das seine bei weitem übertrifft. In der Öffentlichkeit können Philosophen gleichwohl nicht einfach auf ihre Mentalität verweisen und diese als einzigen Grund für ihr überlegenes Urteilsvermögen oder ihre größere Autorität anführen. So kommt es zu einer gewissen Unaufrich tigkeit in unseren philosophischen Diskussionen : Die wichtigste Voraussetzung unseres Denkens wird nie erwähnt. Es würde aber sicherlich einiges an Klarheit gewonnen, wenn wir in die sen Vorlesungen mit dieser Regel brechen und jene Vorausset zung benennen würden. Ich nehme mir deshalb die Freiheit, genau dies zu tun. Natürlich spreche ich hier von äußerst bedeutenden Men schen, Menschen mit radikalen Eigenarten, die der Philosophie ihren Stempel aufgedrückt haben, die die Philosophie prägten und deshalb in der Geschichte der Philosophie zu festen Grö ßen geworden sind. Platon, Locke, Hegel und Spencer sind Phi losophen, deren Denken von ihrer Mentalität geprägt ist. Die meisten von uns haben natürlich keinen solch ausgeprägten in tellektuellen Charakter, sondern vereinigen in sich gegensätz liche Charakterzüge, die jeweils nur wenig hervortreten. Gerade bei abstrakten Gegenständen kennen wir kaum unsere eigenen Vorlieben. Mancher von uns ist schnell dazu zu bewegen, von ihnen abzurücken, und folgt dem aktuellen Modetrend oder übernimmt die Ansichten des beeindruckendsten unter den ge rade greifbaren Philosophen, wer immer das auch sein mag. Das aber, worauf es in der Philosophie bisher immer ankam, ist, dass der Mensch einen Standpunkt einnehmen sollte, d. h., dass er Dinge in einer gänzlich ihm eigenen Art und Weise anschauen und jede gegenteilige Betrachtungsweise als unbefriedigend abweisen sollte. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass diese stark von der persönlichen Mentalität geprägten Sichtwei sen von nun an in der Geschichte menschlichen Denkens keine Rolle mehr spielen werden.
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Die speziellen Mentalitätsunterschiede, von denen ich hier spreche, spielen in der Literatur, der Kunst, der Politik und den allgemeinen Umgangsformen ebenso eine Rolle wie in der Phi losophie. Bei den Umgangsformen ist der eine förmlich und der andere freizügig, in der Politik gibt es Autoritäre und Anarchis ten, in der Literatur Puristen und Realisten, in der Kunst Klas siker und Romantiker. Diese Gegensätze kommen Ihnen sicher bekannt vor. In der Philosophie haben wir einen sehr ähnli chen Gegensatz, der in den Bezeichnungen „Rationalist“ und „Empirist“ zum Ausdruck kommt : Als „Empiristen“ bezeich net man denjenigen, der Fakten in all ihrer rohen Vielfalt liebt, als „Rationalisten“ denjenigen, der sich abstrakten und ewigen Prinzipien unterwirft. Aber sowohl Fakten als auch Prinzipien sind zu jedem Zeitpunkt überlebensnotwendig, und deshalb ist der Unterschied eher eine Frage der Gewichtung. Trotzdem bestehen zwischen denen, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen, heftige Antipathien. Und es wird sich als außerordent lich hilfreich erweisen, bestimmte Gegensätze in menschlichen Weltauffassungen durch den Unterschied von „empiristischer“ und „rationalistischer“ Mentalität zu beschreiben, denn diese beiden Begriffe bringen die Gegensätze einfach und deutlich zum Ausdruck. Damit wird dieser Gegensatz freilich einfacher und eindeuti ger gefasst, als es die meisten Menschen sind, auf die diese Aus drücke angewendet werden. Denn die menschliche Natur lässt jede Art von Verbindung und Gewichtung zu. Wenn ich nun genauer definiere, was ich meine, wenn ich von „Rationalisten“ und „Empiristen“ spreche, indem ich jeder der beiden Bezeich nungen einige weitere sekundäre Eigenschaften zuordne, bitte ich Sie zu berücksichtigen, dass meine Vorgehensweise bis zu einem gewissen Grad willkürlich ist. Ich wähle Typenkombi nationen, wie sie sich in der Natur sehr häufig, aber niemals in genau dieser Weise finden lassen, und ich wähle sie nur deshalb, weil sie mir im Zusammenhang mit meiner weitergehenden Ab sicht, den Pragmatismus zu charakterisieren, hilfreich sind. In der Vergangenheit wurden die Begriffe Intellektualismus und Sensualismus als Synonyme für Rationalismus und Empirismus
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verwendet. Nun scheint die Natur mit dem Intellektualismus sehr häufig eine idealistische und optimistische Neigung zu ver binden. Andererseits sind Empiristen nicht selten materialis tisch orientiert und verfügen zwangsläufig nur über einen recht begrenzten und zaghaften Optimismus. Der Rationalismus ist immer monistisch. Er geht vom Ganzen aus, vom Universellen, und betont die Einheit der Dinge. Der Empirismus geht von den einzelnen Teilen aus und betrachtet das Ganze als eine Art Zusammenstellung – es spricht also nichts dagegen, ihn plura listisch zu nennen. Der Rationalismus gibt sich üblicherweise religiöser als der Empirismus – aber zu diesem Anspruch wäre viel mehr zu sagen, deshalb soll er an dieser Stelle nur erwähnt werden. Es hat schon seinen Grund, wenn so mancher Ratio nalist als Gefühlsmensch bezeichnet wird und sich so mancher Empirist der Nüchternheit rühmt. Der Rationalist tritt üblicher weise auch für das ein, was man „Willensfreiheit“ nennt, der Empirist ist eher Fatalist – um Ausdrücke zu verwenden, die zur Zeit sehr beliebt sind. Schließlich wird sich in den Über zeugungen des Rationalisten eine eher dogmatische Mentalität offenbaren, während der Empirist vermutlich skeptischer und offener für Diskussionen ist. Ich werde diese Eigenarten in zwei Spalten gegenüberstellen. Wenn ich die beiden Spalten mit den Oberbegriffen „empfind sam“ [ tender-minded ] und „robust“ [ tough-minded ] versehe, werden Sie, glaube ich, die beiden mentalen Typen wiederer kennen : DER EMPFINDSAME
DER ROBUSTE
Rationalistisch Empiristisch (lebt nach „Prinzipien“) (richtet sich nach „Tatsachen“) Intellektualistisch Sensualistisch Idealistisch Materialistisch Optimistisch Pessimistisch Religiös Nicht-religiös Anhänger der Willensfreiheit Fatalistisch Monistisch Pluralistisch Dogmatisch Skeptisch
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Stellen Sie bitte für den Moment die Frage zurück, ob die bei den Kombinationen, so wie ich sie hier skizziert habe, in sich kohärent und konsistent sind oder nicht – ich werde bald eine ganze Menge dazu sagen. Für den Augenblick genügt es fest zuhalten, dass es die von mir charakterisierten empfindsamen und robusten Menschen tatsächlich gibt. Jeder von Ihnen kennt vermutlich markante Beispiele der beschriebenen Typen, und Sie wissen auch, was diese vom jeweils entgegengesetzten Ty pus halten. Sie begegnen einander mit Geringschätzung. Diese Gegnerschaft hat zu allen Zeiten das philosophische Klima bestimmt, erst recht, wenn die jeweiligen Mentalitäten sehr ausgeprägt waren. Sie bestimmt es teilweise auch heute noch. Die Robusten meinen, die Empfindsamen seien sentimentale Schwächlinge. Die Empfindsamen dagegen betrachten die Ro busten als unkultiviert, gefühllos oder roh. Die Reaktionen auf den beiden Seiten sind in etwa mit denen vergleichbar, die sich beobachten lassen, wenn Bostoner Touristen sich unter die Be völkerung von Cripple Creek mischen. Beide halten die jeweils anderen für unter ihrer Würde, aber in dem einen Fall mischt sich der Hochmut mit Belustigung, im anderen mit einer Portion Angst. Wie ich bereits betont habe, gibt es unter uns Philosophen nur wenige zartbesaitete Bostoner im strikten Sinne, und nur wenige sind typische harte Naturburschen. Die meisten würden gerne in den Genuss der Vorteile von beiden Seiten kommen. Fakten sind gut, natürlich – also wollen wir jede Menge Fakten. Prinzipien sind gut – also wollen wir reichlich Prinzipien. Die Welt bildet zweifellos eine Einheit, wenn man sie in einer be stimmten Weise betrachtet, aber sie ist ebenso zweifellos eine Vielheit, wenn man sie auf eine andere Weise betrachtet. Sie ist beides, Einheit und Vielheit – deshalb sollten wir uns eine Art pluralistischen Monismus zu eigen machen. Sicher, alles ist not wendigerweise determiniert, trotzdem ist unser Wille auch frei : Eine Art deterministische Willensfreiheit ist die wahre Philoso phie. Das Böse einzelner Elemente ist nicht zu leugnen, aber das Ganze kann nicht böse sein : Also kann praktischer Pessimis mus mit metaphysischem Optimismus verbunden werden – und
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Erste Vorlesung
so weiter. Der gewöhnliche philosophische Laie ist nie radikal, er entwickelt nie ein in allen Einzelheiten vollständiges System. Vielmehr bewegt er sich den ständigen Herausforderungen ent sprechend mal in diesem, mal in jenem Teil seines Systems, je nachdem, welcher Teil ihm gerade angemessen erscheint. Aber einige von uns sind mehr als bloße Laien der Philoso phie. Wir verdienen eher die Bezeichnung Amateur, und wir är gern uns über die Widersprüche und Unbeständigkeiten in unse ren Überzeugungen. Aus intellektueller Sicht haben wir so lange kein ruhiges Gewissen, solange wir unvereinbare Auffassungen der beiden entgegengesetzten Seiten miteinander vermischen. Ich komme damit zu dem ersten Punkt von entscheidender Bedeutung. Niemals gab es so viele Menschen mit einer so ent schieden empiristischen Orientierung wie heute. Man möchte beinahe sagen, unsere Kinder kämen bereits als Wissenschaft ler zur Welt. Unsere Wertschätzung der Fakten hat uns aber nicht gegenüber jeglicher Religiosität immun werden lassen. Die Wertschätzung der Fakten ist selbst beinahe religiös, und unser Wissenschaftsverständnis hat religiöse Züge. Stellen Sie sich nun einen Menschen vor, der auch noch philosophischer Amateur ist und deshalb nicht gewillt, sich wie die gewöhnlichen Laien ein Mischmasch-System zurechtzulegen : Welche Situation fin det er vor in diesem gesegneten Jahr unseres Herrn 1906 ? Er verlangt nach Fakten. Er verlangt Wissenschaftlichkeit. Aber ebenso verlangt er nach einer religiösen Überzeugung. Da er aber nur Amateur ist und kein selbstständiger Denker, sucht er natürlich Rat bei Experten und professionellen Philosophen, die sich bereits auf diesem Gebiet betätigen. Viele von Ihnen, die hier anwesend sind, vielleicht die Mehrzahl, sind genau in diesem Sinn Amateure. Nun, welche Arten von Philosophie werden Ihnen tatsächlich angeboten ? Und entsprechen sie Ihren Bedürfnissen ? Man bie tet Ihnen eine empirische Philosophie, die nicht religiös genug, und eine religiöse Philosophie, die für Ihre Zwecke nicht empi risch genug ist. Schauen Sie sich diejenige Richtung an, für die die Tatsachen das Wichtigste sind, und Sie werden sehen, wie die Robusten ihr Programm abspulen und der „Streit zwischen
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Wissenschaft und Religion“ in vollem Gange ist. Entweder ist da so ein Naturbursche à la Haeckel mit seinem materialisti schen Monismus, seinem Gott aus Äther und seinen Witzen über Ihren Gott als „gasförmiges Wirbeltier“3 ; oder es ist Spen cer, der die Weltgeschichte ausschließlich als Umverteilung von Materie und Bewegung behandelt 4 und die Religion höflich zur Tür hinauskomplimentiert : Sie mag ja fortbestehen, darf aber ihr Gesicht niemals im Inneren des Heiligtums zeigen. Seit hundertfünfzig Jahren scheint der wissenschaftliche Fortschritt auf eine stetige Ausweitung der materiellen Welt und auf die Reduzierung der Bedeutung des Menschen hinaus zulaufen. Das Ergebnis kann man als Zunahme naturalistischer oder positivistischer Stimmungen bezeichnen : Der Mensch gibt der Natur keine Gesetze, er nimmt sie nur in Anspruch. Die Natur ist das Konstante, der Mensch hat sich anzupassen. Er muss die Wahrheit anerkennen, auch wenn sie unmenschlich ist, und hat sich ihr zu unterwerfen ! Romantische Spontaneität und Beherztheit sind nichts mehr wert ; die herrschende Sicht weise ist materialistisch und deprimierend. Ideale erscheinen als schlaffe Nebenprodukte der Physiologie. Das Höhere wird durch das Niedrigere erklärt und nur noch als etwas behandelt, das bloß in anderer Gestalt daherkommt : Das Höhere ist nur das Minderwertige in anderer Gestalt. Kurz, Sie haben es mit einem materialistischen Universum zu tun, in dem sich nur die Robusten wirklich zu Hause fühlen. Wenn Sie nun andererseits auf der religiösen Seite Trost suchen und Rat bei den empfindsamen Philosophien einholen wollen, was finden Sie dann ? In der englischsprachigen Welt bietet sich in unserer Gene ration die religiöse Philosophie in zwei Grundtypen dar. Der eine ist eher radikal und aggressiv, der andere vermittelt eher den Eindruck, als befände sich die religiöse Philosophie in ei nem schleichenden Rückzugsgefecht. Mit dem eher radikalen Flügel meine ich den sogenannten transzendentalen Idealismus der englischen Neuhegelianer, also die Philosophie solcher Männern wie Green, Edward und John Caird, Bosanquet und Royce. Diese Philosophie hat die beflisseneren Vertreter un
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Erste Vorlesung
seres protestantischen Klerus äußerst stark beeinflusst. Sie ist pantheistisch und hat zweifellos die Klinge des traditionellen protestantischen Theismus bereits stumpf werden lassen. Gleichwohl gibt es diesen Theismus weiterhin. Er ist – mit einer ganzen Reihe von Zugeständnissen – direkter Nachfolger des dogmatischen scholastischen Theismus, wie er bis heute in den Seminaren der katholischen Kirche mit aller Strenge gelehrt wird. Lange Zeit wurde er von uns als Philosophie der Schotti schen Schule bezeichnet. Diese Richtung war gemeint, als ich von der Philosophie sprach, die den Eindruck eines schleichen den Rückzugsgefechtes vermittelt. Zwischen den Übergriffen der Neuhegelianer und anderer Philosophen des „Absoluten“ auf der einen Seite und denen der Evolutionstheoretiker und Agnostiker auf der anderen müssen sich die Vertreter dieser Art von Philosophie – James Martineau, Professor Bowne, Pro fessor Ladd und andere – ziemlich eingezwängt fühlen. Diese Philosophie mag ja ehrlich und aufrichtig sein, aber sie besitzt keine radikale Kraft. Sie ist eklektisch, voller Kompromisse und sucht vor allen Dingen nach einem modus vivendi. Sie akzeptiert die Erkenntnisse des Darwinismus und der Neurophysiologie, aber es gelingt ihr nicht, diese Erkenntnisse in Handeln oder Begeisterung umzusetzen. Ihr fehlt die triumphierende und aggressive Note. Daher hat sie kein Prestige, wohingegen der Absolutismus dank seiner radikaleren Art durchaus über ein gewisses Prestige verfügt. Zwischen diesen beiden Systemen haben Sie sich also zu ent scheiden, wenn Sie sich dem Lager der Empfindsamen zuwen den. Und wenn Sie wirklich einen so ausgeprägten Hang zu den Tatsachen haben, wie ich es Ihnen unterstellt habe, dann wer den Sie auf dieser Seite überall die Spuren des Rationalismus und des Intellektualismus entdecken. Sie entkommen damit tatsächlich dem Materialismus, der zum herrschenden Empi rismus gehört, aber Sie bezahlen Ihr Entkommen damit, dass Sie den Kontakt zu den konkreten Dingen des Lebens verlieren. Die Philosophen des Absoluten leben in solchen Höhen der Ab straktion, dass sie gar nicht erst versuchen herunterzukommen. Der absolute Geist, den sie uns präsentieren, jener Geist also,
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der unser Universum erschafft, indem er es denkt, kann aber genauso gut Millionen anderer Universen erschaffen haben – es sei denn, sie beweisen uns das Gegenteil. Aus diesem Begriff eines absoluten Geistes kann man kein einziges konkretes De tail ableiten, denn er ist mit jedem Zustand vereinbar, was auch immer hier unten gelten mag. Die theistische Vorstellung von Gott ist ein beinahe ebenso unfruchtbares Prinzip. Sie müssen sich in die von diesem Gott erschaffene Welt hineinbegeben, um wenigstens eine vage Vorstellung von seinem tatsächlichen We sen zu gewinnen : Eine bestimmte Art Gott schafft für immer und ewig eine bestimmte Art Welt. Der Gott der theistischen Autoren lebt in ebenso abstrakten Höhen wie das Absolute. Die Philosophie des Absoluten verfügt zwar über einen gewissen Schwung und Elan, während der normale Theismus eher fade ist, aber beide sind gleichermaßen weltfremd und leer. Sie aber suchen eine Philosophie, die nicht nur Ihre Fähigkeit zur intel lektuellen Abstraktion trainiert, sondern auch positive Verbin dungen zu dieser konkreten Welt des endlichen, menschlichen Lebens herstellt. Sie suchen ein System, das beides miteinander verbindet : zum einen wissenschaftliche Redlichkeit gegenüber den Tatsa chen und die Bereitschaft, diese stets zu berücksichtigen, kurz gesagt also den Geist der Anpassung und Übereinstimmung ; zum anderen aber auch das altbewährte Vertrauen in mensch liche Werte und die hieraus resultierende Spontaneität, sei sie von der religiösen oder von der romantischen Art. Wenn Sie ein solches System suchen, stehen Sie vor folgendem Dilemma : Die beiden Aspekte des von Ihnen Gesuchten sind hoffnungslos voneinander getrennt. Sie werden erkennen, dass der Empiris mus mit Inhumanismus und Abkehr von der Religion verbunden ist ; oder aber Sie stoßen auf eine rationalistische Philosophie, die sich zwar religiös nennen kann, aber dafür jede wirkliche Berührung mit konkreten Tatsachen, Freuden und Sorgen aus schließt. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mit der Philosophie genügend vertraut sind, um völlig zu verstehen, was ich mit diesem letzten Vorwurf meine. Deshalb möchte ich noch etwas länger bei jener
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Erste Vorlesung
Wirklichkeitsferne aller rationalistischen Systeme verweilen, durch die sich derjenige, der ernsthaft an die Tatsachen glaubt, so schnell abgestoßen fühlt. Ich wünschte, ich hätte die ersten paar Seiten eines Aufsatzes aufbewahrt, den mir ein Student vor ein oder zwei Jahren gab. Sie illustrierten das, was ich sagen möchte, so klar, dass es mir leid tut, sie Ihnen jetzt nicht vorlesen zu können. Dieser junge Mann, Absolvent einer Schule im Westen, begann seinen Auf satz mit der Feststellung, er habe es immer für selbstverständlich gehalten, dass man, sobald man einen philosophischen Hörsaal betritt, Beziehungen zu einer völlig anderen Welt aufnehmen muss als jener, die man draußen auf der Straße hinter sich ge lassen hat. Diese beiden Welten, meinte er, hätten vermutlich so wenig miteinander zu tun, dass es unmöglich sei, sich mit beiden gleichzeitig zu beschäftigen. Die Welt der konkreten persönlichen Erfahrungen, zu denen die der Straße gehören, übersteige in ihrer Mannigfaltigkeit jede Vorstellungskraft : Sie sei verwirrend, trübe, beschwerlich und kompliziert. Die Welt, in die Sie Ihr Philosophieprofessor einführt, ist dagegen einfach, rein und edel. In ihr gibt es die Widersprüche des wirklichen Lebens nicht. Sie ist wie ein klassisches Bauwerk. Ihre Umrisse werden durch Prinzipien der Vernunft markiert ; logische Not wendigkeiten zementieren die Einzelteile. Sie ist vor allem Aus druck von Reinheit und Würde, wie ein Marmortempel, der auf einem Hügel erstrahlt. Tatsächlich ist dies aber alles andere als eine getreue Dar stellung der wirklichen Welt, sondern offensichtlich bloß etwas Hinzugefügtes, ein klassischer Tempel, in welchem sich das ra tionalistische Wunschdenken vor dem unerträglich verwirren den und barbarischen Wesen verstecken kann, das bloßen Tatsa chen nun einmal anhaftet. Eine solche Auffassung bietet keine Erklärung unserer konkreten Welt ; sie ist etwas völlig anderes, ein Ersatz, ein Heilmittel, eine Fluchtmöglichkeit. Die Mentalität, die in dieser Auffassung zum Ausdruck kommt – wenn ich an dieser Stelle das Wort Mentalität ver wenden darf –, ist eine völlig andere als die des wirklichen Lebens. Unsere intellektualistischen Philosophien sind durch
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Kultiviertheit gekennzeichnet. Sie befriedigen vorzüglich das Verlangen nach einem kultivierten Objekt der Kontemplation – ein wirklich mächtiges Bedürfnis des Geistes. Ich bitte Sie aber ernsthaft, sich einmal in dem riesigen Universum konkreter Tatsachen umzuschauen, die schrecklichen Verwirrungen, die Überraschungen und Grausamkeiten, die Wildheit, mit denen Sie diese Tatsachen konfrontieren – und dann sagen Sie mir, ob Ihnen zwangsläufig, sofort und als einzige Beschreibung dazu das Adjektiv „kultiviert“ einfällt. Es ist ja wahr, dass das Kultivierte seine Berechtigung hat. Aber eine Philosophie, die nichts als Kultiviertheit verbreitet, wird niemals die empirische Neigung des Geistes befriedigen können. Sie erscheint eher als ein Monument des Artifiziellen. Daher kommt es, dass viele Wissenschaftler die Metaphysik als völlig weltfremd und gespenstisch ansehen und es vorziehen, ihr den Rücken zuzukehren, und mancher praktisch veranlagte Mensch sich den Staub der Philosophie von den Schuhen klopft und dem Ruf der Wildnis folgt. Ganz im Ernst, es liegt etwas Gespenstisches in der Art, wie ein reines, aber unwirkliches System den Geist eines Rationa listen ausfüllen kann. Leibniz war ein rationalistischer Kopf mit unendlich mehr Interesse an den Tatsachen, als die meisten ra tionalistischen Köpfe vorweisen können. Und doch, wenn Sie die Inkarnation der Oberflächlichkeit sehen wollen, brauchen Sie nur seine entzückend geschriebene Theodizee zu lesen, in der er die Wege Gottes dem Menschen gegenüber zu rechtferti gen sucht und beweisen möchte, dass die Welt, in der wir leben, die beste aller möglichen Welten sei. Ich möchte Ihnen hierfür ein Beispiel geben. Leibniz muss sich neben anderen Schwierigkeiten, mit denen sich seine optimistische Philosophie konfrontiert sieht, mit der Zahl der ewig Verdammten beschäftigen. Dass deren Anzahl bezogen auf uns Menschen unendlich viel größer ist als die der Erretteten, übernimmt er als Prämisse von den Theologen und knüpft daran seine Argumentation. Aber selbst dann sagt er : „Indem wir daher an der bestehenden Lehre festhalten, daß die Zahl der ewig Verdammten unvergleichlich größer sein wird
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als die der Erretteten, müssen wir behaupten, daß das Übel dessenungeachtet im Vergleich zu dem Guten beinahe wie ein Nichts erscheinen wird, wenn man die wahre Größe des Gottes staates bedenkt. Coelius Secundus Curio hat ein kleines Buch De amplitudine regni coelestis geschrieben, das vor nicht langer Zeit von neuem gedruckt worden ist : aber es fehlt viel, daß er die ganze Ausdehnung des himmlischen Reiches erfaßt hätte. Die Alten hatten nur schwache Vorstellungen von den Werken Gottes … Die Alten hielten nur unsere Erde für bewohnt und fürchteten sich dabei sogar noch vor den Antipoden ; die üb rige Welt bestand nach ihrer Meinung aus einigen leuchtenden Bällen und kristallinen Sphären. Heute aber muss man, welche Grenzen man auch dem All setzt oder nicht setzt, anerkennen, daß es eine Unzahl von Erdbällen gibt, die ebenso groß oder noch größer sind als unser Erdball und ebenso viel Anrecht auf vernünftige Bewohner haben wie dieser, wenn es auch keine Menschen zu sein brauchen. Die Erde ist nur ein Planet, d. h. einer der sechs Haupt-Satelliten unserer Sonne, und da alle Fixsterne ebenfalls Sonnen sind, so sieht man, wie geringfügig unsere Erde im Verhältnis zu den sichtbaren Dingen ist, da sie ja nur ein Anhängsel einer dieser Sonnen ist. Möglicherweise sind alle diese Sonnen ausschließlich von glücklichen Geschöp fen bewohnt, und nichts zwingt uns zu der Annahme, daß es viele Verdammte dort gebe, denn wenige Beispiele oder Muster genügen für den Nutzen, den das Gute aus dem Übel zieht. Da außerdem kein Grund für die Meinung vorhanden ist, daß es überall Sterne gebe, ist es da nicht möglich, daß es jenseits der Stern-Region einen weiten Raum gebe ? … immerhin kann doch dieser ungeheure Raum, der die ganze Stern-Region umgibt, mit Glück und Seligkeit angefüllt sein … Was bedeutet dagegen unser Erdball und seine Bewohner ? Ist er nicht etwas unver gleichlich Geringeres als ein physischer Punkt, da unsere Erde im Vergleich zur Entfernung einiger Fixsterne nur ein Punkt ist ? Da sich also der uns bekannte Teil des Universums im Ver gleich zu dem, den wir nicht kennen und trotzdem als vorhanden annehmen dürfen, beinahe in das Nichts verliert und da alle die Übel, die man uns nicht als Einwand entgegenhalten kann, sich
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nur in diesem Beinahe-Nichts befinden, so ist es möglich, daß auch alle die Übel nur ein Beinahe-Nichts sind im Vergleich zu den Gütern, die im Universum vorhanden sind.“5 Leibniz fährt an anderer Stelle fort : „Es gibt indessen eine Art von Gerechtigkeit und von Strafen und Belohnungen, die auf jene, die aus unbedingter Notwendig keit handelten, falls eine solche bestände, nicht recht anwendbar scheint. Das ist jene Art von Gerechtigkeit, die weder die Besse rung noch das Exempel, noch die Wiedergutmachung des Übels zum Ziel hat. Diese Gerechtigkeit beruht nur auf der Angemes senheit, die eine gewisse Genugtuung als Sühne für eine böse Tat fordert. Die Socinianer, Hobbes und einige andere lassen diese strafende Gerechtigkeit, die eigentlich eine rächende ist und die Gott in sehr vielen Fällen sich selbst vorbehalten hat, nicht gelten ; … sie beruht jedoch stets auf einem Verhältnis der Angemessenheit, das nicht nur den Beleidigten zufriedenstellt, sondern auch die Wissenden, die sie erkennen, ebenso wie eine schöne Melodie oder ein schönes Bauwerk die Schöngeister befriedigt … Aus diesem Grunde dauern die Strafen der Ver dammten fort, selbst wenn sie nicht mehr zur Abschreckung vom Bösen dienen, und deshalb dauern auch die Belohnungen der Seligen fort, selbst wenn sie nicht mehr zum Festhalten am Guten dienen. Man darf jedoch behaupten, daß die Verdamm ten sich immer neue Leiden durch neue Sünden zuziehen und die Seligen sich immer neue Freuden durch neue Fortschritte im Guten gewinnen, da beides auf dem Prinzip der Angemessenheit beruht, dementsprechend die Dinge so eingerichtet worden sind, daß die böse Tat eine Züchtigung zur Folge haben muß … Denn schließlich ist alles, was Gott tut, vollkommen harmo nisch, wie ich bereits gesagt habe.“6 Wie kläglich Leibniz die Realität erfasst, ist zu offensichtlich, als dass es meines Kommentars bedürfte. Es ist evident, dass er vor seinem geistigen Auge nie ein realistisches Bild von den Erfahrungen einer verdammten Seele hatte. Darüber hinaus ist ihm jedoch auch Folgendes nie aufgefallen : Je weniger „Fälle“ der Gattung „verlorene Seele“ Gott zur Genugtuung der ewigen Angemessenheit hinwirft, desto ungerechter ist die Herrlich
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keit der Seligen begründet. Was er uns anbietet, ist ein kaltes Rechenexempel, dessen heiterer Inhalt nicht einmal von einem Höllenfeuer erwärmt würde. Und sagen Sie nicht, dass ich in das seichte Zeitalter der Pe rücken habe zurückgehen müssen, um Ihnen die Oberflächlich keit rationalistischen Philosophierens zu demonstrieren. Der Optimismus des heutigen Rationalismus wirkt auf den an Tat sachen orientierten Geist nicht weniger oberflächlich. Die wirk liche Welt ist vollkommen offen. Der Rationalismus aber schafft Systeme, und Systeme müssen geschlossen sein. Für Menschen, die im praktischen Leben stehen, ist Vollkommenheit etwas weit Entferntes, etwas das immer erst noch erreicht werden muss. Für den Rationalismus ist dies nur die Illusion des Endlichen und Relativen : Der absolute Grund der Dinge ist eine für alle Ewigkeit vollendete Vollkommenheit. Ein schönes Beispiel der Auflehnung gegen den windigen und oberflächlichen Optimismus der gängigen religiösen Phi losophie findet sich in einer Publikation des mutigen anarchis tischen Schriftstellers Morrison I. Swift. Swift geht in seinem Anarchismus etwas weiter als ich, aber ich gebe zu, dass ich zu einem guten Teil mit seiner Unzufriedenheit mit dem idealisti schen Optimismus sympathisiere, der augenblicklich so in Mode ist. Ich weiß, dass einige unter Ihnen diese Sympathie von Her zen teilen. Er beginnt seine Streitschrift Human Submission mit einer Reihe von Lokalreportagen aus Zeitungen (Selbstmord, Hungertod und Ähnliches), die als Beispiele für unsere zivili sierte Gesellschaft dienen ; wie etwa : „,Der Angestellte John Corcoran, der sich von einem Ende der Stadt zum anderen durch den Schnee gekämpft hatte, in der vergeblichen Hoffnung auf einen Arbeitsplatz, und dessen Frau und sechs Kinder nichts zu essen hatten und obendrein gezwungen waren, aus ihrer Wohnung auszuziehen, da sie die Miete nicht mehr zahlen konnten, setzte heute seinem Leben ein Ende, indem er Karbolsäure trank. Corcoran hatte seine Arbeitsstelle vor drei Wochen wegen Krankheit verloren und in der Zeit der Arbeitslosigkeit seine geringen Ersparnisse auf gebraucht. Gestern gelang es ihm, Arbeit bei der städtischen
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Schneeräumung zu bekommen, aber er war durch Krankheit so sehr geschwächt, dass er bereits nach einer Stunde aufgeben musste. Dann begann wieder die ermüdende Suche nach einem Arbeitsplatz. Völlig entmutigt kehrte Corcoran spät am gestri gen Abend nach Hause zurück, nur um dort Frau und Kinder ohne Essen zu finden, dazu die Kündigung an der Tür.‘ Am nächsten Morgen trank er das Gift.“ „Mir liegen Berichte über viele solcher Fälle vor“, fährt Swift fort. „Damit könnte man leicht eine ganze Enzyklopädie füllen. Die wenigen Fälle, die ich anführe, stellen für mich eine In terpretation des Universums dar. ,Wir sind uns der Gegenwart Gottes in seiner Welt bewusst‘, sagt ein Schriftsteller in einer kürzlich erschienenen englischen Zeitschrift. [ „ Die faktische Präsenz des Bösen in der zeitlichen Ordnung ist Voraussetzung für die Perfektion der ewigen Ordnung“, schreibt Professor Royce (The World and the Indiyidual, II, 385). ] ,Das Absolute wird durch jede Dissonanz und durch alle Vielfältigkeit, die es umschließt, großartiger‘, sagt F. H. Bradley (Appearance and Reality, 204). Er meint, dass diese hingeschlachteten Menschen das Universum großartiger machen, und das ist Philosophie. Aber während die Professoren Royce und Bradley und eine ganze Menge argloser Meisterdenker die Realität und das Ab solute enthüllen und das Böse und das Leid wegerklären, sind dies die Lebensbedingungen des einzigen uns bekannten We sens, das ein entwickeltes Bewusstsein von der Bedeutung die ser Welt hat. Was diese Menschen an sich erfahren, ist Realität. Es zeigt uns eine absolute Entwicklungsstufe der Welt. Es ist die persönliche Erfahrung derjenigen, die in unserem Kreis des Wissens am besten qualifiziert sind, Erfahrungen zu haben und uns zu sagen, was wirklich ist. Wohin führt aber das Nachdenken über die Erfahrungen jener Personen, verglichen mit ihrem unmittelbaren und persönlichen Fühlen ? Philosophen bewe gen sich unter Schatten, aber diejenigen, die wirklich leben und fühlen, kennen die Wahrheit. Der Geist der Menschheit, wenn auch noch nicht der Geist der Philosophen und der besitzenden Klasse, wohl aber der Geist der Masse der schweigend denken den und fühlenden Menschen, gelangt zunehmend zu dieser Be
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trachtungsweise : Sie beurteilen das Universum so, wie sie bisher den großen Heiligen der Religion und des Wissens erlaubten, über sie zu urteilen … Dieser Arbeiter aus Cleveland, der sich und seine Kinder tötete [ ein weiterer der zitierten Fälle ], stellt eine der elemen taren phantastischen Tatsachen dieser modernen Welt und die ses Universums dar. Man kann sie nicht übersehen oder ver niedlichen durch all die Abhandlungen über Gott, Liebe und Sein – hilflose Existenzen in ihrer monumentalen Leere. Das ist eines der einfachen, nicht reduzierbaren Elemente dieser Welt, nach Millionen von Jahren voller göttlicher Möglichkeiten und nach zweitausend Jahren Christentum. Es ist in der geistigen Welt das, was Atome oder Teile von Atomen in der Physik sind : primär, unzerstörbar. Und was der Menschheit dadurch gezeigt wird, ist die … Hochstapelei aller Philosophie, die in solchen Ereignissen nicht den unübertrefflichen Faktor aller bewuss ten Erfahrungen sieht. Diese Fakten bezeugen unwiderlegbar, dass Religion ein Nichts ist. Der Mensch wird der Religion nicht weitere zweitausend Jahrhunderte oder auch nur zwanzig Jahrhunderte geben, sich zu beweisen und seine Lebenszeit zu verschwenden. Ihre Zeit ist abgelaufen. Ihre eigenen Resultate besiegeln ihr Ende. Die Menschheit hat keine Äonen und Ewig keiten zu verschwenden, um unglaubwürdige Systeme auszu probieren …“ * So reagiert ein empiristischer Kopf auf das rationalistische Angebot. Es ist ein absolutes „Nein danke !“. „Religion“, sagt Morrison Swift, „ist wie ein Schlafwandler, der die wirklichen Dinge nicht sieht.“ Und so, wenn auch möglicherweise weniger gefühlsbeladen, ist heutzutage das Urteil jedes ernsthaft fra genden Amateurphilosophen, der sich an die Philosophiepro fessoren wendet und von ihnen das Notwendigste erwartet, um die Reichhaltigkeit seiner Bedürfnisse befriedigen zu können. Empirisch orientierte Autoren bieten ihm den Materialismus, Rationalisten geben ihm etwas Religiöses, aber diese Religion Morrison I. Swift : Human Submission. Zweiter Teil. Philadelphia 1905, S. 4–10. *
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„sieht die wirklichen Dinge nicht“. So wird er zum Richter über uns Philosophen. Gleichgültig ob empfindsam oder robust : Er beurteilt uns als mangelhaft. Keiner von uns wird seine Urteile verächtlich behandeln, denn letztlich stellt er den typischen vollkommenen Geist dar, jenen Geist, dessen Bedürfnisse die größten sind und dessen Kritik und Unzufriedenheit auf Dauer fatal sind. Hier beginnen meine eigenen Schlussfolgerungen. Ich biete Ihnen dieses Ding mit dem kuriosen Namen Pragmatismus als eine Philosophie an, die beide Arten von Forderungen befrie digen kann. Diese Philosophie kann religiös sein wie der Ra tionalismus, aber zugleich kann sie, wie der Empirismus, auch nahe an den Tatsachen bleiben. Ich hoffe, dass es mir gelingt, viele von Ihnen mit einer ebenso hohen Meinung hierüber aus dieser Vorlesungsreihe zu entlassen, wie ich sie selbst habe. Da nun aber das Ende der Stunde fast erreicht ist, will ich den Pragmatismus selbst noch nicht vorstellen. Damit will ich auf den Glockenschlag genau beim nächsten Mal beginnen. Jetzt möchte ich lieber ein wenig zu dem zurückkehren, was ich be reits gesagt habe. Sollten einige von Ihnen Philosophie professionell betrei ben – und ich weiß, dass einige von Ihnen dies tun –, so werden Sie ohne Zweifel denken, dass meine bisherigen Ausführungen auf eine unverzeihliche, oder besser : auf eine nachgerade un fassbare Weise grob waren. Empfindsame und Robuste – welch eine barbarische Unterscheidung ! Und, ganz allgemein, wenn Philosophie aus feinen Intellektualismen und Subtilitäten und Skrupeln besteht und wenn in ihrem Bereich jede Kombination und jeder Übergang möglich ist – welch eine brutale Karikatur und Reduktion der höchsten Dinge auf die niedrigsten Aus drucksformen bedeutet es dann, philosophische Auseinander setzungen als eine Art Boxkampf zweier feindlicher Mentalitä ten darzustellen ! Was für eine kindische, fachfremde Sicht ! Und mehr noch : Wie dumm ist es doch, das Abstrakte der rationalis tischen Systeme als ein Verbrechen zu behandeln und sie dafür zu verdammen, da sie sich eher als Zufluchtstätte und Refugium anbieten denn als Fortführung der Welt der Tatsachen ! Sind
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nicht all unsere Theorien nur Heilmittel und Refugien ? Wenn Philosophie religiös sein soll – was kann sie dann anderes sein als ein Refugium, um der Grobheit der äußerlichen Realitäten zu entkommen ? Was kann sie denn Besseres tun, als uns aus dem Animalischen herauszuheben und uns ein anderes und no bleres Heim für unsere Gedanken auf dem großen Feld idealer Prinzipien zu zeigen, die, wie der Verstand erahnt, aller Reali tät zu Grunde liegen ? Wie können Prinzipien und allgemeine Ansichten jemals etwas anderes sein als abstrakte Entwürfe ? Wurde der Kölner Dom etwa ohne den Bauplan eines Architek ten gebaut ? Ist Kultivieren an sich abscheulich ? Ist die konkrete Unverschämtheit das Einzige, was wahr ist ? Glauben Sie mir, ich fühle die ganze Macht der Anklage. Das Bild, das ich gemalt habe, ist tatsächlich ungeheuer simpel und unverschämt. Aber es wird sich als nützlich erweisen – wie alle Abstraktionen. Wenn Philosophen das Leben des Univer sums abstrakt behandeln können, dürfen sie sich selbst nicht über eine abstrakte Behandlung des Lebens der Philosophie beklagen. Tatsächlich ist das Bild, das ich gemalt habe, wenn auch grob und skizzenhaft, in Wahrheit richtig. Mentalitäten und die mit ihnen verbundenen Sehnsüchte und Verweigerun gen bestimmen das philosophische Denken der Menschen, und so wird es immer sein. Einzelheiten der Systeme können Stück für Stück begründet werden, und wenn ein Student an einem System arbeitet, so kann es sein, dass er oft den Wald vor lau ter Bäumen nicht sieht. Aber wenn die Arbeit abgeschlossen ist, wird der Verstand immer nach dem umfassenden Resümee suchen, und das System steht dann vor einem wie ein lebendes Ding mit dieser seltsam einfachen Note der Individualität, die sich in unserer Erinnerung festsetzt, gerade so wie der Geist eines gestorbenen Freundes oder Feindes. Nicht nur Walt Whitman konnte schreiben : „Wer dieses Buch berührt, berührt einen Menschen.“7 Die Bücher aller großen Philosophen sind wie Menschen. Unser Gespür für die typische, aber unbeschreibbare persönliche Note eines jeden von ihnen ist der schönste Ertrag einer abgeschlossenen philosophischen Ausbildung. Alle Systeme wollen ein Abbild des großen göttli
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chen Universums sein. Was sie aber tatsächlich sind – und das ist offensichtlich ! –, ist eine Offenbarung dessen, wie ungeheuer kurios der Geschmack manch unserer Mitmenschen ist. Einmal auf diese Termini reduziert (und all unsere Philosophien wer den von unserem Geist, der durch Lernen zur Kritik erzogen wurde, darauf reduziert), vollzieht sich unser Umgang mit den Systemen nur mehr informell, d. h., er beschränkt sich auf die instinktiven menschlichen Reaktionen des Zufriedenseins oder der Abneigung. Wir werden so bestimmt in unserer Ablehnung oder Zustimmung wie im Falle eines Menschen, der um unser Wohlwollen wirbt ; unsere Urteile werden in einfache Ausdrü cke des Lobes oder Tadels gefasst. Wir beurteilen die Gesamt verfassung des Universums mithilfe unseres Gefühls und ver gleichen dies mit dem Aroma der uns angebotenen Philosophie ; und ein Wort genügt. „Statt der lebendigen Natur“, sagen wir, „da Gott die Men schen schuf hinein“8 – dieses nebulöse Gebräu, dieses hölzerne, zusammengeschnürte Ding, diese verdorbene Künstlichkeit, dieses muffige Produkt der Studierstuben, dieser Traum eines Kranken ! Weg damit. Fort mit ihnen allen ! Unmöglich ! Un möglich ! Zu einem abschließenden Eindruck über einen Philosophen gelangt man in der Tat durch die Beschäftigung mit den De tails seines Systems. Wir selbst aber reagieren nur auf diesen abschließenden Eindruck. Expertentum wird in der Philosophie anhand der Eindeutigkeit unserer summarischen Reaktionen gemessen, durch das unmittelbar einleuchtende Attribut, mit dem der Experte solche komplexen Gegenstände in prägnan ter Weise darstellt. Aber dazu, dass das Attribut sich einstellt, ist kein großes Expertentum notwendig. Nur wenige Menschen haben eine eigene, explizit artikulierte Philosophie. Aber fast jeder hat einen eigenen, speziellen Sinn für die Gesamtverfas sung der Welt sowie für die Unmöglichkeit, diese völlig an die ihm bekannten, speziellen Systeme anzupassen. Sie decken seine Welt nicht einfach ab. Das eine ist vielleicht zu geschnie gelt, ein anderes zu pedantisch, ein drittes eine bloße Ansamm lung von Meinungen, ein viertes zu morbide und ein fünftes zu
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künstlich – und was immer sonst noch. Jedenfalls wissen er und wir sehr wohl, dass solche Philosophien nicht im Lot sind, ohne Lösung oder aus dem ‚Takt‘, und kein Recht haben, im Namen des Universums zu sprechen. Plato, Locke, Spinoza, Mill, Caird, Hegel – ich vermeide wohlweislich Namen, die sich in unserer Nähe befinden ! – ich bin sicher, dass für viele von Ihnen, meine Zuhörer, diese Namen nur wenig mehr als Erinnerungen daran sind, wie viele seltsame Wege es gibt, etwas nicht zu erreichen. Es wäre ganz offensichtlich absurd zu glauben, dass diese Wei sen, die Welt zu verstehen, die tatsächlich richtigen wären. Wir Philosophen müssen mit solchen Gefühlen Ihrerseits rechnen. Schließlich, ich wiederhole mich, werden all unsere Philosophien letztlich auf diese Weise beurteilt. Die überzeu gende Sichtweise wird am Ende diejenige sein, die den umfas sendsten Eindruck bei normal denkenden Menschen hinterlässt. Noch eine weitere Bemerkung – nämlich darüber, dass Phi losophien notwendigerweise abstrakte Entwürfe sind. Es gibt solche und solche Entwürfe : Entwürfe von Häusern, die plastisch, d. h. vom Planer als dreidimensionales Modell konzipiert sind, und Entwürfe von Gebäuden, die mithilfe von Lineal und Zirkel flach auf dem Papier angelegt sind. Diese bleiben dünn und ausgemergelt, auch wenn sie mit Stein und Mörtel aufge richtet werden. Die Entwürfe weisen bereits auf das Ergebnis. Es ist wahr, ein Entwurf an sich ist dünn, aber er muss nicht notwendigerweise auf eine ebenso spärliche Sache hinweisen. Die essenzielle Spärlichkeit dessen, was von den üblichen ratio nalistischen Philosophien vorgeschlagen wird, ist es, was Empi risten zur abwehrenden Geste bewegt. Das Beispiel des Systems von Herbert Spencer verdeutlicht dies. Rationalisten bemerken seine ängstliche Auflistung von Unzulänglichkeiten, seine tro ckene, schulmeisterliche Mentalität, seine leiernde Monotonie, seine Vorliebe für billige argumentative Notbehelfe, das Fehlen von Bildung sogar in Bezug auf Prinzipien der Mechanik und generell das Verschwommene all seiner fundamentalen Ideen. Sein ganzes System ist hölzern und wie aus rissigen Tannen holzbrettern eilig zusammengeflickt – und doch möchte halb England ihn in der Westminster Abbey beisetzen.
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Warum ? Warum ruft Spencer so viel Verehrung hervor, trotz seiner Schwäche (aus rationalistischer Sicht) ? Warum wollen so viele gebildete Menschen, die diese Schwäche sehen, Sie und ich vielleicht, ihn trotz allem in der Westminster Abbey beisetzen ? Einfach deshalb, weil wir fühlen, dass – philosophisch gese hen – sein Herz am rechten Fleck ist. Seine Prinzipien mögen ja nur aus Haut und Knochen bestehen ; seine Bücher versuchen sich jedenfalls an der spezifischen Gestalt dieses spezifischen Weltgefüges zu orientieren. Der Lärm der Fakten rauscht durch alle Kapitel, das Zitieren von Tatsachen endet nie ; er legt den Schwerpunkt auf die Tatsachen, er orientiert sich an ihnen, und das ist genug. Das ist die richtige Art und Weise für einen erfah rungsbezogenen Verstand. Die pragmatistische Philosophie, über die ich in meiner nächs ten Vorlesung zu sprechen beginnen möchte, unterhält ebenso aufrichtige Beziehungen zu den Tatsachen, aber anders als in Spencers Philosophie ist es weder ihr Ausgangspunkt noch ihr Ziel, positive religiöse Konstruktionen zur Türe hinauszukom plimentieren – sie behandelt auch diese aufrichtig. Ich hoffe, ich werde Sie dazu bringen, den Pragmatismus als genau den vermittelnden Weg des Denkens zu sehen, nach dem Sie verlangen.
Zweite Vorlesung WAS HEISST PRAGMATISMUS ?
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or einigen Jahren unternahm ich mit mehreren Leuten eine längere Bergtour. Als ich einmal von einer einsamen Wanderung zurückkehrte, fand ich die anderen in einen hef tigen philosophischen Streit verwickelt. Der Gegenstand der Auseinandersetzung war ein Eichhörnchen. Man stellte sich nun vor, dass es sich auf der einen Seite eines Baumstammes festklammert, während auf der entgegengesetzten Seite des Baumes eine Person steht. Dieser Beobachter versucht nun das Eichhörnchen zu Gesicht zu bekommen, indem er sich schnell um den Baum herumbewegt. Aber so schnell er auch laufen mag, das Eichhörnchen bewegt sich ebenso schnell in jeweils entgegengesetzter Richtung und hat immer den Baum zwi schen sich und dem Menschen, sodass er es mit keinem noch so flüchtigen Blick erhaschen kann. Das hieraus resultierende philosophische Problem ist nun folgendes : Geht der Mensch um das Eichhörnchen herum oder nicht ? Sicher ist, dass er um den Baum herumgeht und dass das Eichhörnchen an diesem Baum sitzt. Aber geht er auch um das Eichhörnchen herum ? In der unbegrenzten Muße der Wildnis hatten sich die Argumente er schöpft. Es hatten sich zwei gleich große Parteien gebildet, die hartnäckig an ihren Positionen festhielten. Als ich hinzukam, versuchten deshalb beide Seiten, mich für sich zu gewinnen, damit ich einer der beiden zur Mehrheit verhelfe. Ich erinnerte mich an die scholastische Regel, wonach man immer dann, wenn man auf einen Widerspruch stößt, eine Unterscheidung treffen soll. Ich suchte also nach einer solchen Unterscheidung und fand folgende : „Welche Partei recht hat“, sagte ich, „hängt davon ab, was Sie mit der Formulierung ,um das Eichhörnchen gehen‘ in praktischer Hinsicht meinen. Wenn damit gemeint ist, dass die Person erst nördlich vom Eichhörnchen, dann östlich, dann im Süden und Westen und schließlich wieder nördlich von ihm vorbeigeht, dann geht sie ganz offensichtlich um das
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Zweite Vorlesung
Eichhörnchen herum, weil sie ja nacheinander diese Positio nen einnimmt. Wenn aber im Gegenteil damit gemeint ist, dass der Mensch erst vor dem Eichhörnchen steht, dann auf dessen rechter Seite, dann hinter ihm, dann auf dessen linker Seite und schließlich wieder vor ihm, dann ist es ganz offensicht lich so, dass er nicht um das Eichhörnchen herumgegangen ist. Denn aufgrund der gegenläufigen Bewegungen des Eichhörn chens dreht ihm dieses die ganze Zeit den Bauch zu, und der Rücken bleibt abgewandt. Treffen Sie diese Unterscheidung, und es gibt keinen Grund, noch länger zu streiten. Sie haben beide recht und sie haben beide unrecht, je nachdem, wie Sie den Ausdruck ,drumherumgehen‘ in praktischer Hinsicht verstehen.“ Ein oder zwei der hitzigeren Diskutanten bezeichneten meine Darlegungen als billige Ausflucht. Sie sagten, es ginge nicht um spitzfindige scholastische Haarspaltereien, sondern um den einfachen, ehrlichen Wortsinn von „drumherum“. Aber die Mehrheit schien doch der Meinung zu sein, dass durch diese Unterscheidung die Auseinandersetzung beigelegt sei. Ich erzähle diese triviale Anekdote, weil sie ein verblüffend einfaches Beispiel für das ist, was ich Ihnen nun als die pragmatische Methode vorstellen möchte. Die pragmatische Methode dient in erster Linie dazu, philosophische Auseinandersetzun gen beizulegen, die sonst endlos wären. Ist die Welt eine Einheit oder eine Vielheit ? Vom Schicksal bestimmt oder frei ? Materi ell oder spirituell ? Mit den Antworten auf solche Fragen werden Urteile ausgesprochen, die jeweils auf die Welt zutreffen mögen oder nicht, und die Diskussionen über solche Urteile sind end los. In solchen Fällen besteht die pragmatische Methode darin, jedes Urteil in Hinblick auf seine jeweiligen praktischen Fol gen zu untersuchen. Welchen Unterschied würde es für irgend jemanden in praktischer Hinsicht bedeuten, wenn eher dieses als jenes Urteil zutreffen würde ? Wenn kein praktischer Un terschied herausgefunden werden kann, bezeichnen die Alter nativen in praktischer Hinsicht dieselbe Sache, und jeder Streit ist müßig. Es handelt sich nur dann um eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung, wenn wir in der Lage sind, irgendeinen
Was heißt Pragmatismus ?
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praktischen Unterschied aufzuzeigen, der daraus folgt, dass die eine oder die andere Seite recht hat. Ein kurzer Blick in die Geschichte dieser Idee wird Ihnen besser veranschaulichen, was Pragmatismus bedeutet. Der Begriff ist von dem griechischen Wort πρᾶγμα abgeleitet, das Handlung bedeutet und vom dem unsere Begriffe „Praxis“ und „praktisch“ stammen. Er wurde erstmals 1878 von Charles Sanders Peirce in die Philosophie eingeführt. In einem Auf satz mit dem Titel „How to Make Our Ideas Clear“1 für das Popular Science Monthly im Januar jenes Jahres* wies Peirce darauf hin, dass unsere Überzeugungen eigentlich Regeln für unser Handeln sind. Um die Bedeutung eines Gedankens he rauszufinden, müssten wir also nur bestimmen, welches Ver halten hervorzubringen er in der Lage ist : Dieses Verhalten ist für uns die einzige Bedeutung des Gedankens. Im Kern all unserer begrifflichen Unterscheidungen steht eine konkrete Tatsache : Wie subtil diese Unterscheidungen auch immer sein mögen, keine ist so raffiniert, dass sie in etwas anderem bestünde als in einem möglichen Unterschied in der Praxis. Um also in unseren Gedanken wirkliche Klarheit über einen Gegenstand zu schaffen, müssen wir nur überlegen, welche denkbaren praktischen Wirkungen der Gegenstand mit sich bringt – welche Sinneseindrücke wir von ihm zu erwarten ha ben und wie wir darauf reagieren müssen. Unsere Vorstellung von diesen Wirkungen, seien sie unmittelbar oder mittelbar, bildet dann das Ganze unserer Vorstellung des Gegenstands, wenn wir dieser Vorstellung überhaupt Bedeutung verleihen können. Dies ist das Prinzip von Peirce, das Prinzip des Pragmatis mus. Zwanzig Jahre lang blieb es gänzlich unbeachtet, bis ich es in einem Vortrag vor Professor Howisons philosophischer Ver einigung an der Universität von Kalifornien wieder aufgriff und speziell auf die Religion anwandte.2 Von da an, also etwa seit 1898, schien die Zeit für seine Aufnahme reif zu sein. Der Aus druck „Pragmatismus“ kam in Mode, und gegenwärtig macht er *
Übersetzt für die Revue Philosophique, Januar 1879 (Bd. 7).
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sich auf den Seiten der philosophischen Zeitschriften ziemlich breit. Überall wird von der „pragmatischen Bewegung“ gespro chen – manchmal mit Respekt, manchmal mit Geringschätzung, aber selten mit klarem Verständnis. Es ist offensichtlich, dass der Begriff recht gut zu einer ganzen Reihe philosophischer Strömungen passt, die sich bisher nicht unter einer gemeinsa men Bezeichnung zusammenfassen ließen. Der Begriff „Prag matismus“ hat sich offensichtlich etabliert. Um die Bedeutung des peirceschen Prinzips zu begreifen, muss man sich angewöhnen, es auf konkrete Fälle anzuwenden. Ich entdeckte vor einigen Jahren, dass Ostwald, der glänzende Leipziger Chemiker, in seinen Vorlesungen das Prinzip des Pragmatismus genau in diesem Sinne gebraucht hat, auch wenn er den Begriff selbst nicht verwendete. „Alle Realitäten beeinflussen unser Handeln“, schrieb er mir, „und dieser Einfluss ist ihre Bedeutung für uns. Gewöhn lich stelle ich meinen Studenten Fragen wie diese : Inwiefern würde sich die Welt ändern, wenn diese oder jene Alterna tive wahr wäre ? Wenn ich nichts finden kann, das sich ändern würde, dann macht die Alternative keinen Sinn.“ Das heißt, die konkurrierenden Ansichten bedeuten prak tisch gesehen dasselbe, und Bedeutungen ohne praktische Relevanz existieren für uns nicht. In einer später publizierten Vorlesung gibt Ostwald folgendes Beispiel für das, was er meint. Lange Zeit haben Chemiker über die Konstitution sogenann ter tautomerer Stoffe gestritten. Deren Eigenschaften schie nen sowohl mit der Vorstellung konsistent, dass ein instabiles Wasserstoffatom darin oszilliert, als auch, dass es instabile Mischungen zweier Körper sind. Der Streit wurde sehr hitzig ausgetragen, aber nie entschieden. „Er wäre gar nicht angefan gen worden“, sagt Ostwald, „wenn die Kontrahenten sich gefragt hätten, welcher tatsächliche oder experimentelle Unterschied bestehen müßte, je nachdem die eine oder die andere Ansicht richtig wäre. Denn es hätte sich dann gezeigt, daß faktisch kein Unterschied angegeben werden konnte. Der Streit war so un wirklich wie die Diskussion über das Aufgehen des Hefeteigs in vergangenen Zeiten. Eine Partei berief sich auf die ‚Heinzel
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männchen‘, während die andere darauf bestand, daß eine ‚Elfe‘ die wahre Ursache des Phänomens ist.“* Es ist erstaunlich zu sehen, wie viele philosophische Ausei nandersetzungen bis zur Belanglosigkeit verkümmern, sobald man sie diesem einfachen Test unterzieht und auf ihre konkre ten Folgen hin untersucht. Nirgends kann ein Unterschied sein, der nicht anderswo einen Unterschied macht. Es gibt keinen Unterschied auf der Ebene abstrakter Wahrheit, der sich nicht auch in einem Unterschied auf der Ebene der konkreten Tatsa chen ausdrückt und in einem daraus resultierenden Verhalten, das irgendjemandem auferlegt wird, irgendwie, irgendwo und irgendwann. Die ganze Aufgabe der Philosophie sollte eigent lich darin bestehen herauszufinden, welchen konkreten Unter schied es für Sie und mich in konkreten Situationen unseres Lebens macht, ob diese oder jene Weltformel die einzig wahre ist. Nun ist die pragmatische Methode absolut nicht neu. Sokra tes war einer ihrer Anhänger, Aristoteles bediente sich ihrer systematisch. Locke, Berkeley und Hume leisteten mithilfe die ser Methode bedeutende Beiträge zum Problem der Wahrheit. Shadworth Hodgson besteht darauf, dass Realitäten nur das sein können, „als was sie uns erscheinen“3 . Aber diese Vorläu fer nutzten nur Teile des Pragmatismus ; sie bilden lediglich den Auftakt. Erst in unserer Zeit verbreitete sich die pragmatische Methode, erst heute ist sie sich ihrer universellen Mission be wusst geworden und sieht einer glorreichen Zukunft entgegen. Ich glaube an diese Zukunft, und ich hoffe, dass ich letztlich auch Sie für meine Überzeugung begeistern kann. „Theorie und Praxis“, Zeitschrift des Österreichischen Ingenieurund Architekten-Vereines, 1905, Nr. 4 und 6. – Einen noch radikaleren Pragmatismus als den Ostwalds fand ich in einer Ansprache von Pro fessor W. S. Franklin : „Der Begriff der Physik als eine ‚Wissenschaft der Massen, Moleküle und des Äther‘ scheint mir die kränklichste Vor stellung zu sein, obgleich sie sich anbietet, wenn man das Fach studiert. Und die gesündeste Vorstellung scheint mir, auch wenn der Fachmann sie nicht völlig begreift, darin zu bestehen, dass Physik die Wissenschaft von Körpern und Bewegungen ist !“ (Science, 2. Januar 1903). *
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Der Pragmatismus repräsentiert eine in der Philosophie durchaus übliche Einstellung, nämlich die empirische. Mir scheint allerdings, dass der Pragmatismus diese Einstellung sowohl in einer radikaleren als auch in einer weniger angreif baren Art und Weise verkörpert als der bisherige Empirismus. Ein Pragmatist wendet sich entschieden und ein für allemal von vielen hartnäckigen Angewohnheiten ab, die den professio nellen Philosophen so lieb geworden sind. Er wendet sich von Abstraktionen und Unzulänglichkeiten ab, von bloß verbalen Lösungen und falschen apriorischen Begründungen, von star ren Prinzipien, geschlossenen Systemen und dem vermeintlich Absoluten und Ursprünglichen. Er wendet sich dem Konkreten und Angemessenen zu, den Tatsachen, den Handlungen und der Macht. Der Pragmatismus fordert also, den empiristischen Cha rakter herrschen zu lassen und den rationalistischen Charakter vollständig aufzugeben. Er fordert, den offenen Himmel und die Möglichkeiten, die die Natur uns bietet, gegen das Dogma zu stellen, gegen das Artifizielle und gegen den Anspruch auf endgültige Wahrheit. Dabei liefert der Pragmatismus keine spezifischen Ergeb nisse. Er ist nur eine Methode. Aber ein genereller Sieg dieser Methode würde einen enormen Wandel dessen bedeuten, was ich in meiner vorangegangenen Vorlesung die „Mentalität“ der Philosophen nannte. Vertreter des ultrarationalistischen Typs wären ebenso kaltgestellt wie der Typus des Höflings in einer Republik kaltgestellt ist oder der Typus des erzkatholischen Priesters in protestantischen Ländern. Naturwissenschaft und Metaphysik würden sich bedeutend näher kommen, ja, sie wür den faktisch vollkommen Hand in Hand arbeiten. Die Metaphysik orientierte sich gewöhnlich an einer sehr pri mitiven Frage. Wie Sie wissen, verlangte die Menschheit immer nach verbotener Magie, und Sie wissen auch, welch große Rolle Worte in der Magie immer gespielt haben. Wenn Sie nur über seinen Namen oder die richtige Zauberformel verfügen, können sie den Geist, den Genius, den Dämon oder welche Mächte auch immer beherrschen. Salomo kannte die Namen aller Geister, und weil er ihre Namen kannte, konnte er sie seinem Willen
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unterwerfen. So erschien das Universum dem gesunden Men schenverstand immer als eine Art Rätsel, dessen Schlüssel in Form eines erleuchtenden oder Macht bringenden Wortes oder Namens gesucht werden musste. Dieses Wort benennt das Prinzip des Universums, und es zu besitzen bedeutet gewisser maßen, das Universum selbst zu besitzen. „Gott“, „Materie“, „Vernunft“, „das Absolute“, „Energie“ – das sind einige dieser Namen, die die Kraft besitzen, Rätsel zu lösen. Wenn Sie über sie verfügen, können Sie sich beruhigt zurücklehnen. Sie sind am Ende Ihrer metaphysischen Suche angelangt. Aber wenn Sie der pragmatischen Methode folgen, können Sie keines dieser Worte als Endpunkt Ihrer Suche betrachten. Sie müssen aus jedem Wort den praktischen Barwert 4 heraus ziehen und es im Strom Ihrer Erfahrung arbeiten lassen. Es erscheint dann weniger als Lösung denn als Programm für die weitere Arbeit, insbesondere aber als Hinweis auf die Art und Weise, in der die gegenwärtigen Realitäten verändert werden können. Auf diese Weise werden Theorien zu Werkzeugen und sind nicht länger Antworten auf Rätsel, Antworten, auf denen wir uns ausruhen könnten. Wir können uns nicht zurücklehnen, wir be wegen uns vielmehr mit den Theorien vorwärts und gestalten manchmal mit ihrer Hilfe die Natur neu. Der Pragmatismus entkrampft alle unsere Theorien, macht sie beweglich und lässt jede arbeiten. Obwohl er nichts wesentlich Neues ist, verträgt er sich doch mit vielen überkommenen philosophischen Richtun gen. Zum Beispiel stimmt er mit dem Nominalismus darin über ein, dass man immer vom einzelnen Gegenstand ausgehen muss, mit dem Utilitarismus in der Betonung praktischer Aspekte, mit dem Positivismus in der Ablehnung rein verbaler Lösungen, unnützer Fragen und metaphysischer Abstraktionen. All dies sind, wie Sie sehen, antiintellektualistische Strömun gen. Gegen die Ansprüche und die Methoden des Rationalis mus ist der Pragmatismus vollständig gewappnet und kämpfe risch eingestellt. Aber zumindest von seiner Anlage her steht er für keine bestimmten Ergebnisse. Er kennt keine Dogmen und keine Vorschriften außer seiner Methode. Wie der junge
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italienische Pragmatist Papini ganz richtig gesagt hat, liegt er in der Mitte unserer Theorien, wie ein Korridor in einem Ho tel. 5 An diesem Korridor liegen unzählige Zimmer. In einem mögen Sie einen Menschen finden, der an einem atheistischen Werk schreibt, im nächsten jemanden, der auf seinen Knien um Zuversicht und Stärke betet, in einem dritten einen Chemiker, der die Eigenschaften von Substanzen untersucht. In einem vierten wird ein System idealistischer Metaphysik ersonnen, in einem fünften wird die Unmöglichkeit aller Metaphysik nachgewiesen. Aber der Korridor gehört allen gemeinsam, und alle müssen ihn passieren, wenn sie einen geeigneten Weg su chen, um in ihre Zimmer hineinzukommen oder um sie zu verlassen. Bis hierher besteht also die pragmatische Methode nicht da rin, spezifische Ergebnisse zu liefern, sondern nur darin, auf eine bestimmte Einstellung hin zu orientieren : die Einstellung, sich von ersten Dingen, Prinzipien, „Kategorien“ und vermeint lichen Notwendigkeiten abzuwenden und sich den letzten Dingen, Ergebnissen, Konsequenzen und Tatsachen zuzuwenden. So viel zur pragmatischen Methode. Sie mögen nun einwen den, dass ich mehr ihr Lob gesungen als sie Ihnen erklärt habe. Aber ich werde sie später noch ausführlich genug erklären, in dem ich zeige, wie sie bei einigen Problemen angewandt wird, die Ihnen allen vertraut sind. Mittlerweile wird der Begriff „Prag matismus“ aber noch in einem viel weiteren Sinne gebraucht : Er bezeichnet auch eine bestimmte Wahrheitstheorie. Ich beabsich tige, dieser Theorie eine ganze Vorlesung zu widmen, wenn ich erst den Weg dafür geebnet habe ; ich kann mich jetzt also sehr kurz fassen. Da aber einer knappen Darstellung bekanntlich schwer zu folgen ist, möchte ich für die nächste Viertelstunde um Ihre besondere Aufmerksamkeit bitten. Wenn auch vieles im Unklaren bleiben muss, so bin ich doch zuversichtlich, es in den späteren Vorlesungen verdeutlichen zu können. Diejenige Disziplin der zeitgenössischen Philosophie, die am erfolgreichsten entwickelt worden ist, ist die sogenannte induktive Logik, das Studium der Bedingungen also, unter de nen unsere Wissenschaften sich entfaltet haben. Autoren, die
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sich mit diesem Thema beschäftigen, sind sich neuerdings hin sichtlich der Bedeutung der Naturgesetze und der elementaren Tatsachen in außergewöhnlicher Weise einig, wenn diese denn nur von Mathematikern, Physikern und Chemikern formuliert worden sind. Als die ersten mathematischen, logischen und physikalischen Regelmäßigkeiten, die ersten Gesetze, entdeckt wurden, war man von ihrer Klarheit, Schönheit und Schlichtheit so hingerissen, dass man tatsächlich glaubte, die ewigen Gedan ken des Allmächtigen entziffert zu haben. Sein Geist donnerte und hallte in den Syllogismen wider. Zudem dachte er in Ke gelschnitten, Quadraten, Wurzeln und Quotienten und betrieb Geometrie wie Euklid. Er erschuf Keplers Gesetze, an die sich die Planeten halten mussten ; er ließ die Geschwindigkeit fallen der Körper proportional zur Zeit zunehmen ; er schuf die Ge setze, denen das Licht gehorchen muss, wenn es gebrochen wird ; er begründete die Klassen, Ordnungen, Familien und Gattun gen von Pflanzen und Tieren und setzte sie zueinander ins Ver hältnis. Er erdachte die Urformen aller Dinge und ersann ihre Variationen. Und wenn wir auch nur eine dieser wunderbaren Einrichtungen wiederentdecken, erfassen wir die Absicht seines Geistes in einem genauen, in einem buchstäblichen Sinne. Mit der Weiterentwicklung der Wissenschaften hat jedoch die Überzeugung Fuß gefasst, dass die meisten unserer Gesetze, vielleicht sogar alle, nur Annäherungen sind. Außerdem hat die Anzahl der Gesetze derart zugenommen, dass sie nicht mehr zu zählen sind. In den verschiedenen wissenschaftlichen Dis ziplinen werden so viele konkurrierende Versionen dieser Ge setze vorgeschlagen, dass die Forscher sich an die Vorstellung gewöhnen mussten, keine Theorie sei ein vollkommenes Abbild der Realität ; vielmehr könne jede von irgendeinem Standpunkt aus nützlich sein. Ihr großer Nutzen besteht darin, alte Tatsa chen zusammenzufassen und neue hervorzubringen. Sie sind nur eine vom Menschen geschaffene Sprache, eine begriffliche Kurzschrift, wie sie einmal genannt wurde, in der wir unsere Berichte über die Natur abfassen. Bekanntlich verfügen Spra chen aber über eine große Auswahl von Ausdrücken und lassen viele Dialekte zu.
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So hat menschliche Willkür die göttliche Notwendigkeit aus der wissenschaftlichen Logik vertrieben. Wenn ich die Namen von Sigwart, Mach, Ostwald, Pearson, Milhaud, Poincaré, Du hem und Heymanns nenne, werden die Fachleute unter Ihnen leicht die Richtung erkennen, von der ich spreche, und selbst weitere Namen hinzufügen können. Schiller und Dewey schwimmen ganz oben auf dieser Welle der wissenschaftlichen Logik, wenn sie die pragmatische Be schreibung dessen liefern, was „Wahrheit“ generell bedeutet. Diese Gelehrten sagen, dass „Wahrheit“ in unseren Vorstel lungen und Überzeugungen generell das Gleiche bedeutet wie in den Wissenschaften. „Wahrheit“ bedeutet, sagen sie, nichts anderes, als dass Vorstellungen (welche selbst nur Teile unserer Erfahrungen sind) genau insofern wahr werden, wie sie uns dazu verhelfen, in befriedigende Beziehung zu anderen Teilen unserer Erfahrung zu treten, sie zusammenzufassen und sich zwischen ihnen durch begriffliche Abkürzungen bewegen zu können, an statt der endlosen Abfolge einzelner Phänomene nachzuhän gen. Jede Vorstellung, auf der wir uns sozusagen fortbewegen können, jede Vorstellung, die uns Gewinn bringend von irgend einem Teil unserer Erfahrung zu irgendeinem anderen führt, indem sie Dinge in zufrieden stellender Weise miteinander in Verbindung bringt, indem sie verlässlich funktioniert, verein facht, Arbeit einspart – jede solche Vorstellung ist genau in die sem Sinne wahr, insoweit und von da an wahr, wahr nämlich in einem instrumentellen Sinn. Das ist die „instrumentelle“ Sicht der Wahrheit, die so erfolgreich in Chicago gelehrt wird ; das ist die in Oxford so brillant vertretene Ansicht, dass die Wahrheit unserer Ideen gleichbedeutend ist mit deren Fähigkeit zu „ar beiten“ und zu „funktionieren“. Dewey, Schiller und ihre Verbündeten sind lediglich dem Beispiel der Geologen, Biologen und Philologen gefolgt, als sie diese allgemeine Vorstellung über alle Arten von Wahrheit entwickelten. Die erfolgreiche Strategie bei der Begründung dieser Wissenschaften bestand immer darin, zunächst einen einfachen, konkret ablaufenden Prozess zu beobachten – wie beispielsweise die Erosion durch den Einfluss des Wetters oder
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die Abweichung vom elterlichen Typ oder die Veränderungen im Dialekt durch die Übernahme neuer Wörter und Betonun gen. Dieser Prozess wird dann generalisiert und so gestaltet, dass er auf alle möglichen Fälle angewandt werden kann. Indem man die Auswirkungen über die Generationen hinweg studierte und zusammenfasste, wurden großartige Ergebnisse erzielt. Der beobachtbare Prozess, den Schiller und Dewey insbeson dere zur Generalisierung herausgegriffen haben, ist der Ihnen allen bekannte Vorgang, durch den jeder Einzelne von uns zu neuen Ansichten kommt. Der Ablauf ist immer derselbe. Je der von uns hat bereits einen Bestand an Ansichten, trifft aber immer wieder auf neue Erfahrungen, die diese Ansichten in Frage stellen. Irgendjemand widerspricht unseren bisherigen Ansichten, oder aber man entdeckt in einem nachdenklichen Augenblick, dass die alten Ansichten und die neuen Erfahrun gen einander widersprechen, oder man hört von Tatsachen, die sich mit diesen Ansichten nicht vereinbaren lassen, oder es wer den Wünsche wach, die mit den alten Ansichten nicht erfüllbar sind. Das Ergebnis ist eine innere Unruhe, die unserem Den ken bisher fremd war. Wir versuchen, uns von dieser Unruhe zu befreien, indem wir den Bestand unserer bisherigen Ansichten modifizieren. Aber wir versuchen zugleich, so viel wie möglich davon festzuhalten, denn in Fragen, die unsere Überzeugungen betreffen, sind wir alle extrem konservativ. So versucht man, zunächst diese und dann jene Ansicht zu ändern (denn sie wi derstehen Veränderungen auf sehr unterschiedliche Weise), bis endlich eine neue Idee geboren wird, die man in den bisherigen Bestand mit einem Minimum an Störung einbauen kann, eine Idee, die zwischen dem Bestand und den neuen Erfahrungen vermittelt und diese auf möglichst glückliche und zweckdien liche Weise zusammenbringt. Diese neue Vorstellung wird dann als die wahre angenom men. In ihr wird der ältere Bestand an Wahrheiten mit einem Minimum an Veränderung bewahrt. Er wird aber gerade so weit ausgedehnt, dass das Neue aufgenommen werden kann, wobei dies in so vertrauter Weise zu geschehen hat, wie es die Sache zulässt. Eine überspannte Erklärung, die all unsere vorgefassten
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Meinungen verletzt, würde nie als wahre Darstellung des Neuen durchgehen. Wir würden uns so lange den Kopf zerbrechen, bis wir etwas weniger Exzentrisches gefunden hätten. Auch die gewaltigsten Umwälzungen in den Überzeugungen eines Men schen lassen doch den größten Teil der alten Ordnung seiner Überzeugungen bestehen. Zeit und Raum, Ursache und Wir kung, Natur und Geschichte und auch die eigene Biographie bleiben unberührt. Die neue Wahrheit ist immer ein Mittler, etwas, wodurch Übergänge erleichtert werden. Sie vereinigt alte Ansichten mit neuen Tatsachen, und zwar mit einem Minimum an Erschütterung und einem Maximum an Kontinuität. Wir halten eine Theorie genau in dem Maße für wahr, wie sie in der Lage ist, dieses „Maximum-Minimum“-Problem zu bewältigen. Aber der Erfolg bei der Lösung dieses Problems ist ganz wesent lich eine Frage der Annäherung. Wir sagen, dass diese Theorie insgesamt eine befriedigendere Lösung bietet als jene, aber das bedeutet : befriedigender für uns selbst ; und jeder von uns wird den Stand seiner Zufriedenheit sehr unterschiedlich bewerten. Bis zu einem gewissen Punkt ist deshalb alles gestaltbar. Der Aspekt, auf den ich Sie nun ganz besonders hinweisen will, ist die Rolle, die dabei die älteren Wahrheiten spielen. Die Ursache so mancher ungerechten Kritik am Pragmatismus liegt darin, dass diese Rolle nicht beachtet wird. Der Einfluss der älteren Wahrheiten ist absolut bestimmend. Loyalität ihnen ge genüber ist das oberste Prinzip – in den meisten Fällen ist sie so gar das einzige Prinzip. Denn der üblicherweise gewählte Weg, mit Phänomenen umzugehen, die so neu sind, dass sie eine wirk liche Neuordnung unserer vorgefassten Meinungen erforderlich machen, ist es, diese Phänomene insgesamt zu ignorieren oder diejenigen zu missachten, die über sie berichten. Sicher wünschen Sie einige Beispiele für diesen Prozess des Wahrheitswachstums. Das einzige Problem dabei ist der schiere Überfluss an Beispielen. Der einfachste Fall neuer Wahrheit ist natürlich die rein zahlenmäßige Addition neuer Arten von Tatsachen oder neuer Einzelfakten alter Art zu den vorhande nen Erfahrungen – eine Addition, die keine Änderung der alten Überzeugungen zur Folge hat. Ein Tag folgt dem anderen, und
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ihre Inhalte werden einfach addiert. Die neuen Inhalte sind an sich nicht wahr, sie erscheinen einfach und sind da. Wahrheit liegt in dem, was wir über sie sagen, und wenn wir sagen, dass sie erschienen sind, wird der Wahrheit durch eine einfache additive Formel Genüge getan. Aber oft erzwingen die Ereignisse des Tages eine Neuord nung. Wenn ich jetzt ohrenbetäubende Schreie ausstoßen und mich auf diesem Podium wie ein Wahnsinniger aufführen würde, würden viele von Ihnen ihre Meinung über den mögli chen Wert meiner Philosophie revidieren. Die Entdeckung des „Radiums“ bildete vor kurzem ein solches Ereignis und schien für einen Moment unserer Vorstellung über die Ordnung der Natur vollkommen zu widersprechen – eine Ordnung, die bis lang durch das charakterisiert wurde, was man als Erhaltung der Energie bezeichnet. Allein der Anblick von Radium, das aus eigener Kraft unendlich lang Strahlung abgibt, schien das Prinzip der Energieerhaltung zu verletzen. Wie hatte man sich das vorzustellen ? Wenn die Strahlung nichts anderes wäre als ein Entweichen unerwarteter „potenzieller“ Energie, die bereits in den Atomen existiert, wäre das Erhaltungsprinzip gewahrt. Die Entdeckung des „Heliums“ als Ergebnis der Strahlung eb nete den Weg für diese Überzeugung. Deshalb gilt die Ansicht Ramsays auch allgemein als wahr. Obwohl sie nämlich unsere alten Vorstellungen über die Energie erweitert, verursacht sie bei diesen doch nur ein Minimum an Veränderungen. Weitere Beispiele kann ich mir ersparen. Eine neue Ansicht gilt genau in dem Maße als „wahr“, wie sie den Wunsch des Ein zelnen erfüllt, das Neue seiner Erfahrung in den bestehenden Vorrat seiner Überzeugungen einzugliedern. Sie muss beides können : auf alten Wahrheiten aufbauen und neue Tatsachen erfassen. Und (wie ich soeben bemerkte) das Maß, in dem ihr das gelingt, ist Gegenstand der Bewertung des Einzelnen. Wenn also alte Wahrheiten durch das Hinzukommen neuer Wahrhei ten anwachsen, hat das subjektive Gründe. Wir sind Teil dieses Prozesses und lassen uns durch diese subjektiven Gründe leiten. Eine neue Vorstellung ist umso wahrer, je trefflicher sie ihre Aufgabe erfüllt und diesem doppelten Erfordernis entspricht.
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Durch die Art und Weise, wie sie wirkt, macht sie sich selbst wahr, wird sie als wahr eingestuft. Sie pfropft sich auf den alten Wahrheitskörper auf, der etwa so wächst wie ein Baum unter der Wirkung einer neuen Lage Kambium. Dewey und Schiller gehen noch weiter in der Verallgemeine rung dieser Beobachtung und wenden sie auf ganz alte Teile der Wahrheit an. Auch diese waren einst gestaltbar. Auch sie wur den aus Gründen wahr genannt, die im Menschlichen liegen. Auch sie vermittelten zwischen noch früheren Wahrheiten und den für jene Zeit neuen Erkenntnissen. Völlig objektive Wahr heit, Wahrheit, bei deren Festlegung ihre Funktion, frühere Teile der Erfahrung auf für Menschen befriedigende Weise mit neueren Teilen zu vermählen, keine Rolle mehr spielt, wird man nirgends finden. Der Grund, warum wir Dinge wahr nennen, ist der Grund, warum sie wahr sind, denn „wahr sein“ bedeutet nichts anderes, als diese Vermählungsfunktion zu erfüllen. Die Spur des Menschlichen durchzieht demnach alles. Unab hängige Wahrheit, Wahrheit, die wir nur finden müssen, Wahr heit, die nicht mehr entsprechend menschlichen Bedürfnissen geformt werden kann, mit einem Wort : nicht zu verbessernde Wahrheit, solche Wahrheit existiert tatsächlich überreichlich – oder sollte zumindest nach Meinung von rationalistischen Den kern existieren. Aber dann ist sie nur das abgestorbene Herz eines lebenden Baumes, und ihre Existenz besagt nur, dass auch Wahrheit ihre Paläontologie hat und „verjähren“, in vielen Dienstjahren ergrauen und erstarren und aus menschlicher Sicht aufgrund schierer Überalterung versteinern kann. Wie gestalt bar trotz allem aber sogar die ältesten Wahrheiten sind, zeigte sich in unseren Tagen sehr plastisch bei der Transformation der logischen und mathematischen Ideen, eine Transformation, die offensichtlich sogar auf die Physik übergreift. Die alten Formeln werden neu interpretiert und als spezifischer Ausdruck für viel umfassendere Prinzipien gedeutet, Prinzipien, von deren heuti ger Fassung und Formulierung unsere Vorfahren keinen blassen Schimmer hatten. Schiller nennt diese Sicht der Wahrheit immer noch „Huma nismus“. Aber auch für diese Lehre scheint sich mehr und mehr
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der Ausdruck „Pragmatismus“ einzubürgern. Deshalb möchte ich sie in diesen Vorlesungen auch unter dem Namen „Pragma tismus“ behandeln. So umfasst der Pragmatismus also erstens eine Methode und zweitens eine genetische Theorie darüber, wie Wahrheit entsteht und was „Wahrheit“ bedeutet. Und mit diesen beiden Themen müssen wir uns im Folgenden beschäftigen. Ich bin sicher, dass das, was ich über die Wahrheitstheorie gesagt habe, den meisten von Ihnen aufgrund der Kürze un klar und unbefriedigend erscheint. Ich werde das später besser machen. In einer Vorlesung über den „gesunden Menschenver stand“ werde ich zu zeigen versuchen, was ich unter Wahrhei ten verstehe, die aufgrund von Überalterung versteinert sind. In einer anderen Vorlesung werde ich die Idee weiter ausführen, dass unsere Gedanken proportional zum Erfolg ihrer Vermitt lungsfunktion wahr werden. In einer dritten Vorlesung werde ich aufzeigen, wie schwierig es ist, in der Entwicklung der Wahr heit subjektive von objektiven Faktoren zu unterscheiden. Viel leicht werden Sie meinen Vorlesungen nicht zur Gänze folgen, und falls doch, stimmen Sie möglicherweise nicht völlig mit mir überein. Aber ich bin mir sicher, dass Sie meine Ausführungen zumindest ernst nehmen und meine Bemühungen mit Respekt betrachten werden. Sie werden wahrscheinlich erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass die Theorien von Schiller und Dewey mit einem Hagel von Verachtung und Spott bedacht wurden. Der ganze Rationalis mus hat sich gegen sie erhoben. In einflussreichen Kreisen wurde besonders Schiller wie ein ungezogener Schuljunge behandelt, der eigentlich eine Tracht Prügel verdient hätte. Ich erwähne das nur, weil es ein bezeichnendes Licht auf den rationalistischen Charakter wirft, dem ich den Charakter des Pragmatismus ge genübergestellt habe. Der Pragmatismus fühlt sich abseits der Tatsachen unbehaglich. Der Rationalismus fühlt sich dagegen nur in der Gegenwart von Abstraktionen wohl. Das pragmati sche Gerede von Wahrheiten im Plural, das Gerede von Nütz lichkeit und der Notwendigkeit, befriedigend zu wirken, vom Er folg, mit dem die Wahrheiten „arbeiten“, usw. – all das vermittelt
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dem typischen intellektuellen Geist das Bild eines ungehobelten und rauen, zweitklassigen und improvisierten Produktes von Wahrheit. Solche Wahrheiten sind nicht die wirkliche Wahrheit. Solche Tests sind lediglich subjektiv. Objektive Wahrheit darf dagegen mit Nutzen nichts zu tun haben, sie muss etwas Edles, Kultiviertes, Distanziertes, Majestätisches, Erhabenes sein. Sie besteht in einer absoluten Korrespondenz zwischen unserem Denken und einer gleichermaßen absoluten Realität. Sie muss das sein, was wir unbedingt denken sollen. Die von konkreten Bedingungen abhängige Art und Weise, in der wir tatsächlich denken, ist völlig irrelevant und Sache der Psychologie. Nieder mit der Psychologie, es lebe die Logik in all diesen Fragen ! Beachten Sie den vollkommenen Gegensatz zwischen diesen Typen des Geistes ! Der Pragmatist hält sich an Tatsachen und Konkretes, beobachtet im Einzelfall die Wahrheit bei ihrer Ar beit und kommt erst dann zu einer Verallgemeinerung. Wahr heit ist für ihn ein Sammelbegriff für alle möglichen Arten klar bestimmter Arbeitswerte in der Erfahrungswelt. Für den Ra tionalisten bleibt Wahrheit eine reine Abstraktion, deren blo ßem Namen wir uns beugen müssen. Während der Pragmatist versucht, im Detail aufzuzeigen, warum wir uns fügen müssen, ist der Rationalist unfähig, das Konkrete zu erkennen, aus dem seine eigenen Abstraktionen abgeleitet werden. Er beschuldigt uns, die Wahrheit zu leugnen ; stattdessen versuchen wir nur, genau herauszufinden, warum Menschen ihr folgen und immer folgen sollten. Der typische ultraabstrakt Denkende schaudert vor allem Konkreten : Unter gleichen Voraussetzungen bevor zugt er das Blasse und Nebulöse. Wenn man ihm die beiden Welten zur Wahl anböte, würde er immer die magere Skizze dem wilden Dickicht der Realität vorziehen. Jene ist ja so viel reiner, klarer, vornehmer. Ich hoffe, dass sich im Verlauf dieser Vorlesungen die vom Pragmatismus vertretene Orientierung am Konkreten und seine Nähe zu den Tatsachen für Sie als seine überzeugendste Eigen schaft herausstellen wird. Wenn er das Unbeobachtete mittels des Beobachteten interpretiert, dann folgt er nur den verwand ten Wissenschaften. Er bringt Altes und Neues in einen harmo
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nischen Zusammenhang. Er verwandelt die vollkommen leere Idee einer statischen „Korrespondenz“-Beziehung zwischen unserem Geist und der Realität – was das bedeuten mag, wer den wir später untersuchen – in die eines reichen, aktiven Aus tausches (den jeder im Detail nachvollziehen kann) zwischen unseren jeweiligen Gedanken und dem großen Universum an derer Erfahrungen, in dem diese ihrerseits eine Rolle spielen und ihren Nutzen haben. Reicht das für den Augenblick ? Die Rechtfertigung für das, was ich sage, muss aufgeschoben werden. Ich möchte jetzt gerne noch etwas zur weiteren Klärung des Anspruchs vortragen, den ich bei unserem letzten Zusammentreffen erhoben habe, dass nämlich der Pragmatismus als glückliche Vermittlung zwischen der empirischen Art des Denkens und den eher religiösen An sprüchen menschlicher Wesen fungieren kann. Sie erinnern sich, dass ich gesagt habe, dass Menschen mit einer ausgeprägten Vorliebe für Tatsachen schnell auf Distanz zur heutzutage modischen idealistischen Philosophie gehen, da diese wenig Sympathie für Tatsachen aufbringt. Sie ist viel zu intellektualistisch. Mit seiner Vorstellung von Gott als einem erhabenen Herrscher, der sich aus einer Menge nicht nachzu vollziehender grotesker „Attribute“ zusammensetzt, war der altmodische Theismus schlimm genug. Aber solange er fest durch den teleologischen Gottesbeweis gestützt wurde, blieb er in gewisser Weise mit den konkreten Realitäten verbunden. Seit der Darwinismus allerdings die Teleologie ein für alle Mal aus dem „wissenschaftlichen“ Denken verstoßen hat, hat der The ismus diese Stütze verloren. Eine Art immanente oder pantheis tische Gottheit, die eher in als über den Dingen wirkt, ist – wenn überhaupt – das, was unserer heutigen Vorstellung entspricht. Diejenigen, die sich heute für eine philosophische Religion interessieren, setzen in der Regel mehr Hoffnung in den idea listischen Pantheismus, von dem sie sich mehr versprechen als von dem alten dualistischen Theismus, obwohl Letzterer immer noch sehr fähige Verteidiger hat. Wie ich in meiner ersten Vorlesung bemerkte, ist es aber für jemanden, der eine Vorliebe für Tatsachen hat oder in sei
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nem Denken empirisch ausgerichtet ist, schwer, diese Art von Pantheismus zu übernehmen. Dieser Pantheismus ist absolu tistisch, er verachtet den Staub und richtet sich an der reinen Logik auf. Er hat nicht die geringste Verbindung zu den kon kreten Tatsachen. Indem er den absoluten Geist, der sein Er satz für Gott ist, als rationale Voraussetzung aller Einzeldinge hinstellt – was immer diese sein mögen –, verbleibt er äußerst indifferent gegenüber der Frage, was denn die einzelnen Tatsa chen in unserer Welt eigentlich sind. Was sie auch immer sein mögen, das Absolute wird sie schon gezeugt haben. So wie in Äsops Fabel vom kranken Löwen führen alle Spuren in seine Höhle, aber nulla vestigia retrorsum : Keine Spur führt hinaus. 6 Das Absolute bietet Ihnen keine Hilfe, wenn Sie wieder in die Welt der Einzelheiten hinabsteigen oder aus Ihrer Vorstellung von seiner Natur irgendwelche notwendigen Konsequenzen im Detail ableiten wollen, die für Ihr Leben wichtig sind. Der ab solute Geist versichert Ihnen zwar, dass mit ihm und mit seiner Art des Ewigkeitsdenkens alles in Ordnung sei. Aber damit überlässt er es auch Ihren eigenen begrenzten Möglichkeiten, das Überleben im Hier und Heute zu sichern. Ich weise es weit von mir, die Majestät dieser Vorstellung leugnen zu wollen oder auch nur ihre Fähigkeit, gewissen sehr respektablen Geistern religiösen Trost spenden zu können. Aber aus menschlicher Sicht kann niemand so tun, als wäre sie nicht mit dem Makel der Weltferne und des allzu Abstrakten behaftet. Sie ist voll und ganz das Ergebnis dessen, was ich den rationalistischen Charakter zu nennen wage. Diese Vorstel lung verachtet die Erfordernisse des Empirismus. Sie ersetzt den Reichtum der wirklichen Welt durch blasse Umrisse. Sie ist elegant, vornehm in einem schlechten Sinne, in dem Sinne nämlich, in dem Vornehmsein für die Unfähigkeit steht, kleine, bescheidene Leistungen zu erbringen. Wenn in dieser realen Welt aus Schweiß und Schmutz eine bestimmte Sicht der Dinge „vornehm“ ist, dann sollte das, wie mir scheint, als Argument gegen ihre Wahrheit gelten und sie philosophisch disqualifi zieren. Der Fürst der Hölle mag, wie uns berichtet wird, ein Gentleman sein – aber was immer der Gott der Erde und des
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Himmels sein mag, er ist sicher kein Gentleman. Seine gerings ten Dienste werden hier im Staub unserer menschlichen Plagen weit mehr gebraucht als seine Erhabenheit im Kreis der Seligen. Wenn sich der Pragmatismus auch noch so sehr den Tatsa chen verschrieben hat, so leidet er doch nicht unter der Über bewertung des Materialismus, an der der gewöhnliche Empi rismus krankt. Mehr noch, er hat überhaupt nichts gegen das Abstrahieren, solange man sich mithilfe der Abstraktionen zwischen den konkreten Einzeldingen bewegen kann und sie uns tatsächlich irgendwo hinführen. Der Pragmatismus ist an keinen anderen Schlussfolgerungen interessiert als an solchen, die unser Geist und unsere Erfahrungen gemeinsam erarbeitet haben, und er hat keine grundsätzlichen Vorurteile gegenüber der Theologie. Wenn sich zeigt, dass religiöse Ideen für das konkrete Leben einen Wert besitzen, sind sie aus pragmatischer Sicht genau deshalb und in dem Maße wahr, wie sie dieses zu leisten vermögen. Inwieweit sie darüber hinaus noch wahr sind, hängt ganz und gar von ihren Beziehungen zu den anderen Wahrheiten ab, die ebenfalls anerkannt werden müssen. Was ich eben über das Absolute des transzendentalen Ide alismus sagte, ist ein ganz typischer Fall. Zunächst nannte ich dieses Absolute majestätisch und sagte, dass es gewissen Geis tern religiösen Trost verschaffe, und dann beschuldigte ich es der Weltferne und der Unfruchtbarkeit. Aber solange es solchen Trost spendet, ist es sicherlich nicht unfruchtbar ; es hat genau dieses Maß an Wert, und es erfüllt eine konkrete Aufgabe. Als guter Pragmatist sollte ich das Absolute „genau in dem Maße“ als wahr bezeichnen, und das tue ich nun auch ohne zu zögern. Aber was bedeutet in diesem Fall genau in dem Maße wahr ? Um dies zu beantworten, müssen wir nur die pragmatische Me thode anwenden. Was meinen diejenigen, die an das Absolute glauben, wenn sie sagen, dass ihr Glaube ihnen Trost spende ? Da im Absoluten das diesseitige Böse bereits „überwunden“ ist, meinen sie, dass wir, so oft wir nur wollen, das Endliche so behandeln können, als wäre es potenziell das Ewige, und dass wir auf sein gutes Ende sicher vertrauen und unsere Ängste und Sorgen um unsere diesseitige Verantwortung, ohne uns zu ver
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sündigen, vergessen können. Kurz, sie meinen, dass wir dann und wann das Recht auf moralischen Urlaub haben, dass wir der Welt ihren Lauf lassen können, mit der Gewissheit, dass ihre Probleme sich in besseren Händen als den unseren befinden und uns nicht zu kümmern brauchen. Die Welt ist ein System, in der die einzelnen Glieder gele gentlich ihre Sorgen vergessen können, ein System, in dem die „Was-kümmert-mich-das“-Stimmung für die Menschen ebenso richtig ist und moralische Ferien ganz in Ordnung sind – das ist, wenn ich mich nicht irre, zumindest ein Teil dessen, als was das Absolute uns „erscheint“. Das genau ist der große Unterschied, den die Wahrheit des Absoluten für uns in unseren besonderen Erfahrungen macht, und das ist – pragmatisch interpretiert – Teil seines Barwertes. Darüber hinaus unternimmt der gewöhn liche, dem absoluten Idealismus gegenüber aufgeschlossene phi losophische Laie nichts, um seine Vorstellungen zu präzisieren. Er kann das Absolute genau in diesem Maße nutzen, und das ist immerhin sehr wertvoll. Es schmerzt ihn deshalb, wenn er Sie skeptisch über das Absolute reden hört, und er ignoriert Ihre Kritik, weil sie sich mit Aspekten der Vorstellung befasst, denen er nicht folgen kann. Wenn mit dem Absoluten das und nicht mehr als das gemeint ist, wer könnte dann seine Wahrheit leugnen ? Sie zu leugnen hieße, darauf zu bestehen, dass sich die Menschen nie entspan nen dürften und Urlaub immer etwas Falsches wäre. Mir ist völlig klar, wie seltsam es für Sie klingen muss, wenn ich sage, dass eine Idee insoweit „wahr“ ist, wie es für unser Leben vorteilhaft ist, an sie zu glauben. Sie werden gerne zu gestehen, dass sie insofern gut ist, als sie Vorteile bringt. Wenn das, was wir mit ihrer Hilfe tun, gut ist, werden Sie auch der Idee selbst zubilligen, genau in dem Maße gut zu sein – schließ lich ist es für uns besser, über sie zu verfügen. Aber ist es nicht ein merkwürdiger Missbrauch des Wortes „Wahrheit“, werden Sie sagen, wenn Ideen aus dem gleichen Grund „wahr“ genannt werden ? Bei dem augenblicklichen Stand meiner Ausführungen ist es unmöglich, dieses Problem zu lösen. Wir berühren hier den zen
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tralen Punkt der Wahrheitslehre von Schiller, Dewey und mir, den ich vor der sechsten Vorlesung nicht detailliert behandeln kann. Lassen Sie mich jetzt nur dies eine sagen : Wahrheit ist eine Art des Guten und nicht, wie üblicherweise angenommen, eine neben dem Guten stehende und vom Guten zu unterscheidende Kategorie. Das Wahre ist die Bezeichnung für alles, was sich im Rahmen von Überzeugungen und aus exakten, klar angebbaren Gründen als gut erweist. Sie werden sicher zugeben, dass die verbreitete Vorstellung, wonach die Wahrheit göttlich und wert voll und ihr zu folgen eine Pflicht ist, niemals entstanden wäre oder ein Dogma hätte werden können, wenn in wahren Ideen nichts Nützliches für das Leben wäre oder wenn das Wissen dieser Ideen ausgesprochen unvorteilhaft und falsche Vorstel lungen die einzig nützlichen wären. In solch einer Welt wäre es eher unsere Pflicht, Wahrheit zu meiden. Aber gerade so, wie in dieser Welt bestimmte Nahrungsmittel nicht nur geschmacklich angenehm, sondern auch gut für unsere Zähne, unseren Magen oder unsere Muskeln sind, ist es nicht nur angenehm, über ge wisse Vorstellungen nachzudenken, oder angenehm, wenn diese mit anderen Vorstellungen, die wir mögen, übereinstimmen : Sie sind auch eine Hilfe bei der Bewältigung unserer alltäglichen Kämpfe. Wenn es irgendein Leben gäbe, das wirklich mehr wert wäre, gelebt zu werden, und wenn es irgendeine Idee gäbe, die uns, wenn wir an sie glaubten, helfen würde, dieses Leben zu führen, dann wäre es wirklich besser für uns, an diese Idee zu glauben, es sei denn, der Glaube an sie würde zufällig mit einem anderen größeren Nutzen kollidieren. „Was für uns zu glauben besser wäre“ : Das klingt sehr nach einer Wahrheitsdefinition. Es kommt der Aussage „was wir glauben sollten“ sehr nahe, und diese Definition würde keiner von Ihnen seltsam finden. Sollten wir denn nicht immer das glauben, was für uns besser ist ? Und können wir dann unsere Ansichten darüber, was für uns besser ist und was für uns wahr ist, auf Dauer auseinander halten ? Der Pragmatismus verneint diese Frage, und ich stimme völ lig mit ihm überein. Wahrscheinlich stimmen auch Sie dem zu, zumindest soweit es die abstrakte Feststellung betrifft. Aber Sie
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hegen den Verdacht, dass wir uns in allen möglichen Phantas tereien über die Dinge dieser Welt auslassen und uns in allen Arten von sentimentalem Aberglauben über eine zukünftige Welt ergehen würden, wenn wir praktisch alles glaubten, was für unser eigenes Leben gut ist. Ihr Verdacht ist zweifelsohne wohl begründet, und es ist ganz offensichtlich, dass die Dinge komplizierter werden, wenn man vom Abstrakten zum Kon kreten übergeht. Ich sagte gerade eben, wahr ist, was zu glauben für uns besser ist, es sei denn, diese Überzeugung kollidiert zufällig mit einem anderen vitalen Nutzen. Nun, bezogen auf das wirkliche Leben, welcher vitale Nutzen wird wohl am ehesten mit einer unserer speziellen Überzeugungen kollidieren ? Welche wohl, wenn nicht die vitalen Vorteile, die sich aus unseren anderen Überzeugungen ergeben, wenn diese sich als nicht kompatibel mit den Ers teren erweisen ? Mit anderen Worten, die größten Feinde jeder unserer Wahrheiten sind vielleicht unsere anderen Wahrheiten. Wahrheiten haben ein für allemal diesen unbedingten Instinkt zur Selbsterhaltung und das Verlangen, alles auszumerzen, was sich ihnen entgegenstellt. Mein Glaube an das Absolute, der darauf beruht, dass er für mich etwas Gutes hat, ist vonseiten meiner anderen Überzeugungen immer einem Spießrutenlauf ausgesetzt. Zugegeben, er kann wahr sein, sofern er mir mora lischen Urlaub verschafft. Trotzdem – ich spreche jetzt ganz im Vertrauen und sozusagen nur als Privatperson – kollidiert der Glaube an das Absolute, wie ich ihn verstehe, mit den anderen Wahrheiten, an die ich glaube und deren Vorteile ich nicht ge willt bin, wegen dieses Glaubens aufzugeben. Er ist mit einer bestimmten Art von Logik verbunden, die ich ablehne, und ich sehe, dass er mich in metaphysische Widersprüche verwickelt, die für mich nicht akzeptabel sind usw. usf. Aber da ich in mei nem Leben auch ohne diese intellektuellen Ungereimtheiten be reits genug Probleme habe, verzichte ich persönlich lieber auf das Absolute. Ich gestatte mir einfach meinen moralischen Ur laub, oder anders gesagt : Ich versuche als gelernter Philosoph, diesen Urlaub durch irgendein anderes Prinzip zu rechtfertigen.
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Wenn ich meinen Begriff des Absoluten bloß auf den Wert begrenzen könnte, dass er mir Urlaub verschafft, würde er nicht mit meinen anderen Wahrheiten kollidieren. Aber wir können unsere Hypothesen nicht so einfach eingrenzen. Sie verfügen über viele weitere Eigenschaften, und diese sind es, die derartig kollidieren. Meine Skepsis gegenüber dem Absoluten bedeutet also, dass ich nicht an diese zusätzlichen Eigenschaften glaube, da ich von der Rechtmäßigkeit, moralischen Urlaub zu nehmen, völlig überzeugt bin. Hieran sehen Sie, was ich meinte, als ich den Pragmatismus einen Vermittler und Versöhner nannte und sagte, dass er – in ei ner Formulierung von Papini – unsere Theorien „entkrampfe“7. Er kennt tatsächlich keinerlei Vorurteile, keine hinderlichen Dogmen, keinen rigiden Kanon dessen, was als Beweis gelten soll. Er ist völlig aufgeschlossen. Er zieht jede Hypothese in Erwägung, er schaut sich jeden Beweis an. Daraus ergibt sich, dass er in Fragen der Religion einen großen Vorteil sowohl ge genüber dem positivistischen Empirismus mit seiner antitheo logischen Neigung hat als auch gegenüber dem religiösen Ra tionalismus, der ausschließlich am Distanzierten, Vornehmen, dem konzeptionell Einfachen und Abstrakten interessiert ist. Kurz, der Pragmatismus vermehrt die Möglichkeiten der Su che nach Gott. Der Rationalismus klammert sich an die Logik und an das Reich der Seligen. Der Empirismus klammert sich an die äußeren Sinne. Der Pragmatismus dagegen lässt sich auf alles ein, er folgt sowohl der Logik als auch den Sinnen, und er lässt auch die bescheidensten und persönlichsten Erfahrungen gelten. Er lässt sogar mystische Erfahrungen gelten, wenn sie in praktischer Hinsicht Auswirkungen haben. Er würde auch einen Gott akzeptieren, der mitten im Schmutz persönlicher Tatsachen existiert – wenn das ein geeigneter Ort wäre, wo man ihn finden kann. Das einzige Kriterium für potenzielle Wahrheiten, das der Pragmatismus gelten lässt, ist die Frage, was uns am zuverläs sigsten anleitet, was zu jedem Teil des Lebens am besten passt und sich mit der Gesamtheit der Forderungen aus der Erfah rung verbindet und nichts davon auslässt. Wenn theologische
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Zweite Vorlesung
Ideen das bewirkten, wenn es sich erwiese, dass insbesondere der Gottesbegriff so wirkte, wie könnte der Pragmatismus dann die Existenz Gottes leugnen ? Er würde es als unsinnig ansehen, eine Vorstellung, die pragmatisch so erfolgreich ist, „unwahr“ zu nennen. Welche andere Art der Wahrheit könnte es für ihn geben als all diese Übereinstimmungen mit der konkreten Rea lität ? In meiner Abschlussvorlesung werde ich wieder auf die Be ziehung zwischen dem Pragmatismus und der Religion zurück kommen. Aber Sie sehen bereits, wie demokratisch er ist. Seine Vorgehensweise ist so vielfältig und flexibel, seine Mittel sind so reich und endlos und seine Schlussfolgerungen sind so wohl wollend wie die der Mutter Natur.
Dritte Vorlesung EINIGE PHILOSOPHISCHE PROBLEME, P RAGMATISCH BETRACHTET
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s ist nun an der Zeit, Ihnen die pragmatische Methode näherzubringen. Ich werde Ihnen deshalb einige Beispiele dafür geben, wie sie auf konkrete Probleme angewandt wird. Ich beginne mit dem trockensten Thema und nehme mir als erstes das Problem der Substanz vor. Jeder verwendet die alte Unter scheidung zwischen Substanz und Attribut, so wie sie schon in der Struktur der menschlichen Sprache als grammatikalischer Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat verankert ist. Ich habe hier ein Stück Tafelkreide. Ihre Modi, ihre Attribute, Merkmale, Akzidenzien oder Zustände – nennen Sie es, wie Sie wollen – sind ihr Weißsein, ihre Brüchigkeit, ihre zylindrische Form, ihre Wasserunlöslichkeit usw. usf. Aber der Träger dieser Attribute ist einzig und allein der Kalk, der deshalb als jene Substanz bezeichnet wird, der diese Attribute inhärieren. Die Attribute dieses Pultes inhärieren folglich der Substanz „Holz“, die meines Mantels inhärieren der Substanz „Wolle“ und so weiter. Kalk, Holz und Wolle zeigen, trotz ihrer Unterschiede, wiederum gemeinsame Eigenschaften. Dementsprechend wer den sie auch als Modi einer noch elementareren Substanz zu gerechnet, der Materie nämlich, deren Attribute Räumlichkeit und Undurchdringlichkeit sind. In ähnlicher Weise sind unsere Gedanken und Gefühle Zustände oder Eigenschaften unserer Seelen, die zwar Substanzen sind, aber ebenso selbst wieder Modi der noch höheren Substanz „Geist“. Nun hat man sehr früh erkannt, dass alles, was wir über Kalk wissen, sein Weißsein, seine Brüchigkeit usw. ist. Und alles, was wir über Holz wissen, ist, dass es brennbar ist und eine faserige Struktur hat. Jede Substanz erscheint uns nur als eine Reihe von Attributen. Diese machen den einzigen Barwert für unsere tatsächlichen Erfahrungen aus. Die Substanz zeigt sich immer nur durch ihre Attribute. Wären uns diese unzugänglich, wür
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Dritte Vorlesung
den wir nie auf die Idee kommen, die Existenz der Substanz zu postulieren. Wenn Gott uns die Attribute in unveränderter Weise zugänglich machte, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt die sie tragende Substanz auf wundersame Weise verschwinden ließe, könnten wir diesen Zeitpunkt nie bestimmen, da unsere Erfahrungen selbst ja unverändert blieben. Deshalb vertreten Nominalisten die Meinung, die Substanz sei nur eine trügeri sche Vorstellung, die der tief verwurzelten menschlichen Eigen art entstammt, Namen in Dinge zu verwandeln. Phänomene tre ten immer in Gruppen auf – die Gruppe der Kalkphänomene, die Gruppe der Holzphänomene usw. –, und jede Gruppe erhält ihre Bezeichnung. Mit dieser Bezeichnung wird umgegangen, als wäre sie gewissermaßen der Träger dieser Gruppe von Phä nomenen. Nehmen Sie zum Beispiel die niedrigen Tempera turen heute : Sie rühren angeblich von etwas her, das „Klima“ genannt wird. „Klima“ ist aber in Wirklichkeit nur die Bezeich nung für eine Gruppe von Tagen, mit der so verfahren wird, als läge sie hinter den Tagen. Im Allgemeinen verwenden wir Namen, als wären sie Dinge, die hinter den Fakten liegen, die sie bezeichnen. Aber die phänomenalen Eigenschaften von Din gen, sagen die Nominalisten, sind sicher nicht in den Namen enthalten, und, wenn sie nicht in den Namen enthalten sind, dann sind sie nirgendwo enthalten. Sie haften aneinander oder hängen vielmehr miteinander zusammen. Die Idee einer für uns unerreichbaren Substanz, die unserer Vorstellung gemäß Ursa che solchen Zusammenhängens ist, eine Vorstellung, in der die Substanz eine ähnliche Rolle spielt wie Zement, der die Stein chen eines Mosaiks zusammenhält – diese Idee muss verworfen werden. Die Idee der Substanz verweist daher nur auf die simple Tatsache des Zusammenhängens selbst. Hinter dieser Tatsache selbst ist nichts mehr. Die Scholastik übernahm den Begriff der Substanz aus der Alltagssprache und gab ihm eine sehr differenzierte und techni sche Bedeutung. Nun scheint es kaum etwas zu geben, das weni ger pragmatische Konsequenzen hat als Substanzen, da wir sie doch nirgends zu fassen bekommen. In einem Fall allerdings hat die Scholastik bewiesen, dass der Idee der Substanz doch Be
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deutung zukommt, und zwar indem sie diese Idee pragmatisch auffasste. Ich beziehe mich auf gewisse Kontroversen über das Mysterium der Eucharistie. Hier, so scheint es, hat Substanz ei nen bedeutsamen pragmatischen Wert. Da sich die Bestandteile der Oblate beim Abendmahl einerseits nicht ändern und sie an dererseits doch wirklich zum Leib Christi geworden ist, kann die Wandlung nur in der Substanz vor sich gegangen sein. Die Substanz des Brotes muss verschwunden und auf wunderbare Weise durch die göttliche Substanz ersetzt worden sein, ohne die unmittelbar wahrnehmbaren Eigenschaften zu verändern. Und obwohl diese sich nicht ändern, ergibt sich doch ein enor mer Unterschied : kein geringerer nämlich als der, dass wir, die wir das Sakrament empfangen, nun die reine göttliche Substanz zu uns nehmen. Sie müssen nur unterstellen, dass Substanzen sich von ihren Eigenschaften trennen und diese austauschen, und schon kann die Idee der Substanz in unserem Leben eine gewaltige und wirkungsmächtige Rolle spielen. Dies ist die einzige pragmatische Anwendung des Substanz begriffs, die mir bekannt ist. Es ist offensichtlich, dass sie nur von denen ernst genommen wird, die bereits aus hiervon un abhängigen Gründen an die „leibhaftige Gegenwart“ Christi glauben. Die Idee der materiellen Substanz wurde von Berkeley mit solch durchschlagender Wirkung kritisiert, dass sein Name durch alle nachfolgende Philosophie widerhallte.1 Berkeleys Behandlung des Begriffs der Materie ist so bekannt, dass sie kaum mehr als der Erwähnung bedarf. Berkeley war weit da von entfernt, die Existenz der uns bekannten äußeren Welt zu leugnen – im Gegenteil : Er bestätigte vielmehr ihre Existenz. Es war der scholastische Begriff einer materiellen Substanz, die für uns unerreichbar hinter der äußeren Welt liegt, die tiefer und wirklicher und zu ihrer Unterstützung notwendig ist, von der Berkeley behauptete, sie stelle die effektivste Art und Weise dar, die äußere Welt bis hin zur Unwirklichkeit zu reduzieren. Schaffen Sie diese Substanz ab, forderte er, und vertrauen Sie darauf, dass Gott, den Sie verstehen und an den Sie sich wen den können, Ihnen die sinnliche Welt unmittelbar zuteil wer
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Dritte Vorlesung
den lässt, dann wird sich die Existenz dieser Welt durch seine göttliche Autorität bestätigen und festigen. Berkeleys Kritik der „Materie“ war folglich vollkommen pragmatistisch. Mate rie kann uns nur erscheinen als Sinneswahrnehmung von Farbe, Gestalt, Härte und Ähnlichem. Diese Eigenschaften sind der Barwert dieses Begriffes. Der praktische Unterschied, den die Materie durch ihr tatsächliches Vorhandensein bewirkt, ist, dass wir solche Sinneswahrnehmungen haben ; und wenn keine Materie vorhanden ist, können wir auch nichts wahr nehmen. Diese Wahrnehmungen sind also die einzige Bedeu tung von „Materie“. Berkeley leugnet also nicht, dass es Ma terie gibt, er sagt uns nur, aus was sie besteht. Sie ist deshalb und insofern eine richtige Bezeichnung für unsere Wahrnehmung. Locke und später Hume2 brachten auf ähnliche Weise eine pragmatische Kritik am Begriff der geistigen Substanz vor. Ich erwähne hier nur Lockes Behandlung der „Identität der Per son“. Er reduziert diesen Begriff sofort auf seinen pragmati schen Wert, indem er ihn auf die Erfahrung bezieht. Er meint, dass persönliche Identität eigentlich „Bewusstsein“ bedeutet, nämlich die Tatsache, dass wir uns in einem Moment unseres Lebens an andere Momente erinnern und sie als Teile ein und derselben persönlichen Geschichte empfinden. Der Rationalis mus hat diese praktisch erfahrene Kontinuität in unserem Le ben mit der Einheit unserer Seelensubstanz erklärt. Aber Locke sagt : Nehmen Sie an, Gott würde das Bewusstsein wegnehmen, würde es uns irgendwie besser gehen, wenn wir dann noch das Seelenprinzip hätten ? Nehmen Sie an, er pflanzte ein und das selbe Bewusstsein verschiedenen Seelen ein, würde es uns, so wie wir uns selbst wahrnehmen, durch diese Tatsache deshalb schlechter gehen ? Zu Lockes Zeiten war die Seele hauptsäch lich etwas, das belohnt oder bestraft wurde. Achten Sie darauf, wie Locke die Frage pragmatisch formuliert, indem er sie unter diesem Blickwinkel diskutiert : Stellen Sie sich vor, sagt er, ein Mensch nehme an, er sei die selbe Seele, die einst dem Nestor oder dem Thersites innege wohnt habe. Kann er deren Handlungen mehr für seine e igenen
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halten als die Handlungen beliebiger anderer Menschen, die ir gendwann gelebt haben ? Sobald aber ein solcher Mensch sich irgendeiner Handlung des Nestor bewusst wird, dann wird er auch seiner Identität mit Nestor gewahr. Auf diese Identität der Person allein gründet sich das Recht und die Gerechtigkeit von Lohn und Strafe. Wir dürfen jedoch wohl mit Recht annehmen, dass niemand für etwas zur Rechenschaft gezogen werden kann, wovon er nichts weiß, sondern dass jeder sein Urteil empfangen wird, je nachdem, ob sein Gewissen ihn anklagt oder entschul digt. Nehmen wir an, ein Mensch würde jetzt für das bestraft, was er in einem anderen Leben getan hat, wovon aber durchaus kein Bewusstsein in ihm erweckt werden könnte. Wie unter scheidet sich solch eine Bestrafung davon, elend geboren wor den zu sein ?3 Unsere persönliche Identität besteht nach Locke also einzig und allein aus pragmatisch definierbaren Einzelheiten. Ob un sere Identität, abgesehen von diesen überprüfbaren Tatsachen, auch ein geistiges Prinzip darstellt, ist allenfalls eine interes sante Spekulation. Kompromissfreudig, wie Locke war, tole rierte er stillschweigend den Glauben an eine hinter unserem Bewusstsein verborgene, substanzielle Seele. Aber sein Nach folger Hume und die meisten empiristischen Psychologen nach ihm leugneten die Seele, es sei denn als Begriff für den über prüfbaren Zusammenhalt unseres Innenlebens. Sie tauchen mit ihm wieder in den Strom der Erfahrung ein. Sie tauschen den Begriff der Seele um in die kleine Münzeinheit einzelner „Vor stellungen“ und deren eigentümliche Verbindungen untereinan der. Ebenso wie im Fall von Berkeleys Materie ist der Begriff „Seele“ genau in diesem Sinne gut oder „wahr“ – darüber hinaus jedoch nicht. Die Erwähnung der materiellen Substanz verweist natürlich auf die Lehre des „Materialismus“, aber der philosophische Materialismus ist nicht notwendigerweise mit dem Glauben an „Materie“ als ein metaphysisches Prinzip verknüpft. Man mag Materie in diesem Sinn ebenso ausdrücklich ablehnen wie Ber keley, man mag wie Huxley Phänomenalist sein und kann doch in einem weiteren Sinne Materialist sein, wenn man nämlich
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Dritte Vorlesung
höhere Phänomene durch niedere erklärt und die Schicksale der Welt der Gnade blinder Elemente und Mächte überlässt. In dieser weiteren Bedeutung des Wortes ist der Materialismus dem Spiritualismus oder dem Theismus entgegengesetzt. Für den Materialisten bestimmen die Gesetze der physikalischen Natur den Lauf der Dinge. Die höchste Leistung menschlicher Genialität könnte von jemandem, der vollständig über alle Fak ten verfügt, auf Grundlage ihrer physiologischen Bedingungen entschlüsselt werden, und zwar unabhängig davon, ob die Na tur nur für unseren Geist da ist (wie die Idealisten geltend ma chen) oder nicht. Auf jeden Fall müsste unser Geist darstellen, von welcher Art diese Natur ist, und beschreiben, dass sie in Abhängigkeit von blinden physikalischen Gesetzen arbeitet. So sieht der Materialismus, der besser Naturalismus genannt würde, heutzutage aus. Dagegen steht der „Theismus“, oder das, was in einem weiteren Sinne „Spiritualismus“ genannt werden könnte. Der Spiritualismus behauptet, dass der Geist die Dinge nicht nur wahrnimmt und aufzeichnet, sondern sie auch in Be wegung hält und mit ihnen arbeitet : Die Welt wird also nicht durch ihr niederes, sondern durch ihr höheres Element geleitet. So wie diese Frage häufig behandelt wird, stellt sie selten mehr als einen Streit über ästhetische Vorlieben dar. Die Mate rie ist plump, derb, grob, schmutzig, der Geist dagegen rein, er haben, vornehm. Und da es sich mit der Würde des Universums besser vereinbaren lässt, dem höherwertig Erscheinenden den ersten Rang einzuräumen, muss der Geist zum herrschenden Prinzip erklärt werden. Der große Fehler der Rationalisten ist, dass sie abstrakte Prinzipien als Letztbegründung behandeln, vor denen unser Intellekt dann in einem Zustand bewundernder Kontemplation zur Ruhe kommen kann. Der Spiritualismus, wie er häufig anzutreffen ist, ist vielleicht nur ein Zustand der Bewunderung für eine Art der Abstraktion und der Abneigung gegenüber einer anderen. Ich erinnere mich an einen ehrenwer ten Professor, einen Vertreter des Spiritualismus, der den Ma terialismus immer als „Philosophie des Schmutzes“ bezeichnete und glaubte, ihn damit bereits widerlegt zu haben.
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Einem solchen Spiritualismus gegenüber gibt es eine einfache Antwort, die sehr wirkungsvoll von Spencer formuliert wurde. Auf einigen treffend formulierten Seiten am Ende des ersten Bandes seiner Psychologie4 zeigt er, dass eine „Materie“, wie sie die moderne Wissenschaft in ihren Erklärungen voraussetzt, eine Materie also, die so ungemein subtil ist und Bewegungen so unvorstellbar schnell und schön ausführt – dass eine solche Materie nichts Grobes mehr an sich hat. Er zeigt, dass unsere Vorstellung vom Geist, wie wir Sterbliche sie bisher entwickelt haben, selbst viel zu grob ist, um den Tatsachen der Natur in ihrer exquisiten Feinheit gerecht zu werden. Beide Begriffe, sagt er, sind lediglich Symbole, die auf die eine, nicht erkennbare Re alität verweisen. In Bezug auf diese Realität aber verschwinden die Gegensätze. Auf einen abstrakten Einwand genügt eine abstrakte Erwide rung. Spencer entzieht demjenigen die Argumentationsgrund lage, der den Materialismus deshalb ablehnt, weil er die „grobe“ Materie verachtet. Tatsächlich ist die Materie unermesslich und unvorstellbar fein und edel. Jedem, der einmal in das Gesicht eines toten Kindes oder toter Eltern geblickt hat, sollte die Ma terie, aufgrund der bloßen Tatsache, dass sie für eine gewisse Zeit diese kostbare Form annehmen konnte, für alle Zeiten heilig sein. Gleichgültig, ob das Prinzip des Lebens materiell oder immateriell ist, Materie jedenfalls ist immer beteiligt und verweigert sich keinem der verschiedenen Zwecke des Lebens. Auch die lebendige Gestalt dieser geliebten Menschen war eine der Möglichkeiten der Materie. Anstatt sich in dieser unergiebigen intellektualistischen Ma nier auf Prinzipien auszuruhen, lassen Sie uns jetzt aber die pragmatische Methode auf diese Frage anwenden. Was meinen wir mit Materie ? Welcher praktische Unterschied ergibt sich hier und jetzt daraus, ob der Lauf der Welt durch Materie oder durch Geist bestimmt wird ? Ich glaube, das Problem wird einen völlig anderen Charakter bekommen, wenn wir es aus dieser Perspektive betrachten. Zunächst möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine merk würdige Tatsache richten. Bezogen auf die Vergangenheit der
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Welt macht es nicht den geringsten Unterschied, ob wir sie als ein Werk der Materie auffassen oder ob wir glauben, dass ein göttlicher Geist ihr Urheber war. Stellen Sie sich einmal vor, alle Inhalte dieser Welt wären un widerruflich gegeben. Stellen sie sich vor, die Welt würde genau in diesem Moment aufhören zu existieren und hätte keine Zu kunft mehr. Und dann lassen Sie einen Theisten und einen Ma terialisten ihre gegensätzlichen Erklärungen auf die Geschichte der Welt anwenden. Der Theist würde zeigen, wie ein Gott sie erschuf ; der Materialist würde zeigen – und zwar, wie wir an nehmen wollen, mit gleichem Erfolg –, wie sie durch blinde phy sikalische Kräfte entstand. Dann bitten Sie einen Pragmatisten, zwischen diesen beiden Theorien zu wählen. Wie kann er sein Prüfverfahren anwenden, wenn die Welt bereits aufgehört hat zu existieren ? Theorien sind für ihn etwas, mit dem man wieder in die Erfahrung zurückkehrt, etwas, das uns nach Unterschie den suchen lässt. Aber unserer Hypothese entsprechend soll es keine Erfahrungen mehr geben, und es kann auch nicht mehr nach möglichen Unterschieden gesucht werden. Beide Theo rien haben alle ihre möglichen Wirkungen bereits gezeigt, und diese Wirkungen sind, der angenommenen Hypothese entspre chend, identisch. Der Pragmatist muss folglich zu dem Schluss kommen, dass die beiden Theorien, trotz ihrer unterschiedlich klingenden Namen, auf genau dasselbe hinauslaufen. Der Streit ist also nur ein Streit um Worte. (Ich gehe natürlich davon aus, dass die Theorien tatsächlich gleichermaßen erfolgreich in ihren Erklärungen dessen, was ist, waren.) Betrachten Sie den Fall einmal ernsthaft und fragen Sie sich, welchen Wert ein Gott hätte, wenn er da wäre, zu solch einem Zeitpunkt, wo sein Werk vollendet und seine Welt am Ende ist. Er wäre nicht mehr wert, als eben diese Welt wert war. Zu die sem Gesamtergebnis, zu dieser Mischung aus Leistungen und Unvollkommenheiten, konnte seine schöpferische Kraft gelan gen, aber mehr konnte er nicht erreichen. Wenn es jedoch keine Zukunft mehr geben wird ; wenn der gesamte Wert und die Be deutung der Welt bereits in alle jene Gefühle, die den Lauf der Welt begleiteten und nun mit ihrem Ende abtreten, investiert
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und in ihnen verwirklicht sind ; wenn diese Welt nicht länger die Aufgabe hat, etwas vorzubereiten, was noch kommen wird, und wenn ihr somit keine zusätzliche Bedeutung zukommt (wie sie unserer wirklichen Welt zukommt) – wenn es sich so verhält, dann müssen wir Gott genau daran messen. Er ist das Wesen, das ein für allemal genau dies leisten konnte, und genau dafür sind wir ihm dankbar, aber für mehr nicht. Wenn nun aber ent sprechend der entgegengesetzten Hypothese die Bestandteile der Materie, ihren Gesetzen folgend, die Welt ebenso erfolg reich erschaffen konnten, sollten wir ihnen gegenüber dann nicht genauso dankbar sein ? Wäre es für uns tatsächlich ein Verlust, wenn wir Gott als Hypothese fallen ließen und allein die Materie verantwortlich machten ? Käme dann irgendeine besondere Leblosigkeit oder Brutalität hinzu ? Und würde, wenn die Erfahrung ein für allemal zu Ende ist, Gottes Gegen wart die Welt lebendiger oder prächtiger machen ? Ehrlich gesagt : Es ist unmöglich, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Man kann davon ausgehen, dass die tatsächlich erfahrene Welt in ihren Einzelheiten nach beiden Hypothesen dieselbe ist, „dieselbe, ob wir sie loben oder schmähen“, wie Browning sagt. 5 Sie ist unwiderruflich da : ein Geschenk, das nicht zurückgenommen werden kann. Wenn wir die Materie als Ursache der Welt bezeichnen, so nimmt ihr das kein Stückchen von dem, was sie ausmacht, und wenn wir Gott als ihre Ursa che annehmen, wird sie dadurch nicht reicher. Es sind entwe der Gott oder die Atome von genau dieser und keiner anderen Welt. Dieser Gott hat, wenn es ihn gibt, genau das geleistet, was Atome leisten können – er spielt sozusagen die gleiche Rolle wie die Atome –, und er verdient die gleiche Dankbarkeit wie die Atome, nicht mehr. Wenn seine Gegenwart dem Schauspiel keine andere Wendung und keinen anderen Ausgang gibt, dann kann sie ihm sicherlich auch nicht mehr Würde verleihen. Und die Welt wäre auch nicht unwürdiger, wenn es ihn nicht gäbe und die Atome die einzigen Schauspieler auf der Bühne wären. Ist die Vorstellung einmal beendet und der Vorhang gefallen, dann wird sie nicht dadurch besser, dass Sie den Autor zu einem berühmten Genius hochloben, ebenso wenig wie sie dadurch
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schlechter wird, dass Sie ihn einen gewöhnlichen Schreiberling nennen. Wenn also aus unserer Hypothese für die Zukunft keine Ein zelheiten der Erfahrung oder des Verhaltens abgeleitet werden können, wird die Debatte zwischen Materialismus und Theis mus völlig überflüssig und bedeutungslos. Materie und Gott bedeuten in diesem Fall genau dasselbe – nämlich nicht mehr und nicht weniger als die Macht, die genau diese nun vollen dete Welt erschaffen konnte. Weise ist in diesem Fall derjenige, der sich an einer solch überflüssigen Diskussion gar nicht erst beteiligt. Die meisten Menschen wenden sich folglich instink tiv – und Positivisten und Wissenschaftler mit Bedacht – von solchen philosophischen Kontroversen ab, bei denen konkrete zukünftige Konsequenzen nicht auszumachen sind. Der Vor wurf, die Philosophie sei nur leeres Gerede, ist sicher ein Vor wurf, der uns nur allzu bekannt ist. Wenn man den Pragmatis mus ernst nimmt, dann ist das ein völlig berechtigter Vorwurf, es sei denn, man kann nachweisen, dass die unter Beschuss geratenen Theorien jeweils andere praktische Ergebnisse lie fern, mögen diese auch noch so gering und unbestimmt sein. Beide, der einfache Mann und der Wissenschaftler, behaupten, dass sie keine solchen Resultate entdecken können, und wenn auch der Metaphysiker keine Unterschiede ausmachen kann, sind die anderen ihm gegenüber sicher im Recht. Seine Wis senschaft ist dann nichts als eine aufgeblasene Belanglosigkeit, und die Einrichtung von Lehrstühlen für solche Personen wäre absurd. Jede ernst zu nehmende philosophische Auseinandersetzung muss also irgendeine praktische Bedeutung aufweisen, wie spe kulativ und entlegen diese auch immer sein mag. Wenden wir uns, um dies zu erkennen, wieder unserer Ausgangsfrage zu. Versetzen Sie sich diesmal in die Welt, in der wir leben, in die Welt, die eine Zukunft hat, die, während wir über sie reden, eben nicht abgeschlossen ist. In dieser unfertigen Welt ist die Alterna tive „Materialismus oder Theismus“ von ungeheurer praktischer Bedeutung. Es lohnt sich, einige Minuten unserer Vorlesung zu verwenden, um zu sehen, dass dem tatsächlich so ist.
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Wie nämlich unterscheidet sich das Schauspiel für uns, je nachdem, ob wir die bis heute erfahrenen Tatsachen als zufäl lige Konfigurationen von Atomen auffassen, die blind ewigen Gesetzmäßigkeiten gehorchen, oder ob wir im Gegenteil anneh men, dass sie sich der göttlichen Vorsehung verdanken ? Soweit es die vergangenen Tatsachen betrifft, gibt es in der Tat keinen Unterschied. Diese Fakten sind da, sie sind in Besitz genommen und gesichert, und das Gute an ihnen ist bereits gewonnen, un abhängig davon, ob nun die Atome oder Gott ihre Ursache sind. Dementsprechend gibt es heutzutage viele Materialisten unter uns, die die zukünftigen und praktischen Aspekte der Frage grundsätzlich ignorieren und danach trachten, das Odium, das dem Wort Materialismus anhaftet, zu zerstören. Sie versuchen sogar, das Wort selbst zu eliminieren, indem sie zeigen, dass die Materie, da sie all diese Errungenschaften hervorbringen konnte, funktional betrachtet ein ebenso göttliches Wesen wie Gott selbst ist, dass sie tatsächlich mit Gott zu einer Einheit verschmilzt, dass sie das ist, was wir unter Gott verstehen. Diese Leute raten uns, weder die eine noch die andere Bezeichnung mit ihrem überkommenen Gegensatz zu gebrauchen. Verwen den Sie stattdessen einen Ausdruck, der einerseits frei von reli giösen Konnotationen ist und dem andererseits nichts Grobes, Ungehobeltes oder Gewöhnliches unterstellt wird. Sprechen Sie statt von Gott oder Materie lieber vom fundamentalen Geheim nis, von der unerkennbaren Energie oder von der einen, einzi gen Kraft. Das ist die Richtung, in die uns Spencer drängen will, und wenn Philosophie nur rückwärts gerichtet wäre, würde er sich damit als ein großartiger Pragmatist erweisen. Aber Philosophie ist auch nach vorne gerichtet. Nachdem sie herausgefunden hat, wie die Welt war und was sie gemacht hat, stellt sie doch die weitergehende Frage : „Was verheißt uns die Welt ?“ Wenn es eine Materie gibt, die Erfolg verheißt, die auf grund ihrer Gesetzmäßigkeiten dazu bestimmt ist, unsere Welt der Vollkommenheit immer näher zu bringen, dann wird jeder vernünftige Mensch diese Materie ebenso willig verehren wie Spencer seine sogenannte unerkennbare Kraft verehrt. Sie hat nicht nur bis heute rechtschaffen für Ordnung gesorgt, sondern
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sie wird auch in Zukunft dafür sorgen, und das ist alles, was wir brauchen. Da die Materie praktisch alles das leisten kann, was ein Gott leisten kann, ist sie ihm gleichwertig, ihre Funktion ist die eines Gottes, gerichtet auf eine Welt, in der ein Gott dann überflüssig wäre. Niemand könnte in einer solchen Welt legiti merweise einen Gott vermissen. Die richtige Bezeichnung für Religion wäre dann „kosmisches Gefühl“. Ist aber die Materie, die Spencers Prozess der kosmischen Entwicklung vorantreibt, wirklich ein solches Prinzip nie en dender Perfektionierung, wie ich es gerade beschrieben habe ? Das ist sie nun wahrlich nicht, prophezeit uns doch die Wissen schaft, dass jedes kosmisch entwickelte Ding und jedes System von Dingen letztlich in Tod und Tragödie enden. Und Spencer hat, indem er sich auf das Ästhetische beschränkt und die prak tische Seite der Kontroverse nicht beachtet, tatsächlich nichts Wesentliches zur Erleichterung dieser Gewissheit beigetragen. Aber wenden Sie nun unser Prinzip an, fragen Sie nach den praktischen Konsequenzen, und Sie werden sehen, welch eine vitale Bedeutung die Alternative „Materialismus oder Theis mus“ unmittelbar gewinnt. Sowenig der rückwärts gewandte Blick Theismus und Mate rialismus unterscheiden kann, so sehr weisen sie, wenn wir den Blick nach vorne richten, auf völlig unterschiedliche Möglich keiten der Erfahrung. Denn gemäß jener Theorie mechanischer Entwicklung werden die Gesetze der Umverteilung von Materie und Bewegung – auch wenn wir ihnen sicherlich all die guten Stunden verdanken, die unser Organismus uns verschafft hat, und all die Ideale, die unser Geist nun ersinnt – mit tödlicher Si cherheit ihr Werk wieder vernichten und alles zurückbilden, was sie einst entwickelt haben. Sie alle kennen das Bild vom letzten Stadium des Universums, das die kosmologische Wissenschaft entwirft. Ich kann es nicht besser ausdrücken als mit Balfours Worten : „Die Energien unseres Systems werden vergehen, die Herrlichkeit der Sonne wird verblassen, und die Erde, gezei tenlos und träge, wird das Geschlecht nicht länger dulden, das für einen Augenblick ihre Einsamkeit gestört hat. Der Mensch wird in der Versenkung verschwinden, und all seine Gedanken
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werden zunichte. Das unruhige Bewusstsein, das in diesem un bedeutenden Winkel für kurze Zeit das zufriedene Schweigen des Universums unterbrochen hat, wird zur Ruhe kommen. Die Materie wird sich selbst nicht mehr kennen. ,Unvergängliche Monumente‘ und ,unsterbliche Taten', der Tod selbst und die Liebe, die stärker ist als der Tod, werden sein, als hätte es sie nie gegeben. Auch wird nichts, das dann noch existiert, besser oder schlechter sein durch all die Arbeit, das Genie, die Hin gabe und das Leiden, durch das die Menschheit über unzählige Generationen hindurchgegangen ist.“ * In dem unermesslichen kosmischen Wettertreiben zeigt sich wohl manch goldenes Ufer, und viele zauberhafte Wolkenbänke mögen vorüberziehen, lang verweilend, ehe sie dahinschwin den – so wie die Welt heute zu unserer Freude dahinzieht. Das Bittere aber ist : Wenn diese flüchtigen Dinge vergangen sind, bleibt nichts, absolut nichts, das diese außergewöhnlichen Eigen schaften und all die kostbaren Momente, die vielleicht in ihnen enthalten waren, bewahren würde. Sie sind tot und vergangen, gänzlich verschwunden aus der Sphäre des Seienden. Ohne Nachklang, ohne Angedenken, ohne auf das, was nachher kom men mag, einwirken zu können, auf dass es ähnliche Ideale ver folge. Dieser endgültige und vollständige Zusammenbruch, diese Tragödie bildet den Kern des wissenschaftlichen Materialismus, wie er heute verstanden wird. In jener Phase der Entwicklung, die wir als einzige mit Sicherheit übersehen können, sind es die niederen und nicht die höheren Kräfte, die ewig bestehen und letztlich überleben werden. Spencer glaubt daran genau wie alle anderen. Warum aber argumentiert er so, als ob wir simple ästhetische Einwände gegen die Prinzipien seiner Philosophie, wie die „Grobheit“ von „Materie und Bewegung“, vorbringen würden, wenn das, was uns wirklich abschreckt, doch die Trost losigkeit ihrer letztendlichen praktischen Ergebnisse ist ? Nein, der wirkliche Einwand gegen den Materialismus ist kein positiver, sondern ein negativer. Es wäre grotesk, sich heute da [ A rthur James Balfour : ] The Foundations of Belief [ L ondon : Long mans, Green 1895 ], S. 30. *
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rüber zu beklagen, was er ist, nämlich „grob“. Grobheit ist, was Grobheit wirkt 6 – das wissen wir mittlerweile. Wir beklagen uns im Gegenteil darüber, was der Materialismus nicht leistet : Er ist kein beständiger Garant unserer eher idealistischen Interessen, er kann unsere weit reichenden Hoffnungen nicht erfüllen. Auf der anderen Seite ist die Vorstellung von Gott – so ver schwommen sie im Vergleich zu diesen mathematischen Vor stellungen, die in der mechanistischen Philosophie so geläufig sind, auch immer sein mag – diesen zumindest insofern in prak tischer Hinsicht überlegen, als sie die Existenz einer idealen Ordnung garantiert, die für alle Ewigkeit von Dauer sein soll. Eine Welt, in der ein Gott das letzte Wort hat, mag ja wirklich verglühen oder in Kälte erstarren, aber wir werden doch immer glauben, dass er die alten Ideale nicht vergisst, sondern sie si cherlich an anderem Ort zum Erblühen bringt. Das heißt also : Wo es einen Gott gibt, ist die Tragödie niemals allumfassend und endgültig, und Zerstörung und Tod sind nicht die letzten Dinge. Das Bedürfnis nach einer ewigen moralischen Ordnung ist eines unserer tiefsten inneren Bedürfnisse. Und jene Dichter wie Dante und Wordsworth, die im festen Glauben an solch eine Ordnung lebten, verdanken dieser Tatsache die außergewöhn liche Lebendigkeit und die Trost spendende Kraft ihrer Verse. Der wirkliche Gegensatz von Materialismus und Spiritualismus liegt also darin, dass sie auf unterschiedliche Weise an unser Gefühl und unsere Handlungen appellieren, dass sie unsere konkreten Hoffnungen und Erwartungen auf unterschiedliche Weise ausrichten. Er liegt in all den verästelten Auswirkungen, die diese Unterschiede mit sich bringen, und nicht in abstrakten Haarspaltereien über das innere Wesen der Materie oder über irgendwelche metaphysischen Eigenschaften Gottes. Der Ma terialismus ist im Kern nichts anderes als die Verneinung einer ewigen moralischen Ordnung und die Preisgabe aller Hoffnung. Der Spiritualismus dagegen bejaht die ewige moralische Ord nung und lässt unseren Hoffnungen freien Lauf. Jeder, der sich davon berühren lässt, wird hierin ein echtes Problem erkennen. Und solange es Menschen gibt, wird dieses Problem Gegenstand ernsthafter philosophischer Auseinandersetzung sein.
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Aber einige von Ihnen sind vielleicht immer noch zur Vertei digung bereit. Selbst wenn Sie zugeben, dass Spiritualismus und Materialismus gänzlich unterschiedliche Prophezeiungen über die Zukunft der Welt machen, werden Sie vielleicht doch den Unterschied geringschätzig als etwas abtun, das so unendlich weit weg ist, dass es für den gesunden Geist keinerlei Bedeutung hat. Sie meinen vielleicht, dass es zum Wesen eines gesunden Geistes gehört, sich um näher liegende Probleme zu kümmern und sich nicht mit solchen Hirngespinsten wie der Frage nach dem Ende der Welt abzugeben. Nun, ich kann nur sagen, wenn das Ihre Ansicht ist, tun Sie der menschlichen Natur Unrecht. Schwermut, die durch religiöses Grübeln entsteht, wird man nicht dadurch los, dass man vom „ungesunden Geist“ redet. Die absoluten und letzten Dinge, die Dinge jenseits unserer Gren zen, dies sind die wirklich wichtigen philosophischen Fragen, und der überlegene Geist befasst sich ernsthaft mit ihnen, wo hingegen der Geist, der sich nur um das Nächstliegende küm mert, eben nur der Geist eines oberflächlichen Menschen ist. Die hier zur Diskussion stehenden Probleme haben wir bis her freilich nur sehr unscharf ins Auge gefasst. Aber für den spiritualistischen Glauben in all seinen Formen ist die Welt eine Welt der Verheißung, während die Sonne des Materialismus in einem Meer der Enttäuschung untergeht. Erinnern Sie sich an das, was ich über das Absolute sagte : Es gewährt uns morali sche Ferien. Jede religiöse Überzeugung tut das. Sie verschafft uns nicht nur mühsame Augenblicke, sondern sie lässt auch un sere glücklichen, sorglosen und zuversichtlichen Augenblicke gelten und rechtfertigt sie sogar. Sicher, die Grundlagen dieser Rechtfertigung bleiben ziemlich unklar. Wie die erlösenden zukünftigen Tatsachen, auf die wir durch unseren Glauben an Gott vertrauen können, im Einzelnen aussehen, muss mit den unerschöpflichen Methoden der Wissenschaft entschlüsselt wer den : Wir können unseren Gott nur erforschen, indem wir seine Schöpfung erforschen. Aber wir können uns bereits vor all die ser Arbeit an unserem Gott erfreuen, wenn wir denn an einen Gott glauben. Ich selbst glaube, dass die Gewissheit der Exis tenz Gottes vor allem aus innersten persönlichen Erfahrungen
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resultiert. Wenn diese Ihnen erst einmal Ihren Gott verschafft haben, dann gewährt Ihnen der Name Gottes zumindest den Vorzug moralischer Ferien. Erinnern Sie sich, was ich gestern über die Wahrheiten sagte, dass sie kollidieren und versuchen, sich gegenseitig „zu Fall zu bringen“. Die Wahrheit „Gott“ muss zwischen all unseren anderen Wahrheiten Spießruten laufen. Sie muss sich vor diesen verantworten, so wie diese sich vor ihr ver antworten müssen. Unsere endgültige Meinung über Gott wird erst dann feststehen, wenn all diese Wahrheiten die Sache unter sich ausgemacht haben. Wollen wir hoffen, dass sie einen modus vivendi finden ! Lassen Sie mich zu einem sehr ähnlichen philosophischen Problem übergehen, der Frage nach dem Zweck in der Natur. Man glaubte seit undenklichen Zeiten, dass die Existenz Got tes durch bestimmte Tatsachen in der Natur bewiesen werde. Viele Dinge erwecken den Eindruck, als wären sie ausdrück lich füreinander erschaffen worden. So sind zum Beispiel der Schnabel des Spechts, seine Zunge, seine Krallen, sein Schwanz usw. ganz wunderbar an eine Welt voller Bäume angepasst, in der er sich von Maden, die hinter der Rinde verborgen sind, ernähren kann. Die Teile unseres Auges sind exakt den Geset zen des Lichtes angepasst, sie lenken seine Strahlen zu einem genauen Bild auf unserer Netzhaut. Diese gegenseitige Anpas sung von Dingen unterschiedlichen Ursprungs lässt, so glaubte man, einen Plan erkennen, und als Urheber dieses Plans wurde zu allen Zeiten eine Gottheit angenommen, die den Menschen liebt. Der erste Schritt bei dieser Argumentation bestand darin zu beweisen, dass überhaupt ein Plan existiert. Die Natur wurde nach Ergebnissen durchforstet, die durch die wechselseitige An passung getrennter Dinge zustande kamen. So haben zum Bei spiel unsere Augen ihren Ursprung in der Dunkelheit des Mut terleibes, das Licht dagegen entstammt der Sonne. Und doch sieht man, wie gut sie aneinander angepasst sind. Sie sind ganz offensichtlich füreinander gemacht. Das Sehen ist der beabsich tigte Zweck, das Licht und die Augen sind die unterschiedlichen Mittel, die zur Erfüllung dieses Zwecks ersonnen wurden.
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Es ist merkwürdig, wie stark dieses Argument seit dem Tri umph von Darwins Theorie an Überzeugungskraft eingebüßt hat, wenn man bedenkt, wie einmütig unsere Vorfahren es doch als überzeugend empfanden. Darwin öffnete uns die Augen für die Macht zufälliger Ereignisse, die „Anpassungen“ hervor bringen können, wenn man ihnen nur genügend Zeit lässt, sich zu ergänzen. Er zeigte, wie unglaublich verschwenderisch die Natur bei der Produktion von Ergebnissen ist, die wegen man gelnder Anpassung wieder zerstört werden. Er wies auch auf die Vielzahl der Anpassungen hin, die, wenn sie denn zweckge richtet wären, eher für einen bösen als für einen guten Schöpfer sprächen. Es ist doch alles eine Frage des Standpunkts : Aus der Sicht der Made unter der Baumrinde spricht sicherlich alles dafür, dass die ausgezeichnete Angepasstheit der Organe des Spechts, mit denen er sie herauszieht, eher einem teuflischen Plan zu verdanken ist. Die Theologen haben inzwischen ihre Anschauungen stark erweitert, sodass sie auch die von Darwin entdeckten Tatsachen einbeziehen, sie jedoch gleichzeitig so auslegen können, dass sich eine göttliche Absicht in ihnen offenbart. Die Frage wurde zugespitzt auf die Alternative „Zweck oder Mechanik“, das eine oder das andere. Es war, als würde jemand sagen : „Meine Schuhe sind ganz offensichtlich in der Absicht entworfen wor den, dass sie an meine Füße passen ; es ist also unmöglich, dass sie von Maschinen hergestellt wurden.“ Wir wissen aber, dass beides zutrifft : Sie wurden von einer Maschine hergestellt, die ihrerseits dazu entworfen worden ist, unsere Füße mit passen den Schuhen auszustatten. Die Theologie braucht nur ihre Auf fassung von den Absichten Gottes in ähnlicher Weise zu erwei tern. Es ist ja auch nicht das Ziel einer Fußballmannschaft, den Ball einfach nur ins Tor zu bringen – wenn das so wäre, könnten sie ja einfach in einer dunklen Nacht losziehen und ihn dort hin legen –, sondern dies im Rahmen eines festgelegten Mechanismus von Bedingungen zu schaffen, nämlich unter Beachtung der Spielregeln und im Kampf mit der gegnerischen Mannschaft. Ebenso ist es, wenn man so will, nicht nur das Ziel Gottes, den Menschen zu erschaffen und ihn zu erlösen, sondern vielmehr,
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dass sich dies durch die alleinige Wirkung des riesigen Mecha nismus der Natur vollziehe. Ohne die wunderbaren Gesetze und Wechselwirkungen der Natur, so könnte man meinen, wäre die Erschaffung und Vollendung des Menschen ein zu geistloses Unterfangen, als dass Gott es geplant haben könnte. Auf diese Weise lässt sich das Argument, dass die Natur zweck gerichtet ist, der Form nach retten, allerdings auf Kosten seines alten, bequemen, an menschlichen Vorstellungen orientierten Inhalts. Der Schöpfer ist nicht mehr jene alte, dem Menschen ähnliche Gottheit. Seine Pläne sind so unermesslich geworden, dass sie für uns Menschen nicht mehr zu begreifen sind. Der Inhalt dieser Pläne überwältigt uns so sehr, dass im Vergleich dazu die bloße Feststellung, dass es einen Planer gibt, von geringer Be deutung ist. Vielleicht können wir mit einiger Anstrengung das Wesen eines kosmischen Weltgeistes erfassen, dessen Absichten uns durch die seltsame Mischung von Gutem und Bösem, die wir in den Dingen dieser Welt tatsächlich vorfinden, vollständig of fenbart werden – aber eigentlich übersteigt das unsere Fähigkei ten bei weitem. Allein durch das Wort „Zweck“ wird überhaupt nichts bewirkt und auch nichts erklärt. Es ist das unergiebigste aller Prinzipien. Die alte Frage, ob die Natur zweckgerichtet ist, ist müßig. Die eigentliche Frage lautet, wie die Welt beschaffen ist, unabhängig davon, ob es einen Schöpfer gibt oder nicht – und das kann nur durch die Erforschung der Natur in allen ihren Einzelheiten herausgefunden werden. Vergessen Sie nicht, dass – gleichgültig, was die Natur her vorgebracht hat oder hervorbringen wird – die Mittel hierfür notwendigerweise geeignet sein müssen, d. h., sie müssen diesen Ergebnissen angepasst sein. Der Schluss von der „Anpassung“ auf den „Zweck“ würde also immer gelten, was immer die Ei genart des Ergebnisses wäre. Bei dem nicht lang zurückliegen den Ausbruch des Mont-Pelée7 zum Beispiel bedurfte es der gesamten vorangehenden Geschichte, um genau diese Menge an zerstörten Häusern, Leichen und Kadavern, gesunkenen Schif fen, Vulkanasche usw. in eben dieser schrecklichen Auflistung von Positionen hervorzubringen. Frankreich musste erst ein Staat werden und Martinique kolonisieren. Unser Land musste
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erst existieren und unsere Schiffe dorthin schicken. Falls Gott genau dieses Ergebnis angestrebt hat, dann zeigen die Mittel, mit denen die Jahrhunderte ihren Einfluss dort geltend gemacht haben, eine außerordentliche Intelligenz. Und dies gilt für jed weden Zustand der Dinge, den wir in der Natur oder in der Geschichte tatsächlich verwirklicht finden. Denn die einzelnen Bestandteile müssen immer irgendein bestimmtes Resultat erge ben, mag es nun chaotisch oder harmonisch sein. Wenn wir uns das ansehen, was tatsächlich eingetreten ist, erscheinen die Be dingungen immer so, als wären sie perfekt geeignet, genau dies herbeizuführen. Wir können deshalb in jedem Fall, von jeder vorstellbaren Welt, welcher Art sie auch immer sein mag, be haupten, dass die ganze kosmische Maschinerie möglicherweise nur mit dem Zweck entworfen wurde, diese hervorzubringen. Pragmatisch gesehen ist also das abstrakte Wort „Zweck“ eine leere Hülse. Es liefert keine Ergebnisse, und es bringt uns nicht weiter. „Welcher Zweck ? “ und „Wer bezweckt et was ? “ – das sind die einzig ernst zu nehmenden Fragen, und die Erforschung der Tatsachen ist der einzige Weg, wenigstens annähernd richtige Antworten zu bekommen. Diese Antworten lassen aber auf sich warten. Bis es so weit ist, zieht jeder, der darauf besteht, dass ein Urheber existiert – und sicher ist, dass es ein göttlicher ist –, einen gewissen pragmatischen Nutzen aus diesem Wort – denselben, der uns durch die Ausdrücke „Gott“, „Weltgeist“ oder „das Absolute“ gewährt wird. So wertlos das Wort „Zweck“ als ein rein rationalistisches Prinzip, das als Ob jekt unserer Bewunderung über oder hinter den Dingen steht, auch sein mag, so wird es doch zu einem Begriff der Verheißung, wenn es durch unseren Glauben in etwas Göttliches verwan delt wird. Wenn wir mit diesem Begriff in die Erfahrungswelt zurückkehren, können wir vertrauensvoller in die Zukunft bli cken. Wenn nicht blinde Kräfte, sondern eine sehende Macht den Lauf der Welt bestimmt, dürfen wir mit gutem Grund auf einen besseren Ausgang der Dinge hoffen. Dieses unbestimmte Vertrauen in die Zukunft ist die einzige pragmatische Bedeu tung, die sich gegenwärtig an dem Begriff „Zweck“ ausmachen lässt. Aber wenn kosmisches Vertrauen richtig und nicht falsch
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ist, besser und nicht schlechter, dann ist das eine sehr wichtige Bedeutung. Der Begriff enthält dann zumindest so viel an mög licher „Wahrheit“. Lassen Sie mich noch auf eine weitere, etwas verbrauchte Auseinandersetzung eingehen, die Kontroverse um die Willensfreiheit. Die meisten Menschen, die an das glauben, was man den freien Willen nennt, übernehmen dabei die rationalistische Sichtweise. Demnach ist der freie Wille ein Prinzip, eine positive Fähigkeit oder Tugend, die dem Menschen gegeben ist, wodurch seine Würde auf rätselhafte Weise vergrößert wird. Aus diesem Grund hat er die Pflicht, daran zu glauben. Anhänger einer de terministischen Sicht setzen den Menschen herab. Sie leugnen den freien Willen und behaupten, dass der einzelne Mensch nichts Eigenes aus sich heraus erschaffen kann. Er kann nur die Vergangenheit des Kosmos, von dem er nur ein verschwin dend kleiner Teil ist, an die Zukunft weitergeben. Wenn man den Menschen aber jenes schöpferischen Prinzips beraubt, dann ist er weit weniger bewundernswert. Ich könnte mir vorstellen, dass mehr als die Hälfte von Ihnen den instinktiven Glauben an den freien Willen teilt, und dass diese Zuversicht viel mit der Bewunderung für den freien Willen als einem Prinzip der Würde zu tun hat. Aber der freie Wille wurde auch aus der Sicht des Pragma tismus diskutiert, wobei beide Parteien seltsamerweise zu der gleichen pragmatischen Auslegung gelangten. Wie Sie wissen, haben Fragen der Verantwortlichkeit in ethischen Auseinander setzungen eine sehr große Rolle gespielt. Wenn man gewisse Leute reden hört, könnte man meinen, dass die Ethik einzig und allein dazu da sei, Regeln über verdienstvolles und schuldhaftes Verhalten aufzustellen. Deshalb wirkt der alte juristische und theologische Sauerteig, das Interesse an Verbrechen, Sünde und Bestrafung in uns noch nach. „Wer hat Schuld ? Wen können wir bestrafen ? Wen wird Gott strafen ? “ – diese Art von Vorein genommenheit lastet wie ein böser Traum auf der Religions geschichte der Menschheit. So sind die Vertreter der Willensfreiheit und des Determi nismus verächtlich übereinander hergezogen und haben sich
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gegenseitig der Absurdität geziehen, weil beide Lehren es aus der Sicht des Gegners unmöglich machen, gute oder böse Ta ten ihren jeweiligen Urhebern „zuzurechnen“. Was für eine seltsame Antinomie ! Ein freier Wille bedeutet Neuerung, also dass der Mensch dem Vergangenen etwas Neues hinzufügt, das in diesem nicht enthalten war. Wenn, so fragen die Anhänger der Willensfreiheit, unsere Handlungen vorherbestimmt wären, wenn wir nur dazu da wären, die Last der Vergangenheit weiter zuschleppen, wie könnten wir dann für irgendetwas gelobt oder getadelt werden ? Wo bliebe denn unsere für uns so wertvolle Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit, wenn wir nur Diener und nicht auch Herren wären ? Aber, so erwidern die Deterministen, wo wäre denn diese Verantwortlichkeit, wenn wir einen freien Willen hätten ? Wenn eine „freie“ Tat etwas vollkommen Neues sein soll, das seinen Ursprung nicht in mir hat, in meinem früheren Ich, sondern aus dem Nichts entsteht und sich einfach an dieses Ich anheftet, wie kann ich, mein früheres Ich, dann dafür verantwortlich sein ? Wie sollte ich so überhaupt einen beständigen Charakter besit zen, der lange genug derselbe bleibt, um mit Lob oder Tadel be dacht zu werden ? Sobald man die unsinnige Theorie des freien Willens gelten lässt, zerfällt der notwendige innere Zusammen hang des Lebens in eine Ansammlung unverbundener Tage – wie eine Perlenkette, aus der man den Faden herauszieht. Mit diesem Argument haben Fullerton und McTaggart erst kürzlich tüchtig auf die Anhänger der Willensfreiheit eingedroschen. 8 Dies mag ad hominem ein gutes Argument sein, aber ansons ten ist es erbärmlich. Denn ich frage Sie, ob – ganz abgesehen von anderen Gründen – sich nicht jeder Mann, jede Frau und jedes Kind mit Sinn für die Realität schämen müsste, sich hin ter solchen Prinzipien wie Würde oder Verantwortung zu ver stecken. Man kann sich getrost darauf verlassen, dass Instinkt und Nutzenorientierung unter den Menschen ausreichen, die sozialen Aufgaben von Bestrafung und Belohnung zu erfüllen. Wenn ein Mensch Gutes tut, werden wir ihn loben, tut er Bö ses, werden wir ihn bestrafen – und zwar völlig unabhängig von theoretischen Überlegungen, sei es, dass seine Handlungen als
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Resultat von etwas betrachtet werden, das bereits in ihm vor handen war, sei es, dass sie als etwas Neues in einem strikten Sinn aufgefasst werden. Es geht völlig an der Wirklichkeit vor bei, wenn wir unsere menschliche Ethik sich allein um die Frage des „Verdienstes“ drehen lassen. Gott allein weiß um unsere Verdienste – wenn wir denn welche haben. Der wahre Grund für die Annahme eines freien Willens ist tatsächlich ein prag matischer, aber er hat nichts zu tun mit diesem jämmerlichen Recht zu strafen, um das in den früheren Diskussionen dieser Frage so viel Aufhebens gemacht wurde. Willensfreiheit bedeutet pragmatisch gesehen, dass Neues in der Welt entsteht, dass wir mit Recht erwarten können, dass die Zukunft sowohl in ihren verborgensten Bestandteilen als auch in ihren oberflächlichen Erscheinungen die Vergangenheit nicht identisch wiederholt und imitiert. Solche Wiederholung gibt es en masse, wer wollte das leugnen ? Noch die unbedeutendsten Gesetze beruhen auf der Annahme dieser allgemeinen „Gleich förmigkeit der Natur“. Aber die Natur ist vielleicht nur annä hernd gleichförmig, und Menschen, die das Wissen um die Ver gangenheit der Welt pessimistisch werden oder am Guten der Welt zweifeln ließ – ein Zweifel der dann zur Gewissheit wird, wenn dieser Wesenszug als ewig gültig angenommen wird –, werden die Idee der Willensfreiheit als melioristische Lehre be reitwillig willkommen heißen. Sie hält die Verbesserbarkeit der Welt zumindest für möglich, während der Determinismus uns versichert, dass unsere ganze Idee einer Entwicklungsmöglich keit nur menschlicher Unwissenheit entstammt und dass Un umgänglichkeit und Unmöglichkeit gemeinsam das Schicksal der Welt bestimmen. Die Idee der Willensfreiheit ist somit Kern einer allgemeinen kosmologischen Theorie der Verheißung, ebenso wie das Abso lute, Gott, der Weltgeist oder die Idee der Zweckbestimmtheit. Keiner dieser Begriffe hat in einem abstrakten Sinn irgend einen inneren Gehalt, keiner verschafft uns irgendeine konkrete Vorstellung, keiner von ihnen würde auch nur den geringsten pragmatischen Wert behalten in einer Welt, deren Wesen von Beginn an unverkennbar vollkommen war. Wenn die Welt schon
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heute nichts als ein Schlaraffenland der Glückseligkeit wäre, würde, so scheint mir, die Begeisterung über das bloße Dasein, das reine kosmische Entzücken jedes Interesse an solchen Spe kulationen auslöschen. Unser Interesse an religiöser Metaphy sik entsteht aus dem Faktum, dass wir uns hinsichtlich unserer tatsächlichen Zukunft nicht sicher fühlen und nach höherer Absicherung verlangen. Wenn die Vergangenheit und die Ge genwart vollkommen gut wären, wer könnte dann wollen, dass die Zukunft möglicherweise nicht ebenso verlaufen wird ? Wer würde sich dann Willensfreiheit wünschen ? Wer wollte dann nicht wie Huxley sagen : „Wenn man mich jeden Tag wie eine Uhr aufziehen und ich dann mit unausweichlicher Sicherheit richtig gehen würde, so würde ich nach keiner höheren Freiheit verlangen.“9 In einer bereits vollkommenen Welt kann „Frei heit“ nur bedeuten, dass man die Freiheit hat, schlechter zu sein. Und wer könnte so verrückt sein, das zu wollen ? In einem opti mistisch verstandenen Universum würde der letzte Grad der Vollkommenheit darin bestehen, dass alles notwendigerweise so bleibt, wie es ist, und unmöglich etwas Anderes werden kann. Aber die einzige Möglichkeit, von der man vernünftigerweise ausgehen kann, ist zweifellos die Möglichkeit, dass die Dinge besser sein könnten. Ich brauche nicht zu betonen, dass wir, so wie die Welt aussieht, reichlich Grund haben zu wünschen, dass diese Möglichkeit Realität wird. Die Idee der Willensfreiheit hat also nur dann eine Bedeu tung, wenn sie eine Theorie der Erlösung ist. Als solche hat sie ihren Platz neben den anderen religiösen Lehren. Gemeinsam kultivieren sie Brachliegendes und setzen Verwüstetes wieder instand. Unser Geist, gefangen in den Grenzen der Sinneserfah rung, fragt immer den Verstand oben im Turm : „Wächter, sag uns, ob die Nacht eine Verheißung birgt“10 – und der Verstand gibt ihm dann diese Worte der Verheißung. Die Worte Gott, freier Wille, Zweckbestimmtheit usw. haben keine andere als diese praktische Bedeutung. Ihr Sinn bleibt wohl dunkel, wenn man sie nur für sich nimmt oder rein intel lektualistisch auffasst, aber wenn wir sie in das Dickicht des Le bens hineintragen, wird die Dunkelheit, die dort herrscht, hell
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erleuchtet. Wenn wir uns im Umgang mit diesen Worten nur da mit begnügen, sie zu definieren, und dies als der Weisheit letz ten Schluss betrachten – wo stehen wir dann ? Wir starren mit dümmlichem Gesichtsausdruck auf eine aufgebauschte Illusion. „Deus est ens, a se, extra et supra omne genus, necessarium unum, infinite perfectum, simplex, immutabile, immensum, aeternum, intelligens“11 und so fort – bringt uns eine solche De finition wirklich weiter ? In ihrer pompösen Ausstaffierung mit Adjektiven besagt sie weniger als nichts. Nur der Pragmatismus kann hierin eine positive Bedeutung entdecken, und dazu wen det er sich vollständig vom intellektualistischen Standpunkt ab. „Gott ist im Himmel, und mit der Welt ist alles in Ordnung !“ – das ist der wahre Kern der Theologie, die Ihnen geboten wird, und dafür brauchen wir keine rationalistischen Definitionen. Warum sollten wir, Rationalisten wie Pragmatisten, uns nicht alle dazu bekennen ? Der Pragmatismus ist weit davon entfernt, das Augenmerk allein auf das in praktischer Hinsicht unmittel bar Naheliegende zu richten, wie ihm immer vorgeworfen wird. Er legt mindestens ebenso viel Gewicht auf weit entfernte, letzte Fragen. Nun erkennen Sie, dass sich all diese letzten Fragen um sich selbst drehen. Und wenn wir jetzt auf diese Prinzipien zurück schauen, auf ein erkenntnistheoretisches Ich [ dt. i. O. ], auf Gott, das Kausalitätsprinzip [ dt. i. O. ], die Idee der Zweckbestimmung und die Willensfreiheit, die für sich selbst genommen etwas Hohes und über die Tatsachen Erhabenes sein sollen, so sehen Sie nun, wie der Pragmatismus die Gewichtung verändert und die Tatsachen selbst gelten lässt. Die wirklich lebenswichtige Frage für uns alle ist : Was wird aus der Welt ? In welche Rich tung wird sich das Leben schließlich entwickeln ? Deshalb muss das Gravitationszentrum in der Philosophie verlagert werden. Nachdem er lange im Schatten der Herrlichkeiten des hohen Äthers stand, müssen wir den „Boden der Tatsachen“ wieder zu seinem Recht kommen lassen. Wenn wir den Schwerpunkt in dieser Weise verlagern, dann übertragen wir die Behandlung der philosophischen Probleme solchen Köpfen, die von weniger abstrakter Art sind, die vielleicht wissenschaftlicher und indi
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vidualistischer in ihrem Wesen sind, aber deshalb nicht weniger religiös eingestellt sein müssen. Der „Sitz der Autorität“ wird sich in einer Weise verändern, die beinahe an die protestanti sche Reformation erinnert. Und ebenso wie der Protestantismus in den Augen der Papstanhänger oftmals als reines Chaos und Anarchie ausgesehen hat, so wird auch der Pragmatismus den ultrarationalistischen Köpfen in der Philosophie ohne Zweifel chaotisch und anarchisch erscheinen. Die Philosophen werden ihn für baren Unsinn halten. Aber gleichviel, das Leben geht weiter und erreicht auch in den protestantischen Ländern seine Ziele. Und ich wage zu hoffen, dass auch dem philosophischen Protestantismus eine nicht unähnliche Blüte bestimmt ist.
Vierte Vorlesung EINES UND VIELES
I
n der letzten Vorlesung sahen wir, dass die pragmatische Me thode, wenn sie es mit bestimmten Begriffen zu tun hat, nicht in staunender Bewunderung verharrt, sondern sich damit in den Strom der Erfahrung stürzt und mithilfe dieser Begriffe den Ho rizont erweitert. Die einzige Bedeutung, die solchen Begriffen wie „Zweckbestimmung“, „Willensfreiheit“, „absoluter Geist“ oder dem Gegensatz von Spiritualismus und Materialismus zu kommt, ist, dass sie einen besseren Ausgang der Welt verheißen. Ob diesen Begriffen nun Wahrheit zukommt oder nicht, ihre Bedeutung liegt allein in diesem Meliorismus. Manchmal denke ich, dass das Phänomen, das in der Optik „vollständige Refle xion“ genannt wird, die Beziehung zwischen abstrakten Ideen und konkreten Wirklichkeiten, so wie sie vom Pragmatismus aufgefasst werden, gut veranschaulicht. Halten Sie ein Wasser glas etwas über Ihre Augen und schauen Sie aufwärts durch die Wasseroberfläche, oder besser noch : Schauen Sie auf diese Art durch die Scheibe eines Aquariums. Sie sehen dann ein außeror dentlich brillant reflektiertes Bild, z. B. der Flamme einer Kerze, oder jedes anderen klar zu erfassenden Gegenstands, der auf der anderen Seite dieses Gefäßes liegt. Bei dieser Anordnung setzt sich kein Lichtstrahl jenseits der Wasseroberfläche fort : Jeder Strahl wird vollkommen in die Tiefe zurückreflektiert. Wenn nun das Wasser die Welt der sinnlichen Tatsachen darstellt und die Luft darüber die Welt der abstrakten Ideen, so muss man sagen, dass beide Welten zweifellos real sind und in Wechsel wirkung miteinander stehen, dass aber der Austausch nur an ihren Grenzen stattfindet. Soweit es um vollständige Erfahrung geht, ist der Ort all dessen, was lebt und uns widerfährt, das Wasser. Wir sind wie Fische, die in einem Meer von Sinneserfah rungen schwimmen, emporgezogen vom höheren Element, aber unfähig, dieses in reiner Form einzuatmen oder uns darin auf zuhalten. Dennoch, wir bekommen von ihm unseren Sauerstoff,
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wir berühren es mal an dieser, mal an jener Stelle, und jedesmal, wenn wir es berühren, kehren wir mit neu bestimmter Bahn und frischer Energie in das Wasser zurück. Die abstrakten Ideen, aus denen die Luft besteht, sind für das Leben unentbehrlich, aber so, wie sie sind, können sie nicht übernommen werden. Sie wir ken nur über ihre Funktion, uns eine neue Richtung zu geben. Alle Vergleiche hinken, aber dieser fasziniert mich wirklich. Er zeigt, wie etwas, das für sich selbst nicht lebenstüchtig ist, trotz dem anderswo ein lebensbestimmender Faktor sein kann. In dieser Vorlesung möchte ich die pragmatische Methode an einem weiteren Beispiel illustrieren. Ich möchte mit ihr das uralte Problem von Einheit und Vielheit beleuchten. Ich ver mute, dass dieses Problem den wenigsten von Ihnen schlaflose Nächte bereitet hat, und wäre nicht erstaunt, wenn mir einige von Ihnen sagten, dass Sie von diesem Problem noch nie be unruhigt wurden. Ich selbst habe lange darüber nachgedacht, und ich betrachte es als das wichtigste aller philosophischen Probleme, wichtig deshalb, weil mit ihm so weit reichende Kon sequenzen verbunden sind. Was ich meine, ist Folgendes : Wenn Sie wissen, dass jemand ein entschiedener Anhänger des Mo nismus oder aber ein entschiedener Anhänger des Pluralismus ist, dann wissen Sie möglicherweise mehr über seine sonstigen Ansichten, als wenn Sie wüssten, dass er Anhänger irgendeines anderen „Ismus“ wäre. Ob jemand an die Einheit oder an die Vielheit glaubt, ist die Klassifizierung, die mit der größten An zahl an Konsequenzen verbunden ist. Wenn Sie also eine Stunde Geduld haben, werde ich versuchen, Sie mit meinem eigenen Interesse an diesem Problem anzuregen. Philosophie wurde oft als Suche nach oder Vision von der Einheit der Welt beschrieben. Nur wenige stellen diese Defini tion infrage, die insoweit wahr ist, als sich das Interesse der Philosophie tatsächlich vor allem auf das Problem der Einheit konzentriert hat. Aber wie steht es mit der Vielfalt der Dinge ? Ist diese Frage wirklich so belanglos ? Wenn wir über unseren Verstand und seine Bedürfnisse reden würden, anstatt den Begriff Philosophie zu verwenden, würden wir schnell sehen, dass das Bedürfnis nach Einheit nicht das einzige Bedürfnis
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ist. Faktenreiches Wissen und verbunden damit die Fähigkeit, dieses auf Systeme zu reduzieren, galt immer als ein unerläss liches Merkmal geistiger Größe. Dem akademischen Kopf des enzyklopädischen, philologischen Typs, dem Gelehrten im ei gentlichen Sinne, fehlte es – wie den Philosophen – nie an An erkennung. Wonach unser Intellekt wirklich strebt, ist weder Vielfalt noch Einheit für sich allein, sondern Totalität.* Hierbei ist die Kenntnis der Verschiedenartigkeit der Realität ebenso wichtig wie das Begreifen der Zusammenhänge. Neugier geht pari passu mit der Leidenschaft zur Systematisierung einher. Trotz dieser offensichtlichen Tatsache wurde die Einheit der Dinge immer als bedeutender und vornehmer angesehen als ihre Vielfalt. Wenn ein junger Mensch erstmals auf den Gedanken kommt, dass die ganze Welt ein einziges großes Faktum dar stellt, dessen sämtliche Teile miteinander verflochten sind und sich miteinander bewegen, glaubt er im Besitz einer großen Er kenntnis zu sein und schaut herablassend auf alle, denen diese erhabene Vorstellung abgeht. In dieser abstrakten Form, in der sie zum ersten Mal auftritt, ist die monistische Erkenntnis so vage, dass es kaum zu lohnen scheint, sie intellektuell zu vertei digen. Und doch wird sie vermutlich jeder in diesem Auditorium auf irgendeine Art sehr schätzen. In gebildeten Kreisen ist ein gewisser abstrakter Monismus, eine Art emotionale Reaktion auf den Charakter der Einheit, als ob dieses ein Merkmal der Welt wäre, das nicht mit ihrer Vielheit einhergeht, sondern viel großartiger und bedeutender ist, so weit verbreitet, dass wir es nahezu als Teil des philosophischen Allgemeinverständnisses bezeichnen könnten. Natürlich ist die Welt Eines, sagen wir. Wie könnte sie sonst überhaupt eine Welt sein ? Empiristen sind in der Regel auf diese abstrakte Art genauso unerschrockene Mo nisten wie die Rationalisten. Der Unterschied ist der, dass Empiristen weniger verblendet sind. Die Einheit macht sie nicht blind gegenüber allem anderen, sie raubt ihnen nicht die Neugier auf konkrete Tatsachen. Dage Vgl. A. Bellanger : Les concepts de Cause, et l’activité intentionelle de l’Esprit. Paris : Alcan 1905, S. 79 ff. *
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gen gibt es eine bestimmte Sorte von Rationalisten, die die abs trakte Einheit als ein Mysterium interpretieren und alles andere außer Acht lassen, die die Einheit als Prinzip behandeln, sie be wundern und anbeten und darüber das Denken völlig vergessen. „Die Welt ist Eins !“ – diese Formel kann zu einer Art Zah lenkult führen. Tatsächlich wurden „drei“ und „sieben“ als hei lige Zahlen angesehen. Warum sollte aber, abstrakt gesehen, „eins“ vortrefflicher sein als „dreiundvierzig“ oder als „zwei Millionen und zehn“ ? Mit der vielleicht nahe liegenden, aber unklaren Überzeugung, dass die Welt eine Einheit sei, be kommt man so wenig zu fassen, dass wir kaum wissen, was wir eigentlich damit meinen. Die einzige Möglichkeit, mit unserem Begriff weiterzukom men, ist, ihn pragmatisch aufzufassen. Angenommen, es gäbe dieses Eins-Sein, welche Tatsachen würden sich als Folge davon ändern ? Als was wird uns die Einheit erscheinen ? Die Welt ist Eins, aber wie ist sie das ? Was ist der praktische Wert dieser Einheit für uns ? Wenn wir solche Fragen stellen, gehen wir vom Vagen zum Präzisen über, vom Abstrakten zum Konkreten. Es eröffnen sich viele verschiedene Möglichkeiten, in denen die Hypostasie rung der Einheit des Universums einen Unterschied macht. Ich werde die nächstliegenden dieser Möglichkeiten nacheinander aufführen. . Zunächst ist die Welt zumindest insofern eine Einheit, als sie ein einheitlicher Gegenstand unserer Rede ist. Wäre die Welt so unrettbar eine Vielheit, dass sie keine wie auch immer gear tete Vereinigung ihrer Teile zuließe, dann könnte unser Ver stand die Welt als ein Ganzes gar nicht auf einmal „denken“ : Es wäre, als würde man versuchen, gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen zu schauen. Tatsächlich jedoch sollen die abstrak ten Begriffe „Welt“ oder „Universum“ das Ganze umfassen. Mit diesen Begriffen wird ausdrücklich intendiert, dass kein einzi ger Teil der Welt ausgeschlossen bleibt. Eine solche Einheit im Sprachlichen liefert aber offensichtlich noch keinen weiterge henden Entwurf einer monistischen Betrachtungsweise. Wenn der Name „Chaos“ einmal vergeben wurde, dann verfügt es in
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sprachlicher Hinsicht über genauso viel Einheitlichkeit wie der Kosmos. Es ist schon merkwürdig, dass viele Monisten es als großen Erfolg für ihre Sache betrachten, wenn Pluralisten sagen, das Universum sei eine Vielheit. „,Das Universum !‘“ kichern sie, „schon seine Rede verrät ihn. Mit seinen eigenen Worten hat er sich zum Monismus bekannt.“ Nun gut, lassen wir die Dinge insoweit Eines sein ! Man kann dann mit dem Wort Universum die ganze Unzahl der Dinge abdecken, aber was folgt daraus ? Es muss immer noch festgestellt werden, ob sie in irgendeinem weitergehenden oder wertvolleren Sinn eine Einheit bilden. . Bilden diese Dinge, zum Beispiel, ein Kontinuum ? Kann man, immer im eigenen Universum verbleibend und ohne die Gefahr herauszufallen, von einem zum anderen gelangen ? Mit anderen Worten : Sind die einzelnen Teile unseres Universums miteinander verbunden oder sind sie unverbunden wie zerstreute Sandkörner ? Selbst Sandkörner sind aufgrund des Raumes, in dem sie lie gen, miteinander verbunden, und wenn man sich auf irgendeine Art und Weise durch solch einen Raum bewegen kann, kann man sich auch kontinuierlich von Sandkorn Nummer eins zu Nummer zwei bewegen. Raum und Zeit sind folglich Träger ei ner Kontinuität, durch die die Teile der Welt zusammenhängen. Der praktische Unterschied, der für uns aus diesen Arten der Vereinigung resultiert, ist enorm. Unser ganzes motorisches Le ben basiert darauf. . Es gibt unzählige andere Pfade der praktischen Kontinu ität zwischen den Dingen. Man kann Wirkungslinien ziehen, durch die sie zusammenhängen. Wenn man irgendeiner dieser Linien folgt, gelangt man von einem Ding zum anderen, bis man schließlich einen guten Teil des Universums abgedeckt hat. Die Schwerkraft und die Wärmeleitung sind, soweit es die physikali sche Welt betrifft, solche alles vereinigenden Wirkungen. Elek trische und chemische Kräfte sowie das Licht folgen ähnlichen Wirkungslinien. Aber lichtundurchlässige und unbewegliche Körper unterbrechen diese Kontinuität, sodass man um sie he rumgehen oder die Art des Fortschreitens ändern muss, wenn man schließlich weiterkommen will. Praktisch gesehen geht die
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Einheit des Universums an diesen Punkten verloren, sofern sie durch diese ersten Wirkungslinien begründet wurde. Es gibt unzählige Arten der Verbindung, die die einzelnen Dinge mit anderen einzelnen Dingen unterhalten ; und die Gesamtheit jeder dieser Verbindungen bildet eine Art System, das die Dinge vereinigt. In dieser Weise sind auch die Menschen durch ein riesiges Netzwerk von Bekanntschaften untereinan der verbunden. Brown kennt Jones, Jones kennt Robinson usw. Wenn man nun die richtigen Kontaktpersonen auswählt, kann man eine Nachricht von Jones zur Kaiserin von China beför dern, oder zu einem Häuptling der afrikanischen Pygmäen oder sonst irgendjemandem auf der von Menschen bewohnten Welt. Wenn man aber bei diesem Experiment auch nur eine falsche Person wählt, wird die Verbindung, wie durch einen Nichtlei ter, unterbrochen. Systeme, die man als Systeme der Zuneigung bezeichnen könnte, sind auf das System der Bekanntschaften aufgepfropft. A liebt (oder hasst) B ; B liebt (oder hasst) C usw. Aber solche Systeme sind kleiner und setzen das große Be kanntschaftssystem voraus. Tagtäglich tragen die menschlichen Anstrengungen auf ausgesprochen systematische Weise zu einer immer weiterge henden Vereinheitlichung der Welt bei. Wir haben koloniale, postalische, konsularische und wirtschaftliche Systeme gegrün det, deren Teile alle bestimmten Einflüssen unterliegen, die sich innerhalb der Systeme, aber nicht auf die Tatsachen außerhalb ausbreiten. Das Ergebnis sind unzählige kleine Zusammen hänge von Weltteilen innerhalb der größeren Zusammenhänge dieser Welt, kleine Welten, die innerhalb des großen Univer sums nicht nur in einem diskursiven, sondern auch in einem operativen Zusammenhang stehen. Jedes System stellt einen Typus oder einen Grad der Vereinigung dar ; seine Teile sind an diese spezielle Art der Beziehung gebunden, und ein und dasselbe Teil kann zu verschiedenen Systemen gehören, so wie ein Mensch verschiedene Ämter innehaben und Mitglied in mehreren Vereinen sein kann. Unter dieser „systematischen“ Perspektive besteht der pragmatische Wert der Einheit der Welt darin, dass alle diese konkreten Netzwerke tatsächlich existie
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ren und funktionieren. Einige von ihnen sind umfassender und weiter ausgedehnt als andere ; sie überlagern einander und ih nen zusammen entgeht kein einziges noch so kleines Teilchen des Universums. So groß auch der Anteil des Unverbundenen zwischen den Dingen ist (da diese systematischen Einflüsse und Verbindungen starren, exklusiven Pfaden folgen) : Wenn man nur die richtigen Verbindungslinien ausfindig machen kann, dann erkennt man, dass alles, was existiert, auf irgendeine Weise von etwas anderem beeinflusst ist. Etwas unpräzise und allge mein gesprochen kann man sagen, dass alle Dinge irgendwie zusammenhängen und aneinander haften, und dass das Univer sum, praktisch gesehen, in vernetzten oder verketteten Formen existiert, die aus ihm eine zusammenhängende oder „integrale“ Sache machen. Jedweder Einfluss, von welcher Art auch im mer, trägt dazu bei, die Welt zu einer Einheit zu machen – wenn man nur von diesem Einfluss zu einem anderen gelangen kann. Man kann also sagen : „Die Welt ist Eins“ – nämlich in diesem Sinne und gerade insoweit, wie diese Einflüsse sich behaupten. Soweit die Einflüsse sich nicht behaupten, bildet die Welt aber ebenso definitiv keine Einheit. Es gibt keine Art der Verbin dung, die nicht versagen würde, wenn man anstelle eines Lei ters einen Nichtleiter wählt. Man bleibt dann schon beim aller ersten Schritt stecken und ist gezwungen, die Welt aus dieser bestimmten Perspektive als eine reine Vielheit zu beschreiben. Wäre unser Verstand ebenso sehr an disjunktiven Beziehungen interessiert wie an konjunktiven, dann hätte die Philosophie die Nichtvereinigung der Welt ebenso erfolgreich gerühmt. Als zentraler Punkt ist festzuhalten, dass Eins-Sein und Vie les-Sein hier absolut gleichwertig sind. Keines ist dem anderen übergeordnet, keines ist wesentlicher oder vortrefflicher als das andere. Es ist wie mit dem Raum, der die Sinne sowohl trennt als auch vereinigt, und manchmal ist es die eine Funktion und manchmal die andere, die uns am meisten zupass kommt. Genauso ist es auch mit unserem allgemeinen Verhalten in dieser Welt der Einflüsse : Manchmal brauchen wir Leiter und manchmal brauchen wir Nichtleiter, und die Weisheit liegt genau darin, im richtigen Moment zu wissen, welchen von beiden wir brauchen.
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. Alle diese Systeme der vorhandenen oder nicht vorhan denen Beeinflussung können unter das allgemeine Problem der kausalen Einheit der Welt subsumiert werden. Wenn die geringeren kausalen Einflüsse zwischen den Dingen auf einen gemeinsamen kausalen Ursprung in der Vergangenheit zurück geführt werden könnten, auf eine erste große Ursache für alles, ließe sich von einer absoluten kausalen Einheit der Welt spre chen. Das Wort Gottes am Tage der Schöpfung, das große „Es werde ! “, galt der traditionellen Philosophie als solch eine abso lute Ursache oder solch ein absoluter Ursprung. Der transzen dentale Idealismus, der „Schöpfung“ als „Denken“ (oder als „Wille zum Denken“) interpretiert, bezeichnet den göttlichen Schöpfungsakt eher als einen „ewigen“ denn als einen „ersten“. Aber die Vereinigung der Vielheit ist hier auch eine absolute : Die Vielheit gäbe es nicht, wenn es das Eine nicht gäbe. In Ge gensatz zu diesem Konzept der Einheit des Ursprungs aller Dinge stand schon immer das pluralistische Konzept einer ewi gen selbstständigen Vielheit in Form von Atomen oder auch in Form irgendwelcher Arten geistiger Einheiten. Diese Alterna tive ist zweifelsohne von pragmatischer Bedeutung. Im Rahmen dieser Vorlesungen sollten wir aber die Frage der Einheit des Ursprungs besser offen lassen. . Die aus pragmatischer Sicht wichtigste Form der Vereini gung, die zwischen den Dingen wirksam ist, ist die gattungs mäßige Einheit. Die Dinge existieren in Gattungen, es gibt viele Exemplare in jeder Gattung, und was sich aus der „Gattung“ für das einzelne Exemplar ergibt, trifft auch für jedes andere Exemplar dieser Gattung zu. Natürlich könnten wir uns leicht vorstellen, jede Tatsache dieser Welt sei singulär, also gänzlich verschieden von jeder anderen Tatsache und einmalig in ihrer Art. In einer solchen Welt von lauter Singularitäten wäre unsere Logik nutzlos, denn es ist die Vorgehensweise der Logik, für den einzelnen Fall dasjenige zu prädizieren, was für alle Fälle einer Art zutrifft. Gäbe es in der Welt keine zwei Dinge, die sich gleichen, wäre es unmöglich, aus unseren vergangenen Erfah rungen Lehren für unsere zukünftigen Erfahrungen zu ziehen. Diese Tatsache, die Tatsache, dass in den Dingen so viel gat
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tungsmäßige Einheitlichkeit existiert, ist deshalb vielleicht die wichtigste pragmatische Spezifizierung dessen, was es bedeuten kann zu sagen : „Die Welt ist Eins.“ Absolute gattungsmäßige Einheit würde bestehen, wenn es ein summum genus gäbe, dem letzten Endes alle Dinge ohne Ausnahme subsumiert werden könnten. „Das Seiende“, „das Denkbare“, „das Erfahrbare“ – dies wären Kandidaten für diese Position. Ob die Alternativen, die durch diese Begriffe ausgedrückt werden, irgendeine prag matische Bedeutung haben oder nicht, ist eine Frage, die ich ebenfalls für den Moment offen lassen möchte. 6. Eine weitere Spezifizierung dessen, was der Satz „Die Welt ist Eins“ bedeuten kann, ist die Annahme einer Einheit des Zwecks. Zahllose Dinge in der Welt dienen einem gemeinsamen Zweck. Alle von Menschen geschaffenen Systeme, administra tive, industrielle, militärische oder was auch immer, existieren jeweils zu dem Zweck, Kontrolle auszuüben. Jedes Lebewesen verfolgt seine eigenen besonderen Zwecke. Sie arbeiten, je nach dem Grad ihrer Entwicklung, zu kollektiven oder stammesge bundenen Zwecken zusammen, wobei die größeren Ziele die kleineren umfassen, bis zu dem vielleicht denkbaren Punkt, an dem ein absolut singulärer, finaler und entscheidender Zweck erreicht wäre, dem ausnahmslos alle Dinge dienen. Es ist über flüssig zu erwähnen, dass unsere Wahrnehmung mit dieser Sicht konfligiert. Wie ich in meiner dritten Vorlesung sagte, kann je des Endergebnis im Voraus beabsichtigt worden sein, aber kei nes der Ergebnisse, die uns in dieser Welt wirklich begegnen, ist tatsächlich in all seinen Details im Voraus beabsichtigt gewesen. Menschen und Nationen gehen von einer vagen Vorstellung da rüber aus, reich oder großartig oder gut zu sein. Jeder Schritt, den sie machen, rückt unvorhergesehene Möglichkeiten in den Blick und schließt ältere Perspektiven aus, und die genaueren Festlegungen des allgemeinen Zwecks müssen täglich geändert werden. Was letztlich erreicht wird, kann besser oder schlechter als das sein, was beabsichtigt war, aber es ist immer komplexer und anders als das, was tatsächlich beabsichtigt wurde. Darüber hinaus befinden sich die verschiedenen von uns verfolgten Zwecke in einem Widerstreit miteinander. Wenn der
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eine den anderen nicht überwältigen kann, wird ein Kompro miss geschlossen. Das Ergebnis unterscheidet sich wiederum von dem, was jeder Einzelne für sich im Voraus beabsichtigte. Im großen Ganzen kann vieles von dem, was beabsichtigt war, auch erreicht werden. Aber es spricht alles dafür, dass unsere Welt in teleologischer Hinsicht nur eine unvollständige Einheit bildet und weiterhin danach strebt, ihre Vereinigung besser zu organisieren. Jeder, der auf einer absoluten teleologischen Einheit der Welt besteht und behauptet, es gebe einen einzigen Zweck, dem je des Detail des Universums untergeordnet sei, muss sich der Gefahr bewusst sein, hiermit nur ein Dogma zu verkünden. In dem Maße, wie unser Wissen über die widerstreitenden Inter essen der einzelnen Teile dieser Welt konkreter wird, wird es für die Dogmatiker unter den Theologen immer schwieriger, sich vorzustellen, wie denn der eine alles entscheidende Zweck möglicherweise aussehen mag. Wir sehen zwar ein, dass man ches Übel etwas anderweitig Gutem dient, dass das Bittere den Cocktail verbessert und dass eine gewisse Portion Gefahr oder Entbehrung uns in angenehmer Weise dazu bringt, un sere Trümpfe auszuspielen. Dies kann vage zu jener Lehrmei nung verallgemeinert werden, die behauptet, alles Übel dieser Welt sei lediglich Mittel zu ihrer Vervollkommnung. Aber das Ausmaß des tatsächlich sichtbaren Übels überfordert jegliche menschliche Toleranz. Der transzendentale Idealismus, wie er von Leuten wie Bradley oder Royce beschrieben wird, bringt uns nicht weiter als das Buch Hiob : Gottes Wege sind nicht unsere Wege, deshalb wollen wir unseren Mund verschließen und schweigen. Ein Gott, der an einem solchen Übermaß an Schrecken Gefallen findet, kann kein Gott sein, an den sich menschliche Wesen wenden. Sein Übermut wäre uns zu groß, und seine Streiche erschienen uns monströs. Mit anderen Wor ten : Das auf einen einzigen Zweck gerichtete „Absolute“ kann nicht der menschliche Gott gewöhnlicher Menschen sein. . Es gibt auch eine ästhetische Einheit unter den Dingen, und sie ist durchaus analog zur teleologischen Einheit. Jedes Ding erzählt eine Geschichte, deren Teile so zusammenhängen,
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dass sie auf einen Höhepunkt hinarbeiten. Sie spielen einan der eindeutig in die Hände. Im Nachhinein erkennt man, dass eine Kette von Ereignissen, obwohl sie von keinem bestimm ten Zweck geleitet war, die Form eines Dramas annimmt und über einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss verfügt. In der Tat haben alle Geschichten ein Ende, und auch hier ist die Per spektive der Vielheit näher liegend. Die Welt ist voller partieller Geschichten, die parallel zueinander verlaufen, aber zu unter schiedlichen Zeiten beginnen und enden. An gewissen Punkten überkreuzen und verflechten sie sich, aber wir sind nicht in der Lage, sie mit unserem Verstand vollständig zu vereinigen. Wenn ich Ihrer Lebensgeschichte folge, muss ich zeitweilig die Auf merksamkeit von meiner eigenen abwenden. Selbst die Biogra phien von Zwillingen müssen abwechselnd der Aufmerksamkeit der Leser zugeführt werden. Hieraus folgt : Jeder, der behauptet, die ganze Welt erzähle eine einzige große Geschichte, verbreitet lediglich ein weiteres jener monistischen Dogmen, an die man auf eigenes Risiko glaubt. Es ist leicht, die Geschichte der Welt pluralistisch zu interpretieren, als ein Seil, dessen einzelne Fasern alle eine eigene Geschichte erzählen. Aber es ist viel schwieriger, sich vorzustellen, dass jeder Querschnitt des Seils ein absolut ein zelnes Faktum ist, und dann die ganze Abfolge dieser Fakten im Längsschnitt zu einem Wesen aufzusummieren, das ein un geteiltes Leben führt. Hier kann uns die Analogie aus der Em bryologie weiterhelfen. Unter dem Mikroskop kann man einen Embryo in Hunderte von Querschnitten zerlegen und sie im Geist wieder zu einem geschlossenen Ganzen vereinigen. Aber die Bestandteile der großen Welt, sofern es sich um Lebewesen handelt, scheinen wie die Fasern eines Seils diskontinuierlich und überkreuzt zu sein und halten nur in Längsrichtung zusam men. Verfolgt man sie in diese Richtung, sind es viele. Selbst ein Embryologe, der die Entwicklung seines Objektes verfolgt, muss der Reihe nach die Geschichte jedes einzelnen Organs behan deln. Absolute ästhetische Vereinigung ist daher lediglich ein weiteres abstraktes Ideal. Die Welt ähnelt eher einer Erzählung als einem Drama.
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Bislang sehen wir also, dass die Welt durch die vielen Sys teme, Arten, Zwecke und Dramen vereint ist. Es ist gewiss wahr, dass es in all diesen Hinsichten mehr Einheit gibt, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Und es ist eine durchaus legitime Hy pothese, dass es einen einzigen alles beherrschenden Zweck, ein System, eine Art oder eine Geschichte geben könnte. Was ich im Moment nur sagen will ist, dass es voreilig wäre, dies ohne bes sere Beweise, als wir sie zurzeit haben, dogmatisch festzulegen. 8. Seit einem Jahrhundert ist der Begriff des einen Allwissenden das große monistische Denkmittel [ dt. i. O. ]. Die Vielheit, die vielen Einzelheiten existieren nur als Objekte seines Den kens, existieren sozusagen nur in seinem Traum, und so, wie er sie kennt, haben sie einen Zweck, formen ein System, erzählen eine Geschichte für ihn. Diese Vorstellung einer allumfassen den noetischen Einheit der Dinge ist die erhabenste Errungen schaft spekulativer Philosophie. Diejenigen, die an das Abso lute, wie der Allwissende bezeichnet wird, glauben, behaupten üblicherweise, dass sie das aus zwingenden Gründen tun, denen sich das exakte Denken nicht entziehen könne. Das Absolute hat weit reichende praktische Konsequenzen ; einige davon habe ich in meiner zweiten Vorlesung behandelt. Gäbe es das Ab solute wirklich, wären viele Arten von Unterschieden für uns wichtig. Ich kann hier nicht weiter auf alle logischen Beweise für die Existenz eines solchen Wesens eingehen, als zu sagen, dass keiner auf mich überzeugend wirkt. Ich muss daher die Vor stellung eines Allwissenden einfach als Hypothese behandeln, die, logisch gesehen, exakt gleichwertig mit der pluralistischen Vorstellung ist, dass es keine Perspektive, keinen Informations stand gibt, von dem aus der gesamte Inhalt des Universums auf einmal überschaubar wäre. „Gottes Bewusstsein“, sagt Profes sor Royce, „bildet in seiner Gesamtheit einen einzigen licht vollen, strahlenden Moment des Bewusstseins“* – genau diesen Typ noetischer Einheit setzt der Rationalismus voraus. Der Empirismus gibt sich andererseits mit jenem Typus noetischer [ Josiah Royce u. a. : ] The Conception of God. New York [ Macmillan ] 1897, S. 292. *
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Einheit zufrieden, mit der wir Menschen vertraut sind. Alles, was gewusst wird, wird von irgendeinem Wissenden zusammen mit etwas anderem gewusst. Aber es könnte sich herausstellen, dass die Zahl der Wissenden unendlich groß ist, und es kann sein, dass auch derjenige, der von allen am meisten weiß, nicht alles von allem weiß oder nicht einmal das, was er weiß, alles auf einmal weiß : Es ist gut möglich, dass er vergesslich ist. Welcher Typus auch den Sieg erringt, die Welt wäre gedanklich weiter hin ein Universum. Ihre Teile wären durch Wissen verbunden, aber in dem einen Fall wäre das Wissen in einem absoluten Sinn vereinigt, im anderen Fall wäre es der Länge nach zusammen gedreht und würde sich überlappen. Die Vorstellung eines alles in einem Augenblick oder ewig Wissenden – die Ausdrücke besagen hier dasselbe – ist, wie ich sagte, die große spekulative Errungenschaft unserer Zeit. Sie hat den Begriff der Substanz, auf den frühere Philosophen so viel Wert legten und mit dessen Hilfe man früher so viele Ver einheitlichungen durchzuführen pflegte, praktisch verdrängt – die universelle Substanz nämlich, die allein Sein in und von sich selbst hat und von der all die Einzelheiten der Erfahrung ledig lich Ausformungen darstellen, deren Träger sie sind. Die Lehre von der Substanz ist unter der pragmatistischen Kritik aus der englischen Schule zusammengebrochen. Sie gilt jetzt nur noch als eine Bezeichnung unter anderen für die einfache Tatsache, dass Phänomene, so wie sie sind, tatsächlich in Gruppen und in zusammenhängender Gestalt auftreten, genau in der Gestalt nämlich, in der wir begrenzt Wissenden sie erfahren oder sie als zusammenhängend denken. Diese Weisen der Verbindung sind in gleichem Maße Teil des Erfahrungsgeflechts wie die Be griffe, die sie verbinden. Es ist eine große pragmatische Errun genschaft der neueren idealistischen Philosophie, dass sie die Welt als in dieser unmittelbar wahrnehmbaren Weise zusam menhängend dargestellt hat, anstatt deren Einheit abzuleiten aus dem „Inhärieren“ ihrer Teile – was immer das bedeuten mag – in einem nicht vorstellbaren Prinzip hinter den Kulissen. Die Aussage „Die Welt ist Eins“ trifft also genau in dem Maße zu, in dem wir die Teile der Welt als miteinander ver
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knüpft erfahren. Sie ist Eins durch genau so viele tatsächliche Verbindungen, wie wir wahrnehmen können. Aber sie bildet dann auch wieder keine Einheit aufgrund genau so vieler tat sächlicher Trennungen, wie wir entdecken können. Sowohl ihre Einheit als auch ihre Vielheit ergibt sich also aus Zusam menhängen, die unterschiedlich bezeichnet werden können. Die Welt ist daher weder ein reines Universum noch ein reines Multiversum, und die verschiedenen Formen ihres Einsseins ergeben, wenn man sie genau untersuchen will, ebenso viele wissenschaftliche Forschungsprogramme. Folglich bewahren uns die pragmatischen Fragen „Auf welche Weise erscheint uns diese Einheit ? Welche praktischen Unterschiede ergeben sich daraus ?“ vor aller fiebrigen Erregung über diese Einheit als ein erhabenes Prinzip und tragen uns mit kühlem Kopf vorwärts in den Strom der Erfahrung. Dieser Strom mag tatsächlich we sentlich mehr Verbindungen und mehr Einheit offenbaren, als wir im Augenblick erwarten, aber wir sind aufgrund der prag matischen Prinzipien nicht befugt, im Vorhinein in irgendeiner Hinsicht eine absolute Einheit zu erwarten. Es ist so schwierig, genau zu erkennen, was absolute Einheit bedeuten kann, dass wahrscheinlich die Mehrzahl von Ihnen mit der sachlichen Einstellung, die wir damit erreicht haben, zufrieden ist. Trotzdem gibt es möglicherweise einige radikal monistische Seelen unter Ihnen, die nicht bereit sind, Einheit und Vielheit als ebenbürtig anzusehen. Unterschiedliche Grade von Einheit, verschiedene Typen von Einheit, Einheit, die von Nichtleitern unterbrochen wird, Einheit, die nur gerade von ei nem zum nächsten reicht und in vielen Fällen lediglich äußere Nähe und nicht eine stärkere innere Beziehung bedeutet, kurz gesagt also : Einheit durch bloße Verkettung – all diese Dinge erscheinen Ihnen als nur halb durchdacht. Sie glauben, die über der Vielfalt liegende Einheit der Dinge muss auch eine tiefere Wahrheit haben, muss der wirklichere Aspekt der Welt sein. Die pragmatische Sicht, da sind Sie sich sicher, bietet uns eine in rationaler Hinsicht unvollkommene Welt. Die wirkliche Welt muss doch eine unbedingte Einheit des Seienden bilden, etwas Kompaktes, dessen Teile durch und durch miteinander verbun
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den sind. Nur so nämlich können wir uns unsere Situation als eine vollkommen rationale vorstellen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese ultramonistische Art des Denkens für so manchen Kopf sehr viel bedeutet. „Ein Leben, eine Wahrheit, eine Liebe, ein oberstes Prinzip, ein Gu tes, ein Gott“ – ich zitiere aus einem Flugblatt der Christlichen Wissenschaft, das ich heute in meinem Briefkasten gefunden habe – ohne jeden Zweifel hat solch ein Glaube pragmatisch ge sehen einen emotionalen Wert, und ohne jeden Zweifel trägt das Wort „Eins“ zu diesem Wert genauso viel bei wie die anderen Worte. Aber wenn wir versuchen, uns mit dem Verstand vor Au gen zu führen, was diese wahre Flut von Einheit möglicherweise bedeuten kann, werden wir geradewegs wieder auf unsere prag matistischen Grundsätze zurückgeworfen. Entweder bedeutet es die bloße Bezeichnung „Eins“, das Universum also, wie wir es in unserer Sprache antreffen ; oder es bedeutet die Gesamt summe aller feststellbaren Einzelverbindungen und -verkettun gen ; oder es bezeichnet drittens ein Medium, das Verbindungen aufrechterhält, etwas, das als allumfassend aufgefasst wird, wie ein Ursprung, ein Zweck oder ein Allwissender. Tatsächlich be zeichnet es heute für die, die dies intellektuell auffassen, immer den Allwissenden. Sie glauben, der Allwissende umfaßt alle an deren Arten von Verbindungen. Alle Teile seiner Welt müssen in seinem ewigen Traum, diesem einen, logisch-ästhetisch-teleo logischen Einheitsbild, miteinander zusammenhängen. Allerdings ist es für uns so unmöglich, uns die Sichtweise dieses absolut Allwissenden klar vorzustellen, dass wir geradezu annehmen müssen, dass die Autorität, die der absolute Mo nismus zweifelsfrei besitzt und vielleicht für einige Personen immer besitzen wird, ihre Kraft weniger aus intellektuellen als aus mystischen Quellen bezieht. Den absoluten Monismus an gemessen zu interpretieren bleibt eine Sache des Mystizismus. Die Geschichte zeigt, dass mystische Geisteszustände jeden Grades üblicherweise, wenn nicht sogar immer, für die monis tische Sicht sprechen. Dies ist nicht die passende Gelegenheit, auf das Thema Mystizismus zur Gänze einzugehen, aber ich werde eine mystische Verkündigung zitieren, um zu zeigen, was
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ich meine. Das Paradigma aller monistischen Systeme ist die Vedanta-Philosophie aus Hindustan, und das Paradigma der vedantischen Missionare war der alte Swami Vivekananda, der vor einigen Jahren in unseren Gefilden weilte. Die Methode des Vedantismus ist die mystische Methode. Man denkt nicht, sondern man sieht, nachdem man gewisse Übungen durchlaufen hat, und nachdem man gesehen hat, kann man die Wahrheit ver künden. In einer seiner Vorlesungen verkündete Vivekananda die Wahrheit folgendermaßen : „Wo ist für den, der die Einheit des Universums, diese Einheit des Lebens, die Einheit aller Dinge gesehen hat, noch Elend ? … Die Trennung zwischen den Menschen, zwischen Mann und Frau, zwischen Mann und Kind, zwischen den Völkern, zwi schen Erde und Mond, Mond und Sonne, die Trennung zwi schen Atom und Atom ist die eigentliche Ursache allen Elends. Das Vedanta aber sagt, diese Trennung gibt es nicht, sie ist nicht real. Sie ist eine rein oberflächliche Erscheinung. Im Herzen der Dinge gibt es immer noch Einheit. Wenn man in sich geht, findet man diese Einheit zwischen den Menschen, Frauen und Kindern, zwischen den Rassen, zwischen Hoch und Niedrig, Reich und Arm, den Göttern und Menschen : Alle sind Eins, auch die Tiere, wenn man tief genug geht, und derjenige, der das erreicht hat, unterliegt keiner Selbsttäuschung mehr … Wo sollte er noch der Selbsttäuschung unterliegen ? Was soll ihn täuschen ? Er kennt die Wirklichkeit aller Dinge, er kennt das Geheimnis aller Dinge. Wo soll es für ihn noch Elend geben ? Was begehrt er noch ? Er hat die Wirklichkeit aller Dinge auf den Herrn zu rückgeführt, das Zentrum, jene Einheit aller Dinge, und das ist ewige Seligkeit, ewiges Wissen, ewiges Leben. Weder Tod, noch Leid, noch Kummer, noch Elend, noch Unzufriedenheit gibt es dort … Im Zentrum, in der Wirklichkeit, gibt es niemanden, um den getrauert, niemanden, der bedauert werden muss. Er hat al les durchdrungen, der Eine Reine, der Gestaltlose, der Körper lose, der Unbefleckte, Er, der Allwissende, Er, der große Dich ter, der Allgegenwärtige, Er, der jedem gibt, was er verdient.“1 Beachten Sie, welch radikalen Charakter der Monismus hier annimmt. Durch den Einen wird die Trennung nicht einfach
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überwunden, es wird in Abrede gestellt, dass es sie gibt. Es gibt keine Vielheit. Wir sind nicht Teile des Einen. Er hat keine Teile. Da es aber in bestimmter Hinsicht unbestreitbar ist, dass wir existieren, kann es nur so sein, dass jeder von uns der Eine ist, gänzlich und unteilbar. Ein absolutes Eines, und Ich, dieses Eine – gewiss, wir haben hier eine Religion, die aus emotionaler Sicht von hohem pragmatischem Wert ist. Sie vermittelt eine Sicherheit, die makellos und herrlich ist. Wie unser Swami an anderer Stelle sagt : „Wenn der Mensch sich mit dem unendlichen Wesen des Uni versums als Eins sieht, wenn alle Trennung zu Ende ist, wenn alle Männer, alle Frauen, alle Engel, alle Götter, alle Tiere, alle Pflanzen, das ganze Universum zur Einheit verschmolzen ist, dann verschwindet alle Furcht. Wer ist zu fürchten ? Kann ich mir selbst wehtun ? Kann ich mich selbst töten ? Kann ich mich selbst verletzen ? Fürchtest du dich vor dir selbst ? Dann werden alle Sorgen verschwinden. Was kann mir Sorgen berei ten ? Ich bin das eine Sein des Universums. Dann werden alle Eifersüchte verschwinden ; auf wen soll ich eifersüchtig sein ? Auf mich ? Dann werden alle schlechten Gefühle verschwinden. Wem gegenüber soll ich schlechte Gefühle haben ? Mir selbst gegenüber ? Es gibt niemanden außer mir im Universum … Ver nichte diese Unterschiede, vernichte diesen Aberglauben, dass es Vieles gebe. ,Demjenigen, der in dieser Welt der Vielheit das Eine sieht ; demjenigen in dieser gefühllosen Masse, der das eine fühlende Wesen sieht ; demjenigen, der in dieser Welt des Schat tens jene Wirklichkeit ergreift, dem gehört der ewige Friede, niemandem sonst, niemandem sonst.‘“2 Wir alle sind empfänglich für diese monistische Musik : Sie erhebt und beruhigt uns. Wir alle tragen zumindest den Keim des Mystizismus in uns. Und wenn die Idealisten ihre Argu mente für das Absolute vortragen und sagen, dass die geringste irgendwo zugelassene Einheit logischerweise die absolute Ein heit in sich trägt und dass die geringste, irgendwo zugelassene Trennung logischerweise die völlige, heillose Uneinigkeit in sich trägt – ich befürchte, dass die mit den Händen zu greifenden Schwächen der von ihnen vorgebrachten intellektuellen Argu
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mentationen durch ein mystisches Gefühl vor ihrer eigenen Kri tik geschützt werden, dass – logisch oder nicht logisch – absolute Einheit irgendwie wahr sein muss, koste es, was es wolle. Die Einheit überwindet in jedem Fall das moralische Getrenntsein. In der Leidenschaft der Liebe haben wir den mystischen Keim dessen, was vollkommene Einheit allen fühlenden Lebens be deuten kann. Dieser mystische Keim erwacht in uns, wenn er die monistischen Bekenntnisse hört, erkennt deren Autorität an und verweist intellektuelle Überlegungen an die zweite Stelle. Ich werde mich in dieser Vorlesung nicht länger bei den re ligiösen und moralischen Aspekten dieser Frage aufhalten. In meiner letzten Vorlesung wird hierzu mehr zu sagen sein. Klammern wir zunächst einmal jene Autorität aus, der wir möglicherweise mystische Einsichten zuschreiben können. Be trachten wir das Problem von Einheit und Vielheit einmal vom intellektuellen Standpunkt. Wir sehen dann völlig klar, wo der Pragmatismus steht. Aufgrund seines Kriteriums, der Frage nämlich, welche praktischen Unterschiede sich aus Theorien ergeben, muss er sowohl auf den absoluten Monismus als auch auf den absoluten Pluralismus verzichten. Die Welt ist genau in dem Maße Eines, wie ihre Teile durch konkrete Verbindungen zusammenhängen. Sie ist genau in dem Maße Vieles, wie keine konkreten Verbindungen hergestellt werden können. Zumin dest durch solche Systeme, mit denen die Menschheit im Laufe der Zeit geordnete Verbindungen zu schaffen in der Lage ist, wird sich die Welt schließlich mehr und mehr zu einer Einheit entwickeln. Es ist möglich, sich alternativ zu der einen Welt, die wir ken nen, weitere Welten vorzustellen, in denen die unterschiedlichs ten Stufen und Typen von Vereinigung konkrete Form anneh men. Dementsprechend wäre die unterste Stufe des Universums eine Welt eines reinen Nebeneinanders, eine Welt, deren Teile nur durch das Bindewort „und“ zusammengehalten werden. Solch ein Universum bildet sogar jetzt die Ansammlung der verschiedenen inneren Leben von uns Menschen. Die Räume und Zeiten unserer Vorstellungskraft, die Objekte und Ereig
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nisse unserer Tagträume sind nicht nur mehr oder weniger in kohärent inter se, sie sind auch völlig ohne konkrete Beziehung zu ähnlichen Bewusstseinsinhalten irgendwelcher anderen Menschen. Unsere verschiedenen Tagträumereien durchdrin gen sich, jetzt, wo wir hier sitzen, gegenseitig, sinnlos und ohne Einfluss zu nehmen oder sich zu behindern. Sie koexistieren, aber ohne Ordnung und ohne gemeinsamen Rahmen. Das ist die weitestgehende Annäherung an die absolute Vielheit, die wir uns vorstellen können. Wir können uns nicht einmal einen Grund vorstellen, warum man sie alle zusammen kennen sollte, und wir können uns noch weniger vorstellen, wie es wäre, wenn man sie als ein systematisches Ganzes erkennen würde. Aber fügen Sie unsere Empfindung und unsere körperlichen Reaktionen hinzu, und schon erreicht die Vereinigung einen viel höheren Grad. Unser audita et visa und unser Handeln ge hören in solche Behältnisse wie Zeit und Raum, in denen jedes Ereignis seinen Zeitpunkt hat und seinen Platz findet. Sie for men „Dinge“ und gehören zu einer bestimmten „Art“ und kön nen entsprechend klassifiziert werden. Dennoch könnten wir uns eine Welt der Dinge und Gattungen vorstellen, in der die kausalen Wechselwirkungen, so wie wir sie gewohnt sind, nicht existieren. In einer solchen Welt könnten die Gegenstände ein ander gleichgültig sein, und nichts würde aufeinander Einfluss ausüben. Oder aber wir würden die rohen mechanischen Ein flüsse zulassen, aber keine chemischen Reaktionen. Solche Wel ten wären sehr viel weniger vereinigt als unsere. Andererseits könnte es dort vollständige physischchemische Wechselwirkun gen geben, aber keinen Geist ; oder es gibt Geist, aber insgesamt nur individuelles und kein soziales Leben ; oder es gibt soziales Leben, das auf Bekanntschaften begrenzt ist, aber keine Liebe ; oder es gibt Liebe, aber keine Gewohnheiten oder Institutionen, die sie regulieren. Keine einzige dieser Stufen des Universums wäre absolut irrational oder desintegriert, obwohl sie von der höheren Stufe aus als geringerwertig erscheinen könnte. Wenn z. B. unsere Gehirne jemals telepathisch miteinander verbunden werden, sodass jeder Einzelne von uns sofort wüsste oder unter bestimmten Umständen sofort wissen könnte, was der andere
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gedacht hat, hätte die Welt, in der wir jetzt leben, für die Denker jener Welt einen untergeordneten Rang. Heute, da uns die gesamte vergangene Ewigkeit für unsere Hypothesen zur Verfügung steht, mag es legitim sein zu fra gen, ob nicht die verschiedenen realisierten Arten von Verei nigung in der von uns bewohnten Welt möglicherweise nach und nach auf jene Art und Weise entwickelt wurden, wie wir jetzt menschliche Systeme als Konsequenz unserer menschli chen Bedürfnisse entwickeln. Wenn solch eine Hypothese be rechtigt wäre, würde sich völlige Einheit eher am Ende als am Anfang aller Dinge ergeben. Mit anderen Worten : Der Begriff des Absoluten würde ersetzt werden müssen durch den Begriff des ultimativ Letzten. Die beiden Begriffe hätten den gleichen Gehalt – den der faktisch maximalen Vereinigung nämlich –, aber ihr zeitlicher Bezug wäre definitiv umgekehrt worden.* Nachdem ich die Einheit des Universums auf diese pragmati sche Weise diskutiert habe, sollten Sie verstehen, warum ich in meiner zweiten Vorlesung – unter Verwendung eines Ausdrucks meines Freundes G. Papini – sagte, dass der Pragmatismus dazu tendiert, all unsere Theorien zu entkrampfen. Die Einheit der Welt wurde immer nur im Großen und Ganzen bestätigt, und zwar so, als sei jeder, der dies infrage stellt, ein Idiot. Die Men talität der Monisten ist so leidenschaftlich, zeitweise nahezu krampfhaft gewesen ; und diese Art, eine Lehrmeinung auf rechtzuhalten, ist nicht leicht mit vernünftiger Diskussion und dem Aufzeigen von Unterschieden übereinzubringen. Insbeson dere die Theorie des Absoluten musste eine Glaubensangele genheit sein, die dogmatisch und mit Ausschließlichkeit verkün det wurde. Wie könnte das All-Eine als Erstes in der Ordnung des Seins und der Erkenntnis, das, selbst logisch notwendig, alle geringeren Dinge in den Banden wechselseitiger Notwendigkeit hält, irgendeine Abschwächung seiner inneren Härte zulassen ? Zum „ultimativ Letzten“ vgl. F. C. S. Schillers Aufsatz „Activity and Substance“ in seinem Buch Humanism [ Philosophical Essays, London/ New York : Macmillan 1903 ], S. 204 [ dt. : „Substanz und Aktivität“. In : Humanismus. Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie, Leipzig : Wer ner Klinkhardt 1911, S. 341–363 ]. *
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Der geringste Verdacht eines Pluralismus, die winzigste Regung von Unabhängigkeit irgendeines ihrer Teile von der Kontrolle des Ganzen würde es zunichte machen. Vollkommene Einheit duldet keine Abstufungen, ebenso wenig wie man vollkommene Reinheit für ein Glas Wasser beanspruchen kann, wenn es auch nur eine einzige Cholerabakterie enthält. Unabhängigkeit eines einzigen Teiles, wie unendlich klein auch immer, wäre für das Absolute ebenso verhängnisvoll wie eine Cholerabakterie. Demgegenüber hat der Pluralismus diese rigorose dogma tische Mentalität nicht nötig. Vorausgesetzt, Sie gestatten ei nen gewissen Grad an Trennendem zwischen den Dingen, ein gewisses Zittern der Unabhängigkeit, ein wenig Spielraum ei niger Teile untereinander, ein wenig wirklich Neues oder Zufäl liges, wie winzig klein auch immer, so ist der Pluralismus damit schon zufrieden und lässt jeden Grad an realer Vereinigung zu, wie groß er auch immer sein mag. Wie weit diese Vereinigung tatsächlich geht, ist eine Frage, die aus dieser Sicht nur empi risch entschieden werden kann. Der Grad der Vereinigung mag enorm oder kolossal sein, aber der absolute Monismus ist zer schlagen, wenn trotz aller Vereinigung auch nur das kleinste Körnchen, der früheste Beginn oder die am weitesten entfernte Spur von etwas Trennendem eingeräumt werden muss, das nicht „überwunden“ wurde. Der Pragmatismus, der die endgültige empirische Bestäti gung, wie das Verhältnis von Vereinigung und Trennung der Dinge tatsächlich sein wird, offen lässt, muss sich offensichtlich auf die Seite des Pluralismus stellen. Er gesteht allerdings zu, dass jene Hypothese sich eines Tages als die akzeptabelste er weisen mag, die von völliger Einheit, einem Allwissenden, einem Ursprung und einem in jeder erdenklichen Hinsicht gefestigten Universum ausgeht. Bis dahin muss man ehrlicherweise die ge genteilige Hypothese einer Welt, die noch nicht völlig vereinigt ist und vielleicht immer in diesem Zustand bleiben wird, ver treten. Diese Hypothese ist die Lehrmeinung des Pluralismus. Da der absolute Monismus verbietet, diese überhaupt ernsthaft in Erwägung zu ziehen, und sie von Beginn an als irrational brandmarkt, ist offensichtlich, dass der Pragmatismus sich vom
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absoluten Monismus abwenden und dem eher empirischen Pfad des Pluralismus folgen muss. Dies verweist uns auf die Welt des gesunden Menschenver stands, in der man die Dinge teilweise vereint und teilweise nicht vereint vorfindet. „Dinge“ also und deren „Verbindun gen“ – was bedeuten solche Worte pragmatistisch gesehen ? In meiner nächsten Vorlesung werde ich die pragmatistische Methode auf eine Stufe des Philosophierens anwenden, die als Common Sense oder „gesunder Menschenverstand“ bekannt ist.
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eil die übliche Redeweise von der Einheit der Welt ein Prinzip bezeichnet, das in seiner Erhabenheit vollkom men inhaltsleer ist, haben wir uns in der letzten Vorlesung den besonderen Formen der Vereinigung zugewandt, wie sie sich in der Welt tatsächlich vollziehen. Wir sahen, dass neben diesen Formen der Vereinigung auch viele Formen des Getrenntseins existieren, die ebenso wirklich sind. Jede Art der Vereinigung und jede Art des Getrenntseins stellt an uns die Frage, in wel chem Maße sie verifiziert ist. Als gute Pragmatisten müssen wir uns also den Erfahrungen und den „Tatsachen“ zuwenden. Der Begriff der absoluten Einheit bleibt trotzdem bestehen, allerdings nur als Hypothese. Diese Hypothese besteht heute nur noch in der Annahme einer allwissenden Macht, für die alle Dinge, ohne jede Ausnahme, eine einzige, systematisch zusammenhängende Tatsache bilden. Aber diese allwissende Macht kann immer noch als ein Absolutes oder als ein Letztes aufgefasst werden ; und gegenüber dieser Hypothese, in der ei nen oder anderen Form, kann immer noch legitimerweise die Gegenhypothese vertreten werden, dass auch das weiteste Feld des Wissens, das je existiert hat oder je existieren wird, immer noch etwas enthält, was wir nicht wissen. Einige Bruchstücke des Wissens können uns immer entgehen. Dies ist die These des noetischen Pluralismus, die die Monis ten für so absurd halten. Solange aufgrund direkter Erfahrung hier nichts entschieden ist, müssen wir diese These genauso gelten lassen wie den noetischen Monismus. Wir sehen also, dass der Pragmatismus, der doch ursprünglich nichts anderes war als eine Methode, uns zum Wohlwollen gegenüber der plu ralistischen Sicht zwingt. Es könnte ja sein, dass manche Teile der Welt so lose mit irgendwelchen anderen Teilen verbunden sind, dass sie nur durch die Kopula „und“ miteinander verknüpft
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werden. Es könnte sogar sein, dass diese Teile entstehen und vergehen, ohne dass die anderen Teile irgendeine innere Verän derung erfahren. Der Pragmatismus kann sich der ernsthaften Betrachtung dieser pluralistischen These, wonach die Welt additiv konstituiert ist, nicht entziehen. Aber diese These führt uns zu der weitergehenden Hypothese, dass die tatsächliche Welt eben nicht „in Ewigkeit“ vollendet ist, wie die Monisten uns ver sichern, sondern auf ewig unvollendet sein könnte und ihr jeder zeit etwas hinzugefügt oder etwas weggenommen werden kann. In einer Hinsicht jedenfalls ist die Welt ganz offensichtlich unvollkommen. Denn bereits die bloße Tatsache, dass wir diese Frage diskutieren, zeigt, dass unser Wissen gegenwärtig unvoll kommen ist und ihm immer etwas hinzugefügt werden kann. Im Hinblick auf das in ihr enthaltene Wissen ändert und entwickelt sich die Welt ständig. Einige allgemeine Bemerkungen über die Art und Weise, in der sich unser Wissen vervollständigt – wenn es sich denn vervollständigt –, sollen zum Gegenstand der heu tigen Vorlesung überleiten : dem „Common Sense“ oder „gesun den Menschenverstand“. Zunächst ist festzustellen, dass die Erweiterung unseres Wis sens sich häppchenweise vollzieht. Die Häppchen mögen grö ßer oder kleiner sein, niemals jedoch ändert sich das Wissen als Ganzes : Ein Teil des alten Wissensbestandes bleibt immer unverändert. Wir dürfen wohl annehmen, dass sich Ihr Wissen über den Pragmatismus augenblicklich vermehrt. Zu einem späteren Zeitpunkt könnte dieses größere Wissen dazu führen, dass Sie bestimmte Auffassungen, die Sie bisher für richtig hiel ten, beträchtlich modifizieren werden. Aber solche Veränderun gen vollziehen sich immer nur allmählich. Betrachten Sie als nächstliegendes Beispiel diese Vorlesungen. Als Erstes gewin nen Sie durch sie vielleicht einige neue Informationen, ein paar neue Definitionen, Unterscheidungen oder Sichtweisen. Aber während diese neuen Ideen Ihrem Wissensbestand hinzugefügt werden, bleibt dieser doch zunächst unverändert. Erst allmäh lich werden Sie das Neue, das ich Ihnen beizubringen versuche, mit Ihren vorherigen Ansichten verbinden und auf diese Weise Ihren Wissensbestand in geringem Maße modifizieren.
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Ich nehme an, dass Sie mir im Augenblick mit einer gewissen günstigen Voreingenommenheit hinsichtlich meiner Kompetenz zuhören, und diese beeinflusst die Aufnahme dessen, was ich sage. Wenn ich die Vorlesung aber plötzlich unterbrechen und stattdessen in volltönendem Bariton das Lied „Wir machen durch bis morgen früh …“ anstimmen würde, dann würde diese neue Tatsache nicht nur Ihrem Wissensbestand hinzugefügt, sondern sie würde Sie auch zwingen, mich persönlich anders einzuschätzen, und das könnte Sie dazu bringen, Ihre Meinung über die pragmatische Philosophie zu ändern und überhaupt eine ganze Reihe Ihrer Ideen neu anzuordnen. Unser Denken wird bei solchen Vorgängen in manchmal schmerzhafter Weise hin- und hergerissen zwischen den älteren Überzeugungen und dem Neuen, das die Erfahrungen mit sich bringen. Unser Wissen wächst also häppchen- oder fleckchenweise ; und diese Flecken breiten sich wie Fettflecken aus. Aber wir gestatten ihnen nur, sich so wenig wie möglich auszubreiten : Wir achten darauf, dass möglichst viel unseres alten Wissens, unserer alten Vorurteile und Überzeugungen davon unbe rührt bleibt. Wir flicken und stopfen lieber, als dass wir etwas erneuern. Das Neue saugt sich ein, es macht Flecken auf dem alten Stoff ; aber es wird selbst auch durch das gefärbt, in das es eindringt. Unser altes Wissen arbeitet bei der Bildung neuen Wissens aktiv mit. Als Ergebnis jeden Fortschritts im Prozess des Lernens entsteht ein neues Gleichgewicht, aber es geschieht relativ selten, dass ein neues Faktum im rohen Zustand hinzuge fügt wird. Normalerweise wird es sozusagen in der Kruste der alten Überzeugungen gegart oder im Sud des Alten gekocht. Neue Wahrheiten sind also das Ergebnis einer Kombina tion von neuen Erfahrungen und alten Wahrheiten, die sich wechselseitig beeinflussen und verändern. Und da dies bei den Wandlungen unserer heutigen Anschauungen der Fall ist, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass dies nicht zu allen Zeiten so gewesen ist. Hieraus folgt, dass sehr alte Denkweisen alle späte ren Wandlungen in den menschlichen Anschauungen überlebt haben könnten. Es könnte sein, dass die primitivsten Formen des Denkens immer noch nicht völlig ausgelöscht sind. Ebenso
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wie unsere fünf Finger, die Muskeln an unseren Ohrmuscheln, unser rudimentärer Schwanzfortsatz oder unsere anderen „ver kümmerten“ Artmerkmale könnten sie als unauslöschliche Zeichen unserer Stammesgeschichte überlebt haben. Unsere Vorfahren mögen in bestimmten Situationen auf Denkweisen gestoßen sein, die sie durch Überlegung nicht hätten finden können. Aber wenn dies einmal geschehen ist, werden diese Denkweisen weitervererbt. Wenn man ein Musikstück in einer bestimmten Tonart beginnt, muss man diese Tonart bis zum Ende des Stücks beibehalten. Man kann sein Haus nach Belie ben verändern, aber der ursprüngliche Grundriss wird derselbe bleiben – selbst die größten Veränderungen machen aus einer gotischen Kirche keinen dorischen Tempel. Man kann eine Fla sche noch so oft ausspülen, aber man wird den Geschmack der Medizin oder des Whiskeys, mit denen sie zuerst gefüllt war, nie ganz los. Meine These ist nun, dass unsere fundamentalen Denkweisen Entdeckungen unserer frühesten Vorfahren sind, die sich durch die Erfahrung aller folgenden Zeiten hindurch bewahren konnten. Diese Denkweisen bilden eine große Stufe des Gleichge wichts in der Entwicklung des menschlichen Geistes, die Stufe des Common Sense. Andere Arten des Denkens wurden dieser Entwicklungsstufe aufgepfropft, konnten diese aber nie erset zen. Wir wollen den Common Sense zunächst so untersuchen, als sei er die letzte und endgültige Entwicklungsstufe. In der Alltagssprache versteht man unter Common Sense den gesunden Menschenverstand, d. h. die Urteilsfähigkeit, die Besonnenheit, den Mutterwitz (um einen umgangssprachlichen Ausdruck zu verwenden) eines Menschen. Der philosophische Begriff des Common Sense bedeutet etwas vollkommen ande res, nämlich die Fähigkeit zur Anwendung bestimmter intellek tueller Formen oder Kategorien des Denkens.1 Wenn wir Hum mer oder Bienen wären, hätte unser Organismus uns vielleicht zu ganz anderen Formen der Aneignung unserer Erfahrungen geführt. Es könnte auch sein – wir dürfen dies jedenfalls nicht von vornherein ausschließen –, dass solche Kategorien, auch wenn sie für uns heute unvorstellbar sind, sich als ebenso nütz
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lich für die mentale Verarbeitung unserer Erfahrungen heraus gestellt hätten wie die, die wir tatsächlich verwenden. Wem dies paradox erscheint, der möge an die analytische Geometrie denken. Genau dieselben Figuren, die Euklid mit hilfe innerer Beziehungen definiert hatte, wurden von Des cartes durch die Beziehungen ihrer Punkte zu einem Koordina tensystem bestimmt. Das Ergebnis war ein vollkommen anderes und ungleich leistungsfähigeres Verfahren der Kurvenberech nung. Alle unsere Begriffe sind Denkmittel [ dt. i. O. ], wie man im Deutschen sagt, nämlich Werkzeuge, mit denen wir die Tat sachen bearbeiten, indem wir sie denken. Die Erfahrung als sol che ist nicht sortiert und beschriftet ; diese Leistung müssen wir selber erbringen. Kant spricht von der ursprünglichen Erfah rung als einem Gewühl der Erscheinungen [ dt. i. O. ] und einer Rhapsodie der Wahrnehmungen [ dt. i. O. ], 2 einem kunterbunten Durcheinander, das wir mit unserem Verstand erst ordnen müs sen. Gewöhnlich gehen wir nun so vor, dass wir zuerst ein System von Begriffen entwerfen, die klassifiziert, geordnet oder in ir gendeiner intellektuellen Hinsicht miteinander verbunden sind ; dann benutzen wir dieses System als eine Art Kontenbuch, mit dessen Hilfe wir die auf uns einströmenden Eindrücke „verwal ten“. Wenn einem Eindruck der entsprechende Platz im System zugewiesen ist, so ist er damit „verstanden“. Diese Konzeption einander zugeordneter Mannigfaltigkeiten, deren Elemente in wechselseitiger „Eins-zu-eins-Relation“ zueinander stehen, er weist sich heute in Mathematik und Logik als so zweckmäßig, dass sie mehr und mehr die älteren klassifikatorischen Konzep tionen ablöst. Es gibt viele begriffliche Systeme dieser Art ; und die Vielfalt sinnlicher Wahrnehmungen bildet auch ein solches System. Man muss nur in irgendeinem der Begriffe eine Eins-zueins-Entsprechung zu den Sinneseindrücken finden, und man hat die Eindrücke fürs Erste rationalisiert. Aber offensichtlich kann man die Eindrücke mithilfe verschiedener begrifflicher Systeme rationalisieren. Die alte Common-Sense-Methode der Rationalisierung be ruht auf einer Reihe von Begriffen, von denen die folgenden die wichtigsten sind :
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das Ding ; das Selbe oder das Andere ; die Gattungen ; der Verstand ; die Körper ; Eine Zeit ; Ein Raum ; Gegenstände und Eigenschaften ; Kausalwirkungen ; das bloß Eingebildete ; das Wirkliche.
Die Ordnung, die diese Begriffe in unsere Wahrnehmungen (die doch veränderlich wie das Wetter sind) gebracht haben, ist uns mittlerweile so vertraut, dass es sehr schwer für uns ist zu erkennen, in welch geringem Maße die Wahrnehmung, für sich selbst genommen, einer festen Regel folgt. Der Vergleich mit dem Wetter ist an dieser Stelle sehr gut geeignet. Das Wetter in Boston beispielsweise folgt nahezu keiner Regel ; die ein zige Regel ist, dass es sich, wenn es zwei Tage hintereinander gleich geblieben ist, am dritten Tag wahrscheinlich (wenn auch nicht mit Sicherheit) ändert. Die Wetter-Erfahrungen in Bos ton sind deshalb diskontinuierlich und chaotisch. Was Tem peratur, Wind, Regen oder Sonnenschein angeht, kann sich das Wetter dreimal am Tag ändern. Aber die meteorologische Anstalt in Washington rationalisiert dieses Chaos, indem sie jede Phase des Bostoner Wetters in eine episodische Ordnung einreiht. Sie ordnet es einem Ort und einem Zeitpunkt in ei nem kontinentalen Tiefdruckgebiet zu, in dessen Geschichte die lokalen Veränderungen aufgereiht sind wie Perlen auf einer Schnur. Man kann wohl davon ausgehen, dass kleine Kinder und nie dere Tiere mit ihren Erfahrungen so umgehen wie uninformierte Bostoner mit ihrem Wetter. Sie wissen ebenso wenig von der Einheit der Welt in Zeit und Raum, von unveränderlichen Ge genständen und sich wandelnden Eigenschaften, von Ursachen, Gattungen, Gedanken oder Dingen wie die normalen Leute von
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kontinentalen Tiefdruckgebieten. Wenn einem Säugling die Rassel aus der Hand fällt, dann sucht er nicht danach. Das Spiel zeug ist für ihn „ausgegangen“, wie eine Kerzenflamme ausgeht ; und es „geht an“, wenn man es ihm wieder in die Hand gibt, wie die Flamme angeht, wenn die Kerze wieder angezündet wird. Die Vorstellung, dass das Spielzeug ein „Ding“ ist, dem er zwischen den sukzessiven Erscheinungen eine durchgängige und eigenständige Existenz zuschreiben muss, fehlt dem Säug ling noch. Das Gleiche gilt für Hunde. Auch für sie gilt : Aus den Augen, aus dem Sinn. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sie keine allgemeine Neigung haben, die permanente Fortdauer von „Dingen“ anzunehmen. Lassen Sie mich einen Absatz aus dem Buch meines Kollegen George Santayana zitieren : „Wenn ein zufrieden schnüffelnder Hund seinen Herrn nach langer Abwesenheit ankommen sieht … fragt das arme Tier nicht nach dem Grund, warum sein Herr wegging, warum er wiederkehrte, warum der Herr geliebt werden sollte oder wa rum er bald darauf zu dessen Füßen liegend seinen Herrn ver gisst, zu grummeln anfängt und von der Jagd träumt – das alles ist ein völliges Geheimnis, ist absolut unüberlegt. Solche Erfah rungen sind wechselhaft, haben einen konkreten Handlungsort und einen gewissen lebendigen Rhythmus ; ihre Geschichten könnten in enthusiastischen Versen erzählt werden. Sie vollzie hen sich gänzlich in plötzlichen Eingebungen, jedes Ereignis ist schicksalhaft, jede Handlung ohne Absicht. Absolute Freiheit und absolute Hilflosigkeit treffen einander : Du hängst völlig vom göttlichen Wohlwollen ab, doch diese unergründliche Kraft ist von deinem eigenen Leben nicht zu trennen … Und doch haben die Figuren selbst in diesem verwirrenden Schauspiel ihre Abgänge und Auftritte ; und ihr Einsatz kann nach und nach von einem Wesen, das fähig ist, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten und sich an die Ordnung der Ereignisse zu erinnern, entdeckt werden … Im Verhältnis, in dem solch ein Verständnis zunimmt, wird jeder Moment der Erfahrung eine Folge des Vorangegangenen und eine Vorhersage für alles Üb rige. Die ruhigen Orte des Lebens sind erfüllt mit Kraft, und dessen Spasmen mit Entspannung. Keine Gefühlsregung kann
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den Verstand überwältigen, da ihm die Grundlage oder der Ge genstand dieser Gefühle niemals völlig verborgen bleibt ; da er über Ereignisse hinausblicken kann, kann ihn keines völlig aus der Fassung bringen. Man kann nach Mitteln suchen, um den schlimmsten Voraussagungen zu entfliehen ; und wo ehedem jeder einzelne Moment nur mit seinem eigenen Wagnis und seinen überraschenden Regungen erfüllt war, schafft nun jeder einzelne Moment Raum zu erkunden, was zuvor geschah, und Mutmaßungen darüber anzustellen, was denn der Handlungs strang des Ganzen sein könnte.“* Sogar heute noch sind Wissenschaft und Philosophie ange strengt darum bemüht, in unserer Erfahrung Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden ; in primitiveren Zeiten wurden hierzu nur die allerersten Anfänge gemacht. Die Menschen waren von allem, was sie mit einiger Lebhaftigkeit dachten, überzeugt, und ihre Träume waren unentwirrbar mit ihrer Re alität vermischt. Hier werden die Kategorien „Gedanken“ und „Dinge“ unbedingt notwendig – denn heute nennen wir be stimmte Erfahrungen nicht mehr Realität, sondern nur mehr „Gedanken“. Es gibt nicht eine von den oben aufgezählten Kategorien, von der wir uns nicht vorstellen könnten, dass ihr Gebrauch in dieser Weise historisch entstand und sich erst all mählich durchsetzte. Die Einheit der Zeit, an die wir alle glauben und in der je des Ereignis sein genau bestimmtes Datum hat, die Einheit des Raumes, in dem jedes Ding seine feste Position einnimmt – diese abstrakten Vorstellungen tragen in unvergleichlicher Weise zur Vereinheitlichung der Welt bei. Aber wie sehr unterscheiden sich diese Konzepte in ihrer Geschlossenheit doch von den un zusammenhängenden und ungeordneten Zeit- und Raumerfah rungen natürlicher Menschen ! Alles, was uns begegnet, besitzt seine eigene Dauer und Ausdehnung, die beide irgendwie von einem „Mehr“ umgeben sind, das sich mit der Dauer und der Ausdehnung der nächstfolgenden Dinge vermischt. Wie schnell [ George Santayana : ] The Life of Reason : Reason in Common Sense. [ New York : Charles Scribner's Sons ] 1905, S. 59. *
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jedoch verlieren wir unseren festen Halt. Nicht nur unsere Kin der machen keinen Unterschied zwischen Gestern und Vor gestern, indem sie die gesamte Vergangenheit durcheinander wirbeln, auch wir Erwachsenen verhalten uns so, wenn es sich um große Zeitspannen handelt. Ebenso verhält es sich mit dem Raum. Ich kann auf einer Karte die Entfernung zwischen dem Ort, an dem ich mich aufhalte, und London, Konstantinopel oder Peking ziemlich genau abschätzen ; in Wirklichkeit jedoch bin ich nicht in der Lage, die tatsächlichen Verhältnisse nachzuempfinden, die auf der Karte symbolisiert werden. Die Rich tungen und Entfernungen bleiben undeutlich, verwirrend und konfus. Der kosmische Raum und die kosmische Zeit sind weit davon entfernt, die angeborenen Anschauungen zu sein, wofür Kant sie gehalten hat ; es ist im Gegenteil offenkundig, dass sie ebenso artifizielle Konstruktionen sind wie alles, was uns die Wissenschaft zu bieten hat. Die große Mehrheit der Menschen verwendet diese Vorstellungen nie ; die meisten leben vielmehr in verschiedenen Zeiten und Räumen, die einander durchdrin gen und überhaupt durcheinander [ dt. i. O. ] sind. Noch einmal zurück zu den konstanten „Dingen" : „dasselbe“ Ding und seine verschiedenen „Erscheinungen“ und „Verwand lungen" ; die verschiedenen „Gattungen“ der Dinge ; die „Gat tungen“ schließlich als „Prädikate“ mit dem einzelnen Ding als „Subjekt“ – in welch ungeheurem Maße wird mit solchen Begriffen der Fluss unserer unmittelbaren Erfahrung mit all seiner sinnlichen Vielfalt begradigt ! Tatsächlich ordnet man aber nur den kleinsten Teil seiner Erfahrungen, indem man dieses begriffliche Instrumentarium anwendet. Von allen die sen Begriffen haben unsere frühesten Vorfahren wahrschein lich nur den Begriff „wieder das Gleiche“ verwendet, und auch von diesem hatten sie wohl nur eine höchst vage und ungenaue Vorstellung. Auch wenn man sie gefragt hätte, ob denn „das selbe“ ein „Ding“ gewesen sei, das während der Zeit, in der sie es nicht gesehen haben, fortbestanden hat, so hätten sie wahr scheinlich nicht mehr weitergewusst und geantwortet, dass sie sich nie diese Frage gestellt und die Dinge nie unter diesem Aspekt betrachtet hätten.
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„Art“ und „Gleichartigkeit“ – wie außerordentlich hilfreich sind doch diese Denkmittel [ dt. i. O. ] auf unserem Weg durch die Vielheit ! Diese Vielheit hätte ja durchaus eine absolute sein können ! Die Erfahrungen hätten alle nur Einzelfälle sein kön nen, ohne dass sich auch nur eine von ihnen jemals wiederholt. In so einer Welt würde man mit Logik nichts anfangen können, denn die Begriffe der Gattung und der Gleichheit von Dingen sind die einzigen Instrumente der Logik. Wenn wir aber einmal wissen, dass etwas, das zu einer Gattung gehört, eben von die ser Gattung ist, dann können wir wie mit Siebenmeilenstiefeln durch das Universum reisen. Tiere verwenden solche Abstrak tionen sicherlich nie, aber gebildete Menschen machen in sehr unterschiedlichem Maße davon Gebrauch. Noch einmal zur Kausalität ! Zumindest diesen Begriff scheint es schon vor Urzeiten gegeben zu haben. Schließlich kennen wir primitive Völker, die glauben, dass so ziemlich al les von Bedeutung ist und einen Einfluss irgendwelcher Art ausüben kann. Die Suche nach bestimmten Einflüssen scheint mit der Frage „Wer oder was ist schuld ?“ begonnen zu haben – schuld nämlich an irgendeiner Krankheit oder irgendeinem Unglück oder an irgendeiner anderen Unannehmlichkeit. Von diesem Punkt ging die Suche nach kausalen Einflüssen aus. Hume und die „Naturwissenschaften“ haben sich gemeinsam bemüht, den Begriff des kausalen Einflusses insgesamt auszu merzen, indem sie ihn durch das vollkommen andere Denkmittel [ dt. i. O. ] „Gesetz“ ersetzten. Aber der Begriff des Gesetzes ist eine vergleichsweise junge Erfindung, und der Begriff der Beeinflussung beherrscht weiterhin den älteren Bereich des ge sunden Menschenverstandes. Das „Mögliche“ als etwas, das weniger ist als das Tatsächli che, aber mehr als das völlig Unrealistische, stellt einen weiteren dieser maßgeblichen Begriffe des gesunden Menschenverstan des dar. Man kann sie so viel kritisieren, wie man will : Sie blei ben doch bestehen. Und in dem Augenblick, in dem der Druck der Kritik nachlässt, kehren wir zu ihnen zurück. Das „Ich“, der „Körper“, im substanziellen oder im metaphysischen Sinn – niemand kann sich der Unterordnung unter diese Formen des
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Denkens entziehen. In der Praxis bleiben die Denkmittel [ dt. i. O. ] des gesunden Menschenverstandes durchweg siegreich. Jeder, egal wie gebildet, denkt sich die „Dinge“ immer noch in der Art des gesunden Menschenverstandes, nämlich als kons tante, einheitliche Gegenstände, die „Träger“ austauschbarer Eigenschaften sind. Niemand benutzt ständig und ernsthaft den kritischen Begriff einer Gruppe von Sinnesqualitäten, die von einem Gesetz zusammengehalten werden. Ausgestattet mit die sen Kategorien des gesunden Menschenverstandes entwickeln wir Ideen, entwerfen Pläne und verbinden die entlegenen Teile der Erfahrung mit dem, was uns vor Augen liegt. Unsere jün geren und kritischeren Philosophien sind nichts als modische Phantastereien im Vergleich zu dieser natürlichen Mutterspra che des Denkens. Der gesunde Menschenverstand stellt also eine völlig ein deutige Stufe unseres Verstehens der Dinge dar, eine Stufe, die in außerordentlich erfolgreicher Weise die Zwecke unseres Denkens erfüllt. „Dinge“ existieren, auch wenn wir sie nicht wahrnehmen. Ihre „Gattungen“ existieren ebenso. Ihre „Qua litäten“ sind das, wodurch sie wirken und auf das wir einwirken ; und diese Qualitäten existieren ebenfalls. Diese Lampen werfen ihre Qualität des Lichtes auf jeden Gegenstand hier im Raum. Wir unterbrechen es, indem wir einen undurchlässigen Schirm in den Lichtstrahl halten. Genau das Geräusch, das meine Lip pen von sich geben, findet seinen Weg in Ihr Ohr. Es ist die fühlbare Hitze des Feuers, die in das Wasser eindringt, in dem wir ein Ei kochen wollen ; und wir können diese Hitze in Kälte verwandeln, indem wir ein Stück Eis in das Wasser fallen las sen. Auf diesem Stand der Philosophie sind ausnahmslos alle nichteuropäischen Menschen stehen geblieben. Sie reicht für alle nötigen Zwecke im praktischen Leben aus ; und sogar in nerhalb unseres Geschlechtes sind es nur die hochvergeistigten Exemplare, deren Geist durch zu viel Gelehrsamkeit verdorben ist (wie Berkeley es formuliert), 3 die überhaupt erst auf die Idee gekommen sind, die Vorstellungen des gesunden Menschen verstands könnten vielleicht doch nicht die absolute Wahrheit sein.
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Aber wenn wir zurückschauen und darüber nachdenken, wie die Kategorien des gesunden Menschenverstandes ihre wunder volle Überlegenheit erlangt haben könnten, dann spricht nichts gegen die Vorstellung, dass dieser Prozess sich genauso abge spielt hat wie derjenige, durch den die Begriffe eines Demo krit, Berkeley oder Darwin in jüngeren Zeiten ihre Triumphe erlangten. Mit anderen Worten, diese Kategorien könnten von prähistorischen Genies entdeckt worden sein, deren Namen in der Nacht der Vorzeit verschwunden sind ; sie könnten sich als wahr herausgestellt haben, weil sie zu den unmittelbaren Er fahrungen passten ; und sie hätten sich dann von Tatsache zu Tatsache und von Mensch zu Mensch ausgebreitet, bis die Spra che vollständig auf ihnen beruhte und wir heute außerstande sind, ohne Anstrengung mithilfe anderer Begriffe zu denken. Eine solche Sicht der Dinge würde lediglich einer Regel fol gen, die sich anderswo als überaus fruchtbar herausgestellt hat, nämlich der Annahme, dass sich das Riesige und Entfernte nach den gleichen Gesetzen verhält, wie wir sie bei dem Kleinen und Nahel iegenden beobachten können. Für alle nutzenorientierten praktischen Zwecke reichen diese Begriffe vollkommen aus. Aber dass sie von bestimmten Punkten ausgingen, an denen sie entdeckt wurden, und sich nur allmählich von einem zum anderen Gegenstand ausbreiteten, scheint heute durch die immer zweifelhafter werdenden Gren zen ihrer Anwendung bewiesen zu sein. Wir nehmen für be stimmte Zwecke eine „objektive“ Zeit an, die aequabiliter fluit, aber wir glauben nicht wirklich an eine solche gleichmäßig flie ßende Zeit, noch realisieren wir sie. „Raum“ ist ein weniger vager Begriff ; aber was sind „Dinge“ ? Ist eine Konstellation wirklich ein Ding ? Oder eine Armee ? Oder ist ein ens rationis wie Raum oder Gerechtigkeit ein Ding ? Ist ein Messer, dessen Griff und Schneide ausgetauscht wurden, „dasselbe“ ? Gehört der „Idiot“, den Locke 4 so ausführlich behandelt, wirklich zur menschlichen „Gattung“ ? Ist „Telepathie“ eine „Einbildung“ oder eine „Tatsache“ ? Sobald man den praktischen Gebrauch dieser Kategorien verlässt (ein Gebrauch, der in der Regel durch die Umstände des speziellen Falles vollkommen ausreichend
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nahe gelegt wird) und sich einer nur neugierigen und speku lativen Denkweise zuwendet, wird es unmöglich anzugeben, innerhalb welcher Grenzen irgendeine von ihnen Gültigkeit haben soll. Die peripatetische Philosophie mit ihrem Hang zum Ratio nalismus hat den Versuch unternommen, die Kategorien des gesunden Menschenverstands durch sehr technische und klare Untersuchungen zu verewigen. Demnach ist z. B. ein „Ding“ ein Wesen oder ein ens. Ein ens ist ein Subjekt, dem Qualitäten „in härieren“. Ein Subjekt ist eine Substanz. Substanzen gehören zu Gattungen, die Gattungen sind voneinander getrennt, und ihre Zahl ist begrenzt. Diese Unterscheidungen sind fundamental und ewig. Als Ausdrücke unserer Sprache sind sie in der Tat nützlich, aber ein Nutzen, der über ihre Funktion als Mittel zu einer brauchbaren Ausdrucksweise hinausginge, ist nicht zu er kennen. Wenn Sie einen scholastischen Philosophen fragen, was eine Substanz neben ihrer Funktion als Trägerin der Attribute sei, so wird er einfach sagen, dass Ihr Verstand schon genau wisse, was das Wort bedeutet. Was aber der Verstand genau kennt, ist lediglich das Wort selbst und seine orientierende Funktion. Und so kam es, dass Geister sibi permissi, Geister, die neugierig waren und Muße hatten, das Niveau des gesunden Menschenverstands verlie ßen und sich dem zugewandt haben, was man ganz allgemein das „kritische“ Niveau des Denkens nennen könnte. Nicht nur solche Geister wie Hume, Berkeley und Hegel, sondern auch praktische Tatsachenforscher wie Galilei, Dalton, Faraday wa ren nicht damit einverstanden, die naiven Sinnesbegriffe des ge sunden Menschenverstandes als letzte Wirklichkeit anzusehen. So wie der gesunde Menschenverstand unseren zeitweilig unter brochenen Wahrnehmungen seine konstanten „Dinge“ interpo liert, so extrapoliert die Wissenschaft ihre Welt der „primären“ Qualitäten, ihre Atome, ihren Äther, ihre magnetischen Felder und Ähnliches jenseits der Welt des gesunden Menschenver standes. Die „Dinge“ sind nun unsichtbare, ungreifbare Dinge ; und die alten sichtbaren Dinge des gesunden Menschenver standes sollen nun aus einer Mixtur dieser Unsichtbarkeiten
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resultieren. Oder aber der ganze naive Begriff von einem Ding wird überhaupt abgelöst und der Name des Dinges dahingehend interpretiert, dass er nur mehr das Gesetz oder die Regel der Verbindung [ dt. i. O. ] bezeichnet, durch die bestimmte unserer Wahrnehmungen gewöhnlich einander folgen oder nebenein ander existieren. Wissenschaft und Philosophie sprengen auf diese Weise die Grenzen des gesunden Menschenverstands. Die Wissenschaft läßt den naiven Realismus verschwinden : „Sekundäre“ Qualitä ten werden unwirklich, nur primäre bleiben übrig. Die kritische Philosophie lässt keinen Stein auf dem anderen. Die Begriffe des gesunden Menschenverstands hören vollends auf, irgend etwas Wirkliches zu repräsentieren ; sie sind nur mehr großartige Kunstgriffe des menschlichen Denkens, sie sind nur unsere Art und Weise, angesichts des haltlosen Stroms der Wahrnehmung der Verwirrung zu entgehen. Trotzdem hat die wissenschaftliche Tendenz im kritischen Denken – wenn auch ursprünglich aus rein intellektuellen Mo tiven geboren – unseren Augen ein gänzlich unerwartetes Spek trum von praktischen Nützlichkeiten eröffnet. Galilei schenkte uns exakte Uhren und exakte Artillerie-Fertigkeiten ; die Che miker überfluten uns mit neuen Medikamenten und Farbstof fen ; Ampère und Faraday haben wir die New Yorker U-Bahn und die drahtlose Telegraphie zu verdanken. Die hypotheti schen Begriffe, die diese Männer erfunden und in ihrer Weise definiert haben, erweisen sich in ihren sinnlich wahrnehmbaren Konsequenzen als außergewöhnlich fruchtbar. Unsere Logik kann aus diesen Begriffen Konsequenzen ableiten, die unter bestimmten Bedingungen eintreten werden ; wir können dann diese Bedingungen herbeiführen, und schon erscheint die Kon sequenz vor unseren Augen. Das Ausmaß der praktischen Kon trolle der Natur, wie sie uns neuerdings von wissenschaftlichen Denkweisen in die Hand gegeben wurde, übersteigt bei weitem das Ausmaß der Kontrolle, die uns der gesunde Menschenver stand gab. Diese Kontrolle nimmt in immer stärkerem Maße zu, sodass niemand in der Lage ist, eine Grenze aufzuzeigen. Man mag sogar befürchten, dass die Existenz des Menschen
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durch seine eigenen Fähigkeiten bedroht ist, dass seine feste Natur als ein Organismus sich als inadäquat erweisen wird, die Belastungen auszuhalten, die von den immer weiter zunehmen den unglaublichen, ja beinah göttlichen kreativen Funktionen ausgehen, die sein Intellekt ihm mehr und mehr zu handhaben erlaubt. Er mag in seinem Wohlstand ertrinken wie ein Kind in der Badewanne, das das Wasser angestellt hat und es nicht mehr abstellen kann. Die Philosophie in ihrer kritischen Ausrichtung ist erheblich gründlicher um Negationen bemüht als die Naturwissenschaft und gibt uns deshalb bisher noch keine neue Dimension prakti scher Macht. Locke, Hume, Berkeley, Kant, Hegel – alle waren sie gänzlich unfruchtbar, was die Erhellung der Einzelheiten des Naturverlaufs betrifft ; und mir fällt keine Erfindung oder Entdeckung ein, die direkt auf irgendetwas zurückgeführt wer den kann, das ihrem eigentümlichen Denken entspringt ; denn weder mit Berkeleys Teerwasser noch mit Kants Nebularhypo these hatten ihre jeweiligen philosophischen Lehren irgend etwas zu tun. Die Befriedigung, die sie ihren Schülern vermit teln, ist intellektuell, nicht praktisch ; und selbst dann müssen wir gestehen, dass es große Negativposten in ihrer Bilanz gibt. Es gibt also mindestens drei gut unterscheidbare Ebenen, Stufen oder Typen des Denkens über die Welt, in der wir leben ; und die Begriffe der einen Stufe haben ihre Verdienste, die der anderen haben andere. In jedem Fall ist es unmöglich zu sa gen, dass irgendeine der bis jetzt erkennbaren Stufen in einem absoluten Sinn wahrer als irgendeine andere ist. Der gesunde Menschenverstand ist die am meisten konsolidierte Phase, weil er als Erster an der Reihe war und die Sprache selbst zu sei nem Verbündeten machte. Ob der gesunde Menschenverstand oder die Naturwissenschaften die erhabenere Stufe darstellen, mag der privaten Einschätzung überlassen bleiben. Aber weder Konsolidierung noch Erhabenheit sind maßgebliche Kriterien der Wahrheit. Wenn der gesunde Menschenverstand wahr wäre, warum hätte die Wissenschaft dann die sekundären Qualitäten, denen unsere Welt ihren lebendigen Reiz verdankt, als falsch brandmarken und stattdessen eine unsichtbare Welt von Punk
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ten und Kurven und mathematischen Gleichungen erfinden sollen ? Warum hätte es nötig sein sollen, Ursachen und Hand lungen zu Gesetzen der „funktionalen Variation“ umzuformen ? Die scholastische Philosophie – die akademisch geschulte jün gere Schwester des gesunden Menschenverstands – hat vergeb lich versucht, die Formen, mittels deren die menschliche Familie immer miteinander gesprochen hat, in eine feste Ordnung zu fügen und so für die Ewigkeit endgültig festzulegen. Substan zielle Formen (mit anderen Worten, unsere sekundären Quali täten) überstanden kaum das Jahr 1600. Die Menschen waren ihrer bereits überdrüssig geworden ; und Galilei und Descartes mit seiner „neuen Philosophie“ gaben ihnen wenig später den Gnadenstoß. Wenn aber diese neuen Arten des wissenschaftlichen „Din ges“, die Welt der Atome und des Äthers, in einem essenziellen Sinn „wahrer“ wären, warum sollten sie dann so viel Kritik in der Wissenschaft selbst hervorgerufen haben ? Wissenschafts theoretiker auf allen Seiten weisen darauf hin, dass diese Enti täten und ihre Bestimmungen nicht als im buchstäblichen Sinne wahr angesehen werden sollten, wie endgültig sie auch konzi piert sein mögen. Es ist so, als ob sie existierten ; aber in Wirk lichkeit sind sie ebenso wie Koordinaten oder Logarithmen nur artifizielle Kürzel, mit deren Hilfe wir uns von einem Teil des Erfahrungsstroms zu einem anderen bewegen. Wir können mit ihnen sehr Gewinn bringend rechnen ; sie dienen uns auf wun dervolle Weise ; aber wir dürfen uns von ihnen nicht überlisten lassen. Wenn wir diese Typen des Denkens vergleichen, um heraus zufinden, welcher in einem absoluten Sinn der wahrere ist, so ist keine einleuchtende Schlussfolgerung möglich. Ihre Natürlich keit, ihre intellektuelle Ökonomie, ihre Fruchtbarkeit für die Praxis : All dies sind verschiedene Tests ihrer Richtigkeit – und am Ende steht Verwirrung. Der gesunde Menschenverstand ist besser für die eine Sphäre des Lebens geeignet, die Wissen schaft für eine andere, die kritische Philosophie für eine dritte ; aber ob irgendeine absolut wahrer ist, das weiß nur der Himmel. Im Augenblick sind wir – wenn ich die Sache richtig verstehe –
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Zeugen einer sonderbaren Rückwendung zu einer Betrachtung der physischen Natur, wie sie für den gesunden Menschenver stand typisch ist, nämlich in der Wissenschaftsphilosophie sol cher Autoren wie Mach, Ostwald und Duhem. Diese Männer lehren, dass keine Hypothese wahrer als irgendeine andere ist in dem Sinn, dass sie eine getreuere Kopie der Wirklichkeit wäre. Sie sind alle nichts als Redeweisen von uns, und sie können einzig und allein unter dem Gesichtspunkt ihres Gebrauches verglichen werden. Das einzig buchstäblich wahre Ding ist die Wirklichkeit ; und die einzige Wirklichkeit, die wir kennen, ist nach diesen Theoretikern die wahrnehmbare Wirklichkeit, der vorbeiziehende Strom unserer Wahrnehmungen und Gefühle. „Energie“ ist nach Ostwald eine Sammelbezeichnung für die in einer bestimmten Weise gemessenen Eindrücke, so wie sie sich z. B. als Bewegung, Hitze, magnetische Anziehung, Licht oder was auch immer zeigen. Indem wir sie messen, sind wir in der Lage, die entsprechenden Veränderungen in Formeln zu fassen, die in ihrer Einfachheit und Fruchtbarkeit für den menschlichen Gebrauch unvergleichlich sind. Sie sind höchste Triumphe der Denkökonomie. Niemand kann sich der Bewunderung für die „energetische“ Philosophie entziehen. Aber trotz ihrer Anziehungskraft be halten Entitäten, die nicht mehr wahrnehmbar sind, die Ele mentarteilchen und die Schwingungen, für die meisten Physiker und Chemiker ihre Bedeutung bei. Die energetische Philoso phie wirkt zu ökonomisch, um allein völlig ausreichend zu sein. Überfülle und nicht Ökonomie könnte am Ende der Grund akkord der Wirklichkeit sein. Ich beschäftige mich hier mit hochgradig wissenschaftlichen Dingen, die kaum für populäre Vorlesungen geeignet sind, und meine Kompetenz in diesen Angelegenheiten ist gering. Wie auch immer : umso besser für meine Schlussfolgerung, die an diesem Punkt folgende ist : Der ganze Begriff der Wahrheit, von dem wir natürlicherweise und ohne Überlegung anneh men, dass damit eine einfache Verdoppelung einer vorgefer tigten und gegebenen Wirklichkeit durch den Geist gemeint ist, erweist sich als alles andere denn als klar verständlich. Es
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gibt keinen einfachen Test, mit dessen Hilfe man leichthin zwi schen den verschiedenen Typen des Denkens, die Anspruch auf Wahrheit erheben, entscheiden könnte. Der gesunde Men schenverstand, die verbreitete Art der Wissenschaft oder die Philosophie der Elementarteilchen, die ultrakritische Wissen schaft oder die Energetik, die kritische oder die idealistische Philosophie – alle scheinen nur in ungenügender Weise wahr zu sein und bleiben in irgendeiner Hinsicht unbefriedigend. Es ist offensichtlich, dass der Konflikt zwischen diesen so extrem dif ferenten Systemen uns dazu zwingt, den Begriff der Wahrheit einer Generalüberholung zu unterziehen, denn zum gegenwär tigen Zeitpunkt haben wir keine klare Vorstellung davon, was dieser Begriff überhaupt heißen soll. In der nächsten Vorlesung werde ich mich dieser Aufgabe zuwenden. Zum Abschluss der heutigen Vorlesung will ich nur noch ein paar Worte hinzufügen. Es sind nur zwei Punkte, die ich Sie bitte, aus meiner heutigen Vorlesung im Gedächtnis zu behalten. Der erste bezieht sich auf den gesunden Menschenverstand. Wir haben gesehen, dass wir Grund haben, ihm zu misstrauen. Wir haben Grund zu dem Verdacht, dass seine. Kategorien – obwohl sie so ehrwürdig sind, so universell eingesetzt werden und in die Struktur der Spra che eingebaut sind – am Ende doch nur eine Ansammlung von außergewöhnlich erfolgreichen Hypothesen darstellen, Hypo thesen, die irgendwann von einzelnen Menschen entdeckt oder erfunden, dann aber allmählich verbreitet und schließlich von jedermann gebraucht wurden ; Hypothesen, mittels deren un sere Vorfahren seit Urzeiten die Diskontinuität ihrer unmittel baren Eindrücke vereinheitlicht und geordnet und sich selbst so in einen Gleichgewichtszustand mit der äußeren Natur gebracht haben, der für die üblichen praktischen Zwecke so befriedigend war, dass er sicherlich ewig hätte bestehen können – mit Aus nahme solcher außergewöhnlicher intellektueller Lebendigkeit wie der von Demokrit, Archimedes, Galilei, Berkeley und an derer exzentrischer Genies, die das Beispiel jener Männer ent flammt hat. Ich bitte Sie, behalten Sie diese Skepsis gegenüber dem gesunden Menschenverstand im Gedächtnis.
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Dies ist der andere Punkt : Wird nicht durch die Existenz der verschiedenen Typen des Denkens, die wir betrachtet ha ben – wovon jede so hervorragend für bestimmte Zwecke ge eignet ist und die doch alle miteinander konfligieren, wobei keine in der Lage ist, den Anspruch auf absolute Richtigkeit zu erheben –, wird nicht hierdurch die pragmatistische Sicht nahe gelegt, wonach alle unsere Theorien instrumentell sind und eher mentale Formen der Anpassung an die Wirklichkeit darstellen als Offenbarungen oder verblasene Antworten auf irgendwelche göttlichen Welträtsel ? Ich habe diese Ansicht in meiner zweiten Vorlesung so deutlich gemacht, wie ich konnte. Die Rastlosigkeit der tatsächlichen theoretischen Situation, der Wert, den jede Ebene des Denkens für einige Zwecke besitzt, und die Unfähigkeit, die anderen definitiv auszustechen, legen diese pragmatistische Sicht sicher nahe. Ich hoffe, ich kann Sie in den nächsten Vorlesungen vollends von diesem Standpunkt überzeugen. Könnte die Wahrheit am Ende möglicherweise etwas Mehrdeutiges sein ?
Sechste Vorlesung DER WAHRHEITSBEGRIF F DES P RAGMATISMUS
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ls Clerk Maxwell ein Kind war, so wird berichtet, war er besessen von dem Wunsch, alles ganz genau erklärt zu be kommen. Wenn jemand ihn mit vagen Worterklärungen irgend eines Phänomens abspeisen wollte, unterbrach er ihn ungeduldig und sagte : „Ja, aber ich will wissen, wie diese bestimmte Sache genau vor sich geht !“1 Hätte Clerk Maxwell nach der Wahrheit gefragt, so hätte ihm nur ein Pragmatist sagen können, wie diese Sache genau vor sich geht. Ich glaube, dass die zeitgenössischen Pragmatisten, besonders Schiller und Dewey, die einzig vertret bare Darstellung dieses Problems gegeben haben. Es ist ein sehr heikles Problem, das seine feinen Wurzeln in alle möglichen Rit zen treibt und deshalb nur schwer in dieser skizzenhaften Weise behandelt werden kann, die für eine öffentliche Vorlesung die einzig geeignete ist. Aber die von Schiller und Dewey vertretene Sicht der Wahrheit wurde von rationalistischen Philosophen so scharf angegriffen und so vollkommen missverstanden, dass hier eine klare und einfache Stellungnahme gegeben werden sollte. Ich gehe davon aus, dass die pragmatistische Sicht der Wahr heit alle Phasen der klassischen Karriere von Theorien durchlau fen wird. Zuerst wird eine neue Theorie als absurd angegriffen ; dann wird zugegeben, dass sie richtig ist, aber eben auch trivial und belanglos ; schließlich wird sie als so wichtig angesehen, dass ihre Gegner beanspruchen, sie selbst entdeckt zu haben. Unsere Auffassung der Wahrheit befindet sich gegenwärtig im ersten die ser drei Stadien, wobei sich in bestimmten Kreisen bereits Symp tome des zweiten Stadiums zeigen. Ich würde mir wünschen, dass diese Vorlesung dazu beiträgt, ihr in den Augen von möglichst vielen von Ihnen aus dem ersten Stadium herauszuhelfen. Wahrheit ist, wie Sie aus jedem Lexikon erfahren können, eine Eigenschaft gewisser Vorstellungen. „Wahr“ bezeichnet die „Übereinstimmung“ mit der ‚Wirklichkeit‘, während „falsch“
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Nichtübereinstimmung mit ihr bezeichnet. Sowohl Pragmatis ten als auch Rationalisten akzeptieren diese Definition als eine Selbstverständlichkeit. Ihr Streit beginnt erst bei der Frage, was genau mit den Ausdrücken „Übereinstimmung“ und „Wirklich keit“ gemeint ist, wenn „Wirklichkeit“ etwas sein soll, mit dem unsere Vorstellungen übereinzustimmen haben. Bei der Antwort auf diese Fragen sind die Pragmatisten ana lytischer und sorgfältiger, die Rationalisten sind lässiger und denken nicht so genau darüber nach. Die populäre Auffassung ist, dass eine wahre Vorstellung ihre Realität abbilden muss. Wie andere populäre Auffassungen, so ist auch diese nach dem Vorbild der gewöhnlichsten Erfahrungen gebildet. Unsere wah ren Vorstellungen von wahrnehmbaren Dingen bilden diese in der Tat ab. Schließen Sie ihre Augen und stellen Sie sich jene Uhr dort an der Wand vor, so erhalten Sie eine solche wahre Abbildung ihres Zifferblattes. Ihre Vorstellung des Uhrwerks hingegen hat – sofern Sie nicht gerade Uhrmacher sind – viel weniger von einer Abbildung ; dennoch genügt sie den Anforde rungen, da sie in keiner Weise mit der Wirklichkeit im Wider spruch steht. Selbst wenn diese Vorstellung auf das bloße Wort „Uhrwerk“ zusammenschrumpfte, würde dieses Wort immer noch vollkommen genügen. Wenn Sie aber von der „zeitmes senden Funktion“ der Uhr sprechen oder von der „Elastizität“ ihrer Feder, so ist nur schwer zu erkennen, was genau ihre Vor stellung da abbilden soll. Sie sehen, dass es hier ein Problem gibt. Wenn unsere Vor stellungen ihren Gegenstand nicht genau abbilden können, was soll es dann heißen, wenn wir von der Übereinstimmung mit diesem Gegenstand sprechen ? Manche Idealisten scheinen zu behaupten, dass diese Vorstellungen immer dann wahr sind, wenn sie das sind, was Gott meint, was wir über das Objekt denken sollten. Andere halten die Abbildtheorie streng durch und verwenden sie so, als ob unsere Vorstellungen in dem Maße wahr wären, in dem sie sich dem Abbild der ewigen Denkweisen des Absoluten annäherten. Wie Sie sehen, fordern diese Ansichten zu einer pragmatis tischen Betrachtung des Problems heraus. Aber die zugrunde
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liegende Annahme der Rationalisten besagt, dass Wahrheit im Wesentlichen eine unbewegliche, statische Relation bezeichnet. Sobald man eine wahre Vorstellung von irgendetwas erlangt hat, ist die Sache erledigt. Man hat sie in Besitz ; man weiß ; man hat seine Bestimmung im Denken erfüllt. Man ist im Geiste dort angekommen, wo man sein soll ; man hat seinem kategorischen Imperativ gehorcht ; und es bedarf keiner weiteren Schritte, die auf diesen Höhepunkt des rationalen Geschicks noch folgen könnten. In erkenntnistheoretischer Hinsicht befindet man sich in einem stabilen Gleichgewicht. Der Pragmatist dagegen stellt seine übliche Frage. „Ange nommen, eine Vorstellung oder eine Meinung sei wahr“, sagt er, „welchen konkreten Unterschied bewirkt diese Wahrheit im tat sächlichen Leben von irgendjemandem ? Wie wird die Wahrheit erfahren ? Wie unterscheiden sich die Erfahrungen von denen, die sich einstellen würden, wenn die Annahme falsch wäre ? Kurz gesagt : Was ist der Barwert der Wahrheit in Bezug auf die tatsächliche Erfahrung ?“ Im selben Moment, in dem der Pragmatismus diese Frage stellt, steht die Antwort bereits fest : Wahre Vorstellungen sind solche, die wir uns zu eigen machen, beweisen, erhärten und veri fizieren können. Falsche Vorstellungen sind solche, bei denen wir dies nicht können. Das ist der praktische Unterschied, der aus wahren Vorstellungen resultiert ; und deshalb ist dies die Be deutung der Wahrheit, denn nur in dieser Weise erscheint uns die Wahrheit. Diese Behauptung habe ich nun zu verteidigen. Die Wahrheit einer Vorstellung ist keine feststehende Eigenschaft, eine, die ihr inhärent wäre. Wahrheit passiert einer Vorstellung. Sie wird wahr, sie wird durch Ereignisse wahr gemacht. Ihre Wahrheit ist tatsächlich ein Ereignis, ein Prozess : der Prozess nämlich, in dem sie sich selbst wahr macht, ihre Verifikation. Die Gültigkeit einer Vorstellung ist nichts anderes als eben dieser Prozess des Sich-geltend-Machens oder der Validierung [ validation ] . Aber was bedeuten die Wörter Verifikation und Validie rung aus pragmatistischer Sicht ? Sie bezeichnen wiederum bestimmte praktische Konsequenzen der verifizierten und
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validierten Vorstellung. Es ist schwer, eine Formulierung zu finden, die diese Konsequenzen besser charakterisiert als die gewöhnliche Formel von der Übereinstimmung – genau diese Konsequenzen meinen wir, wenn wir sagen, dass unsere Vor stellungen mit der Wirklichkeit „übereinstimmen“. Sie führen uns nämlich durch die Handlungen und andere Vorstellungen, die durch sie angeregt werden, zu anderen Teilen der Erfahrung, von denen wir spüren – und wir verfügen tatsächlich über solch ein Gespür –, dass die ursprünglichen Vorstellungen mit ihnen übereinstimmen. Die Verbindungen und Übergänge erscheinen uns von Punkt zu Punkt als fortschreitend, harmonisch, befrie digend. Diese Funktion einer angenehmen Hinführung ist es eigentlich, was wir unter der Verifikation einer Vorstellung ver stehen. Eine solche Betrachtungsweise hört sich recht vage und auf den ersten Blick auch trivial an, aber es lassen sich aus ihr so viele Konsequenzen ableiten, dass es der ganzen verbleibenden Zeit dieser Vorlesung bedarf, um sie zu erklären. Lassen Sie mich beginnen, indem ich Sie daran erinnere, dass der Besitz wahrer Gedanken immer gleichbedeutend ist mit dem Besitz unschätzbarer Instrumente des Handelns und dass unsere Pflicht, Wahrheit zu erwerben, keineswegs auf einem blinden, aus dem Nichts stammenden Befehl beruht und auch nicht irgendein „Kunstgriff“ ist, zu dem wir durch unseren Ver stand gezwungen werden. Diese Pflicht ist vielmehr durch aus gezeichnete praktische Gründe gerechtfertigt. Es ist nur allzu bekannt, dass es für das menschliche Leben von großer Wichtigkeit ist, wahre Überzeugungen in Bezug auf die Tatsachen zu besitzen. Wir leben nun einmal in einer Welt, deren Realitäten für uns sowohl unendlich nützlich als auch unendlich schädlich sein können. Solche Vorstellungen, die uns sagen, welche dieser Realitäten wir erwarten dürfen, gelten als wahre Vorstellungen in diesem ganz elementaren Sinn von Veri fikation, und das Streben nach solchen Vorstellungen ist eine ganz elementare Pflicht des Menschen. Der Besitz der Wahrheit ist eben kein Selbstzweck, sondern lediglich ein Hilfsmittel zur Befriedigung anderer vitaler Bedürfnisse. Wenn ich mich im
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Wald verlaufen und nichts zu essen habe und dann etwas ent decke, was wie ein Kuhpfad aussieht, so ist es von allerhöchster Wichtigkeit, dass ich mir an seinem Ende eine menschliche An siedlung vorstelle ; denn wenn ich dies tue und dem Pfad folge, werde ich mich retten. Der wahre Gedanke ist hier also nützlich, weil sein Gegenstand, das Gebäude, nützlich ist. So leitet sich der praktische Wert von wahren Vorstellungen in erster Linie von der praktischen Wichtigkeit ihrer Gegenstände ab. Tatsächlich sind diese Gegenstände nicht zu allen Zeiten gleich wichtig. Bei anderer Gelegenheit hätte ich vielleicht keine Verwendung für das Haus, und dann wäre meine Vorstellung von ihm zwar veri fizierbar, aber für praktische Zwecke irrelevant, und so wäre sie besser latent geblieben. Da allerdings beinah jeder Gegenstand irgendwann von vorübergehender Wichtigkeit sein kann, ist es offensichtlich sehr vorteilhaft, einen Vorrat an Extra-Wahrhei ten zu besitzen, also von solchen Vorstellungen, die in bloß mög lichen Situationen wahr werden könnten. Wir verwahren solche Extra-Wahrheiten in unserer Erinnerung, und mit dem Über schuss füllen wir unsere Nachschlagewerke. Immer wenn solch eine Extra-Wahrheit für einen unserer Notfälle praktisch rele vant wird, holen wir sie aus dem Lager, wo wir sie auf Eis gelegt hatten, und lassen sie ihre Arbeit in der Welt tun. So wird unser Glaube an diese Wahrheit lebendig. Von einer solchen Wahrheit kann man entweder sagen, dass sie nützlich ist, weil sie wahr, oder auch, dass sie wahr ist, weil sie nützlich ist. Beides meint genau dasselbe, nämlich dass es sich um eine Vorstellung han delt, die verwirklicht wird und verifiziert werden kann. „Wahr“ bezeichnet jede Vorstellung, die den Verifikationsprozess aus löst, „nützlich“ bezeichnet deren perfektes Funktionieren in der Erfahrungswelt. Wahre Vorstellungen wären nie als solche her ausgestellt worden und hätten nie eine spezifische Bezeichnung erhalten – schon gar nicht eine Bezeichnung, die einen bestimm ten positiven Wert impliziert –, wenn sie nicht von Anfang an in dieser Weise nützlich gewesen wären. Aus dieser simplen Überlegung gewinnt der Pragmatismus seinen allgemeinen Begriff der Wahrheit als etwas, das we sentlich mit der Art und Weise verbunden ist, in der uns ein
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bestimmtes Moment unserer Erfahrung zu anderen Momen ten führen kann, die zu erreichen der Mühe wert ist. In ers ter Linie – und vom Standpunkt des gesunden Menschenver stands – bezeichnet die Wahrheit eines Gemütszustands genau diese Funktion einer lohnenden Hinführung. Wenn irgendein Moment unserer Erfahrung uns zu einem wahren Gedanken anregt, so bedeutet dies, dass wir früher oder später, von diesem Gedanken geleitet, wieder in die Besonderheiten der Erfahrung eintauchen und vorteilhafte Verbindungen mit ihnen aufneh men. Diese Aussage ist zwar noch ziemlich vage, aber ich bitte Sie, sie im Gedächtnis zu behalten, denn sie ist von zentraler Bedeutung. Unsere Erfahrung ist durchzogen von Regelhaftigkeiten. Ein Stück von ihr kann uns auf ein anderes Stück vorbereiten, es kann diesen entfernteren Gegenstand „intendieren“ oder für diesen Gegenstand „signifikant“ sein. Das Eintreffen des Ge genstandes verifiziert die Signifikanz. Offensichtlich unterliegt Wahrheit in solchen Fällen, in denen sie nichts anderes bedeutet als letztendlich eintretende Verifikation, nicht unserer Willkür. Wehe dem, der glaubt, mit der Ordnung, die die Realitäten sei ner Erfahrung bestimmen, ein falsches Spiel treiben zu können. Sie werden ihn entweder nirgendwohin führen oder falsche Ver bindungen stiften. Unter „Realitäten“ oder „Gegenständen“ verstehe ich hier entweder die sinnlich wahrnehmbaren Dinge des Alltagsver standes oder auch so vertraute Relationen wie Zeitpunkte, Orte, Entfernungen, Gattungen und Handlungen. Wenn wir unserem geistigen Bild eines Hauses entlang einem Kuhpfad folgen, so werden wir tatsächlich das Haus zu sehen bekommen ; wir erhalten die vollkommene Verifikation des Bildes. Solche einfach und vollständig verifizierten Hinführungen sind sicherlich die Originale und Prototypen des Wahrheitsprozesses. Die Erfahrung enthält in der Tat auch andere Formen von Wahr heitsprozessen, aber sie lassen sich alle als primäre Verifikati onen verstehen, die festgesetzt, vervielfältigt oder füreinander eingesetzt wurden.
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Nehmen Sie zum Beispiel diesen Gegenstand da an der Wand. Wir alle halten ihn für eine „Uhr“, obwohl niemand von uns je das versteckte Uhrwerk gesehen hat, das diesen Gegenstand zu einer Uhr macht. Wir halten unseren Begriff für wahr, ohne den Versuch einer Verifikation zu unternehmen. Wenn aber Wahr heiten im Wesentlichen Verifikations-Prozesse sind, müssen wir dann solche nichtverifizierten Wahrheiten gescheitert nennen ? Nein, denn sie bilden die überwältigende Mehrzahl der Wahr heiten, von denen wir leben. Indirekte Verifikationen genügen ebenso den Ansprüchen wie direkte. Wenn Indizienbeweise aus reichen, kommen wir ohne den Augenschein aus. Wir alle hier gehen davon aus, dass Japan existiert, ohne dass wir jemals dort gewesen sind, nur weil diese Annahme funktioniert und alles, was wir wissen, mit dieser Überzeugung übereinstimmt und ihr nichts widerspricht. Ebenso gehen wir davon aus, dass dieser Gegenstand da eine Uhr ist. Wir benutzen ihn als eine Uhr, in dem wir mit seiner Hilfe die Dauer unserer Vorlesungen regeln. Die Verifikation dieser Annahme bedeutet hier, dass sie weder zu einer Enttäuschung noch zu einem Widerspruch führt. Diese prinzipielle Verifizierbarkeit der Räder und Gewichte und Pendel ist so gut wie deren tatsächliche Verifikation. In unserem Leben kommt auf jeden vollendeten Wahrheitsprozess eine Million sol cher, die in einem embryonalen Stadium verbleiben. Sie führen uns in die Richtung der direkten Verifikation und in die Umgebung jener Gegenstände, die sie in Aussicht stellen. Wenn dann alles ohne Störung weiterläuft, sind wir der Möglichkeit einer Verifikation so sicher, dass wir auf sie verzichten können, und wir werden darin normalerweise durch alles, was geschieht, bestätigt. Wahrheit lebt tatsächlich zum größten Teil vom gegenseitigen Kredit. Unsere Gedanken und Überzeugungen „zirkulieren“, solange sie nicht infrage gestellt werden, ebenso wie Banknoten zirkulieren, solange niemand sie zurückweist. Aber dies alles verweist auf irgendwelche direkten Verifikationen, ohne die das Gebäude der Wahrheit ebenso zusammenbrechen würde wie ein Finanzsystem ohne irgendeine Gelddeckung. Sie akzep tieren meine Verifikation in einer Sache, ich akzeptiere Ihre in einer anderen. Wir nutzen unsere Wahrheiten gegenseitig.
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Aber die Überzeugungen, die von irgendjemandem tatsächlich verifiziert wurden, sind die Grundpfeiler des ganzen Überbaus. Im täglichen Leben besteht – abgesehen von der Zeiterspar nis – ein weiterer wichtiger Grund für den Verzicht auf voll ständige Verifikation : Es handelt sich um die Tatsache, dass alle Dinge Gattungen angehören und nicht als einzelne existieren. Unsere Welt hat eben ein für allemal diese Eigenart. Deshalb fühlen wir uns berechtigt, Vorstellungen, die wir einmal an einem Exemplar einer Gattung direkt verifiziert haben, ohne Verifikation auf andere Exemplare zu übertragen. Wer gewohn heitsmäßig die Art eines gegebenen Gegenstands erkennt und sich unmittelbar nach Maßgabe des Gesetzes dieser Art verhält, ohne sich Zeit für eine Verifikation zu nehmen, wird in 99 von 100 Fällen „wahrer“ Meinung sein, was sich an der Tatsache ab lesen lässt, dass sein Verhalten mit allem, was ihm begegnet, übereinstimmt und nicht widerlegt wird. Indirekte oder auch nur potenzielle Prozesse der Verifikation können deshalb ebenso wahr sein wie vollständige Verifikationsprozesse. Sie funktionieren ebenso, wie vollständige Prozesse funktionieren würden, sie bringen uns die gleichen Vorteile und fordern unsere Anerkennung aus den gleichen Gründen. All dies bezieht sich auf den Alltagsverstand und seinen Umgang mit den Tatsachen, um den es hier alleine geht. Aber Tatsachen sind nicht unser einziges Kapital. Beziehungen zwischen rein geistigen Vorstellungen stellen eine weitere Sphäre dar, in der wahre und falsche Überzeugungen gelten. Hier gelten Überzeugungen absolut oder unbedingt. Wenn sie wahr sind, heißen sie entweder „Definitionen“ oder „Prinzi pien“. Es ist entweder ein Prinzip oder eine Definition, dass 1 plus 1 gleich 2 ist, dass 2 plus 1 gleich 3 ist und so weiter ; dass weiß sich von grau weniger unterscheidet als von schwarz ; dass dann, wenn eine Ursache auftritt, auch die Wirkung einsetzt. Solche Behauptungen gelten von allen denkbaren „Einsen“, von jedem vorstellbaren „weiß“ und „grau“ und von allen „Ur sachen“. Diese Gegenstände sind mentale Gegenstände. Ihre Beziehungen sind der Wahrnehmung unmittelbar evident, ohne dass eine sinnliche Verifikation notwendig wäre. Von diesen
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mentalen Gegenständen gilt darüber hinaus : Einmal wahr – immer wahr. Wahrheit hat hier also „ewigen“ Charakter. Wenn man irgendwo einen konkreten Gegenstand findet, der „eins“ oder „weiß“ oder „grau“ oder eine „Ursache“ ist, dann werden diese Prinzipien für immer auf ihn zutreffen. Es geht lediglich darum, die Art des Gegenstands festzustellen und das Gesetz seiner Art auf den besonderen Gegenstand anzuwenden. Sie können sicher sein, dass Sie zur Wahrheit gelangen, wenn Sie nur die Art richtig benennen : denn Ihre geistigen Beziehungen gelten ohne Ausnahme von jedem Exemplar dieser Art. Wenn Sie die Wahrheit dann trotzdem verfehlen, werden Sie sagen, dass Sie die realen Gegenstände falsch eingeordnet haben. Auch in diesem Bereich der geistigen Beziehungen ist Wahr heit eine Sache des Hinführens. Wir beziehen eine abstrakte Vorstellung auf eine andere und entwickeln so am Ende große Systeme der logischen und mathematischen Wahrheit, und die sinnlichen Tatsachen der Erfahrung ordnen sich schließ lich den Begriffen dieser Systeme unter, sodass unsere ewigen Wahrheiten auch für die Realitäten Gültigkeit besitzen. Diese Verbindung von Tatsachen und Theorie ist unendlich fruchtbar. Alles, was wir sagen, ist hier bereits wahr, bevor es gesondert verifiziert wird, wenn wir unsere Gegenstände nur richtig eingeordnet haben. Unsere vorgefertigte, ideale Struktur für alle Arten von möglichen Gegenständen resultiert direkt aus der Struktur unseres Denkens. Wir können mit diesen abstrakten Relationen ebenso wenig ein willkürliches Spiel treiben wie mit unseren Sinneswahrnehmungen. Sie üben Zwang auf uns aus ; wir müssen uns im Einklang mit ihnen bewegen, ob wir die Er gebnisse mögen oder nicht. Die Regeln der Addition gelten für unsere Schulden genauso streng wie für unser Vermögen. Die hundertste Dezimalstelle von π, das Verhältnis zwischen Um fang und Durchmesser eines Kreises, steht bereits jetzt idealiter fest, auch wenn sie vielleicht noch niemand berechnet hat. Wenn wir diese Zahl jemals im Umgang mit einem tatsächlichen Kreis benötigen sollten, so müssten wir sie richtig angeben, berechnet nach den üblichen Regeln ; denn es ist die gleiche Wahrheit, die auch sonst durch diese Regeln errechnet wird.
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Unser Geist ist also zwischen den Zwängen der sinnlichen Ordnung und denen der idealen Ordnung fest eingekeilt. Un sere Vorstellungen müssen bei Strafe endloser Widersprüchlich keit und Enttäuschung mit der Wirklichkeit übereinstimmen, egal, ob diese Wirklichkeiten konkret oder abstrakt sind, ob es sich um Tatsachen oder Prinzipien handelt. Bis hierher können Rationalisten noch keinen Protest einle gen. Sie könnten allenfalls einwenden, dass wir bisher kaum die äußere Hülle des Problems berührt haben. Realitäten sind also entweder konkrete Tatsachen oder abs trakte Arten von Dingen und intuitiv wahrgenommene Bezie hungen zwischen diesen. Zu den Realitäten zählt drittens – als etwas, das wir in unseren neuen Vorstellungen gleichermaßen berücksichtigen müssen – der ganze Komplex von anderen Wahrheiten, die bereits in unserem Besitz sind. Was aber – um nochmals die übliche Definition zu benutzen – soll dann „Über einstimmung“ mit diesen drei Arten von Realitäten bedeuten ? An dieser Stelle trennen sich Pragmatismus und Rationalis mus. Zunächst bedeutet „übereinstimmen“ ohne Zweifel abbil den, aber wir haben gesehen, dass das bloße Wort „Uhr“ an die Stelle eines mentalen Bildes des Uhrwerks treten kann und dass unsere Vorstellung bei vielen Realitäten lediglich Symbole lie fern kann und keine Abbildungen. „Vergangenheit“, „Macht“, „Spontaneität“ – wie kann unser Geist solche Realitäten ab bilden ? „Übereinstimmung“ mit einer Wirklichkeit kann im wei testen Sinn nur bedeuten, dass man entweder genau zu ihr hin oder in ihre Umgebung geleitet wird, oder dass man in eine solche Beziehung zu ihr gesetzt wird, dass man sie oder etwas mit ihr Verbundenes besser handhaben kann, als es bei Nicht-Übereinstimmung der Fall wäre – „besser“ entweder in einem intellek tuellen oder in einem praktischen Sinn ! Und häufig bezeichnet Übereinstimmung lediglich die negative Tatsache, dass nichts von dieser Wirklichkeit ausgeht, das mit der Art und Weise, in der uns unsere Vorstellungen leiten, unvereinbar ist. Das Abbil den von Wirklichkeit ist tatsächlich ein sehr wichtiges Verfah
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ren, Übereinstimmung mit ihr zu erzielen, aber es ist bei weitem nicht das Wesentliche. Das wesentliche Moment ist der Vorgang des Geführtwerdens. Jede Vorstellung, die uns hilft, mit der Wirklichkeit oder ihrem Zusammenhang – sei es praktisch oder intellektuell – umzugehen, jede Vorstellung, die unseren Fort schritt nicht in Enttäuschungen münden lässt, die wirklich passt und unser Leben an die komplexen Zusammenhänge der Wirk lichkeit anpasst, jede solche Vorstellung wird in einem Maße mit ihr übereinstimmen, das den Anforderungen genügt. Sie wird sich an dieser Wirklichkeit bewähren. Deshalb sind Namen ebenso „wahr“ oder „falsch“ wie ein deutige geistige Bilder. Sie lösen ähnliche Verifikationsprozesse aus und führen zu vollkommen gleichwertigen praktischen Er gebnissen. Alles menschliche Denken ist diskursiv ; wir tauschen Vor stellungen aus, wir leihen und verleihen Verifikationen, wir tau schen sie mithilfe sozialer Interaktionen aus. Alle Wahrheiten werden verbal aufgebaut, eingelagert und für jedermann zu gänglich gemacht. Deshalb müssen wir ebenso widerspruchsfrei reden, wie wir widerspruchsfrei denken : Denn sowohl in der Sprache als auch in Gedanken haben wir es mit Gattungen zu tun. Bezeichnungen sind beliebig, aber wenn sie einmal ange nommen sind, muss man sie beibehalten. Wir dürfen jetzt nicht einfach Abel „Kain“ nennen und Kain „Abel“. Wenn wir dies täten, so würden wir uns vom Buch der Genesis und all seinen Verbindungen mit dem Universum der Sprache und der Tatsa chen bis zur heutigen Zeit abkoppeln. Wir würden uns selbst von jedweder Wahrheit ausschließen, die in dem ganzen System der Sprache und der Tatsachen verkörpert sein mag. Die überwältigende Mehrheit unserer wahren Vorstellungen lässt keine direkte Verifikation zu – zum Beispiel diejenigen der Vergangenheit wie die Vorstellungen von Kain und Abel. Nur sprachlich kann man den Fluss der Zeit stromaufwärts be fahren, er kann nur indirekt durch das verifiziert werden, was aus der Vergangenheit bewahrt blieb oder noch präsent ist oder noch Auswirkungen zeigt. Wenn unsere Vorstellungen mit die sen verbalen Zeugnissen und Wirkungen übereinstimmen, so
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wissen wir, dass sie in Bezug auf die Vergangenheit wahr sind. So wahr wie die Vergangenheit selbst wahr war, so wahr war Ju lius Caesar, so wahr waren die vorsintflutlichen Monster, alle zu ihrer bestimmten Zeit und an ihrem bestimmten Ort. Dass die Vergangenheit selbst existent war, wird durch ihre Kohärenz mit allem, was gegenwärtig ist, verbürgt. So wahr, wie die Gegen wart ist, so wahr war die Vergangenheit. Übereinstimmung entpuppt sich also wesentlich als eine Sa che des Führens – einer Führung, die deshalb nützlich ist, weil sie uns in Bereiche leitet, deren Gegenstände für uns wichtig sind. Wahre Vorstellungen führen uns zu nützlichen Ausdrü cken und Begriffen sowie unmittelbar zu nützlichen sinnli chen Bestimmungen. Sie führen zu Konsistenz, Stabilität und ungehinderter menschlicher Interaktion. Sie führen weg von Exzentrizität und Isolation und weg von müßigem und un fruchtbarem Denken. Der Prozess des Führens wird indirekt, durch ungehinderten Fluss und grundsätzliche Widerspruchsund Konfliktfreiheit verifiziert. Aber alle Wege führen nach Rom, und schließlich und endlich müssen alle wahren Prozesse zu irgendwelchen direkt verifizierten sinnlichen Erfahrun gen führen, die von irgendjemandes Vorstellungen abgebildet wurden. Auf diese umfassende und freie Weise interpretiert der Prag matist das Wort „Übereinstimmung“. Er versteht es gänzlich im praktischen Sinn. Er bezeichnet damit jeden Prozess der Hin führung von einer gegenwärtigen Vorstellung zu einem zukünf tigen Begriff, vorausgesetzt, dass dieser Prozess nur Gewinn bringend verläuft. Nur auf diese Weise kann man von „wissen schaftlichen“ Vorstellungen, die über dem Alltagsverstand zu schweben scheinen, behaupten, dass sie mit ihren Realitäten übereinstimmen. Es verhält sich so (wie ich bereits sagte), als ob die Wirklichkeit aus Äther, Atomen oder Elektronen bestünde, aber wir dürfen dies nicht in buchstäblichem Sinn auffassen. Der Terminus „Energie“ gibt nicht einmal vor, irgendetwas „Objektives“ zu bezeichnen. Er stellt nur eine Möglichkeit dar, die Oberfläche der Phänomene einzuteilen, um so ihre Verän derungen mithilfe einer einfachen Formel zu ordnen.
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Allerdings können wir bei der Wahl dieser vom Menschen gemachten Formeln ebenso wenig ungestraft willkürlich vorge hen wie auf dem praktischen Niveau des Alltagsverstands. Wir müssen eine Theorie finden, die funktioniert, und das ist extrem schwierig. Denn unsere Theorie muss zwischen allen vorherigen Wahrheiten und bestimmten neuen Erfahrungen vermitteln. Sie muss den Alltagsverstand und die vorherigen Überzeugungen so wenig wie möglich verändern, und sie muss zu irgendeinem sinnlichen Begriff oder etwas anderem führen, das exakt veri fiziert werden kann. „Funktionieren“ schließt diese beiden Dinge ein. Sie sind so eng miteinander verbunden, dass es für kaum eine Hypothese viel Spielraum gibt. Unsere Theorien sind so stark eingekeilt und kontrolliert wie kaum etwas anderes. Und trotzdem stimmen manchmal verschiedene theoretische Formeln gleichermaßen mit allen Wahrheiten, die wir kennen, überein. In diesem Fall wählen wir zwischen ihnen nach Maß gabe subjektiver Gründe. Wir entscheiden uns für diejenige Theorie, für die wir bereits voreingenommen sind ; wir urteilen aufgrund von „Eleganz“ oder „Ökonomie“. Clerk Maxwell sagt irgendwo, es sei „schlechter wissenschaftlicher Geschmack“, die kompliziertere von zwei gleichermaßen evidenten Konzeptio nen zu wählen. Ich nehme an, Sie werden ihm zustimmen. Wis senschaftliche Wahrheit ist das, was uns in jeder Hinsicht, auch in Bezug auf den Geschmack, die größtmögliche Befriedigung verleiht. Der gebieterischste Anspruch ist jedoch immer der der Vereinbarkeit mit den alten Wahrheiten einerseits und den neuen Tatsachen andererseits. Ich habe Sie durch eine sehr steinige Wüste geführt. Jetzt aber fangen wir an – wenn mir dieser Ausdruck erlaubt ist –, die Süße der Frucht zu schmecken. Unsere rationalistischen Kritiker feu ern an dieser Stelle ihre Geschütze auf uns ab, aber die Antwort darauf wird uns aus all dieser Trockenheit zur vollen Erkenntnis einer bedeutsamen philosophischen Alternative führen. Unsere Konzeption der Wahrheit ist eine Konzeption von Wahrheiten im Plural, von Prozessen des Hinführens, die in rebus vollzogen werden und nur die eine Eigenschaft gemein
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haben, dass sie sich bezahlt machen. Sie machen sich bezahlt, weil sie uns zu irgendeinem Teil eines Systems führen, das an unzähligen Stellen auf Sinneswahrnehmungen verweist, die wir geistig abbilden können oder auch nicht, mit denen wir aber in jedem Fall zu jenem Handel kommen, den man im weitesten Sinn als Verifikation bezeichnen kann. Wahrheit ist für uns ein fach ein Sammelbegriff für Prozesse der Verifikation, ebenso wie Gesundheit, Wohlstand, Stärke usw. Bezeichnungen für andere mit dem Leben verbundene Vorgänge sind, die ebenso angestrebt werden, weil es sich auszahlt, sie anzustreben. Wahr heit wird gemacht, ebenso wie im Vollzug unserer Erfahrungen Gesundheit, Wohlstand und Stärke gemacht werden. An dieser Stelle erhebt sich der Rationalismus unverzüglich gegen uns. Ich kann mir vorstellen, was ein Rationalist sagen wird : „Wahrheit wird nicht gemacht“, würde er sagen, „sie hat ab solute Gültigkeit und stellt eine einzigartige Beziehung dar, die nicht von irgendeinem Prozess abhängt, sondern die Erfahrung links liegen lässt und ihre Wirklichkeit in jedem Fall genau trifft. Unsere Überzeugung, dass dieser Gegenstand da an der Wand eine Uhr ist, ist immer schon wahr, auch wenn niemand in der gesamten Weltgeschichte dies jemals verifizieren sollte. Allein die Eigenschaft, in dieser transzendenten Beziehung zu stehen, macht jeden Gedanken wahr, der diese Qualität besitzt, egal, ob es eine Verifikation gibt oder nicht. Ihr Pragmatisten zäumt das Pferd von hinten auf, wenn ihr das Sein der Wahrheit in einen Verifikationsprozess verlegt. Dieser ist nur ein Zeichen der Existenz von Wahrheit und zeigt lediglich, auf welch unbe holfene Art wir uns der Tatsachen versichern, die in unseren Vorstellungen bereits über diese wundersame Eigenschaft ver fügen. Die Eigenschaft selbst ist ebenso zeitlos wie alles Essen zielle und Natürliche. Gedanken haben direkt daran teil, ebenso wie sie an Falschheit oder Irrelevanz teilhaben. Man kann sie nicht weganalysieren und einfach zu pragmatistischen Konse quenzen erklären.“ Die ganze Plausibilität dieser rationalistischen Tirade be ruht auf einer Tatsache, der wir bereits viel Aufmerksamkeit geschenkt haben : In dieser Welt, die übervoll ist mit Dingen,
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die zu einer Gattung gehören und in ähnlicher Weise mitein ander assoziiert sind, kann eine Verifikation für andere Verifi kationen der gleichen Art dienen, und ein großer Nutzen, den die Kenntnis der Dinge mit sich bringt, besteht darin, dass wir dadurch nicht unbedingt zu den Dingen selbst geführt werden, sondern oft zu dem, was mit ihnen assoziiert wird, insbesondere zu dem, was über sie gesagt wird. Wenn also von einer Eigen schaft des Wahrseins, die ante rem besteht, die Rede ist, so heißt das aus pragmatistischer Sicht nichts anderes, als dass in dieser Welt unzählige Vorstellungen besser aufgrund ihrer indirekten oder bloß möglichen Verifikationen funktionieren als aufgrund ihrer direkten oder tatsächlichen. Wahrheit ante rem bedeutet demnach nur Verifizierbarkeit ; andernfalls hätten wir es bloß mit dem alten rationalistischen Kunstgriff zu tun, den Namen einer konkreten, phänomenal gegebenen Tatsache als unabhän gig und vorher bestehende Entität auszugeben und diese dann als Erklärung hinter die konkrete Tatsache zu stellen. Professor Mach zitiert an einer Stelle das folgende Epigramm Lessings : Sagt Hänschen Schlau zu Vetter Fritz, „Wie kommt es, Vetter Fritzen, Daß grad’ die Reichsten in der Welt, Das meiste Geld besitzen ?“ (dt. i. O.) 2
Hänschen Schlau betrachtet hier das Prinzip „Reichtum“ als etwas, das von der Tatsache, dass ein Mensch reich ist, gänzlich verschieden ist. Dieses Prinzip geht den Tatsachen voraus. Die Tatsachen erscheinen so als eine Art zweitrangiges, zufälliges Zusammentreffen mit dem wahren Wesen des reichen Mannes. Im Falle des Begriffs „Reichtum“ sehen wir alle den Fehler sofort. Wir wissen, dass Reichtum bloß ein Name für reale Vor gänge ist, in denen das Leben bestimmter Menschen eine Rolle spielt, und nicht eine ausgezeichnete natürliche Eigenschaft, die sich bei den Herren Rockefeller und Carnegie findet, nicht aber bei uns anderen. Ebenso wie der Reichtum besteht auch die Gesundheit nicht unabhängig von konkreten Dingen. „Gesundheit“ ist ein Name für bestimmte Vorgänge wie Verdauung, Blutzirkulation oder
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Schlaf, die ohne Störung ablaufen, wenn wir auch in diesem Fall eher geneigt sind, ein Prinzip anzunehmen, und deshalb sagen : Dieser oder jener Mensch verdaut oder schläft deshalb so gut, weil er so gesund ist. Was „Stärke“ angeht, so sind wir, glaube ich, noch rationalis tischer. Tatsächlich neigen wir dazu, „Stärke“ als eine Qualität anzusehen, die bereits im Menschen existiert und dann als Er klärung für die herkulischen Leistungen seiner Muskeln dient. Bei der „Wahrheit“ schließlich gehen die meisten noch weiter und betrachten die rationalistische Auffassung als vollkommen selbstverständlich. Tatsächlich aber verhält es sich mit all diesen Begriffen genau gleich. Die Wahrheit existiert ebenso sehr und ebenso wenig ante rem wie die anderen Eigenschaften. In der Nachfolge des Aristoteles hat die Scholastik viel Wert auf die Unterscheidung zwischen bloßer Disposition und tat sächlichem Vorgang gelegt. Gesundheit in actu, Gesundheit als tatsächlicher Vorgang, bedeutet u. a., dass man gut schläft und verdaut. Aber ein gesunder Mann muss nicht immer schlafen oder verdauen, ebensowenig wie ein reicher Mann immer mit Geld umgehen oder ein starker Mann immer Gewichte heben muss. All diese Eigenschaften reduzieren sich auf „Dispositio nen“, wenn sie nicht angewandt werden. Auf dieselbe Weise wird die Wahrheit zu einer Disposition zu bestimmten Vorstellungen und Überzeugungen, solange diese nicht aktiv im Prozess der Verifikation überprüft werden. Aber dieser Prozess stellt doch die Voraussetzung dar ; er ist die Bedingung dafür, dass es über haupt so etwas wie Dispositionen geben kann. „Das Wahre“ ist, um es sehr kurz zu sagen, nur das Förder liche im Prozess unseres Denkens, ebenso wie „das Richtige“ nur das Förderliche im Prozess unseres Handelns ist. Es ist förderlich auf beinahe jede Art und Weise, förderlich auf lange Sicht und für den ganzen Prozess : denn was sich als förderlich für die ge genwärtige Erfahrung erweist, muss sich nicht für alle zukünfti gen Erfahrungen als gleichermaßen förderlich und befriedigend erweisen. Die Erfahrung hat es bekanntlich an sich, manchmal überzukochen und uns zu zwingen, unsere erprobten Rezepte zu korrigieren.
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Das „absolut“ Wahre als dasjenige, was durch keine weitere Erfahrung jemals verändert wird, stellen wir uns als den idealen Fluchtpunkt vor, in dem all unsere vorläufigen Wahrheiten eines Tages zusammenlaufen werden. Diese Vorstellung geht einher mit der Vorstellung des vollkommen weisen Mannes und der absolut vollständigen Erfahrung : Wenn diese Ideale überhaupt jemals verwirklicht werden, dann wird dies gleichzeitig gesche hen. Bis dahin müssen wir mit den Wahrheiten auskommen, die wir heute zur Verfügung haben, und wir sollten darauf gefasst sein, sie morgen als falsch bezeichnen zu müssen. Die ptole mäische Astronomie, der euklidische Raum, die aristotelische Logik, die scholastische Metaphysik – all dies waren Jahrhun derte hindurch geeignete Hilfsmittel, bis die menschliche Erfah rung die durch diese Hilfsmittel gesetzten Grenzen gesprengt hat. Heute sprechen wir diesen Dingen nur noch relative Wahr heit zu, nämlich Wahrheit bloß innerhalb dieser Grenzen. In einem „absoluten“ Sinn aber sind sie falsch : Heute wissen wir, dass diese Grenzen rein zufällig gezogen wurden, und dass sie von früheren Denkern ebenso gut hätten überschritten werden können wie es heutige Denker tun. Wenn neue Erfahrungen zu Urteilen führen, die in der Vergangenheit wahr gewesen wären, dann war das, was diese Urteile aussagen, tatsächlich wahr – auch wenn kein Denker der Vergangenheit darauf gekommen sein sollte. Ein dänischer Denker3 hat gesagt : Wir leben vorwärtsgewandt, aber wir ver stehen rückwärts. Das Gegenwärtige wirft Licht auf die Vor gänge der vergangenen Welt. Für die Akteure der früheren Zei ten mögen diese Vorgänge zur Wahrheit geführt haben. Für den jedoch, der den Fortgang der Geschichte kennt, ist dies nicht mehr der Fall. Die regulative Idee einer potentiell besseren Wahrheit, die sich später durchsetzen wird, die möglicherweise eines Tages den Status absoluter Wahrheit erhalten und die Macht rück wirkender Gesetzgebung besitzen wird, ist, wie alle pragma tistischen Begriffe, den konkreten Tatsachen und der Zukunft zugewandt. Ebenso wie die halben Wahrheiten wird auch die absolute Wahrheit gemacht werden müssen, und zwar als eine
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Beziehung, die verbunden ist mit der Masse der verifizierenden Erfahrungen, zu denen auch die halben Wahrheiten ihren An teil beitragen. Ich hatte bereits die Tatsache betont, dass Wahrheit zum großen Teil aus vorangegangenen Wahrheiten besteht. Die Überzeugungen der Menschen gründen zu jeder Zeit auf einem Vorrat von Erfahrungen. Aber die Überzeugungen sind selbst Teil der Gesamtsumme der Erfahrung der Welt und werden so Gegenstand zukünftiger Vorratshaltung. Insofern Wirklichkeit erfahrbare Wirklichkeit bedeutet, sind sowohl diese Wirklich keiten selbst als auch die Wahrheiten, die die Menschen über sie gewinnen, einem immerwährenden Veränderungsprozess ausgesetzt – einer Veränderung, die möglicherweise auf ein bestimmtes Ziel zustrebt, aber eben doch einer Veränderung. Mathematiker können Probleme mit zwei Variablen lösen. Nach der Theorie Newtons variiert beispielsweise die Beschleu nigung mit der Distanz, aber umgekehrt auch die Distanz mit der Beschleunigung. Im Bereich der Wahrheitsprozesse tau chen Tatsachen unabhängig voneinander auf und bestimmen vorläufig unsere Überzeugungen. Aber diese Überzeugungen bringen uns dazu zu handeln, und indem sie dies tun, erzeugen oder vergegenwärtigen sie neue Tatsachen, die ihrerseits un sere Überzeugungen neu bestimmen. Dieses ganze verwickelte Wachstum der Wahrheit ist also das Ergebnis eines doppelten Einflusses. Wahrheiten entstehen aus Tatsachen, aber sie gehen auch wieder in die Tatsachen ein und fügen ihnen neue hinzu ; diese Tatsachen erschaffen oder enthüllen – die Bezeichnungen laufen auf dasselbe hinaus – ihrerseits wieder neue Wahrhei ten, und so weiter ins Unendliche. Dabei sind die „Tatsachen“ selbst nicht wahr, sie sind einfach. Wahrheit ist die Funktion der Überzeugungen, die mitten unter den Tatsachen entstehen und auch mitten unter den Tatsachen wieder fallen gelassen werden. Die ganze Sache verhält sich wie das Anwachsen eines Schneeballs, das einerseits von der Verteilung des Schnees ab hängt und andererseits von dem Jungen, der den Ball in Bewe gung hält, wobei beide Faktoren sich unaufhörlich gegenseitig beeinflussen.
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Der entscheidende Unterschied zwischen Rationalismus und Pragmatismus tritt nun in aller Deutlichkeit hervor. Die Erfahrung ist ständigen Wandlungen unterworfen, und auch die Wahrheitsfindung ist als psychologischer Prozess ständigen Wandlungen unterworfen – soviel muss auch der Rationalismus zugestehen. Aber er wird niemals zugeben, dass entweder die Wirklichkeit selbst oder die Wahrheit selbst veränderlich ist. Der Rationalismus beharrt darauf, dass die Wirklichkeit von Ewigkeit her vollendet und ein für allemal fertig ist. Die Über einstimmung unserer Vorstellungen mit dieser Wirklichkeit ist eine einzigartige, nicht weiter zu analysierende Qualität, wie es uns der Rationalismus schon oft versichert hat. Für den Ratio nalismus hat die Wahrheit, als eben diese intrinsische Qualität, nichts mit unseren Erfahrungen zu tun. Sie fügt den Inhalten der Erfahrungen nichts Neues hinzu. An der Wirklichkeit selbst verändert sie nichts : Sie ist etwas, das zur Wirklichkeit hinzu kommt, unbeweglich, statisch, eine bloße Reflexion. Die Wahr heit existiert nicht, sie gilt, sie gehört einer anderen Dimension an als die Tatsachen oder die Beziehungen zwischen Tatsachen. Kurz gesagt : Das Problem der Wahrheit gehört in den Bereich der Erkenntnistheorie – und mit diesem großen Wort ist die Diskussion für den Rationalismus beendet. So wie der Pragmatismus sich in Richtung Zukunft wendet, so wendet sich der Rationalismus wieder einmal in Richtung auf eine vergangene Ewigkeit. Der Rationalismus zeigt sich unverbesserlich : Er hält sich an „Prinzipien“ und glaubt, wenn eine Abstraktion nur einmal einen Namen erhalten hat, sind wir auch schon im Besitz einer orakelhaften Lösung des Problems. Wie unglaublich fruchtbar sich dieser radikale Unterschied der Betrachtungsweise für das tatsächliche Leben auswirkt, wird erst in den folgenden Vorlesungen deutlich werden. Die heutige Vorlesung möchte ich schließen, indem ich Ihnen zeige, dass die Erhabenheit des Rationalismus ihn nicht vor Dumm heit zu schützen vermag. Wenn man nämlich die Rationalisten auffordert, nicht immer nur dem Pragmatismus vorzuwerfen, er entweihe den Begriff
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der Wahrheit, sondern diesen Begriff selbst zu definieren und genau anzugeben, was sie darunter verstehen, so kann ich mir wirklich nur die folgenden zwei Versuche vorstellen : . „Wahrheit ist nur das System von Aussagen, die unbeding ten Anspruch darauf erheben, als gültig anerkannt zu werden.“ * . Wahrheit ist ein Name für alle Urteile, die zu fällen wir uns aufgrund einer Art imperativen Sollens verpflichtet fühlen. 4 Das erste, was einem bei solchen Definitionen auffällt, ist ihre unaussprechliche Trivialität. Natürlich sind sie absolut wahr, aber sie sind ebenso absolut bedeutungslos, solange man nicht pragmatistisch mit ihnen arbeitet. Was soll „Anspruch“ in die sem Zusammenhang heißen und was „Verpflichtung“ ? Wenn man sie nur als zusammenfassende Bezeichnungen für all die konkreten Gründe dafür ansieht, dass ein Denken, das der Wahrheit entspricht, für den Menschen außerordentlich förder lich und fruchtbar ist, dann kann man ruhig sagen, dass es den Anspruch gibt, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen, und dass es unsere Pflicht ist, nach dieser Übereinstimmung zu stre ben. Wir fühlen ja sehr wohl diesen Anspruch, und wir fühlen auch dieses Sollen, und wir fühlen sie aus eben diesen Gründen. Aber wenn die Rationalisten von Anspruch und Verpflich tung sprechen, so behaupten sie explizit, dass diese nichts mit unseren praktischen Interessen und persönlichen Beweggründen zu tun haben. Für die Rationalisten sind die Beweggründe, die uns nach Übereinstimmung streben lassen, lediglich psychologi sche Tatsachen, die als solche immer auf den jeweiligen Denker und die speziellen Umstände seines Lebens bezogen werden müssen. Sie sind nur Beweise für ihn und nicht Teil des Lebens der Wahrheit selbst. Jenes Leben spielt sich in einer rein logi schen oder epistemologischen, aber eben nicht in einer psycho logischen Dimension ab, und seine Ansprüche gehen allen per sönlichen Motivationen voraus und über sie hinaus. Auch wenn weder der Mensch noch Gott jemals die Wahrheit ermitteln *
A. E. Taylor : Philosophical Review 24 [ 1905 ], S. 288.
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würde, so müsste der Begriff der Wahrheit doch als dasjenige definiert werden, was man unbedingt ermitteln und anerkennen soll. Es gibt kein besseres Beispiel für einen Begriff, der von den tatsächlichen Erfahrungen abstrahiert und dann dazu benutzt wurde, diesen Erfahrungen gegenübergestellt zu werden und sie zu leugnen. Die Philosophie und das Alltagsleben sind voll von ähnlichen Beispielen. Der „sentimentale Fehlschluss“ besteht darin, über die abstrakten Begriffe der Gerechtigkeit, der Großzügigkeit, Schönheit usw. Tränen zu vergießen und diese Eigenschaften gleichwohl nicht zu erkennen, wenn man ihnen auf der Straße begegnet – weil die Umstände sie dort vulgär erscheinen lassen. So lese ich in einer im Eigenverlag gedruckten Biographie eines überaus rationalistischen Denkers : „Es ist seltsam, dass mein Bruder bei aller theoretischen Bewunderung für die Schönheit sich nicht für schöne Architektur, für schöne Gemälde oder für Blumen begeistern konnte.“ Und in einem der letzten philoso phischen Bücher, die ich gelesen habe, finden sich Abschnitte wie der folgende : „Die Gerechtigkeit ist ein Ideal, und nur ein Ideal. Die Vernunft erkennt, dass sie existieren sollte, aber die Erfahrung zeigt, dass sie nicht existiert … Die Wahrheit, die sein sollte, kann doch niemals existieren … Das Denken wird durch die Erfahrung entstellt. Sobald die Vernunft mit der Er fahrung konfrontiert wird, wird sie vernunftwidrig.“ Der rationalistische Fehlschluss ist derselbe wie der sen timentale. Beide bestehen darin, eine Eigenschaft aus den schmutzigen Einzelheiten der Erfahrung herauszuheben und sie dann als rein darzustellen, rein von allen schmutzigen Bestand teilen und diesen entgegengesetzt und höherwertig. Es bleibt aber doch immer ihre Natur. Es ist die Natur der Wahrheiten, dass sie bekräftigt und verifiziert werden müssen. Für unsere Vorstellungen zahlt es sich aus, bestätigt zu werden. Unsere Verpflichtung, nach der Wahrheit zu suchen, ist Teil unserer allgemeinen Verpflichtung, das zu tun, was sich auszahlt. Die Tatsache, dass wahre Vorstellungen sich auszahlen, ist der ein zige Grund für die Verpflichtung, sich nach ihnen zu richten.
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Die gleichen Gründe finden wir im Fall von „Reichtum“ und „Gesundheit“. Die Wahrheit erhebt keine andere Art von Anspruch und legt uns keine andere Art der Verpflichtung auf als Gesundheit und Reichtum. Alle diese Ansprüche sind bedingt ; es sind die konkreten Vorteile, die wir meinen, wenn wir das Streben eine Verpflichtung nennen. Im Fall der Wahr heit sieht es so aus, dass unwahre Überzeugungen sich auf die Dauer ebenso schädlich auswirken, wie wahre Überzeugungen vorteilhaft. Abstrakt gesprochen könnte man sagen, dass die Ei genschaft „wahr“ absolut wertvoll und dass die Eigenschaft „un wahr“ absolut verwerflich ist : Das eine könnte man unbedingt gut, das andere unbedingt schlecht nennen. Wir müssen, das ist unumgänglich, das Wahre denken und das Unwahre meiden. Aber nehmen wir all diese Abstraktionen doch einmal beim Wort und stellen sie auf den Boden der Erfahrung, aus der sie stammen. Sie werden sehen, in welch groteske Situation uns dies bringt. Wir sind dann nicht in der Lage, in unserem tatsächlichen Denken auch nur einen Schritt weiterzukommen. Wann soll ich diese und wann jene Wahrheit anerkennen ? Soll diese An erkennung explizit oder stillschweigend vor sich gehen ? Wenn sie einmal explizit und ein andermal stillschweigend sein soll : Welche Art ist jetzt die richtige ? Wann soll die Wahrheit in die Vorratskammer der Enzyklopädien wandern und wann muss sie zum Kampf antreten ? Muss man die Wahrheit „zwei mal zwei ist vier“ ständig wiederholen, weil sie auf ewig Anspruch auf Anerkennung besitzt ? Oder ist sie in bestimmten Fällen ein fach irrelevant ? Muss ich mir Tag und Nacht über meine persön lichen Sünden und Fehler Gedanken machen, nur weil es wahr ist, dass ich sie habe ? Oder sollte ich sie vielmehr verdrängen und ignorieren, um ein anständiges Mitglied der Gesellschaft zu sein und nicht bloß ein Häufchen trübsinniger Melancholie und ständiger Entschuldigungen ? Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Verpflichtung zur An erkennung der Wahrheit, die doch eine unbedingte sein soll, in äußerst starkem Maße bedingt ist. Die eine große Wahrheit, die Wahrheit im Singular, verlangt im Abstrakten natürlich nach
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Anerkennung. Aber die konkreten Wahrheiten, die Wahrhei ten im Plural, müssen nur dann anerkannt werden, wenn ihre Anerkennung förderlich ist. Eine Wahrheit muss immer der Falschheit vorgezogen werden, wenn sie beide zu einer konkre ten Situation in Beziehung stehen. Wenn dies jedoch nicht der Fall ist, dann verpflichtet uns das Wahre zu genauso wenig wie das Falsche. Wenn Sie mich nach der Uhrzeit fragen und ich antworte Ihnen, dass ich in der Irvingstraße 95 wohne, so mag meine Antwort tatsächlich wahr sein, aber Sie werden kaum einsehen, warum es meine Pflicht sein sollte, diese Antwort zu geben. Eine falsche Adresse würde den Zweck ebenso gut er füllen. Das Eingeständnis, dass es Bedingungen gibt, die das An wendungsgebiet des abstrakten Imperativs einschränken, führt uns die pragmatistische Sichtweise der Wahrheit wieder in all ihrer Tragweite vor Augen. Unsere Verpflichtung zur Überein stimmung mit der Realität muss vor dem Hintergrund eines re gelrechten Dschungels von konkreten Nützlichkeiten gesehen werden. Als Berkeley erklärte, was die Menschen unter Materie ver stehen, glaubte man, er habe die Existenz der Materie geleugnet. Wenn Schiller und Dewey heute erklären, was die Menschen unter Wahrheit verstehen, so wird ihnen vorgeworfen, deren Existenz zu leugnen. Die Kritiker behaupten, diese Pragmatis ten würden alle objektiven Maßstäbe zerstören und Dummheit und Weisheit auf dieselbe Stufe stellen. Eine beliebte Charak terisierung der Lehren von Schiller und mir ist, wir wären der Meinung, man würde alle pragmatistischen Anforderungen erfüllen, wenn man das behauptet, was einem gefällt, und dies dann Wahrheit nennt. Ich überlasse es Ihnen zu beurteilen, ob dies nicht eine un verschämte Verleumdung ist. Mehr als jeder andere fühlt der Pragmatist sich eingezwängt zwischen der Masse von etablier ten Wahrheiten, die der Vergangenheit abgerungen wurden, und den Zwängen der Sinnenwelt, die uns umgibt – wer sonst sollte den ungeheuren Druck objektiver Kontrolle fühlen, unter dem unser Verstand seine Operationen vollführt ? Wie Emerson
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sagt : „Wenn irgend ein Mensch glaubt, dieses Gesetz sei lax, so möge er versuchen, einen einzigen Tag lang seine Gebote zu er füllen.“5 In der letzten Zeit ist viel über den Gebrauch der Phan tasie in der Wissenschaft gesagt worden. Es ist höchste Zeit, ein wenig Phantasie in die Philosophie zu bringen. Die Weigerung einiger unserer Kritiker, in unseren Aussagen Sinn zu finden, es sei denn, nur den allerdümmsten, diskreditiert ihre Phantasie wie nur irgendetwas in der jüngsten Philosophie. Schiller sagt, das Wahre sei das, was „funktioniert“. Deshalb wird er behan delt wie jemand, der die Verifikation auf das Niveau des nied rigsten materiellen Nutzens reduzieren will. Dewey sagt, Wahr heit sei das, was uns „Befriedigung“ gewährt. Deshalb wird er behandelt wie jemand, der glaubt, dass man alles wahr nennen dürfe, was angenehm wäre, wenn es denn nur wahr wäre. Unsere Kritiker brauchen entschieden mehr Phantasie für die Wirklichkeit. Ich für meinen Teil habe ernsthaft versucht, meine Phantasie zu bemühen und der rationalistischen Auffas sung den bestmöglichen Sinn zu geben, aber ich muss gestehen, dass sie mich immer noch vollkommen verblüfft. Der Begriff einer Realität, die uns auffordert, mit ihr „übereinzustimmen“, und zwar aus keinem anderen Grund, als dass dieser Anspruch „unbedingt“ und „transzendent“ ist, scheint mir weder Hand noch Fuß zu haben. Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre die einzige Realität auf der Welt, und versuche mir dann vorzustel len, was ich noch mehr „beanspruchen“ könnte, wenn es mir erlaubt wäre. Wenn Sie nun meinen, ich könnte vielleicht den Anspruch erheben, dass aus der wüsten Leere ein Verstand ins Dasein träte, um sich vor mich zu stellen und mich abzubilden, so kann ich mir zwar ausmalen, was dieses Abbilden bedeuten würde, aber ich kann kein Motiv dafür finden. Was hätte ich davon, abgebildet zu werden, und was hätte der Verstand davon, mich abzubilden, wenn weiterreichende Konsequenzen explizit und prinzipiell als Motivation dieses Anspruchs ausgeschlos sen werden (wie es unsere rationalistischen Autoritäten tun) ? Als die Bewunderer des Irren ihn in einer Sänfte ohne Sitz und Boden zum Bankett brachten, sagte er : „Meiner Treu, wenn es nicht um die Ehre der Sache ginge, hätte ich ebenso gut zu Fuß
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kommen können.“ Ebenso verhält es sich hier : Wenn es nicht um die Ehre der Sache ginge, hätte ich ebenso gut unabgebildet blei ben können. Das Abbilden ist eine genuine Weise der Erkennt nis – auch wenn unsere zeitgenössischen Transzendentalphilo sophen sich aus irgendwelchen seltsamen Gründen gegenseitig darin zu überbieten scheinen, sie zu verwerfen. Wenn wir aber über das Abbilden hinausgehen und auf solche namenlosen Ar ten der Übereinstimmung stoßen, denen explizit abgesprochen wird, Abbildungen oder Hinführungen oder Passungen oder irgendwelche anderen pragmatistisch zu definierende Prozesse zu sein, dann wird das Was der geforderten Übereinstimmung ebenso unverständlich wie das Warum. Es lässt sich weder ein Inhalt noch ein Motiv dafür vorstellen. Es ist eine vollkommen bedeutungslose Abstraktion.* Auf diesem Gebiet sind sicher die Pragmatisten, und nicht die Rationalisten, die wahren Verteidiger der Rationalität des Universums.
Ich habe nicht vergessen, dass Professor Rickert schon lange den Begriff der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit aufge geben hat. Die Wirklichkeit ist für ihn das, was mit der Wahrheit über einstimmt, und Wahrheit gründet sich einzig und allein auf unsere vor dringliche Pflicht. Dieser phantastische Höhenflug scheint mir, zusam men mit [ Harold Henry ] Joachims offenem Eingeständnis des Scheiterns in seinem Buch The Nature of Truth [ O xford : Clarendon Press 1906 ], den Bankrott des Rationalismus in dieser Sache zu besiegeln. Rickert behandelt Teile der pragmatistischen Auffassung unter der Bezeichnung „Relativismus“. Ich kann diesen Text hier nicht diskutieren. Es muss ge nügen zu sagen, dass seine Argumentation in diesem Kapitel so schwach ist, wie man es bei einem ansonsten so fähigen Autor nicht für möglich halten würde. *
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as eines jeden Herz gegen die Sicht der Wahrheit ein nimmt, die ich in meiner letzten Vorlesung entworfen habe, ist eines jener typischen „idola tribus“, 2 nämlich die An nahme der einen Wahrheit im Sinne einer endgültigen und voll ständigen Antwort auf das eine unveränderliche Rätsel, vor das uns die Welt angeblich stellt. Es entspricht einer beliebten Tra dition, es nur umso besser zu finden, wenn man eine orakelhafte Antwort erhält, die als ein Rätsel zweiter Ordnung Staunen und Verwunderung hervorruft und das, was man in ihren Tiefen ver mutet, mehr verschleiert als enthüllt. All die großen, nur aus einem Wort bestehenden Antworten auf das Rätsel der Welt, wie etwa Gott, das Eine, die Vernunft, das Gesetz, der Geist, die Materie, die Natur, Polarität, der dialektische Fortschritt, die Idee, das Ich, die Weltseele, verdanken die Wertschätzung, die ihnen die Menschen so überreichlich entgegenbringen, genau diesem orakelhaften Charakter. Sowohl philosophische Laien als auch Fachleute stellen sich das Universum als eine seltsame Art von versteinerter Sphinx vor, die den Menschen beständig dazu auffordert, seinen Spürsinn einzusetzen. Die eine Wahr heit, das ist in der Tat das ideale Götzenbild für das rationalis tische Denken ! In einem alten Brief eines begabten Freundes, der viel zu jung gestorben ist, lese ich diese Worte : „In allen Dingen, in der Wissenschaft, der Kunst, in der Moral und in der Religion muss es ein System geben, das richtig ist, und alle anderen müssen falsch sein.“ Wie charakteristisch ist dies für den Enthusiasmus der Jugend ! Mit 21 stellen wir uns dieser He rausforderung und glauben, das System finden zu können. Die meisten von uns kommen nicht einmal im Alter auf den Gedan ken, dass die Frage „Was ist die eine Wahrheit ?“ gar keine rich tige Frage ist – nämlich eine, die beantwortet werden könnte, ohne die jeweiligen Umstände und Bedingungen zu berücksich tigen – und dass der ganze Begriff der Wahrheit nichts anderes
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ist als eine Abstraktion der Tatsache, dass es Wahrheiten im Plural gibt, also nichts anderes als ein nützlicher zusammen fassender Ausdruck wie etwa das Gesetz oder die lateinische Sprache. Richter sprechen bisweilen über das Gesetz und Lehrer über die lateinische Sprache in einer Weise, die den Hörern sugge riert, es wäre die Rede von Gegenständen, die vor allen rich terlichen Entscheidungen bzw. vor allen Wörtern und syntak tischen Regeln existieren, und die diese Entscheidungen und Regeln unzweideutig festlegen und erzwingen. Wenn man aber nur einen Augenblick lang darüber nachdenkt, wird sofort deut lich, dass sowohl das Gesetz als auch die Sprache alles andere sind als Prinzipien dieser Art, sondern lediglich Ergebnisse. Die Unterscheidungen zwischen dem Rechtmäßigen und dem Un rechtmäßigen in unseren Handlungen oder zwischen korrekter und nicht korrekter Rede sind eher beiläufige Ergebnisse des Zusammenspiels konkreter menschlicher Erfahrungen. Auf die gleiche Weise entstehen auch die Unterscheidungen zwischen wahren und falschen Überzeugungen. Die Wahrheit pfropft sich auf die bereits bestehende Wahrheit auf und verändert sie in diesem Prozess, ebenso wie sich eine neue Ausdrucksweise auf bereits bestehende Ausdrucksweisen aufpfropft oder ein neues Gesetz auf bereits bestehende Gesetze. Man nehme ein beste hendes Gesetz und einen neuartigen Fall, und der Richter wird beide zu einem neuen Gesetz verbinden. Oder eine bestehende Redeweise und einen neuen Jargon oder eine neue Metapher oder einen wunderlichen Ausdruck, irgendetwas, das dem all gemeinen Geschmack gefällt, und schon hat man eine neue Art zu reden. Bestehende Wahrheit, neue Tatsachen : und schon ent deckt unser Geist eine neue Wahrheit. Trotzdem tun wir die ganze Zeit über so, als entfalte sich das Ewige, als offenbare sich blitzartig die eine bereits bestehende Gerechtigkeit, die eine Grammatik oder die eine Wahrheit, und als würde dies alles nicht von uns selbst gemacht. Man stelle sich jedoch vor, ein junger Mann würde im Gerichtssaal die Fälle auf der Grundlage seines Begriffs des einen Gesetzes beurtei len, oder ein Sprachkritiker würde auf das Theater losgelassen
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mit seiner Vorstellung von der einen Muttersprache, oder ein Professor würde sich anschicken, eine Vorlesung über die wirk liche Welt zu halten auf der Grundlage seines rationalistischen Begriffs von der einen Wahrheit – welchen Fortschritt würde das bringen ? Wahrheit, Gesetz, Sprache würden ihnen bei der kleinsten Berührung mit neuen Tatsachen unter den Händen zerrinnen. Diese Dinge erschaffen sich selbst im Prozess unseres Fortschreitens. Was recht und was unrecht ist, unsere Verbote und Strafen, die Worte, die grammatikalischen Formen und die Ausdrucksweisen, unsere Überzeugungen – all dies sind neue Schöpfungen, die so schnell dazukommen wie die Geschichte fortschreitet. Gesetz, Sprache und Wahrheit sind alles andere als vorgängige Prinzipien, die diesen Prozess in Gang setzen : Sie sind lediglich abstrakte Namen für seine Ergebnisse. Jedenfalls ist deutlich, dass Gesetze und Sprachen Men schenwerk sind. F. C. S. Schiller überträgt diese Auffassung auf Überzeugungen. Er schlägt den Namen „Humanismus“ für die Lehre vor, der zufolge auch unsere Wahrheiten in unübersehba rem Maße vom Menschen selbst gemacht sind. Menschliche Be weggründe bestimmen alle unsere Fragestellungen, in unseren Antworten steckt immer auch die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, alle unsere Formeln enthalten ein menschliches Element. Dieses Element ist so unlösbar mit den Ergebnissen unserer Erkenntnis verbunden, dass Schiller es manchmal offen zu lassen scheint, ob es noch irgendetwas anderes geben könne. „Die Welt“, so schreibt er, „ist ihrem Wesen nach ὕλη, sie ist das, was wir daraus machen. Es ist müßig, definieren zu wollen, was sie ursprünglich war oder was sie ohne menschliches Zutun ist (ἡ ὕλη ἄγνωστος καϑ᾿ αὑτή) ; sie ist nur das, was aus ihr gemacht wird. Deshalb ist die Welt formbar.“* Er fügt hinzu, dass wir die Grenzen der Formbarkeit nur im Versuch kennen lernen können, und dass wir zunächst von ihrer vollständigen Formbar keit als einer methodischen Voraussetzung ausgehen sollten, die [ F. C. S. Schiller : „Axioms as Postulates“. In : ] Personal Idealism [ Philosophical Essays by Eight Members of the University of Oxford. Hg. v. Henry Stuart. London : Macmillan 1902, ] S. 60. *
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wir erst dann aufzugeben hätten, wenn wir auf entschiedenen Widerstand stießen. Dies ist die Essenz von Schillers humanistischer Position. Solche Formulierungen haben ihn schärfsten Angriffen ausge setzt. Ich will in dieser Vorlesung den humanistischen Stand punkt verteidigen und werde deshalb einige Bemerkungen zu diesem Punkt hinzufügen. Schiller betont so entschieden wie nur möglich, dass es in jeder tatsächlichen Erfahrung der Wahrheitsbildung Faktoren gibt, die diesem Prozess Widerstand leisten. Auf diese Faktoren muss die neu hergestellte Wahrheit Rücksicht nehmen, sie muss notgedrungen mit ihnen „übereinstimmen“. Alle unsere Wahr heiten sind Überzeugungen in Bezug auf die „Wirklichkeit“, und in jeder einzelnen dieser Überzeugungen tritt die Wirk lichkeit als unabhängig auf, als etwas, das gefunden und nicht hergestellt wird. Lassen Sie mich an dieser Stelle nochmals an meine letzte Vorlesung erinnern. „Wirklichkeit“ im Allgemeinen ist das, wovon unsere Wahrheiten Rechenschaft abzulegen haben. 3 Unter dieser Perspek tive bildet der Fluss unserer Sinneswahrnehmungen den ersten Bereich der Wirklichkeit. Die Sinneswahrnehmungen drängen sich uns auf, wir wissen nicht, woher sie kommen. Über ihr We sen, ihre Ordnung oder ihre Anzahl haben wir so gut wie keine Verfügungsgewalt. Sie sind weder wahr noch falsch, sie sind einfach da. Wahr oder falsch kann nur das sein, was wir über sie aussagen, die Bezeichnungen, die wir ihnen geben, unsere Theorien über ihren Ursprung, ihr Wesen und ihre mittelbaren Beziehungen. Den zweiten Bereich der Wirklichkeit bilden die Beziehungen, die zwischen unseren Wahrnehmungen oder zwischen de ren Abbildern in unserem Geist bestehen, und auch auf diese Beziehungen müssen unsere Überzeugungen strikt bezogen sein. Dieser Bereich besteht aus zwei Unterbereichen : erstens den veränderlichen und zufälligen Beziehungen, wie beispiels weise den zeitlichen und räumlichen ; zweitens den feststehen den und wesentlichen Beziehungen, die auf der inneren Natur ihrer Begriffe gründen, wie beispielsweise Gleichheit und Un
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gleichheit. Beide Arten von Beziehungen werden unmittel bar wahrgenommen. Beide sind „Tatsachen“. Aber Tatsachen der letztgenannten Sorte bilden denjenigen Unterbereich der Wirklichkeit, der für unsere Erkenntnistheorien wichtiger ist. Innere Beziehungen sind nämlich „ewig“, sie werden immer dann erkannt, wenn ihre sinnhaltigen Ausdrücke miteinander verglichen werden. Von diesen Beziehungen muss sich unser Denken – das sogenannte mathematisch-logische Denken – auf ewig Rechenschaft geben. Der dritte Bereich der Wirklichkeit, der zu diesen Wahrneh mungen hinzukommt (obwohl er zu einem großen Teil auf ihnen beruht), besteht aus vorangegangenen Wahrheiten, auf die sich jede neue Untersuchung beziehen muss. Dieser dritte Teil ist ein Faktor, der viel weniger hartnäckig Widerstand leistet : Häufig gibt er schließlich nach. Ich habe bereits in meiner letzten Vor lesung über diese drei Bereiche der Wirklichkeit gesprochen, die zu jeder Zeit die Ausbildung unserer Überzeugungen steuern. Wie festgelegt diese Elemente der Wirklichkeit auch immer sein mögen, so sind wir im Umgang mit ihnen doch bis zu einem gewissen Grade frei. Denken Sie zum Beispiel an unsere Sinnes wahrnehmungen. Dass es sie gibt, können wir zweifellos nicht beeinflussen. Aber welchen Wahrnehmungen wir Aufmerksam keit schenken, welche wir überhaupt bemerken und auf welche wir uns in unseren Schlussfolgerungen beziehen, das hängt doch von unseren eigenen Interessen ab. Und wir kommen zu eini germaßen unterschiedlichen Formulierungen der Wahrheit, je nachdem, welche unserer Wahrnehmungen wir in den Vorder grund stellen. Wir lesen dieselben Tatsachen auf unterschied liche Weise. Ein und dieselbe Buchstabenfolge „Waterloo“ be deutet für einen Engländer „Sieg“, für einen Franzosen jedoch „Niederlage“. Ebenso begreift ein optimistischer Philosoph das Universum als Sieg, ein pessimistischer dagegen als Niederlage. Was wir über die Wirklichkeit aussagen, hängt also von der Perspektive ab, aus der wir sie betrachten. Dass die Wirklichkeit existiert, können wir nicht beeinflussen ; aber was sie ist, beruht auf einer Auswahl ; und diese Auswahl treffen wir. Sowohl der wahrnehmbare Bereich der Wirklichkeit als auch der Bereich
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der Beziehungen sind stumm : Sie sagen uns absolut nichts über sich. Wir sind es, die für sie sprechen müssen. Diese Sprach losigkeit der Sinne haben solche Rationalisten wie T. H. Green und Edward Caird dazu verleitet, sie nahezu aus dem Bereich des philosophisch Beachtenswerten zu verbannen. Pragmatisten würden nicht so weit gehen. Für sie ist eine Sinneswahrnehmung eher ein Mandant, der seinen Fall einem Anwalt übergeben hat und nun im Gerichtssaal nur noch passiv zuhören darf, welche Darstellung seiner Angelegenheit – sie sei ihm angenehm oder nicht – der Anwalt zu geben für richtig hält. Selbst auf dem Gebiet der Sinneswahrnehmungen trifft der Verstand in gewissem Sinn eine willkürliche Auswahl. Durch unsere Einschließungen und Auslassungen stecken wir selbst das Feld ab ; durch unsere Schwerpunktsetzungen legen wir fest, was im Vordergrund steht und was im Hintergrund bleibt ; durch unsere Ordnungen geben wir ihm diese oder jene Richtung. Kurz gesagt : Der Marmorblock wird uns vorgegeben, aber die Statue meißeln wir selbst. Dies gilt in gleicher Weise für die „ewigen“ Bereiche der Wirklichkeit : Wir mischen unsere Wahrnehmungen der inneren Beziehungen und ordnen sie gleichermaßen frei an. Wir bringen sie in die eine oder andere Reihenfolge, sortieren sie auf diese oder jene Weise und betrachten die eine oder die andere als fundamentaler, bis unsere Überzeugungen endlich jene Systeme von Wahrheiten bilden, die wir als Logik, Geometrie oder Ma thematik kennen. In jedem dieser Systeme sind die Form und die Ordnung, in die das Ganze gebracht wird, ganz offensicht lich von Menschen gemacht. Abgesehen von den neuen Tatsachen, die Menschen der Wirklichkeit durch ihr eigenes Leben und Handeln hinzufü gen, haben sie ihre geistigen Formen immer schon dem dritten Teil der Wirklichkeit aufgedrückt, den ich „vorangegangene Wahrheiten“ genannt habe. Jede Stunde bringt neue Wahrneh mungen mit spezifischen Sinneseindrücken und spezifischen Zusammenhängen, die wir wahrhaftig zu berücksichtigen ha ben ; aber unser gesamter vergangener Umgang mit diesen Tat sachen ist bereits in den älteren Wahrheiten enthalten. Deshalb
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begegnet uns auch nur der kleinste und neueste Bruchteil der beiden ersten Teile der Wirklichkeit ohne menschlichen Faktor ; und dieser Bruchteil muss umgehend „vermenschlicht“ werden, indem er in den bereits vorhandenen vermenschlichten Vorrat eingepasst, ihm angeglichen oder in irgendeiner Weise über nommen wird. Tatsächlich sind wir kaum in der Lage, einen Sinneseindruck zu Bewusstsein zu bringen, wenn wir nicht be reits vorher wissen, welcher Sinneseindruck hier erwartet wer den kann. Eine Wirklichkeit, die „unabhängig“ vom menschlichen Denken wäre, ist wohl nur sehr schwer zu finden. Sie würde lediglich aus dem bestehen, was gerade Gegenstand der Erfah rung wird, ohne schon benannt zu sein, oder aus irgendetwas ursprünglich Gegenwärtigem in der Erfahrung, bevor noch ir gendeine Überzeugung über dieses Gegebene gebildet und be vor irgendein menschlicher Begriff darauf angewandt worden ist. Eine solche Wirklichkeit ist etwas vollkommen Stummes und Flüchtiges, also die lediglich vorgestellte Grenze unseres Geistes. Vielleicht erhaschen wir einen flüchtigen Blick auf sie, aber wir werden sie nie zu fassen bekommen. Was wir zu fassen bekommen, ist immer nur irgendein Surrogat dieser Wirklich keit, das durch früheres menschliches Denken gekocht und für den Verzehr tauglich gemacht worden ist. Wenn mir die Formu lierung erlaubt ist : Überall, wo wir dieser originalen Wirklich keit zu begegnen scheinen, handelt es sich bereits um eine Fäl schung. Das ist es, was Schiller meint, wenn er die unabhängige Wirklichkeit als widerstandsloses ὕλη bezeichnet, das nur dazu da ist, von uns bearbeitet zu werden. So weit Schillers Ansicht über den wahrnehmbaren Kern der Wirklichkeit. Wir „begegnen“ ihm (wie Bradley sagt 4), aber wir besitzen ihn nicht. Oberflächlich betrachtet ähnelt diese An sicht derjenigen Kants. Aber die tiefe Kluft zwischen Rationa lismus und Empirismus liegt genau hier : zwischen Kategorien, die bereits aufleuchteten, als es die Natur noch gar nicht gab, und Kategorien, die sich allmählich zusammen mit der Natur herausbildeten. Für einen echten Kantianer wird F. C. S. Schiller neben Kant immer so aussehen wie ein Satyr neben Hyperion.
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Andere Pragmatisten kommen vielleicht zu positiveren An sichten über den wahrnehmbaren Kern der Wirklichkeit. Sie könnten sich zum Beispiel vorstellen, diesen Kern in seinem unabhängigen Wesen zu erfassen, indem sie nach und nach die vom Menschen gemachten Umhüllungen abschälen. Sie könnten Theorien entwickeln, die erklären, woher dieser Kern stammt und was es mit ihm auf sich hat ; und wenn diese Theorien zufrieden stellend funktionieren, dann sind auch sie wahr. Nach Ansicht des transzendentalen Idealisten gibt es keinen Kern ; die irgendwann einmal fertig gestellte Umhüllung wird Wirklichkeit und Wahrheit zugleich sein. Die Scholastik lehrt immer noch, dass der Kern die „Materie“ sei. Bergson, Hey mans, Strong und andere glauben an den Kern und verteidigen ihn tapfer. Dewey und Schiller verstehen ihn als „Grenze“. Wel cher von diesen verschiedenen Ansätzen (und von anderen ver gleichbaren) ist wahrer als die anderen ? Ist es nicht derjenige, der sich schließlich als der zufriedenstellendste herausstellt ? Am Ende wird auf der einen Seite die Wirklichkeit stehen, auf der anderen eine Beschreibung der Wirklichkeit, die unmög lich zu verbessern oder zu verändern sein wird. Wenn sich diese Unmöglichkeit als dauerhaft erweist, dann wird die Wahrheit der Beschreibung eine absolute sein. Ich kann mir keine an dere Bedeutung der Wahrheit vorstellen. Wenn die Gegner des Pragmatismus irgendeine andere Bedeutung anzubieten haben, dann sollen sie sie uns um Gottes Willen offenbaren und uns den Zugang dazu eröffnen ! Weil diese Wahrheit nicht die Wirklichkeit selbst ist, son dern nur unsere Überzeugung von dieser Wirklichkeit, muss sie notgedrungen menschliche Elemente enthalten. Aber diese menschlichen Elemente werden die nicht-menschlichen Ele mente erkennen, und zwar in dem einzigen Sinn, in dem es überhaupt Erkenntnis von irgendetwas geben kann. Erschafft der Fluss seine Ufer oder erschaffen die Ufer den Fluss ? Läuft ein Mensch mehr mit seinem rechten oder seinem linken Bein ? Vielleicht ist es ganz unmöglich, das Wirkliche von den mensch lichen Anteilen im Prozess unserer kognitiven Erfahrungen zu trennen.
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Dies soll als eine erste kurze Charakterisierung des huma nistischen Ansatzes genügen. Erscheint er paradox ? Falls dies der Fall sein sollte, so werde ich versuchen, ihn durch einige Beispiele etwas plausibler zu machen, die zu einem besseren Verständnis des Gegenstands führen werden. Bei zahlreichen uns vertrauten Gegenständen wird jeder sofort das menschliche Element erkennen. Wir fassen eine ge gebene Wirklichkeit in der einen oder der anderen Weise auf, je nachdem, wie es unseren Zwecken entspricht, und die Wirk lichkeit unterwirft sich dieser Auffassung passiv. Man kann die Zahl 27 als die dritte Potenz von 3 auffassen oder als Produkt aus 3 und 9 oder als 26 plus 1 oder 100 minus 73 oder auf zahl lose andere Arten, von denen jede so wahr ist wie die andere. Man kann ein Schachbrett als schwarze Quadrate auf weißem Grund oder als weiße Quadrate auf schwarzem Grund sehen, und keine dieser Betrachtungsweisen ist falsch. Man kann die nebenstehende Figur als Stern auffassen oder als zwei große übereinander lie gende Dreiecke, als ein Sechseck, dessen Seiten verlängert wurden, oder als sechs gleich große Dreiecke, die an ihren Ecken zusammenhängen usw. Alle diese Betrachtungsweisen sind wahr – das sinnlich wahrnehmbare Gegebene auf dem Papier leistet keiner dieser Betrachtungsweisen Widerstand. Man kann von einer Linie sa gen, dass sie nach links oder dass sie nach rechts verläuft – die Linie an sich lässt sich beide Beschreibungen gefallen, ohne sich gegen die Unvereinbarkeit aufzulehnen. Wir greifen aus dem Himmel bestimmte Gruppen von Ster nen heraus und fassen sie zu Konstellationen zusammen. Die Sterne lassen dies geduldig über sich ergehen, obwohl einige von ihnen – wenn sie wüssten, was wir tun – wohl recht erstaunt wä ren über die Kameraden, die wir ihnen zugeordnet haben. Wir bezeichnen ein und dieselbe Konstellation wahlweise als den Großen Wagen, den Großen Bären oder auch als den Schöpf löffel („The Big Dipper“) 5 . Keiner dieser Namen ist falsch, je der wird so wahr sein wie jeder andere, denn alle lassen sich benutzen.
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In allen diesen Fällen fügen wir einer wahrnehmbaren Wirk lichkeit etwas Menschliches hinzu, und die Wirklichkeit lässt sich dieses Zutun gefallen. Alle diese Hinzufügungen „stimmen“ mit der Wirklichkeit „überein“ ; sie passen, indem sie die Wirklich keit ausbauen. Keiner dieser Zusätze ist falsch. Es hängt einzig und alleine von dem Gebrauch ab, den die Menschen davon ma chen, welcher dieser Zusätze als wahrer angesehen wird. Wenn 27 die Anzahl von Dollars ist, die ich in einer Schublade finde, in die ich 28 hineingelegt hatte, dann ist 27 gleichbedeutend mit 28 minus 1. Wenn ein Regalbrett 27 Zoll lang ist, ich es aber in ein Regal von 26 Zoll Breite legen will, dann ist 27 gleichbedeu tend mit 26 plus 1. Wenn man den Sternenhimmel preisen will, indem man bestimmte Konstellationen heraushebt, dann dürfte „Großer Wagen“ in gewissem Sinne wahrer sein als „Schöpf löffel“. Mein Freund Frederick Myers pflegte sich im Scherz darüber zu entrüsten, dass diese großartige Sternengruppe uns Amerikaner lediglich an ein Küchenutensil erinnern sollte. Was sollen wir überhaupt als ein Ding bezeichnen ? Das scheint recht willkürlich zu sein, denn so, wie wir einzelne Sterne herausgreifen und sie zu Konstellationen ordnen, so greifen wir überall einzelne Dinge heraus, um unseren mensch lichen Zwecken zu entsprechen. Für mich Vortragenden ist die ganze „Zuhörerschaft“ ein Ding, das mal unruhig ist und mal aufmerksam. Ich habe augenblicklich keine Verwendung für seine individuellen Bestandteile, also nehme ich sie auch nicht zur Kenntnis. Ebenso verhält es sich mit einer „Armee“ oder einer „Nation“. Aus Ihrer Sicht jedoch, meine Damen und Her ren, muss es recht zufällig erscheinen, Sie als „Zuhörerschaft“ zu bezeichnen. Für Sie sind Ihre individuellen Persönlichkeiten die wirklich beständigen Dinge. Für einen Anatomen wiederum stellen diese Persönlichkeiten lediglich Organismen dar, und die wirklichen Dinge sind die Organe. Nicht so sehr die Organe sind das Wirkliche, sondern vielmehr die Zellen, aus denen sie zusammengesetzt sind, sagen die Histologen. Nicht die Zellen, sondern die Moleküle, sagen ihrerseits wieder die Chemiker. Wir zerteilen den Strom der sinnlich gegebenen Wirklichkeit also nach unserem Willen in einzelne Dinge. Wir erschaffen so
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mit selbst die Gegenstände unserer wahren ebenso wie unserer falschen Urteile. Auch Eigenschaften werden von uns selbst erschaffen. Viele Eigenschaften der Dinge drücken nur die Beziehungen der Dinge zu uns und unseren Gefühlen aus. Solche Eigenschaf ten sind natürlich menschliche Zusätze. Caesar überquerte den Rubikon und war eine Bedrohung für die Freiheit Roms. Er ist aber auch eine Plage, die die amerikanischen Klassenzimmer heimsucht, und zwar durch die Reaktion unserer Schulkinder auf seine Schriften. Diese später hinzugefügte Eigenschaft trifft auf ihn ebenso zu und ist deshalb ebenso wahr wie die früheren. Sie sehen, dass man wie von selbst zum humanistischen Prinzip gelangt : Man kann den menschlichen Faktor nicht ausmerzen. Unsere Substantive und Adjektive sind allesamt vermensch lichte Erbteile, und die innere Ordnung und Struktur unserer Theorien, in die wir diese Begriffe einbauen, wird vollständig von menschlichen Absichten beherrscht, wobei die intellektu elle Stimmigkeit nur eine davon ist. Sogar in Mathematik und Logik gärt es nur so von menschlichen Neuordnungen. Physik, Astronomie und Biologie richten sich ganz massiv nach Vorlie ben und Abneigungen. Wir stürzen uns in neue Erfahrungen mit den Überzeugungen, die unsere Vorfahren und wir uns im mer schon gebildet haben ; diese bestimmen, was wir wahrneh men ; was wir wahrnehmen, bestimmt, was wir tun ; was wir tun, bestimmt wiederum, was wir erfahren ; und so weiter von einem zum anderen. Obwohl das eigensinnige Faktum bestehen bleibt, dass es einen Fluss von Sinneserfahrungen gibt, scheint doch alles, was von ihm wahr ist, von Anfang bis Ende weitgehend unsere eigene Schöpfung zu sein. Unvermeidlicherweise verbreitern wir diesen Fluss. Die große Frage lautet : Gewinnt oder verliert er durch unser Zutun an Wert oder nicht ? Sind unsere Hinzufügungen wertvoll oder wertlos ? Stellen Sie sich ein Universum vor, das nur aus sieben Sternen besteht, und es gibt lediglich drei menschliche Beobachter und einen Kritiker. Ein Beobachter nennt die Sterne „Großer Bär“, ein anderer „Großer Wagen“ und der dritte „Schöpflöffel“. Wel cher menschliche Zusatz hat dann aus dem gegebenen Sternen
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material das beste Universum gemacht ? Wenn Frederick Myers der Kritiker wäre, hätte er nicht gezögert, den amerikanischen Beobachter abzulehnen. Lotze hat an mehreren Stellen eine wertvolle Anregung gege ben. 6 Wir unterstellen, wie er sagt, naiverweise eine Beziehung zwischen der Wirklichkeit und unserem Verstand, die mögli cherweise das genaue Gegenteil der tatsächlichen Beziehung ist. Wir gehen normalerweise davon aus, dass die Wirklichkeit abgeschlossen ist, dass sie zu unserer Verfügung steht und dass unser Intellekt lediglich die Aufgabe hat, sie so zu beschrei ben, wie sie ist. Aber könnten nicht unsere Beschreibungen, so fragt Lotze, selbst wichtige Beiträge zu dieser Wirklichkeit sein ? Die vorangegangene Wirklichkeit könnte ja viel weniger zu dem Zweck da sein, unverändert unserem Wissensstand zu zugehören, als vielmehr dazu, unseren Verstand zu Beiträgen anzuregen, die den Gesamtwert des Universums vergrößern. „Die Erhöhung des vorgefundenen Daseins“ [ dt. i. O. ] ist ein Ausdruck, den Professor Eucken an einer Stelle gebraucht,7 und dieser Ausdruck erinnert an diese Anregung des großen Lotze. Dies genau ist unsere pragmatistische Auffassung. Wir sind sowohl in unserem kognitiven als auch in unserem sonstigen aktiven Leben schöpferisch tätig. Wir fügen sowohl den Sub jekten als auch den Prädikaten der Wirklichkeit etwas hinzu. Tatsächlich ist die Welt formbar und wartet darauf, dass wir etwas mit ihr anfangen. Ebenso wie das Himmelreich erträgt sie bereitwillig, dass wir Hand an sie legen. Der Mensch erzeugt Wahrheiten, die in der Welt gelten. Es ist nicht zu leugnen, dass eine solche Aufgabe sowohl unsere Würde als auch unsere Verantwortung als Denker be reichert. Für einige von uns erweist sich dies als eine äußerst inspirierende Vorstellung. Papini, der Kopf der italienischen Pragmatisten, wird nachgerade hymnisch angesichts der Aus sicht auf die göttlichen und schöpferischen Kräfte des Men schen, die diese Vorstellung eröffnet. Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Pragmatismus und Rationalismus liegt uns nun in ihrer ganzen Tragweite
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deutlich vor Augen. Der wesentliche Gegensatz ist der, dass die Welt für den Rationalisten bereits abgeschlossen und von Ewigkeit vollendet ist, während sie für den Pragmatisten immer noch gemacht wird und er ihre endgültige Ausgestaltung erst von der Zukunft erwartet. Für die einen befindet sich die Welt bereits in vollkommener Sicherheit, während sie sich für die anderen immer noch in Abenteuer stürzt. Mit dieser humanistischen Auffassung haben wir uns ziem lich weit hinausgewagt, und es ist kein Wunder, dass sie einige Missverständnisse hervorgerufen hat. So wirft man dem Huma nismus vor, er sei eine Lehre der reinen Willkür. Beispielsweise behauptet Bradley, dass ein Humanist, der seine eigene Lehre richtig versteht, „jeden Zweck, wie verquer er auch sein mag, für vernünftig halten müsse, wenn ich nur persönlich darauf be stehe, und jede Vorstellung, wie verrückt sie auch sein mag, für wahr, wenn nur irgendjemand beschließt, dass es so sein solle“8 . Tatsächlich ist die humanistische Auffassung der „Wirklichkeit“ als etwas, das uns zwar standhält, aber trotzdem von uns form bar ist, das unser Denken als eine Art Energie kontrolliert, von der wir uns unaufhörlich „Rechenschaft“ geben müssen (wenn auch nicht ausschließlich in Form einer Abbildung) – tatsäch lich ist diese Auffassung einem Anfänger nur sehr schwer zu vermitteln. Diese Situation erinnert mich an eine, die ich selbst durchgemacht habe. Ich habe einmal einen Aufsatz geschrieben über unser Recht auf Glauben, den ich unglücklicherweise „Der Wille zum Glauben“ genannt habe. Ausnahmslos alle Kritiker ignorierten den Aufsatz und stürzten sich sofort auf den Titel. Er war psychologisch unmöglich und moralisch ungeheuerlich. Geistreiche Gegenvorschläge waren „Der Wille zum Betrug“ oder „Der Wille zum Phantasieren“.9 Die Alternative zwischen Pragmatismus und Rationalismus ist, so wie sie jetzt vor uns steht, keine Frage der Erkenntnistheorie mehr, sondern betrifft die Struktur der Welt selbst. Aus pragmatistischer Sicht gibt es nur eine Welt, und diese Welt ist unvollendet und an allen Ecken und Enden im Wach sen begriffen, insbesondere dort, wo denkende Wesen am Werk sind.
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Aus rationalistischer Sicht gibt es eine Welt in vielen ver schiedenen Ausgaben : Es gibt die eine wirkliche Welt, die un endliche Folioausgabe oder édition de luxe, von Ewigkeit her vollendet. Und es gibt die verschiedenen beschränkten Aus gaben, voll von falschen Lesarten, jede auf ihre eigene Weise entstellt und verstümmelt. Wir haben es hier also wieder mit den rivalisierenden meta physischen Hypothesen des Pluralismus und des Monismus zu tun. Ich werde den Rest dieser Vorlesung darauf verwenden, die Unterschiede zwischen diesen beiden Hypothesen heraus zuarbeiten. Als Erstes möchte ich darauf hinweisen, dass man unmöglich leugnen kann, dass bei der Wahl der Seite, auf die man sich schlägt, Mentalitätsunterschiede eine große Rolle spielen. Der Rationalist in seiner radikalen Ausprägung ist doktrinär und autoritär eingestellt : Ständig führt er den Ausdruck „es muss sein“ im Mund. Seine Welt hat den Gürtel fest zugeschnallt. Der radikale Pragmatist dagegen ist ein unbekümmertes, anarchis tisches Geschöpf. Müsste er wie Diogenes in einem Fass leben, so wäre es ihm vollkommen egal, ob die Reifen locker und die Dauben der Sonne ausgesetzt wären. Die Vorstellung dieser offenen Welt macht auf den typischen Rationalisten so ziemlich denselben Eindruck wie die Forde rung nach Pressefreiheit auf einen altgedienten Beamten der russischen Zensurbehörde oder die Forderung nach verein fachter Schreibweise auf eine ältliche Lehrerin. Sie wirkt auf den Rationalisten so, wie der Anblick der zahllosen protestan tischen Sekten auf einen Katholiken wirken muss. Sie erscheint ihm so ohne Rückgrat und prinzipienlos, wie politischer „Op portunismus“ einem altmodischen französischen Legitimisten oder einem fanatischen Verfechter der gottgegebenen Rechte der Völker erscheinen muss. Aus der Sicht des pluralistischen Pragmatismus entwickelt sich die Wahrheit innerhalb unserer begrenzten Erfahrungen. Sie beziehen sich aufeinander, aber das Ganze dieser Erfah rungen – wenn so ein Ganzes existiert – bezieht sich auf gar nichts. Unsere „Heimat“ liegt in der begrenzten Erfahrung ; die
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begrenzte Erfahrung als solche ist heimatlos. Nichts außerhalb des Flusses garantiert ihr Ergebnis. Erlösung liegt einzig und allein in ihren eigenen Verheißungen und Fähigkeiten. Für den Rationalisten ist dies die Beschreibung einer ziellos wandernden und unsteten Welt, die im Raum umhertreibt, und weder Elefant noch Schildkröte setzen den Fuß auf sie. Ein sol ches Universum erscheint ihm wie ein Haufen Sterne, an den Himmel geworfen, ohne auch nur ein Zentrum zu besitzen, zu dem die Schwerkraft sie zieht. In anderen Bereichen unseres Le bens haben wir uns mittlerweile daran gewöhnt, in relativer Un sicherheit zu leben : Die Autorität des „Staates“ hat sich ebenso als ein bloßes Hilfsmittel herausgestellt wie die Autorität eines absoluten „moralischen Gesetzes“, und aus der heiligen Kirche sind bloße „Versammlungshäuser“ geworden. Aber in den phi losophischen Hörsälen ist dies bisher noch nicht geschehen. Man stelle sich vor : eine Welt, in der wir dazu beitragen, die Wahrheit hervorzubringen ! Eine Welt, die unserem Opportunismus und unseren persönlichen Urteilen ausgeliefert wäre ! Dagegen wäre die Selbstbestimmung für Irland eine paradiesische Aussicht.10 Wir sind auf eine solche Aufgabe nicht besser vorbereitet als die Filipinos für die Aufgabe, sich selbst zu regieren.11 Eine solche Welt wäre aus philosophischer Sicht geradezu unanständig. Für den Großteil der Philosophieprofessoren wäre dies wie ein Kof fer ohne Namensschild oder ein Hund ohne Marke. Was aber würde nach Meinung der Herren Professoren diese ungebundene Welt zügeln können ? Irgendetwas, das geeignet ist, die begrenzte Vielheit zu stüt zen, zu verbinden, zu vereinheitlichen und zu verankern. Irgend etwas, das nicht dem Zufall unterworfen ist, etwas Ewiges und Unwandelbares. Der stetige Wandel der Erfahrung muss auf Unwandelbares gegründet werden. Hinter unserer tatsächlichen Welt, unserer Welt, wie sie de facto ist, muss es eine zweite Welt geben, eine Welt de jure, ein festes und präexistentes Duplikat, eine Welt, die alles, was in der wirklichen Welt passiert, bereits der Möglichkeit nach in sich enthält, wo jeder Tropfen Blut, jede kleinste Kleinigkeit vorherbestimmt und festgelegt, markiert und bezeichnet ist, ohne die kleinste Hoffnung auf Verände
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rung. Alles Negative, was unsere Ideale hier unten heimsucht, muss in der absoluten Wirklichkeit seinerseits negiert werden. Dies allein gibt der Welt ihre Festigkeit. Dies ist die Ruhe in der Tiefe. Wir dagegen leben an der stürmischen Oberfläche. Aber dieser Gedanke gibt uns Halt wie ein Anker in felsigem Grund. Dies meint Wordsworth, wenn er vom „ewigen Frieden“ spricht, „der auf dem Grund rastloser Bewegung ruht“.12 Dies meint Vivekananda mit seinem mystischen Einen, von dem ich Ihnen berichtet habe. Dies ist die eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit mit dem bestimmten Artikel, eine Wirklichkeit, die Anspruch auf Zeitlosigkeit erhebt und niemals besiegt werden kann. Diese Lehre zu postulieren halten die Prinzipienmenschen für ihre Pflicht, insbesondere alle jene, die ich in meiner ersten Vor lesung die Empfindsamen genannt habe. Eben diese Lehre ist es aber auch, die die Robusten aus meiner ersten Vorlesung nicht anders nennen können als eine vollkommen abstruse Anbetung der Abstraktion. Für den Ro busten sind Tatsachen das A und O. Wie mein robuster alter Freund Chauncey Wright, der große Harvard-Empirist meiner Jugendzeit, zu sagen pflegte : Hinter den nackten Tatsachen, so wie wir sie wahrnehmen, ist nichts. Wo der Rationalist darauf besteht, dass hinter den Tatsachen der Grund und die Möglichkeit der Tatsachen liege, da wirft ihm der robustere Empirist vor, er nehme bloß den Namen und das Wesen einer Tatsache und stelle diese hinter die Tatsache als eine verdoppelte Entität, die die erste möglich machen soll. Bekanntlich werden solche Scheinargumente häufig vorgebracht. Bei einer medizinischen Operation hörte ich, wie ein Zuschauer den Arzt fragte, warum der Patient so tief atme. Der Arzt antwortete : „Weil Äther ein respiratorisches Stimulans ist.“ – „Ah !“, sagte der Zuschauer, als wäre er durch die Erklärung erleichtert. Aber das wäre genauso, als würde man sagen, dass Zyankali deshalb tötet, weil es ein „Gift“ ist, oder dass es heute Abend so kalt ist, weil „Winter“ ist, oder dass wir deshalb alle fünf Finger haben, weil wir „Pentedaktylen“ sind. Dies sind doch alles nur Namen für die Tatsachen, die von den Tatsachen abgezogen wurden und dann so behandelt werden, als wären sie präexistent und könn
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ten irgendetwas erklären. Für die Robusten funktioniert dieser empfindsame Begriff einer absoluten Wirklichkeit nach genau diesem Muster. Dabei ist sie nichts anderes als eine zusammen fassende Bezeichnung für die große, ausgedehnte und in sich verschlungene Masse von Phänomenen, die so dargestellt wird, als handle es sich dabei um eine von den Phänomenen selbst verschiedene und zugleich einheitliche und präexistente Entität. Man sieht also, auf wie unterschiedliche Weise die Menschen die Dinge angehen. Die Welt, in der wir leben, besteht aus zer streuten und verbreiteten, unendlich zahlreichen „Einzeldin gen“, die auf alle möglichen Weisen und in allen möglichen Graden miteinander zusammenhängen, und die Robusten sind auch gewillt, es bei dieser Beurteilung zu belassen. Sie können eine solche Welt aushalten, weil ihre Mentalität dieser Unsicher heit gut angepasst ist. Anders die Empfindsamen. Sie müssen die Welt, in die wir alle hineingeboren sind, durch eine „andere und bessere“ Welt stützen, in der die Einzeldinge ein Ganzes bilden und das Ganze wiederum eine Einheit, durch die aus nahmslos jede Einzelheit logisch vorausgesetzt, impliziert und abgesichert ist. Müssen wir als Pragmatisten robust in einem radikalen Sinne sein ? Oder dürfen wir die absolute Version der Welt als eine legitime Hypothese betrachten ? Sie ist sicherlich legitim, denn sie ist denkbar, ob wir sie nun in ihrer abstrakten oder in ihrer konkreten Gestalt auffassen. Sie abstrakt aufzufassen bedeutet, sie über unser begrenztes Leben zu stellen, so wie wir das Wort „Winter“ über das kalte Wetter heute Abend stellen. „Winter“ ist lediglich der Name für eine bestimmte Anzahl von Tagen, an denen gewöhnlich kaltes Wetter herrscht, aber durch diese Namensgebung wird keines wegs die Kälte garantiert, denn das Thermometer könnte sich bereits morgen bis zu 20 Grad aufschwingen. Trotzdem ist das Wort brauchbar, um mit ihm in den Strom der Erfahrung ein zutauchen. Es lässt einige Möglichkeiten wahrscheinlich wer den und andere unwahrscheinlich : Man kann seinen Strohhut einpacken und seine Winterschuhe hervorholen. Es ist eine Zu sammenfassung von Dingen, von deren Eintreten man ausgehen
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darf. Es benennt einige Gewohnheiten der Natur und bereitet uns darauf vor, dass die Natur diese Gewohnheiten weiterhin haben wird. Es ist ein präzises Instrument, das aus der Erfah rung abstrahiert wurde, eine begriffliche Wirklichkeit, die man berücksichtigen muss und die einen wieder zurückführt in die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit. Der Pragmatist wäre der Letzte, der die Wirklichkeit solcher Abstraktionen leugnen würde. In ihnen ist sehr viel vergangene Erfahrung verdichtet. Es bedeutet jedoch etwas anderes, wenn man diese absolute Fassung der Welt in einem konkreten Sinne nimmt. Die Ra tionalisten fassen das Absolute konkret auf und stellen es in Gegensatz zu den endlichen Fassungen der Welt. Sie schreiben ihm ein eigenes Wesen zu. Es ist vollkommen und vollendet. In ihm geht das Wissen von einem Ding mit dem Wissen von allen anderen Dingen einher ; hier, in unserer Welt, wo Unwissenheit herrscht, ist das bei weitem nicht so. Wenn es dort Bedürfnisse gibt, so wird sofort auch für deren Befriedigung gesorgt. Hier ist alles in der Entwicklung begriffen ; jene Welt ist zeitlos. In un serer Welt herrschen die Möglichkeiten ; in der absoluten Welt, in der alles, was nicht ist, von Ewigkeit her unmöglich ist, und alles, was ist, notwendigerweise ist, gibt es für die Kategorie der Möglichkeit keine Verwendung. In dieser Welt müssen Ver brechen und Gräuel bedauert werden. In jener verabsolutierten Welt gibt es kein Bedauern, denn „die Existenz des Übels in der zeitlichen Ordnung ist gerade die Bedingung für die Vollkom menheit der ewigen Ordnung“. Also nochmals : Für den Pragmatisten sind beide Hypothe sen legitim, denn jede hat ihren Nutzen. Im abstrakten Sinne aufgefasst – also so wie das Wort „Winter“ –, ist der Begriff der absoluten Welt unverzichtbar als ein Memorandum vergangener Erfahrungen, das uns in Richtung auf die Zukunft orientiert. Im konkreten Sinn ist dieser Begriff ebenfalls unverzichtbar, zumindest für bestimmte Menschen, denn er bestimmt sie in religiöser Hinsicht. Das Absolute ist für solche Menschen häu fig der Anlass, ihr Leben zu ändern, und indem sie dies tun, ändert sich ebenfalls alles, was in der äußeren Ordnung von ihnen abhängt.
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Wir können uns deshalb nicht uneingeschränkt den Robus ten anschließen und den Begriff einer Welt, die jenseits unserer endlichen Erfahrung besteht, rundheraus ablehnen. Es ist ja gerade ein Missverständnis gegenüber dem Pragmatismus, ihn mit positivistischer Robustheit zu identifizieren, also zu unter stellen, der Pragmatismus verachte jedes rationalistische Kon zept als bloßes Gefasel oder Getue, er liebe die intellektuelle Anarchie um ihrer selbst willen und ziehe eine wüste und wilde Welt ohne Herren oder Zwang allem vor, was überhaupt nur in einem philosophischen Hörsaal hervorgebracht worden ist. Natürlich habe ich in diesen Vorlesungen so viel gegen die allzu empfindsamen Varianten des Rationalismus gesagt, dass ich auf einige Missverständnisse gefasst war. Aber ich muss gestehen, dass ich erstaunt bin, wie viele Missverständnisse es gerade in diesem Publikum gegeben hat, wo ich doch die rationalistischen Hypothesen zugleich auch verteidigt habe, sofern sie uns Ge winn bringend zurück zur Erfahrung führen. So erhalte ich beispielsweise heute Morgen eine Postkarte mit folgender Frage : „Muss ein Pragmatist notwendigerweise ein reiner Materialist oder ein reiner Agnostiker sein ?“ Und einer meiner ältesten Freunde, jemand, der mich besser kennen sollte, schreibt mir einen Brief, in dem er den von mir vorge schlagenen Pragmatismus beschuldigt, alle weiterreichenden metaphysischen Betrachtungen auszuschließen und uns zu ei nem primitiven Naturalismus zu verurteilen. Erlauben Sie mir, ihnen einige Auszüge aus dem Brief vorzulesen. „Es will mir scheinen“, schreibt mein Freund, „dass der prag matische Einwand gegen den Pragmatismus in der Tatsache liegt, dass er die Beschränktheit beschränkter Geister sichtbar werden lässt. Dein Aufruf gegen die verzärtelten Muttersöhnchen und ihr philosophisches Wischi-Waschi ist natürlich sehr anregend. Aber auch wenn es heilsam und anregend zu hören ist, dass man Verantwortung übernehmen muss für die unmittelbaren Folgen und die Tragweite seiner Worte und Gedanken, so lasse ich mir doch das Vergnügen und den Gewinn nicht nehmen, der mit der Auseinandersetzung auch mit entfernteren Gegenständen
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des Denkens verbunden ist. Es liegt aber in der Tendenz des Pragmatismus, dieses Privileg zu entziehen. Kurz gesagt, es erscheint mir so, als seien die Begrenzthei ten oder auch Gefahren, die in der Tendenz des Pragmatismus liegen, analog zu denen, die auch die unkritischen Anhänger der ‚Naturwissenschaften‘ heimsuchen. Chemie und Physik sind ausgesprochen pragmatisch. Viele von denen, die sich diesen Wissenschaften verschrieben haben, blicken mit selbstgefälliger Zufriedenheit auf die Daten, die ihnen ihr Wiegen und Messen liefert, und haben für alle Studenten der Philosophie oder der Metaphysik nur unendliches Mitleid oder Verachtung übrig. Und selbstverständlich kann man alles – auf eine bestimmte Weise und ‚theoretisch‘ – in Begriffen der Chemie oder der Phy sik ausdrücken, alles, bis auf das lebendige Prinzip des Ganzen. Dafür jedoch besteht nach ihrer Meinung kein pragmatischer Nutzen, es hat keine Auswirkungen – für sie. Ich für meinen Teil werde mir jedenfalls nicht einreden lassen, dass wir nicht jenseits des offensichtlichen Pluralismus nach einer logischen Einheit suchen dürften, an denen Naturalisten oder Pragmatis ten kein Interesse haben.“ Wie kann, nach meinen ersten beiden Vorlesungen, ein sol ches Bild des von mir propagierten Pragmatismus entstehen ? Ich habe den Pragmatismus immer explizit als Vermittler zwi schen den Empfindsamen und den Robusten vorgestellt. Wenn sich zeigen lässt, dass der Begriff einer Welt ante rem – ob er nun abstrakt aufgefasst wird wie das Wort „Winter“ oder konkret als Hypothese des Absoluten – irgendwelche Konsequenzen für un ser Leben hat, so hat er auch Bedeutung. Wenn diese Bedeutung eine Wirkung hat, dann wird der Begriff für den Pragmatisten auch irgendeine Wahrheit besitzen, an der über alle Umformu lierungen hinweg festgehalten werden muss. Die absolutistische Hypothese, dass die Vollkommenheit ewig, ursprünglich und im höchsten Grade real ist, besitzt eine ganz bestimmte Bedeutung, die in religiöser Hinsicht ihre Wir kung ausübt. Gegenstand meiner nächsten und letzten Vorle sung wird es sein, diese Wirkung zu untersuchen.
Achte Vorlesung PRAGMATISMUS UND RELIGION
A
m Ende meiner letzten Vorlesung hatte ich Sie an die erste erinnert, in der ich die Empfindsamen den Robusten ge genübergestellt und den Pragmatismus als Vermittler zwischen beiden empfohlen hatte. Die Hypothese der Empfindsamen, dass eine immer schon vollendete Version der Welt mit unse ren endlichen Erfahrungen koexistiert, wird von den Robusten ausdrücklich abgelehnt. Den pragmatistischen Grundsätzen zufolge dürfen wir keine Hypothese ablehnen, wenn man aus ihr Konsequenzen ableiten kann, die für unser Leben brauchbar sind. Universelle Entwürfe können, sofern man sie ernsthaft in Betracht ziehen muss, für den Pragmatismus ebenso real sein wie einzelne Sinneswahr nehmungen. Natürlich sind sie unwirklich und ohne Bedeutung, wenn sie nicht zu gebrauchen sind. Aber wenn sie irgendeinen Nutzen haben, dann haben sie auch ebenso viel Bedeutung. Und die Bedeutung wird dann Wahrheit besitzen, wenn der Nutzen mit anderen Erfordernissen des Lebens in Einklang gebracht werden kann. Nun, die Brauchbarkeit des Absoluten ist durch den ganzen Gang der Religionsgeschichte des Menschen erwiesen. Zu flucht ist unter den Armen des Ewigen.1 Erinnern Sie sich an Vivekanandas Gebrauch des Atman : Das war freilich kein wis senschaftlicher Gebrauch, denn wir können nichts Bestimmtes daraus ableiten. Er ist durch und durch emotional und spirituell. Es ist immer am besten, die Dinge anhand von konkreten Beispielen zu untersuchen. Ich möchte Ihnen deshalb einige Verse aus dem Gedicht „An Dich“ von Walt Whitman vorlesen – wobei der Angesprochene natürlich der Leser oder Hörer des Gedichtes ist, wer immer das auch sein mag.
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Wer immer du bist, hier lege ich meine Hand auf dich, daß du mein Gedicht seist, Ich flüstre mit meinen Lippen dicht an deinem Ohr, Ich habe viele Frauen und Männer geliebt, aber keinen liebe ich mehr als dich. O ich war nachlässig und stumm, Ich hätte schon längst geradenwegs zu dir kommen sollen, Ich hätte von nichts anderem reden sollen, als von dir, ich hätte nichts singen sollen, als dich. Ich will alles lassen und kommen und die Hymnen dichten von dir, Keiner hat dich verstanden, doch ich verstehe dich, Keiner ist dir gerecht geworden,du selbst bist dir nicht gerecht geworden, Alle fanden dich unvollkommen, ich allein finde keine Unvoll kommenheit in dir. O solche Größe und Glorie könnte ich singen von dir ! Du hast nicht gewußt, wer du bist, du hast auf dir selber geschlummert dein Leben lang, Deine Lider waren so gut wie geschlossen die ganze Zeit, Was du getan hast, zeigt sich schon jetzt als Blendwerk. Das Blendwerk bist nicht du, unter und in ihm sehe ich dich verborgen, Ich suche dich, wo dich noch keiner gesucht hat, Schweigen, das Arbeitspult, geschwätzige Mienen, die Nacht, die angewöhnte Routine, mögen sie dich vor andern und vor dir selber verbergen, sie verbergen dich nicht vor mir, Das glatt rasierte Gesicht, das unstete Auge, die unreine Haut, mögen sie andere hindern, mich hindern sie nicht, Die modische Kleidung, die Mißgestalt, Gier, vorzeitigen Tod, sie alle schieb ich beiseite. Es gibt keine Begabung in Mann oder Weib, die nicht ihr Wider spiel fände in dir, Es gibt keine Tugend noch Schönheit in Mann oder Weib, die nicht auch lebte in dir,
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Keinen Mut, keine Standhaftigkeit in andern und nicht auch in dir, Keine Lust, die andern bereitet wäre und nicht auch dir. Wer immer du bist ! fordre dein Eigen auf alle Gefahr ! Diese Fülle in Ost und West ist schal, verglichen mit dir, Diese unermeßlichen Steppen, diese endlosen Ströme, du bist unermeßlich und endlos wie sie, Diese rasenden Elemente, Stürme, Wallungen der Natur, diese Krämpfe scheinbarer Auflösung, du bist der oder die, der Meister oder Meisterin ist über sie, Meister und Meisterin kraft deines eigenen Rechts über Natur, Elemente, Schmerz, Leidenschaft, Auflösung. Die Fesseln fallen von deinen Gelenken, du findest unfehlbares Vergnügen, Alt oder jung, Mann oder Weib, roh, niedrig, von den anderen verworfen – was immer du bist, macht seinen Weg Durch Geburt, Leben, Tod, Grab ; es ist für alles gesorgt, was du brauchst, mit nichts ist gespart, Durch Sorgen, Verluste, Ehrgeiz, Unwissenheit, Überdruß sucht sich das, was du bist, seinen Weg.2
Dies ist wahrhaftig ein schönes und bewegendes Gedicht. Man kann es allerdings auf zweierlei Weise verstehen. Beide sind nützlich. Da ist zunächst die monistische Lesart des mystischen Ver ständnisses reinen kosmischen Gefühls. Größe und Glorie – sie kommen dir in einem absoluten Sinne zu, selbst inmitten all deiner Entstellungen. Was immer dir zustoßen mag, was im mer du sein wirst, in deinem Innersten bist du sicher. Besinne dich auf das wahre Prinzip deines Daseins, zu ihm nimm deine Zuflucht ! Auf diese Weise versteht der Quietismus oder der Indifferentismus das Gedicht. Seine Gegner sehen in ihm eine Art spirituelles Opium. Der Pragmatismus jedoch muss auch diese Auffassung respektieren, lässt sie sich doch historisch in massiver Weise rechtfertigen.
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Allerdings gibt es für den Pragmatismus noch eine weitere, nämlich eine pluralistische Art, das Gedicht zu interpretieren, und auch diese hat ihre Berechtigung. Das „Du“, das in die sem Gedicht verherrlicht und dem diese Hymne gesungen wird, kann auch unsere besseren Möglichkeiten meinen oder die spe zifischen Erlösungseffekte, die sogar unsere Fehlschläge auf uns selbst oder auf andere haben. Es kann auch die vorbehaltlose Anerkennung meinen, die wir den Möglichkeiten jener zollen, die wir bewundern und lieben, sodass wir bereit sind, unser ei genes armes Leben zu akzeptieren, weil es an jener Herrlichkeit teilhat. Zumindest können wir die Pracht des Weltganzen wür digen, ihr Beifall zollen und uns in den Kreis der Zuschauer ein reihen. Vergiss das Niedere in dir, denke nur an das Erhabene. Identifiziere dein Leben damit, dann wird es seinen Weg finden, durch Ärger, Verlust, Ignoranz, Langeweile, was immer du auch tun wirst, was immer du in deinem tiefsten Innern sein wirst. Auf welche Weise das Gedicht auch verstanden wird, in jedem Fall ermutigt es uns dazu, uns selbst treu zu bleiben. Beide Auslegungen sind überzeugend ; beide heiligen den Lauf menschlichen Lebens. Beide Auslegungen malen das Bild des Du auf Goldgrund. Aber dieser Grund ist gemäß der ersten Auslegung das unbewegliche Eine, während er in der zweiten Auslegung die Vielzahl der Möglichkeiten, der wirklichen Mög lichkeiten, bezeichnet und auch wirklich die ganze Ruhelosig keit dieser Vorstellung mit sich führt. Gewiss, beide Arten, das Gedicht zu verstehen, haben et was Erhabenes. Allerdings passt die pluralistische Auffassung eindeutig am besten zur pragmatischen Mentalität, denn sie stellt uns unmittelbar eine unendlich größere Anzahl von Ein zelheiten zukünftiger Erfahrung in Aussicht. Sie regt uns zu ganz bestimmten Aktivitäten an. Obwohl diese zweite Art der Auslegung verglichen mit der ersten eher prosaisch und erdver bunden erscheint, kann man sie doch keineswegs der Robustheit im rohen Sinn des Wortes beschuldigen. Und dennoch, wenn wir als Pragmatisten entschieden die zweite Auffassung gegen die erste stellen wollten, dann würde man uns sehr wahrschein lich missverstehen. Man würde uns vorwerfen, erhabenere Vor
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stellungen grundsätzlich infrage zu stellen, man würde uns be schuldigen, Bundesgenossen der Robusten im übelsten Sinne des Wortes zu sein. Sie erinnern sich bestimmt noch an den Brief eines Hörers, aus dem ich in einer früheren Vorlesung einige Passagen vor gelesen habe. Lassen Sie mich noch einen weiteren Ausschnitt daraus vorlesen. Es zeigt sich darin eine meines Erachtens weit verbreitete Unklarheit im Erkennen der Alternativen, vor die wir gestellt sind. „Ich glaube an den Pluralismus“, schreibt mein Briefpartner und Freund, „ich glaube, dass wir in unserer Suche nach Wahr heit auf einem unendlichen Meer von einer Eisscholle auf die nächste springen und dass wir durch jede unserer Handlungen neue Wahrheiten möglich werden lassen und alte unmöglich. Ich glaube, dass jeder Mensch dafür verantwortlich ist, die Welt zu verbessern. Wenn er dies nicht tut, dann bleibt es ungetan. Aber gleichzeitig bin ich nur unter einer Bedingung bereit, zu ertragen, dass meine Kinder unter einer unheilbaren Krank heit leiden (was sie nicht tun) und dass ich selbst zwar dumm bin, aber klug genug, meine Dummheit zu erkennen : Ich muss mir vorstellen können, dass meine Handlungen und meine Ge danken und meine Sorgen durch die von der Phantasie und der Vernunft vollzogene Konstruktion einer rationalen Einheit aller Dinge eine Ergänzung durch all die anderen Phänomene der Welt erfahren und dass, wenn sie auf diese Weise ergänzt werden, ein Plan erkennbar wird, den ich billigen und mir zu eigen machen kann. Ich für meinen Teil lasse mir nicht weismachen, dass wir nicht in der Lage wären, hinter dem offensichtlichen Pluralis mus, den uns die Naturalisten und Pragmatisten predigen, eine logische Einheit zu erkennen, die diese Leute jedoch nicht inte ressiert und über die sie sich folglich nicht klar werden.“ Ein so schön ausgedrücktes und persönliches Glaubens bekenntnis rührt gewiss das Herz des Zuhörers. Aber kann es auch zur Schärfung seines philosophischen Verstandes bei tragen ? Vertritt der Verfasser dieses Briefes konsequent die monistische oder die pluralistische Interpretation des großen Weltgedichtes ? Seine Sorgen werden wettgemacht, sagt er, wenn
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sie ergänzt werden, ergänzt nämlich durch all die Heilmittel, mit denen ihn die anderen Phänomene versorgen. An dieser Stelle wendet sich der Verfasser ganz offensichtlich den Einzelheiten der Erfahrung zu, die er in pluralistisch-melioristischer Weise interpretiert. Er selbst glaubt jedoch, dass er sich nicht vorwärts, sondern rückwärts wendet. Er spricht zwar von der rationalen Einheit der Dinge, meint aber doch die Möglichkeit ihrer empirischen Vereinigung. Gleichzeitig unterstellt er, dass der Pragmatist, weil er die von den Rationalisten angenommene abstrakte Einheit kritisiert, ausgeschlossen ist von dem Trost, der im Glauben an die erlösenden Möglichkeiten der konkreten Vielheit liegt. Kurz gesagt, es gelingt ihm nicht, zwischen der Vollkommenheit der Welt als einem notwendigen Prinzip und der Vollkommen heit als einer bloßen Zielvorstellung zu unterscheiden. Ich glaube, der Verfasser dieses Briefes ist ein wahrer Prag matist, allerdings ohne sich dessen bewusst zu sein. Er erscheint mir wie einer aus jener großen Gruppe philosophischer Laien, von denen ich in meiner ersten Vorlesung gesprochen habe, die sich all die guten Dinge wünschen, ohne sich viel darum zu kümmern, ob sie miteinander vereinbar sind oder nicht. „Die rationale Einheit aller Dinge“ – das ist eine so inspirierende Formel, dass er in leichtsinniger Weise damit herumfuchtelt, wobei er dem Pluralismus den wenig konkreten Vorwurf macht, mit dieser Einheit in Widerspruch zu geraten (denn die bloßen Bezeichnungen widersprechen sich), obwohl er konkret doch ge nau die pragmatistisch vereinigte und verbesserte Welt meint. Die meisten von uns verbleiben in dieser grundsätzlichen Un klarheit, und in gewissem Sinn ist das auch gut so. Im Inter esse der Klarheit unseres Verstandes ist es aber andererseits ebenfalls gut, dass einige von uns einen Schritt weiter gehen, und deshalb werde ich nun versuchen, diesen religiösen Aspekt etwas genauer und differenzierter ins Auge zu fassen. Hat man denn dieses große „Du“, diese absolut wirkliche Welt, diese Einheit, die uns in moralischer Hinsicht inspiriert und die von religiösem Wert ist, monistisch oder pluralistisch zu verstehen ? Ist sie ante rem oder in rebus ? Ist diese Einheit
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ein Prinzip oder ein Ziel, ist sie etwas Absolutes oder etwas Ultimatives, ein Erstes oder ein Letztes ? Bringt sie uns dazu, nach vorne zu schauen oder uns zurückzulehnen ? Es ist sicher lich sinnvoll, diese beiden Dinge nicht in einen Topf zu werfen, denn wenn man sie voneinander abgrenzt, so haben sie definitiv verschiedene Bedeutungen für unser Leben. Bitte beachten Sie, dass sich bei diesem ganzen Dilemma aus pragmatischer Sicht alles um den Begriff der Möglichkeiten, die in dieser Welt stecken, dreht. Intellektuell gesehen, beschwört der Rationalismus sein absolutes Prinzip der Einheit als Grund der Möglichkeit für die vielen Tatsachen. Emotional betrachtet, schließt dieses Prinzip die Möglichkeiten in sich ein, begrenzt sie und garantiert dafür, dass sich letzten Endes alles zum Gu ten wenden wird. So verstanden sichert das Absolute alle guten Dinge ab und macht alle bösen Dinge unmöglich (in der Ewig keit nämlich), und man kann deshalb sagen, dass es die ganze Kategorie des Möglichen in Kategorien verwandelt, die sicherer sind. An diesem Punkt ist zu erkennen : Der große religiöse Un terschied besteht zwischen solchen Menschen, die darauf be stehen, dass die Welt erlöst werden muss und auch erlöst werden wird, und solchen, die sich damit begnügen zu glauben, dass die Welt vielleicht gerettet werden kann. Der ganze Konflikt zwischen der rationalistischen und der empiristischen Religion liegt demnach in der Frage der Gültigkeit des Möglichen. Des halb ist es notwendig, die Aufmerksamkeit zunächst auf dieses Wort zu richten. Was könnte das Wort „möglich“ genau bedeuten ? Für Leute, die nicht viel nachdenken, bedeutet „Möglich keit“ so viel wie eine Art dritte Stufe des Seins, die weniger wirklich als das tatsächlich Existente ist, aber wirklicher als das Nicht-Existente – ein Reich der Dämmerung, ein hybrider Zustand, ein Übergangsstadium, durch das die Wirklichkeiten jetzt und immerdar hindurchmüssen. Diese Vorstellung ist na türlich zu unklar und zu wenig anspruchsvoll, als dass sie uns zufrieden stellen könnte. Es verhält sich bei diesem Wort wie sonst auch : Der einzige Weg, die Bedeutung eines Ausdrucks zu ermitteln, besteht darin, die pragmatische Methode auf ihn
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anzuwenden : Welchen Unterschied macht es zu sagen, eine Sa che sei möglich ? Es macht zumindest diesen Unterschied : Wenn jemand die Sache unmöglich nennt, so können Sie ihm widersprechen ; wenn jemand die Sache als faktisch beschreibt, so können Sie ihm widersprechen ; und wenn jemand die Sache notwendig nennt, dann können Sie ihm auch widersprechen. Aber dieses Privileg, widersprechen zu dürfen, bringt nicht allzu viel. Ergeben sich nicht noch weiterreichende Unterschiede hinsichtlich der wirk lichen Tatsachen, wenn man eine Sache als möglich bezeichnet ? Es macht zumindest noch diesen negativen Unterschied : Wenn die Aussage wahr ist, dann folgt daraus, dass es nichts geben kann, das in der Lage wäre, diese mögliche Sache zu verhindern. Das Fehlen triftiger Hinderungsgründe lässt also, wie man sagen könnte, die Dinge als nicht unmöglich erscheinen, d. h. möglich im reinen oder abstrakten Sinn. Aber die meisten Möglichkeiten sind nicht rein, sondern kon kret fundiert oder, wie man sagt, gut fundiert. Was bedeutet das aus pragmatischer Sicht ? Es bedeutet nicht nur, dass keine Bedingungen vorhanden sind, die das Mögliche verhindern könnten, sondern auch, dass einige der Bedingungen, die zur Herstellung des möglichen Dinges führen könnten, tatsäch lich vorhanden sind. Demnach bedeutet ein konkret mögliches Hühnchen : erstens, dass die Vorstellung eines Hühnchens kei nen grundsätzlichen Selbstwiderspruch in sich enthält ; zweitens, dass keine bösen Buben, Stinktiere oder andere Feinde in der Nähe sind ; und schließlich drittens, dass zumindest ein tatsäch liches Ei existiert. Ein mögliches Huhn bedeutet ein tatsäch lich existierendes Ei – sowie außerdem eine wirkliche brütende Henne, einen Brutkasten oder was auch immer. In dem Maße, in dem sich die tatsächlichen Bedingungen der Vollständigkeit nähern, verfestigt sich die Möglichkeit des Hühnchens immer mehr. In dem Moment, in dem die Bedingungen vollständig er füllt sind, hört es auf, nur eine Möglichkeit zu sein, und wird zu einer wirklichen Tatsache. Wir wollen nun den Begriff der Möglichkeit auf die Frage nach der Erlösung der Welt anwenden. Was bedeutet es aus
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pragmatischer Sicht, wenn wir sagen, dass sie möglich ist ? Es bedeutet, dass einige der Bedingungen für die Erlösung der Welt tatsächlich bestehen. Je mehr dieser Bedingungen exis tieren und je weniger der störenden Bedingungen sich finden lassen, desto mehr verfestigt sich die Möglichkeit der Erlösung und desto wahrscheinlicher wird die Tatsache der Errettung. So weit unsere einleitende Betrachtung zum Begriff der Mög lichkeit. Es würde sicherlich dem Geist des Lebens selbst widerspre chen, wollte man behaupten, dass wir uns gegenüber solchen Fragen wie derjenigen nach der Erlösung der Welt indifferent und neutral verhalten müssen. Jeder, der von sich behauptet, in diesem Punkt neutral zu sein, gibt sich als Dummkopf und als Heuchler zu erkennen. Wir alle wünschen uns doch, die Un sicherheiten dieser Welt auf ein Minimum zu reduzieren. Wir sind unglücklich – und sollten es auch sein –, wenn wir sie je dem Feind ausgeliefert und jedem lebenszerstörenden Angriff ausgesetzt sehen. Trotzdem gibt es unglückliche Menschen, die die Rettung der Welt nicht für möglich halten. Ihre Lehre kennt man unter der Bezeichnung „Pessimismus“. Optimismus nennt man dagegen diejenige Lehre, die die Er lösung der Welt für unausweichlich hält. In der Mitte zwischen diesen steht, was man als die Lehre des Meliorismus bezeichnen könnte – wenn dieser bislang auch weniger als eine Lehre auftrat denn als eine Einstellung gegen über den Angelegenheiten der Menschen. Der Optimismus war immer die herrschende Lehre der europäischen Philosophie. Der Pessimismus wurde erst in jüngerer Zeit von Schopen hauer eingeführt und hat bis heute nur wenige gefunden, die ihn systematisch verteidigen. Der Meliorismus hält die Erlösung weder für unausweichlich noch für unmöglich. Er hält sie für eine Möglichkeit, die in dem Maße zunehmend wahrschein licher wird, je zahlreicher die tatsächlichen Bedingungen für die Erlösung werden. Es versteht sich, dass der Pragmatismus zum Meliorismus neigt. Einige Bedingungen für die Errettung der Welt sind tat sächlich gegeben – vor dieser Tatsache kann der Pragmatismus
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seine Augen nicht verschließen. Und sollten sich die noch ver bleibenden Bedingungen einstellen, dann würde auch die Er lösung zu einer vollendeten Realität. Selbstverständlich kann man unter den Ausdrücken, die ich hier verwende, die unter schiedlichsten Dinge verstehen. Sie können das Wort „Erlö sung“ auf jede beliebige Weise interpretieren und darunter ein Phänomen verstehen, das sich ausbreitet und jeden Einzelnen betrifft, oder als Höhepunkt und umfassenden Bestandteil ei ner Entwicklung. Nehmen Sie als Beispiel irgendjemanden von uns hier im Saal mit den Idealen, die ihm teuer sind, für die er leben und arbeiten will. Jedes dieser Ideale wird, wenn es verwirklicht ist, ein Beitrag zur Erlösung der Welt sein. Aber diese einzelnen Ideale sind keine bloß abstrakten Möglichkeiten. Sie basieren auf etwas Konkretem, es sind lebendige Möglichkeiten, denn wir selbst verfechten und verbürgen sie, und wenn die komple mentären Bedingungen eintreten und sich dazugesellen, dann werden unsere Ideale zu tatsächlichen, wirklichen Dingen. Wel ches sind aber diese komplementären Bedingungen ? Das ist zu nächst jene Mixtur von Dingen, die uns in der Fülle der Zeit eine Möglichkeit bietet, eine Lücke, in die wir hineinspringen können, und schließlich : unser eigenes Handeln. Wird also die Erlösung der Welt durch unser Handeln erschaffen, sofern es sich selbst Raum verschafft und sich in die Lücke wagt ? Erschafft unser Handeln die Erlösung der Welt – nicht die der ganzen Welt selbstverständlich, aber doch desjeni gen Teils von ihr, auf den sich unser Wirken erstreckt ? An dieser Stelle packe ich nun den Stier bei den Hörnern, stelle mich gegen die ganze Mannschaft der Rationalisten und Monisten, welcher Ausrichtung sie auch sein mögen, und frage : Warum nicht ? Unser Handeln, die Wendepunkte, an denen wir uns selbst zu erschaffen und an denen wir zu wachsen glauben, dies sind die Teile der Welt, die uns am nächsten liegen, von denen unsere Kenntnis am intimsten und vollständigsten ist. Warum sollten wir diese nicht für bare Münze nehmen ? Wa rum sollten sie nicht die tatsächlichen Wendepunkte und Nähr böden der Welt sein, als die sie uns erscheinen – warum sollte
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dies nicht die Werkstätte des Seins sein, wo wir die Tatsachen im Entstehen erfassen können ? Warum sollte dies nicht die einzige Art und Weise sein, auf die sich die Welt entwickeln kann ? Man sagt uns, das sei irrational ! Wie kann es sein, dass neues Sein in Form einzelner Stücke und Flecken entsteht, die sich unabhängig von allem Übrigen zufällig zusammenfügen oder getrennt bleiben ? Es muss eine Ursache für unsere Handlungen geben, und wo sonst könnte – wenn alle Stricke reißen – eine Ur sache gefunden werden als in dem materiellen Druck oder dem logischen Zwang, der von der Gesamtheit der Natur der Welt ausgeht ? Es kann nur einen wahren Urheber des Wachstums (oder auch des nur scheinbaren Wachstums) geben, und dieser Urheber ist die einheitliche Welt selbst. Sie kann unaufhörlich wachsen, wenn es überhaupt Wachstum gibt, aber die Vorstel lung, dass einzelne Teile für sich selbst wachsen, ist irrational. Wenn man aber von Rationalität spricht und von den Ur sachen der Dinge und darauf besteht, dass sie nicht einfach in einzelnen Stücken entstehen können, welche Art von Ursache kann es denn letztlich dafür geben, dass überhaupt irgendetwas entstehen sollte ? Sie können so viel von Logik und Notwendig keit reden, wie Sie wollen, und von Kategorien und vom Ab soluten und von all den Gerätschaften der gesamten philoso phischen Maschinenhalle – die einzige wirkliche Ursache dafür, die ich mir vorstellen kann, dass überhaupt irgendeine Sache entsteht, ist, dass sich jemand wünscht, sie würde existieren. Es wird verlangt, verlangt vielleicht nur aus dem einen Grund, einem Bruchteil des Weltganzen, wie klein er auch sein mag, eine Wohltat zu verschaffen. Dies ist eine lebendige Ursache ; im Vergleich damit sind die materiellen Gründe und logischen Notwendigkeiten nur gespenstische Gebilde. Kurz : Die einzige vollkommen rationale Welt wäre eine Welt mit Zauberstäben, eine Welt der Telepathie, in der jeder Wunsch augenblicklich erfüllt würde, ohne dass man umge bende oder beeinflussende Kräfte berücksichtigen oder mit einander versöhnen müsste. Dies ist die eigentliche Welt des Absoluten : Es ruft die Welt der Erscheinungen ins Dasein,
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und diese Welt ist genau so, wie das Absolute es verlangt, ohne dass es weiterer Bedingungen bedarf. In unserer Welt sind die Wünsche des Einzelnen nur eine Bedingung. Es gibt andere In dividuen mit anderen Wünschen, und diese müssen zunächst einmal günstig gestimmt werden. Das Sein entwickelt sich also in dieser Welt der Vielheit gegen Widerstände aller Art, und es wird, von Kompromiss zu Kompromiss, erst allmählich zu einer Art sekundärer rationaler Gestalt geformt. Den Typus der Zauberstab-Organisation schaffen wir nur in wenigen Be reichen unseres Lebens. Wenn wir Wasser wollen, dann drehen wir einen Wasserhahn auf. Wenn wir eine Fotografie machen wollen, dann drücken wir auf einen Knopf. Wenn wir eine In formation wollen, dann telefonieren wir. Wenn wir verreisen wollen, dann kaufen wir uns ein Ticket. In diesen und ähnlichen Fällen brauchen wir kaum mehr als den Wunsch – die Welt ist rational organisiert und erledigt deshalb den Rest. Aber von Rationalität ist hier nur nebenbei und abschwei fend die Rede. Was wir diskutiert haben, war ja die Vorstel lung von einer Welt, die nicht im Ganzen, sondern stückweise durch die Beiträge ihrer verschiedenen Teile wächst. Nehmen Sie diese Hypothese ernst und stellen Sie sie ins Leben. Stellen Sie sich vor, der Erbauer der Welt legt Ihnen vor der Schöpfung den Sachverhalt folgendermaßen dar : „Ich werde eine Welt er schaffen, von der nicht sicher ist, ob sie erlöst wird, eine Welt, deren Vollkommenheit nur bedingt ist, wobei die Bedingung darin besteht, dass jeder Handelnde sein Bestes geben muss. Ich biete dir die Gelegenheit, an dieser Welt teilzuhaben. Wie du siehst, ist ihre Sicherheit nicht garantiert. Sie ist ein richti ges Abenteuer, mit wirklichen Gefahren, trotzdem besteht die Chance, dass sie durchkommt. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt, an dem ernsthaft kooperativ gearbeitet werden muß. Willst du bei diesem Szenario mitmachen ? Wirst du dir selbst und den an deren Handelnden gegenüber genügend Vertrauen aufbringen, das Risiko zu wagen ?" Würden Sie, wenn Ihnen die Teilhabe an solch einer Welt angeboten würde, sich allen Ernstes verpflichtet fühlen, das Angebot mit dem Hinweis darauf abzulehnen, diese Welt sei
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nicht sicher genug ? Würden Sie wirklich behaupten, dass Sie es vorziehen, in den Schlummer des Nichtseins zurückzusinken, aus dem Sie die Stimme des Verführers für einen Augenblick geweckt hat, anstatt wesentlicher Teil einer so grundsätzlich pluralistischen und irrationalen Welt zu sein ? Sofern Sie normal veranlagt sind, würden Sie selbstverständ lich nichts dergleichen tun. Die meisten von uns verfügen über einen gesunden Elan, für den eine derartige Welt genau die rich tige wäre. Wir würden deshalb das Angebot annehmen – „Top ! und Schlag auf Schlag !“ [ dt. i. O]. Es wäre ja genauso eine Welt wie die, in der wir tatsächlich leben, und die Treue gegenüber unserer alten Amme Natur würde es uns verbieten, das Ange bot abzulehnen. Die Welt, die uns da offeriert wird, erschiene uns in einer überaus lebendigen Weise „rational“. Ich behaupte also, dass die meisten von uns ein solches An gebot begrüßen und unser eigenes „Es werde“ dem „Es werde“ des Schöpfers hinzufügen würden. Einige jedoch würden dies vielleicht nicht tun. Denn in jeder Gruppe von Menschen gibt es Gemüter, die schwarzsehen und für die die Aussicht auf eine Welt, in der man sich die Sicherheit erkämpfen muss, nicht at traktiv ist. Im Leben eines jeden von uns gibt es entmutigende Augenblicke, in denen wir unserer selbst überdrüssig und der vergeblichen Mühen müde sind. Unser Leben fällt in sich zusammen, und wir versinken in die Haltung des verlorenen Sohnes. Wir misstrauen den Gelegenheiten, die in den Dingen stecken. Wir wünschen uns dann eine Welt, in der wir einfach aufgeben können, in der wir uns unserem Vater an den Hals werfen können und vom Absoluten aufgenommen werden wie ein Wassertropfen vom Fluss oder vom Meer. Die Ruhe, der Friede und die Sicherheit, die wir in solchen Augenblicken herbeisehnen, sind der Schutz vor den verwirren den Wechselfällen unserer endlichen Erfahrung. Das Nirvana bedeutet Sicherheit vor der nie endenden Abfolge von Aben teuern, die die sinnlich erfahrbare Welt ausmachen. Hindu und Buddhist – deren Einstellung nämlich habe ich im Wesentlichen eben beschrieben – haben einfach nur Angst, Angst vor noch mehr Erfahrung, Angst vor dem Leben.
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Der religiöse Monismus begegnet Menschen mit dieser Ver anlagung mit den tröstlichen Worten : "Alles, was existiert, ist notwendig und unentbehrlich – selbst du mit deiner kranken Seele und deinem kranken Herzen. Alle Menschen sind eins mit Gott, und bei Gott ist alles gut. Zuflucht ist unter den ewigen Armen, ob man in der Welt der endlichen Erscheinung nun ver sagt oder siegt.“ Es kann keinen Zweifel geben, dass für Men schen, die auf unheilbare Krankheiten zurückgeworfen werden, der Glaube an das Absolute die letzte Rettung darstellt. Der pluralistische Moralismus verursacht ihnen nur Zähneklappern und lässt ihnen das Herz in der Brust erstarren. Wir können also zwei Arten von Religion unterscheiden, die in scharfem Gegensatz zueinander stehen. Bedienen wir uns unserer vergleichenden Begriffe von früher, so könnten wir sa gen, dass das Modell des Absoluten sich an den Empfindsamen wendet, während das Modell des Pluralismus den Robusten an spricht. Viele würden sich weigern, das pluralistische Modell überhaupt als ein religiöses zu bezeichnen. Sie würden es als ein moralisches Modell ansehen und den Ausdruck Religion allein dem monistischen vorbehalten. In der Geschichte des Denkens wurden Religion und Moral, das Erstere im Sinne von Selbst aufgabe, Letzteres im Sinne von Selbstgenügsamkeit, oft genug als unvereinbar gegeneinander ausgespielt. Wir stehen hier vor der letzten Frage der Philosophie. In mei ner vierten Vorlesung hatte ich gesagt, dass ich die Frage nach der Alternative zwischen Monismus und Pluralismus für die tiefste und bedeutungsvollste Frage halte, die unser Geist auf werfen kann. Ist es möglich, dass diese Unterscheidung endgül tig ist, dass nur eine Seite der Alternative wahr sein kann ? Sind Pluralismus und Monismus wirklich miteinander unvereinbar ? Wenn also die Welt tatsächlich pluralistisch verfasst wäre, wenn sie tatsächlich distributiv existieren und aus einer Vielzahl ein zelner Dinge bestehen würde, dann könnte sie auch nur Stück für Stück und nur faktisch erlöst werden, gewissermaßen als ein Resultat ihres Verhaltens. Ihre epische Geschichte wäre dann keineswegs durch eine eigentliche Einheit zusammengeschlos sen, in der die Mannigfaltigkeit im Vorhinein bereits „aufgeho
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ben“ und auf ewig „überwunden“ ist. Wenn es sich so verhielte, dann müssten wir entweder die eine oder die andere Philoso phie wählen. Wir könnten nicht beide Alternativen bejahen. Es müsste in unserem Verhältnis zum Möglichen ein klares „Nein“ geben. Wir müssten uns zu einer grundsätzlichen Enttäuschung bekennen : Wir können nicht in ein und demselben unteilbaren Akt zugleich gesunden und kranken Geistes sein. Als menschliche Wesen können wir natürlich an einem Tag geistig gesund und am nächsten Tag seelisch krank sein ; und philosophischen Amateuren ist es vielleicht sogar erlaubt, sich als monistische Pluralisten zu bezeichnen oder als Determinis ten, die an den freien Willen glauben, oder was uns sonst noch Versöhnliches einfallen mag. Wenn wir aber Philosophen sind, die Klarheit und Widerspruchsfreiheit anstreben und die prag matistische Notwendigkeit fühlen, die Wahrheit mit der Wahr heit in Einklang zu bringen, sehen wir uns zur Wahl gezwungen : Wir müssen uns entweder eindeutig zu der empfindsamen oder eindeutig zu der robusten Art des Denkens bekennen. Es ist genau diese Frage, vor die ich mich immer wieder gestellt sehe : Könnte es nicht sein, dass die Ansprüche des Empfindsamen zu weitreichend sind ? Könnte es nicht sein, dass die Vorstellung einer Welt, die ohnehin bereits in toto erlöst ist, viel zu schön ist, um wahr zu sein ? Könnte es nicht sein, dass der religiöse Opti mismus allzu idyllisch ist ? Müssen überhaupt alle erlöst werden ? Muss für das Werk der Erlösung gar kein Preis gezahlt werden ? Sind die letzten Worte wirklich süß und angenehm ? Sagt in der Welt alles immer nur „Ja, ja“ ? Finden wir nicht im innersten Kern des Lebens gerade das „Nein“ ? Bedeutet nicht gerade der Ernst, den wir dem Leben zuschreiben, dass es unausweichlich auch Ablehnungen und Verluste mit sich bringt, dass es immer irgendwo echte Opfer gibt und dass immer etwas beständig Be drohliches und Bitteres als Bodensatz zurückbleibt ? Ich kann hier nicht im Namen aller Pragmatisten sprechen. Alles, was ich sagen kann, ist, dass mein eigener Pragmatismus keine Einwände gegen eine Parteinahme für diese eher moralis tische Auffassung, die den Anspruch auf vollständige Versöh nung aufgibt, erkennen lässt. Die Möglichkeit dafür liegt in der
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pragmatistischen Bereitschaft begründet, den Pluralismus als eine ernsthafte Hypothese anzuerkennen. Letztendlich werden solche Fragen von unserem Glauben und nicht von unserer Lo gik entschieden, und ich spreche jeder vorgeschobenen Logik das Recht ab, gegen meinen Glauben ein Veto einzulegen. Ich bin bereit zuzugeben, dass die Welt ein wirklich gefährliches Abenteuer ist, ohne dass ich mich deshalb zurückziehen und ausrufen würde : „Da spiele ich nicht mit !“ Ich bin bereit zu ak zeptieren, dass die Einstellung des verlorenen Sohnes, die sich uns in mancherlei Wechselfällen des Lebens aufdrängt, nicht die richtige und letztgültige Einstellung gegenüber dem Leben als Ganzen sein kann. Ich bin damit einverstanden, dass es wirkliche Verluste und wirkliche Verlierer geben muss und dass nicht alles, was existiert, vor dem Untergang bewahrt werden kann. An das Ideal kann ich glauben, wenn es ein letztes Ziel ist, eine Quintessenz, nicht aber ein Ursprung oder ein Ganzes. Wenn der Kelch ausgeleert ist, bleibt der Bodensatz für immer zurück, aber die Möglichkeiten dessen, was ausgegossen wurde, bleiben süß und angenehm, und man kann damit zufrieden sein. Tatsächlich ist die Vorstellung zahlloser Menschen von die ser moralistischen und epischen Art der Welt geprägt, und ihre rationalen Bedürfnisse werden durch die vielen einzelnen und miteinander verwobenen Erfolge dieser Welt zufrieden gestellt. Es gibt in der griechischen Anthologie ein feinsinnig übersetz tes Epigramm, das diesen Geisteszustand in bewundernswerter Weise ausdrückt – diese Bereitschaft, einen Verlust hinzuneh men, selbst wenn das, was verloren geht, das eigene Leben ist : „Ein schiffbrüchiger Seemann, begraben an dieser Küste, heißt dich, die Segel zu setzen. So manch tapferes Schiff sah uns scheitern und trotzte den Stürmen.“3
Jene Puritaner, die auf die Frage, ob sie bereit seien, für Gottes Ehre die Verdammnis auf sich zu nehmen, mit „Ja“ antwor teten, befanden sich in solch einer objektiven und großmütigen Verfassung des Geistes. Auf der Grundlage dieser Auffassung kann man dem Bösen nicht entkommen, indem man annimmt,
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es könne „aufgehoben“ [ dt. i. O. ] oder im Ganzen als ein we sentliches Element bewahrt, aber trotzdem „überwunden“ wer den. Man muss das Böse vielmehr vollständig aufgeben und über Bord werfen und so darüber hinwegkommen. Auf diese Weise muss man dazu beitragen, eine Welt zu erschaffen, die den Namen und den Ort des Bösen vollkommen vergessen hat. Es ist also durchaus möglich, eine bedrohliche Sicht der Welt, aus der der „Ernst des Lebens“ nicht zu verbannen ist, aufrich tig zu akzeptieren. Wer solches tut, scheint mir, ist ein wahrer Pragmatist. Er ist bereit, mit einem System ungesicherter Mög lichkeiten zu leben, auf das er sich verlässt, bereit, wenn es nö tig ist, mit seinem eigenen Leben für die Verwirklichung seiner Ideale zu bezahlen. Welches sind denn nun jene anderen Kräfte, auf deren Ko operation er sich in einer Welt solchen Zuschnitts verlässt ? Auf der Entwicklungsstufe, die unsere wirkliche Welt bisher erreicht hat, sind das zumindest seine Mitmenschen. Gibt es aber nicht auch übermenschliche Kräfte ? Das haben religiöse Menschen des pluralistischen Typs, über die wir gesprochen haben, immer geglaubt. Ihre Worte mögen monistisch geklungen haben, als sie sagten : „Es gibt keine anderen Götter außer Gott.“ Aber der Polytheismus, den die Menschheit ursprünglich vertrat, hat sich nur unvollkommen und vage zu einem Monotheismus sub limiert. Und selbst der Monotheismus hat – sofern er wirklich religiös war und nicht nur der akademische Gegenstand meta physischer Vorlesungen – Gott immer nur als einen der Helfer betrachtet, als primus inter pares, als einen unter all denen, die die Geschicke der Welt gestalten. Vielleicht haben meine vorangegangenen Vorlesungen, die sich auf menschliche Belange beschränkten, bei vielen von Ih nen den Eindruck hinterlassen, Pragmatismus bedeute, all das systematisch unberücksichtigt zu lassen, was den Bereich des Menschlichen übersteigt. Tatsächlich habe ich dem Absoluten gegenüber wenig Respekt gezeigt und bis jetzt noch nicht über andere Vermutungen jenseits des Menschlichen gesprochen. Ich vertraue jedoch darauf, dass Sie hinlänglich einsehen, dass das Absolute mit dem theistischen Gott nichts weiter gemein
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hat als eben diesen Aspekt des Übermenschlichen. Folgt man den pragmatistischen Grundsätzen, so ist die Annahme eines Gottes dann wahr, wenn sie im weitesten Sinne des Wortes zu frieden stellend funktioniert. Was auch immer noch an Schwie rigkeiten mit dieser Annahme übrig bleiben mag, so zeigt doch die Erfahrung, dass sie sehr wohl funktioniert, und dass das Problem darin besteht, sie so auszubauen und einzugrenzen, dass sie mit all den anderen funktionierenden Wahrheiten zu frieden stellend kombiniert werden kann. Natürlich kann ich am Ende dieser Vorlesungen nicht damit anfangen, eine ganze Theologie zu entwerfen. Aber wenn ich Ihnen sage, dass ich selbst ein Buch über die religiöse Erfahrung der Menschen ge schrieben habe, 4 das man im Ganzen als Parteinahme für die Existenz Gottes angesehen hat, dann werden Sie vielleicht mei nen eigenen Pragmatismus von dem Vorwurf ausnehmen, ein atheistisches Programm zu sein. Ich persönlich glaube wahrlich nicht, dass unsere menschliche Erfahrung die höchste Form der Erfahrung ist, die sich im Universum finden lässt. Viel mehr glaube ich, dass wir zu dem Ganzen des Universums in gerade demselben Verhältnis stehen wie unsere Schoßhunde und Schmusekatzen zu dem Ganzen des menschlichen Lebens. Sie bewohnen unsere Wohnzimmer und unsere Bibliotheken. Sie nehmen teil an Ereignissen, von deren Bedeutung sie keinen blassen Schimmer haben. Sie sind lediglich die Tangenten der Kurven der Geschichte, deren Anfänge und Ziele und Abläufe sich vollkommen ihrer Kenntnis entziehen. So sind auch wir nur Tangenten des größeren Lebens der Dinge. Aber ebenso wie viele Ideale unserer Hunde und Katzen mit den unseren übereinstimmen – davon legen uns die Hunde und Katzen täg lich lebendiges Zeugnis ab –, ebenso dürfen wir aufgrund des Zeugnisses unserer religiösen Erfahrung wohl glauben, dass höhere Mächte existieren und daran arbeiten, die Welt nach Maßgabe von Idealen zu erlösen, die unseren eigenen Idealen ähnlich sind. Sie sehen also, dass der Pragmatismus durchaus religiös ge nannt werden kann – wenn man zugesteht, dass Religion von pluralistischer oder auch nur melioristischer Art sein kann. Ob
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Sie sich aber letztlich mit dieser Art von Religion abfinden wer den oder nicht – diese Frage können Sie nur selbst entscheiden. Der Pragmatismus muss dogmatische Antworten aufschieben, denn bis heute wissen wir noch nicht mit Sicherheit, welche Art von Religion auf lange Sicht am besten funktionieren wird. In der Tat werden die unterschiedlichen Grundüberzeugungen der Menschen, ihre verschiedenen Wagnisse im Glauben, ge braucht, um die Sache zu entscheiden. Wahrscheinlich werden auch Sie für sich alleine Ihre eigenen Wagnisse unternehmen. Wenn Sie robust in einem radikalen Sinne sind, wird Ihnen das Getümmel der sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen in der Na tur genügen, und Sie werden überhaupt keiner Religion bedür fen. Wenn Sie radikal empfindsam sind, werden Sie sich an die monistische Form der Religion halten, denn die pluralistische Form, die sich auf Möglichkeiten verlässt, die keine Notwendig keiten sind, scheint Ihnen nicht genügend Sicherheit zu bieten. Wenn Sie jedoch weder extrem robust noch in äußerstem Maße empfindsam sind, sondern wie die meisten von uns Merk male beider Mentalitäten aufweisen, so könnten Sie durchaus den Eindruck gewonnen haben, dass die pluralistische und mo ralistische Form der Religion, die ich Ihnen vorgestellt habe, die beste religiöse Synthese darstellt, die Sie finden können. Es kann sein, dass Sie zwischen den beiden Extremen – dem kruden Naturalismus auf der einen und dem transzendentalen Absolutismus auf der anderen Seite – in der von mir so genann ten pragmatistischen oder melioristischen Form des Theismus genau die Art von Religion finden, die Sie brauchen.
ANMERKUNGEN DER HERAUSGEBER
Vorwort (S. 3 f.) 1
(S. 3) John Dewey (with the cooperation of Members and Fel lows of the Department of Philosophy): Studies in Logical Theory. Chicago: University of Chicago Press 1903. (Wieder abgedruckt in John Dewey: The Middle Works, 1899 – 1924. Band 2: 1902–1903. Hg. v. Jo Ann Boydston. Carbondale/Edwardsville: Southern Illi nois University Press 1976, S. 293 – 375.) Die anderen von James genannten Aufsätze Deweys sind: „Beliefs and Realities“. In: The Philosophical Review 15 (1906), S. 113–129 (The Middle Works, Band 3, S. 83 – 100); „Experience and Objective Idealism“. In: The Philosophical Review 15 (1906), S. 465 – 4 81 (The Middle Works, Band 3, S. 128 – 144); „The Experimental Theory of Knowledge“. In: Mind 15 (1906), S. 293 – 307 (The Middle Works, Band 3, S. 107 – 127); „The Control of Ideas and Facts“. In: The Journal of Philosophy, Psychology, and Scientific Methods 4 (1907), S. 197 – 2 03, 253 – 259, 309 – 319 (The Middle Works, Band 4, S. 78 – 9 0.) 2 (S. 3) F. C. S. Schiller: Studies in Humanism, London/New York: Macmillan 1907. Die Titel der von James genannten Kapitel lauten: „The Definition of Pragmatism and Humanism“, „The Am biguity of Truth“, „The Nature of Truth“, „The Making of Truth“, „Freedom“ sowie „The Making of Reality“. Vgl. außerdem Schil lers Humanism. Philosophical Essays, London/New York: Macmil lan 1903. Die deutsche Sammlung Humanismus. Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie (deutsch von Rudolf Eisler, Leipzig: Werner Klinkhardt 1911) enthält Aufsätze aus beiden Büchern, darunter alle von James empfohlenen Kapitel aus Studies in Humanism. 3 (S. 3) Gaston Samuel Milhaud: Le Rationnel. Études complémentaires à l’essai sur la certitude logique. Paris: Félix Alcan 1989. 4 (S. 4) Edouard Le Roy: „Science et philosophie“. In: Revue de Métaphysique et de Morale 7 (1899), S. 375 – 4 25, 503 – 562, 708 – 731 sowie 8 (1900), S. 37 – 72; „Sur quelques objections adressées ä la
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Anmerkungen der Herausgeber
nouvelle philosophie“. In: Revue de Métaphysique et de Morale 9 (1901), S. 292 – 327, 407 – 432; „Un Positivisme nouveau“. In: Revue de Métaphysique et de Morale 9 (1901), S. 138 – 153. 5 (S. 4) Den Anmerkungen in der Gesamtausgabe der Vor lesungen zufolge (The Works of William James. Band 1. Cambridge [Mass.]/London: Harvard University Press 1975, S. 155; die Ge samtausgabe wird im Folgenden zitiert als „WORKS “ mit Angabe des jeweiligen Bandes) bezieht sich James wahrscheinlich auf die folgenden Aufsätze von Maurice Blondel: „Le Point de départ de la recherche philosophique“. In: Annales de Philosophie Chrétienne 151 (1906), S. 337 – 360 sowie 152 (1906), S. 225–249, und Bernard de Sailly: „La Tâche de la philosophie d’après la philosophie de l’ac tion“. In: Annales de Philosophie Chrétienne 153 (1906), S. 47 – 59. 6 (S. 4) James meint offensichtlich Giovanni Papinis in italieni scher Sprache erschienenes Buch Stil Pragmatismo (Saggi e Ricerche). Mailand: Libreria Editrice Milanese 1913. – Zu Papini vgl. auch James’ Aufsatz „G. Papini and the Pragmatist Movement in Italy“. In: The Journal of Philosophy, Psychology, and Scientific Methods 3 (1906), S. 337– 341; wieder abgedruckt in Collected Essays and Reviews. New York: Longmans, Green 1920, S. 459 – 469. 7 (S. 4) Vgl. Essays in Radical Empiricism. New York: Longm ans, Green 1912. Diese postum veröffentlichte Sammlung enthält Aufsätze, die James zwischen 1904 und 1905 im Journal of Philosophy, Psychology, and Scientific Methods publiziert hatte. (Wieder abgedruckt in WORKS Band 3.) – Zum „Radikalen Empirismus“ sowie seinem Verhältnis zum Pragmatismus vgl. Rainer Diaz-Bone und Klaus Schubert: William James zur Einführung. Hamburg: Junius 1996, S. 47 ff.
Anmerkungen der Herausgeber
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Erste Vorlesung (S. 5 ff.) 1
(S. 5) Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998, S. 11f. 2 (S. 6) Gemeint ist Charles Sanders Peirce. Tatsächlich hielt Peirce 1903 Vorlesungen am Lowell Institute, allerdings trugen diese den Titel „Some Topics of Logic Bearing on Questions Now Vexed“. Im gleichen Jahr hielt Peirce allerdings auch Vorlesungen in der Sever Hall in Harvard; diese trugen den Titel: „Pragmatism as a Principle and Method of Right Thinking“. Vgl. dazu die An merkungen zur Gesamtausgabe der Vorlesungen: WORKS Band 1, S. 156. – James verschweigt die Tatsache, dass Peirce sich zwei Jahre später (in einer Artikelserie für The Monist) vom Pragmatis mus, wie er zu diesem Zeitpunkt namentlich von James und F. C. S. Schiller vertreten wird, abgesetzt hat. Vgl. dazu die Einleitung zu diesem Band, S. 9. 3 (S. 13) Vgl. Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Bonn: Emil Strauss 1899, S. 332f.: „Der persönliche Anthropismus Gottes ist bei der großen Mehrzahl der Gläubigen zu einer so natürlichen Vorstel lung geworden, daß sie keinen Anstoß an der menschlichen Per sonifikation Gottes in Bildern und Statuen nehmen, in welchen Gott menschliche Gestalt annimmt, d. h. sich in ein Wirbelthier verwandelt […] In den höheren und abstrakteren Religions-For men wird diese körperliche Erscheinung aufgegeben und Gott nur als ,reiner Geist‘ ohne Körper verehrt […] Trotzdem bleibt aber die Seelenthätigkeit dieses reinen Geistes ganz dieselbe wie diejenige der anthropomorphen Gottes-Person. In Wirklichkeit wird auch dieser immaterielle Geist nicht unkörperlich, sondern unsichtbar gedacht, gasförmig. Wir gelangen so zu der paradoxen Vorstellung Gottes als eines gasförmigen Wirbelthieres.“ 4 (S. 13) Die Formulierung „Umverteilung von Materie und Bewegung“ („the continuous redistribution of matter and motion“) findet sich im § 92 von Spencers First Principles (vgl. The Works of Herbert Spencer. Band 1. Reprint of the edition 1904. Osnabrück: Otto Zeller 1966, S. 220).
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Anmerkungen der Herausgeber
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(S. 19) Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985, S. 237 ff. (1. Teil, Abschnitt 19); Auslassungen und Hervorhebungen von William James. 6 (S. 19) Ebd. S. 311 ff. (Hervorhebung im Original). 7 (S. 24) Vgl. Walt Whitman: „Leb Wohl!“. In: Grashalme. Nachdichtung von Hans Reisiger. Zürich: Diogenes 1985, S. 416 – 419, hier: S. 418: „Camerado, dies ist kein Buch,/ Wer dies berührt, berührt einen Mann.“ 8 (S. 25) Deutsch im Original. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Erich Trunz. Hamburg 1963, S. 21: „Statt der lebendigen Natur,/ da Gott die Menschen schuf h inein,/ Umgibt in Rauch und Moder nur/ Dich Tiergeripp’ und Totenbein.“ Zweite Vorlesung (S. 29 ff.) 1
(S. 31) Deutsche Übersetzung: Über die Klarheit unserer Gedanken. Einleitung, Übersetzung, Kommentar von Klaus Oehler. Frankfurt a. M.: Klostermann 1968. 2 (S. 31) James hielt diesen Vortrag am 26. August 1898 unter dem Titel „Philosophical Conceptions and Practical Results“; er erschien im gleichen Jahr in The University Chronicle der Uni versität von Kalifornien (wieder abgedruckt in WORKS Band 1, S. 257 – 270). 3 (S. 33) James übernimmt hier – und im Verlauf der Vorlesun gen noch an mehreren Stellen – eine Formulierung des englischen Philosophen Shadworth Hodgson, dessen Frage danach, „als was uns die Dinge erscheinen“ („what they are ,known-as‘“) von James sogar als eine der beiden Quellen (neben den Arbeiten von Charles Sanders Peirce) für seinen Pragmatismus bezeichnet wurde. – Zum Verhältnis zwischen James und Hodgson vgl. Ralph Barton Perry: The Thought and Character of William James. Boston: Little Brown 1935, S. 611 – 653. 4 (S. 35) Im Original: „practical cash-value“; vgl. hierzu die Er läuterungen in der Einleitung zu diesem Band, S. 16.
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(S. 36) Giovanni Papini verwendet das Bild einer „teoria corridoio“ in seinem Aufsatz „Il Pragmatismo Messo in Ordine“, der erstmals 1905 erschien und wieder abgedruckt ist in: Sul Pragmatismo (Saggi e Ricerche). Mailand: Libreria Editrice Milanese 1913, S. 82. 6 (S. 46) James spielt an auf die Fabel „Der Löwe und der Fuchs“, in der sich ein alter Löwe in eine Höhle zurückzieht, sich krank stellt und die Tiere, die ihn besuchen kommen, verschlingt. Einzig der Fuchs bleibt vor dem Eingang der Höhle stehen und antwortet auf die Frage des Löwen, warum er denn nicht herein komme, er sehe zwar viele Fußstapfen, die in die Höhle hinein führten, aber nur wenige führten wieder heraus. 7 (S. 51) Vgl. Papini, a. a. O., S. 77. Papini spricht dort von einem „disirrigidimento delle teorie e delle credenze“ durch den Prag matismus. Dritte Vorlesung (S. 53 ff.) 1
(S. 55) Vgl. George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Hamburg: Felix Meiner 1979, S. 35f. (§ 20). 2 (S. 56) Vgl. David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Hamburg: Felix Meiner 1973; 1. Buch, 4. Teil, 5. Abschnitt: „Von der Unkörperlichkeit der Seele“ (S. 303 – 325). 3 (S. 57) Nach John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Hamburg: Felix Meiner 1981, 2. Buch, 27. Kapitel, §§ 14 ff. 4 (S. 59) Vgl. Herbert Spencer: Die Prinzipien der Psychologie. Nach der dritten englischen Ausgabe übersetzt von Dr. B. Vetter. Band 1. Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung 1882; 5. Teil, 10. Kapitel: „Ergebnisse“ (S. 645 ff.). 5 (S. 61) Vgl. Robert Browning: „A Loyers’ Quarrel“ (in: The Poetical Works of Robert Browning. London u. a.: Oxford Univer sity Press 1964, S. 218 f.): „Foul be the world or fair/ More or less, how can we care?/ ’Tis the world the same/For my praise or blame,/ And endurance is easy there.“ 6 (S. 66) Im Original: „Grossness is what grossness does“ – eine Anspielung auf das englische Sprichwort „Handsome is as hand
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Anmerkungen der Herausgeber
some does“, was im Deutschen so viel heißt wie: „Edel ist, wer edel handelt“. 7 (S. 70) Vulkan auf Martinique, dessen Ausbruch am 8. Mai 1902 etwa 40.000 Menschen das Leben kostete. 8 (S. 73) In seiner Fortsetzung zu den Pragmatismus-Vorlesun gen, The Meaning of Truth, kommt James im Kapitel „Abstraction ism and ,Relativism‘“ erneut auf das Problem der Willensfreiheit und die beiden genannten Autoren zu sprechen (WORKS Band 2, S. 134 ff.). Er verweist dort auf folgende ihrer Arbeiten: George Stuart Fullerton: „Freedom and ,Free-Will‘“. In: Popular Science Monthly 58 (1900), S. 183 – 192 sowie „,Free-Will‘ and the Credit for Good Action“. In: Popular Science Monthly 59 (1901), S. 526 – 533; John McTaggart: Some Dogmas of Religion. London: Edward Ar nold 1906. 9 (S. 75) Vgl. Thomas Henry Huxley: „On Descartes’ ,Discourse Touching the Method of Using One’s Reason Rightly and of Seek ing Scientific Truth‘“. In: Collected Essays. Band 1: Method and Results. New York: D. Appleton 1893, S. 192 f. 10 (S. 75) Im Original: „Watchman, tell us of the night, if it aught of promise bear“ (WORKS Band 1, S. 61). James zitiert – nicht ganz korrekt – die ersten beiden Zeilen von John Bowrings äußerst po pulärem Gedicht „Watchman, Tell us of the Night“: „Watchman, tell us of the night,/ What its signs of promise are“ (vgl. ebd., S. 166). 11 (S. 76) Es handelt sich hierbei nicht um ein wörtliches Zitat, sondern um James’ Zusammenstellung einschlägiger scholasti scher Definitionen. In dem Aufsatz „Philosophical Conceptions and Practical Results“ verweist James in ähnlichem Zusammen hang pauschal auf „any orthodox text-book“ (WORKS Band 1, S. 264).
Anmerkungen der Herausgeber
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Vierte Vorlesung (S. 79 ff.) 1
(S. 94) Swami Vivekananda: „God in Everything“. In: Speeches and Writings of Swami Vivekananda. Madras: G. A. Natesan o. J., S. 336 f. 2 (S. 95) Den Anmerkungen zur Gesamtausgabe zufolge stammt dieses Zitat aus einer Broschüre mit dem Titel On „The Atman“, die sich in James’ Besitz befand (vgl. WORKS Band 1, S. 167).
Fünfte Vorlesung (S. 101 ff.) 1
(S. 104) Im Deutschen hat der Ausdruck „gesunder Menschen verstand“ nur die erste der beiden von James genannten Bedeutun gen. Da er sich allerdings fast ausschließlich auf diesen „alltags sprachlichen“ Gebrauch von „common sense“ bezieht, haben wir diesen Ausdruck fast durchweg mit „gesunder Menschenverstand“ übersetzt. 2 (S. 105) Vgl. Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1956, 51983, S. 170 („Gewühle von Erscheinun gen“) und S. 200 („Rhapsodie von Wahrnehmungen“). 3 (S. 111) Im Original: „the minds debauched by learning“. Vgl. George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Hamburg: Felix Meiner 1979, S. 96 (§ 123): „ein noch nicht durch Gelehrsamkeit von dem geraden Weg abgelenkter Geist“. 4 (S. 112) Vgl. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Hamburg: Felix Meiner 1988; 4. Buch, 4. Kapitel, S. 226 ff.
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Anmerkungen der Herausgeber
Sechste Vorlesung (S. 121 ff.) 1
(S. 121) Dies wird berichtet von Richard Tetley Glazebrook: James Clerk Maxwell and Modern Physics. London/New York: Cassell 1896, S. 12: „Throughout his childhood his constant ques tion was, ,What’s the go of it? What does it do?‘ And if the answer was too vague or inconclusive, he would add, ,But what’s the particular go of it?‘“ 2 (S. 135) Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. v. G. Göp fert. München: Hanser 1970. Band 1, S. 23: „,Es ist doch sonder bar bestellt‘,/ Sprach Hänschen Schlau zu Vetter Fritzen,/ ‚Daß nur die Reichen in der Welt/ Das meiste Geld besitzen.‘“ – Ernst Mach zitiert dieses Epigramm in Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. Vortrag, gehalten in der K. Boehm-Gesellschaft der Wissenschaften am 15. November 1871. Leipzig: Barth 2. Auflage 1909. 3 (S. 137) Gemeint ist Sören Kierkegaard. In den Essays in Radical Empiricism zitiert James die gleiche Stelle und verweist als Fundort auf Harald Höffding: Philosophical Confession“. In: Journal of Philosophy, Psychology, and Scientific Methods 2 (1905), S. 86. 4 (S. 140) James’ Fußnote hierzu lautet: „H. Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis, Kapitel über ,Die Urtheilsnothwendigkeit‘.“ Die Stelle ist als direktes Zitat jedoch nicht nachweisbar. Inhaltlich am nächsten ist folgender Passus: „Die Notwendigkeit fordert vom Subjekt Anerkennung, auch ohne faktisch anerkannt zu sein. Das ist ihre erkenntnistheoretische Bedeutung. Sie tritt dem Urteilen den gegenüber als ein Imperativ, den wir beim Bejahen dann ge wissermaßen in unsern Willen aufnehmen und ihn uns so zu eigen machen. Kurz, es ergibt sich die für unsern Zusammenhang ent scheidende Einsicht: was mein Urteilen und damit mein Erkennen leitet, ist das durch die Urteilsnotwendigkeit verkündete Sollen, das ich bejahend anzuerkennen habe“ (Heinrich Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie. Tübingen: Mohr 3. Auflage 1915, S. 205f.). 5 (S. 144) Ralph Waldo Emerson: „Selbständigkeit“. In: Essays. Drei Teile in einem Bande. Halle an der Saale: Otto Hendel 1894 – 1897, S. 38.
Anmerkungen der Herausgeber
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Siebte Vorlesung (S. 147 ff.) 1
(S. 147) „Humanismus“ meint hier nicht den Humanismus der Renaissance oder den des 18. Jahrhunderts in Deutschland; „Huma nismus“ ist vielmehr die Bezeichnung, die der englische Pragmatist F. C. S. Schiller seiner Variante des Pragmatismus gegeben hat (vgl. F. C. S. Schiller: Humanism. Philosophical Essays, London/New York: Macmillan 1903. Deutsche Ùbersetzung: Humanismus. Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie. Leipzig: Werner Klink hardt 1911). Die Gründe für diese Wahl werden im Laufe der Vor lesung deutlich. 2 (S. 147) Zu Bacons Idolenlehre vgl. z. B.: Reinhard Brandt: „Francis Bacon: Die Idolenlehre“. In: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit I. Hg. v. Josef Speck. Göttin gen: Vandenhoeck & Ruprecht 2. Aufl. 1986, S. 9 – 34. 3 (S. 150) Das Original lautet: „,Reality’ is in general what truths have to take account of.“ Dazu merkt James in einer Fußnote an: „Diese ausgezeichnete pragmatische Definition verwendet Taylor in seinen Elements of Metaphysics.“ Tatsächlich heißt es bei A. E. Taylor: „Reality means what is independent of our own will, what exercises resistance, what constrains or compels our recognition, whether we like it or not“ (Elements of Metaphysics. London: Me thuen 1903, S. 51). 4 (S. 153) Vgl. Francis Herbert Bradley: Principles of Logic. London: Kegan, Paul, Trench 1883. 5 (S. 155) Im Englischen wird der Große Wagen auch als „The Big Dipper“ bezeichnet, was so viel heißt wie Schöpfkelle oder Schöpf löffel. 6 (S. 158) Vgl. z. B. Hermann Lotze: Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen und vom Erfinden. Leipzig: G. Hirzel 2. Auflage 1880, S. 489 ff. 7 (S. 158) Vgl. Rudolf Eucken: Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig: Veit 3. Auflage 1904, S. 36: „Bei ihm [dem Begriff der Wahrheit] handelt es sich nunmehr nicht um ein bloßes Auf nehmen, sondern um ein Erhöhen des vorgefundenen Daseins, um ein Aufsteigen zu einem bei sich selbst befindlichen Leben; dieses Leben läßt sich weder vom bloßen Erkennen, noch vom bloßen
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Anmerkungen der Herausgeber
Handeln aus erreichen, es bedarf dazu einer Wendung, einer er höhenden Tat des ganzen Wesens, die sich durch alle einzelnen Gebiete zu erstrecken hat.“ 8 (S. 159) Francis Herbert Bradley: Essays on Truth and Reality. Oxford: Clarendon 1914, S. 90. 9 (S. 159) Der Reiz der englischen Wortspiele geht in der deut schen Übersetzung leider verloren: Der Originaltitel ist „The Will to Believe“ (WORKS Band 6; deutsche Übersetzung: Der Wille zum Glauben und andere popularphilosophische Essays. Stutt gart: Frommann 1899); die beiden Alternativen sind „the will to deceive“ und „the will to make-believe“. 10 (S. 161) Tatsächlich schien die von James angesprochene „Homer ule“ für Irland zum Zeitpunkt dieser Vorlesungen (1907) politisch kaum durchsetzbar. Erst 1921 erhielt die irische Republik – unter Abtrennung von Nordirland – den Status eines Freistaats, und erst 1949 kam es zur vollständigen Unabhängigkeit von Eng land. 11 (S. 161) Die Philippinen standen von 1898 bis 1916 unter US-amerikanischer Herrschaft, nachdem sie jahrhundertelang spanische Kolonie gewesen waren. Erst 1946 erlangten sie die volle Unabhängigkeit. 12 (S. 162) Vgl. William Wordsworth: „The Excursion“. In: The Poetical Works of William Wordsworth. Band 5. Oxford: Clarendon 1949, S. 145. Achte Vorlesung (S. 167 ff.) 1
(S. 167) Im Original: „The eternal arms are then beneath.“ Anspielung auf Dtn 33,27: „The eternal God is your dwelling place, and underneath are the everlasting arms“ („Zuflucht ist bei dem ewigen Gott und unter den ewigen Armen“). 2 (S. 169) Walt Whitman: „An Dich“. In: Grashalme. Nachdich tung von Hans Reisiger. Zürich 1985, S. 280 – 2 83. – James lässt ei nige Strophen und Zeilen aus. 3 (S. 182) Wir legen unserer Übersetzung des Epigramms die von James gelobte englische Fassung zugrunde:
Anmerkungen der Herausgeber
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„A shipwrecked sailor, buried on this coast bits you set sail. Full many a gallant bark, when we were lost Wheathered the gale.“ (In: Selections from the Greek Anthology. Hg. v. Graham R. Thomson. London: Walter Scott 1889, S. 275.) Diese Übersetzung weicht recht stark von dem griechischen Original des Theodoridas von Syrakus ab (vgl. Anthologia Palatina VII, 282). 4 (S. 184) Vgl. Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Frankfurt a. M.: Insel 1997.
PERSONENREGISTER
Ampère 114 Archimedes 118 Aristoteles 33, 136 Balfour, A. J. 64 f. Bellanger, A. 81 Bergson, H. 154 Berkeley, G. 33, 55 – 57, 111, 112 f., 115, 118, 143 Blondel, M. 4 Bosanquet, B. 13 Bowne, F. 14 Bradley, F. H. 21, 88, 153, 159 Browning, R. 61 Caird, E. 13, 152 Caird, J. 13, 26, 152 Chesterton, G. K. 5 Dalton, J. 113 Dante 66 Darwin, Ch. 14, 45, 69, 112 Demokrit 112, 118 Descartes, R. 105, 116 Dewey, J. 3, 38 f., 42 f., 49, 121, 143 f., 154 Duhem, P. 38 Emerson, R. W. 143 Eucken, R. 158 Euklid 37 Faraday, M. 113 f.
Franklin, W. S. 33 Fullerton, G. S. 73 Galilei, G. 113 f., 116 Green, T. H. 13, 152 Haeckel, E. H. 13 Hegel, G. W. F. 8, 26, 113, 115 Heymanns, G. 38 Hobbes, Th. 19 Hodgson, S. 33 Howison 31 Hume, D. 33, 56 f., 110, 113, 115 Huxley, Th. H. 57, 75 Joachim, H. H. 145 Kant, I. 105, 109, 115, 153 Kepler, J. 37 Ladd, G. T. 14 Leibniz, G. W. 17, 19 Le Roy, E. 3 Lessing, G. E. 135 Locke, J. 8, 26, 33, 56 f., 112, 115 Lotze, H. 158 Mach, E. 38, 117, 135 Martineau, J. 14 Maxwell, J. C. 121, 133 McTaggart, J. 73 Milhaud, G. S. 3, 38 Mill, J.S. 2, 26
200 Personenregister
Myers, F. W. H. 156, 158 Newton, I. 138 Ostwald, W. 32 f., 38, 117 Papini, G. 4, 36, 51, 98, 158 Pearson, K. 38 Peirce, Ch. S. 31 Platon 8 Poincaré, H. 38 Rickert, H. 145 Royce, J. 13, 21, 88, 90 Sailly, B. de 4 Santayana, G. 107 f.
Schiller, F. C. S. 3, 38 f., 42 f., 49, 98, 121, 143 f., 149, 150, 153 f. Schopenhauer, A. 175 Sokrates 33 Spencer, H. 8, 13, 26 f., 59, 63 – 65 Spinoza, B. 26 Strong, Ch. A. 154 Swift, M. I. 20 – 22 Taylor, A. E. 140 Vivekananda, S. 94, 162, 167 Whitman, W. 24, 167 Wordsworth, W. 66, 162 Wright, Ch. 162