Populärkultur transnational: Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre [1. Aufl.] 9783839431337

For the analysis of contemporary historical pop-cultural phenomena, a surplus of transnational perspectives are often as

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German Pages 360 [358] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Transnationale Populärkultur im Europa der langen 1960er Jahre
Lesen
Die Formierung des Comic-Feldes während der langen 1960er Jahre in Frankreich, Spanien und Argentinien
Der Blick westdeutscher Schülerinnen und Schüler in den 1950er und 1960er Jahren auf Jugendkultur und die USA
Hören
„So apart from everything we’ve ever heard“
Die „britische Invasion“ der 1960er Jahre
Sehen
Die Illusion einer anderen Realität
Cineastische Internationale der langen 1960er Jahre
Kulturtransfer im „Fenster zur Welt“
Erleben
Fabulous consumerism?
„Auch die Schweiz kennt dieses Problem“
Klang, Kleidung und Konsum
Mitreden
Populärkultur, Jugend und Demokratisierung
Westdeutsches „Demokratiewunder“ und transnationale Musikkultur
Abstracts
Autorinnen und Autoren
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Populärkultur transnational: Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre [1. Aufl.]
 9783839431337

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Dietmar Hüser (Hg.) Populärkultur transnational

Histoire | Band 82

Dietmar Hüser (Hg.)

Populärkultur transnational Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung – Transnationale Populärkultur im Europa der langen 1960er Jahre – Forschungsstand und Forschungspisten

Dietmar Hüser | 7

LESEN Die Formierung des Comic-Feldes während der langen 1960er Jahre in Frankreich, Spanien und Argentinien

Hartmut Nonnenmacher | 27 Der Blick westdeutscher Schülerinnen und Schüler in den 1950er und 1960er Jahren auf Jugendkultur und die USA – Ein Vergleich ihrer Darstellungen in Schülerzeitungen

Marcel Kabaum | 49

HÖREN „So apart from everything we’ve ever heard“ – Die britische und US-amerikanische Krautrock-Rezeption in den 1970er Jahren

Alexander Simmeth | 79 Die „britische Invasion“ der 1960er Jahre – Britische Popund Rockmusik in den Vereinigten Staaten

Egbert Klautke | 107

SEHEN Die Illusion einer anderen Realität – Cinéphiler Kulturtransfer in der DDR und in Spanien um 1960

Fernando Ramos Arenas | 129 Cineastische Internationale der langen 1960er Jahre – Eine transfer- und verflechtungsgeschichtliche Biographie der westdeutschen Zeitschrift Filmkritik

Lukas Schaefer | 153

Kulturtransfer im „Fenster zur Welt“ – Fernsehprogrammhandel und transnationaler Kulturtransfer im Westeuropa der 1960er Jahre

Christian Henrich-Franke | 179

ERLEBEN Fabulous consumerism? – Mediale Repräsentationen jugendlicher Konsumkultur in westdeutschen, britischen und französischen Jugendzeitschriften der 1960er und 1970er Jahre

Aline Maldener | 199 „Auch die Schweiz kennt dieses Problem“ – Die „Halbstarken“ der 1950er und 1960er Jahre als transnationale Jugendkultur und Gesellschaftsproblem im westeuropäischen Vergleich

Katharina Böhmer | 225 Klang, Kleidung und Konsum – Anmerkungen zur populärkulturellen Revolution in der Mode der 1960er Jahre in Großbritannien und Westdeutschland

Katja Marmetschke | 251

MITREDEN Populärkultur, Jugend und Demokratisierung – Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg

Kaspar Maase | 275 Westdeutsches „Demokratiewunder“ und transnationale Musikkultur – Dimensionen des Politischen im Populären der langen 1960er Jahre

Dietmar Hüser | 301 Abstracts | 337 Autorinnen und Autoren | 351

Einleitung: Transnationale Populärkultur im Europa der langen 1960er Jahre Forschungsstand und Forschungspisten D IETMAR H ÜSER

D EFIZITE & P RÄMISSEN Eine Geschichte der Populärkultur hat in vielen kontinentaleuropäischen Ländern lange einen vergleichsweise schweren akademischen Stand gehabt. Anders als in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien1 machten gerade in Deutschland und Frankreich professionelle Historikerinnen und Historiker wie auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler benachbarter Disziplinen über viele Jahre hinweg einen weiten Bogen um alles Massenhafte und Populäre, um Unterhaltendes für möglichst weite Adressatenkreise, um Publikumszeitschriften, Romanheftchen oder Comicserien, um Kino, Rundfunk oder Fernsehen, um breitenwirksame Musikgenres, Kunstformen oder Sport-Events.2 Dies mag sich in den letzten Jahrzehnten ansatzweise verändert haben: Genres und Formate, Produkte und Praktiken gelten nunmehr auch in Deutschland und Frankreich als legitime Themenfelder für Handbücher, Sammelbände und Qualifikationsarbei-

1

Als Beispiele für jüngere Überblickswerke und Sammelbände zu Fragen nordamerikanischer oder britischer Populärkultur vgl. etwa die Arbeiten von Ashby 2012; Cullen 2013; Betts/Bly 2013; Storey 2016.

2

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im gesamten Text stellenweise nur die männliche Schreibweise gewählt. Gemeint sind stets beide Geschlechter.

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ten,3 finden selbst in breiter angelegten Synthesen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgiebiger Erwähnung.4 Gleichwohl bleiben die Erkenntnispotenziale populärkultureller Ausdrucksformen für den Wandel gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse vielfach verkannt, weiterhin sind ebenso einschlägige wie aussagekräftige zeithistorische Forschungsbereiche der Populärkultur wissenschaftliche Brachfelder. Ganz besonders gilt dies unter transnationalen Gesichtspunkten. Klar abgegrenzte empirische Studien, die Populärkulturelles in zwei oder mehr Ländern und Gesellschaften unter vergleichs-, transfer- und verflechtungsgeschichtlichen Prämissen in den Blick nehmen, bilden nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel.5 Der vorliegende Sammelband „Populärkultur transnational – Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre“ knüpft da an und macht sich zur Aufgabe, unterschiedliche populärkulturelle Phänomene im Europa der langen 1960er Jahre konsequent transnational in den Blick zu nehmen. Um theoretische Debatten über transnationale Geschichte mit empirischen Fallstudien zu unterfüttern6 und den wissenschaftlichen Mehrwert eines Vorgehens jenseits nationaler Tellerränder gegenüber einer Sammlung von Einzelländerstudien zu akzentuieren, behandelt jeder einzelne der abgedruckten Beiträge mindestens zwei Länder und Gesellschaften. Methodisch verortet sich „Populärkultur transnational“ im Bereich des historischen Vergleichs wie des Kulturtransfers, der sich lange eher auf die Epochen vor 1945 und auf Elitenaustausch konzentriert hat, weniger auf populäre Kulturmuster in der Zweiten Nachweltkriegszeit. Abgehoben wird demnach auf Ähnlichkeiten und Unterschiede wie auch auf kulturelle Übersetzungsprozesse, auf Vermischtes und Mehrdeutiges, auf Überlagerungen und Interferenzen zwischen mehreren, gleichzeitig betrachteten Räumen (Kaelble 2003; Lüsebrink 2013). Längst besteht Konsens darüber, dass zwar Transfer und Vergleich methodisch unterschiedlichen Logiken gehorchen mögen, sich realiter aber als Konzepte ergänzen und in der analytischen Praxis wechselseitig

3

Für den deutschen Fall klassisch die Synthese von Maase 1997; zuletzt Mrozek/Geisthövel/Danyel 2014. Für den französischen Fall vgl. Kalifa 2001; Sirinelli/Rioux 2002; Middendorf 2009.

4

Als Beispiele für die Geschichte der „alten“ Bundesrepublik vgl. Wolfrum 2011; für die Zeitgeschichte Frankreichs vgl. die Überblicke von Zancarini-Fournel/Delacroix 2010; Vigreux 2014.

5

In deutsch-französischer Perspektive gerade erschienen: Hüser/Pfeil 2015.

6

Wie dies schon länger immer wieder eingefordert wird: vgl. zuletzt Gassert 2012: 458f.; Levsen/Torp 2016: 11f., 16f.

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aufeinander angewiesen sind, wenn es um synchrone und diachrone Zusammenhangerkenntnis geht (Poirrier 2004: 355ff.).

Z EIT & R AUM Sich mit „Kultur-Transfer-Vergleichen“7 auf eher unscharf abgegrenzte lange 1960er Jahre zu konzentrieren, macht doppelt Sinn. Einmal, weil für manches damalige Phänomen der Populärkultur national Vorarbeiten geleistet sind, ohne aber bereits gänzlich, erst recht nicht transnational „abgeforscht“ zu sein. Dann, weil es sich um eine „Sandwich-Phase“ handelt, zunächst um „eine völlig neue Epoche“ (Kaelble 2011: 81) mit rasanten Veränderungsprozessen im Zeichen von Wirtschaftsboom und Massenkonsum seit Mitte der 1950er Jahre, die aber in mancherlei Hinsicht während der 1970er Jahre wieder auszulaufen begann, um dann „allmählich eine neue Epoche“ (ebd., 178) hervorzubringen und „jene neueste – oder für viele: eigentliche – Globalisierung“ (Osterhammel/Petersson 2004: 105) zu münden. Eine Sattelzeit, gekennzeichnet zum einen durch europaweit beschleunigte innerstaatliche wie grenzüberschreitende Veränderungsdynamiken, zum anderen durch manche Ungleichzeitigkeiten sowie komplexe Gemengelagen von Altem und Neuem. Der Band hinterfragt sowohl das beliebte Bild der „vingt décisives“, das 20 Jahre fundamentalen sozio-kulturellen Wandel von 1965 bis 1985 veranschaulichen soll (Sirinelli 2007), aber die effektvolle Inkubationszeit seit den späten 1950er Jahren unterschlägt, als auch die gängige „Nach-dem-Boom“-Strukturbruchthese (Doering-Man-teuffel/Raphael 2012). Kritisch zu diskutieren und zu historisieren sind jedenfalls sowohl Vorstellungen linearer sozio-kultureller Auf- und Umbrüche für die 1960er Jahre als auch die Lesart des Folgejahrzehnts als Phase eines allumfassenden Paradigmenwechsels und Wertewandels unter generalisierten Krisenvorzeichen (Rödder 2014: 35ff.). Auch wenn der ein oder andere Beitrag populärkulturelle Ausflüge in andere Gefilde wagt, liegt der räumliche Fokus unverkennbar auf Westeuropa sowie den transatlantischen Bezügen zwischen „Alter“ und „Neuer Welt“, deren Relevanz für die frühen der Nachkriegsjahrzehnte mehr als offensichtlich sind. Thematisierte Kernländer in Europa sind immer wieder Frankreich, Großbritannien und Westdeutschland, zusätzliche Einsichten versprechen Länder mit mehreren Sprach- und Kulturgemeinschaften wie die Schweiz oder mit autoritären Regimestrukturen und erschwerten Rezeptionsbedingungen für Angebote auswärtiger Populärkultur wie etwa Spanien. Das östliche Europa jenseits des „Eisernen

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Begriff und Konzept bei Hüser 2005.

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Vorhangs“, das im Bereich von Massenmedien und Populärkultur zuletzt schon vermehrt im Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit stand (Badenoch 2013; Giustino 2013; Goddard 2013; Gorsuch/Koenker 2013; Havens 2013), dient verschiedentlich als Folie westeuropäischer Trends, steht freilich am Beispiel der DDR-Kinoszene nur einmal im Zentrum vergleichender Überlegungen der hier zusammengetragenen Texte.

P RODUKTION & R EZEPTION Populärkultur versteht der Band als ein Phänomen der modernen Industriegesellschaft.8 Es hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt durchzusetzen begonnen und nach 1945, besonders in den langen 1960er Jahren neuerlich quantitativ ausgeweitet, qualitativ ausdifferenziert und massiv transnationalisiert. Konkret gemeint sind Produkte, Artikulationen, Aktivitäten, die meist massenmedial Verbreitung finden und die viele Menschen als lebensweltlich bedeutsam empfinden. Das populärkulturelle Ensemble definiert sich mitnichten über einen dauerhaft festgelegten Merkmalskatalog, es erfindet sich ständig neu: als Resultat steten Aushandelns zwischen Industrie, Kulturmachern, Agenten, Künstlern, Medien und Publiken darüber, was dazugehören soll oder eben nicht (Maase 2013: 25ff.). Gerade unter transnationalen Auspizien muss das besondere Augenmerk dem „Sich-Einfinden“ in diese oder jene Offerte zirkulierender Populärkultur gelten sowie seinem zeitgleichen „Um-Bedeuten“ und „Zueigen-Machen“ (de Certeau 1990: XXXIVf.; Chartier 2006: 201f.). Fernab christlicher Luxus-, wertkonservativer Kultur- oder marxistischer Kulturindustrie-Kritik oder anderer starrer Sender-Empfänger-Modelle kulturellen Austauschs steht Aneignung für Prozesse aktiver, selektiver und kreativer Sinnzuweisung durch einzelne Menschen oder gesellschaftliche Gruppen. Daher fragen die folgenden Artikel vorrangig nach dem „Kode“ (Eco 1984: 32) transformativer Rezeption, Selektion und Kreation in den Empfängerkulturen sowie dem Einbinden ausgewählter Lese-, Hör-, Seh- und Erlebensstoffe in den eigenen Lebensalltag (Appadurai 1996: 17f.; Storey 2014: 93, 132f.): häufig der „blinde Punkt“ kulturhistorischer Forschung, zugleich das Kernproblem empirischer Praxis (Ory 2004: 87).

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Länderübergreifend lassen Autoren von Handbüchern zu europäischer Populär- bzw. Massenkultur den Untersuchungszeitraum mit den 1850er/1860er Jahren beginnen: vgl. z.B. Maase 1997; Kalifa 2001; Sirinelli/Rioux 2002; Storey 2016.

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E RKENNTNISINTERESSEN & S PANNUNGSFELDER Allgemein gesprochen geht es dem Sammelband zunächst um empirische Mehrländerbeiträge zu transnationaler Geschichte für Populäres im Europa der langen 1960er Jahre.9 Dabei unterstreichen die einzelnen Fallbeispiele, dass eine transnationale Blickrichtung kein radikales Abwenden von nationalen bis lokalen Untersuchungsdesigns bedeuten kann, erst recht, wenn weniger Angebote der Ausgangskultur als Nachfrage in Empfängerkulturen und sozial wie kulturell bedingtes, auch räumlich geprägtes Aneignen im Vordergrund stehen: Bei allem Augenmerk für transnationale kulturelle Felder (Bourdieu 1966; Oster/Lüsebrink 2008) mit durchaus eigenweltlichem Gehalt stellt sich immer auch die Frage, wie und warum, inwieweit und mit welchen Folgen Menschen hier verfügbare Offerten der Populärkultur aufgenommen und überformt, dort verschmäht oder abgewehrt haben (Cornelißen 2015: 395; Gallus/Schildt/Siegfried 2015: 14f.). Konkretere Erkenntnisinteressen zielen darüber hinaus auf drei, künftig zeithistorisch noch breiter zu erforschende Spannungsfelder: auf den Abgleich von Amerikanischem und Europäischem, von transatlantischen und innereuropäischen Transfers populärer Phänomene; auf das Verhältnis von Autorität und Toleranz in europäischen Gesellschaften der langen 1960er Jahre, festgemacht an mitunter heftigen Debatten über Populärkultur als symbolisches Kampffeld für öffentliche Deutungshoheit; auf die Dialektik von Kultur und Politik sowie das politisch-kulturelle Veränderungspotenzial populärkultureller Ausdrucksformen. Einmal entsteht aus der Zusammenschau der Fallstudien ein bislang kaum untersuchter Abgleich von Amerikanisierungs- und Europäisierungstrends in europäischen Nachkriegsgesellschaften und generiert Erkenntnisse, die eine ausgewogenere Verflechtungsbilanz als bisher erlauben. Anders als verfügbare Amerikanisierungsstudien, die in der Regel ein Land betrachten und selbst dort den transatlantischen Austausch in Musik, Film, etc. kaum einmal mit zeitgleich ablaufenden binneneuropäischen flows oder gar mit europäischen Rückflüssen nach Nordamerika konfrontieren,10 gehen die präsentierten Artikel von einem deutlich komplexeren Zirkulieren populärkultureller Phänomene aus, stellen Transfers in Richtung Nordamerika sowie zwischen Ländern in Europa gebührend in Rechnung und diskutieren mehr oder weniger gleichförmige Interdependenzen nach

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Als transnational dimensionierte Pionierstudie vgl. Marwick 1998.

10 Vgl. Roger 2002; Kuisel 2006; Horn 2009. Ähnliches gilt für etliche Sammelbände zu Amerikanisierungstrends, selbst ein „Europa“ im Titel impliziert keineswegs transnational angelegte Einzelbeiträge, sondern fast durchweg Ein-Land-Analysen verschiedener europäischer Staaten: vgl. Stephan 2005; Linke/Tanner 2006.

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Raum und Zeit. Gängigen Vorstellungen einer mehr oder weniger einseitigen Amerikanisierung westeuropäischer Gesellschaften stellt „Populärkultur transnational“ damit ein Europäisierungsparadigma entgegen. Es steht weder für eine normative Erfolgsgeschichte eines geographisch klar umgrenzten Raumes noch für einen gradlinigen und zielorientierten Masterplan hin zu einem steten Mehr an Europa in einzelnen Ländern. Wohl aber für ergebnisoffene, ebenso vielschichtige wie miteinander verwobene Transfers, die damals europäische Netzwerke und Infrastrukturen, Perzeptions- und Kommunikationsräume oder auch Ähnlichkeiten und Affinitäten ausgestaltet, sprich: ausgebaut, verändert, durchaus auch relativiert haben (von Hirschhausen/Patel 2010). Dann liefern die hier vereinten Abhandlungen über Phänomene transnationaler Populärkultur länderspezifische Erkenntnisse und Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf das respektive Aushandeln von Autoritäts- und Toleranzwerten sowie das mehr oder weniger starke Verschieben von Grenzen des Sag- und Machbaren im öffentlichen Raum. Der Umgang mit vielfach neuartigen, zuweilen als fremd empfundenen Comic-Magazinen, Musik-Genres oder Filmstreifen, Jugendzeitschriften, Fernsehformaten oder Modetrends legt relevante Blicke frei auf vorherrschende Werte und Normen, auf gesellschaftliche Liberalität und politische Kultur (Herbert 2014: 815). Überall in Europa sahen sich Akteure in Politik, Wissenschaft, Medien konfrontiert mit denselben, häufig nordamerikanisch inspirierten populären Produkten, Genres, Events, auch mit nonkonformistischen Verhaltensmustern, die sich daran knüpften. Die Reaktionen darauf dokumentieren Kämpfe um Meinungsführerschaft zwischen Vertretern despektierlich-diskriminatorischer und verständnisvoll-affirmativer Standpunkte. Bislang zeithistorisch eher eingefordert als umgesetzt (ders. 2002: 40f.; von Hodenberg 2006: 451) gibt der Band erste Aufschlüsse über Distanz und Differenz im Liberalisierungsgrad europäischer Gesellschaften der langen 1960er Jahre. Zugleich offenbart sich ein bislang unerforschtes Spannungsverhältnis zwischen nationalen Unterschieden im Abgleich von Autorität und Toleranz und gemeinsamen europäischen Erfahrungen, Debatten, Reflexionen durch das Etablieren neuer Populärkulturformen. Schließlich bieten die analysierten Fallbeispiele – teils eher implizit, teils eher explizit – Erkenntnisse über populäre Lese-, Hör-, Seh- und Erlebnisstoffe als gesellschafts- und auch politikrelevante Faktoren, deren Erklärungsmacht weit über die kulturellen Artikulationen als solche hinausreichen. Für die internationale Ordnung nach 1945, für Ost-West-Konflikt und Kalten Krieg mögen Wechselwirkungen von Kultur und Politik mittlerweile recht gut ergründet sein (Poiger 2000; Niemeyer/Pfeil 2014; Bönker/Grampp/Obertreis 2016), für innergesellschaftliche und politisch-kulturelle Transformationsprozes-

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se dagegen nur ausnahmsweise. Es liegen nur ganz wenige, zumeist national dimensionierte Untersuchungen vor, die systematisch Politisches im Kulturellen in den Blick nehmen und eine immer wieder angemahnte Kulturgeschichte des Politischen von der (Populär-)Kulturseite her angehen (Hüser 2004; Jobs 2007; Bantigny 2007; Traïni 2008; Siegfried 2008; Maase 2010). Dabei entfalteten unterschiedlichste, transnational verhandelte Artefakte der Populärkultur in den langen 1960er Jahren auf jeweils spezifische Art und Weise eine kaum zu übersehende Veränderungsdynamik. Der Sammelband zeigt auf, dass gerade junge Leute, die in Werten und Verhalten, in Sprache und Habitus, in Konsum und Freizeit für einen fortan prägenden Sozialtypus eigenweltlicher Jugend standen, populäre Künste im Alltag nutzten, um tradierte Institutionen und Autoritäten kritisch zu beleuchten und neue Modi politischer Artikulation und Partizipation zu etablieren. Damit einhergehende Verschiebungen im dominanten Wertekanon einer Gesellschaft generierten besonders für das junge westdeutsche Staatswesen längerfristig demokratisierende und stabilisierende Effekte über kurzfristig wirksame Momente „ökonomischer und politischer Systemperformanz“ hinaus.

K APITEL & B EITRÄGE Die hier vorgestellten Fallstudien untersuchen ganz verschiedene Produkte, Phänomene und Praktiken transnationaler Populärkultur der langen 1960er Jahre, die sich im Folgenden in die pragmatisch voneinander unterschiedenen Kategorien „Lesen“, „Hören“, „Sehen“, „Erleben“ und „Mitreden“ gruppieren. „Lesen“ beschäftigt sich mit Comics und Schülerzeitschriften, „Hören“ mit Beat-Musik und Krautrock, „Sehen“ mit Kino-Szenen, Filmzeitschriften und Fernsehprogrammen, „Erleben“ mit Mainstream-Jugend, „Halbstarken“-Debatten und Modetrends. Unter dem Motto „Mitreden“ zielen zwei abschließende Beiträge darauf, aus diversen Blickwinkeln relevante Schlaglichter auf mögliche gesellschaftliche und politische Gehalte und inhärente Veränderungspotenziale populärkultureller Artikulationen in den frühen Nachkriegsjahrzehnten zu werfen und entsprechende Muster des Politischen im Populären am Beispiel damals verhandelter MusikGenres ein wenig systematischer als bisher auf den Punkt zu bringen. In der Rubrik „Lesen“ entschlüsselt zunächst Hartmut Nonnenmacher (Freiburg) das Herausbilden spezifischer Comic-Felder im Frankreich, Spanien und Argentinien der langen 1960er Jahre. Unter markant verschiedenen politischen und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen entstanden in den drei Ländern damals wegweisende Werke, die transnationale Verbreitung und Bekanntheit erlangten und in Konkurrenz zu den hegemonialen Superhelden-Comics aus den

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USA traten. Neben ästhetischen und humoristischen Unterschieden zwischen dem französischen Astérix, dem spanischen Mortadelo y Filemón und dem argentinischen Mafalda wird deutlich, wie sich die divergierenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der drei Länder in Tonalität und Duktus der Bildergeschichten widerspiegelten: schelmisch-widerspenstige Leichtigkeit und optimistischer Grundton im Zeichen generalisierter Aufbruchstimmung im französischen Fall, dagegen schwarzer Humor und viel Zähneknirschen im spanischen, pessimistischer Skeptizismus im argentinischen Fall angesichts anhaltender politischer und ökonomischer Unsicherheiten. Marcel Kabaum (Berlin) beschäftigt sich mit Schülerzeitungen der 1950er und 1960er Jahre und konturiert Reaktionen westdeutscher, meist männlicher Schüler auf die Vereinigten Staaten sowie auf anglo-amerikanisch inspirierte Jugendkultur. Anfängliches Missfallen und kritische Distanz wichen mit der aufkeimenden Beatkultur der frühen 1960er Jahre zunehmender Begeisterung, neben die sich freilich an den Höheren Schulen bald negativere Diskurse über die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA gesellen sollte. Die Schülerzeitungen dokumentieren das jugendliche Ausloten eigener politischkultureller Grundhaltungen in mehr oder weniger starker Abgrenzung von bzw. Identifikation mit den Vereinigten Staaten oder nordamerikanischen Teilkulturen. Wie auch in den öffentlichen Debatten der jungen Bundesrepublik ganz allgemein bilden die USA und „Amerika“ in den Schülerzeitungen eine Chiffre für zeitgenössische politisch-kulturelle Kommunikationsprozesse und individuelle wie kollektive Selbstvergewisserungsstrategien. Unter dem Stichwort „Hören“ skizziert Egbert Klautke (London) die Erfolge der Beatles wie auch zahlreicher anderer britischer Gruppen in den Vereinigten Staaten der frühen 1960er Jahre. Diese British invasion wird als eine ganz einschneidende Episode der modernen Pop- und Rockmusikgeschichte geschildert, durch die sich der Transfer zwischen „Alter“ und „Neuer Welt“ im Bereich der Unterhaltungsmusik schlagartig und nachhaltig verkomplizierte, denn seit dem frühen 20.f Jahrhundert waren die meisten Impulse in Richtung moderner Populärkultur von den USA ausgegangen. Die dortigen Triumphe britischer Pop- und Rockmusik widersprechen gängigen Versuchen, den globalen Siegeszug von Populärkultur als Aspekt und Sinnbild einer weltweiten, ebenso unwiderstehlichen wie unaufhaltsamen „Amerikanisierung“ zu erklären. Vielmehr gilt es die Komplexität transatlantischer Austauschprozesse und Zirkulation im Bereich der Unterhaltungskultur differenziert nachzuzeichnen und Begriffe wie „Amerikanisierung“ oder „Europäisierung“ zu problematisieren. Mit dem Export des bundesdeutschen Phänomens Krautrock beleuchtet Alexander Simmeth (Frankfurt/Oder) ebenfalls bislang die eher unterbelichteten

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Transferpfade populärer Kultur: vom europäischen Festland aus in Richtung Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten. Fernab anglo-amerikanischer Idiome gelangten Krautrock-Spielarten mit neuartigen experimentellen Klangteppichen zu transnationaler Prominenz. Etliche Kritiker in Großbritannien wie den USA nahmen die distanzierte Performanz der Künstler und die technologische Grundlagen moderner elektronischer Popmusik verdutzt zur Kenntnis, werteten die Darbietungen zugleich als Popmusik der Zukunft, sprachen Krautrock eine wegweisende und wirkmächtige Rolle zu. Um einheimischen Publiken das Phänomen nahezubringen, griffen massenmedial verbreitete Kommentare gern in die Schublade griffiger Deutschland-Stereotypen, was kaum ohne Rückwirkungen auf die Musiker bleiben konnte. Neuerlich geraten nicht nur komplexe musikalische Transfers als solche in den Blick, sondern auch deren Rezeption und diskursive Rückwirkungen in den verschiedenen nationalen Kontexten. Den Reigen im Kapitel „Sehen“ eröffnet Fernando Ramos Arenas (Leipzig) mit Darlegungen über cinéphile Subkulturen zweier Länder, die angesichts autoritär-diktatorischer Strukturen und Zensurpraktiken kaum übermäßig prädestiniert waren für internationalen Kulturaustausch. Konkret werden – ausgehend von der Annahme einer Gemeinschaft europäischer Filmliebhaber, die durch institutionelle Infrastrukturen, gemeinsame Traditionen, Paradigmen und Diskurse miteinander vernetzt war und bisweilen politisch-systemische Grenzen zu überschreiten vermochte – Rezeptionsmuster des neorealistischen Films in Spanien und Ostdeutschland vergleichend erläutert. Im Franco-Regime war der italienische Neorealismus bereits seit den frühen 1950er Jahren zentraler Bezugspunkt enger spezialisierter Filmkreise gewesen, die Bezugnahmen in der DDR erfolgten später, ließen sich zudem mit dem „sozialistischen Realismus“ verbinden, der in seiner sowjetischen Spielart zum künstlerischen Kanon im Land gehörte. Ein Meinungsaustausch zwischen spanischen und ostdeutschen Filmexperten blieb eine ganz seltene Ausnahme. Gleichermaßen im Feld europäischer Filmkultur der langen 1960er Jahre bewegen sich die „transferbiographischen“ Überlegungen von Lukas Schaefer (Saarbrücken) zur 1957 begründeten Zeitschrift Filmkritik. Inspiriert besonders durch westeuropäische cinematographische Einflüsse und dem Ideal des kritischen Filmrealismus in der Lesart der italienischen Zeitschrift Cinema Nuovo eng verbunden, vitalisierte deren junger studentischer Mitarbeiterkreis eine bundesdeutsche Filmkultur, die noch ganz weitgehend im Zeichen des Heimatfilms stand. Dank früher Auslandsaufenthalte und aufmerksamer Lektüre internationaler Filmmagazine, dank regelmäßiger Präsenz auf europäischen Festivals und intensiver Pflege internationaler Kontakte wuchsen die Kritiker nach und nach in ein Netzwerk linksgerichteter Filmkultur hinein, das fortwährend Artikel, Erfah-

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rungen und Meinungen austauschte. In den 1960er Jahren blieb die Filmkritik ein wichtiger Faktor für die Neuausrichtung des westdeutschen Filmwesens. Allerdings begannen sich die ursprünglichen Pfade filmkultureller Transfers zu verschieben und zu diversifizieren, wandten sich doch einige Autoren vom Realismus ab, um sich stärker dem Modernismus der französischen Nouvelle Vague zu verschreiben. Die Ausführungen von Christian Henrich-Franke (Siegen) setzen sich mit Transfers von Fernsehprogrammen zwischen den westeuropäischen Rundfunkanstalten auseinander, die durch Tausch oder Kauf im Rahmen von Programmmessen und Festivals der Europäischen Rundfunkunion zustande kamen. Dabei erscheinen die langen 1960er Jahre – bei aller Persistenz heterogener Momente – eine Transformationsphase, in der eine „hochkulturell“ geprägte Fernsehelite in den Führungsetagen der Programmdirektionen zwar populärkulturelle Sparten oftmals weiter zurückzudrängen suchte, dies aber immer weniger erfolgreich. Populärkultur mauserte sich im Laufe der Zeit überall in Europa zu einer festen Größe im TV-Programmschema. Mit Populärkultur im Fernsehen etablierte sich in Westeuropa in weiten Bereichen etwas Neues, das verflechtungsgeschichtlich insofern besonders hervorsticht, als es eine eher geringe Tendenz zur räumlichen Verdichtung aufwies, Räume weniger stark konturierte und die populären – europaweit ähnlichen – Bedürfnisse nach Unterhaltung befriedigte, sei es in Form ablenkender Albernheit oder als Medium lebensweltlicher Orientierung. Im Themenfeld „Erleben“ widmet sich Aline Maldener (Saarbrücken) britischen, französischen und westdeutschen Jugendzeitschriften der langen 1960er Jahre und hebt hervor, dass sich deren Machart im interkulturellen Vergleich durchaus ähnelte, was Angebote und Themen, deren Anzahl und Position, deren optische und sprachliche Darstellung anging. Durch Anpassen, Imitieren oder produktives Rezipieren sind damals nach wie vor bestehende nationale Spezifika populärer Jugendkultur einerseits parodiert oder nationalstereotypisch zugespitzt, andererseits stark abgeschliffen, abgeflacht und auf Nuancen reduziert worden. Mischformate bildeten sich aus, die noch auf die Herkunftsländer verwiesen, zugleich etwas hybrides „Neues“ ausmachten, das sich nicht einfach als britisch, französisch, westdeutsch – oder gar nordamerikanisch – kennzeichnen ließ, eher schon als westlich oder westeuropäisch. Beträchtliche Analogien, wechselseitige Bezugnahmen, aber auch Kooperationen der Zeitschriften mit kommerziellen Radiosendern wie Radio Luxemburg oder Europe 1 unterstreichen die Vorstellung eines sich ausbildenden, eng ineinander verflochtenen, westeuropäischen „Jugendmedien-Ensembles“. Transnationale Blicke auf das „Halbstarkenproblem“, das Medien und Öffentlichkeit in vielen west-, aber auch osteuropäischen Ländern seit Mitte der

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1950er Jahre lebhaft und kontrovers diskutierten, wirft Katharina Böhmer (Zürich/Basel). Die Bezeichnungen mochten variieren, das Bild war überall dasselbe: meist männliche, in Gruppen auftretende Jugendliche, die in Habitus, Kleidungsstil, Freizeitgestaltung und Musikgeschmack amerikanischen Vorbildern nacheiferten und alles daran setzten, die Elterngeneration zu provozieren. Europaweit bemühten sich Experten verschiedener Disziplinen um Ursachenforschung, überall bestand die Tendenz, Devianz umstandslos mit Delinquenz gleichzusetzen. Ein vergleichender Blick auf westdeutsche und Schweizer „Halbstarke“ sowie französische blousons noirs und britische Teddy Boys veranschaulicht, wie eng doch – allen nationalen Detailunterschieden zum Trotz – die inhaltlichen Diagnosen im Nachdenken über die Jugend beieinander lagen. Zugleich offenbaren die als transnationales Phänomen wahrgenommenen „Halbstarken“ in den vier Ländern nationalspezifische Umgangsformen, die als Maßstab für Gesellschaftswandel und Liberalisierungsgrad dienen können. Katja Marmetschke (Hamburg) geht dem Entstehen, Vermitteln und Verbreiten jugendlicher Modetrends am Beispiel der englischen Mod-Bewegung auf den Grund, die als Keimzelle einer populärkulturellen Revolution der langen 1960er Jahre vorgestellt wird. Ausgehend von Großbritannien, wo Mod-Mode dank boomender Musik- und Unterhaltungsindustrie sowie erfolgreicher junger Designer einen fulminanten Siegeszug antrat, erreichte der Trend seit Mitte des Jahrzehnts auch die Bundesrepublik. Unter der Bezeichnung Beat kam damals eine ganze Reihe neuer Medienformate und Modelinien auf den Markt, die sich ganz auf die Bedürfnisse der jungen, kaufkräftigen Zielgruppe einstellte. Trotz anfänglicher Skepsis und Ablehnung in beiden Ländern setzten sich die neuen Bekleidungs- und damit verbundenen Lebensstile schließlich durch und verschafften sich eine relativ breite Akzeptanz. Hier wie da kann dies auch als Indikator für eine immer greifbarere gesellschaftliche Liberalisierung gelten. Eine längerfristige Besonderheit der 1960er Jahre-Mode sind die bis heute anhaltenden Rezeptionsschübe innerhalb einer kleinen, aber transnational eng vernetzten Retro-Szene. „Mitreden“ lautet der letzte Themenblock und beschließt den vorliegenden Sammelband mit dem Versuch, gesellschaftlichen und politischen Momenten transnationaler Populärkultur in den langen 1960er Jahren auf die Spur zu kommen. Kaspar Maase (Tübingen) legt dar, dass die Rezeption internationaler, besonders amerikanischer Populärkultur einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Neuorientierung Westdeutschlands nach 1945 geleistet hat. Gefragt wird, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise das Aneignen populärer Künste „demokratisierend“ wirken konnte und welche Maßstäbe für eine solche Einschätzung anzulegen sind. Angesichts der noch wenig gefestigten gesell-

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schaftlichen Machtverhältnisse in der frühen Bundesrepublik waren es gerade die Gegner „kultureller Amerikanisierung“, die „fremden“ Musik-, Tanz- und Kleidungsstilen politische Bedeutung verliehen, indem die Kulturimporte als vulgär, als plebejisch oder als unvereinbar mit deutscher Kulturtradition etikettiert wurden. Erfolge einer Populärkultur, die etliche Meinungsführer mit „ungebildeten Massen“ verknüpften, konnten dann kulturelle Machtbalancen zu Ungunsten der traditionellen Eliten verschieben. Neben dem Betonen der Rolle von Informalisierungstrends im Sinne von Norbert Elias wird unter Rückgriff auf Affordanztheorien erörtert, inwiefern ästhetischen Eigenschaften populärer Künste ein immanentes Demokratisierungspotenzial zukommt oder ob es sich eher um kontingente Bedeutungszuweisungen politischer Akteure handelt. Mein eigener Beitrag knüpft in mancherlei Hinsicht dort an und fragt nach Populärkultur als einem Erklärungsmoment unter anderem für das westdeutsche „Demokratiewunder“ der langen 1960er Jahre. Am konkreten Beispiel populärer Musik und davon inspirierter Szenen diskutiert der Text, auf wie verschiedene Art und Weise aufwühlende Rock ’n’ Roll-Stücke, engagierte Protestsongs oder auch massentaugliche Schlagerlieder politisch wirksame Gehalte mit potenziell demokratisierenden Effekten transportiert haben. Pragmatisch unterschieden werden mehrere Muster des Politischen im Populären: „Fremd-Politisierung“ mittels öffentlicher Widerstände in Politik, Wissenschaft, Medien, Verbänden, Kirchen, etc.; „Selbst-Politisierung“ durch ausdrücklich kritische Botschaften in Musikstücken selbst oder Statements der Künstler; „Habitus-Politisierung“ als sprachlos-unauffälliges Bekunden von Eigen-Sinn zum Erweitern lebensweltlicher Handlungsoptionen. Für alle drei Politisierungsmuster sind die zunehmende Relevanz und Dynamik transnational – und gerade auch binneneuropäisch – zirkulierender Klänge kaum zu überschätzen. Bei aller gebotenen Vorsicht, den Faktor „Populärkultur“ nicht zu hoch zu gewichten, und bei allen Grenzen, das Zurechnungsproblem zu lösen, lässt sich begründet annehmen, dass transnationale Populärkultur gerade in der Bundesrepublik, die noch bis weit in die 1950er Jahre hinein keine mehrheitlich demokratisch geläuterte Bürgerschaft kannte, für das dauerhafte Stabilisieren der Verhältnisse und das mentale Ankommen im Westen besonders bedeutsam war.

K ONTEXTE & D ANKSAGUNGEN Die folgenden Artikel gehen auf eine interdisziplinäre Tagung „Populärkultur transnational – Lesen, Hören, Sehen, Erleben in (west-)europäischen Nach-

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kriegsgesellschaften der langen 1960er Jahre“ zurück, die vom 6. bis zum 8. Oktober 2014 in Saarbrücken stattgefunden hat. In der Hoffnung, dass das vorliegende Ergebnis allseits zufrieden stimmt, sei zunächst den Autorinnen und Autoren ganz herzlich gedankt, die vor zwei Jahren den Weg an die Saar gefunden, im Rahmen der Veranstaltung einen Vortrag gehalten und bereits kurze Zeit später eine ausgearbeitete schriftliche Version zu Publikationszwecken abgeliefert haben. Weiterer Dank gebührt etlichen anderen Personen, die zum wissenschaftlichen Gelingen der Tagung unentbehrlich gewesen sind, sei es wegen substantieller Debattenbeiträge im Laufe der beiden Tage, sei es wegen ebenso prägnanter wie engagierter Inputreferate und Schlusskommentare zu den einzelnen Sektionen. Namentlich zu erwähnen sind Prof. Dr. Astrid Fellner (Saarbrücken), Prof. Dr. Andreas Fickers (Luxemburg), Prof. Dr. Philipp Gassert (Mannheim), Prof. Dr. Ulrich Pfeil (Metz), Prof. Dr. Christoph Vatter (Saarbrücken) und Prof. Dr. Clemens Zimmermann (Saarbrücken). 11 Ohne die fachdisziplinäre Expertise und wohlwollende Kritik aus geschichts-, kultur- und medienwissenschaftlichen Blickwinkeln, ohne die Offenheit und Diskussionsfreude wäre das Umsetzen eines primären Tagungszieles kaum gelungen: nämlich das Ausloten von Stichhaltigkeit, Mehrwert und forschungsstrategisch sachgerechten Fokussierungen einer Verbundprojektidee „Populärkultur transnational“, die damals noch in den Kinderschuhen steckte, inzwischen aber auf Realisierungschancen hoffen darf. Veranstaltet hat die Saarbrücker Zusammenkunft der Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes. Die organisatorische Detailarbeit im Vorfeld wie während der Tagung oblag meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, federführend Dr. Birgit Metzger und Lukas Schaefer, daneben Jürgen Dierkes, aber auch den wissenschaftlichen Hilfskräften, besonders Ilka Braun und Isabelle Morandini. Für den stets tatkräftigen, umsichtigen und gut gelaunten Einsatz sei allen Beteiligten an der Organisation ebenso gedankt wie Bernd Rauls als Leiter und Heinz Melchior als Hausverwalter der Stiftung Demokratie Saar. Deren Räumlichkeiten in der Saarbrücker Villa Lessing haben nicht nur ein konzentriertes Arbeiten ermöglicht, sondern dank des stilvollen Ambientes auch zur überaus angenehmen und anregenden Atmosphäre während der gesamten Veranstaltung beigetragen. Weiterer Dank gilt all denen, die den

11 Ein Tagungsbericht mit den entsprechenden Hinweisen auf die Inputreferate und Sektionskommentare findet sich unter dem „Tagungsbericht: Populärkultur transnational – Lesen, Hören, Sehen, Erleben in (west-)europäischen Nachkriegsgesellschaften der langen 1960er-Jahre, 6.10.2014-8.10.2014 Saarbrücken“, in: H-Soz-Kult, 22.11.2014, [14.7.2016].

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vorliegenden Sammelband administrativ, technisch und formal mit auf den Weg gebracht haben. Für die redaktionellen Mühen nach transcript-Vorgaben zeichneten ideenreich und professionell zunächst Ilka Braun, dann Cornelia Schmidt verantwortlich. Die Endredaktion übernahm dankenswerterweise Katharina Böhmer. Beim Vereinheitlichen und Korrigieren der Texte – wie auch bei manchen redaktionellen Grundsatzentscheidungen – haben darüber hinaus Melanie Bardian, Katharina Böhmer, Jürgen Dierkes, Jasmin Nicklas und Martina Saar, zuletzt auch Felicitas Offergeld geholfen. Als Sponsoren standen uns die Universitätsgesellschaft des Saarlandes, das hiesige Frankreichzentrum sowie ganz besonders die Deutsche Forschungsgemeinschaft zur Seite. Ohne die finanzielle Unterstützung durch die DFG hätte weder die Tagung stattfinden, noch der Sammelband publiziert werden können. Auch dafür ein herzliches Dankeschön.

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Lesen

Die Formierung des Comic-Feldes während der langen 1960er Jahre in Frankreich, Spanien und Argentinien H ARTMUT N ONNENMACHER

In der ersten Ausgabe der von Pierre Bourdieu gegründeten Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales konstatiert 1975 dessen Schüler Luc Boltanski, seit ungefähr 1960 habe sich in Frankreich ein nicht mehr wie zuvor vorwiegend heteronom durch die Ökonomie determiniertes,1 sondern nach dem Vorbild des literarischen und des künstlerischen Feldes zunehmend autonom organisiertes Comic-Feld herausgebildet. Als Belege hierfür führt er u.a. die Entstehung von Konsekrationsinstanzen wie Fachzeitschriften, Ausstellungen, Preisverleihungen und akademischer Forschung an. So wurde etwa 1962 durch Francis Lacassin und Alain Resnais der sogenannte Club de la BD gegründet, der zwei Jahre später in Centre d’Etudes des Littératures d’Expression Graphique umbenannt wurde (Baron-Carvais 1994: 80). Interessant ist hieran einerseits die Beteiligung des damals durch Filme wie Hiroshima, mon amour bereits renommierten Regisseurs Alain Resnais, die ein Indiz dafür ist, dass die Formierung des ComicFeldes in gewisser Weise die kulturelle Konsekration des Films nachvollzog. Diese war in Frankreich eng mit der 1951 gegründeten Zeitschrift Cahiers du cinéma verbunden, aus deren Umkreis seit Ende der 1950er Jahre die wichtigsten Autorenfilmer der Nouvelle Vague hervorgingen. Andererseits zeigt die Umbe-

1

„Depuis son apparition à la fin du 19ème siècle jusqu’à une époque récente (1960 environ), la BD possède les propriétés communes à la plupart des biens produits dans le champ de grande diffusion et tient ses caractéristiques génériques de la position dominée qu’elle occupe dans l’ordre des légitimités et de son autonomie très faible par rapport au champ économique, propriétés qui ont notamment pour conséquence l’assujettissement des producteurs aux lois du marché.“ (Boltanski 1975: 37)

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nennung des anfänglichen Club de la BD in Centre d’Etudes des Littératures d’Expression Graphique das Bemühen, die Beschäftigung mit Comics als wissenschaftlich legitim auszuweisen und Comics mit der im kulturellen Feld bereits etablierten Literatur zu assoziieren. Auf letztere Intention geht auch die Prägung des Begriffs graphic novel zurück, der 1964 in einem USamerikanischen Fanzine zum ersten Mal aufgetaucht sein soll (Dürrenmatt 2013: 20f.), ab seiner Verwendung durch Will Eisner im Jahr 1978 weite Kreise gezogen hat und seit der Jahrtausendwende auch in Deutschland verstärkt zur aufwertenden Bewerbung bestimmter Comics eingesetzt wird (Guiral 2007).

C OMIC -F ELD UND IN F RANKREICH

GESELLSCHAFTLICHER

W ANDEL

In Anlehnung an typische Aufgaben der Literaturwissenschaft tragen zur Formierung des Comic-Feldes auch die Kanonisierung, Kommentierung und Neuherausgabe von zu Klassikern deklarierten Werken bei. So wurde laut Boltanski im Jahr 1963 zum ersten Mal in Frankreich mit Guy l’Éclair, dem französischen Titel für Flash Gordon, ein solcher nachmaliger Comic-Klassiker neu herausgegeben (Boltanski 1975: 57), dessen Erstveröffentlichung damals bereits mehrere Jahrzehnte zurück lag. Damit war eine Entwicklung in Gang gesetzt, die 1974 u.a. zur Gründung einer ersten auf Comics spezialisierten Bibliothek in Toulouse führte (ebd.). Doch die Akteure, die zur Formierung des Comic-Feldes beitrugen, orientierten sich nicht nur an Literatur und Literaturwissenschaft, sondern auch an der Bildenden Kunst. So kuratierte Claude Moliterni, der alsbald zu einem der führenden französischen Comic-Forscher werden sollte, im Jahr 1967 die Ausstellung Bande dessinée et figuration narrative im Pariser Musée des Arts décoratifs. Nach dem Vorbild der zur Aufwertung der Filmkunst erfundenen Formel vom septième art – der siebten Kunst – publizierte Francis Lacassin, der uns bereits als einer der Gründer des Club de la BD begegnet war, im Jahr 1971 ein Buch mit dem manifesthaften Titel Pour un 9e art, la bande dessinée. Die aufwertende Paraphrase vom Comic als „neunter Kunst“ fand ausgehend von diesem Buchtitel weite Verbreitung v.a. in den romanischen Sprachräumen. Der Untertitel des Sammelbandes zur 2005 organisierten ersten Sektion zum Comic auf einem deutschen Romanistentag lautet denn auch „Romanistische Begegnungen mit der neunten Kunst“ (Leinen/Ring 2007).

D IE F ORMIERUNG DES C OMIC -F ELDES | 29

Betrachtet man die Lebensläufe von Claude Moliterni2 und Francis Lacassin , die beide Anfang der 1930er Jahre geboren waren und in den 1960er Jahren zu zentralen Akteuren bei der Formierung des Comic-Feldes in Frankreich wurden, so konstatiert man einige für Comic-Forscher zumindest der Frühzeit charakteristische Züge: Moliterni spezialisierte sich auf die Organisation von Ausstellungen zum Comic, war 1974 einer der Initiatioren des ersten Salon international de la bande dessinée d’Angoulême und veröffentlichte zahlreiche Nachschlagewerke zum Comic. Er machte jedoch keine akademische Karriere, sondern arbeitete an verschiedener Stelle im Comic-Verlagswesen und war auch selbst als Comic-Szenarist aktiv. Lacassin war zunächst Drehbuchautor für diverse Filme, bevor er sich im Laufe der 1960er Jahre mit den verschiedensten Aspekten der Populärliteratur und keineswegs nur mit dem Comic beschäftigte. Später war er v.a. als Herausgeber zahlreicher Werke aus dem Bereich der Populärliteratur tätig, etablierte aber auch die akademische Comic-Forschung u.a. mit dem bereits erwähnten Buch Pour un 9e art, la bande dessinée sowie einer Vorlesung zur Histoire et esthétique de la bande dessinée, die er von 1971 bis 1984 an der Sorbonne hielt. Beiden gemeinsam ist, dass sie am Rand des akademischen Feldes als polygraphe Tausendsassas mit eigenen künstlerischen Ambitionen zugleich auf vielen und doch auch zwischen allen Stühlen saßen. Den gesellschaftlichen Hintergrund für die Formierung des Comic-Feldes bildet die Integration neuer Schichten in das höhere Bildungswesen, die sich in Frankreich gerade in den 1960er Jahren auf rasante Weise vollzieht. So verdreifacht sich zwischen 1960 und 1969 die Zahl der Studierenden an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten von 67.000 auf 208.000, während sich die Zahl der assistants et maîtres assistants, also der nachrückenden jungen Dozenten, im selben Zeitraum sogar von 497 auf 4.171 mehr als verachtfacht (Boltanski 1975: 57f.).4 Dieses neue universitäre Publikum übt einerseits in geisteswissenschaftlichen Studiengängen den akademisch-sakralisierenden Umgang mit Literatur und Kunst ein, bewahrt andererseits jedoch durch seinen oft nicht-akademischen familiären Hintergrund eine gewisse Distanz zu diesen Ritualen. Es sind hauptsächlich Vertreter dieser neuen gesellschaftlichen Gruppe, die in den 1960er Jahren zur Aufwertung zuvor gering geschätzter kultureller Artefakte wie z.B. Co3

2

Vgl. den biographischen Abriss bei Boltanski 1975: 44. Daneben Universalis, „MOLITERNI CLAUDE – (1932-2009)“, Encyclopædia Universalis [en ligne], http://www.universalis.fr/encyclopedie/claude-moliterni/ [26.8.2014].

3

Vgl. http://www.whoswho.fr/decede/biographie-francis-lacassin_60734 [26.8.2014].

4

Diese Entwicklung hatte bereits in den 1950er Jahren begonnen. 1950 gab es an den Facultés des lettres nur 39.000 Studierende und 177 assistants (ebd., 1975: 56).

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mics beitragen, entweder indem sie wie z.B. Moliterni und Lacassin diese Aufwertung aktiv betreiben oder aber indem sie ihr als Rezipienten einer neuen Art von Comics eine materielle Basis verleihen. Es vollzieht sich somit in den 1960er Jahren ein Wandel des Comic-Lesepublikums, wozu auch die Verbreitung des Fernsehens beiträgt, welche zu einem Rückgang der Zahl von ComicLesern unter Kindern und Jugendlichen führt. Der Durchschnitt der Comic-Leser wird älter und gebildeter und junge Erwachsene werden zu einem wichtigen Zielpublikum. Boltanski weist diesen Befund empirisch nach, indem er eine Umfrage des französischen Meinungsforschungsinstitutes SOFRES aus dem Jahr 1974 analysiert, in der das Publikum verschiedener französischer ComicZeitschriften auf seine Zusammensetzung nach Geschlecht, Altersklasse und sozialer Zugehörigkeit untersucht wurde. Dabei zeigt sich, dass die 1959 gegründete Zeitschrift Pilote, die bei der Formierung des Comic-Feldes in den 1960er Jahren eine zentrale Rolle spielte, sich gegenüber älteren und traditionelleren Comic-Zeitschriften durch eine im Durchschnitt ältere und sozial höher stehende Leserschaft auszeichnete: „Les lecteurs de Pilote sont nettement plus âgés que les lecteurs des autres magazines [...] et plus souvent issus des nouvelles fractions des classes moyennes.“ (Boltanski 1975: 41) Was die Comic-Autoren angeht, so lassen sich insbesondere diejenigen der Zeitschrift Pilote mit der von Boltanski vorgeschlagenen Dichotomie „conservateurs“ versus „novateurs“ charakterisieren. Während die „conservateurs“, zu denen als berühmtester der 1926 geborene Asterix-Szenarist René Goscinny zu zählen ist, eher einer traditionellen Vorstellung von der Comic-Produktion als heteronom vom ökonomischen Feld bestimmten Handwerk anhingen, verstanden und gerierten die „novateurs“, zu denen z.B. der 1934 geborene Marcel Gotlib gehörte, sich in zunehmendem Maße als Künstler. Interessant ist, dass Goscinny und Gotlib bei Pilote zunächst sogar zusammen an der Serie Dingodossiers arbeiteten, bevor Gotlib ab Ende der sechziger Jahre mit Rubrique-à-brac eigene Wege ging. 1968 kam es infolge der politischen Revolte auch innerhalb der Redaktion von Pilote zu Auseinandersetzungen, bei denen insbesondere Goscinny und Uderzo sich von den jungen Zeichnern als reaktionäre „patrons“ und „grandmaîtres“ abgestempelt fühlten (Boltanski 1975: 47; Platthaus 2000: 197). Boltanski zeigt auf, wie sich der Habitus der „novateurs“ bis hin zur Selbstdarstellung auf Photographien immer stärker von demjenigen der „conservateurs“ absetzte (Boltanski 1975: 49). Auch der Charakter der von ihnen hervorgebrachten Comics veränderte sich: So stellt Boltanski etwa eine verstärkte Tendenz zur

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Autoreferentialität5 fest, welche sich gerade im Werk von Gotlib deutlich manifestiert. In einem Lucky-Luke-Pastiche Gotlibs erscheint z.B. unvermittelt der Erzähler bzw. Zeichner selbst mit tropfendem Pinsel hinter dem zu blauer Leinwand mutierenden Himmel (Gotlib 1974: 6) und in einer Tierfilme parodierenden Episode über die Giraffe (Gotlib 1971: 56/57) weist der fiktive Moderator der Sendung namens Professeur Burp darauf hin, Giraffen seien wegen ihrer Höhe schwer in Comics darstellbar, woraufhin es zu einer Transgression der Grenzen zwischen den Einzelbildern und zu einer Aufspaltung in erzählerische Parallelwelten kommt.6 Abbildung 1: Gedenkbriefmarke für Astérix

Quelle: Wikimedia Commons

5

„La rhétorique de la bande, acceptée jusque là comme allant de soi au titre de simple instrument, devient pour elle-même objet d'intérêts et d'innovations et se modifie selon les lois qui caractérisent les jeux mandarinaux avec la forme propre à toute tradition cultivée.“ (Boltanski 1975: 50) Vgl. zur weiteren Entwicklung Nonnenmacher 2007.

6

Boltanski weist auf eine analoge Szene bei dem Zeichner Fred hin: „son héros, tombant d'une case à l'autre, s'étonne de rencontrer en chacune d'elles cet autre lui-même qui le représente aux différentes étapes du récit qu'illustre la succession des vignettes.“ (Boltanski 1975: 50)

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D ER

SPANISCHE UND DER ARGENTINISCHE

F ALL

Die Formierung des Comic-Feldes vollzieht sich nach dem Verständnis Boltanskis in Frankreich genau in den „langen 1960er Jahren“, wenn sie auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Artikels im Jahr 1975 noch keineswegs endgültig abgeschlossen scheint. Zeitgleich kommen in anderen westlichen Ländern ähnliche Prozesse in Gang. So erscheint 1964 in Italien Umberto Ecos Klassiker Apocalittici e integrati, der neben anderen Themen aus dem Bereich der Populärkultur wie etwa Schlager7, Radio und Fernsehen auch Kapitel zu den Comicfiguren und -serien Steve Canyon, Superman und Charlie Brown enthält und den Anstoß für eine ganze Reihe von semiotisch inspirierten akademischen Comic-Analysen in verschiedenen Ländern gibt. Und schon Jahre vor der 1974 von Moliterni in Angoulême organisierten ersten großen französischen ComicMesse wurde eine solche im Jahr 1966 im italienischen Lucca veranstaltet (Pérez del Solar 2013: 24). Besonders interessant ist aber ein Vergleich der französischen Entwicklung mit der Formierung des Comic-Feldes in Spanien und Argentinien, zwei romanischen Nationen, deren politische Situation sich während der langen 1960er Jahre sehr viel stärker als diejenige Italiens von Frankreich unterschied. Gemeinsam ist allen drei Ländern, dass sie in dieser Zeit gesellschaftliche Umbrüche erfahren, welche die Formierung des Comic-Feldes jeweils spezifisch beeinflussen: Nach dem Ende von Vierter Republik und Algerien-Krieg steuert Frankreich mit starkem wirtschaftlichem Wachstum und einem nie dagewesenen Bildungsaufstieg breiter Schichten auf den End- und Höhepunkt der trente glorieuses zu. Gestützt auf die Bildungsaufsteiger, die in Distanz zu traditionellem Bildungsgut bis dahin gering geschätzte Formen wie Comic – aber auch Film und Chanson – aufwerten, sowie auf einen Kultur aller Spielarten großzügig fördernden Staat kann sich hier die Formierung des Comic-Feldes sozusagen idealtypisch vollziehen. In Spanien löst das Ende der Autarkie-Politik und der daraus resultierende Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft seit Ende der 1950er Jahre eine Massenauswanderung v.a. nach Frankreich, Deutschland und in die Schweiz aus. Diese führt zusammen mit dem Tourismus-Boom zur allmählichen ökonomischen, kulturellen und mentalen Annäherung an die europäischen Kernländer, wobei grundlegende politische und institutionelle Veränderungen sich erst nach dem Tod Francos im Jahr 1975 einstellen. Die Formierung des Comic-Feldes fällt hier dementsprechend prekär aus, wird jedoch durchaus nach französischem Vorbild in Angriff genommen (Altarriba 2001: 315). So er-

7

„Canzone di consumo“ in Ecos Diktion (Eco 1982 [1964]: 275).

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scheinen seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine ganze Reihe von wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Studien zum Comic. Luis Gasca etwa veröffentlicht 1966 das Buch Tebeo y cultura de masas und 1969 Los cómics en España (Pérez del Solar 2013: 25). Der Übergang von der traditionellen spanischen Bezeichung tebeo zum Anglizismus cómics markiert hier auf terminologischer Ebene einen ähnlichen Epochenwechsel, wie er in Frankreich vom conservateur Goscinny und vom novateur Gotlib verkörpert wurde. Seither steht tebeo in Spanien zumeist für eher traditionelle Comics, die sich an ein vorwiegend kindliches bis jugendliches Publikum richteten und idealtypisch im goldenen Zeitalter der spanischen Comic-Produktion während der 1940er und 1950er Jahre entstanden waren, während mit cómics die moderneren Serien und Alben gemeint sind, die seit den 1960er Jahren entstanden, sich an ein älteres Zielpublikum richteten und zuvor tabuisierte Themenbereiche wie z.B. Erotik aufgriffen. Antonio Martín veröffentlichte 1967/68 in der erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschrift Revista de Educación eine Serie von Artikeln zur Geschichte der tebeos (Pérez del Solar 2013: 25). Dies ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass noch in den 1950er Jahren gerade mit Erziehungsfragen befasste Instanzen heftige Kritik am angeblich schädlichen Einfluss von Comics auf Kinder und Jugendliche geübt hatten. International am bekanntesten wurde in dieser Hinsicht der deutschstämmige Psychiater Fredric Wertham, dessen 1954 in den USA veröffentlichtes Werk The seduction of the innocent dort die Einführung neuer Zensurbestimmungen für Comics nach sich zog.8 Doch die comicfeindlichen Thesen Werthams fanden auch in Europa keineswegs nur in konservativen Kreisen Resonanz, wie sich daran zeigt, dass er 1955 in der von JeanPaul Sartre herausgegebenen Zeitschrift Les temps modernes einen Artikel entsprechenden Inhalts veröffentlichten konnte (Boltanski 1975: 56). Dass nur zwölf Jahre später im national-katholischen Spanien Francos eine vom Bildungsministerium herausgegebene9 erziehungswissenschaftliche Zeitschrift die Beiträge von Martín veröffentlichte, welche Comics als einen einer eigenen Geschichtsschreibung würdigen Gegenstand erachteten, zeigt, wie grundlegend sich in kurzer Zeit während der 1960er Jahre die Haltung gerade auch westeuropäischer Intellektueller zum Comic geändert hatte. Luis Gasca und Antonio Martín waren in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auch jeweils an der Herausgabe der Fanzines Cuto und Bang! beteiligt, also an Zeitschriften, in denen nach US-amerikanischem Vorbild begeisterte ComicLeser Beiträge veröffentlichten, die eine Vorstufe für die bald einsetzende aka-

8

Vgl. zum sogenannten „Comic code“ Platthaus 2000: 136f.

9

Vgl. http://www.mecd.gob.es/revista-de-educacion/ [4.9.2014].

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demische Sekundärliteratur zu Comics bildeten.10 Deren Autoren hatten oft, ähnlich wie in Frankreich, zunächst filmwissenschaftlich gearbeitet, bevor sie sich auch dem Comic zuwandten. Das beste Beispiel hierfür ist der bis heute sehr renommierte Medienwissenschaftler Román Gubern, der 1972 das semiotisch inspirierte Grundlagenwerk El lenguaje de los comics veröffentlichte. Diese für die Formierung des Comic-Feldes zentrale Herausbildung eines akademischen Diskurses zum Thema bereitete in Spanien dem sogenannten boom del cómic adulto den Weg, der sich ab 1975 im Jahrzehnt nach dem Tod des Diktators Franco vor dem Hintergrund der rasanten gesellschaftlichen Liberalisierung der transición vollziehen sollte (Lladó 2001). In Argentinien wiederum werden wie in keinem anderen Land Beginn und Ende der „langen 1960er Jahre“ durch einschneidende politische Ereignisse markiert: Den Sturz Peróns durch einen Militärputsch im Jahr 1955 und seine triumphale Rückkehr aus dem Exil im Jahr 1973. Im Zeitraum dazwischen vollziehen sich zwar ähnliche gesellschaftliche Entwicklungen wie in Europa – Bildungsaufstieg neuer Schichten,11 von den Revolten in den USA und Frankreich ausgehende kulturelle Liberalisierung –, dies jedoch im Kontext wirtschaftlicher Stagnation,12 damit einhergehender Verteilungskämpfe und vom lateinamerikanischen Umfeld – v.a. durch das kubanische Vorbild – inspirierter zunehmender

10 Ein schönes Beispiel dafür, wie „bürgerwissenschaftliche“ Beschäftigung mit einem Thema späterer „berufswissenschaftlicher“ Forschung den Weg bereiten kann. Vgl. zu diesen Begriffen Finke 2014. 11 Mit Blick auf die Zeit nach 1955 heißt es in der von Félix Luna herausgegebenen Historia Integral de la Argentina: „Los cambios sociales influyeron en una explosión de la matrícula universitaria: la participación femenina y la afluencia de estudiantes de los sectores medios obligó a multiplicar y diversificar los establecimientos universitarios y de nivel terciario.“ (Luna 1997: 104) 12 „Die Distributionskrise wurde vom Peronismus in der Dekade von 1945-1955 anfänglich recht erfolgreich in Angriff genommen [...]. Tatsache ist aber auch, dass – um das Beispiel der Löhne zu nehmen [...] – die Situation in den Jahren 1955-1970 nur einmal, nämlich 1958, eine merkliche Verbesserung erfuhr, dies trotz eines allgemein recht akzeptablen Wirtschaftswachstums. Letzteres lässt darauf schließen, dass die Verteilung des Nationaleinkommens einseitig zugunsten gewisser Privilegierter verändert wurde [...]. Diese für die unteren Schichten höchst unvorteilhafte Entwicklung fand ihr Echo etwa in den häufigen sozialen Konflikten in den 1960er Jahren.“ (Knoblauch 1980: 234)

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revolutionärer Agitation.13 Politisch waren diese 18 Jahre geprägt von den immer aussichtsloseren Versuchen der antiperonistischen Kräfte, zuweilen demokratische, immer häufiger jedoch auf Militärdiktaturen gestützte Alternativen zur peronistischen Bewegung zu etablieren. Dies führte zu einer politischen Aufladung des argentinischen Comic-Feldes, die im Kontrast zu der Entwicklung in Europa steht. Im Übrigen jedoch vollzog sich eine ganz ähnliche Entwicklung wie in Frankreich und Spanien. Schon Ende der 1950er Jahre tauchte eine neuartige historieta de autor, also ein Autoren-Comic auf, deren Exponent der Szenarist Héctor Germán Oesterheld war (von Sprecher 2009: 4f.). Zwischen 1957 und 1959 erschien als Fortsetzungsserie das Science-Fiction-Epos El eternauta, das nach einem Szenario Oesterhelds von Francisco Solano López gezeichnet wurde. Darin wird beschrieben, wie ein tödlich wirkender Schnee fast die gesamte Einwohnerschaft von Buenos Aires vernichtet,14 bevor die wenigen Überlebenden erkennen müssen, dass das Fallen des giftigen Schnees von außerirdischen Invasoren ausgelöst wurde, gegen die sie einen verzweifelten Widerstandskampf aufnehmen. El eternauta gilt heute im Land selbst neben Mafalda als der große Klassiker des argentinischen Comics15 und hat früh schon politische Deutungen erfahren, die in den außerirdischen Invasoren die gegen die Perón-Regierung putschenden Militärs sahen.16 Interessant ist, dass in dem düsteren Epos auch der Comic-Autor Oesterheld selbst auftritt: In einer Rahmenerzählung nämlich be-

13 Als es der mit Unterstützung der Peronisten gewählte Präsident Frondizi im August 1961 wagte, sich zu einem Gespräch mit Ernesto „Che“ Guevara zu treffen, zwangen die Militärs den argentinischen Außenminister zum Rücktritt und ersetzten ihn durch einen zuverlässig antikommunistischen Politiker (Luna 1997: 135). 14 Die Verortung des Science-Fiction-Plots in der argentinischen Hauptstadt statt – wie traditionell oft – in den USA wird von Juan Sasturain als wichtige Neuerung von El eternauta angesehen. Vgl. dazu das Kapitel ‚El cambio de domicilio‘ de la Aventura in Sasturain 1993: 121ff., in dem es u.a. heißt: „en El Eternauta coinciden al fin un espacio y un tiempo donde se encuentran todos (autor, lector, personajes) unidos por la mirada y los valores de un modelo aventurero compartido.“ (Sasturain 1993: 123) 15 So wird etwa der seit 2009 sogar regierungsamtlich gefeierte Día de la Historieta Argentina, also der Tag des argentinischen Comics, am 4. September begangen, da an diesem Datum im Jahr 1957 die erste Episode von El eternauta in der Zeitschrift Hora Cero veröffentlicht wurde (Sánchez 2011). 16 Héctor Germán Oesterheld, der Szenarist dieses Comics (sowie eines 1968 veröffentlichten Comics über das Leben des Che Guevara), schloss sich Ende der 1960er Jahre der linksperonistischen Guerilla der Montoneros an und fiel nach dem Putsch von 1976 ebenso wie seine vier Töchter dem Terror der Videla-Diktatur zum Opfer.

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richtet ihm der durch die Zeit gereiste „Eternaut“ von den in der Zukunft angesiedelten Ereignissen. Bereits ein Jahrzehnt vor den Selbstinszenierungen Gotlibs in den von ihm gezeichneten französischen Comics finden wir also bereits vergleichbare autoreferentielle Tendenzen in Argentinien. Auch ansonsten vollzieht sich die Formierung des Comic-Feldes in ähnlicher Weise wie in Frankreich. Gegenüber dem goldenen Zeitalter des Comics, das auch in Argentinien in den 1940er und 1950er Jahren anzusiedeln ist,17 geht zwar der Verkauf von Comics aufgrund der wachsenden Konkurrenz des Fernsehens und der wirtschaftlichen Stagnation zurück (von Sprecher 2009: 5), doch vollzieht sich gleichzeitig eine Neuausrichtung auf ein im Durchschnitt älteres Zielpublikum.18 Auch hier spielen „konsekrierende Gesten“19, die von bereits etablierten kulturellen Feldern wie Kunst und Literatur ausgehen, für die Aufwertung des Comics eine wichtige Rolle: So wird im Jahr 1968 von der Escuela Panamericana del Arte und dem Instituto Di Tella, das ansonsten v.a. für die Verbreitung moderner Kunst eintritt, die Bienal Mundial de la Historieta de Buenos Aires20, also eine Comic-Biennale, durchgeführt. Damit leistet das prestigeträchtigere Feld der Kunst seinen Beitrag zur Konsekration des bis dahin geringgeschätzten Comics. Und auch hier erscheinen mit Dibujantes und Atelier zwei Zeitschriften,21 in denen v.a. Comic-Autoren selbst über ihr Schaffen schreiben und die somit eine Vorstufe für den akademischen Diskurs über den Comic bilden, der sich Ende der 1960er Jahre zu etablieren beginnt und dessen wichtigste Exponenten zunächst Óscar Masotta und Óscar Steimberg sind (Berone 2009: 2). Auch in Argentinien wirkte der semiotische Ansatz Umberto Ecos stilbildend, wie etwa an dem Titel Reflexiones presemiológicas sobre la historieta: el esquematismo eines Beitrags Masottas zu einem 1969 veröffentlichten Sammelband deutlich wird (ebd., 9). Masotta gab im Jahr 1968 auch die drei einzigen

17 Vgl. das Kapitel Décadas del 40-50 – La época de oro (Gociol/Rosemberg 2000: 32f.). 18 Vgl. dazu das Kapitel Década del 60 – La adultez y el fin de la fiesta (ebd., 41). 19 „Gestos consagratorios [...] provenientes del exterior del campo de la historieta.“ (von Sprecher 2009: 6) 20 „En 1968 se realizó la Bienal Mundial de la Historieta de Buenos Aires, organizada por la Escuela Panamericana del Arte y el Instituto Di Tella, sede de la vanguardia local, que contó con el apoyo de difusión y de crítica de la revista Primera Plana – medio significativo para la conformación de públicos en aquella década.“ (von Sprecher 2009: 5f.; vgl. dazu auch Cossia 2009: 6f.) 21 „En esos años se publicaban revistas de información y opinión internas al campo, como Dibujantes y Atelier.“ (von Sprecher 2009: 5)

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Nummern der Zeitschrift Literatura dibujada heraus,22 die in einer im Jahr 2000 erschienenen voluminösen Geschichte des argentinischen Comics als „mythisch“ bezeichnet wird23 und deren Titel – „Gezeichnete Literatur“ – auf bezeichnende Weise das bereits etablierte Feld der Literatur mit dem Comic assoziiert. Damit knüpft Masotta natürlich auch an den Begriff der littérature graphique an, der, wie wir gesehen haben, in Frankreich schon in der ersten Hälfte der 1960er Jahre im Umlauf war. Während in Westeuropa auch in den 1970er Jahren der semiotische Ansatz im akademischen Diskurs über den Comic bestimmend blieb,24 vollzog sich in Lateinamerika eine Wende hin zur Ideologiekritik. Wegweisend hierfür war das erstmals 1971 publizierte Werk Para leer al pato Donald – auf Deutsch frei übersetzbar mit: „Gebrauchsanweisung für die Lektüre von Donald Duck“25 –, das der Chilene Ariel Dorfman zusammen mit dem in Chile lebenden Belgier Armand Mattelart vor dem Hintergrund der beginnenden Präsidentschaft Salvador Allendes geschrieben hatte und in dem, sehr verkürzt gesagt, das DisneyProdukt Donald Duck als Propagandainstrument US-amerikanisch-kapitalistischer Hegemonie kritisiert wurde (Merino 2003: 51). Dass diese Art der Ideologiekritik Schule machte, sieht man etwa daran, dass 1975 in Argentinien von dem Soziologen Pablo Hernández eine vernichtende Kritik der Comic-Serie Mafalda aus extrem linker Perspektive veröffentlicht wurde, deren Titel sich an den des Buches von Dorfman und Mattelart anlehnte und nunmehr Para leer a Mafalda lautete.26

22 Vgl. Berone ohne Jahresangabe: Oscar Masotta y la „literatura dibujada“. Reflexiones sobre la disolución de un objeto, http://www.descartes.org.ar/masotta-berone.htm [1.10.2014]. 23 „La mítica revista de Masotta“ (Gociol/Rosemberg 2000: 41). 24 „La semiología era el instrumento de análisis más utilizado durante los años 70 en Francia e Italia por los estudiosos de los medios de comunicación.“ (Merino 2003: 46) 25 Die 1977 im Berliner Basis-Verlag veröffentlichte Übersetzung des Buches trägt allerdings den Titel „Walt Disneys ‚Dritte Welt‘: Massenkommunikation und Kolonialismus bei Micky Maus und Donald Duck.“ 26 Die These des Buches lasse sich, so Berone, wie folgt zusammenfassen: „Mafalda, interesada en mantener el status quo burgués, no dice la verdad acerca de la explotación del proletariado en nuestro país.“ (Berone 2008: 2)

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N ATIONALE C OMIC -K LASSIKER TRANSNATIONALE D IFFUSION

UND

Die Serie Mafalda, deren jeweils aus einem bis maximal einem halben Dutzend Einzelbildern bestehende, auf Spanisch tiras genannte Episoden zwischen 1964 und 1973 in argentinischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden, bietet uns Anlass, über einen weiteren Aspekt der Formierung des Comic-Feldes zu sprechen, nämlich über die Herausbildung von klassischen Comics, die entweder innerhalb einer Nation oder bisweilen auch transnational nahezu allgemeine Bekanntheit erlangen. Der französischen, spanischen und argentinischen Comic-Kultur ist gemeinsam, dass sie in den „langen 1960er Jahrenˮ jeweils solche Comics hervorbringen, die transnationale Verbreitung und Bekanntheit erlangen, und somit in Konkurrenz zu den transnational hegemonialen Comics aus den USA treten.27 Gemeint sind neben den zwischen 1964 und 1973 veröffentlichten Episoden über das altkluge Mädchen Mafalda des argentinischen Zeichners Quino das 1958 vom spanischen Zeichner Ibáñez kreierte Agentenpaar Mortadelo y Filemón, das in der deutschen Übersetzung zu Clever und Smart wurde, sowie die 1959 debütierende Asterix-Serie von Goscinny und Uderzo.28 Gemeinsam ist diesen drei Comics nicht nur ihr Ursprung während der langen 1960er Jahre und ihr transnationaler Erfolg, sondern auch ihr im weitesten Sinne humoristischer Charakter, der sie zwar nicht von DisneyErzeugnissen wie Micky Maus und Donald Duck, aber doch von den Superhelden-Comics US-amerikanischer Provenienz unterscheidet. Als weitere Gemeinsamkeit wäre zu nennen, dass alle drei Comic-Klassiker am Schnittpunkt zwi-

27 Die transnationale Strahlkraft dieser drei romanischen Comic-Kulturen ist Ausweis ihrer Vitalität, die sich bereits in den 1940er und 1950er Jahren in einer sehr auflagenstarken nationalen Comic-Produktion manifestiert hatte. Teilweise war diese auch durch bewusste politische Abgrenzung von den USA gefördert worden, wie etwa durch die Loi du 26 juillet sur la presse pour enfants im Jahr 1949 in Frankreich (Baron-Carvais 1994: 23) oder durch die Autarkie-Politik im Spanien Francos. 28 Der Klassiker-Status dieser drei Comics lässt sich u.a. daran ablesen, dass sie in ihren jeweiligen Ursprungsländern von offizieller und halboffizieller Seite auf verschiedene Weisen gewürdigt werden. So ist z.B. anlässlich des fünfzigsten „Geburtstags“ von Asterix eine Briefmarke erschienen (vgl. Abb. 1), Mortadelo y Filemón sind auf der berühmten Humoristen und ihren Schöpfungen gewidmeten Plaza del Humor in La Coruña abgebildet (vgl. Abb. 3) und an dem Gebäude in Buenos Aires, das Quino als Vorlage für die Zeichnung des Hauses diente, in dem Mafalda wohnt, wurde eine Gedenktafel entsprechenden Inhalts angebracht (vgl. Abb. 2).

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schen den traditionellen Comics der 1940er und 1950er Jahre ihrer jeweiligen Länder und den neuen innovativen Comics „für Erwachsene“ der 1960er und 1970er Jahre angesiedelt sind: Sie gehören nicht mehr zur ersten Gruppe, aber auch noch nicht zur zweiten. Oder positiv ausgedrückt: Sie verbinden die Qualitäten, die dem traditionellen Comic seine Popularität gesichert hatten, mit den neuen innovativen Impulsen. Abbildung 2: Gedenktafel für Mafalda in Buenos Aires

Quelle: Wikimedia Commons

Innerhalb dieses gemeinsamen Rahmens gibt es auch große Unterschiede zwischen den drei Werken, sowohl hinsichtlich ihrer Machart als auch hinsichtlich der Art des Humors. Wie schon erwähnt, handelt es sich im Fall von Mafalda um sehr kurze Episoden, die jeweils mit einer Pointe enden und insofern in sich abgeschlossen sind. Die Gesamtheit dieser kurzen Episoden, die ab 1966 auch in gesammelter Form in Alben veröffentlicht wurden,29 kann zusammen genommen als eine resümierende Erzählung der Kindheit der Protagonistin gelesen werden:

29 Vgl. zur Veröffentlichungsgeschichte Sasturain 2009: „Mafalda [...] no nació en una revista de humor ni en un diario, como solía suceder con ese tipo de personajes, sino en una revista semanal de actualidad política, un magazine moderno a la manera de Time o L’Express, para lectores informados: Primera Plana. De ahí Mafalda saltaría al diario El Mundo [...] y después a Siete Días, otro semanario de actualidad. Ya estaba consolidada como personaje cuando en 1966 las tiras se comenzaron a reunir en pe-

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Während der neun Jahre, in denen Quino ab 1964 regelmäßig seine Strips in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, kommt Mafalda z.B. in die Schule, lernt neue Freunde kennen, die auch in der Folge regelmäßig wieder auftauchen, und bekommt einen kleinen Bruder. Sowohl Mortadelo y Filemón als auch Astérix wurden dagegen ursprünglich als ein- bis mehrseitige Episoden in speziellen Comic-Zeitschriften veröffentlicht,30 wobei diese Episoden im Fall von Astérix von Anfang an und im Fall von Mortadelo y Filemón sehr früh schon im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung in Form von Comic-Alben hin konzipiert waren. Diese Alben erzählen jeweils eine in sich abgeschlossene Geschichte, wobei die narrative Kohärenz und Stringenz im Fall von Mortadelo y Filemón oftmals deutlich geringer ist als im Fall von Astérix. Was die Art des Humors angeht, so basiert Mortadelo y Filemón auf einer Parodie zweier vom angelsächsischen Raum ausgehender Mythen des 20. Jahrhunderts: Anfangs hatte Francisco Ibáñez sein Figurenpaar zwar als Parodie von Sherlock Holmes und Watson konzipiert, doch früh schon wurden die Agentenfilme um James Bond zum neuen und zentralen parodistischen Bezugsrahmen. Entsprechendes Personal wurde nun dem Protagonistenpaar zur Seite gestellt: ein cholerischer Geheimdienstchef, eine walkürenhafte Sekretärin und ein verrückter Wissenschaftler, der die beiden Agenten mit Geheimwaffen versorgt, die im Unterschied zu denjenigen James Bonds nie funktionieren. Als Erbe des Sherlock-Holmes-Universums überlebte die in abstruse Übertreibung getriebene Verkleidungskunst des schlaksigen Mortadelo bzw. Clever, welche diesen dazu befähigt, sich in Sekundenschnelle in nahezu jedes Lebewesen oder auch Objekt zu verwandeln. Auch für Astérix spielen parodistische Techniken eine zentrale Rolle, einerseits im Hinblick auf die vor allem durch den Schulunterricht in Frankreich verbreitete Vorstellung von nos ancêtres les gaulois31, andererseits auch im Hinblick auf das international gerade in den 1960er Jahren florierende Filmgenre des Peplums oder Römerfilms – z.B. mit den Anspielungen auf die HollywoodProduktion Cleopatra in Astérix et Cléopâtre. Eine weitere zentrale humoristische Ressource für Astérix ist das Spiel mit Stereotypen über bestimmte Regio-

queños álbumes apaisados que echaron las bases de una popularidad inusitada. Los diez tomos de Mafalda – que reúnen la producción total, hasta la interrupción de la tira en 1973 – son un corpus [...] que se sigue reeditando hasta hoy, y en todo el mundo.“ 30 Astérix in Pilote, Mortadelo y Filemón in Pulgarcito (Altarriba 2001: 122). 31 „Parce qu’ils sont une image de ‚nos ancêtres les Gaulois‘, même fantaisiste, les Gaulois d’Astérix suscitent une forte identification des lecteurs.“ (Rouvière 2008: 122f.)

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nen oder Nationen, oder wie Nicolas Rouvière es im Titel seines Buches über Astérix nennt: la parodie des identités. Oft wird diese Parodie von Identitäten schon im Titel eines Albums annonciert: Asterix und die Goten, Asterix auf Korsika, Asterix bei den Helvetiern usw. Eine vergleichbare Tendenz gibt es übrigens bisweilen auch bei Mortadelo y Filemón: So liefert etwa das 1984 veröffentlichte Album Mortadelo y Filemón en Alemania eine nahezu erschöpfende Darstellung von Klischees über Deutschland und die Deutschen.32 Im Fall von Astérix ist das Spiel mit Stereotypen zumeist mit Anachronismen verquickt, denn die vorgeblich antiken Goten und Helvetier werden ja zu Trägern ganz und gar neuzeitlicher Stereotypen über Deutsche und Schweizer. Anachronismen – also das Durchscheinen von Phänomenen der Gegenwart in dem eigentlich antiken fiktionalen Universum, in dem Astérix spielt – geben hier auch sonst oft Gelegenheit zu komischen Effekten.33 Abbildung 3: Mortadelo y Filemón an der Plaza del Humor in La Coruña

Quelle: Wikimedia Commons

Wortwitz und insbesondere Wortspiele kommen sowohl in Mortadelo y Filemón als auch in Astérix vor, wobei es im letzteren Fall der sehr kompetenten Überset-

32 Vgl. dazu und zur Darstellung von Deutschen in Mortadelo y Filemón allgemein Emanuel 2007. 33 „Die Asterix-Reihe führt in anachronistischer Art und Weise vor, wie heutige Lebensweisen angeblich bereits vor 2000 Jahren gepflegt wurden.“ (Penndorf 2001: 212)

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zerin Gudrun Penndorf gelang, u.a. mittels des Prinzips der „versetzten Äquivalenzˮ, (Penndorf 2001: 214ff.) Wortspiele und sonstigen Sprachwitz auch in der deutschen Fassung zur Geltung zu bringen. So etwa in Asterix und der Avernerschild, wo aus einer französischen nuit blanche, also einer schlaflosen Nacht, in einem Kohlehaufen das deutsche „Schwarzsehen“ wird (ebd., 218f.). Die Qualität der deutschen Übersetzung war auch der Insistenz Goscinnys zu verdanken, der gegen die ersten deutschen Asterix-Versionen, die im Kauka-Verlag unter dem germanisierenden Titel Siggi und Babarras erschienen waren, einschritt und auf eine angemessene Übersetzung bestand (Heine 2005). In diesem Verhalten des Astérix-Szenaristen manifestiert sich bereits ein gewandeltes Selbstverständnis der Comic-Autoren, die nun zunehmend auf ähnlich seriösen Übersetzungen bestanden, wie sie für „hohe Literaturˮ üblich waren. Im Fall von Mortadelo y Filemón war dies jedoch nicht der Fall, was dazu führte, dass die deutschen Clever und Smart-Alben aufgrund des verloren gegangenen Wortwitzes deutlich gröber gestrickt wirken als die spanischen Originale.34 Auf Wortspielen beruhen gelegentlich auch die Pointen der MafaldaEpisoden. So etwa als Mafalda sich darüber wundert, wie winzig ihre neue Freundin namens Libertad ist (Quino o.J.: 451) – dieses Wortspiel kann ins Deutsche nicht übersetzt werden und funktioniert nur in Sprachen, in denen wie im Spanischen das Wort für Freiheit – also Libertad – zugleich ein weiblicher Vorname ist. Doch insgesamt kommen Wortspiele in Mafalda nur relativ selten vor und es ist zu vermuten, dass die betroffenen Episoden in vielen Übersetzungen einfach weggelassen wurden.35 Parodistische Strategien oder Anachronismen spielen für den Humor von Mafalda praktisch keine Rolle und auch das Spiel mit Stereotypen ist wenig ausgeprägt und bezieht sich so gut wie nie auf Nationen,36 sondern allenfalls auf stereotypisierte Vertreter bestimmter sozialer

34 Zur sprachlichen Banalisierung der deutschen Clever und Smart-Fassungen trug auch die Manie bei, die deutschen Titel stets gereimt zu formulieren. Als Folge kam es z.B. zur aufplusternden und sich an vulgäre Jugendsprache anbiedernden Übersetzung eines so schlichten spanischen Alben-Titels wie Los monstruos durch ein wahrlich monströses Voll der Schocker – da sind alle Schrauben locker! (http://www.clever undsmart-online.de/alben001.htm) [18.9.2014]. 35 Zur Übersetzung Mafaldas ins Englische liegt mit Trianes 2012 bereits eine Studie vor. 36 Eine Ausnahme, welche diese Regel bestätigt, ist ein Strip, in dem Quino auf das stereotype Bild von Nazis rekurriert (Quino o.J.: 475): Mafaldas Freund Felipe kommt zu spät zur Schule und sieht in seiner Angstphantasie, wie seine zur Nazi-Komman-

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Gruppen. So etwa die konservative Susanita, deren einzige Ambition darin besteht, später als Hausfrau an der Seite eines gutverdienenden Ehemanns zu leben, oder der wenig helle Manolito, der nur auf den Gelderwerb bedachte Sohn eines aus Spanien eingewanderten Ladenbesitzers. Das weitgehende Fehlen von parodistischen Elementen, Anachronismen, übertriebener Stereotypisierung und sonstiger hyperbolischer Handlungselemente wie insbesondere der beulenreichen Prügelszenen lässt Mafalda im Vergleich zu Astérix und Mortadelo y Filemón als einen besonders realistischen Comic erscheinen. Die wichtigste humoristische Strategie Quinos besteht in der Erfindung dessen, was man mit einem Begriff aus dem Barockzeitalter als Konzetti bezeichnen könnte, also in dem Aufzeigen geistreicher und überraschender Analogien zwischen scheinbar völlig voneinander getrennten Wirklichkeitsbereichen. Ein solcher Konzetto liegt zum Beispiel einem nur aus einem Bild bestehenden Strip zugrunde, in dem Mafalda das Verhältnis zwischen Suppe und Kindheit mit dem zwischen Kommunismus und Demokratie vergleicht (Quino o.J.: 76). Die komische Wirkung wird hier noch dadurch verstärkt, dass die Suppen-Phobie Mafaldas als running gag in vielen Episoden immer wieder von Neuem auftaucht.37 Ein anderes Beispiel für einen solchen komischen Konzetto findet sich in einer Episode, in welcher Felipe Mafalda eine Blume schenkt und daraufhin feststellen muss, dass deren Wohnung bereits voll von Pflanzen ist, was er mit dem desillusionierten Vergleich kommentiert: „Das war, als ob man Fidel Castro ein Stückchen Zucker schenken würde“ (Quino, o.J.: 63).38 Beide genannten Beispiele sind problemlos in andere Sprachen übersetzbar. Die Leser müssen nur über Grundkenntnisse zum Kalten Krieg im ersten Fall und zur kubanischen Wirtschaft im zweiten Fall verfügen, um die Pointen zu verstehen. Die beiden Beispiele zeigen also auch, dass die Mafalda-Episoden sich oft in einem universellen Bezugsrahmen situieren, was ihre transnationale Verbreitung ohne Zweifel begünstigt hat.39

dantin mutierte Lehrerin neben einem Foto Hitlers und einem Exemplar von Mein Kampf auf Deutsch die Strafe für seine Verspätung verkündet. 37 Entsprechende leitmotivische running gags sind in Mortadelo y Filemón die Verkleidungsexzesse Mortadelos und in Astérix die rituellen Schlachten mit den Römern sowie die mit jeder Seereise verbundene Konfrontation mit derselben Gruppe von Piraten. 38 „Ha sido como regalarle un terrón de azúcar a Fidel Castro.“ 39 Im großen Unterschied zu Fontanarrosas Comic-Serie Inodoro Pereyra, die auf einem parodistischen Spiel mit der nationale argentinische Identität verkörpernden Figur des Gaucho basiert und deren Bezugsrahmen überwiegend argentinisch ist, weshalb ihr

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Oft bleibt dem Leser von Mafalda-Episoden das Lachen im Halse stecken. So etwa, wenn Mafalda und ihre Freunde, da sie nur wenig Zeit haben, „Atomkrieg spielen“ (ebd., 135), oder wenn Mafalda zu Hause einen Kranken betreut, welcher sich als ein die Welt symbolisierender Globus entpuppt (Quino, o.J.: 128),40 oder wenn Mafalda auf die Frage, was sie mit der Farbe „schwarz“ assoziiert, zur Antwort gibt: „Die Zukunft“ (ebd., 207). Dieser pessimistische Grundton des argentinischen Comic-Klassikers bildet einen starken Kontrast zu der optimistischen Gestimmtheit, die für Astérix typisch ist, wo die beiden Helden dank des Zaubertranks kinderleicht über alle Gefahren und insbesondere auch stets von Neuem über eine potentiell sehr bedrohliche militärische Invasionsstreitmacht triumphieren. Mortadelo y Filemón lässt sich mit seinem pubertärdestruktiven Slapstick-Feuerwerk, bei dem die beiden Titelhelden ständig selbst Prügel einstecken müssen, statt wie in Astérix andere zu verprügeln, auf halbem Wege zwischen der optimistischen Leichtigkeit von Astérix und der pessimistischen Skepsis von Mafalda verorten. Der Kampf einer kleinen Gruppe von Widerständlern gegen übermächtige Invasoren ist übrigens ein Motiv, das Astérix mit dem bereits erwähnten argentinischen Science-Fiction-Epos El eternauta verbindet, dessen Publikation zwei Jahre vor derjenigen der ersten Astérix-Episoden begann. Doch während im französischen Comic die Gallier des unbeugsamen Dorfes sich über die römischen Invasoren lustig machen und sie ein ums andere Mal verprügeln, werden in El eternauta in einem grausamen und verzweifelten Kampf die wenigen überlebenden Bewohner der argentinischen Hauptstadt von den in verschiedenster Gestalt auftretenden Invasoren, deren letztlich befehlsgebende Instanz bis zum Schluss unsichtbar bleibt, immer weiter dezimiert. Jenseits aller evidenten Gattungsdifferenzen – El eternauta ist ein Epos mit dem ihm gemäßen Pathos, während im humoristischen Universum von Astérix der Tod nicht existiert – reflek-

trotz großen Erfolgs im Land selbst eine internationale Verbreitung verwehrt blieb (Schütz 2007). 40 Neben der Suppenphobie der Protagonistin ist der Globus als Symbol für die Welt ein weiteres zentrales Leitmotiv in Mafalda. Interessant ist, dass beim ersten Auftreten dieses Leitmotivs (ebd., 11) die Lage Argentiniens auf dem Globus thematisiert wird. Mafalda fällt auf, dass die Argentinier „mit dem Kopf nach unten“ leben (¡Vivimos cabeza abajo!), da ihr Land sich „unten“ auf dem Globus befindet. Ab diesem Moment und für vier weitere tiras dreht sich die gezeichnete Welt tatsächlich um, während die Sprechblasen ihre gewohnte Position beibehalten. Hier stellt also auch Quino jene Freude am experimentellen Spiel mit der Form des Comics unter Beweis, die Boltanski bei den novateurs unter den französischen Comic-Zeichnern konstatiert.

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tiert dieser Kontrast zwischen dem französischen und dem argentinischen Comic-Klassiker auch die gegenläufige politisch-gesellschaftliche Entwicklung während der langen 1960er Jahre in Frankreich und in Westeuropa insgesamt auf der einen Seite und in Argentinien auf der anderen Seite: Während hier die Wirtschaft wächst, die Demokratie ausgebaut wird und Optimismus vorherrscht, stagniert dort die Wirtschaft, wird die Demokratie durch immer neue Staatsstreiche untergraben und gewinnt der Pessimismus an Boden.

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Der Blick westdeutscher Schülerinnen und Schüler in den 1950er und 1960er Jahren auf Jugendkultur und die USA Ein Vergleich ihrer Darstellungen in Schülerzeitungen M ARCEL K ABAUM

In der Schülerzeitung der drei höheren Schulen Tübingens schreibt eine Schülerin 1959 „im Namen vieler Gleichaltriger“, wie sie „mit leuchtenden Augen“ die „Rollerbewegung“ verfolgt und die „benzingeschwängerte Luft gierig“ aufgesaugt habe. Sie finde es „dufte“ zu sehen, wie „die Männer den unter ihren Schenkeln sich aufbäumenden Feuerstuhl“ steuern (UKW 1959a: 30). In der darauffolgenden Ausgabe ist ein Leserbrief des Vaters abgedruckt, empört spricht er von einer Kampagne, der seine Tochter zum Opfer gefallen sei; die „unschuldige Liebe“ einer 18-Jährigen sei ausgenutzt worden, um das eigene „Käseblatt […] zu würzen“. Sein Name sei noch nie befleckt worden und er bedauere, dass „es heute nicht mehr üblich [sei], sich mit der Waffe reinzuwaschen“ (UKW 1959b: 15). Dieses pointierte Beispiel kann verdeutlichen, welche öffentliche Brisanz Schülerzeitungen in der Bundesrepublik besitzen konnten. Es lässt auch erahnen, warum in Schülerzeitungen mögliche Provokationen lange Zeit vermieden und Jugendkultur oder jugendliche Freizeitinteressen kaum thematisiert werden, obwohl die Redakteure zeitgenössischen Umfragen zufolge in dieser Zeit ähnliche Freizeitaktivitäten wie ihre Eltern haben, nämlich Lesen, Radio hören, Kino und Sport (Schildt 1993: 348; Herbert 2014: 683). Stets dürfte der Verdacht vorhanden gewesen sein, dass Erwachsene die Schülerzeitung ebenfalls lesen.1

1

Die Einsichten historischer Arbeit sind selbstverständlich beschränkt: So berichtet die Zeitzeugin Ursula Nopp (alle Namen pseudonymisiert; M.K.), Jahrgang 1942, von

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Mit dem medialen Phänomen der „Halbstarkenkrawalle“ wird 1956/57 in den Schülerzeitungen eine Veränderung spürbar: Die Jugendlichen verwehren sich in ihren Artikeln gegen verallgemeinernde Bilder der Erwachsenen über die Jugend, aber auch gegen die populäre, US-amerikanisch geprägte Jugendkultur, welche sich mit der Rock ’n’ Roll-Welle und den Möglichkeiten durch das „Wirtschaftswunder“ etabliert. Mit der Beatmusik zeigen sich dann in den 1960er Jahren ein steigendes Selbstbewusstsein und eine zunehmende Identifikation mit populärer Jugendkultur seitens der Gymnasiasten aus bürgerlichem Milieu, die in den Schülerzeitungen zumeist zu Wort kommen. Gegenüber ihren Elternhäusern, die von einer kulturkritischen Diskussion um eine „Amerikanisierung“ der Bundesrepublik im Zuge der Westernisierung und des Kalten Krieges geprägt sind, zeigt die Darstellung der USA durch die Schüler und ihre Zeitungen der 1950er Jahre einen gewissen Eigensinn. Denn gegenüber der allgemein distanzierten Haltung der Erwachsenen stellen die Schüler die USA auffällig positiv und mit persönlicher Note dar. In den 1960er Jahren entwickelt sich dann, parallel mit der steigenden Identifikation der Schüler mit anglo-amerikanisch geprägter Jugendkultur, ein politisch-abstrakter und kritisch werdender Blick auf die USA. Man kann darin einen Ausdruck jener dauerhaften diskursiven Struktur sehen, wie sie Frank Becker (2006) diagnostiziert hat. Die USA dienen demnach als Chiffre politisch-kultureller Kommunikation: Die eigene politisch-kulturelle Positionierung wird unter Zuhilfenahme einer Abgrenzung zu den USA oder einer Identifikation mit US-amerikanischer Teilkultur ausgelotet. Zumindest mit den Schüler- und Studentenbewegungen wird dies in den Schülerzeitungen deutlich, wenn einerseits Kritik an den USA als Sinnbild von Imperialismus und Krieg geübt wird, auf der anderen Seite aber auch Sympathie und eine Identifikation mit der amerikanischen Jugendopposition vorhanden ist, für „deren Kleidung, Haartracht und Musikgeschmack“ sowie deren Protestrituale (ebd.: 34). In diesem Beitrag wird diese Entwicklung in den Schülerzeitungen während der langen 1960er Jahre aufgezeigt: von der Distanz gegenüber populärer, angloamerikanisch geprägter Jugendkultur zur Identifikation mit ihr einerseits, von einem persönlichen, positiven USA-Bild zu einem kritisch-abstrakten Blick auf die Staaten andererseits.

codierten, für Dritte nicht einsehbaren Absprachen zu gemeinsamen Treffen, die über Schülerzeitungen erfolgten, und bezeichnet die Schülerzeitungen daher als „Träger einer subkulturellen Kommunikation“.

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S CHÜLERZEITUNGEN

ALS

F ORSCHUNGSGEGENSTAND

Schülerzeitungen werden von Schülern für andere Schüler produziert, gestaltet und geschrieben. Sie sind „für den Lebenskreis bestimmt […], aus dem sie hervorgehen“, und werden so als „jugendeigene Presse“ verstanden (Bender 1956: 41; Grimm 1959). Abgegrenzt von Schulchroniken und Schulzeitungen, die traditionell von Direktoren und Lehrern herausgegeben wurden, existieren Schülerzeitungen bereits um 1910 in reformpädagogischen Kontexten von Kunst- und Arbeitsschulen, als Teil politischer Jugendarbeit kommunistischer oder sozialdemokratischer Parteien oder in Form literarischer Versuche für einen kleineren Teil von Lesern, wie sie in England üblich sind – in Deutschland prominent besetzt etwa mit dem Frühlingssturm (1893) und der Ernte (1913/14) der Schüler Thomas Mann und Bertolt Brecht. Vermutlich hielten sich solch literarische Zeitschriften – gegenüber den anderen genannten Schülerzeitungen – auch nach 1933 (Durchleuchter 1977; Liedtke 1997). Schülerzeitungen, die als gemeinschaftsbildendes Moment für die Schülerschaft einer Schule herausgegeben werden, existieren zusammen mit der Schülermitverwaltung (SMV) als Teil der reeducation, deren zentraler Adressat die Jugend war, hauptsächlich an Höheren Schulen.2 Das geschieht unter Initiative der US-Amerikaner, die schon auf eine lange Tradition von Schülerzeitungen an high schools und colleges zurückblicken können und die sie zum Erlernen kooperativen, demokratischen Handelns schätzen. Schülerzeitungen und SMV werden in den westdeutschen Schulerlassen daher sowohl als Beitrag zur Verbesserung des Schulklimas verstanden, als auch zur Förderung der Bereitschaft unter den Kindern und Jugendlichen, sich später als Erwachsene in der demokratischen Gesellschaft zu engagieren. Möglicherweise demonstriert die Bundesrepublik auf diese Art nach außen hin auch ihre demokratischen Bemühungen,3 zumindest werden die Schülerzeitungen aber zum Gradmesser, wie viel „Demokratie“ an der Schule gewagt werden kann. So

2

Ab Ende der 1940er Jahre wird es re-orientation genannt, vgl. zur re-education Gerhardt 1999. Zu den meist gescheiterten Veränderungsbemühungen der Alliierten im Bildungswesen vgl. Tent 2001.

3

So lesen sich zumindest die Berichte der Bundesrepublik für den jährlichen Bildungsbericht der UNESCO: Die Bundesrepublik ist das einzige Land, das von der Entwicklung der school governments und school magazines berichtet, obwohl diese in anderen Ländern – vorneweg in England und den USA – ebenfalls bestehen (UNESCO 19531964). So erscheint es wenig verwunderlich, wenn die UNESCO der Bundesrepublik bescheinigt, sie habe weltweit die größte Anzahl an Schülerzeitungen, was allein schon im Vergleich zur USA zweifelhaft ist (UNESCO-Dienst 1962: 3).

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erkämpft sich die auf Landes- und zwischen 1952 und 1967 auch auf Bundesebene agierende Vereinigung von aktiven und ehemaligen Schülerzeitungsredakteuren, die Junge Presse (Bartels 1987; Jourdan 2013), unter Zuhilfenahme dieses demokratischen Anspruches ab Mitte der 1960er Jahre bei einigen Kultusministern die Pressefreiheit für Schülerzeitungen – die letztlich wegen des besonderen Gewaltverhältnisses an der Schule gar nicht realisierbar ist (Leuschner 1966: 80ff.; Kabaum 2017). Vermutlich hat die Junge Presse mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Arbeit aber Schülerzeitungen als Diskussions- und Forschungsgegenstand interessant werden lassen. Mit Rückgriff auf das Wissen und die Kontakte der Jungen Presse ist aus der Forschung zu den westdeutschen Schülerzeitungen einiges bekannt (Rendtel 1971; Knoche et al. 1979).4 Wie viele Schülerzeitungen in der Bundesrepublik erschienen sind, ist ungewiss; grob geschätzt waren es 1950 erst 100 Titel, die sich 1960 auf 500 und gegen Ende der 1960er Jahre auf ca. 1.500 Titel erhöhten. Ihre Zahl dürfte in den folgenden Jahren weiterhin gestiegen sein, da sie sich ab den 1970ern auch an den Haupt- und Realschulen etablieren. Über Schülerzeitungen in der UdSSR und in der DDR wissen wir nicht viel.5 Über den Status in westeuropäischen Ländern ist ebenfalls wenig bekannt und auch über die Schülerzeitungen in den USA, wo school bzw. student newspapers neben den yearbooks zum Schulalltag gehören, findet sich erstaunlicherweise wenig Forschung (Campbell 1971; Kopenhaver/Click 2001), dafür gibt es umso mehr Handbücher und Ratgeber. Wahrscheinlich gibt es in den 1950er und 1960er Jahren Schülerzeitungen in größerer Zahl in den Niederlanden, in Italien und in Dänemark – wenn auch weniger als in der Bundesrepublik –, in geringerer Zahl auch in Schweden, Norwegen und Belgien, hingegen in Luxemburg, Finnland, Österreich und Spanien kaum oder überhaupt nicht. Im Vereinigten Königreich erscheinen eher literarisch orientierte Magazine. In Frankreich werden Schülerzeitungen in den 1960er Jahren populär – vermutlich nach Pionierarbeiten der Rallye Jeunesse (ab 1960) mit jugendlichen Redakteuren –, so dass dort Ende der 1960er Jahre, vor allem im Zuge des mouvement lycéen wie in den Niederlanden ca. 200 Titel publiziert werden. Unsicher ist die Bedeutung der

4

Schülerzeitungen bieten sich als Quelle für die historische Annäherung an Jugendkultur und die jugendliche Lebenswelt an, sind aber in der Jugendforschung bislang kaum beachtet worden.

5

In der DDR gab es nicht nur Ende der 1940er Jahre Schülerzeitungen, wie Riedel (1970: 198) vermutet. Gängiger dürften allerdings die Publikationen von Schülern in Betriebs- oder Kombinatszeitungen gewesen sein (Körner 1967; M.A.Z. 1972).

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Pädagogik Célestin Freinets (1896-1966) auf die französische Schülerzeitungskultur.6 Ein internationaler Vergleich ist nach derzeitigem Forschungsstand nicht möglich, auch transnationale Austausche sind noch unerforscht.7 Eine erste umfassende Untersuchung der westdeutschen Schülerzeitungskultur wird für die 1950er und 1960er Jahre in einem DFG-Projekt geleistet.8 Bei der qualitativen Auswertung von Schülerzeitungen aus diesem Zeitraum wurden inhaltliche Veränderungen über Zeitschnitte untersucht und Korpora zu verschiedenen Themen erstellt, auf die sich im Folgenden bezogen wird. Dazu zählen u.a. Darstellungen und Berichte über verschiedene Länder, die zum festen Repertoire in Schülerzeitungen gehören. Die USA werden in diesen Berichten neben der DDR mit Abstand am häufigsten thematisiert, gefolgt von England und Frankreich, auf die allerdings meist nur in Berichten von Urlauben und Klassenfahrten eingegangen wird. Zentrales Thema in den Schülerzeitungen ist selbstredend zunächst das Schulleben, gefolgt von Jugendkultur und politischen Themen (Ritzi 2009: 40). Im Bezug zur Darstellung von Jugendkultur und den USA lässt sich keine regio-

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Nach der Darstellung von Elhardt (1968) finden sich vor allem in und um die Städte Paris und Lyon als auch an der Grenze zum Mittelmeer die meisten Schülerzeitungen. Meinungsfreiheit für Schülerzeitungsredakteure herrscht an französischen Lycées ab Ende der 1980er Jahre (Arenilla et al. 2007: 188). Das selbstständige Verfassen und vor allem Produzieren von Schülerzeitungen (journaux scolaires) in einer hauseigenen Druckerei ist fester Bestandteil der Pädagogik Freinets.

7

Transnationale Austausche dokumentieren bspw. die wenigen erhalten gebliebenen Publikationen der European Schoolmagazine Association (ESA), eine Vereinigung von jugendlichen Redakteuren westeuropäischer Länder zum gegenseitigen Austausch. Aus Stichproben erkennt man Ähnlichkeiten unter europäischen, aber keine mit US-amerikanischen Schülerzeitungen.

8

Die Schülerzeitungskultur wird im DFG-Projekt „Schülerzeitungen der 1950er und 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland: Artefakte gymnasialer Schulkulturen und ihr Bedeutungswandel (PAUSE)“ untersucht. Dazu werden die an der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin (BBF) archivierten und bibliographisch erschlossenen über 7.500 Schülerzeitungen aus ganz Westdeutschland nach quantitativen und qualitativen Merkmalen untersucht. Sie werden auch genutzt um mit ihnen, Zeitzeugeninterviews und weiterem Quellenmaterial den Wandel westdeutscher Schulkulturen in Fallbeispielen zu untersuchen. Eingebettet sind die Schülerzeitungen in eine für die Projektarbeit entwickelte Virtuelle Forschungsumgebung, die über Computer in der BBF einsehbar ist.

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nale Besonderheit ausmachen, wenngleich die Schülerzeitungen aus dem Norden – Hamburg und Schleswig-Holstein – in den 1950er Jahren etwas liberaler und in den 1960er Jahren etwas gewagter in ihren Darstellungen sind.

„W ESTERNISIERUNG “

UND DIE LANGEN

1960 ER J AHRE

Die hier vollzogene Darstellung geht vor allem auf die Zeit zwischen 1955 und 1970 ein. Sie geht nur etwas hinter die Sattelzeit der langen 1960er Jahre zurück, die wegen der „tief greifenden Gesellschaftsumbrüche“ von den kurzen 1950er Jahren (1953-1957) abgegrenzt und als „Transformationsraum“ für die Jahre 1958-1973 abgesteckt werden könnte, um die Veränderungen in der Art des Sprechens über Jugendkultur und den USA zu verdeutlichen.9 Mit den langen 1960er Jahren sind für die Bundesrepublik die kommunikativen und kollektivbildenden Mythen des Wirtschaftswunders, das im letzten Drittel der 1950er Jahre den Aufbruch „in sozialen Wohlstand und technische Moderne“ einläutete (Pallowski 1986: 285), und die der 68er-Bewegung prägend (Münkler 2010: 455ff.). Die internationale Rock ’n’ Roll-Welle kann als Übergang in diese Phase bezeichnet werden (Hüser 2006: 190). Sie ist auch der Beginn der sogenannten Westernisierung „von unten“ durch die Jugendkultur und durch den Einfluss „nichtstaatlicher amerikanischer Akteure auf die bundesrepublikanische Gesellschaft und Kultur“, dem eine Westernisierung „von oben“ durch die Einflussnahme der Alliierten besonders auf die Bildungs- und Kulturpolitik voranging (Schildt 2001; Junker 2001: 48). Die Veränderungen von Wertesystemen und kulturellen Praktiken stehen besonders nach 1945 zumeist unter dem Ausdruck der „Amerikanisierung“ Westdeutschlands, wobei „Amerikanisierung“ als zentrales Charakteristikum des gesamten 20. Jahrhunderts und als Chiffre für Modernisierung und Technisierung überhaupt zu verstehen ist, welche vor allem die Zeit des Kalten Krieges zwischen 1945 und 1965 prägte. Die Betitelung „Amerikanisierung“ ist nicht unwidersprochen geblieben; passender erscheint es, mit Doering-Manteuffel von „Westernisierung“ zu sprechen (Becker 2006: 33, 36; Gerhardt 2005).10 Die Westernisierung „von unten“ erfolgte durch jugendliche „Selbstamerikanisierer“, denen die kommerzielle und massenmediale anglo-amerikanisch geprägte Popu-

9

Der Begriff der „langen 1960er Jahre“ hat sich mittlerweile etabliert, hier zitiert nach J. Janssen (2010: 39).

10 Aus europäischer Perspektive erscheint die Bezeichnung „Amerikanisierung“ für allgemeine Entwicklungen der Globalisierung sogar beliebig, vgl. Fabbrini (2004).

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lärkultur dazu diente, „sich zuallererst in Kleidung, Musik- und Verhaltenskonventionen vom Stilkodex der Elterngeneration“ abzusetzen (Rausch 2008: 29; Poiger 1995: 96).11 Die Möglichkeit zu solchen Abgrenzungsbemühungen zeigt sich beispielhaft im Kontext der Austauschprogramme der USA im Zuge der reeducation:12 Den teilnehmenden Schülern wurde bei ihrer Rückkehr geraten, „sich konservativ zu kleiden, in der Schule und in der Gemeinde nicht zu ungezwungen aufzutreten und zu stark auf eine ‚Amerikanisierung‘ des Verhaltens zu drängen“ (Rupieper 1993: 416).

J UGENDKULTUR UND DIE USA AUS S ICHT S CHÜLERINNEN UND S CHÜLERN BIS 1957

VON

Berichte über transatlantische Schüleraustausch- bzw. Besuchsprogramme finden sich in den frühen 1950er Jahren häufig in Schülerzeitungsartikeln. Verglichen werden die USA und Westdeutschland dabei oft im Hinblick auf das Schulbzw. Bildungssystem sowie auf das Familienleben. Beides war für die Schüler während ihres Austausches prägend. Kritische Diskussionen über eine zeitgenössisch so genannte „Amerikanisierung“ und über deren mögliche negative Seiten gibt es kaum. Auffällig sind die geringen Vorbehalte der Jugendlichen gegenüber den USA.13 Die Aufladung der Debatte um „Amerikanisierung“ mit Ideen von Christentum und Abendland, also der Rekurs auf eher konservativ-antiamerikanische Positionen, ist weniger stark ausgeprägt als in der Erwachsenengeneration und wie er vor allem in jenen bürgerlichen Milieus vorherrscht, aus denen die meisten Schülerzeitungsredakteure stammen (Ermath 1997; Gassert

11 Nach Schildt (1995: 419) ist es dieses diffuse „Feld populärer Kultur und ästhetischer Muster im Alltag“, um die Westernisierung auszuloten. 12 Die Austauschprogramme lagen den USA bei der reeducation „mehr als alles andere am Herzen“ (Greiner 1997: 31). Es waren 1949 bis 1956 genau 2.283 Gymnasiasten von insgesamt mehr als 14.000 teilnehmenden Personen, männliche Teilnehmer dominierten (Füssl 2001: 625f.). 13 Wie stark solche Vorbehalte der Erwachsenen sind, lässt sich an einem Bericht eines Lehrers, der an einem Austauschprogramm teilnahm, verdeutlichen: Er berichtet, dass die Jugendlichen in den USA „wenig ‚amerikanisch‘“ seien, vielmehr findet sich „in Amerika eine Jugend […], die in ihrem Kern genau so gesund ist wie die Jugend Europas“ (HTS 1957). In Amerika geht alles „viel normaler zu, als man annimmt. Die Amerikaner haben genau die gleichen menschlichen Probleme wie wir“, schreiben Berliner Schüler (Wannsee-Kurier 1954).

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2001; Herbert 2014: 690ff.). Möglicherweise fanden die Schüler gerade dadurch eigenständige Positionen gegenüber den Erwachsenen, indem sie eine eher vorurteilsfreie und weniger kulturkritische Haltung zu den USA einnahmen (Adolfinum 1953; Wir 1957; Filia+Filius 1957). Die USA stehen in diesen Berichten immer wieder für eine Modernisierung im Sinne zunehmender Technisierung und individueller Freiheit.14 Das trifft etwa auf die Berichte über das Schulsystem mit dessen Wahlfreiheit zu. Die Austauschprogramme der Amerikaner zur Vermittlung eines positiven Bildes der USA zeigen auch hier ihren Erfolg. Auseinandersetzungen bzw. Identifikation mit Jugendbildern gibt es bis Mitte der 1950er Jahre kaum in den Schülerzeitungen. An „jugendeigenen“ Themen wie Freizeitaktivitäten und Hobbys, Musikgeschmack oder Mode finden sich neben philatelistischen Artikeln Rezensionen zu Theaterstücken und Taschenbüchern. Die Mitarbeit an einer Schülerzeitung hatte den großen Vorteil, als Mitglied bei der Jungen Presse einen Presseausweis zu besitzen und so zum Schreiben einer Rezension freien Eintritt in Theaterstücke und Opern zu bekommen – beim Zeitzeugen Arthur Ernst (Jahrgang 1948) bspw. der einzige Grund für die Mitarbeit an der Zeitung. Die stets vorhandenen Besprechungen von Taschenbüchern könnten darauf zurückzuführen sein, dass Rezensionen von Taschenbüchern in Zeitungen und Zeitschriften selten waren und die Schüler ein Rezensionsexemplar bekommen haben dürften. Es finden sich auch häufiger Bastelanleitungen für Radios, was wenig verwunderlich ist in einer Zeit, in der das Radiohören allgemein beliebt war.15 Die handwerklichen Stücke gaben die Möglichkeit, außerhalb des elterlichen Wohnzimmers Radio zu hören, gerade die bei den Schülern beliebten Sender aus Luxemburg oder von den Militärbasen der Alliierten (Isarspecht 1957). Außerdem sind insbesondere Artikel zur Jazzmusik vorhanden, in denen der Jazz gegenüber den Erwachsenen als ernst zu nehmende Musik verteidigt wird, die Facetten der verschiedenen Stilrichtungen – etwa Dixieland, Modern Jazz und Cool Jazz – behandelt und vorgestellt werden oder der US-amerikanische Ursprung des Jazz erläutert wird.16 Zur Veröffentlichung der Ergebnisse der zweiten EMNID-Jugendstudie 1955 finden vereinzelt erste Auseinandersetzungen mit dem öffentlichen bzw. elterli-

14 Allgemein herrscht in der Bundesrepublik zu dieser Zeit auch eine Technik-Euphorie vor (Schuhmann 2012: 239). 15 Die Beliebtheit des Radiohörens zeigt sich sinnbildlich im zeitgenössischen umgangssprachlichen Wort „Radiot“ für jemanden, der sein Radio immer mit sich führt und laufen lässt (Küpper 2004: 21.966f.). 16 Der Jazz gehört bis Anfang der 1960er Jahre zu den Lieblingsthemen jugendeigener Presse, vgl. die Inhaltsanalyse in Jugend + Jazz (1960: 4); so auch Schmitz (1963).

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chen Bild von Jugendlichen statt. Die Schüler sind irritiert über das dort gezeichnete Bild einer Jugend, die den Ergebnissen zufolge Bismarck bewundert, Disziplin schätzt und Walzer tanzt – kurz: die den „Weg des Alten“ geht (Reporter 1955; Brücke 1955). Eine erste extensive Auseinandersetzung mit Jugendkultur beginnt in den Schülerzeitungen 1956 mit dem durch die Medien künstlich aufgebauschten Phänomen der sogenannten „Halbstarken“, einem international vorhandenen Phänomen kleinerer Gruppen größtenteils junger, randalierender Männer, welches als Phänomen einer Generation angesehen werden kann.17 „Halbstarke“ stehen in enger Verbindung zum Rock ’n’ Roll, der allerdings in den Schülerzeitungen, im Gegensatz zum Jazz, kaum polarisiert. Eine sich anbietende Verbindung zur amerikanischen Populärkultur wird nicht gezogen. Die Verallgemeinerung des Phänomens „Halbstarke“ motiviert die Schüler anscheinend – so lesen sich die Beiträge –, darüber zu schreiben, wie sie sich selbst sehen oder als was sie wahrgenommen werden möchten. Zum Teil wird die zu lesende Distanzierung sicherlich auch dem Wunsch der Eltern nach einer „unspektakulären“ Jugend gerecht, ein Jugendbild, wie es in den ersten EMNID-Studien gezeichnet wird. Der „Prototyp“, der in diesen Studien der 1950er Jahre den Forschern „vorschwebte“, kommt auch in den Schülerzeitungen zu Wort: Es sind zu einem sehr großen Teil männliche Gymnasiasten der Obersekunda sowie Unterund Oberprima (J. Janssen 2010: 16), also 16- bis 19-Jährige aus zumeist bürgerlichen Elternhäusern (Geißler 2008: 284). Die Auseinandersetzungen mit den „Halbstarken“ lassen sich auf drei Weisen interpretieren. Zum einen kann es als Form von Abgrenzung verstanden werden, wenn die Schüler etwa auf die vorhandenen EMNID-Jugendstudien verweisen um zu verdeutlichen, dass „die Jugend“ entgegen der Zeitungsberichte eher so sei, wie es wissenschaftliche Studien herausgefunden haben (NürnbergFürth 1956) – verwunderlich, ob der ein Jahr zuvor noch zu beobachtenden Ab-

17 Die im Deutschen „Halbstarke“ Genannten werden bspw. in England teddy boys, in den Niederlanden nozems, in der UdSSR stiljagi oder in Frankreich blousons noirs genannt bzw. blousons dʼor für Jugendliche aus wohlhabenden Elternhaus, vgl. aus der umfassenden Forschungsliteratur neben Böhmer (i.d.Bd.) bspw. W. Janssen (2010) und Kurme (2006). An öffentlichen Protestaktionen waren weibliche Jugendliche ebenfalls beteiligt (Schwarz 2002: 247). Für ein Phänomen der Generation bei den „Halbstarken“ spricht, dass es überraschende „Übereinstimmungen zwischen Ausdrucksformen und Problemwahrnehmungen [gibt], die sich nicht auf gegenseitige Abhängigkeiten zurückführen lassen und die trotzdem die Grenzen der einzelnen Gesellschaften überschreiten“ (Bude 2003: 147).

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grenzung gegenüber diesen Studien.18 Zum anderen kann die Auseinandersetzung mit „Halbstarken“ als eine selbstgerechte Besorgnis interpretiert werden. Vermutlich greifen die Schüler Argumente aus zeitgenössischen Kinofilmen wie Georg Tresslers Die Halbstarken (1956) auf oder adaptieren die Abgrenzungsbemühungen der Eltern. Im Bezug zu „Halbstarken“ weisen die jugendlichen Autoren nämlich auf deprivierte Lebensumstände in einem vaterlosen Zuhause hin, durch welche die randalierenden Jugendlichen vereinsamten. Diese Jugend hätte „sehr viel größere Milieuschwierigkeiten“, heißt es z.B. in Südbadens größter Schülerzeitung (Schulkurier 1957; Pennäler 1956). Schließlich und besonders interessant ist in der Auseinandersetzung eine deutlich artikulierte Emanzipation von der Elterngeneration in den Schülerzeitungen zu finden. Der vermeintliche Zustand einer „halbstarken“ Jugend wird zurückgeworfen auf die Schwäche der Eltern, Liebe zu geben und Vorbild zu sein. Dazu kursiert das stets ohne Autor gekennzeichnete Gedicht „An die Schwachen (von einem Halbstarken)“, in dem drastische Worte, aber auch Identifikation mit den „Halbstarken“ gefunden werden. Dort heißt es u.a.: „Weil ihr schwach seid, habt ihr uns Halbstarke genannt, // Und damit verdammt ihr eine Generation // An der ihr gesündigt habt, // Weil ihr schwach seid // […] Wir machen Radau, weil wir nicht weinen wollen // Nach all den Dingen, die ihr uns nicht gelehrt habt. // […] ihr seid schwach, und wir sind halbstark“ (Discipulus 1957).19 Vielleicht trauen sich die bürgerlichen Redakteure nun eher ein Aufbegehren, nachdem sie durch die medialen Diskussionen über eine randalierende Jugend aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung sowie dem der Jugendarbeit geraten sind und die populäre Vorstellung von Jugend interpretativ offener erscheint (Lindner 1996: 75f.; Schwarz 2002: 248ff.). Gleichzeitig mit dem 1957/58 einsetzenden Boom an Einrichtungen der Jugendarbeit durch das (mediale) Phänomen der Jugendkrawalle beginnt auch die Ausbildung einer „jugendlichen Teilkultur“ (Schildt 1993: 346ff.). Es entsteht der florierende Markt einer „Teenager-Industrie“ infolge der „Entdeckung“ der Jugend als kaufkräftige Klientel, was etwa Jean Améry zu der kulturkritischen Einschätzung bringt, die „Vollamerikanisierung der deutschen Jugend“ habe sich

18 Es wird sich auch an Etiketten einer illusionslosen, kritischen und anpackenden Jugend mit „nüchternem Realitätssinn“ bedient (Oase 1961), wahrscheinlich mit der Rezeption von Helmut Schelskys Buch über die „skeptische Generation“ (1957). 19 Das Gedicht kursiert vermutlich über den Pressedienst der Jungen Presse, anscheinend aber auch an Orten, wo sich Jugendliche treffen: So geben Leverkusener Schüler an, es in einem österreichischen Jugendlager gefunden zu haben (CeDist 1960).

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verwirklicht (Lindner 1986: 278f.). Für diesen Übergang zwischen „Halbstarken“-Krawallen20 und Teenager-Kultur, auch in der öffentlichen Wahrnehmung (Siegfried 2000: 586), steht sinnbildlich der Artikel einer oberbayerischen Schülerzeitung: „Der Halbstarke ist tot – es lebe der Teenager“ (Maulwurf 1959). Abbildung 1: Gedicht „An die Schwachen“

Quelle: discipulus: Zeitschrift der Berufs-, Mittel- und Höheren Schulen der Landeshauptstadt Wiesbaden 1, 2 (1957): 2

20 Die Debatte um „Halbstarke“ wird auch nach 1958 vereinzelt in den Schülerzeitungen thematisiert. Die „Halbstarken“ als Negativfolie werden in der öffentlichen Wahrnehmung in den 1960er Jahren von den „Rockern“ abgelöst (Lindner 1996: 228ff.).

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Der Übergang vom „Halbstarken“ zum Teenager bzw. zum Twen für männliche Jugendliche (Lindner 1986: 278, 282) leitet einen Wandel in den Schülerzeitungen im Bezug zu Berichten über die USA ein. Es zeigt sich auch ein Wandel in der Auseinandersetzung mit Jugendkultur bzw. einer Kultur der Teenagers und Twens, die bis zum letzten Drittel der 1950er Jahre in den Schülerzeitungen allenfalls als US-amerikanisches Phänomen aus der Ferne betrachtet wurde (Libellus 1955). Die Erfahrung, dass Jugendliche anhand von Äußerlichkeiten identifiziert und schematisch dargestellt werden, scheint die Redakteure sensibilisiert zu haben: Sie identifizieren die Teenager und Twens als Ausdruck einer kauf- und konsumierbaren Jugendkultur. Zugespitzt stellt eine Mannheimer Schülerzeitung das Bild des „deutsche[n] Twen“ mit Zigarette, Frisur, Hose und Schuhen „made in USA“ dar, unterm Arm das „Orig. franz. Magazin (made in GERMANY)“ (Transistor 1962; Abb. 2). Teils wird der Wechsel von den „Lederjacken und Nietenhosen“ des „Halbstarken“ zum lässigen Anzug des Twen zwar ironisch als Fortschritt proklamiert (Heimspiegel 1961), deutlich ist aber die Abneigung gegen das florierende „geschäft mit der jugend“ (Gongschlag 1961). Eine Ausnahme, wenn auch unter anfänglichem Argwohn beäugt (Brennpunkt 1960), bildet die zwischen 1959 und 1971 erscheinende Zeitschrift twen, die unter den Schülern der Höheren Schulen großen Zuspruch erhält – so schwärmt bspw. der Zeitzeuge Carl Eichholz (Jahrgang 1942) noch heute von der twen. Die Zeitschrift beeinflusst mit ihrer außergewöhnlichen Aufmachung auch das Layout der Schülerzeitschriften. Das war mit der Durchsetzung des Foto-Offset-Verfahren in den 1960er Jahren als standardisiertes Produktionsverfahren bei Schülerzeitungen möglich und gestattete den Redakteuren zuvor ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten (m+z 1963).21 Zuvor waren Abzugsverfahren und der Buchdruck bei Schülerzeitungen üblich.

21 Die Beliebtheit von twen war ungewöhnlich, denn den zuvor „von Erwachsenen fabrizierten Jugendzeitschriften“ misstrauten die Schülerredakteure, so das Urteil eines der zeitgenössisch besten Kenners der Jugendpresse, Konrad Friesicke (1954: 305). Zur Wirkung der twen auf die Gestaltung der Jugendpresse vgl. Westphal/Friesicke (1967: 218), zur Wirkung auf die „visuelle Kultur im Deutschland der 60er Jahre“ vgl. Koetzle (1997: 42). Vergleichbar war in der DDR ab 1963 die Aufmachung der Zeitschrift Sibylle, die zwischen 1956 und 1995 erschien (ebd.: 205) Zur Gestaltung von Schülerzeitungen als Ausdruck des Verhältnisses zur Schule und zu einer „jugendeigenen“ Ästhetik vgl. Kabaum (im Druck).

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Abbildung 2: „Der deutsche Twen“

Quelle: Transistor: Zeitschrift von und für Mannheimer Berufsschüler 2, 2 (1962): 2.

Eine Diskussion über den amerikanischen Einfluss auf das Bild des „deutschen Twen“ oder eine Analyse der von amerikanischen Filmen, Rock ’n’ Roll und den „Halbstarken“ etablierten US-amerikanischen Populärkultur findet sich selten. Zuweilen zeichnet sich dieser Bezug ab, etwa wenn geschrieben wird, dass das Wort Twen „amerikanisch genug ist, um sich als schlagkräftig zu erweisen“ (Schmierfink 1959: 11) oder wenn „die Jugend“ einfordert, wegen ihrer Mode und Musik keine „proamerikanische Einstellung“ von den Erwachsenen vorgeworfen zu bekommen (Kladde 1956: 10). Im letzten Drittel der 1950er Jahre setzt ein Wandel in der Darstellung der USA innerhalb der Schülerzeitungen ein, die persönlichen Berichte über die USA werden in dieser Zeit weniger. Vielleicht hängt dies mit dem Auslaufen der staatlich organisierten Austauschprogramme 1956 zusammen (Füssl 2001: 627), möglicherweise verlieren die USA nach der Flut an Reiseberichten im Buchhan-

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del und dem zunehmenden Tourismus auch an Reiz (Schildt 1995: 416f.). Es kommen in den 1960er Jahren nun häufiger Amerikaner in den Schülerzeitungen zu Wort, die an einem Austausch nach Westdeutschland teilgenommen haben bzw. gerade teilnehmen (Pauke 1962). Amerikanischer Besuch in der Bundesrepublik wird allgemein häufiger, der fremde Blick wird zugelassen: Wir, die Deutschen, sind inzwischen selbstbewusst genug, uns zu zeigen und uns von Amerikanern beobachten und beurteilen zu lassen. Während Umfragen zufolge die USA in dieser Zeit in der westdeutschen Bevölkerung beliebter werden (Gassert 2001: 947), werden die USA-Berichte in den Schülerzeitungen zunehmend abstrakter und eher politisch-analytisch. Es gibt mehr Berichte über die Innenpolitik der USA; von besonderem Interesse sind dabei die Politik der Rassentrennung und die Lebensbedingungen der African Americans (Puck 1965). Selten wird mit US-Amerikanern ein Dialog geführt, wie etwa die Schülerzeitung Ikaros mit dem Leiter des Amerikahauses in Köln (Ikaros 1957).

S ELBSTBEWUSSTES A UFTRETEN

UND VIEL

K RITIK

Die Auseinandersetzung mit der öffentlichen Wahrnehmung von „Jugend“ und die Distanzierung von einer konsumierbaren Jugendkultur der „Teens und Twens“ schwindet rasch bis Mitte der 1960er Jahre,22 vielleicht weil die verstetigte öffentliche Wahrnehmung einer jugendlichen Teilkultur sie alltäglicher erscheinen ließ (Sarasin 2013). In jedem Falle stellt sich Anfang der 1960er Jahre bei den Schülerzeitungsredakteuren ein steigendes Selbstbewusstsein ein. Die von Erwachsenen diagnostizierte „Teenager-Sprache“ wird belächelt (Weps 1960; Forum 1963) und zeigt die mit der Auseinandersetzung mit den „Halbstarken“ langsam eintretende Emanzipation von der Elterngeneration. Die Rechtfertigung der eigenen Interessen, wie in den 1950er Jahren bspw. die Vorliebe zum Jazz, wird abgelöst von einer ironischen Distanzierung gegenüber den Versuchen der Erwachsenen, die Jugend zu verstehen oder zu deuten. „Haben Sie Schwierigkeiten mit Ihren Kindern?“, fragt eine Marburger Schülerzeitung 1962, dann „laufen Sie geschwind zum nächsten Zeitungskiosk und lassen sich wahllos

22 Die Auseinandersetzung mit „Gammlern“ 1965/66 und der Sichtweise der Erwachsenen darauf fällt noch in diese Art des Sprechens. Das Ideal des Nichtstuns, das im „Gammler einen besonders zugespitzten Ausdruck fand“, war bei Gymnasiasten viel beliebter als bei Schülern anderer Schularten (Siegfried 2006: 44; 399ff.). Bundeskanzler Ludwig Erhard machte sich zum Gespött mit seinem persönlich geführten Kampf gegen die Gammler.

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einen Packen neuester Zeitschriften“ und deren Ratschläge geben (Procontra 1962: 5). Oder wenn Bundesfamilienminister Würmeling konstatiert, die Jugend sei schlechter dran als früher, weil „eine verrottete Erwachsenenwelt Schmutzkübel auf sie hinunterschüttet“, heißt es im Kommentar: „Bravo, Herr Minister! Das tut unserer Halbstarkenseele gut“ (Transistor 1961). Jugendkultur scheint nun alltäglich genug, um direkter in einer Schülerzeitung Platz haben zu dürfen. Denn die Schüler werden zunehmend freizügiger in der Mitteilung über ihr Freizeitverhalten, verbunden mit einer offen kommunizierten Distanz zu den Eltern und Lehrern. So wird z.B. davon gesprochen, noch nicht wie die Erwachsenen „nach einem konformistischen Schema der Gleichgültigkeit“ zu leben (Kreisel 1963); es wird von Kneipengängen (Oase 1962), Teenager-Feten mit „petting“ in „verdunkelten Ecken“ (Wir 1964) sowie dem „süße[n] Leben in den Jugendlokalen“ berichtet (Blende 1965), was in dem Aufsehen erregenden Beitrag des Gymnasiasten und späteren Journalisten Rolv Heuer unter einem Pseudonym in der konkret einen Höhepunkt findet (Gruwe 1965).23 Dass solch eine freizügige Darstellung möglich ist – mit ihrer Grenze bei der weiterhin praktizierenden Zensur durch die Schulleitung –, spricht für eine Liberalisierung seitens der Erwachsenen. Hier bekommt der von Helmut Klages diagnostizierte „spontane [ ] Wertewandel-Schub“ einen Ausdruck (Klages 1997; ders. 1998: 702). Die „Beatbegeisterung“ Mitte der 1960er Jahre „erfasst die Gymnasien in ganz anderer Weise als noch Rock ’nʼ Roll und Teenagermusik“ (Maase 2003: 11). Jazz findet sich nun kaum noch und wird von der Beatmusik abgelöst: „Die Beatjünger sind heute das, was die Jazzfans lange Zeit in Deutschland auch waren: Anhänger einer nicht gesellschaftsfähigen Musik“, heißt es aus Recklinghausen (Rostra 1966: 48). Selbstsicher wird von der Beatkultur gesprochen, in der „alle Sehnsucht aller Jugend dieser Welt“ liege (Welt 1967); der „Pilzkopf ist ein Dickkopf“ und „fordert Toleranz“, heißt es (selbst) aus Radolfzell (Heulboje 1966). Man schreibt über die Tücken der Liebesbeziehung, die Beeinflussung durch Massenmedien und über die Verachtung der älteren Generation. An die Stelle der Ironie, die man bis Anfang der 1960er Jahre in den Texten in der Auseinandersetzung mit Jugendbildern findet, tritt nun das Selbstverständnis als Jugend, die mit der Beatkultur ihren eigenen Stil gefunden haben will und sich deutlich von den älteren Generationen abzusetzen sucht. Es findet sich nun auch

23 Diese Schülerreportage ging aus einem Preiswettbewerb der konkret hervor, es folgten weitere Abdrucke von anderen Autoren in den Heften Februar und März 1965. Das Heft mit dem Artikel von Heuer kam auf die Liste jugendgefährdender Schriften.

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mehr Mode – natürlich die aus England, von der Carnaby Street (Wfu 1967; Fragezeichen 1968; Abb. 3). Abbildung 3: „Beat und die Jugend“

Quelle: Kontakt: Schülerzeitung der Christian-Timm-Mittelschule in Rendsburg (1965): 32-33

Zur Identifikation mit anglo-amerikanischer Jugendkultur gesellt sich in den Schülerzeitungen 1967/68 eine stärkere Politisierung, der Ton wird zunehmend härter und kritischer (Liedtke 1997: 311).24 Man müsse aufpassen, heißt es in einer Stuttgarter Schülerzeitung, dass die „Konsumwerbung“ nicht aus dem „revolutionären Impuls der Jugend Kapital“ schlage (Wecker 1969: 32). Oder man setzt sich „bewusst von den Erwachsenen ab“, etwa mit der Behauptung, eine eigene „Jugendkultur geschaffen“ zu haben, wobei aber gleichzeitig gewarnt wird, dass „gerade auf diesem Gebiet eine starke Manipulation seitens der Industrie stattfindet“ (Insulaner 1969: 12).25 Die Provokation wird wie in der Schülerbe-

24 Kritisch dazu Ritzi (2011: 51): „Die Schülerzeitungen sind politischer geworden, weniger vom Umfang der Berichterstattung als im Sinne eines kritischen Journalismus.“ 25 Artikel, die versöhnlich zwischen Erwachsenen und Protestierenden vermitteln wollen, gibt es selbstverständlich auch, etwa Waldhorn (1968).

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wegung in vielen Schülerzeitungen ein wichtiger Teil, vor allem über die Themen Sex und Sexualaufklärung, wobei diese Themen jedoch nicht zwangsläufig einem tatsächlichen Wunsch nach Liberalisierung entspringen (Apel 2011: 20; Weiland 1968). Abbildung 4: „Oskar Kolle“

Quelle: Contact, Berufsschule Wendenstraße, Hamburg (1968): 12

„Beinahe jede fünfte Schülerzeitung kann stolz auf irgendeinen Skandal verweisen“, heißt es im Handelsblatt (Steinhausen 1968), und der Spiegel konstatiert im selben Jahr zu seinem Titelthema: „Keine Studenten-, kaum eine Schülerzeitung, in der nicht Descartes paraphrasiert würde: ‚Coito, [sic] ergo sum‘“ (Spiegel, 18.11.1968: 52). Die Grade dieser Provokation sind unterschiedlich: Teils versucht man über Umfragen den Status quo der Sexualaufklärung unter den Mitschülern zu erfragen (Zeze 1967; Flaschenpost 1969), was selbst der hessi-

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sche Kultusminister Ernst Schütte verbot, der sich zuvor für die Pressefreiheit der Schülerzeitungen eingesetzt hatte (Puhle 1968: 42). Die Provokation gerät teils auch plump, etwa wenn es in der später von der Schulleitung verbotenen Ausgabe der Schülerzeitung spectrum (1970) heißt: „Beim einen oder anderen kommt es auf der Tanzfläche zum heimlichem Orgasmus – für manche Mädchen zum ersten Mal in ihrem Leben!“ Gleichwohl hat es auch eine seriös beabsichtigte Aufklärung schwer: So wird nach Besprechungen von Aufklärungsbüchern an der Hamburger Luisenschule eine Redakteurin der Schule verwiesen und der verantwortliche Lehrer strafversetzt (Titellose 1969; Spiegel, 19.1.1970: 135). Vom nonkonformistischen Potential versuchen Schülerbewegungen zu profitieren, indem sie die Schülerzeitungen als „Basispresse im besten Sinne“ zur Mobilisierung nutzen wollen. So entstehen – vermutlich bis Mitte der 1970er Jahre – viele neue, aber kurzlebige Schülerzeitungen sowie „unabhängige“, jugendeigene Zeitungen (Durchleuchter 1977: 49; Liedtke 1997: 310f.; Spiegel, 15.4.1968: 78ff.). Die Beteiligung junger, linksorientierter Lehrer an dieser Entwicklung führt auch zur Abgrenzung von Schülergruppen zu konservativen Vereinigungen (Linde 2011: 29; dies. 2010). Von einer allgemeinen Radikalisierung der Schülerzeitungen kann nicht gesprochen werden (Ritzi 2011: 50). „Unabhängige“, jugendeigene Zeitungen sowie Provokation und Tabubrüche in Schülerzeitungen finden sich auch in den USA (Divoky 1969; Vacha 1979: 36), werden aber von den westdeutschen Schülerzeitungen nicht thematisiert. Vielmehr zeigt sich ein janusköpfiges Bild: Einerseits wird US-amerikanische Jugendkultur dargestellt und voller Sympathie von der Jugendopposition berichtet, etwa von der Folk-Bewegung oder den Hippies (Welt 1966; Paulinum 1969). Andererseits werden die Berichte zu den USA allgemein kritischer und schärfer, was sich z.B. in der Auseinandersetzung mit der politischen Kultur und insbesondere mit dem Vietnamkrieg zeigt. So wird abwertend davon gesprochen, dass US-amerikanische Politiker nicht mit politischem Inhalt, sondern mit „Volksfesten“ um die Wählergunst kämpften (Prisma 1965), oder dass die USA einen „schmutzigen Dschungelkrieg“ führten, der zur „Materialschlacht der Amerikaner“ geworden sei (Gasometer 1965). Mitunter bezieht man auch mit drastischen Bildern auf dem Titelblatt Stellung, mit einem Totenkopf mit dem Schriftzug „Vietnam“ auf der Stirn oder einem durch Napalm verbrannten Kind (Welt 1968; Contact 1968). Eine allzu euphemistische Darstellung der USA verbittet man sich nun (Splitter 1965: 18). Beispielhaft für diese Entwicklung steht ein Artikel einer Bremer Schülerzeitung: Während der Protest der USamerikanischen Jugendlichen unterstützenswert sei – sie befreiten sich „aus der kleinbürgerlichen, chauvinistischen und puritanischen Gedankenwelt ihrer El-

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tern“ –, dienen die USA gleichzeitig als Negativfolie, denn Zustände „wie in den USA“ seien zu vermeiden (Voila 1969). Die schärfere Kritik an den USA lässt vermuten, dass in den Schülerzeitungen jetzt mehr linke, anti-amerikanisch gesinnte Aktivisten zu Wort kommen bzw. die Schülerzeitungen prägen, deren Zahl seit der zweiten, „amerikanischen“ Phase des Vietnamkrieges zugenommen hat. Allerdings lässt sich nicht davon ausgehen, dass die Schülerzeitungen „krass anti-amerikanisch“ und „von starken pazifistischen Grundzügen geprägt“ sind, wie der Informationsdienst für die Werbewirtschaft – Schülerzeitungen finanzieren sich hauptsächlich über Werbung – zu berichten weiß (Hartmann 1969: 363). Eine ähnliche Entwicklung in der Darstellung wie zu den USA zeigt sich jedoch weniger im Hinblick auf Großbritannien und Frankreich. Das in den 1950er Jahren bemerkbare Staunen über die kulturelle Vielfalt und den vielen Verkehr in den Metropolen London und Paris lässt nach, ebenso Berichte von Reisen per Anhalter. Das touristische Interesse an den Ländern bleibt gleichwohl präsent, nicht zuletzt wegen der Klassenfahrten. Britische Mode und Musik halten unverkennbar Einzug in die Darstellungen, jedoch weniger, als man erwarten könnte infolge der gestiegenen Nachfrage an Austauschen auf die Insel durch die Beatbegeisterung (Siegfried 2000: 599).

F AZIT Es hat sich gezeigt, dass die Epochensetzung der langen 1960er Jahre zur Kennzeichnung tief greifender Gesellschaftsumbrüche auch bei der bundesrepublikanischen Jugendkultur und ihrer Westernisierung sinnvoll erscheint. Reflexionen der größtenteils bürgerlichen Gymnasiasten über Jugend und Jugendkultur finden sich nennenswert erst im Zuge der Jugendkrawalle 1956/57, vor allem in Auseinandersetzung mit den Erwachsenen und deren Jugendbildern. Zunehmend freizügiger stellen die Schüler darauf ihre eigenen Freizeitaktivitäten dar und behaupten ihre Distanz zum Geschäft mit den „Teens und Twens“. Berichte über Amerika finden sich in den 1950er Jahren häufiger, vor allem über Austauschprogramme und Besuche, und sind deutlich positiv und vorbehaltslos formuliert. In den langen 1960er Jahren nimmt ihre Zahl ab, inhaltlich werden sie politischanalytischer; zugleich kommen Amerikaner zu Wort, die über ihre Eindrücke in Westdeutschland berichten. Mit dem Aufkommen der Beatkultur wirken die Texte der Schüler selbstbewusster, die Distanzierung zur Jugendkultur aus den 1950er Jahren weicht einer Identifikation mit derselben. Die Provokation nimmt ab Mitte der 1960er Jahre zu und der Ton wird zunehmend schärfer, auch in der

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Darstellung der USA. Mit den Schüler- und Studentenbewegungen zeigt sich in den Schülerzeitungen deutlich eine dauerhaft diskursive Struktur bundesrepublikanischer Debatten über die USA, in der durch eine Abgrenzung von den USA oder durch eine Identifikation mit ihnen bzw. mit US-amerikanischer Teilkultur die eigene politisch-kulturelle Position ausgelotet wird (Becker 2006): Einerseits wird Kritik an den USA formuliert, solange sie als politischer („Kriegsführer“) und wirtschaftlicher Akteur („Monopolkapitalisten“) gesehen werden, andererseits auch Sympathie im Hinblick auf die oppositionelle Jugendkultur des Landes.

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Contact: Contact [Berufs-, Handels-, und höhere Handelsschule und Wirtschaftsgymnasium Wendenstraße, Hamburg] 25 (1968). discipulus: An die Schwachen (von einem Halbstarken), in: discipulus – Zeitschrift der Berufs-, Mittel- und Höheren Schulen der Landeshauptstadt Wiesbaden 2 (1957), S. 2. Filia+Filius: Ein Briefchen aus Amerika, in: Filia + Filius – Zeitschrift der Schüler beider Gymnasien von Stuttgart-Feuerbach 5 (1957), S. 128-129. Flaschenpost: Auswertung der Sexualumfrage, in: Die Flaschenpost – Schülerzeitung am Staatl. Ostseegymnasium [Timmendorfer Strand] 58 (1969), S. 13-15. Forum: Teens und Twen! Kennt ihr euer „Teenydeutsch“?, in: Forum [Gymnasium Dionysianum Rheine] 47 (1963), S. 38. Fragezeichen: London Carnaby Street, in: Das Fragezeichen – Schülerzeitung des Gymnasiums für Mädchen [Hamburg] 15 (1968), S. 10-14. Gasometer: Vietnam – oder Verteidigung der Freiheit???, in: Gasometer – Schülerzeitschrift des Gymnasiums Anna Sophianeum Schöningen 6 (1965), S. 10-11. Gongschlag: das geschäft mit der jugend, in: Gongschlag – Schülerzeitung der OHM-Oberrealschule Erlangen 8 (1961), S. 32. Heimspiegel: Wie ist der „Halbstarke“ heute?, in: Unser Heimspiegel – Rummelsberger Jugendzeitung 162 (1961), S. 5. Heulboje: My Generation – Ein Beitrag zur allgemeinen Entrüstung, in: Heulboje – Schülerzeitschrift des Gymnasiums Radolfzell/Bodensee 1/2 (1966), S. 22-23. HTS: Ist die amerikanische Jugend wirklich „amerikanisch“?, in: HTS – Schulzeitung der Hermann-Tast-Schule Husum 7 (1957), S. 74-75. Ikaros: Dissonanzen im amerikanischen Konzert, in: Ikaros – Schülerzeitschrift des staatlichen Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums Köln 7 (1957), S. 14-20. Insulaner: jugend heute, in: Der Insulaner – Schülerzeitung an der Lauenburgischen Gelehrtenschule [Ratzeburg] 64 (1969), S. 12-18. Isarspecht: Der „Isarspecht“ zu Besuch beim AFN, in: Isarspecht – Schülerzeitung am NRG [Neues Realgymnasium München], September (1957), S. 1-2. Jugend + Jazz: Sonderausgabe des digest der JPH [Junge Presse Hessen] und der Schülerzeitschrift „Der Kobold“, Februar (1960). Kladde: Halbstarke, in: Die Kladde – Schülerzeitung des Realgymnasiums und Gymnasium Limburg/Lahn 3 (1956), S. 10-11. Kreisel: Schön ist die Jugend oder: „Das einzig Positive dieses Lebensabschnitts“, in: Der Kreisel – Schülerzeitschrift am Freiherr vom Stein Gymnasium [Oberhausen] 3 (1963), S. 38-39.

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Libellus: Teenagers sind ganz anders, in: Libellus – KWG-Schülerzeitung [Kaiser-Wilhelms-Gymnasium Hannover], Oktober/November (1955), S. 11. m+z: Der Werbeträger Schülerzeitung, in: m + z; Junge Presse – Meinungen und Zeitungen 1 (1963), S. 16-18. Maulwurf: Der Halbstarke ist tot – es lebe der Teenager, in: Der Maulwurf – Schülerzeitung der Oberrealschule Mühldorf [am Inn] 7 (1959), S. 18. Nürnberg-Fürth: Meinungsforscher stellen fest: Jugend ist nicht „halbstark“, in: Nürnberg-Fürther Schülerzeitung [Verbund; hier Lokalausgabe Retorte – Gemeinsame Schülerzeitung des Realgymnasiums und des neuen Gymnasiums Nürnberg] 4, 1 (1956), S. 1; 4. Oase: Wir – die Jugend, in: Oase – Zeitschrift der Höheren Schulen von WanneEickel 2/3 (1961), S. 92-93. Oase: Und nach der Schule in die Kneipe, in: Oase – Zeitschrift der Höheren Schulen von Wanne-Eickel [Juli] (1962), S. 19. Pauke: Cheshire Boy Finds Germans Friendly and Pro-American, in: Pauke – Schülerzeitschrift des Albert-Schweitzer-Gymnasiums Leonberg 7 (1962), S. 16. Paulinum: der bart muss ab!, in: Neues Paulinisches Intelligenzblatt – Magazin für Schüler des Paulinums [Münster/Westf.] 5 (1969), S. 41-43. Pennäler: Halbstarke, in: Der Pennäler – Schulzeitung der Ulrich-von-HuttenSchule Schlüchtern 4 (1956), S. 10-11. Prisma: Parteiziel: Sieg im Wahlkampf, in: Prisma – Schülerzeitung des Gymnasiums Bietigheim 1 (1965), S. 4-5. Procontra: Ist so die Jugend 62? … was so in den Illustrierten steht …, in: Procontra – Schülerzeitschrift der Schülerinnen und Schüler des Gymnasium Philippinum und der Elisabethschule [Marburg] 2 (1962), S. 4-6. Puck: Rassenprobleme in den USA, in: Puck – Schülerzeitung der SchillerSchule [Bochum] März (1965), S. 21-22. Reporter: Jugend von heute!, in: Der Reporter – Schulzeitung an der Dechanatstrasse Bremen 8 (1955), o.S. Rostra: Beat – Jazz, in: Rostra – Schülerzeitung am Gymnasium Petrinum zu Recklinghausen 3 (1966), S. 48-51. Schmierfink: Der Trick mit dem Twen oder Der Halbstarke wird salonfähig, in: Der Schmierfink – Schülerzeitung am Alten Realgymnasium [München] 3 (1959), S. 10-11. Schulkurier: Das Gerede von den Halbstarken, in: Freiburger Schulkurier – Schülerzeitung der Höheren Schulen in Freiburg i. Br. 3/4 (1957), S. 2. Spectrum: Spectrum [Gymnasium im Alstertal, Hamburg] 29 (1970), zitiert nach: Verbot des „Spectrum“, in: Spectrum 30 (1971), S. 3.

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Splitter: Leserbriefe, in: Splitter – Schülerzeitung von Schülern des staatlichen Gymnasiums Coesfeld 1 (1965), S. 18-20. Titellose: die titellose – Schülerzeitung für die Luisenschule [Hamburg], Oktober (1969). Transistor: Bravo, Herr Minister! so könnte man sagen, in: Der Transistor – Jugendzeitschrift Mannheimer Berufs- und Fachschulen 5 (1961), S. 5. Transistor: Der deutsche Twen, in: Transistor – Zeitschrift von und für Mannheimer Berufsschüler 2 (1962), S. 2. UKW: Liebes UKW! in: UKW – Tübinger Schülerzeitung 4 (1959a), S. 30. UKW: Leserbriefe!, in: UKW – Tübinger Schülerzeitung 5 (1959b), S. 15. Voila: Schwarzmalerei oder Paradepferd der kommenden Entwicklung?, in: Voila – Schulzeitschrift des Gymnasiums Lesum [Bremen] 21/22 (1969), S. 15. Waldhorn: kritisch, nüchtern, furchtlos, in: Das Waldhorn – Unabhängige Schülerzeitung der Sachsenwaldschule Reinbek 45 (1968), S. 31-36. Wannsee-Kurier: Amerika – einmal anders, in: Wannsee-Kurier – Berliner Musterschülerzeitung 3 (1954), S. 8. Wecker: The subway is not the underground, in: Der Wecker – Unabhängige Schülerzeitschrift des Fanny-Leicht-Gymnasiums [Stuttgart] 14 (1969), S. 32-33. Welt: The beautiful people, in: Unsere Welt – Schülerzeitung am priv. Ernst Kalkuhl Gymnasium Oberkassel 41 (1966), S. 25-28. Welt: Unsere Welt – Schülerzeitung am priv. Ernst Kalkuhl Gymnasium Oberkassel, o.Nr. (1968). Welt: Vom hässlichen jungen Beatlein, in: Unsere Welt – Schülerzeitschrift des Gymnasiums Geesthacht/Elbe 1 (1967), o.S. Weps: Kleines Wörterbuch für Teenager und solche, die es werden wollen, in: Der Weps – Schülerzeitung; Höhere Schulen der Stadt Lohr am Main 5 (1960), S. 39-40. Wfu: Freche Mode aus London, in: Wir für uns – Schülerzeitung der Kreisberufsschule Rendsburg 42 (1967), S. 44-47. Wir: Atomtriebwerke keine Utopie mehr, in: Wir – Schülerzeitung des städt. neuspr. Gymnasiums und der ntw. hw. Frauenoberschule [Mettmann] 2 (1957), S. 10-11. Wir: Wenn die Eltern nicht zu Hause sind …: Parties, Feten, Hausbälle, in: Wir – Jugendeigene Zeitung in Stade 68 (1964), S. 54-56. Zeze: Sex: Aufgeklärt?, in: Zeze – Ceterum Censeo [Kaiser-Karl-Schule Itzehoe] 83 (1967), S. 13-28.

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„So apart from everything we’ve ever heard“ Die britische und US-amerikanische Krautrock-Rezeption in den 1970er Jahren A LEXANDER S IMMETH

Der Begriff „Krautrock“ ruft sehr verschiedene Assoziationen hervor. In der Bundesrepublik dominiert ein eher vages Bild, das in der Regel mit langen Haaren, Drogen oder endlosen Gitarrensoli verbunden ist; Krautrock wird oft als eher peinliche, dilettantische Episode bundesdeutscher Popgeschichte betrachtet, wobei zumindest (ehemals) Musikinteressierte trotz ihrer Abneigung dann meist doch noch ein bis zwei Gruppen nennen können, die ihrer Meinung nach „irgendwie ganz ok“ waren. In der angloamerikanischen Wahrnehmung hingegen steht „Krautrock“ überwiegend für eine experimentelle und außerordentlich vielfältige Phase westdeutscher Popmusik, die seit Beginn der 1970er Jahre eine tiefgreifende und bis heute andauernde Wirkung auf die transnationale Entwicklung des Pop ausgeübt hat. Britische und US-amerikanische Musiker, Kritiker und Kommentatoren benutzen und verstehen den Begriff „Krautrock“ seit Jahrzehnten als pophistorischen Referenzpunkt und Gütesiegel, selbst das Adjektiv „krauty“ hat als positiv besetzte, allgemein genutzte Beschreibung für die Grenzen des Üblichen überschreitende, experimentelle Klänge einige Verbreitung gefunden. Die bundesdeutsche Wahrnehmung beginnt sich erst seit kurzem der angloamerikanischen Auffassung anzunähern.1

1

Nicht nur in Großbritannien und den USA, sondern auch in anderen nationalen Kontexten wird Krautrock große Wertschätzung entgegengebracht, insbesondere in Frankreich und Japan. Die Verkaufszahlen in der Bundesrepublik fielen bereits zeitgenössisch bescheidener aus; die Gründe hierfür waren vielschichtig. Ein wesentlicher Grund war ohne Zweifel das staatliche Verbot der freien Künstlervermittlung – de facto ein Verbot professionellen Managements in der Bundesrepublik. Eine chronisch

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Diese offenbare Diskrepanz soll hier Ausgangspunkt sein für den Versuch, die Wahrnehmung des Krautrock im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten im Laufe der 1970er Jahre nachzuzeichnen.2

B EGRIFFLICHE UND E INGRENZUNGEN

POPULÄRMUSIKALISCHE

Bei „Krautrock“ wird das gegenwärtige angloamerikanische (und auch darüber hinaus gängige) Verständnis des Begriffs angelegt. Eine genaue begriffliche Eingrenzung ist im vorliegenden Fall wichtig, da die beschriebene Diskrepanz in der heutigen Wahrnehmung nicht zuletzt auch auf unterschiedlichen terminologischen Voraussetzungen beruht. Zunächst handelt es sich bei „Krautrock“ durchaus um einen Quellenbegriff, wobei sich die weit verbreitete Vorstellung, britische Medien hätten „Krautrock“ als ursprünglich pejorativ intendierte und auf den Jargon der beiden Weltkriege bezugnehmende Bezeichnung eingeführt, allerdings als falsch herausgestellt hat. Experimentelle bundesdeutsche Popmusik wurde in Großbritannien wie auch in den Vereinigten Staaten im Laufe der 1970er Jahre mit einer Vielzahl von Begrifflichkeiten versehen, aber nur außerordentlich selten als „Krautrock“ bezeichnet – im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo der Term unter einem Teil der Protagonisten und Beobachter (in wahrscheinlich ironischer oder selbststigmatisierender Absicht) am Ende der 1970er Jahre längst gang und gäbe war (Simmeth 2016). Transnational etablierte sich der Begriff „Krautrock“ erst retrospektiv. Ebenfalls für begriffliche Verwirrungen sorgte und sorgt neben „Kraut“ auch der Term „Rock“: Während man darunter in der Bundesrepublik bis heute in erster Linie eine von E-Gitarren dominierte Musik versteht, war etwa in den USA der 1970er Jahre auch bei rein elektronisch generierten Klängen ganz selbstverständlich etwa von Electronic Rock die Rede – eine Bezeichnung, die auch im Zusammenhang mit einigen der später unter „Krautrock“ gefassten Gruppen und Interpreten zunächst Anwendung fand. Nicht nur das: In den USA wird unter „Krautrock“ bis heute sogar in erster Linie elektronische bundesdeutsche Popmusik der 1970er Jahre verstanden.

negative Beurteilung durch die bundesdeutsche Kritik, wie mantraartig behauptet wurde, ist hingegen nicht feststellbar. 2

Beim vorliegenden Text handelt es sich im Wesentlichen um eine stark gekürzte Version zweier Kapitel aus Simmeth 2016; mit anderer Schwerpunktsetzung vgl. auch Simmeth 2015.

D IE BRITISCHE UND US- AMERIKANISCHE K RAUTROCK -R EZEPTION | 81

Kurzum: Um das Phänomen der experimentellen bundesdeutschen Popmusik und ihrer Wahrnehmung in Großbritannien und den Vereinigten Staaten ex post in den Griff zu bekommen, bietet sich aufgrund der verwirrenden Vielzahl zeitgenössischer Begrifflichkeiten und nationaler Unterschiede der Gebrauch der in den 1970er Jahren dort noch unüblichen, aber heute transnational dominierenden Sammelbezeichnung „Krautrock“ an. Eine direkt daran anschließende Frage ist, inwiefern dieser Begriff unter musikalischen Gesichtspunkten verstanden werden kann. Der Musikwissenschaftler Elmar Siepen hat einige Charakteristika der bundesdeutschen Pop-Avantgarde der 1970er Jahre herausgearbeitet, die sich mit dem hier angelegten und heute transnational gängigen Verständnis des Begriffs „Krautrock“ weitgehend decken (Siepen 1994: 49ff.). Danach war die Avantgarde insbesondere gekennzeichnet durch eine Negation bisher üblicher Gestaltungsprinzipien der Popmusik, wozu etwa ungewöhnliche Gruppen- und Instrumentenzusammensetzungen, die Abkehr von der bis dato üblichen Tonalität und Rhythmik, aber auch die konzeptionelle und klangliche Einbeziehung von Elementen der zeitgenössischen E-Avantgarde wie etwa der musique concrète oder der Minimal Music gehörten. Texte verloren an Bedeutung, die menschliche Stimme trat – falls es sich nicht von Vornherein um Instrumentalmusik handelte – als weiterer Klangkörper in Erscheinung. Aber auch der unkonventionelle Gebrauch von Ton-Effekten und elektronischen Klangkomponenten gelten als eines der herausragenden Charakteristika des Krautrock.3 Der Begriff „Krautrock“ deckt nach dem hier skizzierten Verständnis eine enorme stilistische Bandbreite ab: Manche Gruppen und Interpreten brachen mit Konventionen der Popmusik, behielten aber gängiges Instrumentarium bei, andere (wie vor allem die Elektroniker) bedienten sich gänzlich neuartiger Ausdrucksmittel und Darstellungsformen. Krautrock bezeichnet also keinen popmusikalischen Stil, sondern ist eine „Herkunftsbezeichnung“: Popmusik aus dem Land der „Krauts“. Stilistisch war Krautrock außerordentlich heterogen. Ein ge-

3

Bei diesem Begriffsverständnis sind andere, im In- und teilweise auch im Ausland kommerziell erfolgreiche bundesdeutsche Gruppen und Interpreten jener Zeit nicht mit eingeschlossen, nach Siepens Kategorisierung etwa der Politrock (z.B. Ton Steine Scherben, Floh de Cologne), der Jazzrock (z.B. Doldinger’s Passport), der deutschsprachige Mainstream (z.B. Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen) und der englischsprachige Mainstream (z.B. Scorpions, Triumvirat, Atlantis). Zum Krautrock hingegen gehören nach diesem Verständnis insbesondere (aber bei weitem nicht nur) Gruppen wie Amon Düül, Can, Cluster, Faust, Guru Guru, Harmonia, Kraftwerk, Neu!, Popol Vuh, Tangerine Dream oder Xhol Caravan, sowie diverse Solo-Interpreten und -Projekte.

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meinsames Charakteristikum jenseits konkreter musikalischer Gestaltungsmittel war der Wille zur „Emanzipation von der angloamerikanischen Vorherrschaft im Bereich der populären Musik“ (Siepen 1994: 49). Dabei waren die Akteure des Krautrock trotz aller Abgrenzungsbemühungen zugleich massiv von der angloamerikanischen Populärkultur und ihren Mechanismen beeinflusst und geprägt – nicht nur die Musiker, sondern insbesondere auch zentrale Akteure wie etwa Tonmeister, Vertreter der Musikindustrie oder der Medien. Eine Sonderrolle in vielerlei Hinsicht nahm der Impresario, Journalist, Veranstalter und LabelManager Rolf-Ulrich Kaiser ein, der ebenfalls stark von den Praktiken und der Ideenlandschaft der angloamerikanischen Popkultur geprägt war und auf dieser Basis eine bundesdeutsche Popmusikszene entwickeln wollte, die auf den Vorbildern und Ideengebern basierte, sich davon aber gleichzeitig auch emanzipierte. Nachfolgend wird die Rezeption des (so verstandenen) Krautrock in Großbritannien und den USA im Laufe der 1970er Jahre skizziert. Dabei wird erstens deutlich werden, dass die experimentelle bundesdeutsche Popmusik jenes Jahrzehnts in beiden nationalen Kontexten als erster innovativer und konstitutiver Beitrag zum Idiom des Pop wahrgenommen wurde, der außerhalb der angloamerikanischen Sphäre entstanden war. Zweitens wurde Krautrock trotz seiner stilistischen Vielfalt zunächst als etwas „Einheitliches“ und spezifisch „Deutsches“ kategorisiert und mit Begrifflichkeiten wie Teutonic Rock oder German Sound nationalisiert. Drittens ist im Verlauf der 1970er Jahre mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Popmusik auch eine Veränderung der Wahrnehmung festzustellen, die sich als Veränderungsprozess von einer Transnationalisierung in Richtung einer Translokalisierung beschreiben lässt: das Zurückweichen nationalisierender Zuschreibungen und die Charakterisierung spezifischer Sounds nach deren regionalem Entstehungskontext. In chronologischer Folge richtet sich im Folgenden der Blick zunächst auf das Vereinigte Königreich, wo Krautrock bereits ab Beginn der 1970er Jahre auf breites Interesse stieß, und danach auf die Vereinigten Staaten. In einem dritten Schritt wird die Rezeption in beiden Kontexten im letzten Drittel der 1970er Jahre skizziert und ein kleiner Ausblick auf die Entwicklungen in den folgenden Jahrzehnten gewagt.

A NFANG DER 1970 ER J AHRE : K RAUT DAS V EREINIGTE K ÖNIGREICH

ROCKT

Die Rezeption des Krautrock im Vereinigten Königreich fokussierte zu Beginn der 1970er Jahre insbesondere drei Gruppen, die folgend exemplarisch im Mit-

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telpunkt stehen sollen: Amon Düül II, Can und Faust. Während Amon Düül II Mitte der 1970er Jahre aus der öffentlichen Wahrnehmung langsam verschwanden und Faust nur etwas über ein Jahr lang eine zentrale Rolle spielten, standen Can und nach deren Auflösung 1978 auch die folgenden Solo-Projekte das gesamte Jahrzehnt hindurch im Lichte der medialen, popmusikalischen Öffentlichkeit.4 Ab Mitte der 1970er Jahre rückte darüber hinaus auch die elektronische Musik von Gruppen wie Tangerine Dream oder Kraftwerk vermehrt in den öffentlichen Fokus. Zu Beginn des Jahrzehnts jedoch standen zunächst insbesondere Amon Düül II, Can und Faust für eine neuartige, trotz ihrer stilistischen Vielfalt einheitliche, spezifisch (west-)deutsche Szene. Bereits im Frühjahr 1970 erschienen in der britischen Musikpresse erste Berichte über die „progressive“ Musik aus der Bundesrepublik: „Things are certainly beginning to happen in Germany“, befand etwa der Melody Maker (30.5.1970); „a new explosion, a new direction“ (ebd., 13.6.1970) wurde für die Popmusik prognostiziert, an der bundesdeutsche Gruppen entscheidenden Anteil haben würden. Dabei spielten von Beginn an Zuschreibungen eine Rolle, die sich in der britischen Krautrock-Rezeption der Folgejahre weiter verfestigen sollten: Der westdeutsche Sound wurde mit Begriffen wie „insane“, „frightening“ und „intense“ beschrieben, Eigenschaften, die zugleich als spezifisch „teutonische“ Note identifiziert wurden (ebd.). Darüber hinaus stand die Neuartigkeit der popmusikalischen Ausdrucksweisen im Zentrum der Aufmerksamkeit, nicht ohne Verweise auf die „klassische“ Ausbildung vieler Krautrock-Musiker oder deren Vergangenheit als professionelle Jazzmusiker. Krautrock erschien der überwiegenden Mehrzahl der Beobachter und Kritiker als anders als alles, was die angloamerikanischen Szenen bisher hervorgebracht hatten. Es waren – wie in der folgenden Skizze deutlich werden wird –

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Die britische Medienlandschaft im Zusammenhang mit Popmusik wurde in den 1970er Jahren von den großen Pop-Weeklies im Zeitungsformat dominiert, insbesondere dem Melody Maker, dem New Musical Express, Record Mirror, Disc oder Sounds. Hinzu kamen meist monatlich erscheinende, kleinformatige Pop- und Fachmagazine. Auch die Alternative Press spielte in der Krautrock-Rezeption eine wichtige Rolle, ebenso wie das Radio und die Tagespresse. Britische Pop-Medien wurden sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Kontinentaleuropa breit rezipiert, insbesondere von medialen Multiplikatoren und von Akteuren der Musikindustrie; für das Beispiel Bundesrepublik am Ende der 1960er Jahre vgl. dazu etwa zeitgenössisch Baacke 1968: 552ff. Britische Medien waren entscheidende Referenzpunkte sowie auch Katalysatoren der Transnationalisierung von Popmusik.

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diese Zuschreibungen und Urteile, die das Grundgerüst der britischen Rezeption des Krautrock in der ersten Hälfte der 1970er Jahre bildeten. Als erste Gruppe des Krautrock gelang Amon Düül II der Schritt in das Vereinigte Königreich, und das beschriebene Muster war von Beginn an deutlich sichtbar.5 „Their music is so apart from everything we’ve ever heard“6, hieß es symptomatisch in Disc; Amon Düül II sei „influenced by the great classical music tradition that’s so much part of German life – in particular Wagner.“ Die Neuartigkeit der Musik basiere auf einer Abkehr von den angloamerikanischen Gestaltungsprinzipien der Popmusik und einem Rückgriff auf die deutsche Musiktradition des 19. Jahrhunderts – oder was der Autor sich darunter vorstellte. Die Verbindung der in der Bundesrepublik so genannten „Musik-Kommune“ mit angeblicher wagnerianischer Tradition war und blieb wesentlicher Teil der britischen Amon Düül II-Rezeption. „It’s all there“, hieß es etwa auch im Melody Maker, „spacey gothic landscapes, lots of growling electronics, drums like a Panzer division, the whole Wagner in black leather bit.“7 Diese Amon Düül II zugeschrieben Eigenschaften, wiederum „nationalisiert“ als „aggressively Teutonic“,8 äußerten sich – so der Melody Maker weiter – insbesondere in der Rhythmik der Musik: „In almost every number there’s a driving […], pulsating rock beat“ (24.6.1972). Die Wahrnehmung als avantgardistisches Phänomen basierte darüber hinaus auf neuartigen Spielweisen, einer ungewöhnlichen Zusammensetzung des Instrumentariums (etwa mit zwei Schlagzeugen), auf dem improvisatorischen und psychedelischen, als besonders emotional wahrgenommenen Charakter von Live-Auftritten und auf einem als fremdartig empfundenen

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Der erste große Hintergrundbericht inklusive Interview erschien im Melody Maker, 12.12.1970; bis Mitte des Jahrzehnts folgten eine Vielzahl weiterer Reportagen. Eine erste Tournee fand im Sommer 1972 statt, was das Interesse weiter verstärkte; eine Reihe weiterer Tourneen folgten.

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Dieses und das folgende Zitat stammen aus Disc, 1.7.1972, „it represents a new European music, like it’s never been heard in this country before“, so etwa auch im Melody Maker, 24.6.1972.

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Melody Maker, 30.10.1971; vgl. dazu beispielsweise auch Disc, 1.7.1972 oder New

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Amon Düül II selbst – und nicht nur sie – wehrten sich in Interviews wiederholt, je-

Musical Express, 16.12.1972. doch vergeblich gegen nationalisierende Zuschreibungen und die Charakterisierung ihrer Musik als spezifisch „deutsch“. Mehr oder weniger lose mit der Gegenkultur verbunden, lag den Protagonisten des Krautrock nichts ferner als eine Berufung auf die deutsche Kulturtradition. Einzig Kraftwerk spielten mit nationalen Klischees, mehr dazu weiter unten.

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Habitus der Gruppe, etwa dem fehlenden Bandleader beziehungsweise den (scheinbar) fehlenden Hierarchien. Als bedrohlich galt jedoch insbesondere der mit den beiden Schlagzeugen produzierte, treibende und pulsierende Beat. Während die Verbindungen zur deutschen „Klassik“ bei Amon Düül noch auf eher eigenwilligen Interpretationen des Begriffs „wagnerianisch“ beruhten und etwas konstruiert wirkten, waren sie im Falle der Gruppe Can – neben Amon Düül II die frühesten Vertreter des Krautrock, die auf den britischen Inseln Beachtung fanden – konkreter Natur. Can umwehte von Beginn an ein starker Hauch von E-Avantgarde, was vor allem auf der Tatsache beruhte, dass die Gründungsmitglieder Holger Czukay und Irmin Schmidt Schüler Karlheinz Stockhausens gewesen waren. Diese Tatsache spielte in der britischen Rezeption eine herausragende Rolle und sollte nicht nur die Neuartigkeit der Musik unterstreichen, sondern auch einen besonderen „Anspruch“ signalisieren9. Can waren in den 1970er Jahren eine der populärsten Bands im Vereinigten Königreich, galten unter den bundesdeutschen Gruppen als „the most remarkable of all“ (Melody Maker, 30.10.1971) und „one of Europe’s greatest bands“ (ebd., 23.11.1974). Die schiere Anzahl der Berichte und Interviews, weitaus bessere Verkaufszahlen als in der Bundesrepublik, mehrere fast durchweg ausverkaufte Konzert-Tourneen und überwiegend positive bis begeisterte Kritiken waren in diesem Ausmaß für eine bundesdeutsche Gruppe bis dato einzigartig – und ob des avantgardistischen Charakters der Musik auch retrospektiv erstaunlich (Buckley 2012: 89). Die Gruppe war in der dominierenden Wahrnehmung „quite a distance ahead“ (Melody Maker, 6.5.1972), wobei wiederum Cans Wege der Produktion und Distribution – ein eigenes Studio als Übungs- und Aufnahmeort, bewusst einfach gehaltene Technik, Improvisation als Prinzip, Selbstvermarktung und weitgehende künstlerische wie wirtschaftliche Autonomie – auf dem im Gegensatz zur Bundesrepublik bereits höchst professionalisierten Musikmarkt Großbritanniens teils mit Verwunderung, teils mit Interesse wahrgenommen wurden (ebd., 30.10.1971). Can galten in der britischen Wahrnehmung wie auch Amon Düül II als „genuinely different to anything that Britain or America has thrown up“ (ebd., 5.2.1972; sehr ähnlich auch in Disc, 19.11.1974): intensiv, hypnotisch und, besonders wiederum wegen eines monotonen, „treibenden“ Beats, „unmistakably Germanic“ (ebd., 30.10.1971).

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Gründungsmitglied Irmin Schmidt wehrte sich wiederholt gegen diese Zuschreibungen und betonte, dass Stockhausen weniger Einfluss auf die Musik Cans habe als oft unterstellt („studying with him doesn’t imply that“), vgl. Melody Maker, 27.1.1973; so etwa auch im New Musical Express, 21.6.1975.

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Als dritte bundesdeutsche Formation erregte die Gruppe Faust in der ersten Hälfte der 1970er Jahre die besondere Aufmerksamkeit der britischen Fachwelt. „The Sound of the Eighties“ hieß es im März 1973 etwa im New Musical Express über ihre Musik – ein Sound der Zukunft, seiner Zeit voraus (3.3.1973). Auch Faust galten den Briten zu Beginn der 1970er Jahre als „part of a new and experimental movement“ (Disc, 8.7.1972) in der Popmusik, das in der Bundesrepublik seinen Ursprung hatte und sich auf dem britischen Markt zunehmend auszubreiten begann. Bei der Wahrnehmung der Gruppe, die sich unter der Regie des Journalisten Uwe Nettelbeck gebildet hatte und in einem Weiler namens Wümme zwischen Hamburg und Bremen lebte und arbeitete, stand zu Beginn insbesondere auch der technologische Aspekt im Mittelpunkt; ein Aspekt, der erst später in das Zentrum des transnationalen Pop-Diskurses und insbesondere in das Zentrum der Wahrnehmung des Krautrock rücken sollte: „The sheer brilliance of the effects they produce is stunning“ (ebd.)10, hieß es etwa in der Branchenzeitung Disc im Sommer 1972. Auch aus diesem Grund galten Faust wie Amon Düül II und Can als Pop-Avantgarde, ihre Produktionen wurden gar als „perfect definition of the term avant-garde“ (New Musical Express, 27.7.1974) bezeichnet. Neben dem unkonventionellen Gebrauch technischer Neuerungen und dem Einsatz von Alltags- und Maschinengeräuschen in der Klangproduktion stand aber auch die Bühnenpräsentation im Zentrum des Interesses: Faust absolvierten ihre Live-Auftritte in nahezu völliger Dunkelheit; das Equipment stand in der Mitte der Bühne, während an den Seiten TV-Geräte aufgebaut waren, die aktuelles Fernsehprogramm sendeten. Wie auch im Falle der beiden erstgenannten Gruppen deutete nichts auf Hierarchien oder einen Bandleader hin, bis dato scheinbar unverzichtbarer Teil der angloamerikanischen Popmusik – die Präsentation sollte die fehlenden Hierarchien, so die Band, bewusst transportieren. Nicht zuletzt aufgrund dieses unkonventionellen Habitus auf der Bühne – verbunden mit mindestens ebenso unkonventioneller, wesentlich auf technologischen Neuerungen und neuartigen Sounds basierenden Musik – galten Faust etwa dem New Musical Express als „most significant conceptual revolution in rock for ten years“ (3.3.1973), und mit dieser Einschätzung stand er keineswegs allein (Prendergast 2000: 283f.; Wilson 2006; Koch/Harris 2009).

10 Ein detaillierter Hintergrundbericht über die Gruppe Faust erschien etwa auch im New Musical Express, 23.12.1972; sie seien wegweisend für die Entwicklung eines PopIdioms jenseits der angloamerikanischen Tradition, hieß es da. Retrospektiv bestätigt wurde diese Einschätzung etwa in Prendergast 2000: 283f.

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Abbildung 1: Mehrseitiger Bericht über die bundesdeutsche Popmusikszene im britischen Melody Maker, Juni 1973. „MM Special on Germany’s Top Bands“

Quelle: © Time Inc. UK

Mitte der 1970er Jahre hatte sich Krautrock in Großbritannien für Multiplikatoren wie Journalisten und Radiomoderatoren weitgehend als Synonym für PopAvantgarde etabliert. Der britische Radiomoderator und DJ John Peel etwa verkündete im Jahr 1973: „It would not be stretching the truth to say that the most interesting and genuinely progressive music anywhere in the world is coming from Germany.“11 Im folgenden Jahr rückten Vertreter des Krautrock in den Mittelpunkt des Interesses, die noch radikaler mit dem angloamerikanischen Idi-

11 Aus einem Beitrag des DJs und Radio-Moderators John Peel in dem Magazin The Listener am 12.4.1973; Peel betonte besonders auch die überwiegend positiven Reaktionen auf seine Radio-Sendungen zum Thema Krautrock (vgl. Peel 2008: 195f.). John Peel war ein früher Anhänger und Promoter des Krautrock und entscheidender Multiplikator in Großbritannien.

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om des Pop brachen: die Elektroniker, allen voran Tangerine Dream.12 Und auch sie nahmen in der britischen Wahrnehmung innerhalb des noch jungen Genres der elektronischen Popmusik eine Avantgardefunktion ein: „Although folks working in the rockosphere have long tempered with electronics, few have sucessfully harnessed the facilities offered by synthesizer, Mellotron and electrified traditional instruments to such startling effect“, hieß es im Melody Maker (8.3.1975). Der elektronisch generierte Sound von Tangerine Dream erschien der Fachwelt und dem Publikum Mitte der 1970er Jahre als vollkommen neuartig, insbesondere auch anders als das, was bis dato angesichts von Gruppen wie Amon Düül II, Can und Faust als spezifisch „germanic“ oder „teutonic“ gegolten hatte. Anstatt eines aggressiven, pulsierenden oder treibenden Beats etwa hörte man von Tangerine Dream gegen Mitte der 1970er Jahre außerordentlich sanfte Klänge, was in der britischen Rezeption erstaunt zur Kenntnis genommen wurde: „Who’d have expected something as gentle as this could have come out of Germany? Perhaps that’s what’s so surprising about it“ (Melody Maker, 22.6.1974). Auch das statische Bühnenbild mit drei großen, blinkenden Türmen elektronischer Instrumente, die Gruppenmitglieder teilweise seitlich, teilweise mit dem Rücken zum Publikum, zusammen mit dem als vollkommen neuartig empfundenen Sound, erstaunte und begeisterte das britische Publikum. „During the numbers they were completely silent, completely motionless, as if transfixed by the sounds“, so beispielsweise eine Beschreibung des Publikums während eines Konzertes im Jahr 1975: „Nobody shuffled in his seat, nobody coughed. All eyes were on the show, even when there was nothing really to see. […] But immediately when the music stopped, the audience erupted into the most fantastic roar of clapping, cheering and whistling. […] The group creating this sort of hysteria was no glittery stardust hype, no crotch-brandishing macho rockers, no mike-swinging crowd pleasers. No, just three guys who sat with their backs to the audience in semi-darkness working synthesizers, producing dreamy sheets of sound that wafted over the mesmerised audience and transported them into some sort of a paradise world where everything is sweetness and light.“ (Melody Maker, 8.3.1975)13

12 Bereits im Jahr 1973 waren Tangerine Dream die meistverkaufte Import-Band in Großbritannien, vgl. Melody Maker, 6.4.1974. 13 Auf einer Tournee im Herbst des Folgejahres, die unter anderem durch die Kathedralen von Coventry und Liverpool sowie das York Minster führte, wurde das Publikum als ähnlich begeistert beschrieben, vgl. etwa Melody Maker, 25.10.1975; das Konzert in Coventry wurde von der BBC verfilmt und mehrmals gesendet, vgl. Tangerine Dream – Live at Coventry Cathedral, BBC 1975.

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Insgesamt wandelte sich die Wahrnehmung progressiver bundesdeutscher Popmusik im Vereinigten Königreich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre – entsprechend ihrer stilistischen Vielfalt – von Gruppe zu Gruppe. Nationalisierende Zuschreibungen und Stereotypisierung spielten dabei allerdings – in unterschiedlicher Intensität – durchgehend eine wichtige Rolle. Die bundesdeutsche Szene erschien in der britischen Rezeption als „einheitlich“: Die Gruppen wurden trotz ihrer enormen stilistischen Bandbreite als spezifisch „deutsch“ wahrgenommen und „homogenisiert“, mit oft widersprüchlichen Begründungen und Assoziationen (Stump 1997). Die Tatsache, dass Krautrock als erster innovativer Beitrag zur Popmusik von außerhalb der angloamerikanischen Sphäre galt, spielte dabei eine zentrale Rolle: Die nationalisierenden Zuschreibungen können als Teil eines Aushandlungsprozesses gesehen werden, der sich um den Versuch einer Einordnung des Phänomens Krautrock in den Sinnhaushalt des bis dato wirtschaftlich wie auch in kreativer Hinsicht rein angloamerikanischen Idioms der Popmusik entfaltete. Für eine Beschreibung der als neuartig wahrgenommenen Stile, die sich zu einem Teil oder wesentlich von diesem Idiom lösten oder gelöst hatten, boten sich für viele Beobachter offenbar zunächst Bezugspunkte in dem nationalen Kontext der Gruppen und Interpreten an. Wie sehr solche Zuschreibungen „von außen“ auch auf die Akteure zurückwirken konnten, wird an anderer Stelle noch deutlich werden.

A B M ITTE DER 1970 ER J AHRE : „G ERMAN S OUND “ IN DEN USA Im Unterschied zum Vereinigten Königreich erfuhr in den USA insbesondere „elektronischer“ Krautrock von Beginn an breite Resonanz.14 Gruppen wie

14 Die US-amerikanischen Popmedien basierten wie die britischen in erster Linie auf Print und Radio; das Fernsehen spielte in den 1970er Jahren noch kaum eine Rolle. Die Radiolandschaft unterschied sich von der britischen (und auch westdeutschen) allerdings nicht nur aufgrund der Größe des Landes, sondern auch aufgrund der Selbstverständlichkeit privater Sender: Mehrere tausend meist Mittelwellensender standen den Rezipienten zur Auswahl, ein großer Teil davon sendete in erster Linie oder ausschließlich Popmusik. Die im vorliegenden Fall wichtigsten Fachpublikationen für Popmusik im Printbereich waren unter anderem die traditionsreichen Branchenzeitungen Variety, Billboard, Cash Box und Record World, dazu eine Reihe von an junge Menschen gerichtete Zeitschriften wie Creem, Crawdaddy! oder der Rolling Stone, verschiedene Periodika der Alternative Press, aber etwa auch Fachzeitschriften für In-

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Amon Düül II, Can, Faust und andere, die in der britischen Musikpresse über Jahre als Teil der Avantgarde einer neuartigen Popmusik gefeiert wurden, blieben in den Vereinigten Staaten ein Nischenphänomen.15 Das hatte Auswirkungen auf die Rezeption bundesdeutscher Popmusik insgesamt, insbesondere auch in Form der damit verbundenen Zuschreibungen und Stereotypisierungen: Angesichts des wachsenden kommerziellen Erfolges war etwa Anfang 1975 in der Musikzeitschrift Creem symptomatisch von einem „Techno-Flash“ die Rede, die progressive bundesdeutsche Popmusik produziere einen „sound like science fiction“ (Creem, 3/1975). Während der technologische Aspekt in Zusammenhang mit den zu diesem Zeitpunkt in der Popmusik neuartigen elektronischen Instrumenten in der britischen Rezeption noch als ein (wenn auch wichtiger) Teil des gesamten Phänomens angeklungen war, wurde er in den USA ins Zentrum gerückt und bestimmte die Wahrnehmung des Krautrock für die nächsten Jahre. Die kommerzielle Basis für eine breite Aufmerksamkeit war spätestens zu Beginn des Jahres 1975 gelegt: „Virtually every U.S. label is in the market for the so called ‚German Sound‘“, hieß es im April des Jahres in der traditionsreichen Branchenzeitschrift Variety (2.4.1975); Popmusik sei damit „into the Teutonic phase of its evolution“ eingetreten (ebd.). German Sound war in der US-amerikanischen Wahrnehmung also in erster Linie „elektronischer“ Sound. Auseinandersetzungen mit der Technisierung der Popmusik und insbesondere auch deren Verknüpfung mit dem Space Age und Science Fiction waren zentrale Bezugspunkte der Krautrock-Rezeption. Den bundesdeutschen Akteuren wurden dabei Züge wie Maschinenhaftigkeit, Präzision, Effizienz und (auch aufgrund der nach US-amerikanischem Verständnis allzu statischen Präsentationsformen auf der Bühne) ein ausgesprochen kühler Habitus zugesprochen. Es waren Eigenschaften, die den gängigen Deutungen der britischen Rezeption – etwa dem treibenden und pulsierenden, stark emotionalisierenden Beat, der Betonung des Gefühls als unverwechselbar teutonischer Beitrag zum Idiom des Pop, die Bezüge zur klassischen Musiktradition – teils diametral widersprachen. Nichtsdestotrotz wurden diese Eigenschaften ebenso als unverwechselbar „deutsch“ stereotypisiert. Auch wenn die positive Resonanz auf den Krautrock auch in den Vereinigten Staaten überwog, waren die Reaktionen auf den Einzug kühler Effizienz in die Popmusik, die mit ihrer Technisierung

strumententechnik oder Heimelektronik, die teilweise mit ausführlichen Berichten über neue popmusikalische Trends aufwarteten. Nicht zuletzt nahm auch die überregionale Tagespresse erheblichen Anteil an der Rezeption des Krautrock. 15 Unter US-amerikanischen Musikern allerdings war die Wertschätzung bereits in den frühen 1970er Jahren sehr hoch, vgl. Schober 1979: 194.

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und mit elektronischen Instrumenten in Verbindung gebracht wurde, allerdings durchaus gemischt. Es entspann sich eine Auseinandersetzung darum, inwiefern elektronische, „synthetische“ Popmusik überhaupt „authentisch“ und „echt“ sein könne. Die konkreten Referenzpunkte der Debatten um den German Sound waren dabei insbesondere Tangerine Dream und Kraftwerk. Bereits frühe Reaktionen auf Tangerine Dream im Herbst 1974 spiegeln die US-amerikanische Rezeption symptomatisch wider. Die einen – wie etwa die auflagenstarke, linksliberale Zeitschrift Rolling Stone – machten „three incredibly visionary German kids“ aus, deren Album „amazing [and] the most effective mating of the mellotron and synthesizer to date“ (12.9.1974) sei, während andere, wie beispielsweise die landesweit breit rezipierte Musikzeitschrift Creem, im September 1974 den „hype on Tangerine Dream“ nicht nachvollziehen konnten und ihnen jegliche Originalität absprachen (Creem, 9/1974).16 Die einen lobten Tangerine Dream als „not your normal bunch of music makers“, die den Hörern mit ihren Klangwelten eine „genuine listening experience […] from outer space“ (Cash Box, 3.5.1975) böten, die anderen meinten, ihre Musik sei schlicht „cold“ (Creem, 8/1975). Eine andere Fachzeitschrift wiederum fand genau in der „Kühle“ der Musik ihre innovative Qualität als „one of the truly easy listening synthesizer [bands] amid the sea of violent overstatement“ (Contemporary Keyboard, 9-10/1975) die Fachzeitschrift Stereo Review bewertete den German Sound der „three young Teutonic bloods“ (Stereo Review, 11/1975) als einen „cross between Goethe and Rommel, between the Ode to Joy and Deutschland uber Alles.“ Im Zentrum der Wahrnehmung blieb der technologische Aspekt der elektronischen Popmusik. „It’s fascinating to see what technology can accomplish“ (Variety, 13.4.1977; ähnlich Washington Post, 3.4.1977), hieß es im Rahmen der ersten Tournee von Tangerine Dream in den Vereinigten Staaten im Jahr 1977, „rarely has the impact of modern technology on music been more strikingly illustrated“ (Washington Post, 5.4.1977). Offenbar waren die Konzerte auch Anlaufstellen für technologisch interessierte Musiker, am Rande der Konzerte „musicians frantically wrote notes and musical notations“ (Cash Box, 18.6.1977)17 – ein Indiz für die wichtige Rolle des Krautrock als Avantgarde der elektronischen

16 Die Zeitschrift Crawdaddy! wunderte sich, dass Tangerine Dreams Album Phaedra in den USA auf eine so große Resonanz gestoßen war, befand die Gruppe aber als „the real champions of electronic sound“ (Crawdaddy!, 11/1974). 17 Bereits in den ersten US-amerikanischen Monographien über elektronische Popmusik spielten Tangerine Dream und deren Gründungsmitglied Edgar Froese – wie die gesamte bundesdeutsche Elektronik-Szene – eine zentrale Rolle, vgl. Griffiths 1979.

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Popmusik. Der Rückbezug auf das Space Age wurde besonders oft bemüht, um die Technisierung der Popmusik und die Rolle von Tangerine Dream zu verbildlichen: Tangerine Dream und ihre Instrumente seien „symbols of the space age“ (Washington Post, 5.4.1977), sie produzierten „space tripping […] future music“ (Los Angeles Times, 24.4.1977) und, so hieß es, „cosmic music for cosmically inclined audiences“ (Billboard, 30.4.1977)18. Die erwähnte negative Kritik an der „synthetisch“ hergestellten Tangerine Dream-Musik wiederum war insbesondere von der Vorstellung beeinflusst, elektronische Instrumente und ihre Möglichkeiten der Klangproduktion und Klangmanipulation hätten mit „echten“, mit „authentischen“ Instrumenten kaum mehr etwas gemein; von „tricks“ und „simulations“ (New York Times, 7.4.1977) war dahingehend mitunter die Rede, auch von einer „occasionally intimidating“ (Washington Post, 5.4.1977) und einer manchmal „menacing“ (ebd., 3.4.1977) Erfahrung der sich vollziehenden Technisierung der Popmusik. Interessant an dieser Stelle ist, dass – wenn auch unter vollkommen verschiedenen Vorzeichen – Krautrock wie bereits im Vereinigten Königreich als etwas „Bedrohliches“ wahrgenommen wurde. Im Falle der USA war die Krautrock-Rezeption wesentlicher Teil der Auseinandersetzung um Sinn und Unsinn der elektronischen Popmusik insgesamt. Kraftwerk waren neben Tangerine Dream – und am Ende der 1970er Jahre vor Tangerine Dream – die kommerziell erfolgreichsten Interpreten des Krautrock in den USA und weltweit. Mit ihrem Album Autobahn erreichten sie – ein bis zu diesem Zeitpunkt für eine bundesdeutsche Gruppe einmaliger Erfolg – Anfang 1975 innerhalb weniger Wochen nach Erscheinen die Top Five der Billboard Album-Charts, die in den 1970er Jahren und darüber hinaus transnational als wichtigster kommerzieller Gradmesser in der Popmusik galten. Unter der Rubrik „First Time Around“ sah Billboard die Gruppe bereits im Januar des Jahres „near the nadir of the German electronic trend“ (11.1.1975), im April gehörte das gleichnamige Titelstück Autobahn zu den meistgespielten Songs im USamerikanischen Radio.19 Im Zuge von stilistischen Kategorisierungen und Einordnungsversuchen war der avantgardistische Charakter der als vollkommen neuartig empfundenen Klänge Konsens: „The quartett is pushing new frontiers

18 Die Bezeichnung „kosmische Musik“ war in der Bundesrepublik bereits in der ersten Hälfte der 1970er Jahre um Rolf-Ulrich Kaiser und seinen Labels aufgetaucht. Edgar Froese von Tangerine Dream beanspruchte die Idee zu dieser Bezeichnung im Streit mit Kaiser für sich. 19 Vgl. etwa den Gavin Report 1044-B vom 9.4.1975, Rock & Roll Hall of Fame Library & Archives, Cleveland, Ohio; siehe auch „The FM Airplay Report“ in der Branchenzeitung Record World im selben Monat.

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[…] to become a significant part of progressive music“, so etwa die Branchenzeitung Cash Box (11.1.1975). Die Beurteilung dieser Avantgardefunktion fiel wie bereits bei Tangerine Dream auch im Falle Kraftwerks ambivalent aus: Während manche die Band als „one of the most important new acts“20 bezeichneten, hoben andere in pejorativer Art und Weise die präzise und kontrollierte „Maschinenhaftigkeit“, die Emotionslosigkeit, das angeblich fehlende Gefühl und die „Kälte“ der Musik sowie der Akteure hervor (Rolling Stone, 19.6.1975; Creem, 6/1975). Auch etliche Tageszeitungen schrieben von einer „clearly mechanical music for a machine age“21, „totally in control, unemotional and detached.“22 Zuschreibungen wie diese wirkten deutlich sichtbar auf das Wirken Kraftwerks zurück: Die Gruppe spielte offensiv mit Stereotypen, die ihr „von außen“ zugetragen worden waren. Technologie, Urbanität und die industrielle Moderne wurden zunehmend zu zentralen Säulen ihrer künstlerischen Konzeption. Als aufsehenerregendes Beispiel für die Wirkungen und Rückwirkungen dieser Selbst- und Fremdzuschreibungen erschien im September 1975 in der Musikzeitschrift Creem ein Interview, in dem überspitzte und ironisch intendierte Aussagen von Kraftwerk-Mitgliedern wie etwa über die angebliche „Überlegenheit deutscher Kultur“ oder ihre skurril anmutende, „maschinenhafte“ Selbstdarstellung von der Redaktion der Zeitschrift grafisch mit NS-Symbolik verknüpft wurden (Creem, 9/1975). Zuspitzungen dieser Art, die „zu Hause“ in der Bundesrepublik mehrheitlich auf scharfe Ablehnung stießen und unter Missachtung der Ironie teilweise sogar in programmatisch-politische Aussagen umgedeutet wurden, wurden in den Vereinigten Staaten Teil des Images von Kraftwerk, das die Gruppe nicht zuletzt in Reaktion auf die ihr dort zugetragenen Stereotypisierungen aktiv mitgestaltete und weiterentwickelte (Albiez/Lindvig 2011: 20f., 38; Buckley 2012: 72f.). Nicht nur in Interviews, auch mit ihrem Bühnen-Habitus während der ersten Tournee in den Vereinigten Staaten, versuchten Kraftwerk dem zugetragenen Klischee zu entsprechen: Das nahezu bewegungslose, statische Auftreten mit kurzen Haaren, Anzug und Krawatte rief ebenso Verwunderung hervor wie ihre Selbstzuschreibung als „Mensch-Maschinen“ und ihre als „maschinenhaft“ emp-

20 Vgl. Circus, 6/1975; dieser Artikel ist einer der wenigen, in dem der Begriff „Krautrock“ tatsächlich auch zeitgenössisch benutzt wurde. 21 Washington Post, 3.4.1977; von einer „highly industrialized, colder, and more machinelike“ Musik schrieb Chicago Tribune, 13.4.1975. 22 Circus, 6/1975; „icy, remote and low-pulsed“, so die Los Angeles Times, 26.3.1977; „music made by machines on ice“, so Creem, 6/1975.

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fundene Bühnenpräsenz (Variety, 9.4.1975; Cash Box, 19.4.1975).23 Im weiteren Verlauf der 1970er Jahre verfestigte sich der Ruf Kraftwerks als „forerunner of a new musical style“ (ebd., 29.4.1978)24, und auch über Kraftwerk hinaus wurde Krautrock im letzten Drittel des Jahrzehnts zunehmend als konstitutiver Beitrag eines transnationalen Idioms der Popmusik wahrgenommen. Abbildung 2: Krautrock meets Die Kunstismen (Hans Arp, El Lissitzky). Plakat der ersten Kraftwerk-Tournee durch die USA aus der Branchenzeitung Billboard, März 1975. Bezüge auf die klassische Moderne des frühen 20. Jahrhunderts waren Grundpfeiler der Kraftwerk-Ästhetik.

Quelle: © Ira Blacker (Mr. I. Mouse Ltd.)

23 Das Konzept der „Mensch Maschine“ legte Kraftwerk für den US-amerikanischen Markt dar (Rolling Stone, 3.7.1975). 24 Ab 1975 erschienen die Kraftwerk-Alben jeweils in zwei Versionen, einer mit deutschen Texten für den heimischen und einer mit englischen Texten für den globalen Markt. Gegen Ende der 1970er Jahre spielten Kraftwerk zunehmend mit einem kosmopolitischen Image, was sich unter anderem in Form von mehrsprachigen Texten oder Release Shows in mehreren Metropolen gleichzeitig äußerte.

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„While the Americans and the British have been busy playing their country-rock and their heavy metal“, so etwa die Washington Post Anfang 1977, „the Germans have quietly been developing a form of music that effectively and even frighteningly puts advanced musical technology to use“ (3.4.1977; auch Variety, 13.4.1977). Damit habe eine neue Ära der Popmusik begonnen: „Like it or not, the age of synthetic music is upon us“ (Washington Post, 5.4.1977). Abbildung 3: Ganzseitige Konzertankündigung für Tangerine Dream im britischen New Musical Express, Mai 1976. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war die so genannte Berlin School fester Bestandteil der elektronischen Avantgarde; lokale und regionale Zuschreibungen ersetzten zunehmend die nationalen Stereotypisierungen der frühen 1970er Jahre.

Quelle: © Time Inc. UK

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Mit Tangerine Dream und Kraftwerk standen in der US-Rezeption Mitte bis Ende der 1970er Jahre zwei Gruppen im Mittelpunkt der Krautrock-Rezeption, die zu diesem Zeitpunkt nicht nur musikalisch, sondern auch in ihren Präsentationsformen besonders radikal mit der „traditionellen“ Pop-Ästhetik gebrochen hatten. Die Assoziationen, die in der US-amerikanischen Wahrnehmung eine besondere Rolle spielten, zirkulierten um die Technisierung der Popmusik sowie die Verbindung elektronischer Klänge mit dem Space Age und Science Fiction – gleichzeitig galt Krautrock auch hier als erster innovativer Beitrag der Popmusik, der außerhalb der angloamerikanischen Zentren seinen Ursprung hatte. Die Musik wurde als progressiv, avantgardistisch, experimentell, zugleich aber auch als kalt, emotionslos oder maschinenhaft beschrieben. Vor diesem Hintergrund kam es zu vagen Zuschreibungen eines spezifischen German Sound, die sich zuweilen mit stereotypen Bildern „des Deutschen“ verbanden oder gar mit NSSymbolik vermischten.25 Im letzten Drittel der 1970er Jahre begannen die nationalisierenden Zuschreibungen und Stereotypisierungen langsam in den Hintergrund zu rücken – ohne allerdings ganz zu verschwinden. Vor dem Hintergrund der weiter voranschreitenden Ausdifferenzierung bzw. einer zunehmenden Translokalisierung der Popmusik rückten auch im Falle bundesdeutscher Gruppen zunehmend regionale bundesdeutsche Szenen in den Fokus des britischen und amerikanischen Interesses. Darüber hinaus wurden die Gruppen des Krautrock selbstverständlicher in die jeweiligen musikalischen Sparten und Genres integriert, ohne dass nationale Zuschreibungen noch eine entscheidende Rolle spielten. Davon soll nun abschließend die Rede sein.

T RANSNATIONAL , TRANSLOKAL ? K RAUTROCK SEINE S PUREN AB E NDE DER 1970 ER J AHRE

UND

Im letzten Drittel der 1970er Jahre differenzierte sich Popmusik in eine rasch zunehmende Zahl von Sparten und Genres aus, auch popmusikalische Innovationen außerhalb der angloamerikanischen Zentren wurden in steigendem Maße medial wahrgenommen und vermarktet. Nationalisierende Zuschreibungen rückten allgemein in den Hintergrund, die Charakterisierungen der Musik bundes-

25 NS-Konnotationen in Verbindung mit Krautrock waren noch nach Ende der 1970er Jahre in den USA präsent; im Jahr 2003 etwa benannte der Musikjournalist Jim DeRogatis das entsprechende Kapitel seines Buches über die Geschichte des Psychedelic Rock mit dem Titel „Krautrock Blitzkrieg“ und schrieb von der „teutonic fascination for technology“, vgl. DeRogatis 2003: 261.

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deutscher Gruppen als German Sound oder Teutonic Sound verschwanden weitgehend aus der US-amerikanischen und britischen Rezeption. An deren Stelle traten Beschreibungen lokaler oder regionaler Spezifika, die oft an einen bestimmten Sound oder Stil der Interpreten gebunden waren. In diesem Sinne lässt sich am Ende der 1970er Jahre eher von einer Translokalisierung als von einer Transnationalisierung sprechen, nicht zuletzt auch durch Produktion und Bewerben des lokalen Unterschieds für die globale Konsumption (O’Flynn 2007). Für die bundesdeutsche Pop-Avantgarde bedeutete das zunächst keineswegs ein Nachlassen der medialen Aufmerksamkeit und der Verkaufserfolge in Großbritannien und den Vereinigten Staaten; beim Werben für lokale Unterschiede war im Falle des Krautrock in den angloamerikanischen Medien insbesondere von den Zentren Düsseldorf und West-Berlin die Rede. Zur so genannten Berlin School gehörten jenseits von Tangerine Dream insbesondere deren ehemalige Mitglieder Klaus Schulze, Peter Baumann und Michael Hoenig, auch Manuel Göttsching und sein Projekt Ashra.26 Neben der Berliner Schule galt „The Kraft of Düsseldorf“27 als „modern electronic music“ (Melody Maker, 15.7.1978) und als rhythmische, eher tanzbare Variante der elektronischen Sounds aus der Bundesrepublik (Kopf 2002). Dabei spielten Kraftwerk die entscheidende Rolle, daneben Cluster und Harmonia, gerade die gemeinsamen Projekte mit Brian Eno, aber auch die Soloprojekte von Michael Rothers und Hans-Joachim Roedelius oder Gruppen wie La Düsseldorf.28 Can verschwand mit seiner Auflösung am Ende des Jahrzehnts aus der öffentlichen Wahrnehmung, blieb jedoch mit einzelnen Solo-Projekten ehemaliger Mitglieder wie beispielsweise Holger Czukay international präsent. Zu Beginn der 1970er Jahre besonders in Großbritannien populäre Gruppen wie Amon Düül II oder Faust spielten längst keine Rolle mehr; im Zentrum stand nun insbesondere der elektronische Sound des Krautrock (Albiez 2011).

26 Die Berichte und Kritiken über die genannten Interpreten sind zahlreich; als Beispiel für konkrete Bezüge zur so genannten Berlin School vgl. für die USA etwa Contemporary Keyboard, 1/1979. 27 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Berliner Schule überwiegend instrumental produzierte und auf englische Titel setzte, während die Düsseldorfer Szene oft deutschsprachige Texte und Titel verwendete. 28 Die Zuschreibungen zur Düsseldorfer Szene beruhten dabei nur teilweise auf biographischen Hintergründen. Viele der Protagonisten kamen nicht aus Düsseldorf, hatten oft nur relativ kurze Zeit dort verbracht. Entscheidend für die Zuordnung war vielmehr ein bestimmter Sound.

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Im Laufe der 1980er Jahre wurde es vergleichsweise ruhig um die Interpreten und Gruppen des Krautrock. Eine nennenswerte Ausnahme war die Band Kraftwerk, die mit dem Konzeptalbum Computerwelt und einer anschließenden, sehr erfolgreichen Welttournee im Jahr 1982 nicht nur weitere kommerzielle Erfolge feierte, sondern in der internationalen Wahrnehmung nach wie vor eine entscheidende Rolle als Avantgarde der elektronischen Popmusik zugesprochen bekamen29. Ungeachtet seiner insgesamt abnehmenden Beachtung in den angloamerikanischen Medien und bis auf wenige Ausnahmen geringen kommerziellen Bedeutung spielte Krautrock nichtsdestotrotz eine entscheidende Rolle bei der Genese neuer popmusikalischer Trends, etwa dem Hip Hop in der New Yorker Bronx zu Beginn und dem Techno in Detroit und Berlin am Ende des Jahrzehnts; ein weiteres Indiz für seine Avantgardefunktion und Wirkkraft auf Musiker und andere Protagonisten der Popmusik (Littlejohn 2009)30. Musiker, Produzenten und Tonmeister aus dem Umfeld des Krautrock waren auch maßgeblich am Entstehen der so genannten Neuen Deutschen Welle beteiligt und vor allem in den Vereinigten Staaten als Filmmusiker erfolgreich. Andere wurden mit ihrem Knowhow und den aus angloamerikanischer Sicht unorthodoxen Arbeitsweisen zu Anlaufstellen internationaler Stars der Popmusik. Mitte der 1990er Jahre kam es zu einem auch medial breit rezipierten Revival, das im Grunde bis heute anhält. Oft wird das Buch Krautrocksampler des britischen Musikers und Kritikers Julian Cope als wesentlicher Impuls für die Wiederentdeckung des Phänomens genannt, wahrscheinlich zurecht (Cope 1995)31. „The German Invasion: The British One Got Better Press, But The Teu-

29 Institutionellen Ausdruck fand die speziell Kraftwerk zugesprochene Wirkkraft in der Verleihung des Life Achievement Awards im Jahr 2014, vgl. http://www. grammy.com/news/lifetime-achievement-award-kraftwerk [1.10.2015]. 30 Zum Hip Hop vgl. insbesondere das richtungsweisende Stück Planet Rock von Afrika Bambaataa & the Soulsonic Force, veröffentlicht im Dezember 1981, das wesentlich auf zwei Kraftwerk-Samples beruhte (Seago 2004: 92); zum Einfluss insbesondere von Kraftwerk auf Bambaataa und die afroamerikanische Musikszene insgesamt vgl. Tompkins 2010; zum Techno vgl. beispielsweise die retrospektiven Aussagen zahlreicher Zeitzeugen und ehemaliger Protagonisten bei Denk/von Thülen 2012; TechnoBeats „imitieren strukturelle Aspekte des Krautrock“ heißt es bei Einbrodt 2001: 14; ähnlich Reinecke 2009. Die Wirkmacht des Krautrock auf die Entstehung diverser popmusikalischer Stile ab den 1970er Jahren wurde und wird von ehemaligen Protagonisten auch retrospektiv immer wieder neu bekräftigt und findet in nahezu allen großen Enzyklopädien populärer Musik entsprechend Erwähnung. 31 Das Buch erlebte mehrere Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

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tonic Influence Endures“, so betitelte etwa die Washington Post im Jahr 1996 einen ausführlichen Artikel über Krautrock und dessen andauernde transnationale Wirkkraft: „Globally, the history of popular music during the last 25 years is an account of just three nations: the United States, the United Kingdom and, well, Germany“ (21.1.1996). Der Beitrag brachte retrospektiv und für die Mitte der 1990er Jahre symptomatisch auf den Punkt, was sich bis dato – teilweise in explizitem Rückgriff auf die Urteile der Pop-Kritik in den 1970er Jahren – als weitgehender Konsens in der angloamerikanischen Krautrock-Rezeption herausgeschält hatte. Ab Mitte der 1990er Jahre erschienen in Branchenzeitungen, Fachzeitschriften und der Tagespresse eine Vielzahl von Artikeln und Beiträgen zum Thema, die im Wesentlichen dem oben exemplarisch genannten Urteil der Washington Post aus dem Jahr 1996 folgten. Bis heute hat sich daran nichts geändert: Krautrock, obwohl nur in wenigen Fällen kommerzielles Massenphänomen, galt und gilt in den beiden Ursprungsländern der Popmusik auch retrospektiv als erster konstitutiver Beitrag zum Idiom des Pop „von außerhalb“ der eigenen Sphäre. In diesem Sinne – und damit schließt sich der Kreis – geht es beim Krautrock um eine nationale Grenzen überschreitende, im eigentlichen Sinne des Wortes transnationale Ausbreitung eines popmusikalischen Phänomens. Ein transnationales Phänomen war Popmusik selbstverständlich auch zuvor, indem sie ab Mitte der 1950er Jahre von den USA, und ab Mitte der 1960er Jahre aus Großbritannien in die Welt ausgestrahlt und sich zum zentralen kommunikativen Medium transnationaler Jugend- und Subkulturen entwickelt hatte. Neu war jedoch die Entstehung kreativer popmusikalischer Zentren außerhalb der angloamerikanischen Ursprungsländer, deren Rezeption, wie sich gezeigt hat, medial durch nationalisierende Zuschreibungen und Stereotypisierungen begleitet wurde, in deren Zuge nicht zuletzt auch widersprüchliche Aspekte des Krautrock und seiner Präsentationsformen als „deutsch“ stereotypisiert wurden. Es handelte sich offenbar um Aneignungs-, Aushandlungs- und Einordnungsprozesse im Umgang mit dem neuartigen Phänomen, innerhalb derer Nationalisierungen als Teil des Transnationalisierungsprozesses in Erscheinung traten. Dafür spricht etwa, dass die Stereotypisierungen gegen Ende der 1970er Jahre, als kreative Impulse in rasch steigendem Maße „in einem komplexen Flow zwischen regionalen Szenen in allen Teilen der Welt entstanden“ (Schildt/Siegfried 2009: 361), aus der medialen Rezeption weitgehend verschwanden: auch im Falle des Krautrock. Wie in anderen Zusammenhängen der Populärkultur und darüber hinaus zeigt sich letztendlich auch hier, dass Nationalisierungen in Form von nationalen Vereinnahmungen oder nationalisierende Zuschreibungen als integraler Bestandteil transnationaler Verflechtungsprozesse verstanden werden müssen.

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Q UELLEN Billboard, 11.1.1975. Billboard, 30.4.1977. Cash Box 11.1.1975. Cash Box, 19.4.1975. Cash Box, 3.5.1975. Cash Box, 18.6.1977. Cash Box, 29.4.1978. Chicago Tribune, 13.4.1975. Circus, 6/1975. Contemporary Keyboard, 9-10/1975. Contemporary Keyboard, 1/1979. Crawdaddy!, 11/1974. Creem, 9/1974. Creem, 3/1975. Creem, 6/1975. Creem, 8/1975. Creem, 9/1975. Disc, 1.7.1972. Disc, 8.7.1972. Disc, 19.11.1974. Los Angeles Times, 26.3.1977. Los Angeles Times, 24.4.1977. Melody Maker, 30.5.1970. Melody Maker, 13.6.1970. Melody Maker, 12.12.1970. Melody Maker, 30.10.1971. Melody Maker, 5.2.1972. Melody Maker, 6.5.1972. Melody Maker, 24.6.1972. Melody Maker, 27.1.1973. Melody Maker, 6.4.1974. Melody Maker, 22.6.1974. Melody Maker, 23.11.1974. Melody Maker, 8.3.1975. Melody Maker, 25.10.1975. Melody Maker, 15.7.1978. New Musical Express, 16.12.1972.

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New Musical Express, 3.3.1973. New Musical Express, 27.7.1974. New Musical Express, 21.6.1975. New York Times, 7.4.1977. Rolling Stone, 12.9.1974. Rolling Stone, 19.6.1975. Rolling Stone, 3.7.1975. Stereo Review, 11/1975. Variety, 2.4.1975. Variety, 9.4.1975. Variety, 13.4.1977. Washington Post, 3.4.1977. Washington Post, 5.4.1977. Washington Post, 21.1.1996.

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Cluster feat. Brian Eno: Cluster & Eno, Sky 1977. Czukay, Holger: Movies, Harvest/EMI 1979. Eno, Moebius, Roedelius: After The Heat, Sky 1978. Faust: Faust, Polydor 1971. Faust: So Far, Polydor 1972. Faust: The Faust Tapes, Virgin 1973. Faust: Faust IV, Virgin 1973. Faust feat. Tony Conrad: Outside the Dream Syndicate, Caroline 1973. Froese, Edgar: Aqua, Brain 1974. Froese, Edgar: Epsilon In Malaysian Pale, Virgin 1975. Froese, Edgar: Macula Transfer, Brain 1976. Froese, Edgar: Ages, Virgin 1978. Göttsching, Manuel: Inventions for Electric Guitar, Kosmische Musik 1975. Harmonia: Musik von Harmonia, Brain 1974. Harmonia: Deluxe, Brain 1975. Hoenig, Michael: Departure of the Northern Wasteland, Warner Bros. 1978. Kraftwerk: Kraftwerk, Philips 1970. Kraftwerk: Kraftwerk 2, Philips 1972. Kraftwerk: Ralf & Florian, Philips 1973. Kraftwerk: Autobahn, Philips 1974. Kraftwerk: Radio-Aktivität, Kling Klang, Hör Zu, EMI 1975. Kraftwerk: Trans Europa Express, Kling Klang 1977. Kraftwerk: Die Mensch Maschine, Kling Klang/EMI 1978. Kraftwerk: Computerwelt, Kling Klang/EMI 1981. La Düsseldorf: La Düsseldorf, Nova 1976. La Düsseldorf: Viva, Strand 1978. Neu!: Neu!, Brain 1972. Neu!: Neu! 2, Brain 1973. Neu!: Neu! 75, Brain 1975. Roedelius, Hans-Joachim: Durch die Wüste, Sky 1978. Roedelius, Hans-Joachim: Jardin Au Fou, Sky 1978. Roedelius, Hans-Joachim: Selbstportait, Sky 1979. Rother, Michael: Flammende Herzen, Sky 1977. Rother, Michael: Sterntaler, Sky 1978. Rother, Michael: Katzenmusik, Sky 1979. Schulze, Klaus: Irrlicht, Ohr 1972. Schulze, Klaus: Cyborg, Kosmische Musik 1973. Schulze, Klaus: Blackdance, Brain 1974. Schulze, Klaus: Picture Music, Brain 1975.

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Schulze, Klaus: Timewind, Brain 1975. Schulze, Klaus: Moondawn, Brain 1976. Schulze, Klaus: Body Love Vol. I & II, Brain 1977. Schulze, Klaus: Mirage, Brain 1977. Schulze, Klaus: X, Brain 1978. Schulze, Klaus: Dune, Brain 1979. Tangerine Dream: Electronic Meditation, Ohr 1970. Tangerine Dream: Alpha Centauri, Ohr 1971. Tangerine Dream: Zeit, Ohr 1971. Tangerine Dream: Atem, Ohr 1973. Tangerine Dream: Phaedra, Virgin 1974. Tangerine Dream: Rubycon, Virgin 1975. Tangerine Dream: Ricochet, Virgin 1975. Tangerine Dream: Stratosfear, Virgin 1976. Tangerine Dream: Original Motion Picture Soundtrack "Sorcerer", MCA 1977. Tangerine Dream: Encore, Virgin 1977. Tangerine Dream: Cyclone, Virgin 1978. Tangerine Dream: Force Majeure, Virgin 1979.

F ILMOGRAPHIE Tangerine Dream – Live at Coventry Cathedral, BBC 1975.

Die „britische Invasion“ der 1960er Jahre Britische Pop- und Rockmusik in den Vereinigten Staaten E GBERT K LAUTKE

Am Beginn der Geschichte der Rockmusik, so kann man mit ein wenig Übertreibung formulieren, stand ein transnationaler Transfer, nämlich die weltweite Rezeption und Aneignung britischer Musik. In den USA, wo seit 1964 zuerst die Beatles, dann viele weitere Bands zuvor ungekannte Popularität erreichten, hat sich für diese Entwicklung der Begriff der „britischen Invasion“ eingebürgert, der augenzwinkernd auf das Einmalige und Neuartige hinweist, das die Erfolge britischer Bands in den USA in der Geschichte der Pop- und Rockmusik darstellten (Schaffner 1982; Kelly 1991). Mit der „britischen Invasion“ und ihren Folgen verkomplizierten sich die Austauschverhältnisse zwischen alter und neuer Welt im Bereich der Unterhaltungsmusik, denn seit dem frühen 20. Jahrhundert, spätestens aber seit der Zwischenkriegszeit, war die Entwicklung der modernen Populärkultur von den USA aus geprägt worden. Von Ragtime, Jazz und Swing bis zum Rock ’n’ Roll waren die wesentlichen Impulse und Innovationen in der Unterhaltungsmusik von den USA ausgegangen und dann in Europa begierig aufgenommen und nachgeahmt worden (Wald 2009; Stanley 2014). Alarmierte europäische Kulturkritiker sahen im Erfolg amerikanischer Tanz- und Unterhaltungsmusik, neben dem Hollywood-Kino, den schlagenden Beweis für ihre Diagnose der kulturellen Amerikanisierung Europas, die sie als Niedergang und Verflachung ansahen und vor der sie daher eindringlich warnten (Klautke 2003: 239ff.; Partsch 2000; Müller 2010). Nach dem Zweiten Weltkrieg schien sich dieses Muster fortzusetzen, als zunächst amerikanischer Jazz und seit Mitte der 1950er Jahre der Rock ’n’ Roll die Maßstäbe in der Tanz- und Unterhaltungsmusik setzten. Seit Anfang 1964 veränderte sich dann das bisher einseitige Rezeptionsverhältnis zwischen den USA und Europa im Bereich der Unterhaltungsmusik, und zwar schlagartig und nachhaltig. Von diesem Zeitpunkt an, als die Beatles plötzlich die Musikszene in

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den USA zu dominieren begannen und in ihrem Schlagwasser Dutzende von britischen Bands die amerikanischen Charts besetzten, entwickelte sich die britische Hauptstadt London zu einem bedeutenden Zentrum der Popkultur und wurde damit zu einem ernsthaften Konkurrenten der Musikmetropolen Amerikas.1 Zum ersten Mal waren es europäische, genauer gesagt englische Bands, die einen neuen Trend setzten, mit dem Beat einen populären Stil prägten, phänomenale kommerzielle Erfolge feierten und ihrerseits schnell Nachahmer fanden, sowohl in Europa wie in den USA.2 Ausgerechnet in Großbritannien, das bis ins frühe 20. Jahrhundert zwar vielen Entwicklungen der kapitalistisch-liberalen Moderne den Weg gewiesen, aber keine nennenswerten Beiträge zur modernen Unterhaltungskultur oder -musik geleistet hatte, etablierte sich das Swinging London damit zu einem wichtigen Zentrum von Popkultur und Rockmusik mit weltweiter Austrahlung, auch und vor allem in die USA. Die Beatles waren die mit Abstand wichtigste und einflussreichste Band der 1960er Jahre (Davies 2009; Gould 2007; Frontani 2007; Kemper 2013; Macdonald 2008; Marwick 1998: 457ff.).3 Mit ihren sensationellen Erfolgen dienten sie

1

Die Beatles und viele weitere Bands der Beatwelle, die die „britische Invasion“ in Gang setzten und trugen (z. B. Gerry and the Pacemakers, Herman’s Hermits), kamen zwar aus der nordenglischen Provinz, ließen sich aber in und um London nieder und verfolgten ihre professionelle Karriere von hier aus, wo die großen Plattenfirmen ansässig waren und ihre Aufnahmestudios betrieben.

2

Ein prominentes Beispiel für eine amerikanische Adaption der Beatles sind die Byrds, die sich musikalisch und visuell am Stil der Beatles und der Searchers orientierten, und dabei wiederum einen eigenen, typischen Stil entwickelten, der für den kalifornischen West-Coast-Sound prägend wurde (siehe dazu Holmes 2007). Während die Byrds sich damit einen Platz in den Annalen der Rockmusik sicherten, gab es auch eher plumpe Versuche amerikanischer Bands, britische Beatmusik nachzuahmen und von deren Popularität zu profitieren, zum Beispiel The Buckinghams. Das erfolgreichste Beispiel dieser Art waren die Monkees, eine Retortenband, die für die gleichnamige Fernsehshow gegründet wurden, zwischen 1967 und 1970 zahlreiche Hits im Stile der frühen Beatles hatten und damit den bleibenden Einfluss der Beatwelle und der „britischen Invasion“ bezeugten.

3

Allein die Tatsache, dass es kontroverse und konkurrierende Versuche gibt, den Erfolg der Beatles – jenseits populär-journalistischer Darstellungen, die den Großteil der Literatur zu den Beatles ausmachen – zu erklären, bezeugt deren Bedeutung und einzigartige Stellung in der Geschichte der Populärkultur: Zu den Beatles gibt es tatsächlich einen wissenschaftlichen Forschungsstand, im Gegensatz zu den meisten anderen, herausragenden Vertretern der Pop- und Rockmusik (Wommack 2011).

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gewissermaßen als Türöffner für eine Reihe weiterer britischer Bands, die in ihrem Gefolge Mitte der 1960er Jahre den amerikanischen Markt „eroberten“ und bestimmten, sowohl im kommerziellen wie im stilistischen Sinne. Zu diesen Bands zählten neben den Beatles vor allem die Rolling Stones, The Kinks, The Who, Herman’s Hermits, The Animals, The Searchers, The Yardbirds, Dave Clark Five – letztere waren in den USA sogar erfolgreicher und bekannter als in Großbritannien. „Hits“ hatten daneben auch viele andere, heute kaum noch geläufige Gruppen. Nachdem diese erste Welle der „britischen Invasion“ um 1965 ihren Höhepunkt erreicht hatte und wieder abflaute, traten mit Bands wie Cream, Fleetwood Mac und Led Zeppelin die ersten sogenannten Supergroups auf, die an die Erfolge der – weiterhin präsenten und erfolgreichen – Beatles und Rolling Stones nahtlos anknüpften und die klassische Ära der Rockmusik begründeten. Im Gegensatz zur kommerziell ausgerichteten, tanzbaren und eher anspruchslosen Beatmusik konzentrierten sich diese Rockgruppen nun zunehmend auf ihre Langspielplatten, die sie als eigenständige „Kunstwerke“ verstanden wissen wollten. Einzelne erfolgreiche Hits oder Singles verloren für diese Rockmusiker an Bedeutung – wenngleich nicht für die Musikindustrie, so doch im Selbstverständnis der Protagonisten. Direkt an die Beatwelle anschließend, und teilweise schon parallel dazu, hatte sich in London eine Blues-Szene etabliert, aus der viele der zukünftigen Stars der Rockmusik hervorgingen (neben den Rolling Stones vor allem die Gitarristen Eric Clapton, Peter Green, Jimmy Page und Jeff Beck, die allesamt Gitarristen bei den Yardbirds gewesen waren). In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren wurde die Rockmusik schnell weiterentwickelt, nicht zuletzt durch die technische Entwicklung elektronisch verstärkter Musikinstrumente, in erster Linie der Gitarre. Diese Entwicklung wurde wesentlich von britischen Bands wie Black Sabbath, Deep Purple, Pink Floyd, Emerson, Lake & Palmer oder Yes bestimmt, die mit ihren Erfolgen in den USA die dauerhafte Bedeutung Englands für die globale Populärkultur festigten.

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UND

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Am Anfang der „britischen Invasion“, die diese Entwicklung ermöglichte, standen die Beatles: Mit ihren ersten Konzerten in den USA, und insbesondere den gleichzeitigen Fernsehauftritten in der Ed Sullivan Show, die von Millionen Zuschauern verfolgt wurden, brachten die Fab Four seit Februar 1964 die Hysterie der Beatlemania aus ihrer Heimat in die neue Welt und starteten damit die einzigartige Erfolgsgeschichte britischer Pop- und Rockmusiker in Amerika. Die Beatles feierten nachhaltige Erfolge auf dem amerikanischen Markt und wirkten

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darüber hinaus in mehrfacher Hinsicht stilbildend: Zunächst waren sie die Protagonisten und bekanntesten Vertreter der Beatmusik, die Anfang bis Mitte der 1960er Jahre für einige Jahre als erfolgreichster Tanzmusikstil wesentlich dazu beitrug, das Genre der Pop-Musik zu etablieren. Im Gegensatz zu anderen britischen Gruppen der Beatwelle, die nur kurzfristig erfolgreich waren, entwickelten sich die Beatles ab etwa 1965 zu kreativen Künstlern weiter, deren Musik zunehmend auch von der Kritik ernstgenommen wurde und Anhänger weit über ihr zunächst überwiegend weibliches Teenager-Publikum hinaus fand: Auch nach dem Ende der Beatwelle, als das Phänomen der „britischen Invasion“ seinen Neuigkeitswert wieder verloren hatte, blieben die Beatles an der Speerspitze der rasanten Entwicklung der Rock- und Popmusik seit Ende der 1960er Jahre und prägten diese wesentlich mit (Davies 2008; Gould 2007). Abbildung 1: Ankunft der Beatles in den USA, 1964

Quelle: Wikimedia Commons

Einige Zahlen können den phänomenalen Erfolg der Beatles und anderer englischer Popgruppen in den USA in den Jahren 1964/65, des Höhepunkts der „britischen Invasion“, illustrieren: Anfang April 1964 standen die Beatles auf den ersten fünf Plätzen der Billboard-Charts, der quasi-offiziellen, auf Verkaufszahlen basierenden amerikanischen Hitparade. Anfang Mai 1965 belegten dann britische Bands neun der ersten zehn Ränge der amerikanischen Billboard-Charts. Von 1964 bis 1970 erreichten die Beatles jedes Jahr mit mindestens zwei Singles die Spitze der Billboard-Charts. Während dieser Zeit führten sie 59 Wochen lang die Single-Charts, und, noch wichtiger, 116 Wochen lang mit ihren Lang-

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spielplatten die Album-Charts an (Gould 2007; Wells 1987: 68ff.). Hinzu kamen die außerordentlichen Erfolge der Beatles als Liveband bis 1966, mit denen sie die Dimensionen von Pop- und Rockkonzerten drastisch erweiterten und vor immer größeren Publikumsmassen auftraten (dies war ein wesentlicher Grund für die Entwicklung immer leistungsstärkerer Gitarrenverstärker, deren tonale Qualitäten wiederum Voraussetzung für den charakteristischen Sound der Rockmusik war). Dabei war der Erfolg der Beatles nicht auf Großbritannien und die USA beschränkt, sondern ein weltweites Phänomen. Auf dem europäischen Kontinent, sowohl vor wie hinter dem Eisernen Vorhang, wie auch in Asien und Ozeanien wurden die Beatles ebenso zu Ikonen der Jugendkultur wie in ihrem Heimatland und in Amerika (Gould 2007; Richmond 2004: 205ff.; Siegfried 2006; Woodhead 2013). Auf dem europäischen Festland fanden die Beatles ungezählte Nachahmer, die ihren Stil – sowohl visuell als auch akustisch – oft schamlos nachahmten (Davis 2010). Die Gründe für diesen außerordentlichen und bis dahin ungekannten Erfolg britischer Bands, und insbesondere der Beatles, sind vielfältig und in der Literatur umstritten. Insbesondere der Erfolg der Beatles als den Ikonen der Bewegung erscheint dabei in typischer Weise überdeterminiert (Inglis 2000; Whiteley 2011). Man kann grob zwischen äußeren und inneren Gründen unterscheiden, die zur Erklärung des Phänomens der Beatles herangezogen werden. Sicherlich begünstigten die zeitlichen Umstände den Erfolg der Beatles in den USA: Das timing, der besondere Zeitpunkt der „Invasion“ der Beatles begünstigte ihren durchschlagenden Erfolg. Mit ihrer positiven Energie, so wird argumentiert, hätten die Beatles geholfen, die gedrückte Stimmung in den USA nach dem Schock der Ermordung John F. Kennedys im November 1963 zu heben (dieses Argument erscheint plausibel, ist aber schwer zu belegen). Hinzu kommt, dass die Beatles auf einen Musikmarkt trafen, der seit 1960 den relativen Niedergang der ersten Generation des Rock ’n’ Roll erlebt hatte und damit wieder unter die Kontrolle der großen Musik- und Schallplattenfirmen gekommen war, die rebellisch gestimmten Teenagern wenig zu bieten hatten. Die Ikonen des Rock ’n’ Roll der 1950er Jahre, von Elvis Presley zu Jerry Lee Lewis, Chuck Berry und Little Richard, waren aus unterschiedlichen Gründen von der Bildfläche verschwunden, hatten sich entweder ins Privatleben zurückgezogen, waren straffällig geworden oder hatten sich den Wünschen und Vorgaben der Musikindustrie angepasst und ihren Stil verwässert, wie der ehemalige „König“ des Rock ’n’ Roll, Elvis Presley. Die Beatles trafen so auf ein Vakuum, das sie leicht mit ihrer dynamischen, zugleich vertrauten und neuartigen Musik füllen konnten, zumal mit der Generation der Babyboomer eine kaufkräftige „kritische Masse“ zur Verfügung stand, die über die notwendigen finanziellen Mittel zum Konsum von Un-

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terhaltungsmusik verfügte. Während die Musik der frühen Beatles sich nur wenig von den gängigen Standards des Rock ’n’ Roll der 1950er Jahre und der Tanzmusik der frühen 1960er Jahre unterschied und damit viel Bekanntes aufbereitete, unterschied sich ihre äußere Erscheinung deutlich von ihren unmittelbaren, in der Regel amerikanischen Vorgängern und Vorbildern. Die eher androgyne Erscheinung der Beatles mit ihren langen Haaren („Pilzköpfe“, engl. mobheads) habe das weibliche Teenager-Publikum besonders angesprochen, da sie im Gegensatz zum Macho-Image der Stars des Rock ’n’ Roll der 1950er eine weniger einschüchternde männliche Sexualität verkörperten. Eine weitere wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Beatles war die special relationship zwischen Großbritannien und den USA: Wie in der Literatur, im Film und im Theater profitierten britische Pop- und Rockbands davon, dass sie keine Sprachbarriere zu überwinden hatten wie etwa deutsche, französische oder italienische Künstler, denen der amerikanische Musikmarkt, von einigen wenigen (späteren) Ausnahmen abgesehen, verschlossen blieb. Als Engländer hatten die Beatles dagegen direkten Zugang zum riesigen amerikanischen Markt, den sie „eroberten“ und zugleich nachhaltig veränderten. Mit ihrem nordenglischen Akzent – der auch im britischen Radio und Fernsehen in den 1960er Jahren selten zu vernehmen war – waren sie in Amerika zugleich Fremde und Vertraute; in Habitus und Auftreten unterschieden sie sich deutlich von amerikanischen Popstars, hatten aber trotzdem keine unmittelbaren Kommunikationsprobleme.4 Zu Beginn ihrer Karriere waren die Beatles, insbesondere John Lennon und Paul McCartney, nicht wegen ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten als Komponisten, Texter und Arrangeure bekannt. Dem amerikanischen Publikum präsentierten sie Bekanntes in neuer, frischer Form und Mischung, mit Schwung und guter Laune. Sie verstanden sich selbst als eine einfache Rock ’n’ Roll-Band, ohne besonderen Anspruch auf Innovation und Originalität, schufen durch ihren Eklektizismus aber trotzdem einen eigenen Stil mit hohem Wiedererkennungswert, der sich von ihren amerikanischen Vorbildern deutlich unterschied. Wie „britisch“ oder „englisch“ die Musik der Beatles war, lässt sich kaum eindeutig

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Eine Folge der „britischen Invasion“ auf dem europäischen Festland war die sprachliche „Anglisierung“ der Popmusik: Mit und nach den Beatles – die selbst noch zwei ihrer frühen Hits auf deutsch aufgenommen hatten – wurden immer seltener fremdsprachige Fassungen ursprünglich englischer oder amerikanischer Songs für den jeweiligen Heimatmarkt produziert, was die Marktmacht der „Original“-Bands wiederum erhöhte. In Deutschland teilte sich der Markt in deutschsprachige Schlager-Musik und englischsprachige Pop-, später Rockmusik.

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bestimmen: Zunächst, und insbesondere im subjektiven Verständnis ihrer Protagonisten, allen voran der Beatles selbst, war die britische Beat-Musik ein Produkt der kulturellen Amerikanisierung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Hervorgegangen aus der Skiffle-Bewegung der späten 1950er Jahre – die selbst eine britische Aneignung amerikanischer Einflüsse war –, begannen die Beatles ihre Karriere als Rock ’n’ Roll-Band und working musicians, die die gängigen, aktuellen – in der Regel amerikanischen – Hits der Zeit zum Tanz nachspielten. Die Vorbilder und Idole der Beatles waren amerikanische Musiker, neben Elvis Presley vor allem Carl Perkins, Gene Vincent, Buddy Holly und Little Richard; daneben machten die Beatles mehrstimmigen Gesang, den sie sich bei den Everly Brothers und schwarzen Gesangsgruppen abschauten, zu ihrem Markenzeichen. Auf ihren ersten vier Langspielplatten kopierten die Beatles diesen Einflüssen entsprechend alle Anfang der 1960er Jahre gängigen Stilrichtungen, sowohl in ihren eigenen Kompositionen als auch mit Coverversionen von Carl Perkins, Chuck Berry und weiblichen Gesangsformationen wie den Sheirelles (etwa: Twist and Shout; Money; Roll over Beethoven; Please Mr. Postman). Diesen amerikanischen „Wurzeln“ blieben die Beatles auch in ihrer weiteren Karriere treu, als sie sich musikalisch entwickelten und eigene Stücke etwa im Stil amerikanischer Country and Western- oder Folk-Musik schrieben (etwa Norwegian Wood; You’ve Got to Hide your Love Away; What goes on) (Price 1997; Scheurer 1996). Neben ihren amerikanischen „Wurzeln“, die sie trotz allem Anspruch auf künstlerische Eigenständigkeit nie aufgaben oder verleugneten, blieben sie aufmerksame Beobachter der amerikanischen Szene und orientierten sich etwa an den kritisch-anspruchsvollen Texten Bob Dylans oder der ausgefeilten Aufnahmetechnik der Beach Boys (Zolten 2011); ebenso verfolgten sie Entwicklungen der kalifornischen counterculture – die sie mit ihren bahnbrechenden Alben Revolver und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band selbst stark prägten – mit ihrem Zentrum in San Francisco sehr genau. In ihrer Offenheit gegenüber vielfältigen Einflüssen liegt einer der wichtigsten „inneren“ Gründe für den Erfolg der Beatles, nicht nur beim breiten Publikum, sondern schließlich auch bei der Kritik: Insbesondere John Lennon und Paul McCartney, die kreativen Köpfe und Songschreiber der Beatles, waren in der Lage, verschiedenste Musikstile zu absorbieren, zu verschmelzen und daraus Neues zu schaffen. Vor allem die anerkannt innovativsten und kreativsten Aufnahmen der Beatles in ihrer mittleren Phase von 1965 bis 1967 (auf den Alben Rubber Soul, Revolver und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band) waren eine Melange, bei der das Ganze mehr als die Summe seiner Teile bildete. Wesentliche, aber bei weitem nicht alle Teile dieser Mischung waren amerikanischen Ursprungs (Price 1997). Als Fallstudie sind die Beatles daher gut geeignet, allzu einfache Vorstellungen von „Amerika-

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nisierung“, verstanden als ein einseitiger Prozess der passiven Übernahme amerikanischer Inhalte, Anschauungen oder Praktiken, in Frage zu stellen. Die Beatles eigneten sich „amerikanische“ Einflüsse bewusst an, wandelten diese aber in neue Formen um, die eine vom amerikanischen „Original“ verschiedene Qualität erreichten, und dann weltweit, und vor allem auch zurück in die USA, wirkten.5 Schaut man auf die Konsequenzen der „britischen Invasion“, insbesondere die Erfolge der Beatles, bewegt man sich auf festerem Boden als bei der Suche nach Gründen und Ursachen für deren plötzlichen und überraschenden Aufstieg in den USA. Die Beatles trugen wesentlich dazu bei, dass sich das Modell der Musiker als Songwriter, als Texter und Komponisten, durchsetzte; hierin folgten sie (wie auch die Rolling Stones, die Kinks oder The Who) den intellektuell anspruchsvolleren Folkmusikern wie Bob Dylan, von denen sie das Selbstverständnis als eigenständige, kritische und kreative Künstler, deren Weltsicht ernst zu nehmen war, übernahmen. Mit der Verschmelzung der Rollen von Komponisten, Textern und Musikern veränderte sich sowohl das Geschäftsmodell der Musikindustrie als auch das Selbstverständnis der Musiker. Mit der „britischen Invasion“ wurde zunehmend Popmusik von der Kritik wahrgenommen und als eigenständige Kunstform anerkannt (ein prominentes und einflussreiches Beispiel ist Leonard Bernstein, der Popmusik seit der Beatwelle ernstnahm). Diese Anerkennung der Kritik ging mit einem sich ändernden Selbstverständnis der Musiker einher. Spätestens seit 1966 – als sie sich von den anstrengenden und zunehmend sinnlosen Konzertreisen zurückzogen, um sich fortan ganz auf die Ar-

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„Amerikanisierung“ erklärt das Phänomen der Beatles also nur in eingeschränktem Maße. Bei den transnationalen Einflüssen auf die Beatles kann auch auf deren Verbindung nach Deutschland hingewiesen werden. Ihre „Lehrjahre“ bis kurz vor dem nationalen Durchbruch in Großbritannien verbrachten die Beatles als Hausband von Nachtclubs auf Hamburgs Reeperbahn (vor allem dem Star Club), wo sie, nach eigener Aussage, in stundenlangem „Schichtdienst“ musikalisch reiften. Zudem machten sie als Begleitmusiker von Tony Sheridan während ihrer Hamburger Zeit erste Plattenaufnahmen. Nicht zuletzt ihr äußeres Markenzeichen, den „Pilzkopf“ oder mob head, brachten die Beatles aus Deutschland mit, nachdem ihnen Astrid Kirchherr empfohlen hatte, ihre Haare – im Stil der Exis – nach vorne zu kämmen und ihr bisher gepflegtes, „amerikanisches“ „Halbstarken“-Image abzulegen. Zudem erwarb Paul McCartney in Deutschland den sogenannten „Violinbass“ der Firma Höfner und verhalf dieser damit zu Weltruhm, der zu ihrem Überleben bis in die Gegenwart beitrug. Klaus Voormann, ein weiterer Bekannter der Beatles aus ihrer Hamburger Zeit, entwarf später das Cover der Langspielplatte Revolver und spielte für John Lennon Bass in der Plastic Ono Band.

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beit im Plattenstudio zu konzentrieren –, zielte der Anspruch der Beatles über reine „Unterhaltung“ hinaus, was wiederum wesentlich zur Anerkennung der Populärkultur durch Kritik und kulturelles Establishment beitrug. Im wirtschaftlich-geschäftlichen Sinne stärkten die Beatles als Texter, Komponisten und Interpreten in Personalunion die Position der Musiker gegenüber der etablierten Musikindustrie. Als Urheber ihrer Musik verbesserten sie nicht nur ihre – auch langfristigen – Einnahmemöglichkeiten gegenüber Musiker-Interpreten alten Stils entscheidend, sondern sie stärkten auch ihre Position gegenüber der etablierten Musikindustrie. Dieses Modell, das sich für „ernsthafte“ Pop- und Rockmusiker durchsetzte, stärkte deren Unabhängigkeit und Machtposition gegenüber den rein wirtschaftlichen Interessen der großen Schallplattenfirmen und Konzertveranstalter, weil es die Musiker ins Zentrum des kreativen, damit aber auch des „Wertschöpfungs“-Prozesses stellte.

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Mit und während der „britischen Invasion“ – aber hier muss man weit über die Beatles hinaus schauen – veränderte sich die populäre Unterhaltungsmusik innerhalb weniger Jahre schlag- und ruckartig. Die Beatles trugen ihren Teil zu dieser dynamischen Entwicklung bei, waren aber lediglich die bekanntesten und erfolgreichsten Vertreter einer breiten Bewegung, die die 1960er Jahre zu dynamischen Zeiten im kulturellen Sinne machten. Die „britische Invasion“ hatte mit den Beatles begonnen, blieb aber nicht auf sie beschränkt. Zu den „üblichen Verdächtigen“, die den amerikanischen Markt eroberten und in diesem Zusammenhang erwähnt werden müssen, zählen vor allem die Rolling Stones, die sich kurze Zeit nach den Beatles etablierten, in den 1960er Jahren bewusst als bad boys im Gegensatz zu der eher brav wirkenden Band aus Liverpool positioniert wurden, und vor allem durch ihre bis in die Gegenwart anhaltenden Erfolge zu lebenden Legenden der Popkultur geworden sind. Zwischen den Beatles und den Rolling Stones bestanden klare Unterschiede in Stil und Erscheinungsbild, sie waren gleichwohl beide integraler Bestandteil der „britischen Invasion“. Die vermeintlich große Rivalität zwischen beiden Bands, die persönlich gute Beziehungen zueinander unterhielten, war eher eine Marketingstrategie des Rolling Stones-Managers Andrew Oldham. Die Rolling Stones um den Sänger Mick Jagger und die Gitarristen Brian Jones und Keith Richards waren das wohl bekannteste, weltweit und langfristig erfolgreichste Produkt der Londoner Blues-Szene, die Anfang der 1960er Jahre im Ausgang der Skiffle-Welle entstanden war, und sich um einzelne Persönlichkei-

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ten wie Alexis Korner und John Mayall bildete. Für viele junge, ehrgeizige Musiker aus dem Großraum London, die sich um diese beiden „Lehrmeister“ gruppierten, verkörperte der Blues als traditionelle Musik der Afroamerikaner, mehr noch als der weiße Rock ’n’ Roll, das Nonplusultra der Musikentwicklung. Sowohl akustischer Country- oder Delta-Blues oder modernerer, elektrifizierter Chicago-Blues wurden von den Londoner Bands möglichst authentisch kopiert (Richards 2011). Aufgrund der kleinbürgerlichen Herkunft aus den südwestlichen Vororten Londons vieler Protagonisten dieser Blues-Szene – aus der neben den Rolling Stones auch die späteren Heroen der frühen Rockmusik wie etwa Eric Clapton, Jimmy Page oder Jeff Beck hervorgingen – sprachen Kritiker augenzwinkernd von einem Surrey Delta, in Anlehnung an das Mississippi-Delta als dem Ursprungsland des „echten“ Blues (Wald 2010; Till 2007). Die Rolling Stones waren ein typisches Produkt dieser Szene und kopierten zu Beginn ihrer Karriere auschließlich Stücke ihrer amerikanischen Vorbilder. Schon ihren wohl eher zufällig gefundenen Namen entlehnten sie einem Song von Muddy Waters, der zu dieser Zeit in den USA einem breiten Publikum weitgehend unbekannt war, wie die britischen Musiker bei einer ihrer ersten Pressekonferenzen in Amerika feststellen konnten (Diez 2007; Richards 2011). Im Umfeld der Londoner Blues-Szene entstanden weitere Bands wie die Yardbirds, Fleetwood Mac, Cream, die Small Faces und Led Zeppelin, die die „britische Invasion“ der USA Ende der 1960er Jahre fortsetzten (Headlam 1996; 1997). Eigentlich gehörte auch Jimi Hendrix zu dieser Londoner Szene, der erst in der britischen Hauptstadt seinen hochvirtuosen und prägenden Stil entwickelte. Nach seinen ersten sensationellen Erfolgen in Großbritannien kehrte er in die USA zurück, wo er auf dem Monterrey Festival 1967 zum ersten Mal auf Empfehlung von Paul McCartney und mit seiner britischen Band unter eigenem Namen vor amerikanischem Publikum auftrat. Auffallend ist bei den Londoner Bands der unterschiedliche soziale Hintergrund im Vergleich zu den BeatGruppen aus Liverpool, Manchester oder Birmingham, die der Arbeiterkultur des industriell geprägten englischen Nordens entstammten, wie auch im Vergleich zu ihren afroamerikanischen Vorbildern, die in einem weiterhin stark segregierten Umfeld operierten, einen als altmodisch empfundenen Musikstil vertraten und damit den Mainstream des vorwiegend jugendlichen Publikums der Popmusik nicht erreichen konnten. In der Nische der Londoner Blues-Szene lernten die ausnahmslos weißen, oft aus soliden Mittelklassehaushalten stammenden Nachwuchsmusiker die Routinen und Standards der schwarzen amerikanischen Blues-Musik der 1920er bis 1940er Jahre. Für den Erfolg britischer Rhythm-and-Blues-Bands war diese Konstellation ein wesentlicher Faktor: Als „weiße“ Bands hatten sie, im Fahrwasser der „britischen Invasion“, direkten Zu-

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gang zu dem riesigen Markt der amerikanischen Mittelschichtenjugend, denen sie eine Musikrichtung zugänglich machten, die selbst unter schwarzen Jugendlichen als altmodisch angesehen und gegenüber der moderneren Tanzmusik schwarzer Soul-Gruppen (etwa Twist oder Doowop) vernachlässigt wurde. In der neuen, britischen und „weißen“ Verpackung wurde die abgehalfterte Musikrichtung Blues nun plötzlich höchst populär, faszinierte ein breites, vor allem auch weißes Publikum und wurde zur Grundlage der modernen Rockmusik. Gegen Ende der 1960er Jahre wurde damit, getragen von den Erfolgen von Bands wie den Rolling Stones, Cream, Led Zeppelin und vielen anderen, auf den harmonischen Grundlagen des Blues und Rock ’n’ Roll Rockmusik als eigenständiges Genre erfunden. Diese neue Rockmusik war fest verankert in der Gegenkultur der 1960er Jahre, zu der sie gewissermaßen den Soundtrack lieferte. Dem Credo der Gegen- oder Alternativkultur entsprechend setzten sich Rockmusiker bewusst von der kommerziellen, von der Musikindustrie kontrollierten Pop- und Tanzmusik ab und pflegten ein nonkonformistisches, rebellisches Image, ohne dabei konkret politische Botschaften zu transportieren. Wie bei der Beatwelle einige Jahre zuvor bildeten englische Bands die Speerspitze dieser musikalischen Entwicklung, prägten die amerikanische Musikszene nachhaltig und erlangten damit weltweite Bedeutung. Die halbvergessene afro-amerikanische Musiktradition, der Blues, wurde so den weißen Babyboomern in den USA in neuer Aufmachung, laut und kraftvoll, und von weißen Musikern präsentiert. Viele amerikanische Teenager kamen damit zum ersten Mal mit dieser uramerikanischen Tradition in Kontakt, die ihnen zuvor in einem weiterhin stark segregierten Musikmarkt verschlossen geblieben war (Shank 2011). Im Schlagschatten dieses Prozesses wurden die Karrieren von bis dahin insgesamt wenig erfolgreichen amerikanischen Bluesmusikern neu belebt, die nun in Europa, aber auch in den USA, zu spätem Ruhm kamen und in der Folgezeit zu lebenden Legenden der Musikszene wurden, etwa B.B. King, Muddy Waters, Buddy Guy oder Howlin’ Wolf. Während diese schwarzen „Urväter“ des Blues ihrem wiederentdeckten Genre weitgehend treu blieben, begründete die Rezeption und Aneignung des Blues durch Musiker aus Großbritannien eine Stilrichtung, die in der Folge ironischerweise die „weißeste“ (und männlichste) Musikform wurde: nämlich Gitarrenrock in allen seinen Variationen, der sich immer mehr bewusst vom „Pop“, auch dem der „British Invasion“, unterscheiden wollte (Frith 2011). Die eigentliche Neuerung der Rockmusik wurde durch die technische Entwicklung elektromagnetisch verstärkter Instrumente, insbesondere der elektri-

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schen Gitarre, ermöglicht.6 Rockmusik unterschied sich in Harmonik und Rhythmik wenig von verwandten Stilarten, insbesondere Blues und Rock ’n’ Roll; Grundlage blieben das einfache Schema aus Tonika (erste Stufe), Dominante (vierte Stufe) und Subdominate (fünfte Stufe), daneben wurden in der Regel pentatonische Skalen sowie der einfache Vier-Viertel-Takt verwendet. Der entscheidende Unterschied lag, neben weiteren harmonischen und melodischen Vereinfachungen, in der reinen Lautstärke der Rockmusik und den damit verbundenen tonalen Veränderungen, die einen typischen Sound hervorbrachten, der nur bei extremer Lautstärke erreicht werden konnte. Die Beatles mit ihren Riesenkonzerten in den USA, wo sie vor zehntausenden schreienden Teenagern in Sportstadien auftraten, hatten ihren Teil zu der technischen Entwicklung beigetragen, die die Voraussetzung für die qualitative Veränderung der Rockmusik bot: Für ihre riesigen Open-Air-Konzerte benötigten sie immer leistungsfähigere Gitarrenverstärker, um sich gegenüber dem Krach des Publikums durchsetzen und sich selbst hören zu können – P.A-Anlagen, die Instrumente auf der Bühne „abnehmen“, für das Publikum verstärken und den Musikern auf der Bühne über Monitore hörbar machen, waren in den 1960er Jahren noch nicht verfügbar. Bei Liveauftritten wurde auch bei riesigen Veranstaltungen unter freiem Himmel „direkt aus den Verstärkern“ gespielt, wie bei Auftritten in kleinen Clubs. Zu diesem Zweck waren Verstärkeranlagen mit Ausgangsleistungen von über 100 Watt bald die Regel; ab den frühen 1970er Jahren traten die extremsten, d.h. lautesten Rockgruppen vor einer „Wand“ aus Verstärkertürmen auf, die selbst ikonischen Status erreichten. Die erhöhte Lautstärke führte zu einer charakteristischen Veränderung des Tons der Rockmusik: Bei Überlastung, die weit vor der maximalen Lautstärke einsetzt, produzieren Röhrenverstärker, die in den 1960er und 1970er Jahren fast ausnahmslos zum Einsatz kamen, harmonische Verzerrungen, die den Ton der Gitarre drastisch verändern. Neben kontrolliertem Feedback wurde dieser verzerrte, „dreckige“ Gitarrenton zum Inbegriff der Rockmusik und ermöglichte die beiden wichtigsten Stilmittel des neuen Genres. Zum einen das „Gitarrenriff“, ein einfaches, oft wiederholtes und den Song tragendes Motiv, zum anderen das improvisierte Gitarrensolo: Da der verzerrte Gitarrenton langes sustain, das Halten eines Tones, ermöglichte, konnten auf der elektrischen Gitarre nun Modulationen wie bisher nur auf Streich- oder Blechblasinstrumenten erzielt werden. Die elektrische Gitarre wurde damit endgültig vom Rhythmus- und Begleitinstrument zum Soloinstrument. Es waren vor allem die Pioniere der britischen Bluesmusik wie Eric Clapton, Jeff Beck und Jimmy Page, die die neuen Klang-

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Als Überblick siehe Théberge 2011.

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dimensionen der elektrischen Gitarre in Kombination mit immer leistungsfähigeren Röhrenverstärkern entdeckten und kreativ umsetzten.7 Diese technische Entwicklung als Grundlage der Rockmusik wurde ebenfalls stark von Großbritannien aus geprägt: Während die bevorzugten elektrischen Gitarren in der Regel aus ihrem Ursprungsland, den USA stammten (die wichtigsten Marken waren Fender, Gibson, Epiphone, Rickenbacker und Gretsch), prägten britische Firmen seit Beginn der 1960er Jahre den Markt für Gitarrenverstärker und überflügelten amerikanische Firmen wie Fender, Ampeg oder Gibson in diesem Bereich. Die Beatles waren zu Beginn ihrer Karriere von der Firma Vox mit Verstärkern ausgestattet worden, deren Modell AC30 zu einem Standardund Referenzmodell für den „britischen“ Gitarrenton wurde. Abbildung 2: Fender Stratocaster Hardtail und Marshall Amplifier, 1978

Quelle: Wikimedia Commons

Neben weiteren Firmen wie Orange oder Hiwatt erreichten vor allem die Produkte der Firma von Jim Marshall, dessen Verstärkertürme mit separaten Lautsprecherboxen zum Industriestandard wurden, ikonischen Status, der nur mit dem der Gitarrenmodelle der Firmen Fender (Telecaster und Stratocaster) oder Gibson (Les Paul) zu vergleichen ist. Schon technologisch beruhte die „klassische“ Rockmusik der späten 1960er und 1970er Jahre auf einer Verbindung britischer und amerikanischer Elemente: Typische Rocksounds erreichten die meis-

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Siehe Waksman 1999, der weniger an den technischen Möglichkeiten der elektrischen Gitarre als deren phallus-symbolischen Qualitäten interessiert ist. Manchmal ist eine Gitarre nur eine Gitarre.

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ten Musiker, indem sie amerikanische Gitarren mit britischen Verstärkeranlagen kombinierten. Aus transnationaler Perspektive bedeutete das britische Blues-Revival und die daraus entstehende Rock- und Hardrock-Musik die nahtlose Fortführung der britischen Invasion; nur wenige Jahre nach den phänomenalen Erfolgen der Beatles erlebten die USA eine weitere Welle britischer Bands, die nicht nur außerordentliche Erfolge feiern konnten, sondern auch die moderne Popmusik nachhaltig veränderten: Bands, die aus dem britischen Blues-Revival hervorgingen, „erfanden“ die moderne Rockmusik, aus der in den 1970er Jahren sehr schnell Subgenres wie Progressive Rock, Hard-Rock und Heavy Metal hervorgingen. Diese Fortentwicklung seit den späten 1960er Jahren kann schon an der Namensgebung abgelesen werden, sie spiegelte sich ebenso im Selbstverständnis und im Auftreten der Musiker wider. Seit den späten 1960er Jahren wurde zunehmend, von Fans wie von Kritikern, ein Unterschied zwischen Pop- und Rockmusik gemacht (Middleton 2011). Rockmusik war weniger auf standardisierte, kurzfristige Erfolge mit Single-Hits orientiert, sondern auf Langspielplatten, die als geschlossene „Kunstwerke“ verstanden und präsentiert wurden. Daneben gewannen Live-Auftritte und Rock-Festivals an Bedeutung als Ereignisse von eigener Qualität. Rock erschien nun als gegen das (aus Musikindustrie und „Gesellschaft“ gebildete) Establishment gerichtete Protestmusik, ungeachtet aller kommerziellen Erfolge der Rockmusiker und ihrer natürlich fortbestehenden Abhängigkeiten von der Musikindustrie. Abbildung 3: Led Zeppelin auf Amerika-Tour, ca. 1973

Quelle: Bob Gruen, glogster.com

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F AZIT Aus deutscher Perspektive werden Unterschiede zwischen amerikanischer und britischer Pop- und Rockmusik häufig übersehen oder unterschätzt. Daher werden aber auch Austauschprozesse zwischen den USA und Großbritannien nicht ausreichend wahrgenommen, wenn lediglich „angloamerikanische“ von deutscher Pop- und Rockmusik unterschieden wird. Deutschland und andere kontinentaleuropäische Länder erscheinen aus einer solchen Perspektive als Rezipienten „angloamerikanischer“ Entwicklungen, die passiv nachgeahmt wurden. Der eigenständige Beitrag britischer Pop- und Rockmusik wird so unter der Rubrik „Amerikanisierung“ abgelegt, wodurch entscheidende Dynamiken, die sich in Austauschprozessen zwischen Großbritannien und den USA abspielten, nicht thematisiert werden können.8 Ebenso ist die gängige Literatur zur Geschichte der jüngeren Pop- und Rockmusik – sowohl wissenschaftliche Darstellungen und Studien wie auch die zahlreichen populären Darstellungen und Künstlerbiographien, die das Feld prägen – stark auf die USA als dem „Ursprungsland“ dieser Kulturform konzentriert.9 Die „amerikanischen“ Ursprünge der Rockmusik werden dabei einseitig hervorgehoben, der entscheidende Beitrag englischer Bands zu deren Etablierung und damit zu deren Transnationalisierung aber vernachlässigt. In diesem „Narrativ“ werden in den USA erfolgreiche britische Bands, allen voran die Beatles, als Produkt der „Amerikanisierung“ domestiziert und der

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In Deutschland gab es neben den Erfolgen sowohl der „britischen Invasion“ wie des amerikanischen Rock ’n’ Roll auch eine eigenständige Rezeption vor allem des amerikanischen Blues. Zentral hierfür war das American Folk Blues Festival, das seit 1962 von den Konzertveranstaltern Lippmann und Rau organisiert wurde und viele der bis dahin, zumindest in ihrer Heimat außerhalb des „schwarzen“ Nischenmarktes, halb vergessenen amerikanischen Bluesmusiker nach Deutschland brachte. Hier fand also eine deutsche Wahrnehmung afroamerikanischer Musik ohne den Umweg über Großbritannien statt; in alternativen Milieus der späten 1960er Jahre wurde derart „authentischer“, schwarzer Blues als politische Botschaft gefeiert, da er Gelegenheit bot, sich mit den Schwarzen in den USA zu identifizieren und deren Musik als authentischen Ausdruck einer unterdrückten Kultur zu verstehen. Der weiße, britische Blues erschien dagegen als kommerzielles Produkt der Kulturindustrie und wurde als ausbeuterisch abgelehnt (Siegfried 2006).

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Siehe beispielhaft die Literatur zu Led Zeppelin: Wall 2007; Davis 2008; Hoskyns 2012.

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amerikanischen Kultur zugeschlagen.10 Die Geschichte der „britischen Invasion“ steht quer zu solchen Versuchen, Populärkultur als Teil der weltweiten, unwiderstehlichen und unaufhaltsamen „Amerikanisierung“ zu erklären. Der Erfolg britischer Pop- und Rockmusik in den USA erlaubt es vielmehr, die komplizierten transatlantischen Austauschprozesse im Bereich der Unterhaltungskultur differenziert nachzuzeichnen. Der britische Beitrag zur Rock- und Popmusik führte dabei nicht einfach zur Umkehrung der bestehenden Verhältnisse, d.h. die „britische Invasion“, mit der die dauerhafte Stellung und Bedeutung der britischen Rock- und Popmusik ihren Ausgang nahm, ist als „Anglisierung“ oder „Europäisierung“ der USA nicht angemessen zu beschreiben. Vielmehr zeigen sich hieran die Grenzen derart vereinfachender Begriffsbildungen. Insbesondere die Ikonen und Hauptträger britischer Musik in den USA, die Beatles, waren ein transnationales Phänomen sui generis, deren Musik ohne amerikanische Einflüsse und Ursprünge nicht denkbar ist: Ihre Musik entstand aus vielfältigen Aneignungen, Übernahmen und Neuerungen über nationale Grenzen hinweg. Gleichwohl kreierten gerade die Beatles einen typischen, unnachahmlichen Stil, der sich von ihren amerikanischen „Wurzeln“ klar unterschied. Die Geschichte der „britischen Invasion“ lehrt daher, dass die Geschichte der modernen Rock- und Popmusik nicht einfach als ein Kapitel in der Geschichte des weltweiten „Siegeszuges“ amerikanischer Populärkultur verstanden werden kann.

L ITERATUR Davies, Hunter: The Beatles. The Only Ever Authorised Biography, London: Ebury 2009 [1968]. Davis, John: Die Briten kommen. British Beat and the Conquest of Europe in the 1960s, in: Martin Conway/Kiran Klaus Patel (Hg.): Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, Houndmills: Palgrave Macmillan 2010, S. 229-252. Davis, Steven: Hammer of the Gods. Led Zeppelin Unauthorised, Basingstoke/Oxford: Pan Macmillan 2008. Diez, Georg: The Rolling Stones, Stuttgart: Reclam 2007.

10 In dieser Tendenz spiegelt sich der in den USA verbreitete Wille, Unterhaltungskultur als genuin amerikanischen Beitrag zu verstehen. Aus dieser Amerika-zentrierten Argumentation, die auch viele europäische Autoren ungeprüft übernehmen, kann man unschwer eine (versteckte) Antwort auf den alten europäischen Vorwurf der „Kulturlosigkeit“ Amerikas erkennen.

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Sehen

Die Illusion einer anderen Realität Cinéphiler Kulturtransfer in der DDR und in Spanien um 1960 F ERNANDO R AMOS A RENAS

Die Renaissance einer aktiven Filmkultur nach dem Zweiten Weltkrieg prägte im Laufe der trente glorieuses (1945-1975) das Kulturleben zahlreicher europäischer Länder in diversen Formen. Das Zentrum dieser Renaissance war sicherlich in Frankreich zu finden – und ganz besonders in Paris, in der Cinémathèque française, in den neuen Publikationen oder in den Filmklubs; verschiedene nationale Ausprägungen beeinflussten auch in diesen Jahren das Kulturleben in anderen politischen Kontexten. Filmgeschichtlich sind diese Entwicklungen oft als Vorstufe zur Genese der verschiedenen europäischen Neuen Wellen interpretiert worden, die ab den späten 1950er Jahren die herrschenden Verhältnisse in den nationalen Kinematographien erschütterten. Bezüglich des französischen Beispiels wären dann die Werke von Filmemachern wie François Truffaut, Jean-Luc Godard oder Claude Chabrol als Konsequenz einer Entwicklung zu verstehen, die mit dieser Renaissance ab 1944/45 einsetzte. Sogar die Karrieren dieser Filmemacher wären somit in Folge dieser cinéphilen Grandnarrative nachzuvollziehen. Alle drei entdeckten ihre Faszination für das Kino in ihrer frühen Jugend, besuchten leidenschaftlich, wenn nicht gar schlichtweg besessen, Filmklubs und gründeten selber welche, schrieben Filmkritiken in Zeitschriften wie Cahiers du cinéma und reflektierten über das Filmemachen, bevor sie zur Kamera griffen, um ihre eigenen Filme zu drehen. Die soziale und künstlerische Relevanz, die das Kino in dieser Periode erlangte, ging auch Jahre später mit starken institutionellen Modifikationen im Produktionsbereich oder in der Kulturpolitik – z.B. in der Förderung von Werken neuer Filmemacher – einher. Dieser Beitrag nimmt sich allerdings vor, diese Entwicklungen nicht nur retrospektiv, als Vorkapitel zur Entstehung der Neuen Kinos, sondern auch als selbstständige kulturelle Ausprägung zu untersuchen, und richtet dafür seinen

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analytischen Blick auf ihre Besonderheiten anhand von zwei Beispielen, die demonstrativ weit weg von den kulturellen und sozialen Koordinaten des Referenzlandes Frankreich liegen, nämlich Spanien und die DDR. Beide Filmkulturen werden dabei nicht auf ihre eigenen nationalen Traditionen, Referenzen oder Werke hin untersucht, vielmehr geht es hier darum, diese eher peripheren cinéphilen Beispiele in einem transnationalen Zusammenhang zu beleuchten. Mit den allgemeinen, internationalen Entwicklungen vor Augen, fragt dieser Text also nach den Möglichkeiten und Bedingtheiten der Prozesse (film-)kultureller Transfers, welche die Entwicklungen in beiden Ländern mitbestimmten. Um die Folgen dieses Kulturtransfers anhand eines konkreten Gegenstands aufzuzeigen, wird dieser Beitrag anschließend den analytischen Fokus auf die filmischen Diskurse um Realismus bis zum Aufkommen des Neuen Spanischen Kinos und dem 11. Plenum der SED im Dezember 1965 richten. Beide Untersuchungsfälle weisen dementsprechend auf verschiedene kinematografische Traditionen und Ausgangspositionen hin. Als Diktaturen unterschiedlicher politischer Couleur wirft deren Untersuchung relevante Fragen nicht nur bezüglich ihrer eigenen Entwicklung auf, sondern, als Teil einer internationalen cinéphilen Kultur, auch im Hinblick auf die Zirkulation und Aufnahme internationaler cinéphiler Diskurse. Mit Spanien und der DDR handelt es sich um zwei politische Systeme, in denen der internationale Kulturaustausch nur beschränkt stattfand und in denen verschiedene Formen von Zensur herrschten. Sie zeigen die Asymmetrien der jeweiligen Untersuchungsfälle, welche, so die hier aufgestellte These, gängige Annahmen hinsichtlich traditioneller cinéphiler Referenzländer wie Frankreich und, in geringerem Maße, Italien hinterfragen. Mit Realismus wird ein Begriff thematisiert, der in beiden Ländern auf eigene nationale Traditionen in verschiedenen künstlerischen Bereichen (Kino, aber auch Literatur oder Malerei) zurückblicken kann, und der in der DDR in Form des sozialistischen Realismus sogar zur Staatsdoktrin in Fragen künstlerischer Natur deklariert wurde. Der Realismus – im Kino zu dieser Zeit häufig in Bezug auf den Neorealismus problematisiert – war aber auch, neben den Diskursen um die Politique des auteurs, das Steckenpferd der europäischen Cinéphilie in den späten 1950er Jahren. Er lässt somit den Blick auf einen der wichtigsten Aspekte der Kulturtransferforschung richten, nämlich auf die kreativen, schöpferischen Aneignungs- bzw. Auswahlmechanismen der Empfänger im Rahmen des Kulturtransfers. Die Diskussionen um die „Realismen“ – in verschiedensten Formen, wie etwa der sozialistische Realismus sowie der kritische, marxistisch konnotierte Realismus à la Georg Lukács/Guido Aristarco oder à la Cesare Zavattini italienischer Herkunft belegen – und die damit einhergehenden politischen Anspielungen stehen im Zentrum dieser Studie.

C INÉPHILER K ULTURTRANSFER | 131

Diese Debatten offenbaren zwei Aspekte, die aus der Sicht der Kulturtransferforschung von besonderem Interesse sind. Sie zeigen auf der einen Seite, wie die theoretischen und ästhetischen Diskussionen an die Partikularitäten eines bestimmten sozialen Kontextes angepasst und modifiziert wurden, um zugleich an internationale Debatten Anschluss zu finden. Auf der anderen Seite, und indem sie auf Filme hinweisen, die entweder extrem zensiert oder gar nicht gezeigt wurden, lassen sie auch die Spuren der kulturpolitischen Realität deutlich erkennen, aus der sie formuliert wurden. Es entstand somit oft ein Diskurs ohne konkreten Bezug, eine Filmkritik ohne Filme – als Referenzen in Abwesenheit –, die gleichzeitig zur Projektionsfläche für die Sehnsüchte, Wünsche und Utopien einer Generation wurde. Welche sind die Protagonisten dieses Phänomens? In beiden Ländern richtet sich der analytische Fokus auf jene Zuschauergruppen, die sich leidenschaftlich dem Kino hingaben (Cinéphile). Sie sind, wie ihre anderen europäischen Pendants, ein jüngeres, großstädtisches und gebildetes Publikum – oft aus Universitätskreisen –; sie formieren also eine begrenzte Öffentlichkeit, die häufig in ihren Diskursen, Praktiken und Ritualen gegen ältere Generationen, gegen Mainstream Filmproduktionen, gegen das staatlich sanktionierte Kino und kulturpolitische Vorschriften rebelliert. Diese Leidenschaft für das Kino betraf ein wachsendes Verständnis vom Medium als Kunstform in einem deutlichen Gegensatz zu traditionelleren, familiäreren, „biedereren“ Formen des Filmgeschmacks und konsums. Wie einer der Protagonisten dieser Geschichte 1965 bemerkte: „[D]as Publikum differenziert sich mehr und mehr, und das ist gut so“ (Gehler 1965a: 15). Und das manifestierte sich in verschiedenen Formen: in den Diskursen der Filmkritik, in Praktiken wie dem Filmbesuch und der Filmdiskussion, aber auch in institutionellen Entwicklungen, wie in der Gründung von Filmfestivals, Filmklubs oder Filmhochschulen, die in beiden Ländern zu verzeichnen sind. Die Protagonisten sind also Publiken auf der Suche nach einer Distanzierung vom massenhaft Populären: Filmenthusiasten auf der Suche nach kultureller Relevanz und sozialer Distinktion.

C INÉPHILIE UND K ULTURTRANSFER – R EALISMUS , R EALISMEN Der Begriff Cinéphilie verweist auf einer etymologischen Ebene auf eine Liebe zum Kino; eine Faszination, wenn man dem leidenschaftlichen Aspekt dieser besonderen Form des Filmkonsums Rechnung tragen will. Über diesen allgemeinen Charakter hinweg soll in diesem Beitrag die Spezifizität seiner historischen

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Erscheinung in der Nachkriegszeit thematisiert werden und dabei, mit der Konzentration auf Spanien und die DDR, die klassischen cinéphilen Felder verlassen. Antoine de Baecque definiert die Cinéphilie in seiner Analyse der französischen Ausprägung (de Baecque 2003: 11) als eine besondere Art, Filme zu schauen, darüber zu reden und diesen Diskurs zu verbreiten. Er fokussiert die Filme, Figuren und Rituale der klassischen Periode, die sich in seiner Analyse von 1944 bis 1968 streckt, und verweist somit besonders auf die sozialen und diskursiven Komponenten, welche das Aufkommen eines Kinos der Moderne (Nouvelle Vague, ab Ende der 1950er Jahre) vorbereiteten und begleiteten. In Anlehnung an Thomas Elsaesser (2005) möchte ich nun in Bezug auf die Entstehung cinéphiler Kulturen eine dreifache Verschiebung (in Status, Zeit und Ort) kommentieren, die den Kern dieses Phänomens ausmacht. Neben der Verschiebung im Status des Filmwerks (shift in register), welche die cinéphilen Debatten mit sich brachten (denkt man z.B. an die künstlerischen „Aufwertung“ von Hollywood-Starregisseuren wie Howard Hawks oder Alfred Hitchcock, als diese in den 1950er Jahren als Künstler-Auteurs ihrer Filme gelobt wurden), ging auch die Genese einer starken cinéphilen Kultur mit einer zeitlichen Verschiebung einher. In diversen Debatten dieser Zeit wurde ein neuer Blick auf die Filmgeschichte geworfen und mit Hilfe von Institutionen wie Archiven, Festivals etc. aktiv gefördert. Es ist allerdings jene geographische Verschiebung (detour in place and space), auf die ich nun kurz eingehen möchte, denn sie scheint zentral zu sein, um die Cinéphilie als Kulturtransfer-Phänomen zu beleuchten. Elsaesser verweist in diesem Zusammenhang zuerst auf transatlantische Austauschprozesse von den USA nach Europa, die klare Gemeinsamkeiten mit den Entwicklungen in verschiedenen Feldern der populären Kultur wie Musik, Mode, etc. in dieser Periode aufweisen. Er bespricht allerdings ebenfalls das konträre Phänomen, als die Diskurse, in welche die Rezeption der amerikanischen Filme in Europa eingebettet war, in die USA zurückkehrten und dort die Wahrnehmung der eigenen Produktion ebenfalls beeinflussten: „The initial spatial displacement was the transatlantic passage of Hollywood films after World War II to newly liberated France [...]. In the early 1960s, the transatlantic passage went in the opposite direction, when the discourse of auteurism travelled from Paris to New York [...].“ (Elsaesser 2005: 30)

In einem Prozess, der an den Relevanzgewinn des Blues unter jungen Europäern und seine Wiederentdeckung in den USA im Laufe der 1960er Jahre erinnert, sollte also die bereits erwähnte künstlerische Aufwertung von HollywoodRegisseuren im Paris der 1950er Jahre die spätere Wahrnehmung dieser Filme-

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macher in den USA sowie die eigene Karriere der europäischen Regisseure der Neuen Wellen entscheidend prägen. Neben diesen oft besprochenen, transozeanischen wechselseitigen Austauschprozessen gibt es allerdings eine zweite Ebene, die ebenso wichtig für die cinéphile Geschichte war, die aber im Zuge der Erfolgsgeschichte dieser Transfers oft in Vergessenheit geriet. Eine Ebene, die nun genauer fokussiert wird – die der binneneuropäischen Transferprozesse. Inwieweit ist dieses Phänomen aus der Kulturtransfer-Forschung zu beleuchten? Während Kulturtransfer-Ansätze in der Regel von zwei geographischen Polen – einem Ursprungs- und einem Aufnahmeland – ausgehen, möchte ich hier dieses Modell wenn nicht direkt hinterfragen, so doch in diesem Fall an einigen Punkten erweitern. Hier ist somit eher von einer gemeinsamen europäischen Filmkultur auszugehen, deren Säulen und Referenzen auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Ländern zu finden sind. Passionierte Cinéphile blickten in dieser Zeit zunehmend auf eine gemeinsame Geschichte zurück. Einen französischen Hintergrund weisen beispielsweise die Diskurse der Politique des auteurs der 1950er Jahre auf, aber auch die Werke des filmischen Impressionismus (1920er Jahre) oder des Poetischen Realismus aus der Zwischenkriegszeit, die nun einer gemeinsamen, „kanonisierten“ Tradition zugeschrieben werden; ebenfalls Filmemacher wie Jean Renoir oder René Clair. In Italien sind das die Produktionen und filmkritischen Diskurse um den (Neo-)Realismus während der zweiten Nachkriegszeit, konkret Namen wie Roberto Rossellini oder Luchino Visconti, die zu Koryphäen des Modernen Kinos avancieren. Neben Italien und Frankreich sind ebenfalls ältere Referenzen in den sowjetischen Produktionen der 1920er Jahre ausfindig zu machen: Trotz zeitlicher und ideologischer Distanz gelten die wichtigsten Werke der russischen Avantgarde dieses Jahrzehntes immer noch als Orientierungspunkte einer neuen, modernen Cinéphilie der 1950er und 1960er Jahre. Neben diesen Traditionslinien und Referenzen, welche den gemeinsamen Hintergrund deutlich machen, sind ebenfalls „Netzwerk-Knoten“ zu erwähnen, die zur Herausbildung eines gemeinsamen, europäischen Referenzrahmens beitrugen. Zu diesen zählen Filmfestivals, die in dieser Periode wie Pilze aus diesem reichen filmkulturellen Boden schossen, beispielsweise Cannes und Karlsbad 1946, Edinburgh 1947, Biarritz (Festival du Film Maudit) 1949, Berlin 1951, San Sebastian 1953 oder Leipzig 1955. Aber auch Organisationen wie die Fédération Internationale des Archives du Film (1938) oder Fédération Internationale des Ciné-Clubs (1947), die kurz vor und nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurden. Ein weiterer Aspekt dieser kaleidoskopischen filmkulturellen

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Renaissance sind die neuen Referenzpublikationen, die, einem Fachpublikum gewidmet, von der Faszination und kulturellen Resonanz des Mediums Film zeugen. Neben verschiedenen nationalen Zeitschriften wie Die deutsche Filmkunst (DDR 1953), Film Ideal (Spanien 1956), oder Filmkritik (BRD 1957) werden die Cahiers du cinéma in Frankreich (1951) und Cinema Nuovo in Italien (1952) zu Leuchttürmen einer europäischen Cinéphilie. Publikationen, die europaweit, wenn nicht immer reibungslos rezipiert, so doch aus der Distanz diskutiert wurden, und bei denen Referenzkritiker wie André Bazin oder Guido Aristarco ihre Texte veröffentlichten. Filmenthusiasten schauten sich, oft in einem institutionellen Rahmen – bei Festivals und Filmwochen, in neu gegründeten Kinematheken, Archiven, Filmhochschulen oder Filmklubs – ähnliche Filme an, besprachen sie und entfalteten dabei Diskurse, die ihnen dazu dienten, nicht nur über Kino, sondern auch über ihre eigene Realität zu reflektieren. Die Entstehung einer cinéphilen Kultur kann einerseits als eine populäre, zum Teil konfrontative Kultur verstanden werden; andererseits verlief ihre Entfaltung parallel zu einer wachsenden institutionellen, oft staatlichen Unterstützung. Diese Liste könnte auf weitere Phänomene erweitert werden, nicht zuletzt auf Kontakte privater Natur, z.B. Reisen, gegenseitige Besuche zwischen Cinéphilen, die in vielen Fällen den eigentlichen Hintergrund dieser Netzwerke und Transfers ausmachten. Wichtig ist jedoch, dass hiermit eine gemeinsame Basis erschaffen wurde, eine transnationale cinéphile Kultur – mit ähnlichen Referenzen, Werten, Traditionen, Diskursen –, die aber gleichzeitig deutliche nationale Unterschiede aufwies (Ramos Arenas 2012: 20f.). Die Bezüge auf die internationale Tradition und auf zeitgenössische Entwicklungen, die jenseits der eigenen Grenzen stattfinden, wurden im Laufe der 1950er und 1960er Jahre immer deutlicher, als die Neuen Kinos ihre ersten wichtigsten Werke produzierten; sie bezogen sich allerdings auch auf den eigenen nationalen Fundus. Dieser Beitrag wird nun dieses Spannungsfeld zwischen Internationalismus und dem Gewicht der eigenen Traditionen untersuchen und konkret die Partikularitäten des cinéphilen Kulturtransfers anhand des Beispiels der Debatten um Realismus in den wichtigsten Publikationen der Zeit beleuchten. Dabei sollen allgemeine Tendenzen illustriert werden, welche auf jene kreative Umdeutungsmechanismen der Empfangskulturen hinweisen. Es werden aber zuerst einige Informationen zu den Kontexten geliefert, in denen sich diese Debatten entfalteten. Besondere Berücksichtigung wird dabei die Rezeption der italienischen Filme der neorealistischen Schule finden. Den technischen Möglichkeiten des Kinos geschuldet sind Diskussionen um Realismus so alt wie das Medium selbst; diese wurden allerdings seit Ende des Zweiten Weltkrieges in westeuropäischen Ländern rasch reaktiviert und sollten

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einen Großteil der filmkritischen Diskussion bis in die frühen 1960er Jahre bestimmen. Zu den wichtigsten Akteuren in diesen Debatten zählten, ohne die Referenzländer Frankreich und Italien verlassen zu müssen, André Bazin, Cesare Zavattini oder Guido Aristarco; Filmkritiker und -theoretiker, die verschiedene Konzeptionen des filmischen Realismus vertraten, die vom katholischen und phänomenologischen Humanismus eines Bazin bis zur marxistisch geprägten Position Aristarcos reichten. Diese Autoren nahmen in ihren Überlegungen Bezug auf die Filme der neorealistischen Schule oder wirkten – wie C. Zavattini – an diesen selber mit: Werke, welche eine ästhetische und ideologische Alternative zu den gängigen Produktionen in Italien darstellten und als Vorreiter der Neuen Wellen ab den späten 1950er Jahren galten (Haaland 2012). Die Diskurse und die Filme prägten, so die hier aufgestellte These, das filmkulturelle Leben Spaniens und der DDR in den kommenden 20 Jahren sehr unterschiedlich. Trotz Hindernissen verschiedener Art nahmen beide Länder Notiz vom neorealistischen Impuls und adaptierten bzw. konfrontierten ihn mit den eigenen nationalen filmkulturellen Realitäten.

Z UM E INSTIEG – S PANISCHE K ONTAKT

UND

DDR-C INÉPHILE

KOMMEN IN

Im Kontext der kritischen Diskussion um den (Neo-)Realismus verfasste der spätere Medienwissenschaftler Román Gubern, zu der Zeit (1962) regelmäßiger Autor bei der spanischen Zeitschrift Cinema Universitario und Student an der offiziellen Filmhochschule (IIEC), seine Gedanken zur Krise des sozialen Kinos in der 15. Nummer der Zeitschrift. Dabei charakterisierte er die neorealistischen Filme als proletarisches Kino, das ab 1949 den politischen Umwandlungen in der italienischen Gesellschaft zum Opfer gefallen war. Der Artikel schließt mit einem Plädoyer für ein authentisches, soziales Kino ab, das „die Erforschung und Analyse der Beziehungen zwischen proletarischen und bourgeoisen Klassen“ als Ziel haben solle. Im letzten Absatz findet man noch einen Hinweis auf das osteuropäische Kino, allerdings einen kritischen: Dieses Kino werde keine Lösungen bieten, so Gubern, denn die Umstände seiner Herstellung sind sehr unterschiedlich zu denen in Westeuropa. Diese letzten Kommentare nimmt sich Marcel Plans im 17. Heft zum Anlass, um den „sozialen Realismus“1 zu verteidigen. Der spanische Student an der

1

Plans spricht in seinem Beitrag von „sozialem Realismus“, sein Text macht allerdings klar, dass es sich um sozialistischen Realismus handelt.

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Hochschule für Filmkunst in Babelsberg wirft Gubern fehlende Objektivität in seinen Ausführungen vor und argumentiert dabei sehr linientreu nach den Prinzipien der SED: Der XX. Parteitag der KPdSU habe nicht diese Doktrin eingestellt, sondern sie einfach verstärkt; der soziale Realismus sei kein Stil, sondern eine allgemeine Norm, die verschiedene Stilrichtungen erlaubt, etc. Seine Argumente stützen sich eher auf kulturpolitische Positionen und verzichten dabei auf Filme als Beispiele, um die Thesen zu untermauern (Plans 1962). Guberns Replik erfolgt in Nummer 18 und sie verrät eine Reihe von Referenzen, die nicht nur über jene hinausgehen, welche dem spanischen Student aus der DDR sicherlich zur Verfügung standen. Sie weist auch auf die oft im Verborgenen stattgefundene Rezeption internationaler Autoren hin. Um dem sozialistischen Realismus treu zu bleiben, bezieht sich Gubern auf Wsewolod Pudowkin, aber auch auf Filme von Sergei Eisenstein (Iwan der Schreckliche, 1944). Aufschlussreicher wird es allerdings, als er die großen Referenzpublikationen in der europäischen Cinéphilie der Zeit betont: Cahiers du cinéma, aber hauptsächlich die links orientierte Positif (Frankreich) und Cinema Nuovo von Guido Aristarco (Italien) sowie Autoren wie Antonio Gramsci, dessen RealismusVerständnis besondere Erwähnung findet, um es dem sozialistischen Realismus der DDR entgegenzusetzen. Sind diese zwei Positionen repräsentativ für beide Filmkulturen?

Z WISCHEN K ATHOLIKEN UND M ARXISTEN – N EOREALISMUS IN S PANIEN Seit den späten 1940er Jahren war die Frage des Realismus im spanischen Fall an die Rezeption des italienischen neorealistischen Kinos gebunden – an dessen verhinderte Rezeption. Dies mag zuerst überraschend sein, denn das italienische Kino war einer der großen Gewinner in der spanischen Nach-Bürgerkriegszeit: Italienische Produktionen konnten von der internationalen politischen Lage profitieren, vor allem wenn diese mit propagandistischen Zwecken eingesetzt wurden. Noch während des Zweiten Weltkrieges wurden in Madrid beispielsweise 97 italienische Filme aufgeführt (Monterde 2005: 99). Viele von diesen faschistischen Produktionen, historischen Epen und Telefono-Bianco-Filmen waren von den neorealistischen Prinzipien noch weit entfernt; sie deuteten allerdings auf eine Basis kommerzieller Kontakte hin, auf der dann die Rezeption der moderneren, neorealistischen Filme erfolgen konnte. Diese sollte sich allerdings als sehr problematisch erweisen, denn der sozialkritische Unterton, der ab 1945 die neorealistischen Produktionen auszeichnete,

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wurde in Spanien – so unterschiedlich die gesellschaftlichen Kontexte sein mögen – von den Zensurbehörden nur ausnahmsweise geduldet. Demzufolge ging die Zensur gegen neorealistische Filme besonders hart vor: Umberto D von Vittorio de Sica (1952) wurde nicht in den kommerziellen Kinos zugelassen; auch nicht Werke wie Ossessione (1942) und Die Erde bebt (1948) von Luchino Visconti oder Caccia tragica (1947) von Guiseppe De Santis (Gubern/Font 1975: 62). Filme, die mehr Glück erfuhren und tatsächlich gezeigt wurden, konnten sich den Zensurbestimmungen auch nicht komplett entziehen und wurden dadurch entscheidend transformiert. Ein gutes Beispiel dieses Phänomens stellt Fahrraddiebe dar (Vittorio de Sica, 1948), der erst 1950 in Madrid zensiert und mit einer neuen – im Original nicht enthaltenen – Off-Stimme uraufgeführt wurde, welche die ursprüngliche Botschaft des Filmes deutlich verzerrte. Während der letzten Szene des Films, als der Protagonist, besiegt, gedemütigt und mit seinem Sohn an der Seite ziellos durch die menschenvollen Straßen Roms geht, erläutert diese Stimme, als moralisches Fazit, aber auch als aufheiternder Kontrapunkt zu der Trostlosigkeit der Bilder: „Die Zukunft erschien diesem Mann voller Angst, aber er war nicht mehr alleine. Die warme Hand des jungen Bruno zwischen seinen eigenen [Händen] vermittelte ihm den Glauben und Hoffnung an eine bessere Welt, eine Welt, in der die Menschen, die zu gegenseitigem Verständnis und Liebe gerufen wurden, das großzügige Ideal christlicher Solidarität erreichen würden.“2 Die Arbeit der obersten Zensurstelle (Junta Superior de Orientación Cinematográfica) beschränkte sich also nicht nur auf den Neuschnitt der Werke, sie veränderte auch deren Sinn durch Eingriffe dieser Art, welche die ideologische (nationalkatholische) Ausrichtung des Regimes deutlich machten. Wenn auch diese Periode besonders auffällig sein mag, stellte sie doch keine Ausnahme dar. Alle ausländischen Produktionen mussten zwischen 1941 und 1947 synchronisiert werden, so dass die Zensur seit den ersten Jahren der Diktatur zu den strukturellen Merkmalen der Filmkultur gehörte. Die Rezeption war nicht nur begrenzt; sie geschah auch mit einer deutlichen Verspätung im Vergleich zu den Produktionsjahren. Die Rezeptionsgeschichte von Roberto Rosellinis neorealistischer Trilogie – Rom, offene Stadt (1945), Paisà (1946) und Deutschland im Jahre Null (1947) – führt das ebenfalls gut vor Augen. Wie viele der bereits erwähnten Beispiele kamen diese Filme nicht in die

2

„El mañana aparecía lleno de angustia ante este hombre, pero ya no estaba solo. La cálida manecita del pequeño Bruno entre las suyas hablábale de fé y esperanza en un mundo mejor, en un mundo donde los hombres llamados a comprenderse y amarse, lograrían el generoso ideal de una cristiana solidaridad.“ (Übersetzung F.R.A.)

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kommerziellen Kinos. Rom, offene Stadt kannte eine Premiere 24 Jahre nach seiner Anfertigung, 1969, aber nur in den Kinos de Arte y Ensayo, die, 1967 gegründet und unter besonderen Zensurbedingungen agierend, Filme in größeren Städten einem spezialisierten Publikum präsentierten. Paisà und Deutschland im Jahre Null konnten, bis auf einige Ausnahmen, die später erläutert werden sollen, erst 1970 im Rahmen der Filmwoche XV Semana Internacional de Cine Religioso y Valores Humanos in Valladolid gezeigt werden – als der Film einen Großteil seiner subversiven Kraft, die auf der Behandlung zeitgenössischer Probleme beruhte, schon deutlich eingebüßt hatte. Über konventionelle Distributionswege hinaus fand eine alternative Rezeption oft in kleineren, eher spezialisierten Kreisen statt, die eine besondere Beziehung zum Ausland unterhielten, z.B. in der italienischen Botschaft in Madrid ab 1950, wobei hier die Aufführungen privater Natur waren. Relevant für einen größeren Kreis passionierter Zuschauer und für jüngere Generationen von Filmemachern waren zu dieser Zeit die Wochen des italienischen Kinos, die ab 1951 in Madrid und Barcelona einige in diesen Jahren auf den kommerziellen Leinwänden noch nicht gespielten Filme zeigten. An der ersten Woche des italienischen Kinos, die 1951 stattfand und vom Italienischen Kulturinstitut in Madrid organisiert wurde, nahm beispielweise ein kleiner Kreis relevanter Vertreter des spanischen Kinos und des politischen Dissenses teil. Hier wurden einige Sequenzen von Paisà neben Fellinis Debüt (als Co-Regisseur von Luci del varietà, 1950) gezeigt. Die Filme für diese Veranstaltungen waren als Diplomatengepäck eingereist und konnten sich somit den üblichen Zensurbestimmungen entziehen. José Enrique Monterde (2005: 102) weist allerdings darauf hin, dass es wahrscheinlich ist, dass hinter der Ankündigung einzelner Szenen sich eine private Aufführung des ganzen Filmes versteckte, die keine unnötige offizielle Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Der Neorealismus gewann ab Mitte der 1950er Jahre, nach diesen und ähnlichen Veranstaltungen – zum Beispiel in der 1955 stattgefundenen Tagung Conversaciones de Salamanca, an der Fahrraddiebe ebenfalls gezeigt wurde (Cerón Gómez 2006: 99) – auch an Präsenz in den Filmklubs, die sich in diesen Jahren den Neorealismus als moderne Alternative zum konventionellen Kino aneigneten. Diese Institutionen konnten seit den späten 1950er Jahren ihre Arbeit unter besonderen Bestimmungen realisieren und an ihren privaten Aufführungen, an denen nur ihre Mitglieder teilnehmen durften, Filme zeigen, die dem „normalen“ Publikum nicht zugelassen waren. Diese Fälle sowie die Möglichkeiten, die sich den Filmenthusiasten boten, welche ins Ausland fahren oder Filmfestivals besuchen konnten, um sich diese Filme anzuschauen, sollen allerdings nicht deren Ausnahmecharakter vergessen

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lassen. Generell kann man also behaupten, dass die Rezeption dieser Filme sehr begrenzt, verspätet und defizitär war. Im Vergleich zu diesem eher tristen Film-Panorama kann man relativ früh eine deutliche Orientierung am italienischen Neorealismus in den spanischen Filmdebatten feststellen. Und hiermit stößt man auf einen der interessantesten Widersprüche, der die Rezeption des Neorealismus markieren sollte. Denn die Diskussion um Realismus war in diesen Jahren, trotz materieller Hindernisse und politischer Bevormundung, sehr lebendig. Tatsächlich wurde der Neorealismus zum großen Teil gelesen, aber nicht gesehen. Der sorglose Umgang mit den wenigen Filmen, die gesehen werden konnten, aber auch mit den wenigen Informationen über diese, die den Filmenthusiasten zur Verfügung standen, war dementsprechend nicht immer sachgerecht. Und so sind zahlreiche Ungenauigkeiten in den Texten (Artikeln in Zeitschriften, Büchern) zu Paisà oder Deutschland im Jahre Null zu bezeichnen (Monterde 2005: 106). Über diese Schwierigkeiten hinaus lassen sich aber anhand einer Analyse der relevantesten Publikationen der Zeit folgende Positionen ausmachen: In Zeitschriften wie Primer Plano – die als staatlich-linientreu galt – wurden die neorealistischen Einflüsse, konkret die Filme sowie die Versuche, lokale Filmproduktionen am italienischen Vorbild zu orientieren, passend zu der bis Ende der 1950er Jahre herrschenden autarken Kulturpolitik mit dem Argument der Überfremdung attackiert. Das war allerdings nicht die einzige Position, die in regimenahen Kreisen vertreten wurde. Katholische Magazine integrierten realistische Ansätze zum Teil in den eigenen Diskurs – oft durch Betonung bestimmter passender Aspekte – und Filme wurden somit oft nach Spüren einer katholischen „Transzendenz“ aufgesucht (Monterde 2006: 59f.). Der Generaldirektor für Kinematographie und Theater zwischen 1951 und 1952 sowie zwischen 1962 und 1967, José María García Escudero,3 hatte sich seit den frühen 1950er Jahren an den italienischen Neorealismus gerichtet auf der Suche nach einer erneuernden Kraft für die nationale Kinematographie. Bereits 1951, in seinen Beiträgen in der regimetreuen Zeitschrift Arriba, hatte er die leitenden Prinzipien seiner Vorstellung eines modernen spanischen Kinos nach neorealistischem Vorbild erläutert.4 Die ersten Jahre bis 1959 der Zeitschrift Film Ideal (1956-1970), eines der führenden cinéphilen Organe, lassen auch eine Beschäftigung mit der Realis-

3

1957, nach der Gründung der Nationalen Föderation der Filmklubs, wurde er auch de-

4

Siehe auch seine 1954 erschienene Historia en cien palabras del cine español, Sala-

ren Vorsitzender. manca: Cuadernos del Cineclub de Salamanca.

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mus-Problematik erkennen, die sich auf katholische Ansätze stützte.5 Film Ideal wurde in ihrem Ursprung als populäre Zeitschrift konzipiert, welche die Arbeit katholischer Filmklubs unterstützen sollte. Bereits in der zweiten Nummer findet sich eine Reihe von Artikeln, die den Neorealismus aus der rechten, katholischen Perspektive verteidigen. Der Kritiker Juan Cobos weist beispielsweise darauf hin (Nummer 3, 1956), dass der Wert dieser Filme darin liegt, dass sie die Botschaft Christi wiederholen. In dieser Hinsicht ist es deswegen nicht verwunderlich, dass er zugleich Viscontis neorealistischen „Noir“ Ossessione (1942) aufgrund seiner „Verachtung religiöser Werte, des Fatalismus seiner Charaktere, seiner Konzentration auf die Szenen totaler Unanständigkeit, seines betonten Kommunismus“6 angreift. Gleichzeitig wurde ein alternativer neorealistischer Kanon vorgeschlagen, der den katholischen Empfindungen näher steht: Filme wie I bambini ci guardano (Vittorio de Sica, 1944) oder Quattro passi fra le nuvole (Alessandro Blasetti, 1942). In weiteren Artikeln aus dem Jahr 1957, die dem Neorealismus gewidmet werden, wird der moralische Charakter der Bewegung betont, allerdings unter anderem anhand von Werken wie Paisà oder Rom, offene Stadt, die von den meisten Lesern nicht gesehen werden konnten. Dem italienischen Kino wird auch in derselben Publikation eine ganze Nummer (20, im Juni 1958) gewidmet, die sich schon teilweise als Nachruf auf den Neorealismus lesen lässt. Die Karrieren von Vittorio de Sica, Roberto Rossellini, Luchino Visconti und Michelangelo Antonioni werden dabei besprochen, und gleichzeitig werden die Grenzen des neorealistischen Projektes kommentiert. Besonders Antonioni oder Fellini zeigen die neuen Wege des italienischen Kinos, die vom Neorealismus Abschied nehmen (Nieto Ferrando 2009: 422f.). Ebenfalls aus katholischen Positionen verteidigte die Filmzeitschrift Documentos Cinematográficos (19601963), die aus dem Filmklub Monterols in Barcelona entstanden war, neorealistische Ansätze und zeigte dabei ein besonderes Interesse am Werk von Roberto Rossellini trotz der bereits erwähnten Einschränkungen, die mit der mangelhaften Rezeption seiner Filme in Spanien einhergingen. In den Zeitschriften, die sich der offiziellen Linie offen entgegensetzten, deuteten kulturelle Dissidenten diese Einflüsse aus dem Ausland als ein Vorbild für die nationale Produktion sowie als Beispiel eines europäischen Kunstkinos, das – in einem klassischen anti-amerikanischen Duktus – in der Lage war, den Holly-

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Der Name der Zeitschrift betont diesen klaren katholischen Einfluss; er geht auf eine

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„Su desprecio de los valores religiosos, el fatalismo de sus personajes, el recrearse en

Rede des Papstes Pius XII. im Juni 1955 zurück: Der ideale Film. escenas de una inmundicia total, su acentrado comunismo“ (Übersetzung F.R.A.; zit. nach Nieto Ferrando 2009: 423).

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wood-Produktionen die Stirn zu bieten. In cinéphilen Publikationen, die nah an linken Kreisen waren, gewann Cesare Zavattinis Auslegung des Neorealismus an Relevanz, wodurch marxistische Elemente hervorgehoben wurden. Neorealismus wurde dabei als modernes Kino verstanden, welches eine kritische Position gegenüber den Ungerechtigkeiten der spanischen Diktatur einnehmen sollte. Die Fachzeitschrift Objetivo – ab 1953 nach dem Vorbild vom italienischen Cinema Nuovo erschienen – schrieb sich konsequent die Fragen um den Realismus hauptsächlich in seiner italienischen, neorealistischen Auslegung auf die Fahne. Es handelte sich um ein kurzlebiges Abenteuer, das 1955 nach nur neun Ausgaben wieder eingestellt wurde. Zum Redaktionskomitee gehörten unter anderem Ricardo Muñoz Suay, Eduardo Ducay und der Filmregisseur Juan Antonio Bardem, die auch Mitglieder der selbstverständlich verbotenen Kommunistischen Partei Spaniens waren. Diese klare linke Ausrichtung war allerdings nicht nur in der Struktur, sondern auch in den Inhalten zu sehen; Inhalte, die auch breit international aufgestellt waren.7 Der Bezug auf die neorealistische Produktion, aber hauptsächlich auf deren ästhetische und ideologische Postulate, untermauerte das internationale Bewusstsein des Blatts. Dass die Zeitschrift Objetivo in diesem Zusammenhang ausführlicher besprochen wird, hat nicht nur mit ihrer – eher mageren – Textproduktion, sondern auch mit ihrer Vorreiterrolle als wichtigem Akteur in der spanischen cinéphilen Szene der Zeit zu tun. Sie zählte neben dem universitären Filmklub Salamanca-SEU zu den Mitveranstaltern der bereits erwähnten Conversaciones de Salamanca, einer Filmtagung, an der im Mai 1955 Vertreter der verschiedenen Gruppierungen der spanischen Filmkultur (Filmemacher, Filmkritiker, Filmklubaktivisten, Politiker) teilnahmen und die aktuelle Lage des nationalen Kinos kritisch besprachen. Die filmkritische Linie von Objetivo, die man als marxistisch-neorealistisch bezeichnen kann, setzte Cinema Universitario fort, die vom universitären Filmklub Salamanca-SEU zwischen 1955 und 1963 herausgegeben wurde. Bereits in der ersten und zweiten Nummer der neuen Publikation wird Neorealismus als Vorbild besprochen, das die nationale Filmproduktion – und hauptsächlich die der jungen Filmemacher – reaktivieren soll. In den kommenden Nummern wird die Figur von Cesare Zavattini immer wieder hervorgehoben, Filme wie Umberto D als Referenz erwähnt. Cinema Universitario widmete ebenfalls mehrere Seiten ihrer vierten

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Man findet somit Beiträge von Cesare Zavattini – die erste Nummer ist in der Tat fast eine Monographie des italienischen Theoretikers und Drehbuchautors –, Georges Sadoul oder John Grierson. Bereits in ihrer ersten Nummer erwähnt diese Publikation andere Zeitschriften, die sie als Gleichgesinnte versteht (Sight and Sound, Cahiers du cinéma).

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Nummer (Dezember 1956) dem Neorealismus, inklusive einem Interview mit Vittorio de Sica. Die neorealistische Präsenz in der Zeitschrift wurde allerdings mit der Zeit immer seltener; hauptsächlich aufgrund der Entwicklungen in Italien, bei denen Regisseure wie F. Fellini, M. Antonioni oder P. P. Pasolini immer mehr auf Distanz von den neorealistischen Postulaten gingen. Die Grenzen des (neo-)realistischen Paradigmas wurden ab den späten 1950er Jahren immer deutlicher: Grenzen in politischem Sinne (bezüglich der Frage nach den Bedingungen eines realistischen Diskurses innerhalb einer „zensierten“ Filmkultur), aber auch aufgrund der formästhetischen Herausforderungen, die von den neuen Kinos gestellt wurden. Innerhalb der italienischen Tradition sind in diesem Zusammenhang ab den frühen 1960er Jahren die neuen Werke von Regisseuren wie M. Antonioni oder P. P. Pasolini zu erwähnen – die ebenfalls unter schwierigen Umständen rezipiert wurden. Nuestro Cine, die 1961 mit einem Coverfoto von Michelangelo Antonionis La avventura (1960)8 auf den Markt kam und sich in einer linken Tradition sah, nahm deutlich Distanz zum Neorealismus und erprobte zugleich neue filmkritische Wege. Bis 1965 wird die Frage um Realismus von zentraler Bedeutung für die Zeitschrift: Die Tendenz ging aber nun in Richtung eines „kritischen Realismus“ marxistischen Hintergrundes, der sich ebenfalls an Italien (nicht zuletzt wegen der verständlichen Sprache) und hauptsächlich an der theoretischen Produktion der Zeitschrift Cinema Nuovo orientierte.9 Viele der Vertreter des Neuen Spanischen Kinos (Nuevo Cine Español), die ab den frühen 1960er Jahren die nationale Antwort auf andere europäische neue bzw. junge Wellen gaben, kamen aus diesen cinéphilen Kreisen, auf die der Neorealismus so einen entscheidenden Einfluss gehabt hatte. Ihre Werke sollten sowohl stilistisch als auch thematisch diesen Einfluss reflektieren.

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In Spanien wurde dieser Film, bis auf einige Aufführungen in der spanischen Kinema-

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Einige Beispiele aus Nuestro Cinema im Laufe der frühen 1960er Jahre, welche dieser

thek 1963, erst 1969 aufgeführt. filmkritischen Linie folgen und auf die Monterde (2003: 109f.) hinweist: Alrededor del realismo von Juan García Hortelano (Nr. 1); Cine y sociedad von Antonio Ferres (Nr. 13); Un nuevo sentimiento de realidad (Nr. 14) und Qué es realismo cinematográfico? von Roman Gubern (Nr. 19); Notas sobre el nuevo realismo italiano von Santiago San Miguel (Nr. 27) oder Realismo y Coexistencia von Victor Erice (Nr. 27).

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R EALISMUS IST ( NICHT NUR ) S TAATSSACHE – F ILME UND D ISKURSE IN DER DDR Selbstverständlich fanden die Diskussionen um Realismus in der DDR unter ganz anderen politischen und ästhetischen Parametern statt. Der Realismus gehörte in seiner sowjetischen Auslegung des sozialistischen Realismus zum offiziellen künstlerischen Kanon des ostdeutschen Staates seit der Staatsgründung. Seine filmkritische Umsetzung wurde in den frühen 1950er Jahren an diversen Foren – hauptsächlich nach der Parteikonferenz im Juni 1952 – intensiviert und sollte die Filmproduktion der DEFA während der kommenden Jahre entscheidend prägen. Zeitgenössische Berichte sowie spätere Studien belegen, dass die sozialrealistische Ästhetik nicht gerade auf Begeisterung unter den ostdeutschen Kinozuschauern gestoßen ist (Allan 1999: 8; Heimann 1994: 225f.). Besonders jene Zuschauer, die bis 1965 in Filmklubs oder Publikationen ihre Kinofaszination auslebten, rebellierten hauptsächlich gegen ihre Prinzipien und Werke. Dabei stützten sich diese Positionen auf eine Doktrin, die seit den 1930er Jahre deutlich gemacht hatte, dass sie mit den kritischen Untertönen des Neorealismus schwer zu vereinbaren war. In Italien waren wichtige neorealistische Filme bereits seit den späteren 1940er Jahren von der kommunistischen Presse attackiert worden, eine Entwicklung, die diesen Werken keine einfache Rezeption in der DDR prognostizierte. Obwohl ursprünglich alles anders aussah. Diese Filme wurden in der Sowjetischen Besatzungszone zuerst positiv besprochen, bereits 1947 publizierte K. H. Bergmann, „Quo Vadis Italia“ in der Neuen Filmwelt und setzte sich mit der Bewegung positiv auseinander. Zu der Zeit konnte Roberto Rossellini Berlin als Schauplatz für sein Deutschland im Jahre Null nutzen und auch auf der Produktionsebene gab es eine klare ästhetische und thematische Verwandtschaft zwischen neorealistischen und den Trümmer-Filmen der frühen DEFA-Produktion. Realismus – und als Gegenpole Ästhetizismus, Formalismus usw. – war aber ab den frühen 1950er Jahren oft als diskursive Kategorie zu deuten, die erst in ihrer konkreten politisch geprägten Umsetzung an Sinn gewann. Andere, nicht staatlich sanktionierte realistische Tendenzen, z.B. Neorealismus bzw. kritischer Realismus, wurden als suspekt betrachtet. Aber es gab tatsächlich eine Rezeption neorealistischer Filme, oder mindestens eine Rezeption einiger dieser. Wie im spanischen Fall konnten diese Werke nur mit mehrjähriger Verspätung rezipiert werden. Vittorio de Sicas Filme – Fahrraddiebe (erst 1953 in der DDR aufgeführt), Umberto D. (ab 1955 in der DDR zu sehen) oder Schuhputzer (der in der DDR erst ein Jahrzehnt nach seiner Produktion 1946 gesehen werden konnte) – Luchino Viscontis Die Erde bebt (ebenfalls 1956 aufgeführt) oder – den neorealistischen Prinzipien nicht mehr so

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nah – F. Fellinis La Strada (1961) sowie Viscontis Rocco und seine Brüder (1962) waren generell erfolgreich bei den Zuschauern. Sie machten aber nur einen kleinen Teil der insgesamt 73 italienischen Filme aus, die in der DDR bis 1961 aufgeführt wurden (Kersten 1963: 360). Die neorealistischen Werke Rossellinis blieben beispielsweise unbekannt, bis sie erst viele Jahre später vom CAMERA-Programm des Staatlichen Filmarchivs in Umlauf gebracht wurden.10 Der Filmklub-Bewegung, die im Vergleich zu Spanien in der DDR erst im Jahre 1956 eine erste Gründungswelle kannte und sich dann ab den frühen 1960er Jahren etablieren konnte, blieb der Neorealismus in diesen ersten Jahren ebenfalls versperrt. Wenn ab 1962 jedoch eine gewisse Öffnung nach neuen internationalen Tendenzen zu konstatieren war, orientierte sich diese hauptsächlich an den osteuropäischen Produktionen. Die Möglichkeiten, die dieser nur zum Teil rezipierte Neorealismus den ostdeutschen Cinéasten eröffnete, wurden aber schnell erkannt. Die Filme wurden zu Referenzwerken in kleineren Kreisen, die der offiziellen kulturpolitischen Linie mit ihrer Hervorhebung der „Methode“ des sozialistischen Realismus und ihrer „positiven“ Helden kritisch gegenüberstanden. Wolfgang Kohlhaase, der zu der Zeit seine Karriere als Drehbuchautor für die DEFA begann, betonte in diesem Zusammenhang den Wert, welchen diese Filme als Alternative zu den homogenen DEFA-Produktionen besaßen: „Wir hatten uns damals zum Neorealismus bekannt, wenn wir nach unseren Vorbildern gefragt wurden. Andere fielen uns nicht ein. Einige entgegneten, der kritische Realismus, auch der sozialkritische, kann doch für die Fragestellung des Sozialismus kein Vorbild sein.“ (Poss und Warnecke 2006: 121)

Anhand der Themen und Ästhetik der so genannten „Berlin-Filme“ von Kohlhaase und dem Regisseur Gerhard Klein, Eine Berliner Romanze (1956) und besonders Berlin Ecke Schönhauser (1957), ist somit ein klarer neorealistischer Einfluss zu erkennen. Die offizielle Reaktion auf diese Ästhetik, die den Prinzipien eines positiven sozialistischen Realismus so offenbar gegenüberstand, ließ nicht lange auf sich warten. In seiner oft zitierten Ansprache auf der 2. Filmkonferenz im Jahre 1958 bemerkte der stellvertretender Kulturminister Alexander Abusch:

10 Das Berliner CAMERA-Filmtheater zeigte in seinem ersten Jahr (1963) unter anderem Titel wie Rossellinis Paisà (Mai) neben neorealistischen Werken wie La Strada (Juli) oder Fahrraddiebe (Oktober).

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„Ein Filmkünstler der Deutschen Demokratischen Republik muss […] verstehen, dass die schöpferische Methode der italienischen Neorealisten, welche die antagonistischen, unlösbaren Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Ordnung bloßlegt und die Menschen in Opposition gegen den kapitalistischen Staat bringt, nicht übertragen werden kann auf die Gestaltung von Filmwerken, die in einem Arbeiter- und Bauern-Staat spielen, in dem die Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei den Sozialismus aufbaut, nichtantagonistische lösbare Widersprüche vorübergehender Art in der sozialistischen Entwicklung auftreten und der einfache Mensch nicht in Opposition zum Staat steht, weil dieser Staat der werdenden sozialistischen Gesellschaft sein eigener Staat ist.“ (Abusch 1958: 267f.)

Dies wurde hauptsächlich in den Diskussionen in Der deutschen Filmkunst (1953-1962) reflektiert, deren Gründung auf eine staatlich initiierte Filmkonferenz im Jahre 1952 zurückging, welche die Edition einer Filmzeitschrift gefordert hatte. Die Zeitschrift war in ästhetischen Fragen sehr parteikonform und galt als offizielles Sprachrohr der Filmpolitik: Die Beschäftigung mit dem Neorealismus war hier sehr begrenzt – vereinzelte Artikel sind hauptsächlich ab 1955 zu finden, die aber einen eher positiven, distanzierten Ton anschlagen – und vor allem oft ohne Bezug auf die ostdeutsche Realität. Dies mag auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass nicht wenige dieser Texte fremder Provenienz waren, oft aus anderen, ausländischen Zeitschriften entnommen.11 Realismus wird in der Tat als italienische Erscheinung diskutiert, die dementsprechend doktrinkonform als fortschrittlich und realistisch interpretiert wurde. Hans Buchmayer, der 1957 La Strada besprach (der Film kam erst 1961 in die ostdeutschen Kinos), bemerkte: „Unsere Filmdramaturgie und Filmkritik sollten ein übriges tun, um die bestehenden wertvollen Werke des Neorealismus für das nationale Schaffen produktiv zu machen“ (1957: 52); eine Anforderung, die während der kommenden Jahre ins Leere laufen sollte. Diese Sicht ist bis 1962 kaum modifiziert worden. Gewiss sind in einzelnen der Filmbesprechungen (La Strada, Rocco und seine Brüder) Hinweise auf das neorealistische Erbe zu finden, sowie in kürzeren Texten anerkannter neorealistischer Figuren wie Guido Aristarco oder Cesare Zavat-

11 Siehe in diesem Zusammenhang „Die wichtigsten Züge des italienischen Neorealismus“ von K. T. Toeplitz, der sich zum großen Teil auf Textauszüge aus der italienischen Presse stützt (1/1955, 24ff.). Andere Beispiele dieses Interesses an der italienischen Strömung sind beispielsweise Carlo Lizzanis „Bedarf der Neorealismus einer Erneuerung?“ (2/1956, 53ff.), P. Rovas „Die Erde bebt. Ein unvollendetes Hohes Lied über Sizilien“ (3/1956, 89f.) sowie Guido Aristarcos „Fellini und ‚La dolce vita‘“ (10/1960, 349ff.) und „Eine italienische Erzählung. Rocco und seine Brüder“ (8/1961, 279ff.).

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tini. Es fehlen allerdings Überlegungen systematischen, allgemeinen Charakters über die Bewegung oder Texte, welche die Bedeutung ihrer Prinzipien für die lokale Produktion thematisieren.12 Ebenfalls finden sich in der Zeitschrift Meinungen, die auf diese Abwesenheit aufmerksam machten. Kurt Ritter schlug beispielsweise die Aufführung von Rossellinis Rom, offene Stadt im Berliner OTLKino („im Gegensatz zur westdeutschen Fassung ungeschnitten“) als Teil eines letztendlich nicht stattgefundenen Zyklus zum „internationalen antifaschistischen Widerstandkampf“ vor (1961: 212). Die Situation änderte sich zum Teil ab 1961. Bis zum 11. Plenum der SED im Dezember 1965, das diesem vierjährigen Liberalisierungsversuch eine klare Absage erteilte, entwickelte sich in zwei neu gegründeten Publikationen eine differenziertere Sicht auf die Probleme des ostdeutschen Films, die über die Parteilinie hinaus ging und sich an anderen Vorbildern orientierte. Die neorealistischen Prinzipien, aber hauptsächlich die Suche nach einem neuen filmischen Ansatz, der einen modernen, kritischen Blick auf den Alltag werfen sollte, strahlten nach wie vor eine Kraft aus, die nun neue, konkrete Filmbeispiele suchte. Zwei Publikationen sind in diesen Jahren nach 1961 als Teil dieser Entwicklung hervorzuheben. Die erste dieser zwei Zeitschriften sind die filmwissenschaftlichen mitteilungen, die mit ungefähr 400 Abonnements und einer Auflage von 700 Exemplaren auf eine filmkulturelle Elite ausgerichtet waren. Ihre Genese ging zurück auf die Eisenstein-Konferenz im Jahre 1959, einem der Grundsteine der Filmwissenschaft im ostdeutschen Staat, und folgte der Gründung der Deutschen Zentralstelle zur Filmforschung. 1960 gab diese Stelle die Materialien zur Filmwissenschaft heraus und ab 1961 wurden aus dieser Publikation die fwm (film-wissenschaftliche Mitteilungen), die erst als Beilage der Zeitschrift Die deutsche Filmkunst erschienen. 1962 kam die fwm als selbstständige Publikationsreihe der Zentralstelle heraus. Sie war keine Zeitschrift im eigentlichen Sinne, was einige Freiheiten im Diskurs erlaubte (Hoff 1999). Die Filmwissenschaftler, die hier ihre Texte veröffentlichten, hatten eine enge Beziehung zur Praxis in der DEFA. In den ersten Nummern sind abweichende Positionen kaum zu finden, aber im Laufe der frühen 1960er Jahre und besonders kurz vor Dezember 1965 ist eine gewisse Öffnung und eine kritische Reflexion über die eigene DEFA-Produktion festzustellen. Diese kam oft in den Worten der DEFAFilmemacher selbst zum Vorschein, wie aus den kritischen Äußerungen einer Umfrage aus dem Jahr 1965 hervorgeht, die über die DEFA-Produktion in den

12 Eine kleine Ausnahme stellt der in der vorigen Fußnote bereits erwähnte Text von Carlo Lizzani „Bedarf der Neorealismus einer Erneuerung?“ (2/1956) dar, der allerdings ziemlich kritisch mit Roberto Rossellini oder Vittorio da Sica umgeht.

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ersten zwanzig Jahren nach dem Krieg erstellt wurde. Die Kritik ging allerdings in diesem Fall zu weit. Das Heft (2/1965) wurde verboten und dessen führende Mitarbeiter entlassen (Baumert: 2000). Die andere wichtige Publikation aus dieser Zeit war Film, die ab 1964 von der Arbeitsgemeinschaft-Filmclubs „fast halbillegal“ (Gehler, 27: 2012) herausgegeben wurde. In cinéphilen Hochburgen jenseits des Mainstream-Publikums, wie die Deutsche Hochschule für Filmkunst in Potsdam oder auch Filmklubs, suchten tatsächlich die ostdeutschen Filmenthusiasten innerhalb eines realistischen Rahmens nach einem filmkritischen Paradigma, das den Entwicklungen des modernen Kinos gerecht wurde. Theoretische Alternativen zum offiziellen Diskurs waren dabei in der eigenen nationalen Kulturgeschichte (Bertolt Brecht), aber auch im Ausland zu finden, zum Beispiel in Form eines kritischen Realismus à la Georg Lukács.13 Mitte der 1960er Jahre, im Zuge dieser kulturellen Öffnung, wurde der Blick wieder auf jene Werke gerichtet, die trotz ihres internationalen Rufes noch nicht rezipiert werden konnten. Das knappe Angebot in den ostdeutschen Kinos kritisierte z.B. der Filmkritiker und Direktor des Leipziger Universitätsfilmklubs, Fred Gehler, in der Wochenzeitung Sonntag am 21. Februar 1965: „So konnte es geschehen, dass der französische und amerikanische Nachkriegsfilm bei uns im wesentlichen eine Legende, dass wesentliche Filme des italienischen Neorealismus (u.a. „Wunder von Mailand“; „Paisa“; „Rom, offene Stadt“; „Tragische Jagd“) nicht zu sehen waren, der japanische, skandinavische, lateinamerikanische Film in unseren Vorstellungen kaum existiert […].“

Auf der Suche nach zeitgenössischen Vorbildern blickten ostdeutsche Cinéasten in dieser Zeit immer mehr nach Osten: Die Neuen Kinos aus Polen und der ČSSR, aber auch aus Ungarn oder sogar die sowjetischen Produktionen aus der Tauwetter-Periode wurden in dieser Zeit zu Referenzen. Wichtig war dabei, dass Filme aus anderen sozialistischen Ländern nicht nur neu und gut waren, sondern auch einfacher zu erhalten. Dabei griffen Filmklubs, wie ihre spanischen Pendants seit den frühen 1950er Jahren, immer mehr zu den Kulturinstituten (Häuser) von „sozialistischen Bruderländern“, die den Filmklubs die jüngsten Werke der osteuropäischen Neuen Wellen zur Verfügung stellten. Der realistische An-

13 Dies betraf nicht nur die filmischen Werke. Im Film sind relativ viele Texte aus französischen Publikationen wie Les Lettres Françaises, Cinéma 62 oder Cahiers du cinéma in den Dokumenten der Filmklub-Bewegung immer häufiger zu finden; auch aus der westdeutschen Filmkritik.

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satz, der an diesen Filmen gepriesen wurde, ihr frischer Blick auf die Gegenwart, auf den Alltag der jüngeren Generationen, diente ebenfalls der Kritik am Gros der DEFA-Produktion. Ein Beispiel der wachsenden Distanz zwischen jenen kritischen Tendenzen, welche sich für eine Öffnung zu anderen nationalen Kinematographien aussprachen und den Vertretern offizieller Standpunkte, fand in den Monaten vor dem 11. Plenum in der Kulturwochenzeitung Sonntag statt (Brockmann: 2013). Das war aber nur die Spitze des Eisbergs. Fred Gehler, der in dieser Zeitschrift über Kino schrieb und sich auch für eine Öffnung zu anderen internationalen Entwicklungen aussprach, musste beispielsweise im Jahre 1965 seine Arbeitsstelle an der Sektion Journalistik der Universität Leipzig verlassen und wurde als Vorsitzender der AG-Filmclubs abgewählt. Das zweite Heft der filmwissenschaftlichen mitteilungen aus demselben Jahr wurde neben 12 DEFAProduktionen der Jahre 1965-66 verboten, die wichtigsten Entscheidungsträger der nationalen Filmwelt ausgewechselt. Der Öffnungsversuch der vorigen vier Jahre war gescheitert.

F AZIT Trotz der offensichtlichen Unterschiede beider Beispiele handelt es sich um Geschichten mit Berührungspunkten präsentieren. Sie schildern die Relevanz des kulturellen Transfers in diesen zwei peripheren Filmkulturen und weisen auch auf dessen indirekten Einfluss auf die Entwicklungen in beiden Ländern hin. In beiden Fällen ist der Neorealismus aufgrund der späteren und partiellen Rezeption der Werke oft ein Begriff, eine Idee, die sich je nach Kontext umdeuten lässt. Und so nehmen an den Debatten über diese Filme – oder, in einem größeren Rahmen, über den Realismus – unterschiedliche Gruppierungen teil, die sie aus ihren eigenen Positionen beleuchten. Realismus diente sowohl in der DDR als auch in Spanien jenen Positionen, die kritisch über die eigene nationale Produktion reflektierten und nach neuen thematischen und stilistischen Lösungen suchten, dazu, eine Brücke zu internationalen Entwicklungen zu schlagen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass aus offiziellen Kreisen diese Filme attackiert oder, wie in der DDR, aus einer kritischen Distanz beobachtet wurden. Während die franquistische Intelligentia in der neorealistischen Strömung eine fremde Kraft sah, welche die eigene kulturelle Tradition gefährde, setzten die ostdeutschen Kulturfunktionäre ihm den staatlich sanktionierten sozialistischen Realismus entgegen.

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Die Rezeption und Zirkulation der cinéphilen Diskurse – in diesem Fall die Debatten um Realismus – zeigen, wie diese auf die Partikularitäten des nationalen kulturpolitischen Kontexts hin modifiziert, adaptiert und oft neu gedeutet wurden. Als in Spanien katholische Kreise – sowohl in den offiziellen Reihen als auch in den neuen Filmmagazinen – in ihren Argumentationen auf ihn zurückgriffen, tendierten sie eher dazu, seine moralische, transzendentale Seite zu betonen, die in die herrschenden Diskurse integriert werden konnte. Aus dem linken Spektrum wurden aber dieselben Ideen – wie in den Debatten in Objetivo oder Cinema Universitario – eher politisch, aus einem marxistischen Hintergrund gedeutet. Derselben Logik folgend suchten die DDR-Cinéphilen und die jungen Filmemacher – in einer Filmkultur, die in den hier untersuchten Jahren noch nicht die Autonomie oder Relevanz der spanischen vorweisen konnte – nach realistischen Ansätzen, die innerhalb des erlaubten ästhetischen und ideologischen Spektrums blieben und zugleich eine Distanz zu den Prinzipien des sozialistischen Realismus markierten. Der Bezug zu den im Prinzip intendierten Filmen (den italienischen Produktionen) verlor somit mit der Zeit an Bedeutung. Als in Spanien die realistische Frage ab den frühen 1960er Jahren reaktiviert wurde, bezog sie sich hauptsächlich auf die eigene Filmproduktion: das Neue Spanische Kino, die nationale Antwort auf die europäischen Neuen Wellen. In der DDR blickten in dieser Zeit die Filmenthusiasten auf die neuen Filme aus Polen oder der ČSSR, welche die Prinzipien eines kritischen (Neo-)Realismus wiederbelebten – z.B. durch einen differenzierten Blick auf die sozialen Umstände, durch den Stil eines dokumentarischen Spielfilms oder durch die Nutzung der originalen Drehorte – und mit neuen Elementen bereicherten (z.B. Generationskonflikt, Nonkonformismus).14 Im spanischen Fall ist aufgrund von Zensurbestimmungen, welche ein (relativ) breites (cinéphiles) publizistisches Feld erlaubten, eine (relativ) reiche Debatte zu verzeichnen, die auf die fehlende Rezeption der Filme aufmerksam machte und über die Diskussionen um Realismus einen Weg fand, die Situation der eigenen, nationalen Filmkultur zu problematisieren. Diese publizistischen Möglichkeiten standen vielen der ostdeutschen Cinéasten nicht zur Verfügung – obwohl hier, im Gegensatz zu Spanien, mehrere dieser Filme in den DDR-Kinos gelaufen waren. Während Die deutsche Filmkunst die eher distanzierte Position der offiziellen Kulturpolitik zum Neorealismus reflektierte, ist aus Erinnerungen und aus den Publikationen ab 1961 zu entnehmen, welch starken Einfluss diese Filme auf Filmenthusiasten hatten. Die Zeiten hatten sich allerdings schon geän-

14 Siehe hier besonders die Filmkritik über Der Schwarze Peter von Milos Forman (1963), der zu der Zeit in ostdeutschen Filmklubs lief (Ekenrath 1965).

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dert: Nach internationalen Referenzen wurde in diesen Jahren immer mehr in den neuen Produktionen aus den Ostblockstaaten gesucht.

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Poss, Ingrid/Warnecke, Peter (Hg.): Spur der Filme. Zeitzeugen über die DEFA, Berlin 2006. Ramos Arenas, Fernando: Writing About a Common Love for Cinema. Discourses of Modern Cinephilia as trans-European Phenomenon, in: Trespassing Journal 1 (2012), S. 18-33; http://trespassingjournal.com/Issue1/TPJ_I1_ Arenas_Article.pdf [1.10.2015].

Cineastische Internationale der langen 1960er Jahre Eine transfer- und verflechtungsgeschichtliche Biographie der westdeutschen Zeitschrift Filmkritik L UKAS S CHAEFER

„La première revue sérieuse de cinéma de l’Allemagne fait aujourd’hui son apparition sous le titre langien de F., alias Film 58. Rédacteur en chef: Enno Patalas, figure familière des festivaliers, dont la politique rédactionnelle trahit des préoccupations sociologiques assez dans la ligne de Cinema Nuovo, avec les penchants communistes en moins.“ MARCORELLES 1959: 58

A NREGUNGEN : F ILMPUBLIZISTIK

UND

G ESCHICHTSWISSENSCHAFT

Der französische Filmkritiker Louis Marcorelles eröffnete mit diesen Zeilen im April 1959 in der bekanntesten Filmzeitschrift seines Heimatlandes, den Cahiers du Cinéma, seine Revue des revues über westdeutsche Kollegen, nicht ohne dabei eine Querverbindung zu italienischen Kritikern der Zeitschrift Cinema Nuovo herzustellen. Seine filmhistorische Anspielung auf Fritz Langs M und die Tatsache, dass Film 58 nicht das erste „sérieuse“ Projekt von Enno Patalas und seinen Kollegen war, an dieser Stelle einmal außer Acht gelassen, deutet sich schon in seiner kurzen Beschreibung ein ideales Analyseobjekt für an transnationalem

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Austausch interessierte kulturgeschichtliche Forschung an. Über die reine Wahrnehmungsgeschichte hinaus sind im Zitat zwei Spuren transnationaler Geschichtsschreibung gelegt: Lässt sich, durch die Brille eines dritten Kritikers gesehen, bereits zeitgenössisch ein filmpublizistischer Kulturtransfer – „assez dans la ligne de Cinema Nuovo“ – beobachten? Und offensichtlich basierte ein solcher Austausch nicht nur auf Pressestudien am heimischen Schreibtisch, sondern ebenso auf direkter, grenzüberschreitender Interaktion – „figure familière des festivaliers“? Hier zugespitzt und mit der quellenkritischen Lupe herausgesucht, finden sich dennoch mit den Hinweisen auf Transfer und Verflechtung die Untersuchungsraster, die in der Lesart von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann über die klassische Vergleichsstruktur hinausführen und schließlich in einer durchgängig reflektierten histoire croisée münden sollen. Die „induktive Pragmatik“, mit der eine histoire croisée aus den Handlungen und den darüber getätigten Aussagen der historischen Akteure „verflochtene“ Transnationalität hervortreten lassen möchte (Werner/Zimmermann 2002; Arndt/Häberlen/Reinecke 2011), greift gerade bei Quellenfunden wie dem eingangs zitierten. Als Ausschnitt aus einem weiter gefassten Forschungsprojekt1 soll es im Folgenden auch darum gehen, transfer- und verflechtungsgeschichtliche Perspektiven auf Populärkultur und die sie umkreisenden Debatten im Westeuropa der zweiten Nachweltkriegszeit aufzuzeigen, konkret, diese anhand des Themenfelds der Filmkultur und Filmpublizistik und dabei am Beispiel der Kritikergruppe um die bundesdeutsche Zeitschrift Filmkritik zu veranschaulichen. In der zweiteiligen Hypothese dieses Beitrags ist die Filmkritik ein zentrales Element einer Reanimation der Filmkultur in der Bundesrepublik Deutschland spätestens zur Mitte der 1960er Jahre, und speiste sie dieses Engagement wesentlich aus den sehnsüchtig aufgenommenen filmkritischen und -theoretischen Einflüssen insbesondere aus anderen westeuropäischen Staaten wie Italien und Frankreich. Sie kann damit als ein exemplarischer Fall filmkultureller Transfers und internationaler Vernetzungsarbeit gelten. Mit der Auswahl der Filmkritik als Quellengrundlage wird nicht nur die bisher kaum praktizierte Übertragung der transnationalen Kulturgeschichtsforschung in die Zeitgeschichte und in das Feld der Populärkultur unternommen (Hüser 2005: 417). Der gesellschaftskritische Impetus, der die Filmkritik mit ih-

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Das DFG-geförderte Projekt „Filme(n) für eine „bessere Welt“. Filmkritik und Gesellschaftskritik im Westeuropa der Nachkriegszeit in Vergleich, Transfer und Verflechtung“ wird am Saarbrücker Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte unter der Leitung von Prof. Dr. Dietmar Hüser durchgeführt.

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ren Vorbildern aus Italien und Frankreich, der Cinema Nuovo und der Positif, verband, führt zu einem Forschungskomplex, den neben anderen Ulrich Herbert für die Bundesrepublik thematisiert hat, und der sich auf weitere Länder der westlichen Welt übertragen lässt: die Annahme, dass im Verlauf der langen 1960er Jahre, angetrieben von früh konstituierten Gruppierungen und Phänomenen, eine „Fundamentalliberalisierung“ der Umgangsformen, Denkmuster und Moralvorstellungen den wirtschaftlichen Aufschwung – teils in kritischer Distanz – begleitete und schließlich öffentlichkeitswirksam in den Protestaktionen um 1968 eruptierte (Herbert 2002; Marwick 1998). Von Interesse sind im Projekt die Verbindungen der Filmkritik und der anderen genannten westeuropäischen Kritikergruppen zu aufkommenden Protestbewegungen der „Neuen Linken“ und ihren gesellschaftskritischen Angriffspunkten, die in den folgenden Ausführungen immer wieder zwischen den Zeilen durchscheinen werden. Die immense Anschlussfähigkeit filmpublizistischer Quellenbestände an relevante zeithistorische Fragestellungen steht der nicht nur in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft spärlichen Behandlung dieser Materie gegenüber. International besehen ist die historische Auseinandersetzung mit Filmzeitschriften und Kritikern bisher nicht substantiell über grobe Übersichten (Steinitz 2015), auch zu Einzelfällen (Bickerton 2009), Anthologien von markanten Texten (Goudet 2002) oder von früheren Mitarbeitern angefertigte, auf den eigenen professionellen Kontext rückblickende Darstellungen (de Baecque 1991; Pellizzari 1999) hinausgelangt. Gerade im deutschen Fall macht sich dieser Mangel deutlich bemerkbar, da – anders als in den romanischen Ländern – Filmkultur noch einer wissenschaftlich validen, vollständigen Durchdringung harrt. Filmpublizistik wiederum, als einer ihrer Bestandteile, gewährleistet vielfach überhaupt erst ihre Überlieferung, und Filmkritiker sind gleichsam als debattengeschichtliche Bindeglieder der einzelnen Komponenten von Filmkultur hilfreich. Filmkultur wird in diesem Kontext verstanden als ein aufschlussreiches, jedoch komplexes Geflecht zwischen keineswegs homogenen Akteuren aus dem Filmschaffen selbst, aus Filmwirtschaft, Filmpolitik, Filmpublikum, Festivals, Filmwissenschaft – sofern historisch vorhanden –, und eben der Filmpresse. Zwar existieren in deutscher Sprache einschlägige Überblicksdarstellungen und Sammelbände und hat eine wachsende Zahl von Einzelstudien die einstigen methodologischen Bedenken bei der Behandlung des Mediums Film (Riederer 2006) zerstreut, doch ist insbesondere die hiesige Filmkultur seit 1945 noch nicht in einer alle Aspekte berücksichtigenden und Quellen systematisch auswertenden Diskussion erforscht worden. Dabei sei noch einmal betont, wie problemlos sich zeitgeschichtliche Fragestellungen auch anhand von Filmkultur und ihren Teilbereichen nachvollziehen

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und illustrieren lassen, was zuletzt vermehrt geschehen ist. Auf der Hand liegt die Frage nach Transnationalität – auf einem Terrain, das strukturell stets in einem Spannungsfeld aus Phasen protektionistischer Abschottung und nationalistischem Wettbewerb auf der einen und historisch schon lange existenter grenzüberschreitender Kooperation und Diffusion auf der anderen Seite liegt, etwa im Bereich von Filmfestivals (Schwartz 2007: 56ff.) oder von internationalen Filmbeziehungen (Bono/Roschlau 2011). Im Fall der deutschen Nachkriegsgeschichte docken Aspekte der Filmkultur an so unterschiedliche Themenbereiche wie die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit (Reichel 2004), die Entwicklung von Moralvorstellungen (Steinbacher 2011) oder die „asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte“ der beiden deutschen Staaten, die vor allem Christoph Kleßmann geprägt hat (Kötzing 2013). Wenn der historiographische Mehrwert von Filmpublizistik und Filmkultur im Folgenden vor allem anhand der Zeitschrift Filmkritik verdeutlicht werden soll, so geschieht dies entlang des roten Fadens einer Transferbiographie. Der Begriff der Transferbiographie ist in zweifacher Hinsicht zu verstehen: Bei der historischen Rekonstruktion des Kreises um die Filmkritik wird rasch deutlich werden, welch integrale Bestandteile internationale Einflüsse und Kontakte in seinen persönlichen Biographien waren. Kulturtransfers prägten diese Biographien. Das, was in der Schnittmenge dieser Biographien entstand, die Zeitschrift Filmkritik und ihre Nebenprojekte, hat aber gleichermaßen eine Transferbiographie. Welche aus dem zumeist europäischen Ausland adaptierten Strömungen und Einflüsse zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung der Zeitschrift überwogen und in welcher Weise dies ausgehandelt und umgesetzt wurde, sind dabei die Ausgangsfragen. Zum Neologismus der Transferbiographie gesellt sich in diesem Zuge der des Transferkonflikts. Die transferbiographische Spurensuche zur Zeitschrift Filmkritik widmet sich zunächst der – nicht nur – filmischen Sozialisation und Herkunft ihrer wesentlichen Mitarbeiter, um sie dann in einem zweiten Abschnitt in ihrer Arbeitsweise und ihren zentralen Kriterien zu durchleuchten – stets im Hinblick auf filmkritische Kulturtransfers oder Verflechtungen. Letzteren geht der dritte Abschnitt, der nach Möglichkeiten und Plattformen des internationalen Austauschs fragt, anschließend noch einmal verstärkt nach. Die Beobachtungen beschließt ein Ausblick in die 1960er Jahre der Zeitschrift: Hier gilt es, die Filmkulturtransfers auf Wandel oder Beständigkeit, auf interne Kontroversen und ihre Effekte in der westdeutschen Filmkultur abzuklopfen – Fragestellungen, ohne die eine transnationale Untersuchungsperspektive im historischen Vakuum haften bliebe.

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A USBRUCH AUS DER P ROVINZ : W ESTDEUTSCHE UND EUROPÄISCHE F ILMKULTUR Anfang des Jahres 1957 erschien erstmals die Filmkritik, zu diesem Zeitpunkt noch als ein schmales, unbebildertes Heftchen. Im Jahr zuvor war ein von derselben Kritikergruppe lanciertes, ambitionierter gestaltetes Zeitschriftenprojekt namens film 56 nach nur drei Ausgaben aufgrund von finanziellen Engpässen wieder eingestellt worden. Das gleiche Schicksal ereilte 1958 die im Eingangszitat von Louis Marcorelles besprochene F. Diesen Versuch einer akademischer gehaltenen Quartalsschrift mit längeren Essays anstelle von aktuellen Filmbesprechungen konnte sich die Redaktion der Filmkritik aber erlauben, da ihre Stammzeitschrift zusehends in Umfang, Professionalität und Leserreichweite wuchs. Spätestens zu Beginn der 1960er Jahre war die Filmkritik eine in den verschiedensten Medien zitierte und anerkannte Publikation geworden. Die wichtigsten der durchweg akademisch ausgebildeten Mitarbeiter dieser Projekte waren Enno Patalas, Wilfried Berghahn, Ulrich Gregor und Theodor Kotulla. Dazu kamen im Laufe der folgenden Jahre etwa ein halbes Dutzend weitere regelmäßige Autoren. Die meisten von ihnen hatten schon länger Rezensionen und Filmartikel in Kulturzeitschriften wie den Frankfurter Heften veröffentlicht und bald kamen beim Kern der Gruppe auch Tages- und Wochenzeitungen als Auftraggeber hinzu. Zu Filmexperten in der Bundesrepublik Deutschland aufzusteigen, war in den späten 1950er Jahren kein allzu schwieriges Unterfangen. Die Konkurrenz war nicht groß, denn die Filmkultur war in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg relativ unterentwickelt2. Die Bundesregierung hatte sich in verschiedenen Bürgschaftsprogrammen bemüht, die einheimische Filmproduktion wieder in Schwung zu bringen, die zahlreichen Heimatfilme, Kriegsfilme oder die historischen Biographien hatten aber trotz aller Kassenerfolge im Inland nahezu keine internationale Strahlkraft. Eine wie in Italien oder Frankreich gewachsene filmkulturelle Infrastruktur mit Filmarchiven, Filmhochschulen und filmwissenschaftlicher Forschung war in Deutschland allenfalls in Ansätzen vorhanden, dadurch mangelte es auch an anspruchsvoller Filmliteratur und einer über Illustrierte, konfessionelle Filmratgeber und lobbyistische Branchenzeitschriften hinausreichenden Filmpresse. Das Medium Kino genoss bei intellektuellen Meinungsführern nach der nationalsozialistischen Vereinnahmung kaum Wertschät-

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„Filmkulturwüste“ hieß es (Lenssen 1990: 70) oder „intellektuelle Provinz“ (Prinzler 1987: 42). Zur Einführung in die folgenden Aspekte der westdeutschen Filmkultur vgl. die einzelnen Beiträge in Hoffmann/Schobert 1989.

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zung. Tief wurzelte noch eine bildungsbürgerliche Skepsis gegenüber dem Film als schädlichem „Schund“ (Schenk 1998: 44ff.). Nur kleine filmkulturelle Inseln belebten diese karge Landschaft. Der Münsteraner Publizistikprofessor Walter Hagemann bot Filmseminare an und engagierte sich in der von den Besatzungsmächten initiierten Filmclubbewegung. Auf einem ihrer Treffen 1955 fiel Enno Patalas mit seinem Referat über „Autorität und Revolte im deutschen Film“ Eugen Kogon auf, wodurch Patalas’ Mitarbeit an dessen Frankfurter Heften zustande kam (Patalas 2004: 68). In der Zeitschrift der Filmclubbewegung, dem filmforum, schrieben zunächst auch viele spätere Mitarbeiter der Filmkritik. Sie waren alle um 1930 geboren und hatten zu Beginn der 1950er Jahre ihr Studium aufgenommen. Patalas und Kotulla waren Publizistikstudenten bei Hagemann in Münster. Berghahn promovierte in Bonn über Robert Musil, Gregor studierte Romanistik in Hamburg und nach einem längeren Aufenthalt in Paris Publizistik in Westberlin.3 In der filmkulturellen Dürre der Bundesrepublik kamen die Lichtblicke für die Gruppe zumeist aus dem westeuropäischen Filmausland. In ihren Rückblicken erscheinen diese Kontakte als wahre Erweckungserlebnisse. Patalas profitierte in Münster von der Institutsbibliothek und studierte dort die Cahiers du Cinéma, auch Positif, Cinema Nuovo oder die britische Sight and Sound. Hagemann führte interessierte Studenten in die Filmclubtreffen mit internationalen Gästen ein. Hier, im Schwarzwald, an Bodensee oder Rhein, knüpfte Patalas Kontakte. Er lernte zum Beispiel den französischen Regisseur Chris Marker kennen, der ihn dann bei einem Filmtreffen 1950 in Paris mit Alain Resnais bekannt machte (Patalas 2004: 64f.). Noch einschneidender für die filmkulturelle Sozialisation der Filmkritik-Autoren waren längere Auslandsaufenthalte. Ulrich Gregor erinnert sich im Interview an sein Studium in Paris und die häufigen Besuche in der Cinémathèque française, die er gemeinsam mit einem Schulfreund und späterem Kollegen bei der Filmkritik, Dietrich Kuhlbrodt, absolvierte: „Das ganze sowjetische Kino, angefangen vom Stummfilm, konnte man dort besichtigen, aber auch spätere Jahre, 1920er und 1930er Jahre und dann natürlich amerikanisches Kino, französisches Kino, italienisches Kino. Also, meine filmische Bildung sozusagen, die Grundlagen dieser filmischen Bildung, konnte ich dort mir aneignen und auch viele Filme, die aus bestimmten Gründen in Deutschland nicht liefen“.4

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Biographische Informationen zu den Kritikern bieten beispielsweise die „Lebensläu-

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Interview des Verfassers mit Ulrich Gregor am 25.6.2012.

fe“ in: Filmkritik 9, 4 (1965).

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Bei Günter Rohrbach, im Saarland aufgewachsen und etwas später zur Filmkritik gestoßen, klingt dies ähnlich: „In den vier Monaten, die ich in Paris studiert habe, ging ich ein- oder zweimal täglich ins Kino. Das war eine Offenbarung. Das Programm war nicht mehr zufällig wie in Wiebelskirchen.“ (Netenjakob 2004: 72) Von diesen Einflüssen geprägt, fanden sich die Studenten über die Filmclubtreffen oder über die gegenseitigen Lektüren der ersten filmkritischen Gehversuche in den Kulturzeitschriften zusammen, um eine anspruchsvollere und zugleich polarisierende Filmzeitschrift zu begründen. Keimzellen waren der Münsteraner studentische Filmclub und eine Bonner Gruppe mit Berghahn, der dort mit Jürgen Habermas befreundet war und im Filmclub zusammenarbeitete (Eue/Gass 2012: 270). Diese Filmarbeit, die filmkritische Praxis und der demonstrative Blick ins filmische Ausland erscheinen in den zeitgenössischen Texten und in Rückblicken dieses Publizistenkreises häufig als für seine Generation charakteristische Versuche der Neuorientierung nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, als Absetzbewegungen von den eigenen Erfahrungen in den Filmstunden der „Hitlerjugend“ und als Ausdruck von Frustration über die „restaurativ“ genannte Etablierung der christdemokratischen Vorherrschaft unter Konrad Adenauer (Interview mit Gregor 2012; Netenjakob 2004: 72; Patalas 2004: 63ff.).

F ILMKRITIK : K RITISCHE T HEORIE , ITALIENISCHER R EALISMUS UND „A NGRY Y OUNG M EN “ Vom ersten Heft und vom ersten Editorial der Filmkritik an verschrieben sich ihre Redakteure dem Prinzip der Ideologiekritik. Stets mit gesellschaftskritischer Note versehen opponierten sie gegen den filmischen Mainstream und argumentierten programmatisch gegen den verachteten „Impressionismus“ oder „Feuilletonismus“ in den etablierten Teilen der Filmpresse, die, wie es in einer frühen Tirade unter anderem heißt, „Eindrücke und Einfälle notiert, statt Strukturen nachzuweisen, die beschreibt, statt zu interpretieren, […] die den Film ‚nur als Film‘ sehen will statt im gesellschaftlichen Zusammenhang“. Demgegenüber erwarteten die jungen Filmkritiker von ihrer Zunft und auch von sich selbst neben der Würdigung und Erläuterung filmästhetischer Aspekte besonders, „die gesellschaftlichen Mechanismen im Zustandekommen und in der Wirkung von Filmen [zu] durchleuchten, die möglichen positiven Fälle, in denen Filme zur sozialen Selbsterkenntnis beitragen, fest[zu]stellen, und die negativen, in denen politische Be-

160 | S CHAEFER schränktheit gefördert und verewigt wird, [zu] denunzieren.“ („Anstelle eines Programms“ 1957: 1f.)

Diese Haltung speiste sich zunächst aus den damals in Deutschland noch wenig rezipierten Schriften Theodor W. Adornos, Max Horkheimers oder Siegfried Kracauers. Des letzteren From Caligari to Hitler lehrte sie, Filme als soziologische Spiegel der Gesellschaften, in denen sie entstehen, zu interpretieren. Die Filmkritik-Autoren fusionierten diese Spiegel-These mit der aus der kritischen Theorie hervorgegangenen pessimistischen Diagnose von der manipulativen Kulturindustrie, die in zentralen Auszügen sowohl in der Filmkritik als auch in der F abgedruckt wurde. Sie wollten so eine fatale Dialektik zwischen gesellschaftlich dominanten Anschauungen und Mentalitäten und dem verstärkenden Einfluss der von „Kontrollmechanismen“ beeinflussten Filmindustrie offenlegen. Mit den Urhebern dieser sozialkritischen Zugänge zu Populärkultur standen sie in direktem Kontakt; diese hießen in ihren Briefen die Zeitschriften der Gruppe gut und in der film 56 wurden Adornos Lob, „dass ich Ihre Zeitschrift sehr interessant und lebendig finde“, und Kracauers Ermutigung – „Und halten Sie die Klingen scharf!“ – als wichtige Referenzen veröffentlicht.5 Die Ideologiekritik in der Zeitschrift traf gerade die deutschsprachige Filmproduktion hart. Wenn sie nicht ohnehin durch das Raster fiel und gleich ignoriert wurde, setzte es oft beißende, höhnische Besprechungen. Nicht nur Günter Rohrbach erinnert sich: „Wir alle hatten einen ziemlichen Hass auf den deutschen Film der 1950er Jahre.“ (Eue/Gass 2012: 270) Anstoß nahmen die jungen Kritiker nicht nur an der unterstellten formalen Rückständigkeit dieser Filme, die sie mit dem opulenten Stil der UFA-Produktionen assoziierten. Gleich ein ganzes Bündel ideologiekritischer Angriffspunkte machten sie geltend: Reihenweise trügen die wieder in Mode gekommenen Kriegsfilme zur Verharmlosung der nationalsozialistischen Aggression und – schlimmer noch – durch die oberflächliche historische Ausleuchtung ihrer Ursachen zur Verdrängung der Mitverantwortlichkeit des „Kleinbürgers“ bei. Statt Selbstkritik und Aufarbeitung leisteten die bundesdeutschen Filme der Verherrlichung autoritärer Staatsmänner oder Arztfiguren, auch mit Hilfe von filmästhetischen Mitteln, Vorschub. Die Einschätzung des Films Hotel Adlon bringt den Vorwurfskatalog der FilmkritikRedaktion und dessen politische Implikationen treffend auf den Punkt:

5

In der film 56 jeweils in der Rubrik „Meinung und Gegenmeinung“, Nr. 2, 103f. und Nr. 3., 155f. Die Briefwechsel mit Enno Patalas befinden sich im Theodor W. Adorno Archiv in Frankfurt/Main und im Nachlass Siegfried Kracauers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar.

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„Politik erscheint als Schicksal, als eine auferlegte Prüfung der individuellen privaten Untadeligkeit, niemals als Aufgabe. Die verhängnisvolle Verstocktheit des Bürgers, der mit seiner Verantwortung auch seine historische Schuld leugnet, findet ihre wechselnd pathetische und sentimentale Bestätigung. Es liegt ganz in der Konsequenz dieser passivemotionalen Haltung, dass nur das Alte als wertvoll erscheint, Veränderungen und Umsturz notwendigerweise von Übel sind.“ (Gregor/Kotulla/Patalas 1956: 8)

Selbst die vermeintlich zeitkritischen Problemfilme wie Das Mädchen Rosemarie dienten durch relativierende Schlusswendungen, formalistische Einlagen oder inkonsequente Gesellschaftsanalyse letztlich nur dem stabilisierenden Konformismus der konservativen Mehrheiten. Die Kritiker befürchteten, dass Politikerbiographien wie Alfred Brauns Stresemann, der aus Bürgschaftsmitteln finanziert worden war, sich durch Parallelisierungen mit dem aktuellen Kanzler in den „Dienst an seinem Mythos“ stellten („Stresemann“ 1957: 42). In gleicher Weise sah die Filmkritik schließlich die demokratische Partizipation mündiger Bürger durch die Idealisierung politischer Enthaltsamkeit in vielen Filmen gefährdet (Patalas 1954: 461). Die Ideologiekritik auf der Grundlage der kritischen deutschsprachigen Theorietradition war die eine zentrale Facette in der alltäglichen Praxis der Filmkritik. Ein weiterer Schwerpunkt dieser Zeitschrift resultierte aus der Transferbiographie ihrer Mitarbeiter. Durch ihre Anleihen und die intensiven Filmstudien im Ausland waren sie in der Lage, lange und kenntnisreiche Beiträge zu Film und Filmgeschichte etwa in den USA oder in Frankreich abzufassen. In den ersten Jahrgängen ihrer Zeitschrift und in den Kulturzeitschriften oder der Tagespresse, für die sie publizierten, geschah dies ebenfalls nicht selten aus einer kritischen Perspektive, wenn insbesondere das Kino Hollywoods im Lichte einer „Konsolidierung des zum zweiten Mal wiederhergestellten Wohlstandskonformismus“ interpretiert wurde (Patalas 1958a: 39). Als fast ungebrochen positives und konstruktives Ideal fungierte für die Filmkritik dagegen in diesen Jahren das realistische italienische Kino. Die Filme des Neorealismus wurden hochgelobt beziehungsweise ihre limitierte Verbreitung in der Bundesrepublik beklagt: Da „hier die konsequentesten Aussagen zur aktuellen gesellschaftlichen Realität zu finden sind“, überrasche es nicht, dass „gerade sie das Verdikt des restaurativen Kontrollmechanismus trifft“ („Verstümmelt, verboten, vergessen“ 1957: 50), eines Zusammenspiels aus Ausfuhrverboten durch italienische Behörden und Kürzungsauflagen oder Desinteresse von Verleihfirmen auf bundesdeutscher Seite. An etlichen Textstellen aus der Zeitschrift lässt sich illustrieren, dass der italienische Realismus der wesentliche Prüfstein für rezensierte Filme war. Sowohl die Urteile zu Filmen oder zu Regis-

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seuren als auch die theoretischen Vorstellungen vom Filmrealismus orientierten sich in der Filmkritik stark an den Maximen der Mailänder Zeitschrift Cinema Nuovo. Sie war Ende 1952 unter der Leitung von Guido Aristarco entstanden. Er und seine Mitstreiter waren zuvor aufgrund ihrer linken – allerdings nicht dogmatisch parteigebundenen – politischen Einstellungen sukzessive aus ihren Posten in anderen Filmzeitschriften oder im Rundfunk gedrängt worden (Brunetta 1998a: 47; Pellizzari 2003: 516ff.). In ihrem eigenen Blatt polemisierten die Kritiker nun umso stärker gegen die „destinazione Spagna“, eine fortschreitende Angleichung an das franquistische Spanien, die sie ihrem Heimatland zuschrieben. Sie beklagten eine repressive politische Kultur unter der christdemokratischen Regierung, eine ebensolche Presse- und Filmpolitik, konservative Moralvorstellungen, überzogenen Antikommunismus und zudem die unbekümmerte Präsenz früherer faschistischer Funktionsträger und die Verklärung von Mussolinis Kriegsführung in der Öffentlichkeit und im Filmschaffen. Das dabei häufig verwendete Resistenza-Pathos fand einen seiner Höhepunkte in diesen kontroversen Jahren, als Aristarco und sein Kollege Renzo Renzi für die Veröffentlichung eines kritischen Filmtreatments zum italienischen Griechenlandkrieg verhaftet und militärrechtlich belangt wurden (Serri 2012: 67f.). Filmkritisch verfocht Aristarco in der Zeitschrift vehement einen von Georg Lukács’ marxistischer Literaturtheorie inspirierten, kritischen Realismus. Der Neorealismus der Nachkriegsjahre sei auf dem Stand der naturalistischen Beschreibung stehengeblieben. Demgegenüber müsse ein Regisseur realistisch erzählen, d.h. die Figuren mit ihrer historischen Umgebung verknüpfen, „typische“ Entwicklungen aufzeigen und als Ergebnis von gesellschaftlichen Kämpfen darstellen. Modellhaft habe dies 1954 Luchino Visconti mit seinem zur Zeit der italienischen Einigungsbewegung angesiedelten Historienfilm Senso verwirklicht. Die Hauptprotagonisten, ein heimliches Liebespaar, würden hier verankert in „l’esterno, con gli altri individui, e in questo rapporto, in questo interesse per un determinato periodo della vita nazionale, Senso assume il suo carattere di film storico“ (Aristarco 1954: 168); Visconti „non si fermava ai fenomeni ma di essi ricercava le cause, l’essenza“ (Aristarco 1955b: 226).

Die Autoren der Filmkritik transportierten Aristarcos Verständnis vom Filmrealismus in die deutsche Diskussion. Diese Inspiration zeigte sich zunächst in ihren Beiträgen über italienische Filme und Filmgeschichte. Ulrich Gregor befand, es habe sich das von Aristarco „vorgebrachte theoretische Konzept wohl als das Fruchtbarste erwiesen“ und „scheint in der Tat den Anforderungen einer verän-

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derten Situation gerecht zu werden.“ (Gregor 1958a: 94) Deckungsgleich mit der Kritik in der Cinema Nuovo urteilten auch die westdeutschen Rezensenten, dass der ursprüngliche Neorealismus, den zum Beispiel Vittorio De Sica in einigen Filmen weiter praktizierte und damit eben nicht den Übergang zum kritischen Realismus geschafft habe, Zeichen der Abnutzung und Überalterung aufwies (exemplarisch, zu De Sicas Il tetto, Aristarco 1956 im Abgleich mit Gregor 1958b). Theodor Kotulla argumentierte in seiner Begeisterung für Viscontis Senso wie Aristarco: „Die Epoche, das gesellschaftliche Milieu und die politische Atmosphäre muten in „Senso“ so real an wie zuvor in keinem anderen Film. […] das Risorgimento bleibt nicht Hintergrund; private Entscheidung, gesellschaftlicher Zustand und Notwendigkeit des geschichtlichen Augenblicks bedingen einander und verschränken sich zu dichtem Geflecht.“ (Kotulla 1956: 146, 149)

Und auch Enno Patalas’ Befund, der Regisseur Carlo Lizzani habe in seinen Cronache di poveri amanti auf „eine überaus glückliche Weise […] das Schicksal zweier Liebender mit dem kollektiven Geschehen verbunden“ (Patalas 1955a: 703), traf den Ton des italienischen filmkritischen Vorbilds. Im Duktus der Filmkritik wurde der weiterentwickelte Neorealismus ebenso zur Richtschnur für Filme aus anderen Herstellungsländern, zum Beispiel den USA, wo es Elia Kazan nicht gelungen sei, „privates Geschick sozial vermittelt und soziales von individuellem Handeln bestimmbar“ darzustellen, „wie in den gelungenen Werken des Filmrealismus, etwa denen von Visconti“ (Patalas 1960: 244). Die Hoffnungen auf einen kritischen Realismus in den so sehr geschmähten westdeutschen Filmen erfüllten sich für die strengen Richter der Filmkritik erst recht nicht. Mit dem von Aristarco und Lukács geprägten Vokabular traf viele von ihnen der Vorwurf des Naturalismus: „die Darstellung des bewegten Lebens wird abgelöst von einer Aneinanderreihung von farbigen, aber statischen Zustandsbildern, in denen die Wechselwirkung der gesellschaftlichen Kräfte unsichtbar bleibt.“ (Gregor 1957b: 154) Zu guter Letzt war das Rollenverständnis, das die Mitarbeiter der Filmkritik über die Rezensionsarbeit hinaus hatten, von internationalen Vorbildern geprägt. Prägnant artikulierte sich die Verbundenheit zu ausländischen, nonkonformistischen Filmschaffenden in einer Notiz von 1958. Hier wird eine „Internationale“ der filmischen Opposition suggeriert: „Kubrick gehört, wie […] der Engländer Lindsay Anderson, der Spanier Bardem, der Franzose Alain Resnais, der Pole Andrzey Munk, der Italiener Francesco Maselli (und

164 | S CHAEFER schließlich wie unsere Freunde aus den Redaktionen von „Film Culture“, „Sight and Sound“, „Positif“ usw.) – […] zur Generation der „Angry Young Men“, die, aufgewachsen bereits im Angesicht einer restaurierten bürgerlichen Gesellschaft, von einem Gefühl der Malaise erfüllt sind und denen unsere Sympathie gehört“ (Spieker 1958).

Ulrich Gregor bewunderte die Intellektuellen in Frankreich oder Italien: Während sich Kulturschaffende hierzulande elitär abschotteten, suchten sie dort die „soziale Resonanz“ und Film sei ein relevanter Bestandteil der Kultur. Gregor eiferte dem nach: „Italienische Kritiker formulierten ihren Standpunkt mit den Worten, es gelte, die Filmkritik zur allgemeinen Kulturkritik zu machen. In diese Perspektive sollte sich jede ernsthafte Beschäftigung mit dem Film heute stellen.“ (Gregor 1959: 58) Für Filme und Kunst allgemein erhob nicht nur er den Anspruch, „die Wirklichkeit, wenn auch nur vorübergehend, einmal radikal in Frage zu stellen, die Notwendigkeit oder Gerechtigkeit einer Ordnung anzuzweifeln und daraus einen Protest herzuleiten.“ Für ihn lag zu dieser Forderung nach der „Vitalität einer Kunst“ auf der Hand: „Die italienischen Neorealisten erfüllten sie.“ (Gregor 1958c: 244)

R ICHTUNG W ESTEN , S ÜDEN ODER O STEN : A USTAUSCH , R EISEN UND N ETZWERKE Die Stationen der Transferbiographie der Filmkritik und ihrer Mitarbeiter erschöpften sich nicht nur in den frühen Filmclubtreffen, in ihrem zwischenzeitlichen Studium im Ausland und in den über die Jahre an die aktuellen filmtheoretischen Entwicklungen angepassten Lektüren westeuropäischer Filmpresse. Die naheliegende Austauschplattform für Kritiker waren die diversen Filmfestivals. Hier erreicht die geschichtsschreibende Nachwelt teilweise die Grenzen des in dieser Hinsicht problematischen Quellenmaterials. Die Festivalberichte in den Tageszeitungen und in der Fachpresse bestehen bis heute zumeist aus einer Ansammlung von Rezensionen und lassen nur am Rande Beobachtungen aus dem Festival- und dortigen Kritikeralltag durchscheinen. Eher selten ist zudem aus den Festivalarchiven oder den Erinnerungen der Zeitzeugen Konkretes über die Aktivitäten der Kritiker herauszufiltern. Bisweilen stoßen die transfer- und verflechtungsgeschichtlichen Ansätze somit auf einige forschungspraktische Hürden. Es ist aber gesichert, dass zum Beispiel Enno Patalas seit Mitte der 1950er Jahre zu internationalen Festivals reiste und seine Mitarbeiter bald folgten. Aus seinen Briefen mit Siegfried Kracauer ist nachvollziehbar, dass Patalas und

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Guido Aristarco sich in Locarno getroffen hatten. In Venedig sind Akkreditierungskarten von Patalas und Ulrich Gregor aus den Jahren 1957 und 1958 und ihre Teilnahme, gemeinsam mit Aristarco, an einem Journalistenausflug auf die Insel Torcello überliefert.6 In der Kritikergruppe waren unter den einheimischen Festivals die Filmfestspiele in Westberlin weniger beliebt angesichts der vielfach angeprangerten Konzentration auf Starrummel und Geschäftsabschlüsse und der Bevorzugung der entsprechenden Pressesparten durch die Festivaladministration. Geschlossener fanden sich die Mitarbeiter der Filmkritik bei den kleineren Kurzund Dokumentarfilmwochen in Oberhausen oder Mannheim zusammen, um mit den dort weniger von Boulevardpresse und Autogrammjägern umzingelten Regisseuren aus dem europäischen Ausland in Kontakt zu kommen. In den Darstellungen der Filmkritik-Gruppe erscheinen diese internationalen Kontakte als erlösende Abwechslung von der westdeutschen Filmkulturödnis. Patalas berichtete von einer deutschen Filmjournalistentagung, diese „bot nach manchem ermüdenden monologischen Wechselgesang schließlich doch Gelegenheit zu ersprießlichem Gespräch, so zwischen Max Ophüls und der Redaktion […], nachts zwischen zwei und drei im Hofgarten.“ (Patalas 1956a: 55) Berghahn schätzte den Austausch mit dem polnischen Regisseur Andrzej Munk: „Wir haben Munk in Bad Ems bei einer Tagung der deutschen Filmclubs kennengelernt. Es war im Herbst 1957. Er saß an einem Tisch und hörte den Gesprächen über Filme zu, die andere führten. Er verstand ein wenig Deutsch; gelegentlich ließ er sich etwas übersetzen. Er legte überhaupt keinen Wert darauf, in den Mittelpunkt zu rücken, der ihm eigentlich angestanden hätte. Er war Gast, und er wollte nur zuhören. Man dachte unwillkürlich daran, wie die meisten deutschen Regisseure sich wohl verhalten hätten, die damals schon längst kein Interesse mehr an der Meinung ihres Publikums zeigten.“ (Berghahn 1961a: 526)

Durch diese Treffen beschleunigte sich der transnationale Austausch für den Filmkritik-Kreis spätestens zum Ende der 1950er Jahre beträchtlich. Sie druckten nun immer wieder Briefe und Berichte von Journalisten aus dem Ausland, darunter Aristarco. Umgekehrt publizierte Enno Patalas seine ideologiekritischen Angriffspunkte auf den deutschen Film in der Cinema Nuovo, auch in der fran-

6

Die Unterlagen sind im dortigen Archivio Storico delle Arti Contemporanee in den Sammlungen Ufficio stampa und Cinema verwahrt. Aufschlussreich für die Ausrichtung der beiden deutschen Filmkritiker ist, dass sie nicht nur für die Filmkritik akkreditiert waren, sondern Patalas zusätzlich für konkret und Gregor für die Andere Zeitung.

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zösischen Filmclubzeitschrift cinéma, der Londoner Sight and Sound oder in der linken US-Zeitschrift Film Culture.7 Ulrich Gregor freundete sich mit Aristarco an, besuchte ihn regelmäßig in Mailand und fungierte einige Jahre als dessen Berliner Korrespondent. Seit seiner Studienzeit pflegte er Kontakte nach Paris, beispielsweise zu Pierre Billard von der cinéma, in der er, wie auch in Positif, Beiträge platzierte. Es entwickelte sich eine Reihe von europäischen, filmkritischen Dreiecksbeziehungen, da gleichzeitig auch Aristarco und Billard Artikel austauschten, der Italiener zudem mit Paul-Louis Thirard von Positif in Kontakt stand (Interview mit Gregor 2012).8 Ähnlich verflochten und in mancher personeller Überschneidung existierte in den hier behandelten Jahrzehnten ein internationales Netzwerk aus mehr oder weniger linksgerichteten Filmtheoretikern und -historikern, die sich in vielfältiger Form über ihre Publikationsprojekte austauschten, nicht selten an deren Übersetzung und Weiterverbreitung beteiligt waren. Protagonisten dieser Zirkel waren Emigranten wie Kracauer, Rudolf Arnheim oder die Kuratorin der Cinémathèque française, Lotte Eisner, dazu etwa die englischsprachigen Filmhistoriker Paul Rotha und Jay Leyda. Viele dieser Gesprächsfäden liefen bei Guido Aristarco oder beim bekanntesten kommunistischen Kritiker Frankreichs, Georges Sadoul, zusammen (Forlin 2010). Die Filmkritik partizipierte über die eigenen Korrespondenzen daran und nach Jahren des Briefverkehrs trafen sich beispielsweise Patalas und Gregor 1958 in Venedig persönlich mit ihrer filmtheoretischen „Vaterfigur“ Kracauer während einer seiner gelegentlichen Europareisen.9 Die Kritiker trafen sich auch bei Besuchen außerhalb der Festivalsaison oder unternahmen über den Austausch von Zeitschriftenbeiträgen hinaus eigene Recherchereisen. Zwei Beispiele in der deutsch-italienischen Perspektive sollen hier genügen. Wilfried Berghahn reiste 1961 für das Südwestfernsehen nach Italien und berichtete über seine Erfahrungen auch in der Filmkritik, beeindruckt von der Vielfalt des dortigen Filmschaffens:

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Patalas veröffentlichte diese unter anderem mit dem Titel „08/15“ in: Cinema Nuovo 4, 73 (1955), unter A propos du Dernier Pont. Tendances actuelles du cinéma allemand in: cinéma 55, 4 (1955) und unter The German waste land in: Sight and Sound 26, 1 (1956).

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Vgl. als Auswahl dieser Beiträge Gregor 1955; Aristarco 1955a; Billard 1956.

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Hinweise für diese vielfältigen Kontakte fanden sich im Gespräch mit dem Zeitzeugen Ulrich Gregor, in den Briefwechseln Siegfried Kracauers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und in der „Correspondance générale“ von Georges Sadoul, die die Bibliothèque du film der Pariser Cinémathèque française führt.

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„Es stellte sich heraus, dass der letzte Programmpunkt, die neuen Regisseure, bereits mehr als ein halbes Dutzend Mal abendfüllend war. Dass ich geglaubt hatte, ein paar Stichproben würden genügen, erwies sich als typische Fehleinschätzung eines Deutschen, der, in seinem eigenen Lande beinahe jeglicher Hoffnung auf junge Talente entwöhnt, hinterrücks zu „vergessen“ beginnt, dass es glücklichere Nationen gibt.“ (Berghahn 1961b: 572)

Im gleichen Jahr reiste Aristarco – nach einigen Besuchen in den frühen 1950er Jahren – erneut in die Bundesrepublik und traf sich mit Ulrich Gregor bei einer Tagung an der Kieler Universität. Sein Bericht in der italienischen Presse liest sich deutlich weniger begeistert als der Berghahns. Aristarco war enttäuscht von der geringen Verbreitung und der teils schroffen Ablehnung von Roberto Rossellinis Meilensteinen des Neorealismus, Roma, città aperta und Paisà, die er, da in den Filmen Gewalttaten deutscher Soldaten und SS-Angehöriger zu sehen sind, mit einer misslungenen Vergangenheitsbewältigung in Westdeutschland, „[l]a mancanza di un’autocritica sincera e profonda“, erklärte (Aristarco 1961). Das in diesem Bericht angedeutete Desinteresse und das Unverständnis für das westdeutsche Filmwesen, das Patalas und Gregor mit ihren kritischen Berichten für die Cinema Nuovo noch verstärkten, sind ebenso wie die regelmäßigen, geringschätzigen Kommentare in der italienischen Zeitschrift über die Berliner Filmfestspiele symptomatisch für die damals asymmetrische Austauschbeziehung zwischen den beiden Filmkulturen. Dem westdeutschen Filmschaffen, das um 1960 ökonomisch und künstlerisch auf den endgültigen Tiefpunkt zusteuerte, standen die weltweiten Erfolge der Autorenfilme von Federico Fellini oder Michelangelo Antonioni gegenüber. Diese Filme wurden in der Cinema Nuovo weiterhin an den strengen Maßstäben des kritischen Realismus nach Lukács gemessen. Im Fortgang der langen 1960er Jahre erstarrte die Redaktion um Guido Aristarco so zusehends in ihrem filmtheoretischen, ein wenig provinziell eingefärbten Dogma (Pellizzari 2001: 557), was ihr Angriffe von rivalisierenden, teils deutlich jüngeren Kritikern eintrug. Als eine Ursache für die Stagnation kann die geringe Permeabilität für filmkritische Kulturtransfers interpretiert werden, anhand derer die Filmkritik wiederum, erzwungen durch den filmkulturellen Mangel in Deutschland, immer wieder ihre theoretischen Werkzeuge überprüfte und gegebenenfalls weiterentwickelte. Ihre internationale Ausrichtung führte die Filmkritik gelegentlich über die Systemgrenzen des Kalten Kriegs hinweg. Sie begegnete den wenigen verfügbaren Filmen aus der DDR relativ vorbehaltlos – ohne dabei zu blinden Propagandisten der DDR-Kulturarbeit zu werden. Das Kino der sowjetisch beeinflussten Staaten war für westeuropäische Cineasten in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten nicht leicht zugänglich angesichts von durchaus politisch geprägten Ein-

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schränkungen bei der Filmeinfuhr aus diesen Ländern und ihrer nur unregelmäßigen Teilnahme an Filmfestivals. Die Filme wurden so zu einer viel beklagten Leerstelle und zu einem Sehnsuchtsort vieler linker Filmpublizisten (Chiaretti 1953; Borde 1957), gerade polnische, ungarische und die post-stalinistischen sowjetischen Produktionen genossen einen sehr guten Ruf. Auch die Filmkritik verkörperte diese Sehnsucht und die demonstrative Offenheit gegenüber den Filmen jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Gruppe um die Zeitschrift skizzierte anteilnehmend die „Staudte-Story“ des Regisseurs Wolfgang Staudte, der versuchte, in beiden deutschen Staaten satirisch-kritische Filme zu drehen und auf beiden Seiten auf filmpolitische Hürden stieß („Die Staudte-Story“ 1957; Weckel 2006).10 Wilfried Berghahn hatte schon 1952 in den Frankfurter Heften erörtert, dass er Staudtes in der DDR entstandenen Der Untertan als „ein filmisches Meisterwerk“ bezeichne, sei „gewiss eine höchst anstößige und wenig dankbare Feststellung, denn sie wird zu Unbehagen bei den kulturellen Kreuzfahrern führen, Entrüstung im nationalen Lager provozieren und im ostberliner Propagandaministerium Beifall finden“ (Berghahn 1952: 712). Seine Kollegen Patalas und Gregor setzten sich in studentischen Filmclubs über die Aufführungsrestriktionen von Der Untertan hinweg (Interview mit Gregor 2012; Patalas 2004: 68). Die jungen westdeutschen Kritiker suchten über alle möglichen Kanäle den Austausch mit Vertretern des osteuropäischen Film- und Kulturschaffens. Gespräche mit dem polnischen Regisseur Munk sind bereits angeführt worden. Dazu gehörten ferner Teilnahmen an der Dokumentarfilmwoche in Leipzig, Kontaktaufnahmen mit dem DEFA-Regisseur Konrad Wolf in Cannes und ein Ostberliner Gesprächskreis zu Kulturtheorie und -philosophie, an dem Ulrich Gregor und Dietrich Kuhlbrodt eine Zeit lang teilnahmen (Interview mit Gregor 2012; Haase 2010: 95; Kuhlbrodt 2002: 67ff.). Unkritisch erfolgten diese Annäherungen, wie erwähnt, nicht. Die Mitarbeiter der Filmkritik benannten, ideologiekritisch geschult, klar die propagandistischen Elemente in osteuropäischen Spielfilmen oder agitatorisch verzerrte Darstellungen in Dokumentarfilmen. Gregor zeigte diese Probleme in seinen Gastbeiträgen in der Cinema Nuovo auf (Gregor 1957a) – zu einer Zeit, in der sich viele linksgerichtete Filmjournalisten in Italien und in Frankreich noch deutlich schwerer mit einer differenzierten Betrachtung der Filme aus dem Ostblock taten. Enno Patalas wurde nach seiner Kritik an einer DEFA-Dokumentation zum Bundeswehrgeneral Hans Speidel in der DDR-Filmpresse als Apologet des Nati-

10 Während einer Italienreise berichtete Staudte 1957 auch der Cinema Nuovo von seinen „gesamtdeutschen“ filmpolitischen und -wirtschaftlichen Schwierigkeiten (Cosulich 1957).

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onalsozialismus geschmäht, nach ähnlichen Äußerungen wurde mit Gero Gandert ein befreundeter Berliner Filmpublizist sogar für mehrere Jahre in der DDR inhaftiert („Wo steht Herr Patalas wirklich?“ 1959; Döge o.J.; Kötzing 2013: 118; 296). Die politischen Befangenheiten im Ost-West-Verhältnis beeinflussten somit die Möglichkeiten transnationalen Austauschs, den die Filmkritik auch in dieser Himmelsrichtung suchte. Zwei Berichte von Patalas vom Festival in Karlovy Vary veranschaulichen dies. 1958, in dem Jahr, in dem Gandert festgenommen wurde, herrschte dort „die böse Verstocktheit des Kalten Krieges“, von der nur die „Scharfmacher hierzulande, die Gegner des Filmexports in den Bonner Ministerien etwa,“ und „die letzten Stalinisten in Prag und Pankow“ profitieren würden (Patalas 1958b: 325). In geopolitisch leicht entspannten Jahren wie 1962 sah Patalas allerdings deutliche Vorteile der osteuropäischen Veranstaltung gegenüber ihrer westlichen Konkurrenz – sie fungierte als wichtiger Knotenpunkt in der transnationalen filmpublizistischen Verflechtung: „Anders als Venedig, Cannes und Berlin, die repräsentationsbeflissenen Film-(kunst-) messen, ist Karlsbad ein Diskussionsfestival. Alle Teilnehmer sind in vier benachbarten Hotels untergebracht; alle speisen gemeinsam, wenn auch an national getrennten Tischen; die alltäglichen Mitternachtsempfänge kennen keine Privilegien: jeder Teilnehmer wird eingeladen. Kein Portier, kein Agent schirmt die Großen ab gegen neugierige Frager. Gelegenheit zu Unterhaltungen bietet sich allenthalben.“ (Patalas 1962: 297)

T RANSFERS MIT E FFEKT , T RANSFERS UND K ONFLIKT

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Die Belebung, die die Filmkritik mit ihrem Wirken in die bundesdeutsche Filmkultur brachte, speiste sich nicht nur, aber gerade aus den internationalen Einflüssen, die ihre wichtigsten Vertreter schon als Studenten aufgesogen hatten. In den Anfangsjahren der Zeitschrift waren es insbesondere der italienische Realismus und seine Verfechter, die theoretische Grundlagen, praktische Vorbilder und wertvolle Austauschmöglichkeiten lieferten. Durch ihre Agitation gegen einflussreiche Kritiker, die einfallslose Filmindustrie und Institutionen wie die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und den Interministeriellen Ausschuss für Ost-West-Filmfragen (Buchloh 2002: 183ff.) haben die Autoren sicher nicht vollständig Filmkritik und Filmkultur in ihrer Heimat revolutioniert. Doch gelang es ihnen, bald die Filmdiskussion in der Bundesrepublik zu beeinflussen. Sie trieben durch zunehmende Reichweite das Diskussionsniveau auch in den Tageszeitungen voran und befeuerten die anschwellenden Debatten um

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die unzureichende Filmförderung. Gemeinsam mit anderen Kritikern begründeten sie einen polemisch positionierten Preis der jungen Filmkritik,11 Buchautoren stimmten in ihre Dauerkritik am westdeutschen Filmwesen ein (Hembus 1961; Schmieding 1961) und spätestens mit einem Eklat 1961, als der deutsche Filmpreis mangels tauglicher Kandidaten nicht vergeben wurde, setzte ein langwieriger Prozess zur Neugestaltung der Filmgesetzgebung ein (Uka 2003: 202f.).12 Als Wegbereiterin des neuen deutschen Films kann sich die Zeitschrift vermutlich etikettieren lassen (Schildt/Siegfried 2009: 328), trotz einer ambivalenten Haltung zu den Regisseuren des Oberhausener Manifests.13 Langfristig animierten die vorgestellten Akteure die westdeutsche Filmkultur durch ihre Tätigkeiten in Museen, bei Festivals oder in öffentlich-rechtlichen Redaktionen (Witte 1985: 91). In ihrer Gegnerschaft zu filmpolitischen Einschränkungen oder filmwirtschaftlichen Ungerechtigkeiten blieben die Mitarbeiter der Filmkritik im Verlauf der 1960er Jahre vereint. In der Transferbiographie der Zeitschrift traten allerdings zunehmend Differenzen, als Transferkonflikte zwischen den einzelnen Transferbiographien der Mitglieder des Kreises fassbar, auf. Diese entzündeten sich an einem weiteren westeuropäischen Impuls in Filmkritik und Filmkultur: Um 1960 spalteten die unkonventionellen Filme der französischen Nouvelle Vague einen Großteil der internationalen Filmpublizistik. Einige ihrer Schöpfer waren ja selbst Filmkritiker bei den Cahiers du Cinéma gewesen (Frisch 2007). Deren Rivalen von der linken Positif feindeten ihre Werke als „reaktionär“ an. Gleichgesinnte Rezensenten in Westeuropa, darunter die Cinema Nuovo, stimmten darin überein, dass die Filme egozentrisch, formalistisch und damit systemstabilisierend seien (anschauliche Quellen sind Firk 1959; Finetti 1961). Die Rezeption der Nouvelle Vague brachte auch der Filmkritik zur Mitte des Jahrzehnts einen Richtungsstreit und schließlich den Ausstieg von Ulrich Gregor und Theodor Kotulla (Lenssen 1990; Schenk 1998). Mit dem früh verstorbenen

11 Reaktionen und Polemiken zu dieser Initiative sind nachvollziehbar in „Jungdeutsch“, in: Spiegel Nr. 16 (12.4.1961): 84-86 und „Wie wichtig ist Kurt Hoffmann?“, in: Filmkritik 5, 5 (1961). 12 Enno Patalas nahm selbst an Ausschusssitzungen des Bundestags teil in dem Versuch, auf das Filmgesetz Einfluss auszuüben (Berghahn/Patalas 1964: 156f.). 13 Enno Patalas pflegte freundschaftliche Verbindungen zu einigen Unterzeichnern des Manifests, beispielsweise zu Alexander Kluge, und hatte schon in den 1950er Jahren gelegentlich mit ihnen zusammengearbeitet oder sogar zusammengewohnt. Dies ging aber nicht unbedingt mit einer kritikfreien Rezeption in der Zeitschrift einher (Berghahn 1963).

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Wilfried Berghahn teilten sie die Skepsis besonders gegenüber Jean-Luc Godard und bevorzugten weiterhin den italienischen Realismus nach dem Vorbild Luchino Viscontis beziehungsweise seine Fortführung durch den Regienachwuchs um Ermanno Olmi und Francesco Rosi. Berghahn mahnte in Bezug auf die neue französische Filmschule, dass sich einige seiner Redaktionskollegen „in den letzten Jahren allzusehr von formalen Erfindungen [haben] bestechen lassen und die Prüfung der […] Inhalte zu kurz gekommen ist. […] Das könnte nicht nur dazu führen, dass den flinken Talenten, die nichts zu sagen haben, außer, dass sie entschlossen sind, es interessant zu sagen, allzuviel Kredit eingeräumt wird, sondern auch noch jene unterschätzt werden, denen eine unzweideutige Wahrheit auf den Nägeln brennt, die sie unzweideutig aussprechen müssen, zum Beispiel einige junge Italiener.“ (Berghahn 1964: 8)

Dagegen rief eine Gruppe um Enno Patalas und seine Frau Frieda Grafe schließlich eine „ästhetische Linke“ aus. Einfach konsumierbaren Realismus und die Fokussierung auf eine weitgehend inhaltsbezogene Ideologiekritik hielten sie für nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen sahen sie in Godards elliptischen Montagen eine Aktivierung des Publikums, selbstständiger über die angerissenen gesellschaftlichen Zustände nachzudenken. Patalas plädierte: „Die nur soziologisch orientierte Filmkritik fasst heute die wichtigen Filme nicht mehr. […] Mit den besten Filmen der Nouvelle Vague vor allem ist die Forderung nach einer ästhetischen Methode für die Filmkritik unabweisbar geworden.“

Diese solle „ästhetische Verfahrensweisen als gesellschaftliche Aktivitäten [erkennen] und selbst ästhetisches Verhalten [aktivieren]“, und dabei helfen, „durch Vertiefung in die Struktur des Werkes seinen objektiven Gehalt zu erkennen“. Die neue „ästhetische Linke“ sei „auch politisch jenen voraus, die im Film Bestätigungen für ihre politischen und sonstigen Einsichten, und seien es die progressivsten, suchen. Sie will das Bewusstsein des Lesers nicht auf den ‚Stand‘ des eigenen bringen, sondern den Prozess der Bewusstseinsbildung beleben.“ (Patalas 1966: 406f.)

Nicht alle langjährigen Mitarbeiter und Leser vollzogen diesen Wandel mit. 1968 wurden Patalas und der Regisseur Alexander Kluge von Berliner Filmstudenten als etablierte Snobisten mit Eierwürfen attackiert (Jacobsen 1990: 155). Bald selbst ohne ihren prominenten Mitbegründer Patalas, der im Unfrieden

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schied, existierte die Zeitschrift in wiederholt wechselnder Ausrichtung schließlich noch bis in die erste Hälfte der 1980er Jahre fort. Die Filmkritik hatte nonkonformistische Filmkultur und ein gesellschaftlich orientiertes Kunstverständnis salonfähig gemacht und ist so als filmkultureller Flügel der „Fundamentalliberalisierung“ der langen 1960er Jahre anzusehen. Über ihre nicht nur publizistischen Kontakte hatte sie Anteil an einem „Frankfurter Netzwerk“, um das „sich bis zum Ende der 1950er Jahre ein stabiles Lager von kritischen Journalisten in den Massenmedien gebildet hatte.“ (von Hodenberg 2006: 289) Ihre Entwicklung ist möglicherweise zudem, ohne zu sehr zu vereinfachen und zu idealisieren, als eine Parabel auf die frühen Protestbewegungen dieser Zeit zu verstehen. Sie trug dazu bei, Freiräume und Akzeptanz für nonkonformistisches Verhalten und oppositionellen Geschmack zu schaffen – bei vielen Entbehrungen und langen Inkubationszeiten. Nicht alle Konsumenten von populärer Kultur pflegten nun diese Debatten und Interessen, doch für diejenigen, die es wollten, war es unproblematischer geworden durch die Pionierarbeit weniger Enthusiasten. Dass diese Pioniere zentrifugalen Tendenzen und Spaltungen unterworfen waren, sich auseinanderlebten und überlebt wurden, ist ebenfalls als eine Parallele zur Protestbewegung vor und von 1968 anzusehen (Bliersbach 1985: 31, Brandlmeier 1988: 55).

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Kulturtransfer im „Fenster zur Welt“ Fernsehprogrammhandel und transnationaler Kulturtransfer im Westeuropa der 1960er Jahre C HRISTIAN H ENRICH -F RANKE „It is no easy task to try to and ‚europeanise‘ a transmission and make what seems valid to the people at the centre and the south of Europe acceptable to those in the north, or vice versa. The language barrier, easy to overcome in the case of a commentary, immediately breaks up in the field over which it is possible to broadcast a theatrical or other such cultural entertainment.“ BEZENÇON 1957: 543

E INLEITUNG Mit diesem Zitat zog der Schweizer Fernsehpionier Marcel Bezençon – einer der Gründerväter des Programmaustauschs in Europa überhaupt – im Jahr 1960 ein düsteres Fazit mit Blick auf den transnationalen Kulturtransfer im „Fenster zur Welt“ innerhalb Westeuropas. Damit brachte er die Enttäuschung einer Reihe von europäischen Fernsehpionieren zum Ausdruck, die mit dem Fernsehen neue Möglichkeiten des Kulturtransfers verbunden hatten. Erlaubte es der Fernseher doch prinzipiell, den eigenen Kulturkreis zu verlassen und „fremde“ Kulturangebote sehend zu konsumieren, ohne die eigenen vier Wände zu verlassen. Nun stellt sich die Frage, ob dieses Urteil auch für die 1960er Jahre und dabei besonders für die Populärkultur gilt. Eine Fokussierung auf die 1960er Jahre macht auch vom Gegenstandsbereich her Sinn, bildet dieser Zeitraum in der Genese des Handels mit Fernsehpro-

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grammen doch eine Einheit. Kennzeichnend war eine Zentralisierung auf wenige Distributionswege, was auch daran lag, dass das Gesamtangebot an gesendetem Programm – oft gab es nur ein oder zwei nationale Sendekanäle, die wenige Stunden am Tag sendeten – noch überschaubar war (Kreuzer 1993). Ab der ersten Hälfte der 1970er Jahre vollzog sich dann in mehrfacher Hinsicht ein struktureller Wandel, der sich mit den Stichworten Kommerzialisierung, Ausdifferenzierung und Dezentralisierung beschreiben lässt. Der Ankauf ausländischer Produktionen oder Koproduktionen wurde immer selbstverständlicher und zu einem strategischen Aufgabenfeld. Hatte bis in die frühen 1970er Jahre hinein noch eine zentrale Programmesse der Europäischen Rundfunkunion als alleiniges Schaufenster den Bedarf des Markts decken können, so vervielfachte sich die Messelandschaft binnen weniger Jahre. Nahezu alle nationalen Fernsehanstalten gingen dazu über, ihre Fernsehprogramme auf eigenen Messen wie den German Screening Sessions oder den Nordic Screening Sessions anzubieten, um dort die bilateralen Geschäfte anzubahnen. Gleichzeitig nahm die Zahl der Festivals, auf denen in immer mehr Programmsparten die Produktionen prämiert und einem internationalen Käuferpublikum zur Schau gestellt wurden, spürbar zu. Dieser Beitrag soll ein doppeltes Ziel verfolgen. Erstens sollen auf einer Makroebene Transferräume skizziert werden. Dabei soll ein Überblick über Programmtransfers gegeben werden, um so transnationale Räume der Verflechtung innerhalb Westeuropas abzubilden. Welche Verflechtungs- und Interaktionsräume lassen sich im Programmhandel innerhalb Westeuropas erkennen? Wie veränderten sich die Interaktionsräume im Laufe der „langen 1960er“ Jahre? Welche Programmsparten wurden warum gehandelt und welche nicht? Zweitens soll auf einer Mikroebene nach der Transferart, d.h. der Art und Weise des Kulturtransfers, gefragt werden. Inwieweit sind innerhalb der Programme Aspekte von „Transnationalem“ auffindbar und inwieweit stellt Populärkultur eine spezifische Mischung aus „etabliertem Nationalen“ und „neuem Transnationalen“ dar? Lassen sich Europäisierungstrends erkennen? Es gilt zu betonen, dass hier nur die Auswirkungen des internationalen Programmhandels auf die Transnationalisierung des Programms in den Blick genommen werden und keine Rezeptionsanalyse vorgenommen werden kann. Ob es dabei zu einer Transnationalisierung von Normen, Werten und Kultur kam – also ein direkter Effekt beim Publikum erzielt wurde – kann nicht thematisiert werden. Um diese Leitfragen überhaupt beantworten zu können, wird der Fokus auf den Programmhandel zwischen den Fernsehstationen Westeuropas über die Messen und Festivals der Europäischen Rundfunkunion (EBU) gelegt, wobei die Eurovision ausgeklammert wird. Diese können als eine Art „Mikrokosmos“ be-

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trachtet werden, innerhalb dessen sich multilaterale Austauschprozesse abbilden lassen. Die Programmessen und -festivals sind einerseits groß genug, um binneneuropäische Transferprozesse repräsentativ abzubilden, andererseits klein genug, um sie im Rahmen dieses Beitrags zu analysieren. Dies wird noch dadurch erleichtert, dass in den 1960er Jahren nicht die Einschalt-Quote über den Programmhandel und damit den Kulturtransfer entschied, sondern die Fernsehdirektionen und Programmkäufer. Sie stellten mit ihren individuellen Bewertungen von Programmen wichtige Scharniere für transnationale Kulturtransfers im Massen- und Leitmedium Fernsehen dar. Wenngleich generell die Transferräume auf paneuropäischer Ebene skizziert werden sollen, wird für einen tieferen Einblick in die Transferarten ein Schwerpunkt auf Deutschland gelegt. In der Forschung hat sich die europäische Fernsehgeschichte in den letzten Jahren als ein prominentes Forschungsfeld etabliert (Badenoch/Fickers/HenrichFranke 2013; Bignell/Fickers 2009), wobei auch eine Reihe von Arbeiten zum Programmaustausch innerhalb Westeuropas entstanden sind (Bourdon 2008; Degenhardt/Strautz 1999). Diese nahmen aber in erster Linie die diversen Aktivitäten der Eurovision in den Blick und attestierten ihr durchweg geringe Auswirkungen auf Transnationalisierungsprozesse, da sich der Austausch via Eurovision auf Sport- und Nachrichtenbilder konzentrierte. Oftmals wird die These von Andreas Fickers bestätigt, dass Fernsehen „eine zentrale Rolle in der Stabilisierung des nationalen Erfahrungsraums spielte“ (Fickers 2005: 19). Zum Programmhandel zwischen den Fernsehsendern Westeuropas gibt es bisher kaum Studien (Henrich-Franke 2010), insbesondere ist die Frage nach dem Transfer von Populärkultur nicht explizit gestellt worden. Lediglich für die amerikanischen Programmtransfers – Stichwort Amerikanisierung (Stephan 2007) und Medienimperialismus – liegen Studien vor, die in zunehmendem Maße einen differenzierten Umgang mit dem US-Einfluss einfordern, da insbesondere in Staaten mit starker Public-Service Tradition dieser eher gering ausfalle. Ib Bondebjerg beispielsweise zieht die Konfliktlinie nicht entlang verschiedener Nationen, sondern zwischen Hoch- und Populärkultur (Bondebjerg 2009). Die Quellensituation ist beim vorliegenden Thema nicht ganz einfach, da es in den 1960er Jahren kaum zentrale Ein- und Verkaufsabteilungen der Fernsehanstalten gab. Innerhalb der Anstalten waren Zuständigkeiten nicht immer klar verteilt, so dass die Übernahme von Programmen intern diskutiert wurde. Zumeist entschieden die Programmdirektoren, wobei nicht selten Programmbewertungsbögen eine wichtige Entscheidungsgrundlage darstellten. Diese sind zwar nicht lückenlos vorhanden, aber immerhin in ausreichender Zahl, um qualitative Aussagen treffen zu können. Überdies ist es aufgrund der unterschiedlichen Transferarten nicht immer leicht, ein Programm als „populärkulturell“ oder

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„transnational“ zu bestimmen, was noch dadurch erschwert wird, dass die Klassifikation nach Programmsparten sich sowohl national unterschied als auch in den 1960er Jahren einem Wandel unterlag.

T RANSNATIONAL UND P OPULÄRKULTUR : B EGRIFFSKLÄRUNGEN MIT B LICK AUF DAS F ERNSEHEN Zunächst gilt es, einige Begriffsklärungen vorzunehmen, die auch unterstreichen sollen, dass „transnationale Populärkultur“ im Fernsehen der 1960 Jahre schwer zu lokalisieren und objektiv zu fassen ist. Populärkultur im Fernsehen muss dabei von nichtpopulären Elementen unterschieden werden. Anknüpfen möchte ich an Forschungen der cultural studies, die auf die Dynamik von Populärkultur verweisen und betonen, dass sich in der Populärkultur gesellschaftliche Veränderungen manifestieren. Damit relativieren sie die oftmals proklamierte Ambivalenz von Hoch- und Populärkultur, die gerade im historischen Längsschnitt permanenten Transformationen unterliegt. Dies gilt es zu bedenken, wenn man versucht, für das Fernsehen der 1960er Jahre die Populärkultur einzelnen Programmsparten zuzuweisen. Unterschieden wird hier zwischen hochkulturellen Programmsparten, Mischsparten und populärkulturellen Programmsparten. Zur Hochkultur, die eher dem Bildungsauftrag entspricht, zählen Theatersendungen, Dokumentationen, Nachrichten und Magazinbeiträge. Zu den Mischsparten werden die Musikprogramme, die Kinderprogramme, das Fernsehspiel und Unterhaltungsprogramme gerechnet, die sowohl populär- als auch hochkulturell konnotiert sein können. Genuine Populärkultur sind Spielfilme (Kino), Fernsehserien und Sportprogramme. Zweitens müssen die analytischen Grenzen des Begriffes „transnational“ reflektiert werden (Budde/Conrad/Janz 2006), da er in gewisser Weise voraussetzt, dass Nationen nach innen homogene Kulturräume sind, die über wenig oder gar keine binnenkulturelle Differenzierung verfügen. So ist der Programmhandel zwischen dem Bayrischen und dem Österreichischen Rundfunk transnational, der innerdeutsche wiederum nicht und erst recht nicht der eine Sprachgrenze überbrückende zwischen dem flämischen und dem wallonischen Fernsehen. Drittens ist es beim Fernsehen methodisch schwierig nachzuweisen, inwiefern Programmhandel auch tatsächlich als transnationaler Kulturtransfer einzustufen ist, was an den unterschiedlichen Transferarten verdeutlicht werden kann. Unterscheiden lassen sich transnationale Programmtransfers ganz allgemein in direkte und indirekte Transfers. Die Direkttransfers umfassen – egal ob der Transfer mittels Bändern oder Livesendung erfolgte – komplette Programme,

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geschnittene Programme oder Programmsequenzen. Alle drei können in der Originalsprache (mit oder ohne Untertitelung), als Synchronisation oder mit einem völlig neuen Kommentar versehen gesendet werden. Noch schwieriger wird es bei den indirekten Transfers, zu denen erstens der Formattransfer zählt, d.h. der Kauf von Formatkonzepten, die dann national produziert werden, und zweitens der Ideentransfer, d.h. Ideen werden in Diskussionen zwischen Produzenten, Kameraleuten etc. übernommen und grenzüberschreitend verwertet. Hinzu kommt der komplexe Bereich der grenzüberschreitenden Koproduktionen, der hier nicht weiter thematisiert wird, weil er nur bedingt ein Thema der 1960er Jahre war.

F ERNSEHEN UND F ERNSEHPROGRAMME IN DEN 1960 ER J AHREN : EINE S ENSIBILISIERUNG Das Fernsehen war in den 1960er Jahren noch ein sehr junges Medium, das nach dem Zweiten Weltkrieg in drei Wellen in den Staaten Europas eingeführt worden war. Dabei muss das Fernsehen in doppelter Hinsicht als eine – wie Andreas Fickers betont hat – „konservative Revolution“ bezeichnet werden (Fickers 2008). Zum einen strukturierten die Staaten Westeuropas ihr Fernsehen so, dass es zur nationalen und regionalen Identitätsfindung beitrug. Abbildung 1: Eröffnung erster Fernsehprogramme in Westeuropa

Quelle: eigene Darstellung

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Zum anderen unterlag das Fernsehen einer ausgeprägten „Remediatisierung“, bei der zunächst starke Anleihen beim Radio oder beim Theater gemacht wurden, was sowohl das Programm als auch das Personal betraf. Letzteres hatte zur Folge, dass in den Programmdirektionen an den entscheidenden Stellen Programmverantwortliche saßen, die nicht nur einer gesellschaftlichen Elite zuzurechnen waren, sondern die dem Fernsehen einen Bildungsauftrag zusprachen, zu dessen Kernaufgaben die Vermittlung von „Hochkultur“ an breite Bevölkerungsschichten gehörte. Dass Fernsehprogramme überhaupt grenzüberschreitend gehandelt wurden, ist ganz wesentlich auf ökonomische Zwänge zurückzuführen. Insbesondere die kleineren Staaten Europas, innerhalb derer die Fernsehstationen mit weniger Einnahmen aus Lizenzgebühren operieren mussten, waren permanent auf der Suche nach kostengünstigen Fremdproduktionen, um ihre Programmschemata zu füllen. Kleinere Staaten wie Schweden waren deshalb in den 1960er Jahren darauf angewiesen, bis zu 50 Prozent ihres Programms aus fremden Quellen zu beziehen, während eine spürbare Außenorientierung bei den größeren Staaten wie Deutschland erst ab Mitte der 1960er mit der Eröffnung zweiter Kanäle einsetzte. Von Beginn des Fernsehbetriebs an wies es also auch eine starke internationale Komponente auf. Der Intensivierung des Programmhandels insgesamt spielte die technische Entwicklung in die Karten. Bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre war das Fernsehen in erster Linie ein „Livemedium“, in dem Liveprogramme im Studio gefilmt und direkt gesendet wurden. Erst mit der Einführung der Magnetbandaufzeichnung änderten sich die Produktionsbedingungen, so dass Programme überhaupt erst handelbar wurden und die anfangs prägenden Liveaufzeichnungen bis in die 1970er Jahre allmählich verschwanden. Dies dauerte mitunter lange, da Investitionen in Studios, Technik und Personal getätigt worden waren, die sich amortisieren sollten. Das Fernsehen öffnete sich „von der Studiowelt zur Außenwelt“ (Kreuzer 1993: 198). Die Produktion erfolgte „auf Band“ nun unabhängig vom Sendezeitraum und konnte bei Bedarf entweder flexibel wiederholt oder auch in verschiedenen Formen an andere Fernsehanstalten transferiert werden. Damit einher ging eine Transformationsphase des Fernsehens, die sich über die gesamten 1960er Jahre vollzog und Ausdruck fand in einer Unterhaltungsorientierung und damit einer Hinwendung zur „Populärkultur“, die sich ab Mitte der 1960er Jahre in vielerlei Hinsicht bemerkbar machte und als transnationaler Vorgang in ganz Europa angesehen werden kann. Hier wirkte sich die „Amerikanisierung“ des Fernsehprogramms aus. US-Produktionen waren die gesamten 1960er Jahre hindurch mit einem Importanteil von 50 Prozent die quantitativ be-

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deutendste Programmquelle. Die Dominanz betraf v.a. die Sparte der Populärkultur, d.h. Serien und Spielfilme in den Bereichen Krimis, Gangsterfilme, Western- oder auch Horror-Reihen. Bei den Mischsparten und der Hochkultur waren die USA nur ein Lieferant unter vielen. Die Dominanz US-amerikanischer Produktionen in den populärkulturellen Programmelementen, Serien und Film, erklärt sich zu einem großen Teil wirtschaftlich, da die großen Produktionseinheiten in den USA ihre Programme zu Preisen anbieten konnten, welche die europäischen Produzenten nicht realisieren konnten. So hätte der WDR 1965 die Serie Bonanza zum „Sensationspreis“ von 3.000 DM pro Stück erwerben können.1 Selbst inklusive Material- und Bearbeitungsgebühren lag der Minutenpreis damit bei 300-400 DM, wohingegen noch keine Eigenproduktion unter einem Minutenpreis von 5.000 DM realisiert worden war. Der WDR-Fernsehdirektor Lange wollte die Sendung 1965 trotz verbreiteter Bedenken erwerben, weil „auch die ARD angesichts der bis dahin (Farb-TV-Einführung und ZDF) zu erwartenden Konkurrenz gewisse Zugeständnisse an den Massengeschmack wird machen müssen und dass die heutige Scheu vor dem Western (den im Grunde auch die Intellektuellen doch gerne sehen) geschwunden sein wird.“2

Da sich Lange in den WDR-Gremien nicht durchsetzen konnte, erwarb schließlich das ZDF die Serie und sendete sie mit großem Erfolg. Generell gilt, dass in den größeren europäischen Staaten die Eröffnung eines zweiten Fernsehkanals als Türöffner für populärkulturelle Programme fungierte (Bourdon 2003).

D ER P ROGRAMMHANDEL IM R AHMEN E UROPÄISCHEN R UNDFUNKUNION

DER

Für den innereuropäischen Handel bietet die Europäische Rundfunkunion einen guten Einstieg, da in den 1960er Jahren ein Großteil dieses Handels tatsächlich über deren Messen und Festivals angebahnt wurde, die obendrein ein Ort des Diskurses über Programme und deren Produktion waren. Bis zur Etablierung unabhängiger Einkaufs- und Verkaufsabteilungen traf sich auf den Messen und Festivals noch eine Vielzahl von Programmproduzenten, die gemeinsam die

1

Brief des Fernsehdirektors Lange an den WDR Intendanten von Bismarck, 11. November 1965, Historisches Archiv des WDR, Fernsehdirektor, 9-1, 13796.

2

Vgl. ebd.

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Programme anschauten und über deren Qualität diskutierten. Insofern kam es zu indirekten Kulturtransfers, die kaum fassbar und quantifizierbar sind. Die seit 1963 in Mailand stattfindenden EBU Screening Sessions stellten den ersten zentralen Markt für Produktionen der Fernsehanstalten überhaupt dar. Erklärtes Ziel war es, nicht die nationalen Prestigeproduktionen – die ohnehin auf den Festivals gezeigt wurden – zum Kauf anzubieten, sondern eher die „stillen Reserven“ aus den Archiven. Mit den EBU Screening Sessions hielt auch das Prinzip des kommerziellen Handels Einzug in die innereuropäische Zusammenarbeit, nachdem vorab alles auf der Basis des unentgeltlichen Austauschs geregelt wurde. Für den innereuropäischen Handel lassen sich an den Zahlen der dortigen Vorführungen zwei Dinge gut festmachen. Erstens stieg das Gesamtangebot der präsentierten Programme zwischen 1963 und 1970 deutlich von 89,14 Stunden auf 150,35 Stunden, was die quantitative Zunahme des innereuropäischen Programmhandels gut widerspiegelt. Abbildung 2: EBU Screening Sessions (1968) Programm pro Kategorie Hochkultur Dokumentationen Musikprogramme Mischkategorien Fernsehspiel Leichte Unterhaltung Gesamtprogramme

91 57 41 29 236

Quelle: eigene Darstellung

Zweitens zeigten die vorgeführten Programmkategorien während der gesamten 1960er Jahre eine hohe Konstanz, die einen eher geringen Anteil von Programmen mit „populärkulturellen Sparten“ aufwiesen. Repräsentativ für die gesamten 1960er Jahre sollen hier die Daten von 1968 genommen werden, nach denen insgesamt 236 Programme vorgeführt wurden, von denen 91 der Kategorie der Dokumentationen, 57 den Musikprogrammen (vorwiegend Opern und Musicals, aber mitunter auch populäre Programme wie der Beat Club), 41 dem Fernsehspiel und 29 der leichten Unterhaltung zuzuordnen sind.3 Sicherlich wurden mit-

3

Report on the EBU Screening Sessions 1968, Archives of the European Broadcasting Union, Genf, Television Programme Committee, O.A. 3881, ComPro 1024.

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unter auch Serien wie Mit Schirme, Charme und Melone auf den Screening Sessions angeboten, aber die große Mehrheit des Handels waren auch in den Mischkategorien „hochkulturelle“ Programme. Neben den EBU Screening Sessions lohnt es sich, einen genauen Blick auf das Festival Die Goldene Rose von Montreux zu werfen, das die EBU explizit für Unterhaltungsprogramme entworfen hatte. Montreux wurde schnell zum Schaufenster für Unterhaltungsformate, so dass der eigentliche Festivalcharakter schon 1963 geöffnet und es den Fernsehanstalten erlaubt wurde, außerhalb des Festivalprogramms weitere Vorführungen vorzunehmen, was immerhin zu einer Verdopplung des Angebots auf die immer noch überschaubare Zahl von vielleicht 50 Programmen führte.4 Die Durchsicht der Programme offenbart, dass Unterhaltung in den gesamten 1960er Jahren ein Feld war, auf dem sich Populär- und Hochkultur vielfältig überlappten. Da aber die konservativen Führungsgremien der Fernsehstationen die Jury besetzten, wurden populärkulturelle Unterhaltungsprogramme eher selten prämiert. Bedenkt man nun, dass die gleichen Personen – unter ihnen auch der zitierte Marcel Bezençon – auch über den Kauf von Programmen entschieden, können die Auszeichnungen als guter Indikator für transnationalen Programmtransfer herangezogen werden. Bemerkenswerterweise kommentierte die WDR-Delegation in einem Reisebericht über das Festival von Montreux im Jahr 1968, dass „für die Jugendlichen, die sich dort amüsierten, es jedoch die in Amt und Ehren ergrauten Unterhaltungsbosse des Fernsehens waren, die absolut ‚out‘ waren.“ Deshalb würde im Rahmen des Festivals mehr „das Fernsehen von gestern“ dekoriert, „als die Formen und Möglichkeiten des Fernsehens von morgen.“5 Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass bei den direkten Programmtransfers über die Messen und Festivals die hochkulturellen Programme überwogen. Alles in allem reduziert sich die zum Handel angebotene westeuropäische Populärkultur auf eine eher geringe Zahl. Dies gilt umso mehr, als die Mischkategorien innerhalb Europas noch sehr „hochkulturell“ geprägt waren.

4

Reisebericht der WDR-Delegation über das Fernsehfestival von Montreux, 1963. His-

5

Vgl. ebd.

torisches Archiv des WDR, Köln, Fernsehdirektor, 9-1, 13707.

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T RANSFERRÄUME

UND I MPORTE

Versucht man nun rein auf der Basis des direkten Programmhandels Transferräume zu skizzieren, so kann auch aufgrund einer eingeschränkten Datengrundlage nur eine kleine Auswahl herangezogen werden, die auf Näherungswerten basiert, um allgemeine Trends aufzuzeigen. Zunächst zu den Zahlen:6 Sehr vereinfacht dargestellt, zerfiel die Importstruktur innerhalb Westeuropas in die größeren und kleineren Fernsehanstalten. Die größeren Sender aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien importierten nahezu ausschließlich in den populärkulturellen Sparten (ca. 40-60%), d.h. Serien und Spielfilme, während in allen anderen Sparten die Zahl der Importe sehr gering ausfiel. Insbesondere bei den populärkulturellen Programmen lässt sich innerhalb der 1960er Jahre ein dahingehender Prozess erkennen, dass sich die Anstalten zunehmend von der kompletten Importabhängigkeit von den USA emanzipierten und eigene Serien und Filme produzierten. In diesem Kontext spielt auch die staatliche Förderung der nationalen Filmwirtschaft eine Rolle, welche die Zusammenarbeit von Film und Fernsehen begünstigte. In Deutschland ist hier etwa auf die 100-Filme-Aktion zu verweisen, die zu einer Art „ReNationalisierung“ beitrug.7 Die kleineren Anstalten hingegen bezogen in allen Sparten ausländische Programme, wobei die Importe in den genuin populärkulturellen Bereichen außerordentlich hoch ausfielen. Die Fernsehanstalten aus Belgien, Dänemark, Finnland, Island, Irland, Norwegen, der Schweiz, Schweden oder Spanien bezogen über 90 Prozent dieser Programme aus dem Ausland, insbesondere aus den USA. Demgegenüber produzierten sie in den Mischbereichen und hochkulturellen Bereichen einen beträchtlichen Anteil selber. Da für die eher hochkulturell geprägten Programmsparten innerhalb Westeuropas ein breites potentielles Angebot verfügbar war, etablierte sich hier auch ein westeuropäischer Markt, auf dem Deutschland, Frankreich und Großbritannien die wesentlichen Lieferanten von Dokumentationen, politischen Magazinprogrammen oder Musikübertragungen waren. Bei den Transfers zeichnen sich deutliche Konturen von Verdichtungsräumen und Subräumen ab, v.a. ist eine spürbare Trennlinie zwischen einem germanisch-angelsächsischen und einem la-

6

Die Datengrundlage für die folgenden Ausführungen bilden die diversen Jahrbücher der Fernsehanstalten sowie eine Studie von Tapio Varis. Varis, Tapio, Television traffic – a one-way street? Paris: Unesco 1974.

7

Unterlagen der Sitzung der ARD Fernseh-Programmkonferenz in Hamburg, Oktober 1965, Deutsches Rundfunk Archiv, Frankfurt, A44/13 Protokolle der FernsehProgrammkonferenz 1965.

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teinischen Raum erkennbar, die sich entlang sprachlicher Grenzen konfigurierten. Innerhalb der Subräume lässt sich wiederum eine intensivere transnationale Verdichtung im germanisch-angelsächsischen, v.a. im nordischen Raum feststellen, dem keine vergleichbare Verdichtung im lateinischen Raum gegenübersteht. Abbildung 3:

Quelle: eigene Darstellung

Erklären lässt sich dieser Unterschied zum einen geographisch – über die höhere Anzahl kleiner Nationen und deren Importabhängigkeit – zum anderen über kulturpolitische Förderung im nordischen Raum. Betrachtet man die Importe von populärkulturellen Programmen und versucht Verdichtungsräume zu lokalisieren, so fallen je nach Sparte sehr gegenläufige Tendenzen auf. Seit Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich – wie oben angedeutet – bei Serien und Spielfilmen in den großen Staaten auch eine Tendenz zu innereuropäischen Transfers ab, v.a. ist hier auf britische und französische Serien und Filme zu verweisen, wie etwa Mit Schirm, Charme und Melone oder Die verwegenen Abenteuer des Chevalier Wirbelwind. Dass europäische Serien und Spielfilme im größeren Stil innereuropäisch gehandelt wurden, ist aber eher ein Phänomen, das in den 1970er Jahren einsetzte. In den Mischsparten sind starke Varianzen feststellbar, die kaum Muster erkennen lassen. Unterhaltungsshows wurden dabei von allen Fernsehstatio-

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nen – auch den kleineren – zum Großteil selber produziert, so dass der Austausch bei den Unterhaltungsprogrammen eher marginal war. Versucht man auf der Basis der Importzahlen innereuropäische Verdichtungsräume zu schaffen, dann lassen sich allenfalls im Unterhaltungsprogramm entlang sprachlicher Verwandtschaften zarte Konturen erkennen, die – mit aller Vorsicht – prinzipiell die gleichen Verdichtungen aufweisen wie bei den hochkulturellen Programmsparten. Tatsächlich signifikante Muster lassen sich dabei für die 1960er Jahre nur wenige erkennen.

T RANSFERARTEN

UND

P ROGRAMMBEWERTUNGEN

Versucht man nun zu klären, wie und auf welche Art die populärkulturellen Programme transferiert wurden, dann stechen zwei Arten heraus, wenn man einmal von dem Footage-Transfer der Sportprogramme absieht. Erstens beim direkten Transfer fällt – einmal mehr – eine generelle Unterscheidung zwischen großen und kleinen Fernsehsendern auf, die maßgeblich durch sprachliche Unterschiede und die daraus resultierenden ökonomischen Implikationen bedingt ist. Die kleineren Sender übernahmen das Programm zumeist mit Originalton und landessprachlicher Untertitelung. Die größeren Sender arbeiteten – auch weil sie es sich leisten konnten – mit Synchronisationen. Nach diesem Muster zirkulierten nicht nur die Masse der Filme und Serien aus den USA, sondern auch die innereuropäisch gehandelten Fernsehspiele, Filme oder Serien. Dabei war es die Regel, die Serien so zu schneiden, dass sie in nationale Programmschemata passten, was aber nur geringen Einfluss auf Bild und Ton hatte. Innereuropäisch kamen in den 1960er Jahren auch noch vergleichsweise wenig „Szenenausschneidungen“ vor, die bei US-Serien oftmals gemacht wurden, um Szenen zu entfernen, die für den jeweiligen Geschmack als zu gewalttätig galten. Zweitens wurden populärkulturelle Unterhaltungsformate innerhalb Europas indirekt transferiert, wie weiter unten am Beispiel der Rudi Carrell Show gezeigt wird. Stellt man sich die Frage, warum innerhalb Europas populärkulturelle Programme nur selten direkt gehandelt wurden, dann ist die Antwort für die genuin populärkulturellen Programmsparten banal: Es gab einfach kein umfassendes und auch noch günstiges innereuropäisches Angebot an Eigenproduktionen. Bei den Mischsparten wiederum ist die Sache komplizierter, da hier auf ein ganzes Ursachenbündel verwiesen werden kann. (a) Sprache: Sprache und damit die Wortlastigkeit von Programmen war eines der Haupthindernisse. Immer wieder findet sich in Programmbewertungsbögen Sprache als Kriterium, welches klar gegen oder für eine direkte Übernahme entschied. Bemerkenswerterweise betraf

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dies bei den deutschen Fernsehanstalten insbesondere Serien und Filme aus Frankreich und Italien, d.h. aus einem Sprachraum, der ohnehin zu längeren Sätzen tendiert, und damit regelmäßig als unbrauchbar eingestuft wurde. (b) Programmdirektoren: Die Programmbewerter erwiesen sich selber als ein Hindernis. In den Bewertungsbögen und Empfehlungen spiegelt sich ein generell kritischer Umgang mit populärkulturellen Formaten wider, die einfach nicht „anspruchsvoll“ genug waren. Insbesondere in den Mischkategorien wie der Unterhaltung oder dem Fernsehspiel müssen die 1960er Jahre als ein „Experimentierfeld“ angesehen werden, innerhalb dessen „populärkulturelle Produzenten“ nicht immer den Geschmack der Programmdirektoren trafen. (c) Investitionen: Innerhalb der Fernsehanstalten Europas – insbesondere der größeren – waren in den 1950er und frühen 1960er Jahren Studio- und Personalkapazitäten geschaffen worden, die weiter genutzt werden sollten. Dies galt umso mehr, als diese die eher hochkulturellen Programme produzierten. Man war also seitens der Programmdirektionen auch gerne bereit populärkulturelle Programme fremd zu beziehen, wodurch insgesamt die innereuropäische Produktion sich auf ein Minimum reduzierte. (d) Ästhetik: Es waren aber auch ästhetische Kriterien wichtig. Transnational brauchbare populärkulturelle Programme mussten von der Machart und Inszenierung einfach und nicht zu anspruchsvoll sein. Im europäischen Raum erwiesen sich Kriterien wie die technische Qualität, die perfekte Inszenierung, die gute Kameraführung oder ausgefeilte Dialoge, die in den eher hochkulturellen Programmsparten als Erfolgsgaranten für deutsche Produktionen galten, in der Populärkultur als hinderlich. So mehrten sich die Resümees deutscher Produzenten, dass bei Unterhaltungssendungen „uns offenbar all das“ fehlt, „was mit Gefühl bezeichnet werden kann. […] Die chemisch-gereinigte, unterkühlte und perfektionierte Show ist nicht mehr gefragt.“8 (e) Ökonomie: Letztlich spielten auch ökonomische Aspekte eine Rolle, da die angebotenen europäischen Produktionen vergleichsweise teuer waren, v.a. mit Blick auf US-Produktionen. (f) Nationale Kontextualisierung: Die populärkulturellen Unterhaltungsshows wiederum arbeiteten zunehmend mit lustigen Kommentierungen zum Alltagsgeschehen oder auch der Politik, die den nationalen Kontext adressierten und deshalb auf direkte Weise transnational kaum zu transferieren waren.

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Reisebericht der WDR-Delegation über das Fernsehfestival von Montreux, 1968. Historisches Archiv des WDR, Köln, Fernsehdirektor, 9-1, 13707.

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E UROPÄISCHE P OPULÄRKULTUR : T RANSNATIONALER K ONZEPT - UND I DEENTRANSFER Wenngleich der direkte innereuropäische Transfer von Populärkultur im Fernsehen also eher gering ausfiel, so war ein indirekter Transfer in allen Bereichen der Populärkultur zu erkennen. Bei den Serien erfasste er primär die größeren Anstalten wie die BBC, ORTF oder die deutschen Anstalten, die anfingen eigene populärkulturelle Serien zu produzieren. Bekannte Beispiele wären Mit Schirm, Charme und Melone, die Benny Hill Show, Der Kommissar oder auch der Tatort. Im Bereich der Mischsparten lässt sich der indirekte Transfer bei den Unterhaltungsprogrammen für ganz Europa erkennen. Exemplarisch möchte ich dies an der Rudi Carrell-Show verdeutlichen, in der sich viele Aspekte des Kulturtransfers im „Fenster zur Welt“ festmachen lassen: Sprache, Gags, Ökonomie, Formatübernahme und die Verbreitung via einer EBU-Aktivität. Die Rudi Carrell Show war seit 1961 im niederländischen Fernsehen produziert worden und 1964 mit einer speziellen Sendung auf dem Festival von Montreux mit einer „Silbernen Rose“ ausgezeichnet und einer breiten Palette europäischer Fernsehverantwortlicher gezeigt worden. Das Konzept sprach viele Fernsehsender in Deutschland an (WDR, NDR, BR, Radio Bremen), die eine kleine Unterhaltungssendung mit dem gleichen Format produzieren wollten, von denen Radio Bremen letztlich den Zuschlag erhielt. Dass im speziellen Fall der Rudi Carrell Show nicht nur das Konzept sondern direkt auch der Showmaster übernommen wurde, hat neben der „angenehmen, sympathischen Ausstrahlung“9 auch damit zu tun gehabt, dass Carrell fließend Deutsch sprach. Kennzeichnend für die Show war, dass Rudi Carrell als Entertainer auftrat, der zwischen den Szenen und Sketchen das bindende Element war und permanent an tagesaktuelle Ereignisse anknüpfte (Trimmborn 2006; Schult 2000). Die Show war lustig, ideenreich, musikalisch und nicht glamourös, sondern am Alltag der Menschen orientiert, wodurch die Distanz zum Zuschauer überbrückt wurde. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass keine teuren Stars eingesetzt wurden und eben auch die musikalischen Beiträge der Populärkultur zuzurechnen waren. Im Gegensatz zu den großen deutschen Unterhaltungsformaten – zumeist Quizshows nach dem Format Einer wird gewinnen – verzichtete sie gänzlich auf hochkulturelle Elemente, die dort eben durch musikalische Beiträge aus dem Bereich Operette etc. eingestreut wurden. Für die Programmdirektoren besonders interessant war der Preis. Kostete eine Ausgabe der Rudi Carrell Show in den

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Bericht des WDR-Delegierten Hoff an den Fernsehdirektor Lange vom 4. Mai 1964. Historisches Archiv des WDR, Köln, Fernsehdirektor, 9-1, 13707.

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1960er Jahren zwischen 50.000 und 60.000 DM Produktionskosten, so konnte für eine große Samstagsabendshow bis zu einer Million DM veranschlagt werden. Dass die Rudi Carrell Show ein transnationales populärkulturelles Programm war, zeigte sich besonders an ihrem Entstehungskontext. Inspiriert wurde Carrell durch amerikanische und britische Unterhaltungsformate, ohne dass er diese übernahm. Nach 1965 produzierte er als Niederländer die Show in Deutschland auf Deutsch und in den Niederlanden auf Niederländisch, wobei er auf einen britischen Berater zurückgriff. Obendrein wurde die Rudi Carrell Show in 14 weiteren europäischen Staaten gesendet. Die Sendung setzte im (deutschen) Unterhaltungsfernsehen in vielerlei Hinsicht populärkulturelle Standards.

F AZIT Die 1960er Jahre stellen – bei aller Heterogenität – tendenziell eine Transformationsphase dar, in der eine „hochkulturell“ geprägte Fernsehelite in den Führungsetagen der Programmdirektionen zwar populärkulturelle Programme oftmals so weit wie möglich zurückdrängte, sie aber dennoch zunehmend in die Programmschemata integrieren musste, so dass die Populärkultur gegen Ende der 1960er Jahre überall in Europa im Fernsehen eine feste Größe darstellte und sich auch die Mischsparten immer populärkultureller präsentierten. Die transnationale Diskussion um populärkulturelle Elemente im Fernsehprogramm wurde überall in Europa vor dem Hintergrund ökonomischer Zwänge, der Konkurrenz durch zweite Fernsehkanäle und einem nicht zu negierenden Publikumsinteresse geführt. Gleichwohl startete sie von unterschiedlichen nationalen Prämissen aus. Nichtsdestotrotz blieb eines der Hauptargumente für den transnationalen Handel mit populärkulturellem Programm der Preis und damit die Kostensenkung. Innereuropäischer Kulturtransfer im Bereich der Populärkultur erfolgte in den 1960er Jahren in erster Linie indirekt über Konzept- und Ideentransfer, wobei hier eine genaue Unterscheidung zwischen binneneuropäischem und transatlantischem Transfer schwierig ist. Welche „Europäisierungstrends“ sind nun in populärkulturellen Programmen, v.a. ab Mitte der 1960er Jahre, erkennbar? Erstens stellten leichte Unterhaltungsthemen wie Kriminalfilme, Abenteuer, Western, Familienserien etc. einen deutlichen populärkulturellen Trend dar. Zweitens lässt sich ein transnationaler

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Trend hin „zur reinen Blödelei ohne besonderen Anspruch“10 erkennen, der in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre deutlich zunahm. Rudi Carrell sprach hier bezeichnenderweise von einem „internationalen Humor“. Drittens knüpfte Populärkultur kaum an „etabliertes Nationales“ an, sondern konfigurierte sich unabhängig vom „Nationalen“. Nichtsdestotrotz war sie in Mischbereichen wie der Unterhaltung „national“ wie „sprachlich“ eingebettet. Viertens sind europaweit die 1960er Jahre populärkulturell als eine Art Experimentierphase anzusehen, in der gerade in den Mischsparten viele experimentelle Versuche unternommen wurden. Mit der Populärkultur im Fernsehen etablierte sich in Westeuropa in weiten Bereichen etwas Neues, das gerade deshalb aus verflechtungsgeschichtlicher Perspektive interessant ist, als es eine eher geringe Tendenz zur räumlichen Verdichtung aufwies, Räume weniger stark konturierte und die populären – europaweit ähnlichen – Bedürfnisse nach Unterhaltung, etwa in Form von Albernheit oder Alltagsorientierung, befriedigte. Dies tritt umso deutlicher heraus, wenn man den Transfer von Hochkultur- und Populärkulturprogrammen miteinander vergleicht. Zwar schafften Sprache, Geschmäcker etc. auch hier ansatzweise die gleichen Verdichtungsräume, wie sie schon von Marcel Bezençon am Ende der 1950er Jahre für hochkulturelle Transfers lokalisiert und beklagt worden waren, nur waren die populärkulturellen Barrieren in vielfacher Hinsicht überwindbarer. Dies lag sicherlich auch daran, dass die Mischsparten sich während der gesamten 1960er Jahre hindurch zwar schleichend, aber doch stetig, populärkulturell rekonfigurierten.

Q UELLEN Bezençon, Marcel: Eurovision Progress, in: EBU Bulletin 45 (1957), S. 543. Reisebericht der WDR-Delegation über das Fernsehfestival von Montreux, 1963. Historisches Archiv des WDR, Köln, Fernsehdirektor, 9-1, 13707. Bericht des WDR-Delegierten Hoff an den Fernsehdirektor Lange vom 4. Mai 1964. Historisches Archiv des WDR, Köln, Fernsehdirektor, 9-1, 13707. Brief des Fernsehdirektors Lange an den WDR Intendanten von Bismarck, 11. November 1965, Historisches Archiv des WDR, Fernsehdirektor, 9-1, 13796. Reisebericht der WDR-Delegation über das Fernsehfestival von Montreux, 1968. Historisches Archiv des WDR, Köln, Fernsehdirektor, 9-1, 13707.

10 Reisebericht der WDR-Delegation über das Fernsehfestival von Montreux, 1968. Historisches Archiv des WDR, Köln, Fernsehdirektor, 9-1, 13707.

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Unterlagen der Sitzung der ARD Fernseh-Programmkonferenz in Hamburg, Oktober 1965, Deutsches Rundfunk Archiv, Frankfurt, A44/13 Protokolle der Fernseh-Programmkonferenz 1965. Report on the EBU Screening Sessions 1968, Archives of the European Broadcasting Union, Genf, Television Programme Committee, O.A. 3881, ComPro 1024.

L ITERATUR Badenoch, Alexander/Fickers, Andreas/Henrich-Franke, Christian (Hg.): Airy Curtains in the European Ether: Broadcasting and the Cold War, BadenBaden: Nomos 2013. Bignell, Jonathan/Fickers, Andreas (Hg.): A European Television History, Oxford: Wiley 2009. Bondebjerg, Ib: American Television: Point of Reference or European Nightmare?, in: Bignell/Fickers (Hg.): A European Television History, S. 154-183. Bourdon, Jérôme: Some Sense of Time: Remembering Television, in: History and Memory 15 (2003), S. 5-35. Ders.: Unhappy Engineers of the European Soul. The EBU and the Woes of PanEuropean Television, in: The International Communication Gazette 2 (2007), S. 263-280. Budde, Gunilla/Conrad, Sebastian/Janz, Oliver (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. Degenhardt, Wolfgang/Strautz, Elisabeth (Hg.): Auf der Suche nach dem europäischen Programm. Die Eurovision 1954-1970, Baden-Baden: Nomos 1999. Fickers, Andreas: Europäische Fernsehgeschichte. Elf Kernkonzepte zur vergleichenden theoretischen Analyse und historischen Interpretation, in: Medien & Zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart 3 (2008), S. 69-80. Ders.: Nationale Traditionen und internationale Trends in der Fernsehgeschichtsschreibung: Eine historiographische Skizze, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 1 (2005), S. 7-28. Henrich-Franke, Christian: Creating transnationality through an international organization? The European Broadcasting Union’s (EBU) television programme activities, in: Media History 1 (2010), S. 67-81. Kreuzer, Helmut (Hg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik. Institution, Technik und Programm: Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens, Band 1, München: Fink 1993.

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Stephan, Alexander (Hg.): The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy and anti-Americanism after 1945, New York: Berghahn 2007. Schult, Susanne: Rudi Carrell, Osnabrück: Der andere Verlag 2000. Trimmborn, Jürgen: Rudi Carrell, München: Bertelsmann 2006. Varis, Tapio: Television traffic – a one-way street?, Paris: UNESCO 1974.

Erleben

Fabulous consumerism? Mediale Repräsentationen jugendlicher Konsumkultur in westdeutschen, britischen und französischen Jugendzeitschriften der 1960er und 1970er Jahre A LINE M ALDENER

E INLEITUNG Consumo ergo sum. Diese zynisch anmutende Adaption des berühmten Descartes’schen Zitates dient Soziologen und Konsumforschern wie Claus Tully dazu, kritisch das aktuelle Kaufverhalten – insbesondere deutscher – Jugendlicher zu charakterisieren. Eine Summe von 22 Milliarden Euro steht im Raum, die Deutschlands Jugendliche aufbrächten, um dem „schnöden Mammon“ exzessiv wie nie zuvor zu frönen, als eine neue, mit dem Label „Generation Konsum“ etikettierte Alterskohorte, für die neben Quantität und Qualität insbesondere Prestige und Ansehen im Ver- und Gebrauch von Konsumgütern von größter Bedeutung ist (Tully/Krug 2011; 2012).1 Jugendliche kauften gerne, häufig und viel. Das ist heute nicht mehr als eine Binsenweisheit. Als eigenständige Konsumenten- und damit gleichsam Zielgruppe für die Produktindustrie wurden Jugendliche jedoch erst im Laufe der 1950er und 1960er Jahre entdeckt – zunächst in den USA, von da ausgehend allmählich auch in Westeuropa. Wirtschaftlicher Aufschwung und Vollbeschäftigung nach 1945 verschafften ihnen die nötigen finanziellen Spielräume, geregelte Arbeitszeiten das notwendige „Frei-Zeitfenster“ zum Konsumieren jugend-

1

Dieser Aufsatz basiert teilweise auf Ergebnissen der im Wintersemester 2012/13 am Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte an der Universität des Saarlandes entstandenen Diplomarbeit der Autorin. Vgl. Maldener 2013.

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spezifischer Produkte, die im Zuge der Entdeckung des kauffreudigen Teenagers speziell hergestellt und auf eigenen ausdifferenzierten Teilmärkten der Warenund Vergnügungsindustrie feilgeboten wurden (jeweils zur deutschen, französischen und angelsächsischen Historiographie einschlägig Maase 1992; Sohn 2001; Osgerby 1998). Jenseits der bisher in der Zeitgeschichte veranschlagten Einschnitte und Phaseneinteilungen für die 1960er und 1970er Jahre in der BRD, in Großbritannien und Frankreich, die sich in der Regel an politischen und sozio-ökonomischen Kriterien bemessen, stellt eine Historisierung von Jugend- und Populärkultur eine Chance dar, gängige Zäsur- und Kontinuitätsvorstellungen zu bestätigen, zu korrigieren oder zu ergänzen und damit insgesamt die Vorstellung einer westeuropäischen „entangled history“ auf den Prüfstand zu stellen (Geisthövel/Mrozek 2014: 8). Wie sah er also vor diesem Hintergrund aus, der medial konstruierte und vermittelte fabulous consumerism jener Jahre in den britischen, französischen und deutschen Jugendzeitschriften? Gemäß der gängigen Annahme einer grundsätzlichen Verwobenheit der Nachkriegsgeschichte der Untersuchungsländer (Noakes/Wende/Wright 2002; Marcowitz/Miard-Delacroix 2013) ist davon auszugehen, dass eine Analyse der Jugendzeitschriften zwar auch nationalspezifische Divergenzen – eher Nuancierungen denn tiefgreifende Kontraste – offenbaren wird, in ihrer Mehrheit aber eine im Westen konvergierende Darstellung der dort offerierten jugendlichen Konsum- und Populärkultur. Es werden demnach im Folgenden Repräsentationen eines jugendlichen Konsumenten im Kontext von Jugendzeitschriften untersucht, die selbstverständlich keine 1-zu-1-Abbildungen von realem bzw. sozialem Jugendkonsum sein können. Nichtsdestotrotz kann laut Medienhistorikern wie Frank Bösch davon ausgegangen werden, dass es durchaus Reziprozitäten zwischen sozialen Figuren und deren Medialität gibt (Bösch/Borutta 2006: 33; Marszolek/Robel 2014). Anstelle des gängigen Interpretamentes einer „Amerikanisierung“, die meist einen unilateralen kulturellen Einfluss von Nordamerika auf europäische Länder beschreibt, soll hier in Anlehnung an die von Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael u.a. ins Spiel gebrachte Vorstellung einer sozio-politisch und sozioökonomisch gelagerten „Westernisierung“ (Doering-Manteuffel 2011; Marcowitz 2007) das Denkmuster einer sozio-kulturellen „Europäisierung“ veranschlagt werden, die sich auf gemeinsamen Konsum und übereinstimmende Repräsentationen bezieht und auch noch für die Zeit nach 1970 geltend gemacht werden kann. Auf Grundlage einer deutsch-britisch-französischen histoire croisée meint jene Europäisierung analog zur Westernisierung die allmähliche Herausbildung

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einer gemeinsamen Werteordnung und einen interkulturellen Transfer im Sinne eines anhaltenden Austausches. Das heißt, selbstverständlich spielten USamerikanische Einflüsse auch in den langen 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, in Großbritannien und Frankreich noch eine bedeutende Rolle, aber sie waren nicht (länger) prädominant. Vielmehr standen sie paritätisch neben anderen, europäischen Elementen, so dass in einem Zusammenspiel von transatlantischen und binneneuropäisch-transnationalen Bausteinen eine spezifische populäre Jugendkultur westeuropäischer Prägung entstehen konnte, die in allen drei Betrachtungsländern je überwiegend „heimischen“ Produkten und Stars eine Plattform bot und Transnationales auf unterschiedliche Art und Weise integrierte, akkulturierte oder assimilierte. Populäre Jugendzeitschriften fungierten in diesem Zusammenhang als konstituierende Akteure, Distributoren und Rezeptionsflächen gleichermaßen.

L ANDSCHAFT DER J UGENDMEDIEN IN W ESTDEUTSCHLAND , G ROSSBRITANNIEN UND F RANKREICH Zur Analyse des jugendlichen Konsumenten wurden drei paradigmatische Unisex-Jugendzeitschriften aus Westdeutschland, Großbritannien und Frankreich ausgewählt, kommerzielle Produkte, namentlich Bravo, Fabulous und Salut les Copains, die – wie es Detlef Siegfried und Winfried Krüger explizit für Bravo konstatierten – eine „Anleitung zur Normalität“ darstellten, die mit breit gefächerten Inhalten ein möglichst breit gefächertes Publikum, einen Mainstream, und eben keine minoritären jugendlichen Sub- oder Gegenkulturen ansprechen wollten (Krüger 1985: 363ff.). Sehr deutlich wird dies etwa in Salut les Copains. Dort bedankt sich einer der Herausgeber, Daniel Filipacchi, 1962 in seinem Editorial für die Zusendung zahlreicher Leserbriefe, die dem Magazin offenkundig als Stimmungsbarometer und Hilfsmittel zur Ausrichtung des Heftes auf einen „Mehrheitsgeschmack“ dienten: „Grâce à des suggestions, à ces idées, notre magazine deviendra vite, je l’espère, un reflet fidèle des goûts et des tendances de la majorité“ (Salut les Copains, Oktober 1962: 9). Bravo war 1956 ursprünglich im Münchner Kindler & Schiermeyer-Verlag angesiedelt, erschien regelmäßig einmal pro Woche und war seinerzeit für 50 Pfennige zu erwerben. Nach einem kurzen Intermezzo beim Springer-Verlag wechselte die Zeitschrift 1968 endgültig in den Bauer-Verlag, der die Zeitschrift bis heute wöchentlich herausgibt. Die Bravo-Startauflage von rund 30.000 Exemplaren steigerte sich bis 1979 auf durchschnittlich 1.830.700 gedruckte

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Hefte. In der Anfangszeit arbeitete die Redaktion noch mit Untertiteln. So war Bravo 1957 noch „Die Zeitschrift mit dem jungen Herzen“ bzw. für „Film, Fernsehen, Schlager“. Bereits Ende der 1950er Jahre verzichteten die Heftmacher allerdings auf jegliche Zusätze.2 Fabulous als englisches Pendant stellt eine der wenigen britischen Jugendzeitschriften der 1960er und 1970er Jahre dar, die – analog zu Bravo und Salut les Copains – dezidiert beide Geschlechter in den Blick nahmen.3 Bis in die frühen 1980er Jahre hinein dominierten IPC (International Publishing Corporation) sowie D.C. Thompson of Dundee den britischen Zeitschriftenmarkt. Fabulous war ein Produkt des Unternehmens Fleetway Publication, einer Tochterfirma der IPC (Willis 1991: 73f). Der Titel Fabulous bezieht sich auf die landläufige Bezeichnung für die Beatles als Fabulous Foursome. Im Juni 1966 wurde die Zeitschrift zunächst in Fabulous 208, später in Fab 208, umbenannt. Hintergrund war die Kooperation mit Radio Luxemburg, das auf der Mittelwelle 208 sendete (Tinker 2011: 1f.). Zwar konnte Fabulous keine mit Bravo vergleichbare Auflage erzielen, bildete mit seinen im Durchschnitt rund 300.000 Exemplaren pro Woche jedoch den Spitzenreiter unter den britischen Jugendzeitschriften (ebd., 2). Laut Jon Savage war Fabulous mit einem Schilling pro Ausgabe zwar teurer als die meisten seiner Konkurrenzprodukte, erfreute sich aber aufgrund seiner Papierqualität und der zahlreichen hochwertigen Farbfotografien großer Beliebtheit unter britischen Jugendlichen (Savage 2009: 3). Salut les Copains galt unbestritten als populärstes Unisex-Magazin in Frankreich und erreichte Auflagen von bis zu einer Million Exemplaren pro Monat, wodurch es sich doppelt so häufig verkaufte wie andere Mitbewerber-Produkte – etwa das wöchentlich erscheinende Le Journal de Mickey (Tinker 2011: 2). Der Titel Salut les Copains entstand einerseits in Anlehnung an einen Song von Gilbert Bécaud aus dem Jahr 1957, andererseits wurde das Printprodukt 1962 als Spin-Off einer gleichnamigen Jugendmusiksendung herausgegeben, die bereits seit 1959 auf Europe 1 zu hören war, moderiert von Daniel Filipacchi und Frank Ténot (Tinker 2007: 294).

2

Generell zum Marktauftritt von Bravo: Contest, Institut für angewandte Psychologie

3

Die Mehrheit der britischen Populärmagazine – wie Jackie, Seventeen Magazine oder

und Soziologie 1971; Holzer/Kreckel 1967: 199ff. Petticoat, um nur ein paar Titel zu nennen – schien allerdings primär bis ausschließlich auf das weibliche Publikum zugeschnitten zu sein. Beispielhaft für die starke Fokussierung der angelsächsischen Forschung auf girls magazines vgl. Massoni 2004: 47ff.; Carpenter, 1998: 158ff.; Johnson 2009: 36ff.

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Bravo, Fabulous und Salut les Copains pflegten also Kooperationen mit kommerziellen Radiosendern, konkret mit RTL Luxemburg bzw. Europe 1. Durch regelmäßige Werbeanzeigen und anderweitige redaktionelle Bezugnahmen auf deren Programme in den Magazinen oder im Rahmen der Moderationen konnte ein engmaschig verwobenes „Jugendmedien-Ensemble“ entstehen, innerhalb dessen sich Heft- und Radiomacher wechselseitig ihre Konsumentinnen zuspielten. Mittels ausführlicher Programmguides oder personenbezogener Reportagen über einzelne Radiomoderatoren stärkten die Jugendzeitschriften nicht nur jene intermedialen Interdependenzen, sondern banden ihre Leser noch stärker in eine Art „konspirative Jugendmedien-Community“ ein. So war es zum Beispiel der spätere Moderator der Schlagerparade des Saarländischen Rundfunks (SR) und der ZDF-Erfolgsshow Hitparade Dieter „Thomas“ Heck, der 1966 mit der Bravo Musicbox, die regelmäßig mittwochs von 17 bis 18 Uhr auf Radio Luxemburg lief, als Bravo-Thomas brillierte (Bravo, 6.6.1966: 16). Stärker noch als bei Bravo äußerte sich der Zusammenschluss von Fabulous und Radio Luxemburg sogar im Namen durch die bereits erwähnte Umbenennung des Magazins in Fab 208 im Juni 1966. Regelmäßig versorgte das Blatt seine Leser nun mit Neuigkeiten über die Luxy Gang, wie die britischen Radiomoderatoren vor Ort, die das englischsprachige Programm auf Radio Luxemburg bestritten, genannt wurden. In der Rubrik Doug Perry – Date with 208 bot Fabulous seinen Lesern ein detailliertes Rundfunkprogramm, LP-Empfehlungen sowie Auftrittstermine diverser Bands und lobte als Hauptgewinn ein Treffen mit den Radiomoderatoren im Rahmen der neu lancierten Radio Luxembourg Competition aus (Fabulous 4.6.1966; Fabulous 6.9.1966). Ähnlich wie in Fabulous erweist sich auch in Salut les Copains die Präsenz der kooperierenden Radiowelle Europe 1 als vergleichsweise ausgeprägt. Analog zur britischen Fabulous finden sich in Salut les Copains nahezu identische Service-Rubriken, die das französische Radioprogramm intensiv bewerben sollten: mit „Europe 1 sélectionne pour vous les meilleures chansons du jour“ wurden Schallplattenempfehlungen ausgesprochen, Le Hit Parade de Salut les Copains war eine Sendung, die möglicherweise in Konkurrenz zur deutschen Bravo Musicbox ebenfalls jeden Mittwoch um 17 Uhr auf Europe 1 ausgestrahlt wurde und die neuesten Hits in die heimischen Jugendzimmer brachte (Salut les Copains, Oktober 1962: 3; 5; 7; 47; 52). Um den Stimmen hinter den Mikrofonen ein Gesicht zu geben und gleichzeitig die Leserblatt-Bindung zu stärken, lieferten sich Moderator und SLC-Herausgeber Daniel Filipacchi und Radio-Kollege Michel Cogoni 1964 in Salut les Copains ein „Match“: „aux prises avec des questions simples, du moins en apparence, deux disc-jockeys dont Europe N° 1

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vous a rendu les voix familières“ (Salut les Copains, September 1964: 46ff., 137). Hieran wird deutlich, dass nicht nur die politische und ökonomische, sondern auch die Geschichte der Medienlandschaften der Untersuchungsländer miteinander verwoben war. Weitere Indikatoren dafür finden sich auch in einer zeitgenössischen Studie von Dieter Baacke zum „Internationalen Markt der Popzeitschriften in der BRD“ aus dem Jahr 1968 (Baacke 1968a). Hierin zeigt Baacke auf, dass zum damaligen Zeitpunkt in der BRD nicht nur Eigenproduktionen, sondern auch zahlreiche Jugendzeitschriften aus anderen Ländern auf dem Markt waren, hauptsächlich aus Großbritannien, auch aus Frankreich, selten aus den USA (ebd., 552). So war es bundesdeutschen Jugendlichen möglich, z.B. den britischen Melody Maker, Rave und eben auch Fabulous im gut sortierten Zeitschriftenhandel zu erwerben. Etwa 3.500 Exemplare von Fabulous erreichten alle 14 Tage die Bundesrepublik, von Rave wurden monatlich sogar 12.000 Exemplare importiert und für zwei DM zum Kauf angeboten. Aus Frankreich war es – wenig überraschend – primär Salut les Copains, das in erstaunlich hoher Auflage von 15.000 Exemplaren Eingang auf dem bundesdeutschen Zeitschriftenmarkt fand. Internationale Pop-Zeitschriften, so Baacke, würden primär durch zwei große Presse-Importfirmen eingeführt, die Internationale Presse in Frankfurt am Main und die Saarbach GmbH in Köln (ebd., 553). Nach diesem ausgedehnteren Blick auf die Zusammenhänge von Produktion und Distribution innerhalb jener westeuropäischen Jugendmedien-Landschaft soll noch kurz das Profil des durchschnittlichen Jugendzeitschriften-Lesers bzw. der -Leserin skizziert werden. Laut einer zeitgenössischen kommunikations- und medienwissenschaftlich gelagerten Studie von Rolf Fröhlich aus dem Jahr 1971 war der typische Bravo-Leser zwischen 14 und 19 Jahre alt, männlichen, anfangs jedoch zu etwa zwei Dritteln mehrheitlich weiblichen Geschlechts, ledig, entweder Angestellter, Beamter, Fach- oder einfacher Arbeiter und lebte sowohl in Klein-, Mittel- als auch Großstädten (Fröhlich 1971: 162). Bezieht man sich auf verlagseigene Angaben von Kindler & Schiermeyer aus dem Jahr 1961, so erreichte Bravo 41 Prozent an Lesern, die in Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern lebten, also auch in eher ländlich geprägten Gegenden (Ehrmann 1961). Folgt man Dieter Baacke, so verfügte Bravo 1968 über etwa 2,2 Millionen deutsche Leser, während ausländische Zeitschriftenprodukte in der Bundesrepublik nur auf etwa 500.000 kämen (Baacke 1968a: 554). Allerdings sei die Schattenauflage von Bravo nicht zu unterschätzen: Neben dem regulären Bezug der Jugendzeitschrift am Kiosk wurden die Hefte in großem Stil untereinander getauscht, weswegen im Schnitt auf ein erworbenes Exemplar realiter etwa mindestens doppelt so viele Leser entfielen (Doderer 1967: 19). Ähnlich wie bei

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Bravo gehörten auch zur Leserschaft von Salut les Copains zum einen Schüler und Schülerinnen eines Collège oder Lycée und zum anderen junge Arbeiter im Jugend- und jungen Erwachsenenalter (Tinker 2007: 295). Über die Leserschaft von Fabulous finden sich keine konkreten Angaben in der Sekundärliteratur. Aufgrund des vergleichbaren redaktionellen Zuschnittes der Zeitschrift darf allerdings davon ausgegangen werden, dass auch deren Leser denen des französischen und westdeutschen Pendants geähnelt haben. Aufgrund der noch starken Verankerung einer working class4 und vergleichsweise kürzeren Schulaufenthalten und höheren vorzeitigen Schulabgängerraten (Brown 1990: 177ff.) erscheint es allerdings äußerst wahrscheinlich, dass der Anteil der jungen, nicht selten ungelernten oder nur angelernten Arbeiter unter den Fabulous-Lesern größer war als derjenige der Schüler und Schülerinnen.

B RAVO , F ABULOUS UND S ALUT LES C OPAINS IM V ERGLEICH : T ECHNIK UND B ILDUNG Es sollen nun exemplarisch zwei Felder von Jugendproduktkultur – ein materielles in Form von technischen Gebrauchsgütern und ein ideelles in Gestalt von schulischer oder beruflicher Aus- und Weiterbildung – vergleichend betrachtet werden. Während Musik, Mode und Kosmetik in der Regel die quantitativ am stärksten präsenten Konsumgüter in populären Jugendzeitschriften darstellen und Abhandlungen über den Zusammenhang von Jugendkultur und Musik längst kein Schattendasein mehr fristen5, soll hier stattdessen der Blick für zwei Produktgruppen geöffnet werden, die in Bezug auf ihre sozio-kulturelle Bedeutung vielleicht sogar eine noch größere Tragweite für die Lebenswirklichkeit jugendlicher Zeitschriftenleser hatten als Beatles, Minirock oder Wimpern à la London Look. Die Repräsentation technischer Produkte verweist nicht nur auf zeitgenössische Vorstellungen von Fortschritt und Modernität, von Progressivität und internationaler Wettbewerbsfähigkeit, sondern legt auch Genderverhältnisse frei: allesamt Indikatoren, die in der Regel nicht nur symptomatisch für eine spezifische Jugendkultur, sondern eine gesamte Gesellschaft sind. Mehr noch als der Aspekt Technik verspricht die Analyse der Kategorie Bildung interessante Rück-

4

Zur Bedeutung der working class bei Identitätsbildungsprozessen britischer Jugendlicher, speziell auch während der 1960er und 1970er Jahre, vgl. u.a. Simonelli 2013; Gildart 2013.

5

Als einschlägige Studien zum Themenkomplex Jugendkultur und Musik in den langen 1960er Jahren vgl. u.a. Fifka 2007; Garland 2012; Tamagne 2009.

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schlüsse auf zeitgenössische Debatten um Aus- und Weiterbildung sowie das Reformieren des Schulsystems (Mergel 2005: 119ff.; Requate 2011: 114ff.). Von daher werden jugendliche Zeitschriftenleser nicht nur in ihrer (mitunter stigmatisierten) Rolle als „Konsum-Hedonisten“, sondern auch als Arbeitnehmer angesprochen. Die Intention der Heftmacher ist dabei mutmaßlich eine doppelte: Einerseits passt die Sensibilisierung für die eigene berufliche Zukunft ins Bild zeitgenössischer pädagogischer Zielsetzungen, andererseits soll mit dem Hinweis darauf, der Verdienst des eigenen Lebensunterhaltes sei eine nicht zu überschätzende Angelegenheit, gewährleistet werden, jugendliche Verbraucher langfristig in ihrer Rolle als Konsumenten zu bestärken, denn: Nur wer Geld verdient, kann auch welches ausgeben – und das am besten für Jugendzeitschriften bzw. genau diejenigen Produkte, die darin angepriesen werden. Stellt die insgesamt eher spärliche Präsenz zumeist teurer Produkte aus dem Bereich Technik/Technologie im Vergleich zu anderen Gebrauchsgütern in Bravo, Fabulous und Salut les Copains eine grundsätzliche Gemeinsamkeit dar, so legt deren Gegenüberstellung auf der anderen Seite auch interessante Unterschiede frei. Während in Fabulous technische Produkte lediglich in den 1960er Jahren auszumachen sind, lassen sie sich in Bravo und Salut les Copains durchgängig bis weit in die 1970er Jahre hinein nachweisen. In Bravo steigerten technische Gebrauchsgüter ihre Präsenz im Laufe der 1970er Jahre sogar unter dem wachsenden Einfluss fernöstlicher Unternehmen, die günstige Produkte in diesem Sektor herstellten und bewarben (Maldener 2013: 73). Die Verquickung ausgerechnet der Konsumentin mit der Produktkategorie Technik war ein häufiges Phänomen in allen drei Heften und stellte gleichsam ein Spiel mit Geschlechterstereotypen dar. Gerade auch Technik, deren Nutzung vorzugsweise männlichen Konsumenten oblag (Mofas, Autos etc.), wurde strategisch mit weiblichen Testimonials beworben (Salut les Copains, März 1971: 115; Salut les Copains, September 1969: 121; 124). Nun kann in dieser Verfahrensweise, die sich erst ab den frühen 1970er Jahren deutlicher herauskristallisierte, entweder ein Zeichen beginnenden weiblichen empowerments gesehen werden oder aber im Gegenteil eine implizite Degradierung und Diskriminierung der weiblichen Konsumentin, die als Werbefigur lediglich die simple Bedienbarkeit technischer Produkte veranschaulichen will. Dass prinzipiell „sogar“ ein Mädchen selbst Fahrerin eines Mofas sein könnte anstatt lediglich als „Sozius-Mieze“ in Erscheinung zu treten, spräche dann gleichermaßen für die leichte Handhabbarkeit und hohe Qualität des Produktes. Die Mehrzahl der in den Zeitschriften untersuchten Produktkategorien verknüpfte sich zu einer Art „Produkt- und Werbeensemble“. Stars aus dem Musikoder Filmbusiness priesen nicht nur allerlei Kosmetika, sondern vor allem tech-

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nische Produkte an. Sowohl in Bravo als auch in Fabulous und Salut les Copains ließen sich vornehmlich männliche Sänger gerne mit ihren (Sport-)Wagen abbilden. So präsentierte sich die britische Gruppe The Love Affair mit ihren geliebten Chevrolets, Alan Jones von The Amen Corner zeigte sich mit seinem Sunbeam Tiger und Carl Wayne von The Move mit seinem E-Type Jaguar (Fabulous 6.6.1969: 6). Für Bravo testete Howard Carpendale 1969 den neuen Ford Capri (Bravo 3.3. 1969: 56f.). In Salut les Copains sind es Stars wie Sylvie Vartan, Julien Clerc oder Johnny Hallyday, die 1969 ihren Lesern „leurs caisses d’hier et d’aujourd’hui“ präsentierten (Salut les Copains, November 1969: 70ff.). Diese Beispiele machen deutlich, dass im Kontext eines lange Zeit ungebrochenen Technik- und Fortschrittoptimismus das hochpreisige Auto als Statusund Prestigeobjekt zum Ziel jugendlicher Konsum-Sehnsüchte wurde. Dieser Befund verweist auf gleich zwei sozio-kulturelle Umstände jener Zeit: Erstens war gemäß einer Studie von Sabine Haustein zum europäischen Massenkonsum ein Auto in der Nachkriegszeit nicht nur ein praktisches Fortbewegungsmittel, sondern wurde auch aufgrund seines formschönen und abwechslungsreichen Designs in seiner Produkt-Ästhetik von allen sozialen und Alters-Schichten wahrgenommen und begehrt (Haustein 2007: 123). Zweitens wird deutlich, dass gerade die 1960er Jahre einen Mobilitätswandel einläuteten und weithin als Jahrzehnt der Massenmotorisierung gelten können. So verdoppelte bis verdreifachte sich das Aufkommen von Autos pro 1000 Einwohner zwischen 1949 und 1969 in der BRD (von 7 auf 207), in Großbritannien (von 42 auf 208) und Frankreich (von 37 auf 235). Zudem weist gerade Frankreich 1969 mit 235 Autos pro 1.000 Einwohner hinter Schweden die zweitgrößte PKW-Dichte in ganz Europa auf (ebd., 125). Was nun den Bildungsbereich anbelangt, zeigt sich, dass eine nähere Betrachtung der Kategorie Beruf bzw. Aus- und Weiterbildung den Stellenwert von 1973/74 als „Krisenjahre“ in den drei Zeitschriften durchaus bestätigt: In diesen beiden Jahren war die Präsenz beruflicher wie schulischer Aus- und Fortbildung in Bravo und Fabulous mit je knapp drei bzw. vier Prozent am höchsten (Maldener 2013: 76). Während in Bravo sowohl die berufliche oder schulische Jungenals auch Mädchenbildung Verankerung fand, richteten sich Ausbildungsmöglichkeiten und Verweise auf Berufsoptionen in Fabulous und Salut les Copains noch stärker an die weibliche Leserschaft. In Bravo schalteten unter anderem Institutionen wie die Polizeischule Carl Severing, die Bundeswehr, die Deutsche Bahn oder BMW Anzeigen mit Lehrstellenangeboten, die sowohl den weiblichen als auch den männlichen Jugendlichen als Arbeitnehmer ansprachen (Bravo, 2.9.1976: 59; Bravo, 1.9.1977: 60).

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Fabulous und Salut les Copains hingegen versuchten, ihre Leserinnen vornehmlich für „traditionell“ weibliche Berufstätigkeiten wie Krankenschwester, Sekretärin, Stenotypistin zu begeistern, oder für moderne Dienstleistungs- und Medienberufe wie Bankangestellte, Fotoreporterin, Presseattachée (Fabulous, 3.3.1973: 26; Salut les Copains, Februar 1968: 3). Das Department of Health and Social Security sowie die Queen Alexandra’s Royal Army boten in Fabulous sogenannte nursing courses an, die nach recht kurzer Ausbildungszeit in anregender Gesellschaft und mit der Aussicht auf einen ordentlichen Verdienst absolviert werden könnten, während die Barclays und die National Westminster Bank mit Arbeitsplätzen für Frauen warben, die sich mit einer gleichzeitigen Ehe- und Familienführung hervorragend vereinbaren ließen (Fabulous, 2.3.1974: 31; Fabulous, 1.9.1973: 22). Abgesehen von aktiver Berufsberatung animierte Fabulous den weiblichen jugendlichen Konsumenten auch zu größerem Engagement in der Schule, d.h. forderte explizit seine Leserinnen dazu auf, einen Schulabschluss – gleich welcher Qualität – zu erwerben, denn: „The Ministry of Education says that a girl stands a much better chance of a job with even just a few qualifications to shout about“ (Fabulous, 4.9.1976: 19). In Salut les Copains waren es unterschiedliche Bildungsinstitutionen wie zum Beispiel EURELEC, die écoles universelles oder techniques, die Aus- und Weiterbildungsangebote für beide Geschlechter offerierten (Salut les Copains, September 1966: 8). Insbesondere die Union Internationale d’Écoles par Correspondance hatte die jugendliche Arbeiternehmerin im Blick und lancierte für diese Zielgruppe einen eigenen Katalog mit dem Titel 100 carrières féminines (Salut les Copains, November 1969: 116). Diese gezielte Ansprache des weiblichen Konsumenten verweist einerseits auf den vielfach seit den 1960er Jahren konstatierten Anstieg weiblicher Teilzeitbeschäftigung im sich stetig ausdifferenzierenden Dienstleistungsbereich als coping strategy im Kampf gegen fortschreitende Deindustrialisierungstendenzen und damit verbundenen männlichen Arbeitsplatzverlust: Dies galt insbesondere für Frankreich, mehr noch für Großbritannien (Raphael 2012). Andererseits stellt auch Axel Schildt für die BRD eine „Feminisierung des Erwerbssystems“ fest. In den 1950er Jahren stieg die weibliche Berufstätigkeit hier um 8,4 Prozent an und erhöhte sich zwischen 1960 und 1970 um weitere 9,7 Prozent (Schildt 2000: 24). Ein weiterer Kausalfaktor für die seit den 1970er Jahren stärkere Präsenz von schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten in den Jugendzeitschriften war die in der BRD zwar spürbare, in Großbritannien und Frankreich deutlich höhere Jugendarbeitslosigkeit, die seit 1970 kontinuierlich, nach der Zäsur von 1973/74 in Großbritannien von 27,5 Prozent (1973) auf 41,9

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Prozent (1975) und in Frankreich von 28,8 Prozent (1973) auf 37,4 Prozent (1975) sprunghaft anstieg (European Centre 1981: 236).

B RAVO , F ABULOUS UND S ALUT LES C OPAINS TRANSNATIONAL : T RANSFER UND H YBRIDITÄT JUGENDLICHER K ONSUMKULTUR Abbildung 1: Herkunft der Produkte in Bravo

Quelle: eigene Darstellung

Interpretiert man oben stehendes Diagramm, das Produkte aus der Jugendzeitschrift Bravo nach ihren Herkunftsländern kategorisiert, so lässt sich empirisch bestätigen, was einleitend bereits als Hypothese formuliert wurde: Die Präsenz britischer Produkte steigert sich im Laufe der 1960er Jahre und hält sich letztlich über den gesamten Betrachtungszeitraum von 1964 bis 1979 hinweg mit USamerikanischen Produkten mehr oder weniger die Waage. Von einer einseitigen „Amerikanisierung“ – in diesem Falle bundesdeutscher Jugendkonsumkultur – kann keine Rede sein. Eine zweite Auffälligkeit in diesem Kontext ist die stets klare Dominanz von Produkten der eigenen nationalen Industrie bzw. einheimischen Stars – ein Befund, der sich empirisch nicht nur für Bravo, sondern auch analog für Fabulous nachweisen lässt. Der Wert britischer Konsumgüter bewegte sich dort im Zeitraum von 1964 bis 1979 zwischen anfänglichen 93 Prozent (1964) und durchschnittlich knapp 70 Prozent während der 1970er Jahre. Die noch verbleibenden Prozentpunkte entfielen fast ausschließlich auf USamerikanische Produkte und Musikstars, die im Zuge der aufkommenden Disco-

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Welle der 1970er Jahre ihre Präsenz im Heft steigern konnten (Maldener 2013: 136). Im Folgenden sollen nun die komplexen Zusammenhänge und Verwobenheiten jugendlicher Konsumkultur, d.h. Formen und Strategien ihres Transfers und ihrer Aneignung durch und innerhalb Bravo, Fabulous und Salut les Copains herauskristallisiert werden. Dabei lassen sich mehrheitlich kulturelle Adaptionen ausmachen, d.h. in der Regel handelte es sich um Porträts und Berichte über Stars aus Musik, Film und Fernsehen, die entweder weitgehend in zeitgenössische, zumeist konventionelle Norm- und Wertemuster der jeweiligen Gesellschaft im Ankunftsland eingepasst wurden oder bewusst den Nimbus von faszinierender, aber auch befremdlicher, negativ konnotierter Andersartigkeit bekamen. So stigmatisierte Bravo zum Beispiel die britische Band Genesis 1974 als „Englands wohl seltsamste Rockgruppe“, 1973 berichtete sie über den GlamRock-Musiker David Bowie, der einerseits „Paradiesvogel“, andererseits auch nur „stinknormaler Ehemann und Familienvater“ sei (Bravo, 7.3.1974: 6f.; Bravo, 1.3.1973: 7). Die französische Schauspielerin und Stil-Ikone Brigitte Bardot büßte in Bravo wegen der Behandlung ihrer Dienstboten einiges an Glamour ein, wurde zur kapriziösen Diva, sei sie doch „dafür bekannt, eine nicht gerade ideale Arbeitgeberin zu sein“ und nur „ganz geringe Löhne“ zu zahlen (Bravo, 6.9.1964: 8). Auch aus Gender-Perspektive schnitt Brigitte Bardot nicht gut ab. Im Gegensatz zur französischen Wahrnehmung als Vorreiter-Emanze, SexSymbol und Amazone hieß es in Bravo 1965 nur abschätzig: „Auf die Waffen einer Frau scheint sich Brigitte Bardot nicht mehr allein zu verlassen. In ihrem neuen Film Viva Maria versucht sie es mit den Waffen eines Mannes: Brigitte Bardot als Flintenweib“ (Bravo, 7.3.1965: 6). Nicht selten bediente sich die Bravo-Redaktion auch der Aussagen internationaler Künstler, um die Integrität und das ethische Pflichtbewusstsein der eigenen Jugend gegenüber Teenagern aus anderen Ländern als leuchtendes Beispiel zu apostrophieren und um damit mutmaßlich den Druck zu erhöhen, jenem Vorbild auch in der eigenen Lebenswirklichkeit Folge zu leisten. Zum Beispiel antwortete der französische Schauspieler Pierre Brice 1967 in einem Interview mit der deutschen Bravo auf die Frage, was ihm beim Vergleich von französischen und deutschen Teenagern gefällt und was nicht, Folgendes: „Ich muss Ihnen ganz ehrlich etwas sagen, und das ist ein großes Kompliment für Deutschland und die Teenager bei Ihnen. Bei allen meinen Reisen nach Deutschland habe ich nie etwas gesehen, was mich wirklich gestört hat, von den bekannten Ausnahmen abgesehen, die es ja überall gibt. Soweit ich es beurteilen kann, haben die deutschen Mädchen die richtige Einstellung, auch in moralischer Hinsicht!“ (Bravo, 6.3. 1967: 64f.).

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Auch das französische Londonbild in Salut les Copains funktionierte nach jenem Muster der kulturellen Adaption: 1969 wurden die Themsen-Metropole und ihre Jugendlichen einerseits als „locomotives“, modische Trendsetter und Anhänger einer „religion hippy“ gezeichnet, die sich in den Pubs von Chelsea, dem „Saint Germain des Prés londonien“, ihre Zeit mit „bavardages d’intellectuels“ vertreiben (Salut les Copains, November 1969: 3). Es fällt auf, dass hier nicht die Carnaby Street als „Mekka“ jugendlicher Populärkultur im Fokus steht, sondern Chelsea, das als Stadtviertel eben nicht nur der Befriedigung jugendlicher Konsumbedürfnisse diente, sondern gleichsam durch das dort angesiedelte College of Art und College of Science and Technology auch stärker studentisch und akademisch geprägt war. Es scheint genau diese Verquickung von jugendlicher Konsum- und Populärkultur mit Intellektualität zu sein, die in Frankreich im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland, aber vor allem zu Großbritannien eine wesentlich größere Bedeutung hatte und in der Konsequenz zumindest den Eindruck einer stärkeren Politisierung französischer Jugendlicher vermittelte. Dafür könnten vielleicht auch die im Jahr zuvor entbrannten, im europäischen Vergleich am stärksten ausgeprägten französischen Studenten-Revolten des Mai 68 Zeugnis ablegen.6 Abbildung 2: Werbeseite in Salut les Copains

Quelle: Salut les Copains, September 1972: 124

6

Komparative Betrachtungen der 68er-Revolte u.a. Gilcher-Holtey 2008; Frei 2008.

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Abbildung 3: Werbeseite in Salut les Copains

Quelle: Salut les Copains, November 1969: 3

Andererseits wird hier durch die Art der Visualisierung dieser Werbeanzeigen das zeitgenössische Klischee der britischen permissive society kolportiert: Sowohl das extrem kurze Kleid des Mädchens mit Andeutung des Slips in der Schweppes-Werbung als auch die erotische, beinahe laszive Körperhaltung der weiblichen Karikatur, die Augen-Make-up-Entferner-Pads mit dem sinnigen Namen „Quickies“ anpreist, sind eindeutig sexuell konnotiert und symbolisieren britische Freizügigkeit, wenn nicht gar Zügellosigkeit, die essentieller Bestandteil des Swinging London-Mythos war (Salut les Copains, September 1972: 124). Neben jenem durch Produktkonsum konstituierten Zerrbild der Swinging Sixties arbeitete sich Salut les Copains zudem am britischen SchulmädchenTypus ab, einer Lolita-Figur, die mit zumindest latenter sexueller Implikation ebenfalls zum Symbolträger jener als permissiv gebrandmarkten britischen Gesellschaft wurde. „Offrez-vous des Britiches!“ forderte eine Werbeanzeige aus dem Jahr 1964 ihre weiblichen Leserinnen auf und wirbt für „chaussettes à la

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mode, montantes à la ‚bobby soxer‘ avec un revers rabattable dans le pur style collège anglais“ (Salut les Copains, Dezember 1964: 145). Interessanterweise hebt diese Anzeige nicht nur auf das britische College-Girl ab, sondern referiert auch auf die ursprünglich aus den USA kommenden bobby soxer, junge Anhängerinnen zeitgenössischer Popmusik der 1940er Jahre, häufig Frank SinatraFans, die in temporär umfunktionierten Turnhallen einen sock hop veranstalteten, d.h. zu modernen Beats lediglich auf school bobby socks tanzten, um den empfindlichen hölzernen Boden der Sportstätten zu schonen (Mrozek 2011: 302). Dieses Beispiel verdeutlicht einmal mehr den hybriden, transnational und transatlantisch durchmischten Charakter der in den Jugendzeitschriften feilgebotenen Konsumgüter. Ein bisschen Britisches, ein Hauch US-Amerikanisches, verwoben zu einem „heimischen“, französischen Produkt der Marke GEF, „la grande marque française de bonneterie“ (Salut les Copains, Dezember 1964: 145). Neben der kulturellen Adaption als Form des Kulturtransfers lässt sich insbesondere in Bravo auch das Phänomen der Nachahmung, der Imitation, nachweisen. Namentlich die Beatgruppen The Rattles und The Lords waren deutsche Rock-Formationen mit englischsprachigen Songs, die den britischen Vorbildern musikalisch und modisch nacheiferten. The Rattles waren in Hamburg verortet. Die deutsche Hafenstadt bildete einen bedeutenden kulturell-kreativen Umschlagplatz für viele Künstler aus der Popmusik. Neben den Beatles, die 1962 ihre Karriere dort starteten, fand sich auch die deutsch-britisch gemischte BeatFormation Manfred Mann in der Hafenstadt zusammen (Bravo, 7.3.1974: 32f.). The Lords hingegen kamen aus Berlin und waren häufig als Vorgruppe britischer Beatbands engagiert. Ihre ersten Auftritte hatten sie 1964 auf dem Höhepunkt der Beat-Bewegung in kleineren Dorfschenken. Optisch huldigten sie den in der Carnaby Street offerierten Modetrends, die vom edwardianischen Stil des 19. Jahrhunderts inspiriert waren (Bravo, 4.3.1968: 2ff.). Der Auffassung Dieter Baackes zufolge zeige sich an dieser Gruppe das Typische des deutschen Beats. Wenige bundesrepublikanische Formationen hätten sich um eigene musikalische Konzepte bemüht. The Lords und andere deutsche Beater „begannen als Imitation und sie blieben es“ (Baacke 1968b: 98). Diesen Imitationstendenzen des britischen Beats durch deutsche Formationen stand auch die Zeitschrift Bravo durchaus kritisch gegenüber. So heißt es in einem Kommentar 1966 über die Ambitionen der britischen Band The Hermans Hermits, die zukünftig ihre Lieder in unterschiedlichen Sprachen herausbringen wollten: „Warum auch nicht? Wo sich doch unsere Beatgruppen so gern in einem Slang hören lassen, den sie für Liverpooler Dialekt halten.“ Diese ironische Aussage verweist einmal mehr auf die grundsätzliche Skepsis der Bravo-Redaktion gegenüber dem britischen Phäno-

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men des Beats, an dem sie aus kommerziellen Gründen nicht vorbeikam. Neben den Rattles und den Lords versuchten sich auch deutsche Schlagerstars wie Freddy Quinn, Drafi Deutscher oder Udo Jürgens während der 1960er Jahre auf dem britischen Musikmarkt. Der britische Künstler Chris Andrews schrieb englische Texte für einige von ihnen und hatte darüber hinaus das Angebot einer deutschen Schallplattenfirma, mit deutschen Künstlern in Londoner Studios zu produzieren (Bravo, 5.9. 1966: 2). Abbildung 4: Werbeseite in Fabulous

Quelle: Fabulous, 4.3. 1967: 14 f.

Bei der Analyse der Modestrecken in Bravo lassen sich Formen produktiver Rezeption im Kulturtransfer ausmachen, d.h. hier wurden Anleihen zunächst bei französischen, ab Mitte der 1960er Jahre dann bei britischen Trends gemacht, die in einem kreativen Umwertungsprozess neue, eigenständige Gebilde auf diesem Gebiet hervorbrachten. Während in einer Modestrecke in Bravo von 1964, die

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„schwarz-weißen Chic“ bewarb, noch Hosenanzüge aus Paris en vogue waren, die an knabenhaft-zierlichen, als garçons manqués titulierten Models im style gamin präsentiert wurden, heißt es 1968 stattdessen, „Mini bleibt der große Trumpf“ und auch der angesagte britische Dandylook für Männer bleibe angesagt. Stellt man dies einer der Modestrecken in Fabulous aus dem Jahr 1967 gegenüber, so lassen sich folgende Elemente produktiver Rezeption ausmachen: Abbildung 5: Werbeseite in Bravo

Quelle: Bravo, 4.3. 1968: 80.

Sowohl in Bravo als auch in Fabulous wiesen die Kleidungsstücke und Accessoires ähnliche Schnitte, Designs und Muster auf. Die klaren, geometrischen Formen der Kleider – in Bravo als Rauten, in Fabulous als Kreise – gingen auf die in den 1960er Jahren aus Großbritannien stammende, populäre Stilrichtung der Pop und Op Art zurück. Gemäß der Mini-Maxime endeten sie weit über dem Knie und waren im Zuge einer favorisierten „Kind-Frau“-Ästhetik als BabyDoll, d.h. als „Hängerchen“ ohne Betonung der weiblichen Silhouette geschnitten.

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Abbildung 6: Werbeseite in Bravo

Quelle: Bravo, 4.3. 1968: 78.

Abbildung 7: Werbeseite in Fabulous

Quelle: Fabulous, 7.9.1968: 2.

Die Abbildungen zeigen deutlich, dass die Stilistik der in Fabulous und Bravo offerierten Kleidung und Schuhe nahezu identisch war und sich lediglich in ihrer kreativen Detailausformung unterschied. Ein weiteres Beispiel war die in Groß-

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britannien zu Anfang der 1970er Jahre aufkommende Midi-Mode, die wieder längere Röcke und Kleider als en vogue deklarierte, und in Deutschland zu einer Mixi-Mode produktiv umgewertet wurde, die sich hier in einer Kombination von Minirock und wadenlanger Weste (Chasuble) äußerte (Bravo, 7.9.1970: 70ff.). Abgesehen von derartigen „Lifestyle-Produkten“ wie Mode, Kosmetik oder Musik animierte Fabulous seine Leser 1975 explizit dazu, auch bei der Jobsuche den Blick über die eigenen Landesgrenzen hinaus schweifen zu lassen: „Now that Britain is officially ‚one of the gang‘ [Mitglied der EG, A.M.], finding jobs in Europe should become much easier. Fab’s doing a bit of research, and we’ve compiled a basic guide for careers within the Common Market countries […]. Concrete jobs which are offered are hotel receptionists, nannies, au pairs, but you can also join a British company which has a foreign office.“ (Fabulous, 6.9.1975: 5)

Insbesondere über das Phänomen des Au-Pair standen jugendliche Konsumenten in Großbritannien und Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren in einer reziproken Verbindung. Britische und deutsche Behörden, vor allem die Wohlfahrtsverbände beider Länder, nahmen sich dieser Entwicklung an und vermittelten wechselseitig entsprechende Stellen. Aus einem zeitgenössischen Artikel der Deutschen Jugend 1965 ging hervor, dass bei deutschen Mädchen eine Au-PairTätigkeit im britischen Ausland immer attraktiver würde, aber auch interkulturelle Probleme mit sich brächte. Pro Jahr zöge es rund 4000 Mädchen nach Großbritannien, um sich in dortigen Haushalten der Erziehung der Kinder anzunehmen. Moniert wurde dabei primär die Andersartigkeit der jeweiligen Erziehungsvorstellungen in beiden Ländern. So kritisierten die deutschen Au-Pairs in Großbritannien, dass britische Kinder schon früh und vehement ihren eigenen Willen äußerten und mit den Erwachsenen über ihre Wünsche disputierten. Darüber hinaus beschwerten sich einige Mädchen über fehlenden Kontakt mit britischen Jugendlichen, die in dortigen Jugendklubs nicht gerne Ausländer aufnähmen (Baus 1965: 76-84). Weitere Akteure im Kontext transnationalen Austausches von populärer Jugendkultur waren neben den Au-Pairs auch junge Studierende, die im Zuge von Auslandssemestern zu „personalen Transmissionsriemen“ wurden und zur Etablierung europäischer Formen von Jugend- und Konsumkultur beitrugen. So heißt es beispielsweise in der deutschen Bravo 1966: „Françoise Hardy ist wohl der einzige ausländische Schlagerstar, der in der Bundesrepublik einen eigenen Marktforschungsdienst besitzt […]. Ihre in München lebende und studierende Schwester passt genau auf, wie oft die Lieder von Françoise bei uns aus dem Laut-

218 | M ALDENER sprecher kommen. Und sie geht inkognito in die Plattenläden, um sich zu erkundigen, wie sich die Hardy-Scheiben verkaufen.“ (Bravo, 7.3.1966: 18).

Ein entscheidendes Instrument im Kontext des Kulturtransfers zwischen Bravo, Fabulous und Salut les Copains waren die in allen drei Heften existenten Brieffreundschafts- und Kontaktbörsen. So heißt es beispielsweise 1967, dass Fabulous in seinem Penmate Circle 150 Schweizerinnen, 100 Österreicherinnen und 900 deutsche Mädchen im Repertoire habe, die auf der Suche nach Brieffreundschaften in Großbritannien seien. Während sie auf Englisch schrieben, antworteten ihre britischen Freunde auf Deutsch (Fabulous, 2.9.1967: 20). Dass über rein platonische Bande hinaus auch Liebesbeziehungen daraus resultierten, deutete der Artikel „Love letters all the way from Germany“ im Jahr 1975 an: „Frank Pippel is a fella from Wuppertal in Germany. One-and-a-half years ago, he wrote to Fab for a penfriend and we put him in touch with an English girl called Julie. Julie and Frank fell in love without ever having met.“ (Fabulous, 6.9.1975: 11)

Auch in Salut les Copains firmierte von Beginn an eine solche Brieffreundschaftsbörse unter dem Titel Les Correspondants. Neben Kontakten innerhalb Frankreichs vermittelte diese Plattform auch Brieffreundschaften nach Deutschland und sogar in die USA (Salut les Copains, Juni 1964: 145), aber vor allem im Benelux-Raum und interessanterweise auch in ehemalige französische Kolonien. So suchten 1963 Gilbert Rahal aus Marokko, Bernard Hagère aus Tunesien sowie Chris von Baerentzen aus Offenburg und Heini Komischke aus Kehl am Rhein in Salut les Copains jemanden zum schriftlichen interkulturellen Austausch (Salut les Copains, September 1963: 10f.). Wie nationalstereotyp sich der Kulturtransfer zwischen den jeweiligen Untersuchungsländern mitunter ausnahm, macht ein Beispiel aus Fabulous aus dem Jahr 1975 deutlich. „My lederhosen are killing me“, klagte der schottische Schauspieler David Nicholson und gestand weiterhin: „I’ve never been to Germany, but I’d love to go. I’m looking for a new girlfriend at the moment and those German frauleins are very pretty…“ (Fabulous, 6.9.1975: 5). Interessanterweise haben wir es hier mit ursprünglich US-amerikanisch geprägten Stereotypen über Deutschland zu tun, die scheinbar ihren Weg transatlantisch nach Großbritannien gefunden haben und dort adaptiert wurden. Die regionalen Erfahrungen einer großen Anzahl in Bayern stationierter GIs rund um Lederhosen, Brezen und Weißwurst prägten das US-amerikanische Bild der Bundesrepublik ungeachtet ihrer charakteristischen föderalen Struktur. Auch die Rhetorik vom deutschen „Fräuleinwunder“ in der „Wirtschafts- und Fußballwunder-Republik“

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Deutschland ist transatlantischen Ursprungs und beschreibt den neuen Typus der jungen, attraktiven und selbstbewussten westdeutschen Frau. Dass auch umgekehrt nationalstereotype Vorstellungen über britische Jugendliche auf deutscher Seite existierten, machen der Artikel „European fellas talk about us“ in Fabulous aus dem Jahr 1975 sowie ein Bericht in Bravo aus dem Jahr 1967 deutlich. Während Roy Black seine Eindrücke über die „rebellische Jugend in London“ (Bravo, 6.3.1967: 10ff.) kundtat, äußerte sich in Fabulous Barkhard Kaufhold aus Deutschland über britische Mädchen wie folgt: „When British girls are pretty they are very pretty – but that only happens occasionally. Still I suppose that’s just the same with German girls! Clothes-wise they are worse than German girls. No taste! No style! No flair! But they’re very friendly and that probably makes up for it.“ (Fabulous, 6.9. 1975: 30)

Insbesondere der Begriff des „Flairs“ verweist darauf, dass britischen Mädchen gemäß dieser Auffassung nicht nur weniger Esprit, weniger Geschmack, sondern eventuell auch weniger moralische Standhaftigkeit im traditionell-konventionellen Sinne zugesprochen wurden. So schwingt in dieser Kritik eines deutschen Fabulous-Lesers ebenso wie in Salut les Copains abermals das Stereotyp von der britischen permissive society mit, das Bild einer (zu) toleranten und offenen Gesellschaft, der ein Hauch Liederliches und Anrüchiges anhafte.

F AZIT Die ausgewählten Beispiele jugendlichen Konsumverhaltens in Bravo, Fabulous und Salut les Copains haben eines sehr deutlich gemacht: Die in der Einleitung veranschlagte Annahme einer Europäisierung von Jugend- und Populärkultur in den jeweiligen Betrachtungsländern kann anhand der Analyse ihrer Jugendzeitschriften für die 1960er und 1970er Jahre bestätigt werden. Im interkulturellen Vergleich erweist sich die Herangehensweise der bundesdeutschen, britischen und französischen Zeitschriftenmacher als sehr ähnlich und scheint an grundsätzlichen, westlich geprägten Standards orientiert zu sein. Themen und Produkte, auch ihre Häufigkeit und Verteilung im Heft sind analog, ebenso die Strategien der Visualisierung und linguistischen Darstellung. Nationale Spezifika jugendlicher Konsumkultur waren durch unterschiedliche Prozesse kultureller Adaption, Nachahmung und produktiver Rezeption entweder stark abgeschliffen bzw. normativ eingepasst oder aber sie wurden ver- und entfremdend zum cultural other deklariert wenn nicht gar zum Nationalstereotyp pervertiert und zugespitzt.

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So entstehende Mélangen im Kontext westeuropäischer populärer Jugendkultur trugen sicherlich noch Spuren der kulturellen Deutungssysteme ihrer jeweiligen Herkunftsländer in sich, waren aber derart transformiert, dass ein hybrides „Neues“ entstand, das sich nicht einfach als westdeutsch, britisch, französisch oder als US-amerikanisch, sondern als „westlich“ bzw. „westeuropäisch“ charakterisieren lässt. Was machte nun also – wie eingangs aufgeworfen – diesen Fabulous Consumerism letztlich aus, der sich in den offerierten Produkten in den jeweiligen Jugendzeitschriften manifestierte? Die Antwort liegt in der etymologischen Bedeutung des Begriffes „fabelhaft“. Der normative und medial vermittelte jugendliche Konsument erscheint in zweierlei Hinsicht als „Fabelwesen“: zum einen als ökonomisch schlagkräftiger Nutznießer eines fabelhaften, d.h. „ausgezeichneten“ Konsumptionsangebotes einer immer ausdifferenzierteren Produktgüterpalette, zum anderen als Ideal- bzw. Prototyp eines fabelhaften, d.h. „märchen- und sagenhaften“, sprich „utopischen“, Konsumgebarens – wie sich insbesondere auf dem Konsumptionsfeld technischer Gebrauchsgüter, allen voran dem Auto, gezeigt hat, das zwar prominent im Heft platziert, in den meisten Fällen aber unerschwinglich war. Der Schlüssel des Bildes des britischen, deutschen und französischen jugendlichen Konsumenten liegt in eben dieser Normativität und medialen Vermitteltheit seiner Darstellung. Das Bild des jugendlichen Verbrauchers beschreibt kein unbedingtes Dogma, sondern ist lediglich Inspiration, zumindest partiell diesem Schema zu folgen, das die Industrie vorgibt. Die Untersuchung des jugendlichen Konsumenten anhand von westeuropäischen Jugendzeitschriften bestätigt überdies, dass sich diese Medien durch ihre Mehrfachkonnotation hervorragend zur Analyse populärkultureller Phänomene und Prozesse eignen: Einerseits sind sie selbst Produkte einer Freizeit- und Vergnügungsindustrie und damit Repräsentanten, auch Transmissionsriemen oder Trägermedien von jugendlicher Populär- und Konsumkultur, andererseits nehmen sie durch ihre gattungseigene, zielgruppenspezifische redaktionelle Aufbereitung von Inhalten sowie ihre mitunter internationale Reichweite und breite Rezeption auch die Rolle von Akteuren ein, d.h. von aktiven Produzenten jener jugendlichen Populär- und Konsumkultur. Die Untersuchung ihrer „Medialität“ bzw. „Medialisierung“ sowohl in als auch durch Jugendmagazine schafft also eine Synthese mehrerer Ebenen, die für populärkulturelle Phänomene wesentlich sind: Jugendzeitschriften bilden einen internationalen populärkulturellen Erlebnisraum für Hörbares, Sichtbares und Lesbares im Rahmen kommerzieller Jugendkultur.

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Q UELLEN Bravo, 6.9.1964. Bravo, 7.3.1965. Bravo, 7.3.1966. Bravo, 6.6.1966. Bravo, 5.9.1966. Bravo, 6.3.1967. Bravo, 4.3.1968. Bravo, 3.3.1969. Bravo, 7.9.1970. Bravo, 1.3.1973. Bravo, 7.3.1974. Bravo, 2.9.1976. Bravo, 1.9.1977. Fabulous, 4.6.1966. Fabulous, 6.9.1966. Fabulous, 4.3.1967. Fabulous, 2.9.1967. Fabulous, 7.9.1968. Fabulous, 6.9.1969. Fabulous, 3.3.1973. Fabulous, 1.9.1973. Fabulous, 2.3.1974. Fabulous, 6.9.1975. Fabulous, 4.9.1976. Salut les Copains Nr. 3, Oktober 1962. Salut les Copains Nr. 14, September 1963. Salut les Copains Nr. 23, Juni 1964. Salut les Copains Nr. 26, September 1964. Salut les Copains Nr. 29, Dezember 1964. Salut les Copains Nr. 50, September 1966. Salut les Copains Nr. 67, Februar 1968. Salut les Copains Nr. 85, September 1969. Salut les Copains Nr. 87, November 1969. Salut les Copains Nr. 103, März 1971. Salut les Copains Nr. 121, September 1972.

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„Auch die Schweiz kennt dieses Problem“ Die „Halbstarken“ der 1950er und 1960er Jahre als transnationale Jugendkultur und Gesellschaftsproblem im westeuropäischen Vergleich K ATHARINA B ÖHMER „Immer wieder tauchen in unserer Presse Berichte aus allen Ländern Europas über Jugendkrawalle auf. Wo ein Schlager- oder Jazzsänger auftritt, muss meist die Polizei eingreifen, um randalierenden Banden Einhalt zu gebieten. Auch die Schweiz kennt dieses Problem, und besonders Zürich als größte Stadt hat damit seine Sorgen.“ NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, 24.1.1962

Diesen einführenden Zeilen zu einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom Januar 1962 mit dem Titel „Das Halbstarkenproblem“ war zu entnehmen, dass spätestens jetzt Teile der schweizerischen Jugendlichen mit ihren Altersgenossinnen im europäischen Ausland gleichzogen: Seit Mitte der 1950er Jahre hatte es in der Tat in vielen west- wie osteuropäischen Ländern „Jugendkrawalle“ gegeben, die sich – wie in der NZZ zutreffend dargestellt – oft im Anschluss an Vorführungen amerikanischer Filme oder nach Konzerten mit amerikanischer Unterhaltungsmusik entzündeten. Während der Europa-Tournee des US-Stars Bill Haley im Herbst 1958 war es wiederholt zu derartigen „Rock ’n’ Roll-Krawallen“1 gekommen: Nach seinen Konzerten im Pariser

1

So die zeittypische Terminologie, z. B. bei Kaiser 1959: 177.

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Olympia (15. Oktober), im Berliner Sportpalast (26. Oktober) und in der Hamburger Ernst-Merck-Halle (27. Oktober) gingen identische Bilder von zertrümmerter Saalbestuhlung und verletzten Besuchern wie Polizisten durch die nationalen Zeitungen (Grotum 2014). Abbildung 1: Publikum beim Bill-Haley-Konzert im Pariser „Olympia“, 15. Oktober 1958

Quelle: Roger-Viollet, Ullstein Bild

D AS „H ALBSTARKEN -P ROBLEM “ Vergleichbar aufsehenerregende Zwischenfälle hatte es in der Schweiz bis zum Beginn der 1960er Jahre noch nicht gegeben. Dennoch wurde auch hier das Aufkommen einer neuartigen Jugendkultur mit Argwohn registriert. Im deutschschweizerischen Kontext wurde für die jugendlichen Teilnehmer der in der NZZ so betitelten „randalierenden Banden“ die im deutschsprachigen Raum allgemein übliche Bezeichnung übernommen: „Halbstarke“. Im übrigen Europa wurden sie Teddy Boys (England) genannt, blousons noirs (Frankreich), Hooligans (Polen), Laederjakken (Dänemark) oder vitelloni (Italien) – selbst im franquistischen Spanien gab es gamberros. Gemeint war immer dasselbe Phänomen: in Gruppen auftretende, zumeist männliche Jugendliche, die sich in ihrem Kleidungsstil an US-amerikanischen Filmstars wie Marlon Brando in The Wild One/Der Wilde und James Dean in Rebel without a Cause/... denn sie wissen nicht, was sie tun orientierten und sich für „amerikanische Unterhaltungsmusik, besonders

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Rock ’n’ Roll, und Motorräder“ (Bondy 1957: 26) interessierten. Die „Röhren-“ oder „Nietenhosen“, die schwarzen Lederjacken und die „Elvistollen“ dieser „Halbstarken“ provozierten die Erwachsenengeneration im Nachkriegseuropa ebenso wie ihr Herumgammeln in „Eckensteher-Cliquen“ auf Plätzen, in Parks oder Kinoeingängen und ihre scheinbar ziellosen Fahrten auf Mopeds und Motorrädern um die städtischen Häuserblocks. „Jugendliche stören die Ordnung“ – so der Titel der zeitgenössischen Untersuchung der westdeutschen „Halbstarkenkrawalle“ aus psychologischer Perspektive (ebd.) –, und das nicht erst durch manifestere Formen des „Krawalls“ wie die sporadische Verwüstung von Kinound Konzertsälen oder die Belästigung von Passanten, sondern bereits durch ihre bloße Existenz als eigenständige, von der US-amerikanischen Populärkultur beeinflusste Jugendkultur.2 Abbildung. 2: Nach dem Bill-Haley-Konzert im Berliner „Sportpalast“, 26. Oktober 1958

Quelle: Ullstein Bild

Als neuartiges, deswegen beunruhigendes, zugleich transnational wahrgenommenes Phänomen beschäftigten die „Halbstarken“ allerdings nicht nur Öffentlichkeit und Medien in West- wie Osteuropa: Überall, wo sie auftraten, wurden sie zugleich zum Gegenstand juristischer, sozialpädagogischer und psychologi-

2

Zum „Halbstarken-Problem“ unter vergleichend-transnationalen Gesichtspunkten vgl. erstmals Hüser 2005; Kurme 2006.

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scher Untersuchungen, die sich um Ursachenforschung und Lösungsvorschläge für dieses vermeintlich gesellschaftliche Problem bemühten. Im folgenden Beitrag soll für den Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre gezeigt werden, wie die Schweizer und die westdeutschen „Halbstarken“, die französischen blousons noirs und die britischen Teddy Boys zum Gegenstand unterschiedlicher Diskurse in Öffentlichkeit, Medien, Politik und Wissenschaft wurden. In den zeitgenössischen Untersuchungen des jeweiligen nationalen „Halbstarkenproblems“ sind grenzüberschreitend zentrale gemeinsame Bezugspunkte festzustellen, die sich auf vergleichbare sozio-kulturelle Wandlungsprozesse zurückführen lassen. In allen vier Ländern führte der Babyboom der Nachkriegsjahre dazu, dass der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung wesentlich zunahm: In Frankreich war beispielsweise 1956 fast ein Drittel der Bevölkerung jünger als 20 Jahre.3 Gleichzeitig verfügten diese Jugendlichen dank Vollbeschäftigung und steigenden Löhnen über eine bisher ungekannte Kaufkraft, die sie zu Pionieren der Massenkonsumgesellschaft machte und die Entstehung eines neuen, auf sie zugeschnittenen Marktes mit eigenen, von Unterhaltungsindustrie und Medienkultur geprägten Produkten förderte. In ihrer Analyse der „Halbstarken-Krawalle“ im eigenen Land verwiesen die erklärungssuchenden schweizerischen, deutschen, britischen und französischen Experten gleichermaßen zum einen auf die seit dem Kriegsende in ganz Europa angeblich steigende Jugenddelinquenz, zum anderen auf die negative Vorbildfunktion amerikanischer Populärkultur, auf Musik und Filme sowie damit transportierte Werte und Normen, Verhaltensmuster und Kleidungsstile. Ungeachtet der Frage, inwiefern es sich bei den „Halbstarken-Krawallen“ tatsächlich um kriminelle Vergehen handelte, bestand in allen hier untersuchten Ländern die Tendenz, Devianz von Jugendlichen mit Delinquenz durch Jugendliche gleichzusetzen. Das Reden über die westeuropäischen „Halbstarken“ weist damit deutlich erkennbare Schnittstellen zu einem allgemeineren Diskurs über Jugenddelinquenz und -kriminalität auf, der im selben Zeitraum auf verschiedensten Ebenen, politischen wie wissenschaftlichen, national wie international, intensiv geführt wurde, bis hin zur Etablierung spezieller Gremien und Arbeitsgruppen in Europarat, UNO und UNESCO (Europarat 1960; Middendorff 1960). Was den Diskurs über die „Halbstarken“ jedoch darüber hinaus kennzeichnete, war das Zusammendenken von jugendlicher Delinquenz mit jugendlichem Ausdruckswillen in Kleidungsstil und Musikgeschmack. In einem britischen Regierungsbericht von 1960 wurde auf die Möglichkeit eines direkten Zusammenhangs zwischen beidem verwiesen:

3

Vgl. The Young Face of France, 1959: 3.

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„One of the most disturbing features of the pattern of post-war criminal statistics is the recent crime-wave among young adult males between seventeen and twenty-one years of age. The crime-wave [...] has been associated with certain forms of dress and other social phenomena.“ (Wilkens 1960: 9)

„Certain forms of dress“ bei jungen Männern spielt in dieser Zeit und in diesem Zusammenhang auf die Nachahmung des Kleidungsstils amerikanischer Filmstars durch die jugendlichen „Halbstarken“ – nicht nur in England – an, und hinter den „other social phenomena“ lässt sich die Begeisterung der Jugendlichen für amerikanische Populärkulturgüter allgemein und ihre Vorliebe für Rock ’n’ Roll im Besonderen vermuten. Das Amerikanisierungsargument, das in den nationalen Debatten über die „Halbstarken“ immer wieder begegnet, lag als Erklärung in der Tat auf der Hand: Aus Sicht der Zeitgenossen bestand ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem „Halbstarkenproblem“ und der Präsenz amerikanischer Populärkultur in Europa. Allerdings war die vermeintliche „Amerikanisierung“ der Jugend nur ein Erklärungsansatz neben anderen. Zu fragen wäre darum, ob für die Zeitgenossinnen tatsächlich die Rezeption und Aneignung populärkultureller Ausdrucksformen aus den USA durch die „halbstarken“ Jugendlichen das eigentliche Problem war – oder ob es nicht um weitaus Grundlegenderes ging, nämlich um die Infragestellung der gesellschaftlichen Ordnung durch eine Jugendkultur, die ihre Vorbilder jenseits nationaler Grenzen und Traditionen suchte. Im gesellschaftlichen Reagieren auf jugendliches Verhalten würden dann ganz grundsätzlich „die Grenzen des gültigen Sozialen“ erkennbar, wie es ein NZZ-Journalist schon 1962 pointiert formulierte (NZZ, 12.6.1962). Diese Grenzen waren in den 1950er und 1960er Jahren noch überaus eng gezogen: „Halbstarkes“ Auftreten, Kleiden, Tanzen wurde überall als massive Kampfansage an die gesellschaftliche Ordnung empfunden – dazu bedurfte es nicht erst politischer Botschaften, die auch nirgendwo von „Halbstarken“ artikuliert wurden. Gleichwohl sind hier Aspekte des „Politischen im Unpolitischen“ (Siegfried 2006) zu erkennen, denn in der vehementen Reaktion der Gesellschaft auf die „Halbstarken“, in den Disputen und Protesten, die sie auslösten, vollzog sich eine politische Aufladung der Jugendkultur der „Halbstarken“ von außen. Dieser Prozess der „Fremdpolitisierung“ lässt sich in allen vier hier untersuchten Ländern feststellen – die Vergleichbarkeit der vier nationalen Spielarten des „Halbstarkenproblems“ ist damit nicht nur auf der Ebene ihrer populärkulturellen Ausdrucksform gegeben, sondern auch auf derjenigen der medialen wie wissenschaftlichen Diskurse sowie der politischen wie gesellschaftlichen Reaktionen.

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Auch die Schweizer „Halbstarken“ lassen sich als Teil dieser neuartigen transnationalen populärkulturellen Jugendkultur verstehen, obwohl sie etwas später als ihre europäischen Pendants in Erscheinung traten. Im Folgenden sollen zunächst die Zürcher „Halbstarken“ als Beispiel für diese Jugendkultur in ihrer schweizerischen Variante genauer in den Blick genommen, auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen porträtiert und im diskursiven (deutschschweizerischen) Kontext ihrer Entstehungszeit situiert werden. Um den transnationalen Charakter der Halbstarken-Jugendkultur auch in der Schweiz zu verdeutlichen, auf den bereits aus zeitgenössischer Perspektive aufmerksam gemacht wurde, sollen in einem zweiten Schritt Vergleiche mit den englischen Teddy Boys, den westdeutschen „Halbstarken“ und den französischen blousons noirs sowie der öffentlichen Reaktion auf sie gezogen werden. Darauf aufbauend soll abschließend gezeigt werden, wie groß die thematischen Konvergenzen beim zeittypischen europaweiten „Nachdenken über die Jugend“ (Schildt 1995: 177) diesund jenseits des Ärmelkanals waren. Am Beispiel der ersten – durch ihren auffälligen Kleidungsstil besonders – „sichtbaren“ Jugendkultur im Nachkriegseuropa lässt sich eine vergleichende Perspektive auf sozio-kulturelle Veränderungen in vier westeuropäischen Ländern eröffnen: Der Umgang mit populärkulturellen Artikulationsformen wird dabei zum Gradmesser für den gesellschaftlichen Wandel insgesamt.

„S WISS T EDS “ – „H ALBSTARKE “

IN

Z ÜRICH

Es ist anzunehmen, dass sich der eingangs zitierte NZZ-Journalist mit seinem Hinweis auf „randalierende Banden“ in „allen Ländern Europas“ auf Vorfälle wie bei den Bill-Haley-Konzerten in Frankreich und Deutschland bezog – denn in der Schweiz war es bis dato noch nicht zu „Rock ’n’ Roll-Krawallen“ gekommen.4 „Sorgen“ bereiteten ihre unangepassten Jugendlichen jedoch auch den Eidgenossen, insbesondere in den Städten. Zu Recht wird im NZZ-Artikel die urbane Dimension des Phänomens betont, denn noch eindeutiger als in den drei anderen Untersuchungsländern sind die Schweizer „Halbstarken“ als primär städtische Jugendkultur anzusehen. Ab den späten 1950er Jahren gab es sie in Zürich (Staub 1965; Aeschlimann Wirz 1992) ebenso wie in Basel (erste Hinweise bei: Matti/Müller/Riedo 2000), sogar im kleineren Luzern existierte eine

4

Erst im April 1967 sollte es mit den Tumulten beim Auftritt der Rolling Stones im Züricher Hallenstadion ein vergleichbares Vorkommnis auch in der Schweiz geben; vgl. NZZ, 17.4.1967.

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Halbstarken-Szene (Meyer 1996). Zum „Problem“ wurden diese eidgenössischen „Halbstarken“ nicht nur durch ihr provozierendes Aufmarschieren als Gruppe auffällig gekleideter Jugendlicher, sondern – wie ihre Pendants jenseits der Landesgrenzen – auch durch ihr nonkonformes bis (klein-)kriminelles Verhalten. In Zürich wurden Öffentlichkeit und Medien ab den späten 1950er Jahren auf die „Halbstarken“ aufmerksam. Zwar hatte die NZZ noch 1957 „über das in letzter Zeit häufig erörterte Problem der sog. Halbstarken“ beruhigend berichten können: „Während aus Deutschland, England, Nordamerika, aus den Randschichten des Sozialkörpers, schon seit längerem ernste Berichte über eine in besonderer seelischer Not befindliche Jugend einlaufen, zeigt sich in der Schweiz diese Manifestation der Verwahrlosung erst in gewissen Ansätzen.“ (NZZ, 21.1.1957).

Doch bereits ein Jahr später hatte sich die Situation geändert: „Seit 1958 nahmen in Zürich die gruppenweise von Jugendlichen begangenen Gebrauchsentwendungen von Fahrzeugen, Eigentums- und Sittlichkeitsdelikte in auffallender Weise zu. Gegen Herbst 1959 traten Störungen durch Lärm, Schlägereien und Unfug auf, die nach dem Vorbild ausländischer Halbstarker uniformierte Jugendliche zum Urheber hatten. Mit Vorliebe fuhren die in Blue Jeans und Lederjacken gekleideten jungen Burschen auf dröhnenden Motorfahrzeugen vor ihren Lieblingslokalen mit Musik- und Spielautomaten hin und her und brachten dadurch die Anwohner in den engen Gassen der Altstadt auf.“ (Staub 1965: 42).

In dieser Charakterisierung der Zürcher „Halbstarken“ aus einer zeitgenössischen juristischen Dissertation, die diese als Beispiel für eine „jugendliche Bande“ analysiert, finden sich paradigmatisch die eingangs erwähnten, transnational einschlägigen Typologisierungen und Attribute der „Halbstarken“ wieder: Die „Halbstarken“ treten als Gruppe auf, fallen in der Öffentlichkeit störend durch delinquentes Verhalten auf und provozieren durch „uniformierten“, aus dem Ausland übernommenen „amerikanisierten“ Kleidungsstil, ihre Motorisierung sowie scheinbar sinn- und richtungslose Freizeitbeschäftigung. Den Klagen der Stadtbewohner über das Gebaren der „Halbstarken“ begegnete die Zürcher Stadtpolizei im Sommer 1959 mit der Einrichtung eines besonderen Dienstzweigs für Jugendfragen in ihrer Kriminalabteilung (Staub 1965: 44; NZZ, 24.1.1962). Die von den „Halbstarken“ ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung wurde offenbar als gravierend genug eingeschätzt, um diese

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Form der administrativen Institutionalisierung für den Umgang mit ihnen zu rechtfertigen. Ein Jahr später, im Juni 1960, führte die Zürcher Stadtpolizei gemeinsam mit der Kantonspolizei eine sogenannte „Halbstarkenrazzia“ in von Jugendlichen frequentierten Restaurants und Tea Rooms der Stadt durch, deren Zweck vorgeblich sein sollte, „die Hintergründe der Zeiterscheinung der Halbstarken aufzuhellen“ (NZZ, 23.8.1960). Im Rahmen dieser „Halbstarkenaktion“ (NZZ, 24.1.1962) wurden 91 Jugendliche vorübergehend festgenommen und polizeilich vernommen; die Ergebnisse der Befragung wurden anschließend in einem Bericht zusammengefasst und der Presse vorgestellt. Da die zentrale Frage „Was ist ein ‚Halbstarker‘, wie und wodurch wird man zu einem ‚Halbstarken‘?“ auch auf der Grundlage des Polizeiberichts nicht abschließend beantwortet werden konnte, beschränkte sich die städtische Presse darauf, das stereotype Bild des amerikanische Konsumgüter zur Schau stellenden Jugendlichen zu bemühen: „Aber was weiß man sonst mehr [von den Halbstarken]? Dass sie Lederjacken und Blue Jeans tragen, dass sie leidenschaftlich gerne Motorrad fahren und im schummrigen Licht von Kaffeehäusern Coca Cola oder ein Glas Milch trinken.“ (NZZ, 23.8.1960).

Wie ihre Pendants jenseits der Grenzen waren auch die Zürcher „Halbstarken“ durch und durch „amerikanisiert“ – in der Fremd- wie in der Eigenwahrnehmung. Die Identifikation mit der amerikanischen Populärkultur reichte bis zu den Spitznamen, die sich die Mitglieder der Halbstarkengruppen zulegten: „,Baby Face‘, ,Elvis‘, ,Jess Wilson‘, ,Blacky‘, ,Tiger-Lily‘, ,Presley‘, ,James Dean‘: Diese Decknamen der radikal ,halbstark‘ sich Gebenden verraten weniger abenteuerliche Phantasien denn ungeniertes Konsumbewusstsein“ (NZZ, 14.6.1962). Selbst die Aneignung amerikanischer (Spitz-)Namen wurde in der Außenperspektive der Erwachsenenwelt also noch als Form des Konsums interpretiert. Für die Jugendlichen selbst war der Blick nach Amerika hingegen ein begeisterter und unkritischer. Im Rückblick erinnert sich eine der zentralen Figuren der Zürcher Halbstarkenszene, Willy Oechslin, an die späten 1950er Jahre in seiner Stadt: „Ich bin rumgehängt und habe das aufregende Leben genossen. Es waren Zeiten des Umbruchs, unser Blick richtete sich nach Amerika. James Dean, Marlon Brando, Elvis Presley, Bill Haley und Fats Domino hießen unsere Vorbilder. Rock ’n’ Roll war unser Lebenselixier.“ (Zürichsee-Zeitung Obersee, 5.12.2011).

Film- und Rock ’n’ Roll-Stars waren die Idole der Jugendlichen, ihnen eiferte man – wenn schon nicht künstlerisch, so doch wenigstens im Kleidungsstil –

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nach, mit den bescheidenen Mitteln, die den Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu dieser Zeit zur Verfügung standen. Die Ergebnisse der großen Anstrengungen, die die Zürcher „Halbstarken“ zur Herstellung ihres Outfits unternahmen, sind durch die Fotografien Karlheinz Weinbergers eindrucksvoll dokumentiert: Im Unterschied zu den Halbstarkenszenen dieser Jahre in Westdeutschland, Frankreich und England sind die Zürcher „Halbstarken“ nämlich nicht nur auf mehr oder weniger situativ und zufällig entstandenen Pressefotografien, sondern in regelrechten Porträtserien festgehalten. Der Zürcher Fotograf Weinberger hatte als Autodidakt unter dem Pseudonym „Jim“ bereits seit 1948 Bilder für den „Kreis“ geliefert – die international bekannte und angesehene Untergrund-Zeitschrift der Zürcher Homosexuellenszene, die bis 1967 existierte –, als er 1958 dank einer Zufallsbegegnung mit dem genannten Willy Oechslin im Zürcher Rotlichtquartier um die Langstraße auf die Existenz einer Halbstarkenszene in seiner Heimatstadt aufmerksam wurde. Dem Wunsch des Fotografen, Porträts von ihm anfertigen zu dürfen, gab der junge Oechslin bereitwillig nach – und eröffnete Weinberger damit den Zugang zum Kreis der Zürcher „Halbstarken“, deren Mitglieder dieser in den folgenden Jahren alleine oder als Gruppe, in seiner Wohnung (die ihm als Studio diente) oder im Straßenraum, bei zufälligen Treffen oder beim Auftreten der Jugendlichen als „Bande“ auf Volksfesten fotografierte.5 Anhand von Weinbergers Fotografien lässt sich die sogenannte „Montur“ des prototypischen Zürcher „Halbstarken“ jener Jahre beschreiben: Neben der vielfach erwähnten Blue Jeans und der Leder- bzw. Jeansjacke (die aus finanziellen Gründen zumeist als Ersatz dienen musste) gehörten Cowboystiefel dazu, Halstücher sowie selbstgebastelte Accessoires, Ketten mit Anhängern und auffällige Gürtelschnallen, versehen mit selbstgemalten Konterfeis der Halbstarken-Idole, vor allem Elvis (s. Abb. 3). So gestylt wurden die „Halbstarken“ im beschaulichen Zürich zum Bürgerschreck – zu offensichtlich waren die Bezugnahmen auf amerikanische Populärkulturgüter, zu unangepasst und auffällig der Kleidungsstil. In der Öffentlichkeit wurde abfällig von der „verlausten Montur“ (Staub 1965: 44) der „Halbstarken“ gesprochen, während wohlwollendere Beobachter eine Systematik bei der Verwendung dieser spezifischen Kleidungsstücke zu erkennen glaubten: „Diese [...] Uniform wird nur getragen, wenn sich die Zürcher Halbstarken untereinander treffen. [...] Es scheint, dass die Jugendlichen mit der Uniform auch ihre halbstarken Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit ablegen.“ (Staub 1965: 44f.).

5

Publiziert sind die Halbstarken-Fotografien Weinbergers u.a. in Weinberger 2000; Weinberger 2011; Meier 2012.

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Abbildung 3: Elvis, Zürich, 1963

Quelle: Karlheinz Weinberger, Galerie Esther Woerdehoff, Paris

Die öffentliche Provokation oder vermeintliche Gefahr ging also nicht von den einzelnen Jugendlichen aus, auch nicht von ihrem Auftreten als Gruppe, sondern von ihrer Erscheinung als „uniformierte“, kollektive Verkörperung einer anderen als der eigenen – nämlich „amerikanisierten“ – Populärkultur. Probleme entstanden immer dann, wenn diese neuartige populärkulturelle Ausdrucksform in Kleidung und Musikgeschmack auf traditionelle Vorstellungen von populärkulturellen Vergnügungen traf, konkret: bei den diversen lokalen Festen im städtischen Raum. Denn mangels anderer Treffpunkte wurden diese zu Bühnen für die „Halbstarken“, auf denen sie das Provokationspotential ihres Kleidungsstils ausprobieren konnten: „Hunderte von Zürcher Jugendlichen [rücken dort] in der sogenannten ‚verlausten Montur‘, in Blue Jeans, Imitationslederjacken und Cowboystiefeln, an“ (Staub 1965: 44). Beim jährlichen Zürcher Schützenfest, dem traditionsreichen „Knabenschiessen“, war es bereits im September 1960 und 1962 zu Auseinandersetzungen zwischen „Halbstarken“, Fest-

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besuchern und der Polizei gekommen. Für das im Sommer 1963 in Zürich stattfindende „Eidgenössische Schützenfest“ – „eine vaterländische Veranstaltung voll reicher Tradition“ (NZZ, 29.7.1963) – erließ die Stadtpolizei darum schon im Vorfeld ein (frühneuzeitlich anmutendes) sogenanntes „Kleidersittenmandat“, eine „Tenuevorschrift“: Den Jugendlichen wurde unter Androhung von Verhaftung und Abführung verboten, in ihrer „Halbstarken“-Kleidung auf dem Schützenfest zu erscheinen. Abbildung 4: „Knabenschiessen“, Albisgüetli, Zürich, 1962

Quelle: Karlheinz Weinberger, Galerie Esther Woerdehoff, Paris

Für die Festbesucher als bedrohlich erachtet wurde nicht eine etwaige Bewaffnung der „Halbstarken“, sondern das Tragen ihrer spezifischen Kleidung. Die dahinterstehende Überlegung war so simpel wie bestechend: Ohne ihre „Montur“, sondern vielmehr im konformistischen klassischen Anzug (der sogenannten „Schale“) steckend, wären die „Halbstarken“ nicht mehr „halbstark“, stellten al-

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so keine Gefahr für die Öffentlichkeit dar. Erstaunlicherweise hielten sich große Teile der Zürcher „Halbstarken“ an das polizeiliche Verbot, von dem sie im Vorfeld unterrichtet worden waren. Schlechter informierte „Halbstarke“, die entweder von außerhalb des Stadtgebiets in „Montur“ zum Fest reisten, oder aber renitente Zürcher „Halbstarke“, die trotz des Verbots im „halbstarken“ Outfit das Festgelände betreten wollten, wurden verhaftet – insgesamt 61 Jugendliche (NZZ, 29.7.1963). Die öffentliche Auseinandersetzung mit den Zürcher „Halbstarken“ fand jedoch nicht nur in Verboten und Polizeieinsätzen ihren Ausdruck. Differenziertere Überlegungen zu den Ursachen ihres Verhaltens wurden zunächst in Tageszeitungen, dann auch in der wissenschaftlichen Literatur vorgebracht (z.B. Bernasconi 1962). Im Sommer 1962 war in der NZZ in einer durchaus wohlwollenden Artikelserie zum Thema „Die Schwierigen“ zu lesen, die Orientierungslosigkeit der Jugendlichen im Zeitalter des Massenkonsums sei als Resultat einer gesellschaftlichen Problematik zu verstehen, die Jugendlichen als Opfer sozialer Bedingungen zu sehen, die symptomatisch für eine Veränderung des Lebensstandards stünden, mit der auch viele Erwachsene nicht zurechtkämen (NZZ, 12./14./21.6.1962). Beobachterinnen in der Schweiz fiel die äußerliche Ähnlichkeit der einheimischen „Halbstarken“ mit vergleichbaren Gruppen von Jugendlichen jenseits der Grenzen auf: Die Zürcher Jugendlichen seien – so ein Urteil – „nach dem Vorbild ausländischer Halbstarker uniformiert“ (Staub 1965: 42). Und auch ausländische Beobachter wurden auf die Gemeinsamkeiten aufmerksam. Mit Blick auf die transnationale Verbreitung der neuen Jugendkultur der Teddy Boys gab ein englischer Journalist im August 1961 den Bericht eines Schweizer Augenzeugen wieder: „Teddy Boys, or their equivalent [...] were even to be found in so clean, prosperous and satisfied a city as Zurich. They were Swiss youths of ‚a new type [...] who rejected the Swiss tradition of the good apprentice, who refused to learn a trade, worshipped the noise and speed of motor-cycles, hung around juke-box bars and pin-table saloons, imitated American mannerisms learned from films and got themselves into trouble‘, who were in fact, Swiss Teds [Teddy Boys].“ (Fyvel 1961: 27).

Was die Verweigerung einer Ausbildung anging, war diese Außensicht zwar nicht zutreffend: Immerhin hatte die Zürcher Stadtpolizei als Ergebnis ihrer „Halbstarkenaktion“ im Juni 1960 feststellen können, dass 72 Prozent der festgenommenen Jugendlichen eine Lehre machten oder diese schon abgeschlossen hatten (NZZ, 23.8.1960). Alle anderen Aspekte trafen jedoch voll und ganz zu –

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in ihrer Begeisterung für Motorroller, ihrem „Herumgehänge“ um die JukeBoxen der einschlägigen Cafés, in ihrer „Imitierung“ amerikanischer Ausdrucksweisen und in ihrem Hang, sich selbst in Schwierigkeiten mit der Obrigkeit zu bringen, glichen die Schweizer „Halbstarken“ aufs Haar ihren Pendants jenseits des Ärmelkanals, den Teddy Boys. Einen gewichtigen Unterschied gab es dennoch: Die britischen Jugendlichen verfügten über einen durchaus eigenen modischen Code, der erst auf den zweiten Blick mit dem amerikanisierten „Halbstarken“-Look zu tun hatte.

„T HE T EDDY B OY I NTERNATIONAL “ – „H ALBSTARKE “ IN W ESTEUROPA Bereits 1953 war im Süden Londons ein neuer Typus von Jugendlichen in Erscheinung getreten, der besonders durch seinen extravaganten, an der Männermode der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg orientierten Kleidungsstil auffiel – der sogenannte Teddy Boy. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Teddy-Boy-Gangs, Sachbeschädigungen, Randale im öffentlichen Raum und in Tanzetablissements boten in den folgenden Jahren Anlass für eine teilweise reißerische Berichterstattung in den englischen Medien über diese erste als eigenständig wahrgenommene Jugendkultur in England nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Edwardian suit der Teddy Boys – so benannt nach der Regierungszeit Königs Edward VII. (1901–1910) und dessen Spitznamen „Ted“ – wurde in den 1950er Jahren damit zunehmend zum Symbol für jugendliche Delinquenz (nachdem der Stil ursprünglich in den Nachkriegsjahren von den Herrenschneidern der Londoner Savile Row in Antwort auf Diors New Look als neue Mode für die upper class erfunden worden war). Mit steigender Wirtschaftskraft der Jugendlichen – begünstigt durch die in England herrschende Vollbeschäftigung – wurde er auch für gesellschaftliche Schichten erschwinglich, die eigentlich nicht als Zielgruppe des neuen Modetrends gegolten hatten. Arbeiterjugendliche aus dem südlichen London scheinen die ersten gewesen zu sein, die sich den neuen Modestil der Oberklasse aneigneten und weiterentwickelten (Osgerby 1998: 9; Rock/Stanley 1970). 1955 berichtete der Spiegel unter der Schlagzeile „Teddy-Boys: Die Arbeiterdandys“: „Der ,Teddy-Boy‘-Stil ist gleichsam ein spätgeborenes und illegitimes Kind einer Herrenmode-Richtung, die vor einigen Jahren in England kreiert wurde, sich aber nicht recht durchsetzen konnte. Sie orientierte sich am Vorbild der Herrenmode des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts, am Dandy der Zeit Eduards VII. Die Teddy-Boys griffen vor etwa

238 | B ÖHMER Jahresfrist die Eduard-Mode auf und übersteigerten sie, indem sie für Jackett und Weste möglichst grelle Farben wählten und die noch verlängerten Jacketts mit Goldknöpfen, Samt und bordierten Taschen ausstaffierten.“ (Spiegel, 31.8.1955: 38f).

Die Teddy Boys kombinierten enge Hosen, lange Anzugjacken mit Rockschößen und Samtkragen sowie schwarze, schmale Krawatten und KreppsohlenWildlederschuhe mit Frisuren nach dem Vorbild amerikanischer Filmhelden, der notorischen „Elvistolle“ – und glichen hierin wieder den „Halbstarken“ auf dem Kontinent. Ihr Stil kann damit als Amalgamieren eines einheimischen Oberschichts- mit einem amerikanischen Modestil interpretiert werden, der in den 1940er Jahren unter Arbeiterjugendlichen in den USA beliebt war – seinerseits eine Mischung aus Chicago Gangster und zoot-suit – und den die GI während des Krieges nach England exportiert hatten (Osgerby 1998: 9). Doch trotz des bis zu einem gewissen Grad idiosynkratischen Stils der britischen Teddy Boys stellen die Anleihen bei US-amerikanischen Vorbildern auf der Stilebene die Konvergenz zwischen ihnen und ihren „halbstarken“ Pendants auf dem Kontinent her. Ebenso lässt sich in den nach 1956 in England einsetzenden, von Teddy Boys verursachten „Rock ’n’ Roll riots“ (Addison/Jones 2005: 130) nach Vorführungen des Films Blackboard Jungle/Die Saat der Gewalt (mit Bill Haleys Rock around the clock als Titelmusik) und bei den Konzerten des Rock ’n’ RollStars selbst im Februar 1957 eine Parallele zu anderen westeuropäischen Ländern erkennen, wo kurze Zeit später aus vergleichbarem Anlass Jugendliche „außer Rand und Band“ gerieten (s.o.). Der mediale Hype um die Teddy Boys flaute Ende der 1950er Jahre bereits wieder ab – und die „moral panic“ (Cohen 2002), mit der Gesellschaft und Politik reagiert hatten, wurde einerseits in politischen Maßnahmen, andererseits auch in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Problematik zunehmend kanalisiert. In der Bundesrepublik sorgten seit Mitte der 1950er Jahre die „Halbstarken“ als westdeutsches Pendant zu den Teddy Boys durch ihr Aussehen und Auftreten für Aufsehen und Schlagzeilen.6 Auslöser für eine regelrechte Welle von „Rock ’n’ Roll-Krawallen“ war hier der Start des Bill-Haley-Films Rock around the clock/Außer Rand und Band im September 1956. Bis 1958 wurden ca. 350

6

In diesem Beitrag werden nur die „westdeutschen“ „Halbstarken“ berücksichtigt; zu den „Halbstarken“ in der DDR vgl. Poiger 2000 sowie Janssen 2010. Die „Halbstarken“ in der Bundesrepublik sind unter verschiedenen Aspekten bereits mehrfach zum Gegenstand der Forschung geworden; vgl. Grotum 1994 und Kurme 2006.

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„Halbstarken-Krawalle“7 in zahlreichen westdeutschen Städten gezählt, bei denen nicht nur das Mobiliar in Kinosälen zertrümmert, sondern auch der Straßenverkehr gestört sowie Passanten und Polizisten angegriffen wurden (Kaiser 1959: 106). Abbildung 5: Halbstarken-Treff in einem Kreuzberger Hinterhof, Berlin 1956

Quelle: Will McBride, bpk, Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte

Während im Sommer 1959 bei der Zürcher Stadtpolizei eine eigene Dienststelle eingerichtet wurde, um mit den städtischen „Halbstarken“ fertig zu werden, schlugen auch in Frankreich Jugendliche über die Stränge. In Paris wie in der Provinz lieferten sich jugendliche Banden Straßenschlachten mit der Polizei und verwüsteten Caféterrassen.8 Die Wochenzeitschrift Paris Match wusste über die Täter zu berichten: „ces ,rebelles sans cause‘ étaient tous vêtus d’une sorte d’uniforme comprenant „blue jeans“, bottillons, ceinturon et blouson noir“ (Paris Match, 7.8. 1959). Mit der Anspielung auf den James-Dean-Film und der Beschreibung des Kleidungsstils der – wegen ihrer ikonographischen schwarzen Lederjacken so

7

Der Begriff fand seit Herbst 1955 in der Tagespresse Verwendung; vgl. Bondy u.a

8

Zur Figur des blouson noir als „jeune en délinquant“ vgl. Bantigny 2007: 124ff.

1957: 9.

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bezeichneten – blousons noirs wurde also auch im französischen Kontext der Referenzrahmen der populärkulturellen Amerikanisierung aufgerufen. In Stil und Verhalten waren die französischen „Halbstarken“ ihren Altersgenossen jenseits von Rhein und Ärmelkanal vergleichbar und wie diese erregten sie als quasi symbolhafte Verbindung von latenter Gewaltbereitschaft mit einer neuartigen Form von populärkulturell vermittelter, „amerikanisierter“ Jugendkultur das Interesse von Medien, Öffentlichkeit und Fachkreisen in Frankreich zu einem spezifischen Moment, den Anne Sohn so definiert: „Les blousons noirs ont donc symbolisé pour la première fois de façon éclatante le fossé entre jeunes et adultes, dans un contexte – l’année 1959 – où la jeunesse, qualifiée de ‚nouvelle vague‘, devient une catégorie sociale scrutée par les médias. Le mythe des blousons noirs, issu pour une part d’un constat – la bande de jeunes –, a créé, en retour, peur et incompréhensions réelles.“ (Sohn 2001: 271).

Der in Paris-Match skizzierte Kleidungsstil der Pariser blousons noirs gleicht so sehr dem der „Halbstarken“ in der Schweiz, dass sich die Beschreibung ebenso auf die Halbstarken-Porträts des Zürcher Fotografen Weinberger beziehen könnte. Auch von Zürich aus betrachtet erschien der Stil der Jugendlichen austauschbar: Die „Uniform“ der Zürcher „Halbstarken“ ähnele „bis in Einzelheiten der Kleidung der [...] ‚blousons noirs‘“, wurde hier bemerkt (Staub 1965: 44). Dieser transnationalen Vergleichbarkeit jugendlichen Stils entsprach eine inhaltliche Konvergenz der nationalen Diskurse: Auf der Suche nach Erklärungen für dessen Entstehung nahmen sich in England, Frankreich und in der Bundesrepublik ebenso wie in der Schweiz Fachleute verschiedenster Disziplinen des „Halbstarkenproblems“ an und versuchten sich an Lösungsvorschlägen für dieses vermeintlich gesellschaftliche Problem.

„H ALBSTARKE “ ALS G ESELLSCHAFTSPROBLEM : U RSACHENFORSCHUNG 1958 erklärte der Schweizer Pädagoge und Psychotherapeut Hans Zullinger die Ursachen des „Halbstarkenproblems“ folgendermaßen: „Verwahrloste und zur Kriminalität neigende Jugendliche hat es zu allen Zeiten gegeben und wird es auch in Zukunft geben. Trotzdem ist das Halbstarkenproblem höchstwahrscheinlich ein eng begrenztes Zeitproblem, hervorgerufen durch mehrere unglücklicherweise zusammenfallende Antriebskräfte, wie Krieg und Grenzbesetzung, Berufstätigkeit

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der Mütter, journalistische Verheldung der amerikanischen Gangster, Überflutung der Jugend mit Schundliteratur und Comicstrips, Vermaterialisierung des Lebens, als ob die Technik das Höchste wäre, Verkommerzialisierung der Bildung, Versexualisierung der Reklame, Wohnungsnot, Wirtschaftswunder und anderes mehr.“ (Zullinger 1958: 79).

Die Bandbreite der angeführten Themen – kaum ein Aspekt der gesellschaftlichen Diskussion der 1950er Jahre wird ausgelassen –, erscheint so übertrieben wie undifferenziert Dennoch wird hier einerseits die Palette an Erklärungsansätzen sichtbar, welche die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem transnationalen „Halbstarkenproblem“ über Ländergrenzen hinweg charakterisierte, andererseits aber auch das im Diskurs über die „Halbstarken“ immer wieder begegnende Argument, das die „Halbstarken“ als Negativbeispiel für die Folgen kulturellen und gesellschaftlichen Wandels allgemein vorführte. Für einen VierLänder-Vergleich muss ein Überblick über die Gründe, mit denen das Aufkommen der „Halbstarken“-Kultur erklärt wurde, hier notwendigerweise kursorisch ausfallen – aus dem zitierten Themenarsenal sollen im Folgenden daher drei Aspekte herausgegriffen und verglichen werden, die jeweils im Kontext der nationalen Debatten über die transnationale Jugendkultur der „Halbstarken“ diskutiert wurden. Gleich in mehrfacher Hinsicht wurde der Zweite Weltkrieg mit dem „Halbstarkenproblem“ ursächlich in Zusammenhang gebracht: In der englischen Debatte wurde so als Grund für die Entwicklung Jugendlicher zu Teddy Boys ihre Traumatisierungen im Kleinkindalter während des Krieges durch Bombardierungen, Evakuierung und die Abwesenheit der Väter angegeben (Wilkens 1960: 19). Ebenso wurde in der Schweiz auf die während des Zweiten Weltkriegs zum Aktivdienst eingezogenen und darum zuhause fehlenden Väter hingewiesen, um das Ansteigen der Jugendkriminalität allgemein sowie speziell die Entstehung einer Halbstarken-Szene zu erklären (NZZ, 21.1.1957). Traumatisierenden Kriegs- wie Nachkriegserfahrungen wurde damit eine Mitschuld an der Entstehung der Jugendkultur der „Halbstarken“ zugeschrieben. Daneben rückte die Armee als Disziplinierungsinstrument in den Blick, insbesondere in Frankreich, wo den blousons noirs ihr Einsatz als Rekruten im Algerienkrieg bevorstand.9 So schlugen von der Zeitschrift Paris-Match befragte Passanten im Dezember 1961 den Wehrdienst als Lösung des blousons noirsProblems vor: „La solution? Il n’y a qu’à les envoyer dans les djebels“ (ParisMatch, 9.12.1961). Nachsichtigere Beobachter gönnten den blousons noirs ihr unangepasstes Verhalten als ein letztes „Über-die-Stränge-Schlagen“ vor dem

9

Zur französischen Jugend im Algerienkrieg vgl. Bantigny 2007: 280ff.

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Einrücken: „Weil die Jungen wissen, dass auch sie bald zum Kriegsdienst nach Algerien einrücken müssen, sagen sie: ‚Wir müssen uns vorher amüsieren!‘“ 10 Andere Beobachter machten die psychischen Auswirkungen des Kolonialkriegs auf die blousons noirs für deren Verhalten verantwortlich: Wie ihre rebellischen Altersgenossen im Ausland seien sie „révoltés, amoraux, immoraux, à l’occasion délinquants“, der Grund dafür sei aber ein spezifisch französischer, nämlich die „sept ans de guerre d’Algérie, des meurtres, des assassinats quotidiens“ (Copfermann 1962: 33). In Großbritannien wurde 1960 die Abschaffung des nach Kriegsende weiter bestehenden „National Service“ von konservativer Seite unter anderem mit Hinweis darauf kritisiert, dass damit die Wehrpflicht als billige Disziplinierungsmaßnahme für zügellose Jugendliche wie die Teddy Boys wegfiele (Morgan 2001: 159). In der Bundesrepublik war die Wehrpflicht hingegen erst 1956, kurz nach der Gründung der Bundeswehr, wieder eingeführt worden: Mangels fundierterer Untersuchungen kann nur vermutet werden, dass sie auch hier durchaus als willkommene Lösung des „Halbstarkenproblems“ gesehen worden sein könnte.11 Bei einer zweiten Begründung, die in den nationalen Debatten über die „Halbstarken“ immer wieder begegnet, sind die Konvergenzen der Argumente sehr viel größer als die Unterschiede: Aus heutiger Sicht erscheint es nachgerade zwingend, das Auftreten der „Halbstarken“ mit der Amerikanisierung der Populärkultur zu korrelieren, zu eindeutig sind die Verbindungen zwischen USamerikanischen Vorbildern und ihrer Nachahmung beziehungsweise Aneignung durch europäische Jugendliche in Musikgeschmack, Kleidungsstil und Freizeitgestaltung. Und auch für die Zeitgenossen lag der Zusammenhang auf der Hand: Die „Halbstarken“ waren dem „Einfluss der Vergnügungsindustrie“ (Bondy 1957: 85f.) zu verdanken, sie frönten einem „Kult der Popmusik“ (Fyvel 1969: 79), waren selbst ein Produkt der „Rock ’n’ Roll-Rhythmik“ (Kaiser 1959: 199) und wurden dadurch einem gewissen Segment der amerikanischen Jugend immer ähnlicher, wie ein französischer Beobachter alarmiert feststellte: „Une fraction de plus en plus large de la génération montante commence à ressembler ‚terriblement‘ à une certaine jeunesse américaine. […] [c]es jeunes [qui] copient le vête-

10 So die Meinung eines „Vertreters der französischen Arbeiterjugend“, wiedergegeben in der schweizerischen Zeitschrift Gewerkschafts-Jugend, Sept. 1957, 9, 22: Halbstarke – blousons noirs – Hooligans – Teddy Boys „durchleuchtet“, 12ff. (14). 11 Vgl. Levsen 2010: 433: „In Studien zu Jugend und Jugendkultur in der Bundesrepublik ist die Wehrpflicht bisher eine Leerstelle.“

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ment, la coiffure et les manières les plus répréhensibles des petits-neveux et petites-nièces de l’Oncle Sam […].“ (Joubrel 1957: 19).

Dem Frankreich-Korrespondenten der Zeit, dem national-konservativen Schweizer Publizisten Armin Mohler,12 fiel ebenfalls auf: „Die Tracht [der blousons noirs] – Blue Jeans, schwarze Lederjacken, wildflatterndes Haar – ist James Dean, dem mit Motorenlärm dem Abgrund entgegenknatternden Filmidol aus USA, nachgeahmt“ (Die Zeit, 18.9.1959). Wie oben gezeigt, wurden auch in der Schweiz die „Halbstarken“ von der Erwachsenengeneration als „Amerikanisierungsprodukt“ gedeutet – obwohl es hier im Unterschied zum britischen, französischen und westdeutschen Fall keine amerikanische Präsenz „vor Ort“ gab, die unmittelbar Anschauungsmaterial auch in populärkulturellen Dingen hätte liefern können.13 Mit Blick auf den kollektiven Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten zu einem höheren materiellen Lebensstandard in der Schweiz der 1950er Jahre hat Jakob Tanner von einem „helvetisch akkommodierten American way of life“ (Tanner 1994: 37) gesprochen – die schweizerischen „Halbstarken“ erscheinen als ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklung. In vielen Fällen wird die conditio sine qua non jeder Form von Amerikanisierung gleich mitgeliefert, wenn es in englischen, deutschen, französischen und schweizerischen Debattenbeiträgen implizit oder explizit um die Einflüsse USamerikanischer Populärkultur geht: die moderne Konsumgesellschaft. Ein englischer Journalist beschrieb den Zusammenhang von Ursache und Wirkung so: „The change [in society] went with the new pattern of mass consumption [...]. European life, in fact, was becoming „americanised“. [...] The new commercial youth culture [arrived], and so did a new wave of juvenile delinquency“ (Fyvel 1961: 24) –

eben in Gestalt der „Halbstarken“. Die Entwicklung der vier hier untersuchten Länder zu Wohlstands- und Massenkonsumgesellschaften fiel mit dem Zeitpunkt des Auftretens der „Halbstarken“ zusammen: So gesehen erstaunt es nicht, dass diese überall mit der modernen Konsumgesellschaft in Zusammenhang gebracht wurde – in der argumentativen Zuspitzung waren die delinquenten „Halbstarken“ dann gar als Symptom der „Wohlfahrtskriminalität“ (Fyvel 1961: 19) zu deuten. In England wurde in der rebellierenden Jugend ein Symptom für die so-

12 Armin Mohler war der früherer Sekretär Ernst Jüngers und von 1955-1960 Pariser Korrespondent der Zeit. 13 Für die Schweiz gibt es bisher nur sehr wenig Forschung zur Amerikanisierung des Alltagslebens nach 1945; eine Ausnahme ist Bochsler 2006.

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zialen Belastungen gesehen, die mit dem Übergang von der traditionellen britischen Klassen- zur Wohlstandsgesellschaft („affluent society“) verbunden seien.14 Sie erscheinen also zugleich als Produkt wie auch als Opfer der neuen Konsumkultur. Abbildung 6: „Les Blousons Noirs. Bande de jeunes garçons désœuvrés assis au pied d'une barre d'immeubles, au Pré-Saint-Gervais“, 1960

Quelle: André Lefebvre, Scoop, Paris Match

Auch für den französischen Fall lässt sich eine Sichtweise finden, in welcher die blousons noirs als Modernisierungsverlierer definiert und als „jeunesse inadaptée“ beschrieben werden: „Nicht adaptiert“ erscheint diese Jugend an die moderne Gesellschaft in all ihren Erscheinungsformen wie Urbanisierung, Technisierung, Konsum etc. In dieser Logik können die blousons noirs sogar in der Debatte um die städtebauliche Innovation der „grands ensembles“ funktionalisiert werden, wenn die habitations à loyer modéré (HLM) als „fabriques à blousons noirs“ (Kaës 1963: 113) apostrophiert werden. Dieser Zusammenhang zwischen modernen Wohnformen und Jugendkultur begegnet auch im bundesdeutschen „Halbstarken“-Diskurs, wenn argumentiert wird, die „rationellen Wohnmaschinen“ der Großstädte böten nicht mehr ausreichend Platz für jugendlichen Betätigungsdrang – der sich daher zwangsläufig anderweitige Ventile suchen müsse.15

14 So bei Fyvel 1969: 10. 15 Vgl. FAZ, 2.1.1956: 1 (hier zit. nach Kurme 2006: 251); ähnliche Beispiele für Wien und England bei Fyvel 1961: 28ff.

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Zugleich erscheinen die „Halbstarken“ in transnationaler Perspektive aber auch als Profiteure der neuen Konsummöglichkeiten und des steigenden Wohlstands: Vollbeschäftigung, steigende Löhne und ein höherer Lebensstandard waren die Voraussetzungen, die es den Jugendlichen erst ermöglichten, sich mit den einschlägigen Accessoires ihrer Jugendkultur auszustatten.

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Viele der hier zitierten Beobachterinnen und Beobachter nahmen die „Halbstarken“ als gesamteuropäische, als transnationale Erscheinung wahr. Die abwehrend-kritische wie die verständnisvolle Auseinandersetzung mit der neuartigen Jugendkultur fand in vielen Fällen unter Bezugnahme auf vergleichbare Phänomene und Probleme im benachbarten Ausland statt – und das auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Kontexten. So wurde im März 1960 in Zürich ein „Kantonaler Frauentag“ zum Thema „Begegnung mit der heutigen Jugend“ veranstaltet, zu dessen Auftakt der französische Film Les Tricheurs von Marcel Carné (1959) gezeigt wurde (NZZ, 24.3.1960). Offenbar versprach man sich von der Auseinandersetzung mit französischen „Problem-Jugendlichen“ Anregungen für die Diskussion über und den Umgang mit den Jugendlichen im eigenen Land. Umgekehrt ließen sich einheimische „Halbstarke“ als Kontrastfolie nutzen, um der inländischen Öffentlichkeit das „Halbstarken“-Phänomen im Ausland zu erklären, wie das Beispiel eines Zeit-Artikels vom September 1959 nahelegt: Unter der Überschrift „Frankreichs Halbstarke“ informierte der Frankreich-Korrespondent des Blattes die Leserschaft über die Pariser blousons noirs, die er als „französische Halbstarke“ beschreibt: Die Typologie des „Halbstarken“ ist im bundesrepublikanischen Diskurs der Zeit offenbar ausreichend geläufig. Zwei Jahre später lässt der englische Journalist T. R. Fyvel in einem Zeitschriftenartikel mit dem Titel The Teddy Boy International seinen Überblick über das „Halbstarkenproblem“ in den USA und einigen europäischen Ländern in die These münden, der festzustellende „increase in juvenile crime and gang life“ sei dem Gesellschaftswandel der letzten Jahre und der Entstehung einer „European affluent society“ zuzuschreiben: Für ihn sind es also die sozialen und (populär)kulturellen Konvergenzen, die in vielen europäischen Ländern ein wenn nicht identisches, so doch vergleichbares transnationales „youth problem“ in Gestalt der „Halbstarken“ hervorrufen (Fyvel 1961: 30). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Jugendkultur der „Halbstarken“ in der britischen, französischen, westdeutschen und schweizerischen Nachkriegsgesellschaft identische Reaktionen, zugleich aber auch vergleichbare Re-

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flexionen über die Entwicklung zu Wohlstands- und Massenkonsumgesellschaften der langen 1960er Jahre – und deren Schattenseiten – provozierte. So gesehen lässt sich das stetige gesellschaftliche Aushandeln der „Grenzen des gültigen Sozialen“, zu dem die transnationale Jugendkultur der „Halbstarken“ in den 1950er und 1960er Jahren in England, Frankreich, der Bundesrepublik und der Schweiz Anlass genug bot, als Gradmesser für gesellschaftliche Liberalisierung in diesen vier Ländern lesen. Zugleich ließ die Entstehung einer populärkulturell-„amerikanisierten“ Jugendkultur paradoxerweise einen gemeinsamen, transnational-europäischen Erfahrungsraum entstehen: in den Aneignungen populärkultureller Konsumgüter durch die Jugendlichen ebenso wie in den erregten, besorgten oder verständnisvollen Reaktionen der Erwachsenen. Die Bedeutung der „Halbstarken“ als erster transnationaler Jugendkultur im Nachkriegseuropa wurde nur wenige Jahre später durch die Entstehung neuer Jugendkulturen mit neuen Ausdrucksformen und anderen Anliegen relativiert. 1967 versuchte sich der Spiegel an einer Einordnung der bereits bekannten wie der neu entstehenden „Jugendbewegungen“: „Die euphorische Friedfertigkeit der Hippies wie die gleichmütige Passivität der Gammler sind für die Gesellschaft der Karrieristen und Konsumenten im Grunde verwirrender als die Aggressionen der ersten auffälligen Jugendbewegung der Nachkriegszeit, jener Internationale der ‚Halbstarken‘, ‚Rockers‘ und ‚blousons noirs‘, die in den 1950er Jahren und bis in die 1960er hinein den Misston angab. Die Lederjacken- und Motorrad-Rowdys störten und verletzten die Ordnung der Älteren, aber sie stellten sie nicht grundsätzlich in Frage. Das Idol dieser Jugend, James Dean, dem sie die missmutige Trotzgebärde und die Blue Jeans absah, war in dem Film ‚... denn sie wissen nicht, was sie tun‘ (1955) nichts anderes als ein ‚Junge, der Mann sein will, und zwar schnell‘ (so sein Regisseur Nicholas Ray).“ (Spiegel, 2.10.1967: 168)

Prägnant wird hier auf den Punkt gebracht, was die „Halbstarken“ von den auf sie folgenden Jugendkulturen unterschied: Ohne damit politische Ziele zu verfolgen,16 brachen sie in einem Gestus jugendlichen Provozierens als Störfaktor in die nach den Kriegsjahren mühsam wieder errichtete gesellschaftliche Ordnung ein.

16 Dazu nun auch Hüser 2015: 257-263, 268.

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Klang, Kleidung und Konsum Anmerkungen zur populärkulturellen Revolution in der Mode der 1960er Jahre in Großbritannien und Westdeutschland K ATJA M ARMETSCHKE

In der Mode war kaum ein Jahrzehnt bunter, schriller und wagemutiger als die 1960er Jahre: Die gestärkten Petticoats, geschnürten Mieder und adretten Hütchen der 1950er Jahre wurden aus dem Kleiderschrank verbannt und ersetzt durch einen Stil, der sich vor Experimentierfreudigkeit geradezu überschlug und sich wenig um bisherige Kleidungs- und Gesellschaftskonventionen scherte: Frauen trugen Hosenanzüge, transparente Oberteile, Miniröcke aus Latex, locker schwingende Hängekleidchen und ließen sich die Haare zu einem frechen Kurzhaarschnitt frisieren. Männer ließen ihre Haarpracht wachsen, trugen Hemden mit psychedelischen Mustern, Mutige schreckten auch vor geblümten Rüschenblusen nicht zurück.1 Die neuen Formen, Farben und Materialien waren ein unübersehbares Signal der Aufbruchsstimmung einer jungen Generation, die ihre Leitbilder in der internationalen Musik- und Filmszene fand und über Mode und Musik einen Lebensstil propagierte, den ihre Eltern oft als Provokation empfanden. Dieses modische Aufbegehren hatte seine Vorläufer in den 1950er Jahren, als – parallel mit dem Aufkommen jugendlicher Subkulturen – erste Ansätze einer eigenständigen Jugendmode entstanden, wie z.B. in England der New Edwardian Style der Teddy Boys oder in Westdeutschland die Kluft der „Halbstarken“ (Loschek 1995: 233f.). Die eigentliche Revolution in der Modewelt vollzog sich dann in den 1960er Jahren, als die Jugend endgültig die Vorherrschaft in Stilfragen übernahm. Dieses youthquake in der Mode ist durch eine

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Inzwischen gibt es eine kaum überschaubare Anzahl von Bildbänden über die Mode der 1960er Jahre. Vgl. z.B. Connikie 1990, Lester 2009, Lobenthal 1990 sowie für die deutsche Modeszene Rasche 2010.

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Reihe von Merkmalen gekennzeichnet: Erstmals wurden Modetrends nicht mehr von den Designern der Haute Couture diktiert, sondern von den Jugendlichen auf der Straße kreiert. Statt Paris wurde London und hier insbesondere die vibrierende Designerszene in der Carnaby Street zum Mode-Mekka, in das Jugendliche aus ganz Europa pilgerten. Zweitens veränderte sich mit dem beginnenden Massenkonsum und der erhöhten Kaufkraft auch die Zugänglichkeit von Mode. Sie war kein exklusives Luxusgut mehr, sondern ein alltagstaugliches Massengut, das sich dank des gestiegenen Wohlstandes breitere Bevölkerungsschichten und vor allem auch junge Leute leisten konnten. Drittens – und eng mit dem gerade genannten Punkt zusammenhängend – revolutionierte die einsetzende Massenproduktion die Vertriebskanäle von Mode: Während die Haute Couture einem elitären Kreis von Privatkunden und ausgewählten Kaufhäusern vorbehalten war, bauten die jungen Designer der 1960er Jahre rasch ihr eigenes Verkaufsnetz auf. Zudem sorgten die industrielle Kleidungsproduktion sowie der Boom des Einzel- und Versandhandels dafür, dass auch Jugendliche aus der Provinz sich dem neuesten Trend entsprechend einkleiden konnten. Der vierte Umbruch auf dem Modesektor betraf schließlich die medialen Vermittlungswege. Modeschauen, Zeitschriften und Filme spielten bereits seit der Zwischenkriegszeit eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Kreationen aus Pariser Ateliers. Die Jugendlichen der 1960er Jahre orientierten sich jedoch an anderen Vorbildern: Ihre Idole waren die neuen Stars der Film- und Musikbranche, die – mit tatkräftiger Unterstützung der aufstrebenden Unterhaltungsindustrie – über die in nunmehr fast jedem Haushalt vorhandenen Radio- und Fernsehgeräte in den privaten Mikrokosmos Einzug hielten. Mode und Musik bildeten in der Lebenswelt Jugendlicher eine geradezu unauflösbare populärkulturelle Synthese, sie wurden zum wichtigsten Ausdrucksmittel generationeller Abgrenzung und teilweise provozierender Bekräftigung von Eigenständigkeit. Cum grano salis lassen sich diese Grundstrukturen der Moderevolution der 1960er auf viele westeuropäische Länder übertragen. Die generellen Parallelen in den demographischen und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinsichtlich der Verbreitungs- und Vermittlungswege von Mode in den 1960er Jahren durchaus länderspezifische Unterschiede existierten. Ebenso lohnt es sich, den Blick auf nationalkulturelle Gemeinsamkeiten und Differenzen zu lenken, die sich in der gesellschaftlichen Aufnahme neuer Modetrends erkennen lassen, da diese in jedem Land auf ein politisch-kulturell unterschiedlich geformtes Rezeptionsterrain stießen. Im Folgenden wird versucht, am Beispiel der englischen Mod-Bewegung, die als Keimzelle der populärkulturellen Revolution der mid-sixties gilt, aus einer vergleichs-, transfer- und verflechtungeschichtlichen Perspektive die Entstehungs-,

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Verbreitungs- und Vermittlungsmechanismen jugendlicher Mode der 1960er Jahre in Großbritannien und der Bundesrepublik zu skizzieren.

M ODS

IN

E NGLAND : M ODE , M USIK

UND

M OTORROLLER

Die bedeutendste und inzwischen wohl auch am besten dokumentierte Jugendkultur der Swinging Sixties in London waren die Mods2, eine Bewegung, in der sich erstmals die Verquickung von Jugend- und Konsumkultur, von subkultureller Stilbildung und kommerzieller Vermarktung zeigt. Die Genese dieser Bewegung verdeutlicht aber auch, mit welcher Selbstverständlichkeit britische Jugendliche schon zu Beginn der 1960er Jahre Anleihen in der Konsum- und Populärkultur anderer westeuropäischer Länder unternahmen, um ihren individuellen Kleidungsstil zu kreieren. Der Stil der Mods wurde gleichermaßen von amerikanischen und europäischen Einflüssen geprägt (Jenß 2007: 56ff.). Der wichtigste transatlantische Impuls ging von den Musikern des Modern Jazz aus, von dem sich auch der Name der Bewegung (Mod für Modernist) ableitet und der seit Mitte der 1950er Jahre in Londoner Clubs rezipiert wurde (Rawlings 2000: 11ff.). Die schnittigen Anzüge, wie sie z.B. die Mitglieder des Modern Jazz Quartett trugen, entsprachen dem Ivy-League-Stil amerikanischer Elite-Universitäten: Figurbetonte graue Anzüge, kombiniert mit einer schräg gestreiften Krawatte, einem weißen ButtonDown-Hemd, vorzugsweise der Marke Brooks Brothers, und Oxford-Schuhen. Eine bedeutende europäische Inspirationsquelle für den Mod-Stil war die italienische Herrenmode der 1950er Jahre, die über italienische, amerikanische oder französische Filme rezipiert wurde, die in einem italienischen Setting gedreht wurden, wie z.B. der Film Roman Holiday (1953) mit Gregory Peck und Audrey Hepburn oder La Dolce Vita (1960) mit Marcello Mastroianni. Der Italian-Style, der von Modedesignern wie Brioni kreiert wurde und dann Mitte der 1950er sei-

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Vgl. zu den Mods Barnes 1991, Rawlings 2000, Lentz 2002, Hewitt/Baxter 2012, Anderson 2013 und Weight 2013. Die Mehrzahl der Veröffentlichungen (einschließlich der gerade genannten) sind reich bebilderte, teilweise aus der Insider-Perspektive geschriebene Dokumentationen, nicht aber wissenschaftliche Untersuchungen. Die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Mods fand im Umfeld des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies in den 1970er Jahren statt, vgl. Clarke 1981, Hebdige 1981. Eine prägnante und fundierte Einführung zu den Mods der 1960er, die sich kritisch mit den älteren Arbeiten zur Subkulturforschung auseinandersetzt, bietet Jenß 2007: 49ff.

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nen Weg in die Londoner Geschäfte fand, bestand aus einem kurzen, eng anliegenden Sakko mit drei Schließknöpfen und einem schmalen Revers. Dazu wurden Hosen getragen, die nur knapp die Knöchel berührten. Die körperbetonte Silhouette des amerikanischen College-Stils und der italienischen Herrenmode wurden zum Markenzeichen der Mods. In der Freizeitmode dominierte der casual look, ebenfalls eine Mischung aus italienischen und amerikanischen Elementen: Eng anliegende Strickpullover mit V-Ausschnitt oder Rollkragen wurden zusammen mit leger geschnittenen Stoffhosen getragen. Oft wurden auch Anzüge mit Freizeitkleidung kombiniert, wenn etwa Rollkragenpullover oder Poloshirts unter Jacketts getragen wurden. Auch die Frisur musste stimmen: Statt geölter Haartollen wie bei den Teds sollten die Haare ordentlich gescheitelt, trocken und kurz aussehen, als Vorbild diente die Frisur amerikanischer CollegeStudenten oder J.F. Kennedys. Später begannen die Mods auch, durch Toupieren ihren Hinterkopf zu betonen. Das unverzichtbare Fortbewegungsmittel der Mods war der Motorroller, der alsbald zum Symbol ihrer Bewegung wurde. Ihre Scooter der italienischen Marken Vespa und Lambretta pflegten und verschönerten die Mods mit großer Hingabe. Wichtigstes Accessoire waren chromblitzende Scheinwerfer und Spiegel, die manchmal gleich im Dutzend den Lenker verzierten (Rawlings 2000: 129157). Der Roller spielte auch eine wichtige Rolle in der Ausweitung der ModBewegung vom städtischen in den ländlichen Raum, da die Mods mit ihren Cliquen am Wochenende oft Ausflüge in die südenglischen Seebäder unternahmen. Hier trafen sie auf ihre „Erzfeinde“, die Rocker, mit denen sie sich teilweise gewaltsame Auseinandersetzungen lieferten, wie z.B. Ostern 1964 im Küstenort Brighton.3 Für die kälteren Tage und zum Schutz der teuren Kleidung auf dem Scooter war der Parka ein must have, am liebsten das Originalmodell M51 der US-Armee mit herausnehmbarem Innenfutter und fellbesetzter Kapuze. Die Vorbilder für diesen neuen Bekleidungsstil waren die Stars der boomenden britischen Musikszene, die sich auf Plattencovern, Titelseiten und Plakaten von Kopf bis Fuß im Mod-Look präsentierten. Eric Clapton absolvierte Mitte der 1960er Jahre seine regelmäßigen Konzerte im bekannten The Scene Club in Soho komplett im Ivy-League-Stil. Bei öffentlichen Auftritten von angesagten Bands wie The Who oder The Small Faces studierten Fans jedes Kleidungsdetail. Ihrer Rolle als Trendsetter waren sich die Musiker durchaus bewusst, einige

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Diese Auseinandersetzungen wurden nicht zuletzt durch die reißerische Berichterstattung in den Medien angeheizt, die aus der Frage „Are you a mod or a rocker?“ geradezu einen Glaubenskrieg machten. Dazu knapp Jenß 2007: 108f., ausführlicher Cohen 2002 und Ullmaier 2002.

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Gruppen wurden von ihrem Management sogar zu Shoppingtouren verpflichtet und bekamen Stylisten an die Seite gestellt.4 Mode und Musik verquickten sich für Mods zu einer Einheit, mit der sie optisch und akustisch ihrem Lebensgefühl Ausdruck verliehen. Wichtiger als der neue, von Kopf bis Fuß sorgsam ausgewählte Look war aber die Lässigkeit, mit der er zur Schau gestellt wurde. Mods verstanden sich als Avantgarde eines neuen, bis ins Detail gestalteten und perfektionierten Stils, den sie mit viel Selbstbewusstsein und bisweilen Arroganz in Szene setzten. Ihr Leben spielte sich in Modeboutiquen, Plattenläden und Clubs ab, sie praktizierten einen schnellen, partyorientierten und äußerst konsumfreudigen Lebensstil, zu dem auch regelmäßiger Drogenkonsum gehörte (Rawlings 2000: 84ff.). Kleidung spielte dabei die zentrale Rolle, sie wurde zum identitätsstiftenden Angelpunkt. Das Marken- und Qualitätsbewusstsein der Mods nahm bisweilen obsessive Züge an: Die bevorzugte Marke für Polohemden war Fred Perry, das Sakko musste aus Mohair sein, die Krawatte wurde beim Herrenausstatter Peckham Rye erstanden und an den Füßen trug man natürlich die Desert Boots von Clarks (Hewitt/Baxter 2012). Diesen relativ uniformen Stil individualisierten viele Mods durch kleine Änderungen und Ergänzungen ihrer Garderobe. Scheinbare Details wie die Anordnung der Taschen im Jackett oder die Anzahl, die Reihung oder das Aussehen von Knöpfen hatten für die Mods eine enorme Bedeutung, in ihrem Kosmos bildeten sie wichtige Kennzeichen sozialer Distinktion (Jenß 2007: 65). Im Vergleich zu den Rockern oder später den Hippies war der Kleidungsstil der Mods unauffällig und moderat, sie sahen gepflegt und elegant aus. Ihre Kleidung vermittelte eine Anpassung an die Mittelschicht, ermöglicht durch die Produkte der Konsumgesellschaft, in der sogar der Anzug als einstiges Symbol bürgerlicher Distinktion zur Massenware wurde. Gleichzeitig – und dies verstörte die Zeitgenossen zutiefst – konterkarierten sie mit ihrem Lebensstil die Erwartungen, die mit diesem Äußeren verbunden waren: Eitelkeit, Arroganz, Faulheit waren in der Welt der Mods keine negativen Eigenschaften, Familie, Arbeit, Ausbildung waren nachrangig, Mode, Musik und Konsum hingegen Lebensinhalt. In dieser Verquickung – also der äußerlichen Adaption an die bürgerlichnormale Lebenswelt und der gelebten Pervertierung ihrer Wertvorstellungen – kann man einerseits das subversive-rebellische Element der Mod-Bewegung se-

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The Who wurde von ihrem Manager Kit Lambert zu teuren wöchentlichen Einkäufen in der Carnaby Street angehalten. Obligatorisch war auch der vierzehntägige und mindestens dreistündige Friseurbesuch (Wheen 1982: 24). Zur professionellen Stilberatung der Gruppe vgl. auch Jenß 2007: 111.

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hen. Andererseits lässt sich vorbringen, dass es den Mods nur durch ihr moderates Erscheinungsbild möglich war, sogenannten ordentlichen Berufen nachzugehen, mit denen sie sich die finanziellen Ressourcen für ihre Konsum- und Freizeitaktivitäten sichern konnten. In dieser Lesart stehen die Mods symptomatisch für die Entwicklung der neuen Konsumgesellschaft, die jeden Teilnehmer vor die Aufgabe stellt, aus der Vielfalt des Angebots heraus seine individuelle Einmaligkeit zu kreieren. Die Bekleidungspraktik der Mods ist damit der Versuch, der Uniformität als einer Begleiterscheinung des Massenkonsums zu entkommen und durch verschiedene Bricolagetechniken und Alteration konventioneller Konsumwaren einen eigenen, unverwechselbaren Stil zu schaffen. Der Mod-Stil ist somit nicht als Ausdruck von Parodie auf oder Widerstand gegen die Konsumgesellschaft zu werten; er ist vielmehr die mit einiger Überheblichkeit gepaarte Bejahung der vielfältigen Konsummöglichkeiten, die sich jungen Briten Mitte der 1960er boten (Jenß 2007: 81ff.). Unabhängig davon, ob man nun die Mod-Bewegung als subversive Rebellion gegen bürgerliche Werte oder als offensiven Versuch jugendlicher Identitätsbestimmung in der Konsumwelt definiert – in der Mod-Bewegung kam es zum ersten Mal zu einem Amalgam von Jugend- und Konsumkultur, von Subkultur und Kommerz, das die Strukturen der Vermittlung und Verbreitung von Mode revolutionierte. Die erste Neuerung war die rasante Verbreitung des Mod-Stils durch seine massenmediale Vermittlung. Es kam zu einem erstaunlich schnellen Ineinandergreifen aller Rädchen der gerade aufblühenden Konsum- und Unterhaltungsindustrie (Hüser 2006: 197). Plattenlabels, Modeschöpfer, Filmausstatter, Pop- und Filmstars, spezielle Zeitschriften-, Radio- und Fernsehformate waren eng miteinander vernetzte Vektoren für die Diffusion der Mod-Mode. In Großbritannien war die Sendung Ready Steady Go! ohne Zweifel das wichtigste Massenmedium für die Verbreitung des Mod-Stils. Sie lief von August 1963 bis Dezember 1966 im Vorabendprogramm des britischen Fernsehens, wo die beiden Moderatoren Keith Fordyce und Cathy McGowan unter dem Motto The weekend starts here jeden Freitag neue Musik, Mode und Tanzstile präsentierten. Die Studioauftritte bekannter Bands, von denen viele ihr Kameradebüt feierten, die Live-Kulisse mit tanzenden Teenagern und die unkonventionelle Machart ließ die Sendung zu einem Riesenerfolg werden (Jenß 2007: 111; Rawlings 2000: 126). Zu Stars wurden auch ihre Moderatoren, vor allem Cathy McGowan, die aufgrund ihrer modischen Outfits bald als Queen of Mod galt. Ihre Stilikonen fanden Jugendliche ebenfalls in der Fernsehserie The Avengers, in der Diane Rigg als Agentin Emma Peel im hautengen Catsuit ermittelte und ihre Fälle in Designerkleidung löste (Metzger 2011: 228-234). Auf dem Markt der Printmedien boomten Zeit-

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schriften. Anfang 1964 gab es rund fünf Magazine, die sich an Mods als modeinteressierte und konsumfreudige Adressatengruppe wandten (Wheen 1982: 29). Ein wichtiges Erkennungszeichen der Mod-Kultur, das wie eine verbindende Klammer die Ausweitung des Mod-Stils im Musik- und Modemarkt zusammenhielt, war das Target-Emblem. Das blau-weiß-rote Kreismotiv verzierte T-Shirts, es tauchte auf Plattencovern und Titelseiten auf und wurde gezielt in der Werbung eingesetzt.5 Die massenmediale Verbreitung eines Modestils ist eine Voraussetzung für seine gesellschaftliche Durchsetzung – seine tatsächliche Verfügbarkeit eine andere. Auch in diesem Bereich wurden im London der Swinging Sixties mit der Eröffnung von Boutiquen Neuland betreten. Bekanntestes Beispiel ist der Bazaar, das Modegeschäft der Minirock-Erfinderin Mary Quant (Quant 2012). Sie eröffnete 1955 im Alter von gerade einmal 21 Jahren auf der King’s Road im Stadtteil Chelsea die erste Boutique, die sich gezielt auf die neue, junge Käuferschicht konzentrierte und ein zu dieser Zeit revolutionäres Verkaufskonzept hatte. Ihre Mode wurde zusammen mit Accessoires (wie Schmuck, Taschen, Kosmetik) verkauft, die jungen Kunden konnten sich in dem bunten Angebot selbst umsehen, alles anfassen, stöbern und anprobieren. Einkaufen diente nicht mehr dem schnöden Warenerwerb, sondern wurde zu einem event, zu einer populären Freizeitaktivität. Statt älterer Verkäuferinnen halfen nun junge Mädchen bei der Auswahl, die selbst Repräsentantinnen des neuen Modestils waren. Quant war – wie auch andere junge Designer ihrer Generation6 – äußerst geschäftstüchtig und nahm die Massenverbreitung ihrer Mode selbst in die Hand. Bereits 1963 begann sie mit ihrer Ginger Group Production ihre Mode nach Westeuropa zu exportieren und ein Netz von Ladenketten zu eröffnen. Kurz nachdem die Beatles auf ihrer US-Tour die amerikanischen Teenager eroberte hatten, ging sie 1965 mit dem Minirock auf Amerika-Tournee und ließ ihre Models zu britischer Popmu-

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Am Beispiel des Target lässt sich auch das Zusammenspiel von Mode und Pop-Art erkennen. Durch seine millionenfache Reproduktion wurde das Motiv ein Stück vergänglicher, kommerzialisierter, aber für jedermann zugänglicher Alltagskultur – und entsprach damit den Kunstvorstellungen der Pop-Art-Künstler der 1960er Jahre. Vgl. zur Verbindung von Mode und Kunst in dieser Zeit Jenß 2007: 115ff. sowie Friedl 2001.

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Dies gilt vor allem für die Modemacherin Barbara Hulanicki, die als erste den Versandhandel als Vertriebskanal für junge Mode entdeckt hatte. Mit ihrer 1963 gegründeten „Biba Postal Boutique“ versorgte sie Jugendliche in ganz England mit den neuesten Kleidungsstücken. 1964 eröffnete sie ihre erste Boutique in Kensington (Lobenthal 1990: 18ff.).

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sik über den Laufsteg tanzen. Als Kooperationspartner in den USA diente ihr die Modekette JC Penney, die mit über 1.700 Filialen den Minirock unter die amerikanischen Teenager brachte. In London eröffnete als Äquivalent zu der Damenboutique von Quant kurze Zeit später auf der King’s Road die erste Herrenboutique. Rasch folgten Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre weitere Boutiquengründungen, die so illustre Namen trugen wie Countdown, Blast Off, Let it Rock, Too Fast to Live, Too Young to Die oder Top Gear (Lester 2010). Vor allem die Carnaby Street wurde zur international bekannten Shoppingmeile. Am Wochenende drängten sich dort Tausende von Teenagern, um in den Geschäften einzukaufen, in denen sich nach Ladenschluss ihre Idole aus der Musikbranche einkleideten. Für die internationale Verbreitung des neuen Stils spielte die Pariser Haute Couture eine große Rolle. Während einige alteingesessene Pariser Modehäuser wie Givenchy, Dior und Chanel die Londoner Szene geflissentlich ignorierten, griff eine Riege jüngerer Designer umgehend die neuen Impulse auf. Zu ihr zählte Yves Saint Laurent (1936-2008), der 1961 bei Christian Dior kündigte, um seine eigene Modemarke zu gründen. Getreu seinem Credo „Nieder mit dem Ritz, es lebe die Straße“ entstaubte und verjüngte er mit seinen Entwürfen die Modewelt. 1965 lancierte er einen Coup mit seiner Pop-Art-Kollektion, die farbenfrohe, geometrisch gemusterte Jersey-Kostüme im Stil Piet Mondrians zeigte. In seiner Winterkollektion 1966/67 integrierte er dann die zeitgenössische Kunst in seine Kleider, indem er auf seinen Kleidern Silhouetten von Frauenprofilen zeigte, die an die Arbeiten des amerikanischen Künstlers Tom Wesselmann erinnerten. Revolutionär waren jedoch nicht nur seine Kreationen, sondern auch das Vertriebskonzept seiner Mode. Als erstes Haus der Haute Couture entwickelte er eine Prêt-à-Porter-Kollektion, die er in eigenen Boutiquen anbot und damit einer neuen Käuferschicht zugänglich machte. Der zweite große Pariser Modeschöpfer dieser Zeit war André Courrèges (1923-2016), der ebenfalls 1961 sein eigenes Atelier eröffnete und den Minirock in die Haute Couture einführte. Bekannt wurde er vor allem 1964 durch den Space-Look. Courrèges’ Begeisterung für die neuen technischen Möglichkeiten schlug sich auch in der Verwendung von Materialien wie Metall und Plastik nieder, die bis zu diesem Zeitpunkt nie in der Mode verwendet worden waren.7 Obwohl die Keimzelle der neuen Jugendmode eindeutig London war, beund verstärkte die Pariser Haute Couture die Fortentwicklung des neuen Modetrends. Sie wurde dank ihrer engen Verflechtung mit der Film- und Musikindust-

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Vgl. zum Aufbruch in der Pariser Haute Couture Lobenthal 1990: 41ff. sowie reich illustriert Reed 2012.

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rie auch bald zum wichtigsten Vektor der medialen Ausbreitung: Yves Saint Laurent schuf für Catherine Deneuve in Belle de Jour (1967) die Kostüme, Paco Rabanne stattete Jane Fonda in dem Science-Fiction-Film Barbarella (1968) aus, Pierre Cardin entwarf 1963 die kragenlosen Anzüge für die Beatles. Der Minirock hatte spätestens im Jahr 1962 die Weihen der Haute Couture erhalten, als die britische Vogue eine Serie über die Kollektion Mary Quants veröffentlichte. Kurzum: Die Verbreitung der jungen Mode erfolgte unter Einbeziehung aller Kanäle der neuen Konsum- und Medienkultur der 1960er Jahre. Maßgeblicher Impulsgeber in diesem Prozess war zweifelsohne die Mod-Bewegung, deren Stilelemente aber aufgegriffen, verändert und weiterverarbeitet wurden. Besonders anschaulich zeigt sich die Ausweitung und Ausdifferenzierung des ModStils am Beispiel des Minirocks. Ursprünglich waren Mod-Mädchen wie männliche Mods gekleidet (Jenß 2007: 72ff.). Erst mit dem Minirock hatten sie „ihr“ Kleidungsstück entdeckt, das zwar nichts mehr mit den Anfängen weiblicher Mod-Mode zu tun hatte, aber dennoch eindeutig dem Mod-Stil zugerechnet wurde, wie es die Charakterisierung von Cathy McGowan, einer passionierten Minirock-Trägerin, als Queen of Mod zeigt. Zwischen Subkultur, Modebranche und Musikmarkt bestand ein komplex verästeltes System, das verdeutlicht, dass man im Fall der Mod-Bewegung gerade nicht von einem Widerspruch zwischen Subkultur und Kommerz oder einer Trennung zwischen Avantgarde und Mainstream sprechen kann. Vielmehr handelte es sich um eine von allen Akteuren überaus erwünschte und eifrig beförderte Synthese, die einer breiten Masse von Jugendlichen Zugang zu neuer Mode und Musik verschaffte und zugleich genug Freiraum für individuelle Ausgestaltungen ließ.8

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In diese Richtung geht auch die Argumentation von Feldman 2009, 32ff. und Jenß 2007: 110ff. Anders sehen es die frühen Arbeiten aus dem Umfeld des Birminghamer CCCS, die von einem Gegensatz zwischen widerspenstigen Subkulturen und kommerziellen Interessen ausgehen und betonen, dass Subkulturen durch ihre mediale und wirtschaftliche Vermarktung zu einem bedeutungslosen Massenphänomen würden, das seines authentischen Stils und subversiven Gehalts beraubt sei (Clarke 1981 und Hebdige 1981).

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„T WEED

B EAT “: P OPULÄRE A NEIGNUNGSKANÄLE , KOMMERZIELLE V ERBREITUNG UND GESELLSCHAFTLICHE R EZEPTION BRITISCHER M USIK UND M ODE AND

In der Bundesrepublik hatte sich in den 1960er Jahren keine mit den Mods vergleichbare Jugendkultur entwickelt, auch die britische Mod-Mode war unter diesem Namen in Deutschland kaum bekannt.9 Zwar gab es gelegentlich Artikel über diese Jugendbewegung und deren Mode in Teenager-Zeitschriften wie OK und Musik Parade (Deibel 2012: 223f.), aber in der übrigen Presse reduzierte sich die Berichterstattung zumeist auf die gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Rockern und Mods an der südenglischen Küste.10 Ebenso selten findet sich der Begriff Mod in wissenschaftlicher Sekundärliteratur zur Beschreibung der westdeutschen Jugendkultur, die in der Regel auf Kategorisierungen wie Gammler, Hippies oder Rocker zurückgreift (Baacke 1972: 22). Ein Grund für diese kaum erfolgende, meist von negativen Schlagzeilen geprägte Rezeption war die Beatlemania, die ab 1963/64 die internationale Jugendkultur dominierte und in deren Schatten andere britische Jugendbewegungen kaum wahrgenommen wurden. Hinzu kam, dass sich die Beatles immer gegen die Zuordnung zu einer bestimmten Subkultur wehrten: Auf die 1964 von einem Reporter gestellte Frage: „Are you a Mod or a Rocker?“ antworteten sie geistreich: „We are mockers“ (Perone 2009: 1). In Deutschland diente fortan der Begriff Beat als Signum für alles, was an neuen modischen und musikalischen Impulsen über den Ärmelkanal schwappte (Feldman 2009: 72). Die „sprachlose Opposition“, als die die Beatbewegung charakterisiert wurde, war eine vergleichsweise unpolitische Protestbewegung, die nicht an radikale Umsturzbotschaften oder gesellschaftlich deviantes Verhalten gekoppelt war (Baacke 1972: 87ff., 112). Sehr wohl schufen aber die (von deutschen Jugendlichen häufig nur in Ansätzen verstandenen) Tex-

9

Zur westdeutschen Rezeption der Mod-Bewegung in den 1960er Jahren vgl. Feldman 2009: 65ff., die einige Ausnahmen nennt und darauf hinweist, dass die deutschen Exis als die „stylistic German cousins“ der britischen Mods gelten können. In der Tat gab es einige Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gruppen, wie etwa das gepflegte Erscheinungsbild sowie die Vorliebe für Motorroller, Modern Jazz, französische Filme und teure Mode. Allerdings fehlte den party- und konsumfreudigen Mods der intellektuelle Habitus, den die Exis bei philosophischen Diskussionen in verrauchten Kellerclubs kultivierten. Vgl. zu den Exis Krüger, H.-H. 1985.

10 Vgl. aber den Artikel „Halbstarke“ im Spiegel Nr. 20 (13.5.1964): 113f. oder die NDR-Sendung Panorama vom 8.6.1964, wo auch der unterschiedliche Mode- und Lebensstil von Mods und Rockern beschrieben wird.

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te und dynamischen Beatrhythmen Freiräume, die von Jugendlichen geradezu frenetisch erobert und mit individueller Bedeutung gefüllt wurden. Die semantische Offenheit des Beat, sein ungewöhnliches Klangbild und seine vornehmlich affektiven Bindungskräfte ließen ihn zum ersten massenkulturellen Jugendphänomen werden, zu einer Musik, die über Schicht- und Bildungsgrenzen hinweg Jugendliche in ihren Bann zog (Siegfried 2006: 242ff.) und somit zumindest aus der Sicht der älteren Generation ein beängstigendes Mobilisierungspotential hatte. Zwar gab es in Deutschland schon in den 1950er Jahren jugendliche Subkulturen (wie z.B. die „Halbstarken“) mit spezifischen Kleidungsstilen, aber diese Gruppen repräsentierten – trotz großer medialer Beachtung, die ihnen zuteil wurde – nur einen verschwindend geringen Prozentsatz der Jugend und blieben deutlich voneinander getrennt. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie die neue Beatwelle die Grenzen zwischen jugendlichen Subkulturen aufweichte und schließlich als Massenphänomen Jugendliche ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft begeisterte, liefert die Lehrzeit der Beatles Anfang der 1960er Jahre in Hamburg, wo die Band avantgardistische Stile verschiedener Sub- und Clubkulturen aufsog und ihr optisches Erscheinungsbild veränderte: Zeitgleich mit den Lederjacken legten sie ihre anfängliche Rock ’n’ Roll-Orientierung ab, zwei junge deutsche Kunststudenten verpassten ihnen einen vom französischen Exi-Stil inspirierten Haarschnitt, den berühmten Pilzkopf (Siegfried 2006: 219ff.). Ähnlich wie in Großbritannien verzahnten sich die Gewerke der neuen Medien- und Unterhaltungsbranche und trieben die massenmediale Verbreitung des Beat voran – von öffentlich-rechtlicher Seite allerdings mit großer Verzögerung und teilweise gebremster Schubkraft. Anfang der 1960er Jahre dominierte noch deutsche Schlagermusik die Programme der Hörfunkanstalten, so dass viele Jugendliche ihre Radios auf das deutschsprachige Programm von Radio Luxemburg, auf englische und amerikanische Soldatensender oder die kommerziellen Piratensender umstellten, um englischsprachige Songs zu hören. Erst unter dem Druck privatwirtschaftlicher Konkurrenz und erodierender Hörerzahlen stellten sich die deutschen Sendeanstalten 1964/65 stärker auf die Bedürfnisse der jungen Zielgruppe ein und spielten mehr angelsächsische Popmusik (Dussel 2006; Siegfried 2006: 319ff.). Noch später, dafür aber umso innovativer reagierte das deutsche Fernsehen auf die britische Beatwelle, als im September 1965 der von Radio Bremen produzierte Beat Club auf Sendung ging. In einem Live-Studio, wo mit gewagten Schnitten und Kameratechniken die Grenzen des technisch Machbaren ausgelotet wurden, luden Uschi Nerke und ihr Co-Moderator ausschließlich britische und amerikanische Künstler ein. Hier konnten Jugendliche vor dem heimischen Fernseher die Mode, Musik, Tanzstile, Haarschnitte aus

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Großbritannien eingehend studieren, die in einer lässigen Club-Atmosphäre präsentiert wurden.11 Flexibler als die staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten konnten sich die jugendspezifischen Printmedien auf den Durchbruch von Beatmusik und Beatmode einstellen. Die auflagenstarke Bravo registrierte in der ersten Hälfte der 1960er zwar die musikalischen Beben aus dem Londoner Epizentrum und schrieb regelmäßig darüber, warnte aber als Hüterin von Ordnung und Anstand ihre Leser stets vor Exzessen im Bereich von Kleidung und Kosmetik (Herrwerth 1997: 40ff.; Krüger, W. 1985; Maase 1992). Während am Anfang des Jahrzehnts noch Berichte über deutsche Schlager- und Filmstars im Mittelpunkt standen und (der auf Deutsch singende!) Cliff Richard als einziger britischer Popmusiker in den Bravo-Charts auftauchte, quollen ab 1965/66 die Hefte über mit Artikeln über die Beatles und Rolling Stones. Nahezu ruckartig hatte sich die Zeitschrift dem veränderten Geschmack ihrer Zielgruppe angepasst und organisierte mit großem Medienaufwand die Deutschland-Tourneen der beiden Bands. Statt Caterina Valente lieferte sie nun Diana Rigg als Starschnitt ins Haus, statt Rex Gildo konnten sich ihre Leser die Beatles in Lebensgröße an die Wand hängen.12 Besonders musikinteressierten Jugendlichen standen die Zeitschrift Musikparade und die zum Hamburger Club gehörenden Star-Club-News zur Verfügung, die etwas ältere und gebildetere Generation informierte sich in der Zeitschrift Twen (Siegfried 2006: 280ff.). Englischsprachige Jugendzeitschriften waren hingegen nur in größeren Städten zu finden. Zu den Kanälen der medialen Vermittlung gesellten sich die Orte des unmittelbaren Erlebens von Beatmusik. Dazu gehörte nicht nur der berühmte Hamburger Star-Club, der von seinem umtriebigen Gründer Manfred Weißleder bald zu einem Medienimperium ausgebaut wurde (Siegfried 2006: 209ff.), sondern auch die zahlreichen Beatkeller, die Mitte der 1960er Jahre wie die Pilze aus dem Boden schossen und teils britische, teils deutsche Nachahmergruppen einluden.13 Reisen in das sagenumwobene Swinging London konnten sich – trotz des gestiegenen Wohlstandes – indes nur wenige leisten (Schildt 2006). Die Mode, die im Taktschlag mit den neuen Rhythmen aus Großbritannien kam, war für viele Jugendliche ein zentrales Ausdrucksmittel der alltagskulturel-

11 Im Gegensatz zu ihrem britischen Pendant dauert die Sendung allerdings nur 30 Minuten und wurde einmal im Monat ausgestrahlt (Siegfried 2006: 332ff.). 12 Rex Gildo (1961), Caterina Valente (1963), Beatles (1965/66), Diane Rigg (1967/68). Vgl. Herrwerth 1997: 106. 13 Zu den lebensweltlichen Aneignungskanälen von Beatmusik Baacke 1972: 169ff. Eine Übersicht über die Beatszene findet sich in Klitsch 2001.

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len Aneignung des Beat. Bekleidungsindustrie und Einzelhandel reagierten schnell auf die veränderten Wünsche ihrer kaufkräftigen Klientel. Zwar gab es in Westdeutschland kein mit London vergleichbares Mode-Eldorado14 und auch inhabergeführte Boutiquen setzten sich nur in Großstädten durch, wie z.B. in Hamburg oder Düsseldorf, wo der Kaufmann Dolf Selbach 1966 die erste TwenBoutique eröffnete (Spiegel, 26.9.1966: 60ff.). Wichtigste Massenverteiler für die neue Mode waren die großen Kaufhäuser, die in eigens eingerichteten Beat Shops (Kaufhof), Twen-Boutiquen (Hettlage) oder Twen Shops (C&A) in großer Auswahl Mode für junge Leute anboten (Loschek 1995: 250). Die zweite wichtige Verkaufssäule war – ähnlich wie in Großbritannien15 – der expandierende Versandhandel. Mit dem Hermes-Post-Shop startete der Otto-Versand 1968 den ersten Boutique-Versand für Jugendliche in Deutschland, der den Minirock bis in die Provinz brachte. Der Tweed and Beat-Katalog ging mit einer Auflage von 400.000 Exemplaren an den Start, auf das Prinzip der sonst üblichen Sammelbestellung wurde verzichtet und gelockt wurde die junge Zielgruppe mit der Verlosung von Flugreisen nach London (Diekhot 1968). Der dritte Vertriebskanal waren Mode- und Schnittmusterzeitschriften. Bereits in den 1950er Jahren hatten Modezeitschriften begonnen, eigene Schneiderei-Ateliers einzurichten und ihren Heften Schnittmusterbögen beizugeben, so dass ihre Leserinnen die Modelle an der heimischen Nähmaschine anfertigen konnten. Marktführer war das 1949 von Aenne Burda gegründete Magazin Burda-Moden, von dem Mitte der 1960er Jahre über 1,9 Millionen Exemplare verkauft wurden (Loschek 1995: 189). Die Offenburger Verlegerin pflegte überdies enge Kontakte zu deutschen Modeschöpfern, von denen sich einige rasch auf die Umbrüche im Modemarkt einstellten. Der Berliner Couturier Uli Richter, der als „Botschafter der deutschen Mode“

14 Der Berliner Hausvogteiplatz, von dem aus die deutsche Mode in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert wurde, lag nach dem Krieg in Trümmern. Aufgrund der isolierten Lage Berlins hatte sich die Damenoberbekleidungsindustrie 1949 entschlossen, auf Düsseldorf als Handelsplatz auszuweichen. Dennoch konnte sich die Berliner Modebranche in den 1950er Jahren sehr gut behaupten und blieb einer der bedeutendsten (und international ausgerichteten) Industriezweige Westberlins. Mit dem Mauerbau verschlechterte sich die Lage der Berliner Modebetriebe indes radikal, da durch die Teilung die Produktionsbetriebe im Osten der Stadt von den Verkaufsstätten im Westen abgeschnitten waren. Vgl. zur Standortverlagerung in den 1950er Jahren „Jeschieht dem Westen recht“, in: Spiegel Nr. 2, 12.1.1950: 32; sowie zu regionalen Schwerpunkten der Branche nach dem Mauerbau Meier 1964: 18ff. 15 Allerdings war in Großbritannien die Initiative von einer jungen Modeschöpferin und nicht von einem bereits etablierten Versandhaus ausgegangen. Vgl. dazu Anm. 6.

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galt und dessen Entwürfe regelmäßig die Titelseiten der Burda-Moden schmückten, lancierte 1962 als erster in Deutschland eine preisgünstige Prêt-à-PorterKollektion mit klaren, modernen Schnitten (Waidenschlager 2007). Wesentlich radikaler interpretierte sein Kollege Heinz Oestergaard, der sich nach dem Krieg als Ausstatter der gehobenen Gesellschaft und deutscher Filmstars einen Namen gemacht hatte, die Zeichen der Zeit. 1967 verabschiedete er sich aus der elitären Welt der Haute Couture und heuerte beim Versandhaus Quelle an, um dann fast zwanzig Jahre lang „Mode für alle“ zu entwerfen (dies. 1992). Stärker noch als die Beatmusik, die hörbar (aber eben auch abschaltbar) aus den Radios, Fernsehern, Jugendzimmern und Clubs in die Öffentlichkeit drang, entfaltete die Mode eine unübersehbare gesellschaftliche Signalwirkung: Sie hielt Einzug auf den Schulhöfen, auf den Fluren der Verwaltung, an den familiären Esstisch und war als Massenphänomen längst nicht mehr auf Randgruppen oder bestimmte gesellschaftliche Schichten beschränkt. Das veränderte Konsumund Freizeitverhalten, das mit neuen Geschmacksausprägungen und Ansprüchen einherging, rüttelte heftig an den Grundfesten des Werte- und Normengerüstes der 1950er Jahre. Besonders in Deutschland hatten sich die Kriegstraumata, die materielle Not der Nachkriegsjahre und die vielfach als Schmach erlebte Besatzungszeit tief in das Gedächtnis der älteren Generation eingegraben, die nun mit großer Skepsis auf die Unbekümmertheit reagierte, mit der sich junge Menschen in der neuen Warenwelt bewegten und populärkulturelle Impulse aus dem Nachbarland aufgriffen (Schildt/Siegfried 2009: 255f.). Was für die einen aussah wie ein von der Konsum- und Unterhaltungsindustrie orchestrierter Angriff auf traditionelle Leitbilder und Anstandsnormen, war für die anderen ein selbstbestimmter Akt der Befreiung und eine hochwillkommene Bereicherung der Lebenswelt, durch die sich völlig neue, transnational weit geöffnete Horizonte erschlossen. Musikalische Vorbilder oder gar modische Stilikonen hatte die meist bravbiedere, manchmal vorsichtig-freche deutsche Schlagerwelt der frühen 1960er Jahre kaum zu bieten (Faulstich 2003), umso begieriger sogen westdeutsche Jugendliche nun alles auf, was jenseits der Grenzen präsentiert wurde. In den Diskussionen über die angemessene Rocklänge für Frauen und Haarlänge für Männer fanden diese intergenerationellen Kämpfe dann ihren konkreten Niederschlag (Siegfried 2006: 150ff., 388f.). Von vielen wurde die offenherzige Zurschaustellung von Weiblichkeit und das feminisierte Erscheinungsbild von Männern als schamlose Provokation und als ungehörige Aufweichung der Geschlechtergrenzen gewertet. In der Tat bot sich gerade jungen Frauen in den 1960er Jahren erstmalig die Gelegenheit, sich modisch endgültig aus der Backfisch-Phase zu schälen und über die nun reichlich vorhandene Auswahl an Kleidung und Kosmetika einen eigenständigen Stil zu kreieren, der nicht mehr im Nirgendwo

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zwischen Mädchen und Dame angesiedelt war, sondern sich an neuen Vorbildern wie Twiggy oder Jean Shrimpton orientierte. Ab wann Jugendmode dabei das Sittsamkeitsempfinden überschritt, wurde in jedem Land kontrovers ausgehandelt, wie es das Beispiel des Minirocks zeigt. So war es in Frankreich den weiblichen Angestellten des Senats im Juni 1967 kurzfristig untersagt, in dem Kleidungsstück zur Arbeit zu erscheinen; im Sommer des gleichen Jahres erstattete ein Tübinger Polizeibeamter Anzeige gegen zwei Schülerinnen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (die dann jedoch von der Staatsanwaltschaft abgewiesen wurde); in amerikanischen Gerichtssälen wurden Sichtblenden an den Geschworenenbänken angebracht und selbst der Vatikan bezog Stellung, als Claudia Cardinale am 6. Mai 1967 zu einer Audienz des Papstes Paul VI. in einer Mini-Soutane erschien: der Minirock entwerte die Weiblichkeit (Spiegel, 3.7.1967: 45). Auch im Geburtsland des Kleidungsstücks sorgte die beständig nach oben rutschende Saumlänge für Entrüstung: Als das britische Fernsehen der Moderatorin der Kult-Sendung Ready Steady Go! Auftritte in Minikleidern untersagen wollte, gründete diese kurz entschlossen den „Verein zur Erhaltung des Minirocks“ und demonstrierte auf der Straße (Lang/Schraml/Elster 2009: 13). Nach der kurzen, aber vehementen Abwehr kam es jedoch alsbald zur Akzeptanz und sogar Nachahmung dieses Modestils von „unten“ nach „oben“, die im britischen Fall sogar von der Straße bis ins Königshaus verlief: Mary Quant wurde 1966 für ihre Verdienste der Order of the British Empire verliehen. Selbstverständlich erschien sie zu der Feierlichkeit im Minirock. Selbst für die Mitglieder der könglichen Familie wurde ein Rocksaum mit einer Länge von maximal sieben Zentimetern über dem Knie erlaubt. Auch in Deutschland setzte sich der Minirock durch und wurde am Ende des Jahrzehnts mehr und mehr von erwachsenen Frauen getragen.16 Es war nicht so, dass der Minirock vom Skandal zur Norm wurde, aber seine weite Verbreitung führte doch zur allgemeinen Tolerierung, nicht zuletzt deshalb, weil in den jugenddominierten 1960er Jahren Erwachsene begannen, sich am Kleidungsstil der jüngeren Generation zu orientieren und ihn als modische Leitkultur zu akzeptieren. Die größere Akzeptanz des Minirocks liegt ferner darin begründet, dass sich mit den schrillen Modeexperimenten der 1960er Jahre, wie etwa dem Transparent-Look bei Blusen, für viele Erwachsenen die Grenzen des Hinnehmbaren immer weiter hinausschoben, ähnlich wie es in der Musik der Fall war: Im Vergleich zur britischen Skandalband The Who, die im März 1967 ihren ersten Auftritt im deutschen Fernsehen hatte, erschienen die Beatles mit ihren ordentlichen Anzügen und adretten Pilz-

16 1967 trugen nur 4% der unter 30jährigen Frauen Minirock, 1970 hatten ihn bereits 51% im Kleiderschrank hängen. Zu den Statistiken vgl. Siegfried 2006: 154.

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köpfen als geradezu brav (Schildt 2005: 88). Die Diskussionen um die Rocklänge bei Frauen und die Haarlänge bei Männer, um die neuen Tanz- und Musikstile, sind also nicht nur Indikatoren eines jugendlichen Wunsches nach mehr Lässigkeit und gesellschaftlicher Freiheit. Sie liefern auch Hinweise darauf – und dies zeigt sich in der relativ raschen Akzeptanz des Minirocks –, dass sich in einer breiteren Bevölkerungsschicht ein tiefgreifender Wertewandel abzuzeichnen begann, und zwar weg von der arbeitsbezogenen Pflichterfüllung hin zu einer freizeitorientierten Selbstentfaltung (Schildt 2001: 9). Die Aufgeregtheiten hatten sich schließlich auch gelegt, weil der Minirock zwar als eine optische Einforderung gesellschaftlicher Liberalität gedeutet wurde, aber seine Gegner ebenfalls schnell erkannt hatten, dass sich dieser Ruf nach mehr Freiheit fest in die Strukturen der Konsumgesellschaft einschrieb und das Kleidungsstück als solches keine explizite politische Botschaft transportierte. Es diente lediglich als Kristallisationspunkt tieferliegender gesellschaftlicher Konflikte und Veränderungsprozesse, die sich temporär und mit einiger Heftigkeit an ihm entluden.

T RANSNATIONALE R EZEPTION UND V ERNETZUNG : M OD ( E )-G ESCHICHTE DER 1960 ER ALS N EVER E NDING -S TORY Nachdem die Mods Mitte der 1960er Jahre noch als Inbegriff des Swinging London gegolten hatten, waren sie am Ende des Jahrzehnts fast von der Bildfläche verschwunden. Die aus den USA stammende Hippie-Bewegung hatte die ModKultur und ihren Stil in den Hintergrund gedrängt. Statt Minirock trug man Maxikleid, statt Parka Afghanenmantel, das weiße Hemd wurde durch das BatikShirt ersetzt, man ging in Second Hand-Shops statt in trendigen Boutiquen einkaufen. Einige Mods vollzogen diesen Wechsel hin zu den Hippies, andere wandten sich mit ihrem Mode-, Musik- und Tanzstil dem Northern Soul zu, wieder andere nahmen Abschied vom exzessiven Modekult und betonten nunmehr als Skinheads ihre Männlichkeit und Verbundenheit mit dem Arbeitermilieu (Feldman 2009: 37ff.). Zum ersten großen Mod-Revival kam es Ende der 1970er Jahre, ausgelöst durch Bands wie The Jam und insbesondere den Film Quadrophenia (1979), dessen Titel auf das gleichnamige Konzeptalbum von The Who aus dem Jahr 1973 zurückgeht. In dem Film, der am Beispiel des Jugendlichen Jimmy Cooper den Erfolg und das Scheitern der Mod-Bewegung erzählt, werden die Tanz-, Musik-, Lebens- und Konsumgewohnheiten der Mods zu einer stilgetreuen ästhetischen und musikalischen Narration verwoben, zu einem Mythos verdichtet,

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der Jugendlichen Identifikationspunkte und Projektionsflächen bot, die sie in der Gegenwart nicht fanden. Individuelle Geschmacks- und Stilfragen, etwa die Ablehnung der in den 1970er Jahren vorherrschenden Diskomusik und -mode, spielten dabei sicherlich eine Rolle. Bedeutsamer aber war, dass der Rekurs auf die Swinging Sixties den Blick auf eine im positiven Sinne „dynamische Zeit“ lenkte, auf eine Periode optimistischen Fortschrittsglaubens und wirtschaftlicher Prosperität, deren Glanz vor dem Hintergrund der krisengeschüttelten 1970er Jahre umso heller erstrahlte (Jenß 2007: 138ff.). Mode und Musik der Retrowelle, die von der Plattenindustrie kräftig angekurbelt wurde, ermöglichte jungen Menschen zumindest die optische und akustische Annäherung an das Lebensgefühl der mid-sixties. In Deutschland erfuhr der Stil des Mods erst mit dem Import des britischen Mod-Revivals eine stärkere Bekanntheit, seine Verbreitung erfolgte, ähnlich wie in Großbritannien, vor allem durch den Film Quadrophenia und Musikbands (Feldman 2009: 86ff.; Jenß 2007: 170ff.). In der ersten Hälfte der 1980er Jahre, also mit etwa drei bis fünf Jahren Verspätung im Vergleich zu England, begannen Jugendliche den Kleidungsstil der Mods zu imitieren, Parties zu organisieren und Mod-Bands zu gründen, über die in verschiedenen Jugend- und Stadtmagazinen berichtet wurde. Die Städte mit der dichtesten Mod-Konzentration waren Düsseldorf und Hamburg, aber insgesamt blieb die Bewegung auf lokale, recht geschlossene Kreise beschränkt, deren Reinszenierungen des Mode- und Musikgeschmacks der 1960er Jahre keine größere Öffentlichkeit erreichten. Stärkeren Zulauf erhielt die Retro-Bewegung im Rahmen der zweiten großen Rezeptionswelle, als – ebenfalls von Großbritannien ausgehend – Mitte der 1990er Jahre der Britpop aufkam und Bands wie Oasis, Radiohead und Coldplay sich auf die Tradition britischer Gitarrenmusik der 1960er Jahre besannen und sich auch modisch dieser Zeit annäherten. Ähnlich wie in Großbritannien geht es den Mitgliedern der (inzwischen auch in die early sixties oder late sixties ausdifferenzierten) Retro-Szene darum, über ihre Konsum- und Lebensgewohnheiten in die Welt der 1960er Jahre einzutauchen und einen möglichst authentischen sixties-Stil zu kreieren, der dann auf eigens organisierten Partys zelebriert und fachmännisch begutachtet wird (Jenß 2007). Die Retro-Bewegung bietet ihren Anhängern, die sich über das Internet austauschen und zu Treffen sogar oft bis ins benachbarte Ausland reisen, eine Nische, in der sie Individualität durch den anachronistischen Rückgriff auf die 1960er Jahre entfalten können. Der Zeitgebundenheit wechselnder, sich beständig erneuernder Modetrends wird ein bewusstes „Aus der Zeit fallen“ entgegengesetzt, dem Zwang zur Anpassung an neueste modische Trends ein Fundus von Bekleidungsstilen aus der Vergangenheit, der trotz aller Möglichkeiten kreativer

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Aneignung klar umgrenzt ist. Dass ausgerechnet die 1960er Jahre als Referenzsystem dienen, mögen Szene-Insider mit ihrer Faszination für die Mode und Musik dieser Zeit begründen, deren Relikte überdies in materieller und medialer Form relativ gut zugänglich sind. Fest steht aber auch, dass in den 1960er Jahren individuelle Distinktion über Konsumpraktiken erreicht wurde, die an keine explizite politische Botschaft gekoppelt waren und gerade deshalb diese Dekade offen ist für eine konsumorientierte, auf optische und akustische Ausdrucksformen der Populärkultur konzentrierte Anverwandlung von Identität. Insbesondere der Mod-Stil bietet sich aufgrund seiner starken (teilweise a posteriori konstruierten) Uniformisierung als Pol der Identitätsfindung an: Was die Mods trugen und hörten, wurde nachfolgenden Generationen nicht nur, aber doch maßgeblich durch den Film Quadrophenia vermittelt. Dem Bedarf an Informationen über den „authentischen“ Stil der Mods kommt auch der Buchmarkt nach, auf dem Bildbände und sogar Nachschlagewerke autoritatives Orientierungswissen über die Lebenswelt der Mods verbreiten (z.B. Hewitt/Baxter 2012). Was in den 1960ern „in“ war, wird überdies in diversen Internetseiten der Szene mit viel Sachkenntnis diskutiert, es werden Shopping- und Stylingtipps ausgetauscht, Hinweise auf Konzerte gegeben und Treffen vorbereitet.17 Wie bei den OriginalMods wird modischen Details große Bedeutung beigemessen, sie sind identitäre Unterscheidungsmerkmale und Ausweis von Expertentum. Nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit (Deibel 2012) sorgte erst die Retrowelle für eine stärkere Beachtung der Mod-Kultur als zentralem Element britischer Populärkultur der 1960er Jahre, das in seiner eigentlichen Blütephase neben den beiden Exportschlagern Minirock und Beatles im Ausland kaum wahrgenommen worden war. Der Blick auf die Sixties-Szene, die zwar klein ist, aber wissenschaftlich schon erstaunlich viel Beachtung gefunden hat,18 ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen zeigt sich, wie „lang“ die langen 1960er Jahre wirklich waren: Zumindest im Fall von Mode und Musik reicht ihre Rezeption und kreative Fortschreibung bis in die Gegenwart hinein. Zum anderen wird deutlich, dass die Aneignung von Geschichte auch über ihre populärkulturellen Ausdrucksformen erfolgen kann: Mode als optischer, Musik als akustischer und Ge-

17 Vgl.

dazu

die

englischsprachigen

Webseiten

www.modculture.org, www.

modyourspace.com sowie das Mod-Forum auf der deutschsprachigen Internetseite www.subcultures.de [2.4.2015]. 18 Vgl. die analytisch prägnante und quellengesättigte Dissertation von Jenß 2007, die solide, persönlich eingefärbte Dreiländer-Studie von Feldman 2009 sowie den internationalen Szene-Bericht von Deibel 2012.

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genstände als haptischer Zugang zu den 1960ern bauen sinnesbezogene, lebensweltlich unmittelbar relevante Verbindungen zur Vergangenheit auf, die das intellektuelle Quellenstudium kaum herzustellen vermag. Die hohe Mobilität, weite internationale Verbreitung19 und enge transnationale Vernetzung der SixtiesSzene geben ferner Hinweise auf einen weiteren, bisher vernachlässigten Aspekt von Populärkultur: Die in kleinen Gruppen zelebrierte Begeisterung für die Musik- und Modestile der 1960er erschließt – erleichtert durch die verbesserte Verkehrs- und Medieninfrastruktur – neue Kanäle grenzüberschreitender Kommunikation und persönlicher Begegnung.20 Sie bahnt einem Austausch den Weg, der nicht verständigungspolitisch motiviert ist, sondern sich über das gemeinsame Interesse an der Re-Inszenierung populärkultureller Produkte, Phänomene und Praktiken der 1960er Jahre definiert. Freilich galt dies in einer ungleich breitenwirksameren Dimension auch schon für die „Original“-1960er Jahre, als weltweit Millionen von Teenagern gebannt auf die Mode- und Musikszene in Großbritannien blickten und sich in vielen westlichen Staaten innerhalb der jüngeren Generation Konvergenzen in Geschmacks- und Stilfragen herausbildeten, die nicht nur über soziale, sondern auch nationale Grenzen hinwegreichten. Es wäre ein lohnenswertes Unterfangen, über die ländervergleichend-bilanzierende Betrachtung populärkultureller Transfer- und Einpassungsmechanismen hinaus den Blick einmal auf jene transnationalen Annäherungsprozesse und Austauschströme zu richten, die sich in der Populärkultur verankern und somit auf einer konsumorientierten, alltagsweltlichen Ebene Schneisen der Kommunikation zwischen zwei Länder schlagen.

Q UELLEN O.A.: Jeschieht dem Westen recht, in: Spiegel Nr. 2 (12.1.1950), S. 32. O.A.: Halbstarke. Gutes Gefühl, in: Spiegel Nr. 20 (13.5.1964), S. 113f. O.A.: Twen’s Shops. Endlich austoben, in: Spiegel Nr. 40 (29.9.1966), S. 60ff. O.A.: Mini-Rock: Halber Meter mehr, in: Spiegel Nr. 28 (3.7.1967), S. 45.

19 Deibel 2012 weist in über 30 Ländern Aktivitäten der Retrobewegung nach, deren Anhänger in Europa, Russland, Süd- und Mittelamerika (Chile, Argentinien, Costa Rica), im asiatischen Raum (Japan, Indonesien, Malaysia, Singapur) sowie in den USA und Kanada mit eigenen Szenen vertreten sind. 20 Dazu nun mit zahlreichen Fallstudien Hüser/Pfeil 2015.

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Mitreden

Populärkultur, Jugend und Demokratisierung Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg K ASPAR M AASE

Dieser Beitrag konzentriert sich auf Entwicklungen in Westdeutschland im Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Er geht dabei zwei Fragen nach, die für eine vergleichende Betrachtung populärkultureller Transfers und ihrer Effekte in westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften von Bedeutung sind: Wie ist Demokratisierung in diesem Zusammenhang konzeptionell zu fassen? Inwiefern und auf welche spezifische Weise sind populäre Künste1 an solchen politischen Veränderungen beteiligt?

W AS

MACHTE P OPULÄRKULTUR POLITISCH UND AUF WELCHE W EISE ? In den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten wurde aus Deutschland ein anderes, in vieler Hinsicht besseres Land. Das gilt für den westlichen Teil nicht zuletzt, wenn man den Maßstab der Demokratie anlegt. Zeithistoriker bieten dafür im Wesentlichen zwei Erklärungsmodelle an – die einander freilich nicht ausschließen; vielmehr scheint gerade die Frage nach ihrer wechselseitigen Verflechtung wissenschaftlich fruchtbar (Kiessling/Rieger 2011: 9). Ein Modell betrachtet,

1

Den Überlegungen liegt ein Verständnis von moderner kommerzieller Populärkultur zugrunde, das die populären Künste oder Massenkünste ins Zentrum stellt (Maase 2013). Es geht also nicht um die im Rahmen sozialer und politischer Bewegungen entstehende und eingreifende Kulturproduktion, von engagierten Liedermachern und Protestbands bis zu Straßentheater, schreibenden Arbeitern und sozialsatirischer Grafik à la Klaus Staeck.

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kurz gefasst, unter Stichworten wie Amerikanisierung und Westernisierung vorrangig Einflüsse von außen.2 Das andere geht unter Leitbegriffen wie Modernisierung, Liberalisierung, Partizipation von den ökonomischen und sozialen Veränderungen im Lande aus (Schildt/Sywottek 1993; Schildt/Siegfried/Lammers 2000; Herbert 2002). Im Zusammenhang dieses Bandes bietet sich als Startpunkt das erste Modell an. Dass die Aufnahme internationaler und insbesondere amerikanischer Populärkultur einen wichtigen Beitrag geleistet hat zur demokratischen Neuorientierung gegen starke restaurative Kräfte, ist inzwischen Teil des dominierenden historischen Narrativs der Bundesrepublik. Man denke etwa an die beinahe topisch gewordenen Formeln, mit denen sich Prominente der Nachkriegsgeneration an den amerikanischen Soldatensender AFN als „antiautoritären Ziehvater“ und „Gewinn der Nachkriegszeit“3 erinnern. Der Autor des vorliegenden Beitrags hat zu dieser Sicht beigetragen (Maase 1992; 1996; 2001); er sieht bisher auch keinen Anlass, sie grundlegend in Frage zu stellen – wohl aber, unangemessen schlichten Lesarten entgegenzutreten. Denn erfreulicherweise rufen solche zu fraglosem Wissen erstarrte Geschichtserzählungen Unbehagen hervor, und deshalb sollen im Folgenden zwei Aspekte erörtert werden. Erstens: Wie haben wir uns jene Veränderungen genauer vorzustellen, die mit der Aneignung von Populärkultur verbunden waren und heute als Beitrag zur Demokratisierung gelten? Wirkten Inhalte und Botschaften von Filmen und Popmusik? Ging es um Lebensgefühl, jugendliche Gruppenbildung, Ichstärkung, Körpererfahrungen? Zweitens: Ergaben sich die Veränderungen zwangsläufig, wenn Menschen auf bestimmte populäre Angebote trafen? Oder fungierten Rock ’n’ Roll, Jazz, Petticoats und tragbare Plattenspieler eher als Medien und Realsymbole, während die eigentliche Kraft aus Wünschen und Forderungen entsprang, die Aufbrüchen in anderen Feldern folgten, vom Le-

2

Vgl. exemplarisch Doering-Manteuffel 2000; 2011. Jarausch 2004: 160ff. enthält ein ganzes Kapitel zur „populären Amerikanisierung“ über Comics, Filme und Popmusik, das die damit verbundene „Herausbildung eines ‚zivilen Habitus‘ durch ‚Informalisierung‘“ als wichtigen Beitrag zur Abkehr vom antiwestlichen ‚deutschen Sonderweg‘ würdigt. Ohne auf Deutschland einzugehen, wird die westeuropäische „Kulturrevolution“ der 1960er Jahre mit ihren Demokratisierungseffekten und den populärkulturell zentrierten Jugend(-sub-)kulturen als dynamischer Kraft umfassend dargestellt bei Marwick 1998.

3

So der damalige Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau, Wolfram Schütte (Jg. 1939) 1993; zit. n. Rumpf 2013: 328. Zu Einfluss und Grenzen des Senders unter deutschen Hörern jetzt gründlich und nüchtern Schäfers 2014.

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bensstandard bis zum Wertewandel?4 Grundsätzlicher: Was machte Populärkultur eigentlich politisch und auf welche Weise?

P OPULÄRKULTUR , K ONSUM

UND

P OLITIK

Wie hat man sich den populärkulturellen Beitrag zur Demokratisierung konkreter vorzustellen? Den besten Ausgangs- und Referenzpunkt dazu bildet das Standardwerk zum Thema, Detlef Siegfrieds (2006) große Studie über „Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre“. Sie widerlegt die verbreitete Annahme, wonach steigender Wohlstand dazu führe, dass Kritik und gesellschaftliches Engagement in der Bevölkerung schwächer werden. Siegfried zeigt überzeugend, dass Erweiterung des privaten Konsums, größere subjektive Bedeutung der damit verbundenen Tätigkeiten und auch der Waren-Dinge selbst, dass schließlich – alltagssprachlich – wachsender Spaß am Erwerb und Genuss von Gebrauchsgütern keineswegs eine entpolitisierte Gesellschaft hervorbrachte, die konservativ das Bestehende feierte und verteidigte. Unter welchen konkreten Voraussetzungen nun konnte die Entwicklung seit den späten 1950er Jahren in die entgegengesetzte Richtung gehen? Von den vielen Faktoren, die Siegfried diskutiert, greife ich einige heraus. Ein zentraler Begriff bei ihm und anderen Autoren5 ist „Öffnung“. Höhere Konsumbudgets und ein sich vervielfältigendes Angebot eröffneten (bei wachsender Freizeit) damals wirklich umwerfende Möglichkeiten, Neues zu tun, Erträumtes zu verwirklichen und Anderes zu erleben. In den 1950er Jahren begann erstmals die Mehrheit der Bevölkerung dauerhaft und irreversibel jenseits der Schwelle von Not und Armut zu leben (Mooser 1985; Brock 1988); gemeinsam betrat ein Großteil der

4 5

Dazu jetzt sehr anregend Dietz/Neumaier/Rödder 2014. Zeitgleich hat Dietmar Hüser 2006, anschließend an Überlegungen von Anselm Doering-Manteuffel 1995 und Diethelm Prowe 2001, zu massenkulturellen Verhaltensmustern, die die westdeutsche Demokratie stabilisierten, einschlägige Effekte der vor allem aus den USA transferierten Populärkultur zusammengestellt. Sie habe Beiträge geliefert „für das Öffnen ungeahnter Horizonte, für zügig pluralisierte Lebenswelten und individualisierte Lebensstile, für rückläufige Pflicht- und steigende Selbstentfaltungswerte, für neue Formen öffentlicher Selbstinszenierung, für individuelles Aufbegehren gegen etablierte Autoritäten und Hierarchien, für modifizierte kulturelle Praktiken in vielen, lange mit moralischen Tabus bedachten Gesellschaftsfragen, auch für das endgültige Aufweichen eines bürgerlichen Negativdiskurses gegenüber populärkulturellen Ausdrucksformen“ (Hüser 2006: 203f.).

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Bürger – keineswegs so umfassend, wie die Rede vom Wirtschaftswunder es suggeriert, aber doch alltäglich, Schritt für Schritt erfahrbar – Neuland: die Gesellschaft des Massenkonsums (Haupt 2009). Dieses Neuland war Teil einer nachfaschistischen Gesellschaft, deren Strukturen – auch und gerade die Strukturen von Macht und Reichtum – in den 1950er Jahren noch nicht dauerhaft gefestigt schienen. Das Bürgertum versuchte zwar, den Nationalsozialismus als plebejische Massenherrschaft darzustellen, quasi als Invasion von außen, und damit die eigene Rolle bei der Zerstörung der Republik (Fritzsche 1999; Laser 2010; Bajohr/Wildt 2012; Schmiechen-Ackermann 2012) klein zu reden; sein Führungsanspruch war dennoch infolge der Beteiligung wichtiger Elitegruppen erheblich diskreditiert. Deswegen stand die Frage nach der Machtverteilung im neuen Staat wie in der Wirtschaft im Raum: Wie sollte sie sich vom Nationalsozialismus, aber auch von den Weimarer Verhältnissen unterscheiden? In diesem Rahmen erhielten Fragen von Konsum und Populärkultur eine politische Dimension: Wer hatte nach der Nazidiktatur ein Recht, den bescheidenen Wohlstand lohnabhängiger Familien moralisch zu be- oder gar zu verurteilen?6 Wer sollte in der neuen Demokratie bestimmen, was guter Geschmack und was vulgär-verrohende Massenkultur („Schmutz und Schund“) war (Saldern 2000; Maase 2007a): eine sich selbst für gebildet erklärende Minderheit oder die große Menge des Publikums? Beim Streit um Populärkultur ging es immer auch um Klassenbeziehungen und Führungsansprüche. Für die Wahrnehmung und Nutzung der eröffneten Optionen war schließlich wichtig: Im Alltag der meisten Familien setzte der Ausbau des gerade erreichten, noch faszinierenden Konsums große emotionale Energien frei (Wildt 1994; Andersen 1997). Gewiss: Man hatte Angst vor Krieg, gar vor einem Atomkrieg (Geyer 2001)7 – und das verdüsterte immer wieder die politische Stimmung. Doch beim Schaufensterbummel oder beim Blättern im Neckermann-Katalog waren Berlin- und Kubakrisen sehr fern. Dort ging es – relativ abstrakt – um globale Kriegsgefahr und die unsichere Weltlage; hier ging es sinnlich nah und greifbar um die erste Auslandsreise, die neue Wohnzimmergarnitur oder das flotte Moped. Emotional waren Alltag und „große Politik“ weithin getrennte Wel-

6

Vgl. dazu die eindrucksvolle Lokalstudie von Croon/Utermann 1958.

7

Die bei Umfragen ausgedrückte Distanz gegenüber Konsumorientierungen und Zweifel an der Stabilität des Wohlstandswachstums betont Siegfried 2011; auch DoeringManteuffel/Raphael 2010: 39 f. sehen Zukunftsgewissheit erst ab 1965 wirklich verbreitet.

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ten, und Krisenängste verstärkten in unterbürgerlichen Schichten eher die traditionelle Antwort auf Zukunftsungewissheit: das Heute zu genießen. Aus dieser Perspektive behandelte man private Konsumprojekte grundlegend als Vorhaben, bei denen es Schritt für Schritt vorangehen werde. Dazu trug ganz wesentlich eine politische Rahmenbedingung bei, die der Zeithistoriker Anselm Döring-Manteuffel für das Ergebnis US-amerikanischer Vorgaben hält: die spätestens seit dem Godesberger Parteitag 1959 auch SPD-offizielle Orientierung am „Konsenskapitalismus“ (Doering-Manteuffel 1999; Angster 2003). An dieser Verständigung auf einen sozial zu zähmenden Kapitalismus hatte die Systemkonkurrenz mit dem Realsozialismus direkt hinter der Grenze erheblichen Anteil. Sie erzeugte im Westen eine ausgeprägte sozialpolitische Sensibilität – und das hieß auch: Druckempfindlichkeit gegenüber Mehrheitsstimmungen. Zugeständnisse des konservativen Establishments gegenüber unerwünschten, aus heutiger Sicht demokratisierenden Veränderungen der Alltags- und Populärkultur sind in diesem Kontext zu sehen. Wenn jedenfalls Ludwig Erhard 1957 „Wohlstand für alle“ als Programm verkündete, dann gingen die meisten Westdeutschen davon aus, dass die Politik dieses Ziel wirklich anstrebte; und mit der Planungseuphorie der 1960er gab man sich auch gewiss, die Wirtschaft entsprechend „globalsteuern“ zu können (Frese/Paulus/Teppe 2003: 249ff.). Was „Wohlstand für alle“ damals bedeutete, können wir heute, nach Jahrzehnten der Deregulierung und Staatsverschlankung, auf neue Weise verstehen; denn die aktuelle Losung heißt: Wohlstand für alle Leistungsträger.8 Damals erlebten die Menschen, dass wirklich jede und jeder vom Aufstieg mitgenommen wurde (Kaelble 2014; Streeck 2013: bes. 44ff.). Die starken Worte, zu denen Zeitgenossen wie Historiker griffen, scheinen (im Rückblick aus dem Jahr 2015!) ausnahmsweise berechtigt: Wirtschaftswunder, trentes glorieuses, Golden Age. Der Kern des vorstehenden Arguments lautet: Zukunftsvertrauen – soziale Sicherheit in einem weiten Sinn – ist eine gute Voraussetzung für das, was Detlef Siegfried „Öffnung“ nennt: für die Bereitschaft, auf einzelnen Feldern der Lebensweise Neues zu erproben und auch Experimente zu riskieren. Das galt und gilt ganz besonders für die große Mehrheit, die oft so genannten „einfachen

8

Doering-Manteuffel/Raphael 2011: 30 sprechen für die vergangenen Jahrzehnte von der „Wirkung eines makroökonomischen Prinzips – man könnte auch sagen: einer Wirtschaftsideologie – […], die es nicht zulassen will, dass einzelnen Menschen oder bestimmten Personengruppen im Sozialstaat durch politische Maßnahmen im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses das Gefühl der Zukunftssicherheit als Lohn für lebenslange Arbeit gegeben wird“.

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Leute“, und das fing schon beim ebenso legendären wie heute verlachten „hybriden“ Toast Hawaii an: Fleisch mit Käse, Kirsche und Ananas – wer hatte denn jemals an sowas gedacht!? Dass Angehörige der jungen Generation am neugierigsten waren und am weitesten gingen, um unbekannte Erlebnisse und Genüsse auszuprobieren und auf Dauer zu stellen, hatte geradezu etwas Zwangsläufiges. Auch deshalb empfiehlt es sich aus alltagshistorischer Perspektive, die Nutzung von Populärkultur im engeren Sinn, also von Massenkünsten und Massenvergnügungen, nicht allzu scharf zu trennen vom sonstigen Konsum, der die populäre Kultur im Sinne von Raymond Williams’ (1972: 280) „umfassender Lebensweise (whole way of life)“ durchzieht. Wenn man etwa an die Unverzichtbarkeit der „materiellen Infrastruktur“ für die Verbreitung amerikanischer Popmusik denkt – an eigene Platten, Plattenspieler, Radiogeräte für Jugendliche –, wird klar, dass die Verfügung über Geld auch hier eine Voraussetzung bildete und dass umgekehrt schicke Portables dem Prestigegewinn dienten wie andere Konsumgüter auch (Weber 2008; Maase 2014).

D EMOKRATISIERUNG

UND

D EMOTISIERUNG

Soweit zur generellen „Öffnung“. In einem verheißungsvoll „Demokratisierung durch populäre Musik“ betitelten Kapitel führt Detlef Siegfried (2006: 108ff.; ders. 2008, 2014) aus, welche Möglichkeiten wahrgenommen wurden und welche politischen Effekte das implizierte. Er nennt die „enorme“ Ausdifferenzierung der musikalischen Präferenzen Jugendlicher und die Verwirklichung eines „wachsenden Bedürfnisses nach musikalischer Selbsttätigkeit“ (Siegfried 2006: 109), das im Aufblühen von Skifflegruppen und später Beatbands zum Ausdruck kam. Die wehrten sich gegen Erziehungsversuche und musikpädagogische Bevormundung und agierten damit „demokratisch und egalitär“ (ebd., 110). Jazz „verkörperte […] für viele Jugendliche einen zivilen, kosmopolitisch ausgerichteten Lebensstil, der sich vom Nationalsozialismus ebenso absetzte wie von den Normen ‚deutscher Respektabilität‘“ (ebd., 110f.). Einen weiteren „bedeutenden Demokratisierungsvorgang“ sieht Siegfried darin, dass Jugendmusik in Funk und Fernsehen Einzug hielt und perspektivisch „das Feld für Minderheitenpräferenzen bereitete“ (ebd., 120). Neue Tanzstile schließlich, insbesondere der Twist, wurden zunehmend informell und individuell praktiziert und schliffen so die sozialen Unterschiede ab; insofern sei es hier demokratischer zugegangen als bei den Standardtänzen (ebd., 121). Um mit all diesen Entwicklungen unter den Jugendlichen überhaupt in Kontakt zu bleiben, mussten Pädagogen (das lernten sie teilweise recht schmerz-

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haft) daran anknüpfen, statt sie frontal und pauschal zu verwerfen. Mit den Integrationsbemühungen jedoch kamen Erziehungsziele wie Internationalität und Toleranz ins Spiel, und die Grenzen des Akzeptablen wurden anhaltend hinausgeschoben (ebd., 131f.). An dieser Stelle scheint es hilfreich, zwischen Demotisierung und Demokratisierung zu unterscheiden. Der Begriff Demotisierung ist hierzulande von dem Sprachwissenschaftler Utz Maas (1985) eingeführt worden, am Beispiel der Ausweitung von Lese- und Schreibfähigkeiten über spezialisierte und privilegierte Berufs- und Sozialgruppen hinaus in die breite Bevölkerung. Allgemeiner kann man damit die zunehmende Teilhabe (von Gruppen) der Durchschnittsbevölkerung an kulturellen und sozialen Ressourcen fassen, die historisch zur stärkeren Einbeziehung in öffentliche Prozesse und zur wachsenden Präsenz in der Meinungskommunikation und kulturellen Nachfrage führte; dies musste in vielen Fällen gegen privilegierte Minderheiten durchgesetzt werden.9 Diese Definition lässt schon erkennen, dass derartige, nicht selten „von unten“ vorangetriebene Partizipation von (wie immer definierter) Demokratisierung nicht scharf zu trennen ist, sondern zu ihren notwendigen Voraussetzungen und Bestandteilen zählt. Doch möchte ich an dieser Stelle10 aus Gründen der analytischen Differenzierung für einen starken, engen Begriff von Demokratisierung plädieren, der die Spezifik des Politischen in der Auseinandersetzung um gesellschaftliche Machtund Herrschaftsverhältnisse sieht. Es geht, so kann man den zentralen Punkt formulieren, um den „Abbau von nicht demokratisch legitimierter Herrschaft und die Ausweitung und Entwicklung von Demokratie in zuvor nicht oder weniger demokratischen […] Gesellschaftsbereichen“11. Unter den konkreten Bedingungen der Nachkriegsperiode hieß das: um stärkeren Einfluss der abhängig beschäftigten und nicht privilegierten Menschen in autoritär strukturierten Bereichen wie Arbeit, Bildung, Medien und Meinungsbildung, nicht zuletzt bei den Entscheidungen der politischen Apparate und des Staates. Aus dieser Perspektive betrachtet, bewegen sich viele der oft unter Demokratisierung rubrizierten Formen und Effekte der Aneignung neuartiger Populärkultur doch eher im Bereich physischer Partizipation und faktischer Ausweitung von Denk- und Handlungsoptionen und damit im Vorfeld und Ermöglichungsbe-

9

Maas 1985: 58 spricht von einer „strategischen Einstellung“ der Privilegierten, „Unterdrückte“ auszuschließen, die durchaus mit aggressiven Protesten reagieren konnten.

10 In anderen Zusammenhängen hat der Autor Populärkultur mit einem offeneren, „weicheren“ Verständnis des Politischen untersucht (Maase 2011a: 262f.; 2010: 13). 11 http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratisierung [25.3.2015].

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reich eigentlich politischer Demokratisierung – im Bereich von Demotisierung mithin. Dass öffentlich-rechtliche Medien dem Schlager und jugendaffiner Popmusik mehr Raum gaben, dass neue Tänze keine festgelegten Figuren und keine Tanzschulausbildung verlangten und damit soziale Barrieren abbauten, dass mehr Jugendliche selber Musik machten – all das war fraglos eine in vielerlei Hinsicht positive Entwicklung, die erkennbar egalisierende Züge hatte. Doch inwiefern änderten sich damit soziale und politische Kräfteverhältnisse? Die konkrete Vermittlung zwischen populärkulturellen Praktiken und eindeutig politischer Ermächtigung12 der popularen Akteure soll im folgenden Abschnitt genauer erörtert werden.

Ö FFENTLICHE K ONTROVERSEN UND VERSCHOBENE M ACHTBALANCEN Dabei folge ich grundlegend Detlef Siegfrieds Argumentation – allerdings aus der Sicht und mit den Denkwerkzeugen eines historisch arbeitenden Kulturwissenschaftlers, anschließend an Gramscis Hegemoniekonzept, Norbert Elias’ Modell der Informalisierung und an die Cultural-Studies-Idee des Kampfs um Bedeutungen (Winter 2001: 181; Marchart 2008: 146). Aus einer solchen Perspektive lässt sich die Hypothese entwickeln, dass die neue, „amerikanisierte“ Populärkultur für einen Wandel kultureller Machtbalancen (Maase 1992a: 199ff.; 1992b: 292ff.) genutzt wurde. Die Spezifik dieses Prozesses wird, allgemeiner, so verstanden: Populärkultur und ihre Aneignung wirken politisch in dem Maße und in der Weise, wie sie einbezogen werden in diskursive soziale Auseinandersetzungen, die selbstverständlich physische, emotionale und dingbezogene materielle Praktiken umfassen (Maase 2010). Weiter zugespitzt: Erst der Streit um Populärkultur macht diese politisch bedeutsam; Massenkünste und Massenvergnügungen sowie deren Nutzer geraten in kontroverse diskursive Kontexte, die Werken, Dingen, Praktiken und deren sinnlichen Eigenschaften politische Konnotationen zu- und einschreiben. Aus sich heraus erzeugt Populäres keine eindeutigen Effekte. Weder ist Rockmusik als solche emanzipatorisch noch deutscher Schlager als solcher konservativ, und das galt und gilt auch für deren Fans. Nietenhosen waren am Ende der 1950er Jahre nicht demokratischer als kurze Lederhosen, und Ponyfrisuren sorgten nicht durch ihren Schnitt für mehr Gleichberechtigung als Zöpfe. Dar-

12 Den Gedanken der Ermächtigung („empowerment“) durch populärkulturelle Praktiken hat im Rahmen der Cultural Studies besonders Lawrence Grossberg 2000 verfolgt.

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über entschieden historisch und lokal konkrete, weithin kontingente Bedeutungszuweisungen und semiotische Kämpfe. Wie ich es sehe, argumentiert Detlef Siegfried (2006: 110f.) durchaus in diesem Sinn. So wenn er, wie bereits oben zitiert, feststellt: Jazz „verkörperte […] für viele Jugendliche einen zivilen, kosmopolitisch ausgerichteten Lebensstil, der sich vom Nationalsozialismus ebenso absetzte wie von den Normen ‚deutscher Respektabilität‘“.

Hier ist von historischen Zuschreibungen die Rede, nicht von Qualitäten oder Wirkungen der Musik selbst. Wie treffend das ist, macht ein Blick auf die Argumente der damaligen Akteure klar. Jazzjünger, die vielleicht vor Kurzem noch zum Rhythmus von When the Saints go marching in mit den Füßen im Viervierteltakt gewippt hatten (allerdings mit der Betonung auf dem zweiten und vierten Schlag), verkündeten im Brustton der Überzeugung, dass diese Musik das absolute Gegenstück zur deutschen Marschbegeisterung sei, die (mit der Betonung auf eins und drei) Massen in den Tod geführt habe.13 Rein musikalisch hätte der Walzer deutlich besser zur Anti-Militärmusik getaugt – aber der galt damals als absolut bürgerlich-konservativ. Der zivile, antimilitaristische Effekt des Jazz ergab sich im Kontext spezifischer Szenen, ihrer Überzeugungen, Praktiken und Subjektivierungen. Der Sound ermöglichte Westdeutschen nach 1945 eine sinnlich eindrucksvolle Erfahrung, die andernorts gewonnene zivilistische und pazifistische Einsichten symbolisch verdichten konnte. Ähnlich war es mit der Karriere der Lässigkeit nach dem Krieg (Maase 2007b; 2011b: 189ff.). Viele Beobachter nahmen sie als körpersprachliches Gegenmodell zum soldatisch zackigen Habitus wahr, und das hatte gewiss Wirkung. Doch konnte man schon bei den „Halbstarken“ sehen, dass Lässigkeit Gewalt gegen Minderheiten, Machismus und violente Umgangsformen nicht ausschloss (Maase 2011c: 145ff.); und mit Rambo begann dann 1982 die mediale Karriere eines lässigen, auf neue Weise jugendaffinen Soldatentyps. Systematische Bedeutung hat Detlef Siegfrieds (2006: 161) Argumentation zum „demokratischen Potential“ (meine Formulierung; K.M.) des damaligen Massenkonsums. „Der Politisierungsdruck der 60er Jahre“, fasst er zusammen,

13 So schrieb ein Anhänger 1958 in einem Leserbrief: „Ein Dorn sind die Jazzfreunde allerdings im Fleische der Anhänger der Marschmusik. Denen passt eben gerade die Toleranz und die Internationalität nicht in den Marschtritt-Takt. […] Vom Jazz ist noch keiner gestorben, von der Marschmusik immerhin schon ein paar Millionen“ (Welt der Arbeit, 30.5.1958).

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„war ursprünglich entstanden aus einer Abwehrbewegung gegen den Massenkonsum.“ Das ist historisch absolut einleuchtend. Die Wahrnehmung, dass Lebensstandard und Konsumgenuss der „Massen“ anstiegen, wurde bei den „Gebildeten“ und Etablierten, insbesondere in den pädagogischen Professionen, gerahmt durch tiefsitzende Vorbehalte, wonach Amerikaner wie Kommunisten gleichermaßen dem „Materialismus“ hörig seien. Zumindest sorgten sich diese Kreise, dass zu viel Wohlstand die Bereitschaft zerstöre, für Freiheit und abendländische Kultur Opfer zu bringen. Da lag es nahe, mit intensiven Anstrengungen zur politischen Bildung der Jugend zu antworten. Was auch geschah – allerdings Siegfried zufolge nicht ganz wie beabsichtigt verlief. Zwar richtete sich die Konsumismuskritik in Teilen gegen die damit verbundene Verselbstständigung Heranwachsender; doch musste man schließlich deren Streben, weniger autoritär erzogen zu werden, und ihren Geschmacksvorlieben Rechnung tragen, um sie überhaupt zu erreichen. So entstanden Freiräume für kritische politische Meinungsbildung und Potentiale für eine „linke“ Auseinandersetzung mit Konsum, die auch die Mechanismen des Kapitalismus ins Visier nahm. Der Grundgedanke, dass der neuen Populärkultur demokratische Impulse in Auseinandersetzungen zuwuchsen,14 die von ihren Gegnern eröffnet und forciert wurden, lässt sich erweitern und vertiefen in Richtung auf eine Verschiebung kultureller Machtbalancen. Den Auseinandersetzungen um Populärkultur und Massenkonsum war nämlich, wie bereits erwähnt, nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bedeutungsdimension eingeschrieben, die sich auf Klassenverhältnisse und auf kulturell begründete Führungsansprüche bezog. Pierre Bourdieu (1982) hat gezeigt, dass Geschmack, kulturelle Formen und körperlicher Habitus allesamt sozial zugeordnet und bewertet werden und dass im kulturellen Feld ständig um die Anerkennung, die Legitimität, unterschiedlicher „Geschmäcker“ und der darin artikulierten kulturellen Kapitalien gerungen wird. Massenkultur, Massenkonsum, die körperlichen Ausdrucksformen der Begeisterung, des selbstvergessenen Vergnügens und des Fantums im Popbereich – all das war nicht nur in Deutschland als vulgär, plebejisch, als Bedrohung wahrer Bildung und Kultur

14 Das gilt gesamtgesellschaftlich für die Ebene der Bedeutungen, die Musikrichtungen, Frisuren und Verhaltensformen zugeschrieben wurden. Es gilt gleichermaßen im Kontext europäischer Generationsbeziehungen. Wenn man kulturelle Praktiken und Objekte zwecks „Schutz der Jugend“ zum Gegenstand von Verboten und Stigmatisierungen macht, hat dies im Alltag regelmäßig den Effekt, dass Halbwüchsige – gerade im Streben nach Selbstständig- und Erwachsenwerden – davon angezogen werden.

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konnotiert.15 Über Generationen wurden bürgerliche Dominanz und Hegemonie damit begründet, dass es den einfachen Leuten an Bildung und Zivilisiertheit fehle; das sehe man ja an den rohen und trivialen Vergnügungen, an die sie ihr Herz hängten und für die sie ihr Geld verschwendeten. Populärkultur lieferte über lange Zeit gewichtige Argumente dagegen, die Massen gleichberechtigt am politischen Prozess zu beteiligen; noch 1958 formulierte der prominente Publizist Erich Kuby (1959) das so: „Das allgemeine und freie Wahlrecht [...] delegiert die Dummheit der vielen an die Spitze.“16 Seine Alternative lautete: entweder die Demokratie einschränken oder die unkultivierte Masse durch den Glauben einbinden. Tendenzen kultureller Abwertung und politischer Ausschließung hatten die Debatten um Populärkultur und Massenkonsum seit den Schundkämpfen im Kaiserreich durchzogen (Maase 2010: 79ff.). Die 1950er und 1960er Jahre bedeuteten hier einen Wendepunkt. Denn nach allgemeiner Wahrnehmung „oben“ wie „unten“ setzten sich die Massen diesmal durch – dank ihrer Kaufkraft, mit wachsendem kulturellem Selbstbewusstsein der Jüngeren und gestärkt durch den Verweis auf die amerikanische Demokratie: Dort habe und verschaffe ein Dollar für eine Elvis-Platte genauso viel Legitimität wie ein Dollar für ein BeethovenKonzert (ebd., 109f.). Die Ausbreitung solcher Gefühle und Sichtweisen verschob kulturelle Machtbalancen zugunsten der „ungebildeten“ „einfachen Leute“, indem es ihre Selbstanerkennung als gleichberechtigte Bürger mit legitimen Ansprüchen förderte (Maase 1996: 309ff.; 2001: 437ff.; Honneth 1992). Zugleich warben US-amerikanische Vorbilder für die Demokratie als eine Gesellschaftsform, in der niemand wegen seines oder ihres Geschmacks diskriminiert werden sollte. In dieser Hinsicht galt „Amerika“ unter Jugendlichen geradezu als Paradies (Maase 1992a: 83ff.). Die Felder, auf denen zähneknirschende Anerkennung und schrittweise kulturelle Selbstanerkennung sich durchsetzten, waren so vielfältig wie die populärkulturellen Innovationen. Doch lässt sich eine Gemeinsamkeit bestimmen: die angesprochene Informalisierung (Wouters 1979; 2007). Worum geht es dabei in politischer Perspektive, unter dem Aspekt symbolisch vermittelter Machtverhältnisse? Untergeordnete (aus Gründen des Alters, des Geschlechts, der Bil-

15 Vgl. aus der umfangreichen Literatur zur Massen-Kritik Bollenbeck 1994; Hausmanninger 1993; Sloterdijk 2000; Horak 2000. Stefan Jonsson betont 2005, dass in Westeuropa mit der sozialen Darstellung des Volkes stets seine Aufspaltung in legitime Repräsentanten und illegitime Massen verbunden war. 16 Zum Fortwirken antiparlamentarischer Einstellungen in den Bildungsschichten vgl. Mommsen 1993: 752ff.

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dung, betrieblicher Hierarchie, des Status oder sonstiger Abhängigkeit) verweigern Verhaltensweisen, die von den Übergeordneten als Ausdruck von Respekt und Gehorsam erwartet werden. Norbert Elias sieht hier verallgemeinernd einen „funktionale[n] Demokratisierungsprozess“ infolge einer „Verringerung des Machtgefälles zwischen Regierenden und Regierten“ (Elias 1989: 43). Schaut man sich die Auseinandersetzungen um Jugendkultur in den 1950er und 1960er Jahren an, dann ist es frappierend zu sehen, wie viele Möglichkeiten solch informalisierten, Selbstunterordnung verweigernden Verhaltens es gab. Dazu zählte bereits, was Erwachsenen den Überwachungsblick auf Stirn und Augen Jugendlicher erschwerte: die Ponyfrisur und die Sonnenbrille etwa. Respektverweigerung gegenüber Eltern, Lehrern, Vorgesetzten war es, Jeans statt Hosen mit Bügelfalte zu tragen, Caprihosen statt Rock oder einen engen Pullover statt hochgeschlossener Bluse. Die Lieblingsmusik öffentlich vom tragbaren Radio oder Plattenspieler erklingen zu lassen, ließ ebenfalls Zurückhaltung und Unterordnung vermissen. Und so weiter. Der deutsche Film Die Halbstarken von 1956 ist geradezu als Katalog der Informalisierungsgesten zu lesen.

B EDEUTUNGSKORRIDORE U NWAHRSCHEINLICHEM

ZWISCHEN

M ÖGLICHEM

UND

Im Rock ’n’ Roll als Sound, als Performanz der Musiker und als Praxis der Fans materialisierten sich – das ist inzwischen zu einem problematischen Mythos geworden – fast alle Grenzüberschreitungen, Ordnungsstörungen, Sittenwidrigkeiten und Barbarismen, die Vertreter deutscher Kultur und Autorität sich damals vorstellen konnten. Fragwürdig scheint im Zusammenhang unseres Themas die Neigung, die Musik als solche für rebellisch zu erklären. Das greift zu kurz, es verfehlt die Qualität der Beziehungen zwischen populären Künsten und Politik. Wenn Kulturhistoriker Gesellschaft als Feld von Hierarchien und Unterordnungen betrachten und dazu Bedeutungskämpfe und -verschiebungen, semiotische Kämpfe und symbolisch artikulierte Machtbalancen rekonstruieren, dann ist zweierlei im Blick zu behalten. Erstens: Populärkulturelle Phänomene sind grundlegend unerschöpflich und unaufhebbar mehrdeutig. Das ist nicht nur Überzeugung der neueren Semiotik (Posner 2008; Petras 2011), es folgt auch aus dem empirisch belegten Interesse der Nutzer. Für sie und für weitere Akteure der Populärkultur geht es vorrangig um ihr Vergnügen, um ästhetische Erfahrung in einer Vielzahl von Dimensionen. Worin dieses Vergnügen besteht, das wechselt

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allerdings nicht nur mit Gattung und Genre, sondern auch mit dem Kontext, letztlich mit jeder konkreten Situation.17 Dennoch ist, zweitens, die Verknüpfung kultureller Phänomene mit individuellen wie sozialen Praktiken und Bedeutungen nicht grenzenlos individuell und willkürlich; sie ist vermittelt – mit unterschiedlich kräftigen oder schwachen, festen oder lockeren, semiotischen wie physischen und physiologischen Fasern – über die spezifische materielle Substanz der Kulturphänomene, deren Dinglichkeit und konkrete sinnliche Gestalt, und über deren aktive Wahrnehmung (Aneignung) durch Menschen mit evolutionär wie historisch-kulturell gewordener Ausstattung. Seit einiger Zeit versucht man, mit dem in der ökologischen Wahrnehmungspsychologie entwickelten Konzept der Affordanz den Aufforderungscharakter von Elementen der materiellen Umwelt, deren interaktive agency in Bezug auf das Wahrnehmen, Deuten und Handeln von Menschen mit ihrer besonderen Körperlichkeit zu fassen. Eine Stärke des Affordanz-Ansatzes zeigt sich im Blick auf das Wechselspiel zwischen physisch-dinglichen sowie apparativen Qualitäten von Umweltelementen und deren haptisch-sinnlich-körperlicher (über Erfahrung gelernter und internalisierter) Wahrnehmung, aus dem sich bestimmte Handlungsaufforderungen ergeben (Lepa 2012; Zillien 2008). In der Medienwissenschaft hat der Ansatz das von Foucault her kommende Dispositivkonzept (Hickethier 2010: 186ff.) produktiv konkretisiert. Allerdings konstatiert man dort ein „kulturell-soziale[s] Problem“ des Affordanzansatzes (Lepa 2012: 288; Zillien 2008: 14f.): Gebrauchsweisen, Empfindungs- und Deutungsprozesse im Alltag sind derart vielfältig und vielschichtig, dass eine Suche nach Invarianzen hier sinn- und aussichtslos erscheinen muss. Geradezu salomonisch bezeichnet Zillien (2008: 17) die semiotische Interaktion zwischen Rezipienten und Angeboten als „fortlaufende[n] Prozess […], der […] in seinem Verlauf weder determiniert noch völlig offen ist.“ Doch scheinen Aussagen darüber möglich, „what is made possible and facilitated, and what is made difficult and inhibited“ (ebd., 18). Auf geradezu exemplarische Weise hat die britische Musiksoziologin Tia DeNora (2010: 34ff.) den Affordanz-Ansatz für empirische Forschung im Feld der Klänge umgesetzt. Ihre alltagsorientierte Lesart läuft auf eine Latoursche Kooperation vieler gleichrangiger menschlicher wie nichtmenschlicher „Akteure“ bei der interaktiven Erzeugung von Emotionen, Relevanzen, Handlungsrichtungen, -formen und -energien sowie von Bedeutungen unterschiedlicher subjektiver Präsenz hinaus. In diesem Rahmen versteht sie Klänge als eine „technology

17 In den Cultural Studies hat man das unter dem Schlüsselbegriff des pleasure ausdifferenziert; vgl. Winter 2001: 211ff.

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of self“ und als „an ally for a variety of world-making activities, […] a workspace for semiotic activity, a resource for doing, being and naming the aspects of social reality, including the realities of subjectivity and self“ (ebd., 40f.). Der Ansatz ist von hoher Komplexität, und bereits beim Studium unterschiedlicher Felder alltäglichen Umgangs mit Musik rücken jeweils ganz unterschiedliche Aspekte und Effekte ins Zentrum. Angesichts der Heterogenität der Populärkultur und der Mischung von Medien, Sinnen, Gattungen, Konstellationen sind allgemeinere Aussagen über Affordanzen nicht zu erwarten – ganz abgesehen davon, dass vorab zu klären ist, welches sinnliche Geschehen überhaupt in verschiedenen Genres abläuft. Für die historische Forschung könnte man sich (auf der Grundlage entsprechender fachwissenschaftlicher Studien) Auskunft dazu, welche Bedeutungen der Rezeption durch die sinnlich-ästhetischen und dinglichen Qualitäten populärkultureller Phänomene nahegelegt werden, vielleicht in der Form erhoffen, dass man für die menschliche Interaktion mit Massenkünsten einen Korridor zwischen überhaupt Möglichem und ganz Unwahrscheinlichem bezeichnet – einen vermutlich in jedem Einzelfall ziemlich breiten Korridor. Gegenwärtig kann man heuristisch von einem Modell ausgehen, wonach die im weitesten Verständnis sinnlich-materiellen Qualitäten populärer Kulturphänomene und die mit ihnen korrespondierenden subjektiven Wahrnehmungen historisch und wohl auch evolutionär (Eibl 2004; Eibl/Mellmann/Zymner 2007) im Prozess der Belegung der Umwelt mit Bedeutungen gewisse Basiskonnotationen erworben haben, die sozusagen die Ränder des erwähnten Korridors bezeichnen. Diese Korridore verlaufen je nach der konkreten kulturellen Entwicklung in einzelnen Gesellschaften, Milieus, Gruppen unterschiedlich – Kultur hier verstanden als der permanente Prozess des praktischen Aushandelns der Regeln, nach denen Menschen, Gruppen und Gesellschaften zusammen leben, sich verständigen und voneinander abgrenzen.18 Mit jeder sinnlich wahrgenommenen Gestaltqualität – transparent oder massiv, schwarz oder weiß, symmetrisch oder asymmetrisch, schnell oder langsam – verbinden die davon Affizierten je nach kulturellem Kontext und Habitus ein unterschiedliches Reservoir an Bezeichnungen, Assoziationsbahnen und bewussten wie unbewussten Reaktionsdispositionen.19 Daran können und müssen die Be-

18 Zitiert wird die Definition auf der Website des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische

Kulturwissenschaft,

http://www.wiso.uni-tuebingen.de/faecher/empirische-

kulturwissenschaft/institut.html [25.3.2015]. 19 Zu diesem Thema existieren ganze Bibliotheken an Forschungsliteratur, die sich weitgehend auf die hermeneutische Analyse von Artefakten oder auf Laborexperimente stützen. Die realen semiotischen Prozesse im Alltagsleben komplexer, pluraler Gesell-

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deutungszuschreibungen semiotischer Kämpfe anknüpfen, sonst funktionieren sie nicht. Insofern war es gewiss nicht zwangsläufig, aber doch im Sinne des „Korridors“ und seiner im Untersuchungszeitraum stattfindenden „Bahnung“ nicht unerwartet, dass Rock ’n’ Roll – und nicht konkurrierende Musikstile wie Calypso, Rumba, Dixieland oder die vielen in den USA gängigen Schlagertanzrhythmen – zum Inbegriff von Herausforderung und Rebellion wurde.20 In Wechselwirkung mit der sinnlichen Gestalt des Rock ’n’ Roll leistete die medial vermittelte öffentliche Kommunikation einen wichtigen Beitrag, indem sie einen spezifischen diskursiven Wahrnehmungsrahmen etablierte. Medien stimmten die Europäer, schon Monate bevor sie sich einen eigenen Eindruck verschaffen konnten, auf jugendliches Irresein, sexuelle Provokation und den Niedergang der abendländischen Kultur ein. In den USA war die Musik ein Skandal, weil (so wurde es wahrgenommen und stereotypisiert) der weiße Elvis Presley sang wie ein Schwarzer, weil die „race music“ ihr musikalisches Ghetto verließ und von weißen Teenagern begeistert aufgenommen wurde. Das war in Europa kein Thema. Aber was man hier an schockierenden und absurden Geschichten präsentiert bekam, reichte in Verbindung mit der sinnlichen Gestalt der Rock ’n’ Roll-Auftritte immer noch als Ankerpunkt für Angstphantasien, in denen (ohnehin nach 1945 anhaltend erschütterte und fragile) hierarchische Ordnungen bedroht wurden.21 Zum assoziativen Kontext des Rock ’n’ Roll gehörte seine Herkunft aus Amerika. Damit verbanden sich absolut widersprüchliche Bilder, Wissensbestände, Gefühle; hier kommt es allerdings auf jene an, die Sorge und Widerstand befeuerten. Unter den gebildeten Eliten dominierte das Image der USGesellschaft als einer wirtschaftlich überlegenen und rücksichtslos materialistischen Unkultur; sozial sehr viel weiter verbreitet war das Bild einer „schwarzen, primitiven“ Musik, die sich in den Klängen, Rhythmen, Bewegungen der farbigen (aber vielleicht noch beängstigender: auch der weißen) Interpreten verkör-

schaften entziehen sich bisher „streng wissenschaftlicher“, d.h. notwendig reduzierender Erfassung. 20 Vgl. dazu jetzt Grotum 2014. – Allgemeiner formuliert DeNora 2010: 128 zur gruppenbildenden und handlungsanregenden Potenz von Musik: „Within music’s structures, its perceived connotations, its sensual parameters (dynamics, sound envelopes, harmonies, textures, colours and so on) actors may ‚find‘ or gather themselves as agents with particular capacities for social action“. 21 Für relativ alltagsnahe Belege vgl. etwa Poiger 2000: 33ff.; weitere Belege zum Folgenden bei Maase 1992a, b; 1996. Eine sehr elaborierte Interpretation der Ermächtigung durch Rock ’n’ Roll, insbesondere im Tanzen, gibt Grossberg 2000: 78ff.

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perte. Da sahen Deutsche, wie junge Männer ohne Eleganz und Manieren alles missachteten, was als gute und saubere Unterhaltung galt – beginnend schon bei der Lautstärke und der „schmutzigen“ Intonation der Musik, die aller handwerklichen Gediegenheit Hohn sprach, von Kunst gar nicht zu reden. Laut, schrill waren die Auftretenden auch gekleidet; das galt als ebenso primitiv wie die schweißtreibende Arbeit, die sie auf der Bühne vorführten – das wirkte einfach roh, proletenhaft.22 Ebenso die scheinbar alle Zügel der Selbstkontrolle abwerfenden Fans, die johlten, kreischten, zwischen den Sitzreihen tanzten und einander beim Rock ’n’ Roll über die Schulter warfen: Ihre Handlungen und Verhaltensweisen markierten sie in den Augen vieler Zeitgenossen einerseits als plebejisch-vulgär, andererseits als willenlose und für wohlmeinende Schutzmaßnahmen unzugängliche Opfer geldgieriger Scharlatane. Die Liste der äußeren Merkmale, die Rock ’n’ Roll nicht einfach fremd, sondern roh, primitiv und gewalttätig erscheinen ließen, könnte man Punkt für Punkt dem Auftreten deutscher Schlagerstars der Zeit gegenüberstellen – in Smoking und Abendkleid, Opernsänger und Aristokratisches nachahmend, gepflegt und kultiviert in den Formen. Diese Musik bot sich damit unüberhör- wie unübersehbar an, als komplexes Symbol für den Einbruch proletenhafter Massenbarbarei zu dienen. Wie die Quellen zeigen,23 wurden entsprechende Etikettierungen durch die Gegner von Fans und Liebhabern durchaus übernommen. Allerdings lag es nahe, sie umzuwerten: „Ja, hier werden Anstand und Autorität, Geschmack und Kultiviertheit verletzt. Aber gerade das wollen wir doch!“ Deswegen war diese Musik genau das Richtige für jene, die sich zu wenig geschätzt und einbezogen fühlten: Halbwüchsige, Mädchen und junge Frauen, Volksschulabsolventen, Lehrlinge, jugendliche Arbeiter und Angestellte. Gleichermaßen eignete sie sich für Gymnasiasten und Kinder bürgerlicher Elternhäuser, die in der Schule wie zu Hause Verlogenheit und Autoritätsanmaßung erlebten und dagegen wenigstens symbolisch protestieren wollten.

22 Zur Bedeutungsgeschichte des „Proletarischen“ vgl. Ege 2013: 75ff. 23 Vgl. insgesamt die Literatur zur Jugendkultur der 1950er Jahre, v.a. Krüger 1985; Bucher/Pohl 1986: 254ff.; Eisfeld 1999; Grotum 1994; Kurme 2006; Siegfried 2000.

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F AZIT Kurzum: Rahmungen und Bedeutungsaufladungen, die Populärkultur24 mit politischen Positionierungen und sozialen Bewegungen verbinden, sind in einer Hinsicht kontingent, willkürlich: Die zeitgenössisch wahrgenommenen Botschaften und Impulse bezüglich gesellschaftlicher Verhältnisse folgen in keiner Weise notwendig aus den ästhetischen, sinnlichen Qualitäten der Produkte; ebenso wenig liegen ihnen sprachliche Aussagen wie Lied- oder Filmtexte zugrunde. Politische Zuschreibungen sind aber auch nicht völlig beliebig; sie bewegen sich im Korridor der Affordanz und sind in ihrer historischen Plausibilität durch dichte Kontextuierung nachvollziehbar zu machen. Umgekehrt lässt sich argumentieren, wieso in den 1950er und 1960er Jahren ein großer Teil der Populärkulturtransfers aus den USA von seiner sinnlich-ästhetischen Gestalt her nicht in Frage kam. Mainstream-Kuschelsänger zum Beispiel wie Pat Boone, Ricky Nelson und Doris Day, selbst der Titan Frank Sinatra, boten kein geeignetes sinnliches Potential, um sich am deutschsprachigen Mainstream zu reiben oder gar zu provozieren. Die besondere, in ihrer ästhetischen Symbolkraft unersetzliche Rolle, die einzelne Gattungen und Stile der Populärkultur bei politischen Veränderungen wie den Demokratisierungsaufbrüchen seit der Mitte der 1950er Jahre spielten, ist also nicht die einer progressiven, emanzipatorischen Macht aus eigenem, innerem Vermögen. Vielmehr ergibt sich die Macht des Populären zum einen aus der Kunst-Potenz, politisch relevante Werte und Ansprüche sinnlich und narrativ zu verdichten und emotional berührend zu verkörpern – Werte und Ansprüche, die von außen in „passende“ Segmente der populären Künste hinein projiziert wurden.

24 Die Rede ist von moderner, kommerzieller Populärkultur. Zu den elementaren Geschäftsregeln der entsprechenden Branchen gehört, die jeweils für erreichbar gehaltenen Zielgruppen so weit wie möglich als Käufer zu gewinnen. Die Wahrnehmung von Produkten als politisch gilt in jedem Fall als kontraproduktiv, da in politisch pluralen Gesellschaften jede Positionierung einen Teil der potentiellen Kundschaft (eingeschlossen Werbekunden) verärgern kann. Allerdings gelten unter bestimmten historischen Bedingungen sozial weitgehend geteilte politikrelevante Einstellungen (Nationalismus, Glaube, Geschlechterbilder etc.) als fraglos, unbestritten und damit als nicht politisch. In den seltenen Fällen, in denen Unternehmer absichtlich politisch entschiedene Unterhaltung auf den Markt bringen, handeln sie nicht als Geschäftsleute, sondern als engagierte Bürger, für die es Wichtigeres als ökonomischen Gewinn gibt.

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Zum anderen haben manche Phänomene der Populärkultur das pragmatische Potential, Handlungen nahezulegen und an sich zu binden, die unter gegebenen Bedingungen informalisierend, damit hierarchienivellierend und in diesem Sinne demokratisierend wirken. Hier könnte man von Affordanzen sprechen, die damals in den psychophysischen Effekten von und Reaktionen auf Rhythmen, Sounds, Frequenzen, musikalische Linien, auf Tanzfiguren, hochhackige Schuhe, enge Hosen und Cowboystiefel etc. praktisch wurden und sich beispielsweise in zeitgenössisch als wild wahrgenommen Tanzpraktiken, in „lässigem“ Habitus oder kollektiven Begeisterungsformen artikulierten. Doch scheint es gegenwärtig unmöglich, solches Zusammenwirken auf materiell-körperlicher Ebene analytisch von den zeitspezifischen Bedeutungen zu trennen, die derartigen Angeboten bereits zugeschrieben waren, bevor deutsche Jugendliche überhaupt unmittelbaren Kontakt damit hatten. Zusammenfassend kann man sagen: Transatlantisch importierte Populärkultur, in erster Linie solche, die vom Establishment aller Arten bekämpft wurde, spielte eine wichtige und hilfreiche Rolle bei Prozessen der Demokratisierung in den Nachkriegsjahrzehnten. Das lag nicht an besonderen republikanischen Qualitäten, die Musik, Tänze, Kleidungsstile und Körpersprache aus den USA gehabt hätten. Vielmehr hat dieser Beitrag Veränderungen in drei Dimensionen beleuchtet. Erstens: In Prozessen der Demotisierung konnten vor allem Jüngere erreichen, dass moderne und meist aus dem englischsprachigen Raum stammende Massenkünste für viele zugänglich wurden, deren einschlägige Rezeptionskompetenzen sich damit vergrößerten. Zweitens wurden Genres und Stile der Populärkultur zu breitenwirksamen Symbolen für Ziele und Werte, die aus heutiger Sicht dazu beitrugen, nach der NS-Zeit demokratische Verhältnisse und Verhaltensweisen in der Bundesrepublik einzuwurzeln. Ausgelöst wurde solche „demokratische Aufladung“ von Massenkunst zumeist durch Bemühungen ihrer Gegner, derartige Angebote als Bedrohung etablierter Ordnungen zu stigmatisieren und zu marginalisieren. Drittens schließlich erwiesen sich viele mit Populärkultur verbundene Praktiken ihrer Nutzer als Medien der Informalisierung, die alltagsnahe Machtbalancen zugunsten schwächerer Gruppen verschoben. Möglichkeit, Reichweite und Eindringtiefe solcher Demokratisierungsimpulse ergaben sich aus vielen Faktoren; hier wurde besonders die Rahmenbedingung betont, dass die Deutschen bis in die 1960er Jahre hinein massiv herausgefordert waren, eine nachfaschistische Gesellschaft aufzubauen. Das verknüpfte, so wurde argumentiert, die Auseinandersetzungen um die Legitimität der „amerikanisch“ etikettierten Populärkultur relativ eng mit Macht- und Strukturfragen der sozialen wie kulturellen Ordnung und lud sie in diesem Sinne mit politischer Brisanz auf.

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Westdeutsches „Demokratiewunder“ und transnationale Musikkultur Dimensionen des Politischen im Populären der langen 1960er Jahre D IETMAR H ÜSER

„Wunder gibt es immer wieder“, sang Katja Ebstein beim Grand Prix Eurovision de la Chanson 1970 in Amsterdam und belegte damit den dritten Rang. Und tatsächlich: nach einem gescheiterten ersten deutschen Republikversuch unter Weimarer Vorzeichen, einem „Tausendjährigen Reich“, das im Vernichtungskrieg, Völkermord und Zivilisationsbruch endete, sowie vier Jahren alliierter Besatzung und grundlegender, teils von innen erstrebter, teils von außen forcierter Neuorientierungen schien vieles in der jungen Bundesrepublik an ein wahrhaftiges Wunder zu grenzen. „Wunder“ gab es jedenfalls in den 1950er und 1960er Jahren nicht nur immer wieder, „Wunder“ waren omnipräsent, wenn es darum ging, bestimmte Ereignisse wie das „Wunder von Bern“, bestimmte Phänomene wie das „Fräuleinwunder“ oder bestimmte Entwicklungen wie das „Wirtschaftswunder“ pointiert zu kennzeichnen, die Menschen damals als erstaunlich und ersprießlich einstuften. „Wunderjahre“ eben, auf die Medien und Öffentlichkeit bereits in den zunehmend als krisenhaft empfundenen späten 1970er Jahren zurückblickten, sei es mit einiger Nostalgie, sei es mit kritischem Impetus oder sei es schlicht mit Neugier.1

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Vgl. den Aufmacher in Spiegel Nr. 14 (3.4.1978): „Mythos 50er Jahre – Die Sehnsucht nach den Wunderjahren“.

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1. N ACHKRIEGSJAHRE & „D EMOKRATIEWUNDER “ Zahlreiche „Wunder“ wie auch die „miracle years“ als solche (Schissler 2001), die Politik, Gesellschaft und kollektive Mentalitäten in Westdeutschland dauerhaft prägen sollten, hat die Zeitgeschichtsforschung längst entzaubert, auch das weiterhin viel zitierte „Wirtschaftswunder“.2 Zwar sind etliche „Wunder“ vergleichbarer historiographischer Dekonstruktion anheimgefallen, doch gilt dies für das westdeutsche „Demokratiewunder“ nur bedingt. „Demokratiewunder“ steckt ein semantisches Feld ab, auf dem bereits in den 1950er und 1960er Jahren Akteure – Politiker, Journalisten, Intellektuelle, Meinungsführer aller Art – manche öffentliche Kontroverse unter dem Motto „Bonn ist nicht Weimar“ ausgefochten haben (Allemann 1956). Der Begriff selbst entstammt gleichwohl jüngeren zeithistorischen Forschungskontexten (Bauerkämper/Jarausch/Payk 2005). Dabei geht es nicht primär um institutionelle Arrangements und ein Bonner Grundgesetz, das einer „überwachten Verfassungsgebung“ mit eng umrissenen, nur mühsam erweiterbaren westdeutschen Handlungsmargen entsprang (Sontheimer 1989: 37), zugleich anknüpfte an demokratische Erbschaften des deutschen Konstitutionalismus und das, was die Grundgesetzmütter und -väter an Lehren aus Weimar und der NS-Zeit zogen. Im Fokus stehen vielmehr Aspekte, Indikatoren, Formen, Akteure, Szenarien und Kontexte allmählicher bundesdeutscher Lernprozesse, gesellschaftlicher Liberalisierungstendenzen und politisch-kultureller Nachhaltigkeit demokratischer Leit- und Ordnungsvorstellun-

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Erstens lässt es sich konjunkturell plausibel erklären: „Nachholtrends“ verpasster Wachstumspfade der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre, beachtliche unternehmerische Kapitalstöcke, verfügbare Arbeitskräfte, beachtliche Arbeitsbereitschaft und Arbeitsdisziplin, weltweit wie europäisch fallende Handelsbarrieren, auch ein positives Konjunkturklima in einer Gesellschaft, die den Weg vom Mangel in den Konsum mehr und mehr vorgezeichnet sah. Zweitens – und erst recht – verliert das „Wirtschaftswunder“ im westeuropäischen Vergleich an Wunderlichkeit, denn mit gewissen Differenzierungen nach Zeit und Raum waren jahrelang sukzessive, ungemein hohe Wachstumsraten im golden age eine gesamtwesteuropäische Geschichte, und dies unabhängig von nationalspezifischen wirtschaftspolitischen Akzentsetzungen. Überall, auch im Frankreich der trente glorieuses, trat eine ganz besondere, eine ziemlich einzigartige Nachkriegskonstellation zutage, aber eben kein „Wunder“. Und drittens geraten momentan ökologische, urbanistische, infrastrukturelle und ähnliche Fehlentwicklungen der „Wunderjahre“ verstärkt in den zeithistorischen Blick und offenbaren stupende Machbarkeits- und Steuerungsutopien damaliger Akteure (Kaelble 2011; Pessis/Topçu/Bonneuil 2013: 81ff.).

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gen. Ein „Demokratiewunder“, das auf der Folie der unmittelbaren nationalsozialistischen Vorgeschichte wie der „personellen und mentalen Hinterlassenschaften der NS-Diktatur“ (Herbert 2014: 16) noch weitaus erklärungsbedürftiger erscheint als diverse andere „Wunder“ der Zeit. Den Ausgangspunkt der Debatten bildet die allenthalben verbreitete Skepsis, ob es denn gelingen könne, aus der gerade gegründeten Bundesrepublik mittelfristig ein stabiles westlich-liberales Gemeinwesen auf breiter bürgergesellschaftlicher Grundlage aufzubauen. Immer wieder machten in- und ausländische Beobachter die Rechnung „Bonn-Weimar“ auf. Mit Blick auf den ersten Bundestag sprach beispielsweise der französische Hochkommissar André FrançoisPoncet, der die Spätphase Weimars aus eigener Anschauung als Botschafter in Berlin gut kannte, von einem Parteienspektakel der Bonner Republik, das dem der Weimarer Republik in nichts nachstünde. Weiter hieß es in seinem Monatsbericht an das Pariser Außenministerium vom 10. September 1949: „L’enjeu de la partie qui s’engage est d’importance capitale. Il s’agit de savoir [...] si la République de Bonn, d’inspiration rhénane, parviendra à faire de l’Allemagne ce que la République de Weimar, d’inspiration prussienne, n’en put pas faire: une démocratie parlementaire, libérale et pacifique.“3

Argwohn und Zweifel am breitenwirksamen Akzeptieren und Verinnerlichen westlicher Demokratie drückten zeitgenössischen Einschätzungen den Stempel auf. Zeithistorische Analysen gelangen zu ähnlichen Befunden. Es besteht Konsens darüber, dass von einer breitenwirksamen demokratischen Bewusstseinsbildung in den frühen 1950er Jahren keine Rede sein konnte, wie etwa Umfragen des Instituts für Demoskopie in Allensbach zu Geschichtsbild, zu präferierten historisch-politischen Persönlichkeiten und Regimen veranschaulichen (Noelle/Neumann 1956: 114ff., 157ff.). Die junge Bundesrepublik zeichnete sich keineswegs durch eine mehrheitlich demokratisch geläuterte Bürgerschaft aus. Hohe Veränderungsdynamik und latente Zukunftsangst der Nachkriegsjahre kompensierten die allermeisten Menschen zunächst durch ein Rückbesinnen auf tra-

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Les rapports mensuels d’André François-Poncet – Haut-Commissaire français en Allemagne 1949-1955. Les débuts de la République fédérale d’Allemagne (Bock 1996: 186, 188): „Das, was nun auf dem Spiel steht, ist von ungeheurer Bedeutung. Es geht darum herauszufinden, [...] ob es der Bonner Republik rheinischer Inspiration gelingen wird, das aus Deutschland zu machen, was die Weimarer Republik preußischer Inspiration nicht geschafft hatte: eine parlamentarische, freiheitliche und friedliche Demokratie.“

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dierte Orientierungsmuster, die lebensweltliche Anker in schwierigen Zeiten versprachen. Bei allem institutionellen Neuanfang hinkten die ideellen und wertbezogenen Komponenten des Wandels deutlich hinterher: die Frühphase der Bundesrepublik war janusköpfig, die Ausgangslage prekär, die später gern bemühte „Erfolgsgeschichte“ einer „geglückten Demokratie“ (Schildt 1999; Wolfrum 2006) unabsehbar. Erst nach und nach nahm die Wertschätzung für die Bonner Demokratie zu: Ergebnis wirtschaftlicher „Wunder“, wohlfahrtsstaatlicher Sekurität und ungeahnter Konsumchancen immer breiterer Schichten, Ergebnis internationaler Anerkennungsfortschritte im westlichen Lager des Kalten Krieges wie innenpolitischer Effizienz eines „kanzlerdemokratischen“ Regierungsstils, mit dem Konrad Adenauer die Brücke zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik schlug und den Nerv einer politisch weder besonders interessierten noch informierten Gesellschaft traf (Conze 2009: 122ff.). Mehr und mehr gewann die neue Ordnung an Rückhalt, während normative Wertesysteme und Orientierungsmuster der ersten Jahrhunderthälfte diesen zu verlieren begannen. Der Trend wies weg vom „autoritären Rest“ hin zur „langsamen Vollendung der Modernität“ (Dahrendorf 1977: 451; Löwenthal 1979: 267) und mündete über die kurzen 1950er in die langen 1960er Jahre als Kernphase bundesdeutscher „Fundamentalliberalisierung“ (Herbert 2002: 7, 14, 40) von Lebensstilen und Leitbildern. Damit einher gingen zunehmend verinnerlichte demokratische Einstellungsmuster, die den Grundstein einer fest verankerten Nachkriegsdemokratie auf deutschem Boden legten. Da tiefgreifende Veränderungsprozesse im Wertekanon einer Gesellschaft kaum von heute auf morgen erfolgen, sind über kurzfristig wirksame Momente „ökonomischer und politischer Systemperformanz“ (Metzler 2001: 252) hinaus grundlegende Erklärungszusammenhänge längerer Dauer zu diskutieren: Weltkrieg, Völkermord und „zivilisatorische Lernprozesse“ (Jarausch 2004: 353) zum Beispiel, Generationswechsel, Differenzerfahrung und „bouleversement des horizons culturels“ (Solchany 2003: 387) oder auch Ost-West-Konflikt, Westernisierungsprozesse und transnationale Mittler.4 Immer wieder einmal als Movens eines politisch-kulturellen Wertewandels (Schildt/Siegfried 2009: 179ff.) für bedeutsam erachtet, seltener indes empirisch belegt, findet sich auch der Faktor „Populärkultur“: en masse rezipierte, meist unterhaltende populärkulturelle Offerten aus Publikumszeitschriften, Romanheftchen oder Comicserien, aus Kino, Rundfunk oder Fernsehen, aus breitenwirksamen „jugendlichen“ Musikgenres,

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Transnationale Mittler, die oftmals – z.B. bei Bauerkämper/Jarausch/Payk 2005: 20 – auf transatlantische Figuren reduziert werden, während etwa britische oder französische, kurz: binneneuropäische Akteure zumeist ausgeblendet bleiben.

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Kunstformen oder Schausportarten. Was sich in den 1950er und 1960er Jahren auszubilden begann, das waren Verhaltensmuster moderner Massenkultur, die „dahin wirkten, die Massendemokratie als politisches und soziales System“ zu festigen (Doering-Manteuffel 1995: 23), das waren Ausdrucksformen, die als „kultureller Kitt“ für soziale Konflikte dienten und die westdeutsche Gesellschaft zugleich veränderten und stabilisierten (Wirsching 2005: 385). Müssten womöglich „die neue Jugendkultur und ihre Stars, die neuen Selbstentfaltungswerte, speziell die neue globale Rockmusik sogar als ausschlaggebende Faktoren des Wandels benannt werden, der sich politisch und sozial dann nur noch niederschlug“ (Faulstich 2004)?

2. P OPULÄRES & P OLITISCHES Zeithistorisches Beschäftigen mit Populärkultur kann keine l’art-pour-l’artÜbung sein, sondern versucht entschieden, dem Nexus von populären Kulturformen und dem Wandel politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse auf den Grund zu gehen. Populäre Künste auf politische Gehalte, auf Potenziale für Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse hin abzuklopfen, hat freilich keine lange erkenntnistheoretische Tradition in der Zeitgeschichtsforschung. Dies kann kaum verwundern, blieb doch über viele Jahre hinweg schon dem Erforschen von Populärkultur als solcher die akademische Würde versagt. Anders als in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien waren gerade an deutschen – oder auch französischen – Historischen Instituten noch bis in die 1990er Jahre verächtliche Reaktionen von Belächeln bis Naserümpfen gang und gäbe.5 Das galt für alles Massenhafte ganz allgemein wie auch konkreter für populärkulturelle Produkte, Phänomene und Aktivitäten aller Art, die sich im Schlepptau der modernen Industriegesellschaft und über massenmediale Kanäle sukzessiver Medienensembles seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt auszubilden, auszuweiten, auszudifferenzieren begannen und die immer mehr Menschen für den eigenen Lebensalltag als höchst belang- und bedeutungsvoll einstuften (Maase 1997; Kalifa 2001; Sirinelli/Rioux 2002).

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Als „angelsächsische“ Synthesen vgl. Marwick 1998; Sassoon 2006. Erhellend wirkt auch die Relevanz, die Eric J. Hobsbawm in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts populärkulturellen Phänomenen zuspricht: vgl. Hobsbawm 1995.

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Dass sich der akademische Umgang damit in beiden Ländern nach und nach verändert hat, steht außer Frage.6 Populärkultur – verstanden weniger als Ensemble mit dauerhaft einschlägigem und festgelegtem Merkmalskatalog denn als Ergebnis steten Aushandelns zwischen Industrie, Kulturmachern, Künstlern, Medien und Publiken darüber, was wann dazugehört oder nicht – wird mittlerweile auf breiterer Front beachtliche Aussagekraft weit über die kulturellen Artefakte hinaus zugestanden. Auch hat Populärkultur als ernstzunehmender Faktor innenpolitischer und innergesellschaftlicher Transformationsprozesse zuletzt durchaus an Relevanz gewonnen (Maase 1992; Poiger 2000; Hüser 2004; Jobs 2007; Bantigny 2007; Traïni 2008; Siegfried 2008). Gleichwohl lässt sich nicht übersehen, dass sowohl für die Frühgeschichte der Bundesrepublik, um die es in den folgenden Passagen vornehmlich gehen soll, als auch für die französische Geschichte nach 1945, nur ganz wenige Untersuchungen vorliegen, die konsequent nach politischen Dimensionen im Kulturellen fragen und eine immer wieder eingeforderte Kulturgeschichte des Politischen von der (Populär-)Kulturseite her angehen.7 Solchen Zusammenhängen von Politischem und Kulturellem, von bundesdeutschem „Demokratiewunder“ und (trans-)nationaler Populärkultur in den 1950er und 1960er Jahren widmet sich dieser Artikel. Dahinter steckt die Vorstellung, Populärkulturelles habe Beiträge geleistet für das Öffnen neuer Horizonte, für pluralisierte Lebenswelten und individualisierte Lebensstile, für ein Aufbegehren gegen etablierte Autoritäten und Hierarchien, letztlich für die innere Demokratisierung der Bundesrepublik. Am Beispiel zeitgenössischer populärer Musikgenres wie Rock ’n’ Roll, Protestsongs oder Schlagerliedern soll es deshalb auf den folgenden Seiten darum gehen, einmal systematisch gesellschafts- und politikrelevante Dimensionen populärkultureller Produkte, Phänomene und Aktivitäten zu beleuchten und damit Basismaterial für eine Kulturge-

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Bei aller Diskussionswürdigkeit des zugrunde gelegten „Pop“-Konzepts vgl. die Bände von Mrozek/Geisthövel/Danyel 2014, die das ganze Spektrum an Spannungsfeldern aufzeigen, für die Populärkultur als relevantes Forschungsgebiet und erklärungsmächtiges Phänomen gelten kann.

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Eine Kulturgeschichte des Politischen, die vom Kulturellen her argumentiert, hat weiterhin deutlich weniger Wind in den Segeln als die Kulturgeschichte der Politik, die seit nunmehr etlichen Jahren beansprucht, „das eigentlich politische Handeln in seinen Vollzügen, politische Institutionen in ihrem Funktionieren, die Konstruktionen politischer Strukturen und Prozesse, aber auch den permanenten Konflikt darum, was eigentlich als „politisch“ (also: wichtig) gelten kann“, zu erfassen: vgl. Mergel 2012: 190.

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schichte des Politischen bereitzustellen, die weniger von den politischen als von den kulturellen bzw. musikalischen Angeboten her argumentiert. Konkret aufzuzeigen sind verschiedene, pragmatisch unterscheidbare Muster des Politischen im Populären, die wir erstens als Fremd-Politisierung durch Kritiker, Nörgler oder Moralapostel, zweitens als Selbst-Politisierung durch persönliches Engagement und drittens als Habitus-Politisierung durch entsprechenden Eigensinn bezeichnen könnten. Alle drei schreiben sich in ein immer evidenteres Spannungsfeld globaler Klangteppiche und lokaler Aneignungspraktiken ein, das sich unter dem Stichwort Trans-Nationales als ein viertes Muster des Politischen im Populären fassen lässt und die Wirkmacht grenzüberschreitend verfügbarer Sounds für damalige Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse betont. Besonders hebt es auf die Rolle deutsch-französischer und innereuropäischer Musikverflechtungen im Kontext transatlantischer Austauschdynamiken ab und konfrontiert gängige Amerikanisierungsthesen mit anschwellenden, bislang kaum erforschten Momenten einer populärmusikalischen Europäisierung europäischer Gesellschaften. Die Grundthese für den westdeutschen Fall lautet, dass diese Muster politisch aufgeladener, vielfach transnational inspirierter Musikgenres in den 1950er und 1960 Jahren allesamt auf jeweils spezifische Art und Weise eine hohe gesellschaftliche und politisch-kulturelle Veränderungsdynamik entfaltet haben und dass gerade eine Nachkriegsjugend auf der Suche nach geeigneten Modellen für die Zukunft die eng miteinander verzahnten Klang- und Lebenswelten als Experimentierfeld nutzte, um tradierte Repräsentationsformen und Autoritätsstrukturen kritisch zu beleuchten, um Informalisierungstrends (Elias 1990: 51ff.) hin zu autonomeren Verhaltenspraktiken zu befördern, um neue nichtinstitutionalisierte Formen politischer Artikulation und Partizipation hoffähig zu machen: „Demokratisierung durch populäre Musik“ (Siegfried 2008: 108). 2.1 Politisches als Fremd-Politisierung Ein erstes Muster des Politischen im Populären lässt sich in Kategorien äußerer Zuschreibung denken. Gemeint sind Phänomene der Populärkultur, die eher indirekt und mittelbar durch moral panics, durch öffentliche Debatten, Reaktionen und Widerstände in Politik, Wissenschaft, Medien, Verbänden, Kirchen und unter all denen, die sich aus Sorge vor Kontrollverlust, vor verschobenen Grenzen im Normen- und Wertegefüge berufen fühlen, die Menschen von heimischem, erst recht von fremdem „Schmutz und Schund“ fernzuhalten. Lieder, Filme oder Zeitschriften sehen sich als Materie beängstigender Faszination und symbolisches Kampffeld für gesellschaftspolitische Grundsatzkonflikte von außen politi-

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siert und erfahren einen Schub an Relevanz. Oft führen solche äußeren Zuschreibungen und Kontroversen, erst recht staatliche Regulierungsakte – etwa die primär gegen Comics gerichteten Jugendschutzgesetze 1949 in Frankreich und 1953 in der Bundesrepublik (Droit 2011: 230f.) – dazu, die Existenz bestimmter Genres zu kanonisieren und zu institutionalisieren. Eine Musikgeschichte „fremdpolitisierter“ Populär- und Jugendkultur in der westeuropäischen Nachkriegszeit startet in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mit „Halbstarken“, blousons noirs oder Teddy Boys.8 In zahlreichen Ländern sahen sich Politik und Gesellschaft mit einer Spezies amerikanisch inspirierter junger Männer aus Arbeiterkreisen konfrontiert, die Rock ’n’ Roll hörten und dazu „wilde“, „zügellose“ Tänze aufführten, die mit Vorliebe körperbetonte Röhrenjeans, enge T-Shirts und Lederjacken trugen, die betont lässig bis provokant auftraten, sich gern im öffentlichen Raum als Bürgerschreck inszenierten und die es wochenends mitunter im Rahmen von Musikkonzerten oder Filmvorführungen auch auf handgreifliche Konflikte mit Ordnungskräften ankommen ließen. Einige Jahre früher als in Frankreich setzten 1955 in Westdeutschland die öffentlichen Debatten über „Halbstarke“ ein (Hüser 2005: 199ff.), als es in etlichen Großstädten zum Zusammenrotten junger Leute, meist junger Männer in Parks, auf Plätzen oder im Umfeld von Kneipen und Kinos kam, sporadisch auch zu Polizeieinsätzen, Anzeigen, Festnahmen: an die 350 ebenso spektakulärer wie medienträchtiger „Halbstarken-Krawalle“ zählten Beobachter bis zum Jahre 1958 (Kaiser 1959: 106). Anlass boten Filme wie „Rock around the clock“, der in Westdeutschland im September 1956 als „Außer Rand und Band“ anlief (Grotum 1994: 78; Kurme 2006: 212ff.). Die virulenten Reaktionen auf das jugendliche Minderheitenphänomen, die die „provokative Rhetorik“ leidenschaftlicher Jazzgegner (Taubenberger 2006: 278ff.) in den Jahren zuvor in den Schatten stellten, dürften die „Halbstarken“ eher amüsiert haben. Das verbreitete Bild junger bildungsferner Asozialer, die tagsüber faulenzten, nachts den Bürgerfrieden gefährdeten und über kurz oder lang auf die schiefe Bahn geraten mussten, schmeichelte förmlich. Es war das Ergebnis öffentlicher Selbstinszenierung wie auch eines subtilen Zusammenspiels von Jugendlichen und Medien, die sich in einer „Mischung aus Komplizenschaft und Widerpart“ (Zinnecker 202: 476ff.) wechselseitig einspannten. Zwar spielte mancher Beobachter auf den internationalen Charakter des Phänomens an, aber erst deviante, massenmedial kolportierte Vorkommnisse im eigenen Land brachten breitere Debatten in Gang. Und auch die Suche nach Erklä-

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Zum Mangel transnationaler Ansätze beim Erforschen der europäischen Nachkriegsjugend vgl. Levsen 2010.

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rungsfaktoren erfolgte primär aus nationaler Warte, mit Blick auf mögliche Problemlagen vor Ort. Im bundesdeutschen Fall machten Soziologen, Pädagogen, Juristen oder Politiker vornehmlich auf die Kriegsfolgen aufmerksam, auf häufig beengte Wohn- und schwierige Familienverhältnisse. Ursachenforschung, die den nationalen Tellerrand überschritt, verwies gern auf die fatalen Reize, die Film- und Musikstars wie James Dean, Marlon Brando, Bill Haley oder Elvis Presley auf junge Leute ausübten. Am Pranger standen amerikanische Populärund Jugendkultur ganz grundsätzlich sowie die damit einhergehenden Symbole, Werte, Attitüden, die in den Nachkriegsjahren verstärkt den Atlantik überquerten und etlichen Zeitgenossen als unangenehm, als unübertragbar auf die Verhältnisse in der „Alten Welt“ erschienen. Oder schlicht als minderwertig (Freese 1995: 14ff.). Vordergründig mochte bei den „Halbstarken“ tatsächlich „jede vermittelbare politische Zielvorstellung“ fehlen (Wehler 2010: 190). Und auch aus den Textinhalten der Rock ’n’ Roll-Songs war wenig Programmatisches herauszuholen, Politisches schien dort kaum fassbar: keine konkreten Parolen, Konzepte oder Forderungskataloge. Und dennoch griffe es zu kurz, das „Halbstarken“Phänomen und das Aneignen von Rock ’n’ Roll umstandslos als unpolitisch abzutun. Denn selbst wenn deren Rebellentum kein massenhaftes Aufbegehren im Sinne kollektiver Aktionsformen oder sozialer Bewegungen darstellte, die Menschen zur Verteidigung gemeinsamer Interessen mobilisieren, lässt es sich schwerlich ganz davon trennen.9 Allemal handelte es sich im spezifischen Kontext von Nachkriegsboom und Wiederaufbaugesellschaft um ein Artikulieren von Widerspruch und Widerstand, ein Verweigern elterlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Gängelungen, das eine augenfällige Form von Protestidentität offenlegt: junge Leute, die sich ein stückweit öffentlichen Raum erobern wollten und ein Verhalten an den Tag legten, das der etablierten Erwachsenenwelt etwas entgegensetzte und das sich primär als symbolischer, als kultureller Protest in Form kaum überhörbarer Musikpräferenzen und spezifischer Konsumpraktiken äußerte. Das war im Kern rebellisch. Zumal sich die Selbststilisierung der „Halbstarken“ mit einer Absage an bürgerliche Ordnungsmaßstäbe und Selbstverständlichkeiten, an „verstaubte“ bürgerliche Normen, Werte und Leitvorstellungen verband, auch mit einem gefühlten Mehrbedarf an Freiheit und Freizeit, mit einem gewollten Weniger an Zwän-

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Zum Aufweichen der lange als strikt definierten Grenze zwischen sozialen Bewegungen und anderen, weniger programmatischen Mustern öffentlichen Dissenses in den Sozial- und Politikwissenschaften vgl. die Fallbeispiele bei Traïni 2009. Als klassische Position: Rucht 2012.

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gen des Wiederaufbaus und Berufsalltags (Masse 2003: 10). Eine Chiffre für all das, was Aufbrüche in eine neue Zeit versprach, und was zugleich vielen Älteren damals Sorgen bereitete, spürbaren Anpassungsdruck mit sich brachte und Vorstellungen beflügelte, die Jugend „n’est plus ce qu’elle était ...“ (Hamel 2010: 7ff.). Die grassierende Rock ’n’ Roll Panic (Grotum 2014: 19ff.) war deshalb weniger dem realen Gefährdungspotential der „Halbstarken“-Szene geschuldet als vielmehr dem befürchteten Verschieben kultureller Machtbalancen und gesellschaftlicher Hierarchien. Die stürmischen Reaktionen, die gängigen Negativzuschreibungen, die öffentlichen Kontroversen waren es, aus denen sich ein demokratischer Impetus, mithin politische Relevanz eines populärmusikalischen Genres ergab. Reaktionen, Zuschreibungen, Kontroversen, die zugleich relevante Aussagen erlauben über länderspezifische Selbst- und Demokratieverständnisse, über gesellschaftliche Toleranz und politische Liberalität, sei es in Westdeutschland, in Frankreich oder anderswo (Hüser 2015b: 260ff.). 2.2 Politisches als Selbst-Politisierung Pragmatisch unterscheidbar von politischen Dimensionen, die Populärkultur primär in Auseinandersetzung mit öffentlichen Meinungsführern und Trägern der etablierten Ordnung erwachsen, sind Formen des Selbst-Einmischens durch populärkulturelle Angebote und Artefakte, die ganz ausdrücklich und unmittelbar Politisches bergen: sei es als greifbare gesellschafts- und politikkritische Botschaften der Künstler in Musiktexten etwa oder in Filmsequenzen, sei es außerhalb des Kulturschaffens als Statements zu den herrschenden Verhältnissen oder die gesuchte Nähe zu Protestbewegungen. Die langen 1960er Jahre waren eine Hochzeit enger Verzahnung von politischen mit kulturellen Engagements, die aus den Protesten hervorgegangen sind und diese dank ähnlicher Gegner, Themen, Lebensstile und Utopien wiederum programmatisch, symbolisch, mental inspiriert haben. Protestlieder etwa aus Rock- und Folk-, Liedermacher- und engagierten Chanson-Genres fungierten als populärkulturelle Sprachrohre wie breitenwirksame Plattformen für Gesellschaftskritik und generierten eine „PopPolitisierung“ (Menzel 2014: 263f.), die keineswegs vorrangig aus Logiken äußerer Zuschreibung entstand, sondern aus den Produkten und Praktiken selbst (Drott 2011: 180ff.; Siegfried 2012: 292ff., 300f.): Spielarten populärer Musik, die darauf abzielten, emotionsgeladene Botschaften, Repräsentationen und Weltsichten öffentlich zu inszenieren, Mitbürger wie Multiplikatoren in Kunst, Medien, Wissenschaft, Politik zu aktivieren und Bühnen zu schaffen für punktuellen Unmut oder allgemeine Establishment-Kritik, für humanitäre oder staatsbürger-

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liche Anliegen (Pratt 1994: 25; Edelman 1995: 52ff., 143ff.; Eyerman/Jamison 1998: 2f.). Während „selbst-politisierte“ populäre Musik bereits im Frankreich der frühen Nachkriegsjahre wieder „son heure de gloire“ (Garapon 1999: 92) erlebte und engagierte auteurs, compositeurs, interprètes in den 1950er Jahren dauerhaft ein breites Publikum erobern konnten, kam es in der Bundesrepublik deutlich später zu einer ansatzweisen Renaissance politik- und gesellschaftskritischer Stücke. Unter dem Eindruck amerikanischer und französischer Vorbilder schickten sich junge Liedermacher seit Beginn der 1960er Jahre an, Nischen am Rande des schlagerdominierten Musikmarktes zu besetzen und für einige Zeit auch eine gewisse mediale und öffentliche Präsenz zu erlangen. Anknüpfungspunkte bot auch eine deutsche Volksliedtradition, die angesichts des nationalsozialistischen Missbrauchs nach 1945 jahrelang in der Versenkung verschwand, im Kontext der „Kampf dem Atomtod“-, besonders dann der Ostermarsch-Bewegung wieder auftauchte. Absicht und Anspruch war es, realitätsferne, zwischen Heimattümelei und Fernweh schwankende Schlager mit aussagekräftigen deutschsprachigen Titeln zu konfrontieren, zugleich durch Kritik an staatlichen Institutionen und wertkonservativ-spießigen Grundhaltungen im Land zum Nachdenken über die herrschenden Verhältnisse anzuregen. Zahlreiche der selbstgeschriebenen, selbstvertonten und selbstgesungenen Lieder waren unmittelbarer Ausdruck eines energischen Veränderungswillens (Sygalski 2011: 35ff.) und dürften – bei aller prinzipiellen Mehrdeutigkeit populärkultureller Phänomene – auch entsprechend rezipiert worden sein.10 Zu bedeutsamen Kristallisationskernen engagierter populärer Musikgenres entwickelten sich im Laufe der 1960er Jahre internationale Musikfestivals, allen voran die Burg Waldeck-Festivals im Hunsrück ab 1964 und die Essener Songtage im Frühherbst 1968.11 Burg Waldeck, das stand für „das Chanson, den Bänkel-Song, die unverkitschte Volksmusik“, wie es Diethart Kerbs, einer der Initiatoren des Events, in seiner Eröffnungsrede kundtat (Schneider 2005: 322). Von vornherein waren Politisches und Kulturelles aufs engste miteinander verwoben, das präsentierte Repertoire zielte auf ein eher begrenztes studentischintellektuelles Publikum. Mehrere Hundert Besucher zählte die Erstauflage des Festivals, das unter dem Motto „Chansons, Folklore, International – Junge Europäer singen“ stand. Für manche der bekannteren westdeutschen Liedermacher –

10 Dazu der Beitrag von Kaspar Maase in diesem Band. 11 Demnächst dazu die laufende Kölner Promotion von Karin Schützeichel: Zwischen Popkultur und Politik. Musikfestivals in der Bundesrepublik Deutschland von den 1960er bis zu den 1980er Jahren.

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Franz-Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Walter Mossmann, Hannes Wader, Reinhard Mey, Hanns Dieter Hüsch oder Hein & Oss – war es Feuertaufe und Initialzündung zugleich. Zunächst eher regional journalistisch begleitet, mauserte sich die Veranstaltung nach und nach zu einem Medienevent. Die Zeit und der Spiegel berichteten Jahr für Jahr, Rundfunk und Fernsehen waren mit Livesendungen präsent, lieferten zudem etliche, teils wohlwollende, teils herablassende Reportagen,12 was dem Festival zeitweise eine beträchtliche Resonanz wie auch eine Grundfinanzierung sicherte.13 Parallel zur Radikalisierung der APO begannen in den letzten Festivaljahren revolutionär-politische Wortbeiträge und Debatten mehr und mehr die musikalisch-ästhetischen Darbietungen zu überlagern: Waldeck schien „von der Geschichte überholt“ (Zeit, 28.6.1968) zu werden. Beim Schlussakt 1969 gerieten die Lieder dann gänzlich in den Schatten gegenkultureller Projektgruppen, Workshops und Teach-ins (Spiegel, 22.9.1969: 198f.). Die Internationalen Essener Songtage 1968, mit geschätzten 40.000 jungen Leuten ein erstes massenhaft mobilisierendes populärmusikalisches Großereignis, war ähnlich und anders zugleich. Ähnlich, weil die Grundidee gewahrt blieb, Kulturelles und Politisches explizit miteinander zu verbinden, in den Stücken selbst wie auch über Vortragsformate oder Podiumsdiskussionen; auch weil Waldeck-Protagonisten wie Degenhardt, Hein & Oss, Hüsch, Süverkrüp oder Wader prominent vertreten waren. Ganz anders war freilich die ganze Dimension des Festivals, auch die Bandbreite dezidiert gegen- und subkultureller musikalischer Stilrichtungen, die sich über Chanson und Folklore hinaus nunmehr aus einer ausdifferenzierten Pop- und Rocklandschaft speisten. Konsequent trugen die Essener Songtage dem Brückenschlag von Musik, Politik und Lebensstil Rechnung wie auch den Vermarktungstrends für musikalisch verpackte Kritik am Establishment seit Mitte der 1960er Jahre, befeuerten damit wiederum Debatten über Kultur, Rebellion und Kommerz. Neue schichtenübergreifende Fangemeinden galt es zu erobern. Denn anders als noch zu Zeiten der „Halbstarken“ war rebellischer Gestus nunmehr auf breiterer Front in Kreise jugendlicher Mittel- und Oberschichten, junger Männer wie auch junger Frauen eingezogen,14 die

12 Als Beispiel eher herablassender Berichterstattung vgl. die 25-minütige Dokumentation von Werner Feißt: Chanson-Folklore 1966 – Bericht über ein Festival, SWF, 1966. 13 Für etwa zwei Drittel der Festivalbudgets zeichneten die audiovisuellen Medien verantwortlich: vgl. Budzinski, Klaus: Sängerkrieg auf Burg Waldeck, in: Die Zeit, 10.6.1966. 14 Von einer „transversalité sociale de masse“, etwas generationell Abgrenzendem, aber massenhaft Verbindendem quer zu allen gesellschaftlichen Unterschieden spricht in

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den eigenen Anliegen einen ausdrücklicheren argumentationsstarken programmatisch-emanzipatorischen Anstrich zu verleihen wussten und damit auf grundsätzlich erhöhte Legitimation für öffentlichkeitswirksames Agieren rechnen durften (Durrer 2007: 170f.). Jugend- und Musikkulturen mit ausdrücklich politischem Impetus hatten sich im Laufe der 1960er Jahre immer stärker ausdifferenziert, ausgeweitet und auch transnationalisiert. Die Rock ’n’ Roll-geprägte „Internationale der ‚Halbstarken‘“15 beschrieb bestenfalls ein vergleichbares Phänomen in verschiedenen Ländern, aber keines mit wechselseitigen Bezugnahmen und Transfers über Grenzen hinweg. Dagegen generierte die „Internationale der Studentenbewegungen“ bei allen nationalspezifischen, kaum verallgemeinerbaren Entstehungskontexten, Rahmenbedingungen und Protestausprägungen neben den nationalen Geschichten auch eine transnationale Meistererzählung (Klimke 2008: 22ff.). Transnationale Momente wie der Krieg in Vietnam zählten zu den Triebfedern des Aufbegehrens. Ein transatlantisch-europäischer Austausch von Ideen, Programmen, Aktionsformen, Protagonisten war an der Tagesordnung und das Gefühl weit verbreitet, sich für eine gerechte Sache im Weltmaßstab einzusetzen. Überall ging es um vergleichbare Missstände und Reformstaus: die Verkrustungen institutionalisierter Politikformen etwa, die autoritär-hierarchischen Strukturen in Staat und Gesellschaft, die ungerecht verteilten Bildungschancen, der zweifelhafte Umgang mit Minderheiten oder auch mit verdrängten schwarzen Flecken auf den weißen Westen etablierter Nationalgeschichten. Künstlerische Aufbrüche wie die Happening-Kunst, besonders aber allseits verfügbare Protestlieder unterschiedlichster Genres waren sowohl Chiffre als auch Akteur der Bewegungen, ließen dank breitenwirksamer Diffusion musikalischer Botschaften weltweit wie national das latente Kritikpotenzial schwellen und senkten mentale Sperren für unkonventionelle Formen politischer Partizipation (Siegfried 2014: 34, 38f.). Und dennoch: bei allen Mythen, die sich um Studentenproteste und Mai 68 ranken, handelte es sich weder um den „Beginn einer neuen Epoche“ noch um eine „Zweite Stunde Null“ (Kaelble 2011: 186; Wehler 2010: 311). Schlüssige

diesem Zusammenhang Yonnet 1985: 189. Allerdings lebten „feine Unterschiede“ fort, einmal durch die unaufhaltsame Fragmentierung populärer Genres, dann durch Distinktionsgewinne innerhalb einzelner Stile, mit denen sich eingeweihte SzeneEliten von der dumpfen Masse an „Milieu-Mitläufern“ abzusetzen gedachten. Dazu Frith 1996: 251ff. 15 Begriff erstmals im „Spiegel“ vom 2.10.1962, S. 168; dann auch bei Maase 2001, S. 252. Vgl. den Beitrag von Katharina Böhmer in diesem Band, S. 244.

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Deutungen kommen kaum umhin, den bereits voranschreitenden sozio-kulturellen Wandel, die längst erweiterten Erfahrungs- und Handlungsräume für junge Leute oder die schon veränderten Wertorientierungen als Faktoren zu berücksichtigen. Tatsächlich war der Mai 68 ein Brennglas verschiedener Entwicklungsstränge seit den 1950er Jahren, die sich auch in anderen Jugend- und Musikkulturen sowie im politischen Dissens „fremd-politisierter“ jugendlicher „Halbstarker“ und blousons noirs manifestiert hatten (Siegfried 2008: 747ff.; Kutschke 2008: 7). Fast schien es, als hätte der Mai 68 lediglich eine Zukunft eingeklagt, die der Jugend schon zwanzig Jahre zuvor in Sonntagsreden über eine zwingend notwendige gesellschaftliche Frischzellenkur versprochen (Jobs 2007: 280f.), dann aber weder im Arbeitseifer des westdeutschen Wiederaufbaus noch im traumatisierten Frankreich des Algerienkrieges realiter eingelöst worden war. Darin bestand der innere Zusammenhalt wie die innere Dynamik jugendlicher Renitenz der 1950er, 1960er und frühen 1970er Jahre. 2.3 Politisches als Habitus-Politisierung Gesellschaftlich und politisch-kulturell wirksam können potenziell auch solche Phänomene der Populärkultur sein, die ohne explizite Polit-Botschaften auskommen oder von vermeintlichen Tugendwächtern als bedrohlich inkriminiert werden und die mithin weder „fremd“- noch „selbst-politisiert“ sind. Als eine solche weitere Variante des implizit Politischen im Populären sind Muster eines unmittelbar schwer greifbaren, sprachlos-unauffälligen Eigen-Sinns und AndersSeins meist junger Leute zu verstehen, die generationelle Spannungen ebenso emotional, habituell und symbolisch begleiten können wie jugendliche Wünsche nach weniger gesellschaftlichen, elterlichen, schulischen oder beruflichen Zwängen, einem Mehr an Freiheit, an spiritueller Befriedigung und individueller Körperlichkeit, an erlebter oder imaginierter Grenzüberschreitung und Horizonterweiterung (Traïni 2008: 11ff., 24f.; Loosely 2013: 68ff.). Musikalisch finden sich in den 1950er und 1960er Jahren etliche Spielarten und Praktiken, die dies weniger über provokatives Gebaren oder programmatische Parolen als über genrespezifisches Verhalten, über Konsum, Kleidung, Sprache oder Habitus zu demonstrieren wussten. Dabei handelt es sich vornehmlich um Genres, die Artikulationen wie Rock ’n’ Roll oder Protestsongs als vergleichsweise randständig erscheinen lassen und eher auf die Mitte der Gesellschaft als auf Nischen-Szenen zielten. Besonders erwähnenswert für den deutschen Fall sind die verschiedenen Spielarten des Nachkriegsschlagers, die häufig nahtlos anknüpften an die Unterhaltungsmusik der Vorjahre. Schlager gelten gemeinhin als „bieder, belanglos,

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konservativ und reaktionär“ (Wicke 1997: 475), sind gleichwohl kaum über einen Kamm zu scheren. Gewiss keine Avantgarde, bilden Schlager doch weder musikalisch noch textlich einen starren Block, den nichts und niemand im Zeitverlauf verändert. Tatsächlich haben wir es mit einem „ziemlich differenzierten Spektrum“ (Brunnhöber 1983: 404) zu tun, immer wieder färbten und färben sukzessive musikalische Modetrends auch auf Schlager ab und verändern dominante Arrangements, Präsentations- und Interpretationsformen. Ähnlich schwierig wie bei anderen populären Musikrichtungen erweist es sich deshalb, das Genre definitorisch zu fassen. Ob nun als Kern der Warencharakter, der Unterhaltungswert, die konventionellen ästhetischen Standards oder der eingängigsentimentale, manchmal stimmungsvolle Gehalt der Lieder bemüht wird oder auch Mehrheitsgeschmack und Massentauglichkeit: Schlager besitzen keine Essenz und sperren sich gegen ein eindeutiges Abgrenzen von anderen Musikstilen (Mendívil 2008: 345f.). Die erdrückende Dominanz schlagerhafter populärer Genres auf dem bundesdeutschen Musikmarkt war mit Händen zu greifen. Unter den 20 meistverkauften Single-Platten im Westdeutschland des Jahres 1956 rangierten 19 deutschsprachige Stücke, im Durchschnitt des Jahrzehnts zwischen 1956 und 1965 waren es 16,4 pro Jahr. Gesangstitel in englischer Sprache blieben absolute Mangelware. Mit dem weltweiten Siegeszug der Beatles 1963/64 und der losgetretenen Beat-Rock- und Pop-Welle der Folgezeit begannen sich die Verhältnisse zu verändern und nach und nach umzukehren. 1966 waren noch sechs einheimische Lieder unter den 20 meistverkauften Singles vertreten, zwischen 1966 und 1975 waren es im Schnitt noch 7,2 Titel pro Jahr.16 Der Trend schien unumkehrbar, daran vermochte auch die im Januar 1969 im Zweiten Deutschen Fernsehen anberaumte „ZDF-Hitparade“ nichts mehr zu ändern, die den Zuschauern konsequent und exklusiv deutschsprachiges Liedgut darbot. Zugleich gerieten im Laufe der 1960er Jahre Schlager in die öffentlichen Schlagzeilen. Nicht aus Gründen von moral panics oder wegen eines sozialkritischen Impetus, sondern weil nunmehr angesagte Intellektuelle und Meinungsführer im Land die getanzten, nachgesungenen, angehimmelten Lieder in Kategorien kulturindustrieller Volksverblödung und kapitalistischer Ertragsmaximierung an den Pranger stellten (Moritz 2001: 203f.). Die breite gesellschaftliche Rezeption und die Realität einer MainstreamMusikkultur der frühen Nachkriegsjahrzehnte mit Ohrwürmern, die politisch korrekt, gesellschaftlich konform und intergenerationell konsensuell daherkamen, haben die kulturwissenschaftliche und zeithistorische Forschung bislang

16 Zahlen berechnet nach Herrwerth 1998: 35ff., 66ff., 100ff.

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nur mäßig inspiriert. Stets lag der bevorzugte Fokus auf unmittelbar öffentlich verhandelten „fremd“- oder „selbst-politisierten“ Musikstilen, die randständige bis subkulturelle Jugend-Szenen speisten. Dass die Zeitgeschichte populären Mainstream noch kaum entdeckt und auf seine politik- oder gesellschaftskritischen Potenziale hin abgeklopft hat, enthebt aber keineswegs der Frage, ob nicht auch solche „Eigen-Sinn-Genres“ wie Schlager ein Scherflein beigetragen haben zu westdeutschen Liberalisierungs- und Pluralisierungstrends, zum Wandel von Werten, Normen, Lebensstilen in den 1950er und 1960er Jahren. Anders als bei Szenen und Genres, die von vornherein auf Dissens gebürstet waren, mag dies weniger offensichtlich und öffentlichkeitswirksam erfolgt sein, auch eher homöopathisch als holzhammerhaft. Denn Schlagermusik hatte nichts Bedrohliches, vordergründig ging es überhaupt nicht um Hierarchien, Bedeutungskämpfe und Machtbalancen, um ein Grenzverschieben von Sag- und Machbarem im öffentlichen Raum. Ohne Frage zeichneten sich Schlager auch damals durch möglichst eingängliche Refrains, durch schlichte Tonfolgen und Textstrukturen aus, setzten auf bequeme „Wahrheiten“, auf Harmonie und heile Welt, bedienten den HerzSchmerz-Bedarf breiter Publiken, Heimatliebe wie Fernwehträume. Ob sich aber der frühe Nachkriegsschlager gänzlich auf eine Beheimatungsfunktion und „Verdrängungsapparatur“ (Port le Roi 1998: 94) reduzieren lässt, auf einen „Rückzug ins Private“ und eine „Rebellion der Konservativen“ (Mendívil 2008: 233, 247; Maase 2010: 76f.), ausgelöst durch zahllose politische, gesellschaftliche wie auch populär- und jugendkulturelle Herausforderungen der Zeit, das wäre eingehender empirisch zu prüfen. Schließlich gab es etliche Ausnahmen: Schlager, die kaum in die gängigen Schablonen passten, die mit „überraschend vielen konkreten Utopien“ aufwarteten (Hügel/Zeisler 1992: 115), die als geistreich und originell hervorstechen und erfolgreich sein wollten, die mit Witz und Ironie den „Mainstream-Schlager“ karikierten (Faulstich 2003: 181ff.) oder die sich an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen rieben, und sei es oberflächlich. Um auf Resonanz zu stoßen, galt es stets im Trend zu bleiben und sich neu zu erfinden. Als populärer Ausdruck lebensweltlicher Befindlichkeiten boten Schlager keine Spiegel-, wohl aber „Zerr- und Vexierbilder“ (Moritz 2001: 206, 212) einer jungen Bundesrepublik, die – wie die Angebote anderer Genres auch – kreativ gelesen und entschlüsselt, mitunter subversiv genutzt wurden, die damit als „objets politiques non-identifiés“ (Martin 2002) durchaus „unpolitisch politisch“ sein konnten. Hinzu kommt, dass gewiss nicht jeder und jede Schlagerbegeisterte ausschließlich Schlager hörte. Das mochte vorkommen, doch bei aller Präferenz für diese oder jene Musikrichtung lässt sich gerade unter den Jüngeren kaum von

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komplett abgeschotteten genrespezifischen Hörergemeinden ausgehen. Auch wenn quellengesättigte Studien fehlen, können wir begründet annehmen, dass das musiksoziologisch seit den 1990er Jahren viel diskutierte Phänomen der „Allesfresser“, eine wenig festgelegte, aus den vielen verfügbaren Angeboten nach Lust und Laune auswählende Audienz, schon Jahrzehnte zuvor keine Seltenheit war. Selbst bei Sparten, die weniger im Mainstream schwammen als der Schlager, dürfte es um den Kern populärmusikalischer und jugendkultureller Szenen herum Gruppen gegeben haben, die offene Ohren hatten für anderes. Dies umso mehr als sich in den 1950er und 1960er Jahren europaweit ein qualitativ verändertes Medienensemble auszubilden begann, in dem besonders die zahlreiche und kaufkräftige junge Kundschaft als Nutzer in den Blick geriet. Das Fernsehen gesellte sich dazu und geriet ganz rasch zum Leitmedium, Transistorradios boomten und machten das Musikhören mobil, Jugendmedien und Jugendformate eroberten den Markt und trafen rasant auf eine gewaltige Nachfrage.17 Und mehr als je zuvor griffen nun Kinostreifen und Schallplatten, Photoromane und Comics, Radio- und TV-Formate, Zeitschriften und Werbeträger aller Art wie ein Räderwerk ineinander, verstärkten und bestärkten sich wechselseitig, machten Stars zu Stars, Hits zu Hits, Bestseller zu Bestsellern. In diesem Kontext einer sich ausbildenden Konsum- und Mediengesellschaft, in der für immer mehr Menschen erträumte Gebrauchs- und Unterhaltungsgüter in immer greifbarere Nähe rückten und sich ungeahnte Chancen auf Neues, Anderes, Besonderes auftaten, erscheint es fast undenkbar, dass Schlagermusik bestenfalls restaurativ-beheimatende Konnotationen implizierte und sich nicht auch mit reizvollen, positiv besetzten Projekten und Wünschen für die unmittelbare Zukunft verbunden haben soll. Schlager generierten womöglich weniger enthierarchisierende und informalisierende Effekte in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft als „fremd“- oder „selbst-politisierte“ musikalische Stilrichtungen. Doch Liberalisierungs- und Pluralisierungstrends meinten in den 1950er und 1960er Jahren mehr als das sukzessive Abbauen tradierter Autoritätsbezüge und -strukturen. Beides steht auch für das Öffnen neuer Horizonte, das Erweitern lebensweltlicher Handlungsoptionen, das Freisetzen emotionaler Dynamiken, das Realisieren konkreter Utopien und damit letzten Endes auch für ein Verändern gesellschaftlicher Orientierungsmuster und Erwartungshaltungen, die sich über kurz oder lang zwangsläufig politisch-kulturell niederschlagen mussten.

17 Zu den Jugendmagazinen im westdeutschen Fall klassisch Maase 1992; für Frankreich vgl. Tinker 2010; in vergleichender Sicht nun Aline Maldener, vgl. ihren Beitrag in diesem Band.

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Was nun das Schlagergenre dazu beigetragen hat, darüber werden erst konkrete Forschungsarbeiten Aufschlüsse liefern können. Solche Studien hätten zum einen serielle Medienprodukte heranzuziehen: musikbasierte Radio- und TVSendungen, jugendorientierte Magazinformate, aber auch auflagenstarke Fernseh- oder Publikumszeitschriften, die Aussagen über die Breitenwirkung populärmusikalischer Aufbrüche erlauben. Um konkretere „Fluchtlinien in PopBiographien“ (Sanders 2009: 117ff.) nachzeichnen zu können, wäre es zum anderen zentral, systematisch verfügbare zeitgenössische Zuhörer- und Zuschauerpost wie auch aktuelle Fanclub-Portale und Zeitzeugengespräche auszuwerten, daneben Bild- und Interviewbände sowie auto-biographische Schriften ausgewählter Musikstars. Nicht zu unterschätzen sind in diesem Zusammenhang potenzielle Öffnungseffekte durch die fortschreitende Internationalisierung und Europäisierung auf dem westdeutschen Musik- und gerade auch Schlagermarkt seit den frühen 1960er Jahren. Und es waren nicht nur amerikanische und englische Größen populärer Musik: dänische und finnische, schwedische und norwegische, italienische und griechische, nicht zuletzt auch französische Stars, meist junge Frauen, prägten die Szene und fanden mit deutschen Liedern oder in „Zweisprachkauderwelsch“ (Kraushaar 1983: 82) massenhaft Rezipienten: „Hauptsache, der Akzent stimmte“. 2.4 Politisches als „Trans-Nationales“ In allen drei Fällen: ob wir es nun mit „unpolitisch politischen“ Populärkulturformen im Sinne des Schlagers zu tun haben oder mit „fremd“- bzw. „selbstpolitisierten“ Genres und Praktiken, lassen sich in transnationaler Perspektive weitere potenzielle Momente des Politischen im Populären aufzeigen. Politisches als „Trans-Nationales“ speist sich aus der Ubiquität global verfügbarer Angebote und Aktivitäten sowie den ebenso selektiven wie kreativen Prozessen nationaler, regionaler oder lokaler Aneignung durch Individuen oder bestimmte Sozialgruppen. Es unterstreicht im Übrigen mit Nachdruck, dass transnationale Geschichte keine prinzipielle Abkehr von nationalen Untersuchungsdesigns bedeuten muss, geht es doch gerade auch darum, zu klären, wie, warum, inwieweit und mit welchen Folgen sich ein grenzüberschreitend zirkulierendes populäres Phänomen in jeweils nationale Kulturkontexte eingepasst hat oder eben nicht (Cornelißen 2015: 394f.). Jedenfalls zeitigten und zeitigen transnationale Offerten der Populärkultur wie Lieder und Filme, Bildgeschichten und Romanheftchen, Kultur- und SportEvents erkennbare, wenn auch empirisch schwer fassbare Effekte im Kontext diverser Aufnahmegesellschaften. Stets verbinden sich mit solchen grenzüber-

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schreitenden Übersetzungs- und Aneignungsprozessen bestimmte Erwartungen, Vorstellungen, Repräsentationen, stabilisieren oder verändern sich bestimmte Muster der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Es sind populärkulturelle MittlerPhänomene, die Künstler oder Produzenten manchmal absichtsvoll als solche konzipieren: mit dem Ziel etwa, dem Lese- und Seh-Publikum eines anderen Landes bestimmte Thematiken oder Artefakte kreativ nahezubringen. Meist handelt es sich aber um Mittler-Phänomene, die zunächst keineswegs als solche konzipiert gewesen sind, die ursprünglich keine intendierten verständigungspolitischen – oder auch konfliktschürenden – Gehalte aufgewiesen haben, die dennoch transnational zirkulieren und zwischen Ausgangs- und Zielgesellschaft entsprechende Wirkungen entfalten und veränderte Perzeptionen erzeugen können (Colin/Umlauf 2013; Hüser/Pfeil 2015). Zeithistorisches Beschäftigen mit transnationaler Populärkultur erfolgte seit seinen Anfängen unter dem Amerikanisierungsparadigma europäischer Nachkriegsgesellschaften. Die Vereinigten Staaten übernahmen nach 1945 endgültig die Rolle als westliche Vormacht, galten zudem als Vorreiter einer modernen Massenkonsumgesellschaft. Amerikanisches setzte auch in der Populärkultur mehr und mehr Zeichen, weckte Sehnsüchte der Einen, Sorgen der Anderen, verband sich mit verheißungsvollen wie mit traumahaften Zukunftsszenarien (Schröter 2008: 63f., 77f.). Gleichwohl sind schematische Vorstellungen einer „Populärkultur der Welt“, die mit Ausnahme des Sports nach 1945 amerikanisch gewesen oder provinziell geblieben sei (Hobsbawm 1995: 251f.), aus europäischem Blickwinkel näher zu hinterfragen. Zwar war Populärkultur gewiss ein Herzstück dessen, was Europa als faktische oder scheinbare „Amerikanizität“ wahrnahm und was gerade jüngeren Menschen daran attraktiv erschien. Doch „Amerika“ war stets auch Chiffre und Subtext (Kroes 2014: 79ff.). Europäerinnen und Europäer, die dies wollten, haben sich letztendlich selbst amerikanisiert, haben Verfügbares ausgewählt, alltagspraktisch genutzt und dabei in den einzelnen Ländern wieder Europäisches „gebastelt“ (de Grazia 2010: 21ff.). Mithin sind Amerikanisches und Europäisches selten trennscharf voneinander abzugrenzen, sondern in mancherlei Hinsicht eng und komplex miteinander verflochten, wie etwa im Filmsektor mit den „beiden symbolischen Hauptstädten: Paris und Hollywood“ (Schwartz 2007: 202). Freilich sind populärkulturelle Europäisierungs- verglichen mit Amerikanisierungsprämissen wissenschaftlich bislang eher unterbelichtet, weder als grenzüberschreitende Kulturtransfers, die auch in der „alten Welt“ in der Nachkriegszeit enorm zulegten, breiter thematisiert, noch als Verflechtungsbilanzen zwischen transatlantischem und innereuropäischem Austausch (Osterhammel/Petersson 2004: 22f.). Kulturtransfers fanden überall statt, funktionierten je-

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doch weder transatlantisch noch innereuropäisch als Einbahnstraße. Meist haben wir es mit „asymmetrischen Interdependenzen“ (Fickers 2016, i.E.) zu tun, mit einer nach Dauer und Rhythmen, nach Quantität und Intensität divergierenden Zirkulation zwischen Interaktionsräumen. Faktisch lassen sich etliche gängige Amerikanisierungsgeschichten für Populärkultur, auch für Massenmedien (Requate 2010: 53), offener und differenzierter als Europäisierungs- oder transatlantische Verflechtungsgeschichten erzählen. Beispielsweise entsprach die vielzitierte Amerikanisierung der europäischen Kino-Szene nach 1945 eher einer amerikanisch-europäischen Filmverflechtung. Neben Hollywood-Streifen in Europas Kinos wäre über all die Aufbrüche in den nationalen Kinolandschaften zu sprechen, die in den Nachkriegsjahrzehnten darauf hinausliefen, jeweils eigene Filmtraditionen in Filmstoffen, Techniken und persönlicher Implikation der Regisseure zu modernisieren, teils durchaus unter Berufung auf bestimmte nordamerikanische Vorbilder, meist in Abgrenzung von der Negativfolie „HollywoodSystem“. Zu reden wäre konkreter über den neorealistischen Film in Italien, über die Nouvelle Vague in Frankreich, später über den jungen deutschen Autorenfilm, über die europa-, ja weltweite Rezeption all dieser neuen Filmströmungen, auch über die europäischen Filmkritiker-Netzwerke,18 die damals im Umfeld einschlägiger Zeitschriften und internationaler Filmfestivals entstanden und eine Art „cosmopolitan film culture“ hervorbrachten (Schwartz 2007: 6ff.). Auch eine Amerikanisierungsgeschichte populärer Musikszenen in Europa ließe sich in eine Verflechtungsgeschichte „umschreiben“. Bei aller prägenden öffentlichen Wirkung, die der Rock ’n’ Roll wie auch damit konnotierte Jugendkulturen – speziell die europaweiten „Halbstarken“-Phänomene – seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre beanspruchen können, sind doch Vorstellungen einer eindeutig zugunsten der USA ausfallenden musikalischen Verflechtungsbilanz zu relativieren. Oft waren es europäische Künstler mit „nationalisierten“ CoverVersionen, in Frankreich und Westdeutschland auch gern mit Texten ohne jeglichen Bezug zu den Originalen, die Rock ’n’ Roll und den US-Stars nachträglich Bekanntheit verschafften. In den einheimischen Jahreshitparaden und Verkaufsbestenlisten fanden sich bis zum globalen Erfolg der Beatles 1963/64 fast durchgängig deutsche bzw. französische Titel auf den Spitzenpositionen (Maase 2010: 52ff.). Erst die Beatmusik mischte dann die nationalen Musikmärkte auf dem Kontinent auf, eroberte als British invasion zugleich Nordamerika, setzte dort für

18 Dazu das Saarbrücker DFG-Projekt „Filme(n) für eine bessere Welt – Filmkritik und Gesellschaftskritik im Westeuropa der Nachkriegszeit in Vergleich, Transfer und Verflechtung“, das Lukas Schaefer bearbeitet. Vgl. ders. 2015; vgl. daneben seinen Beitrag in diesem Band.

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einige Jahre erfolgreich neue Trends und legte den Grundstein für neuerlich adaptierte Sparten moderner Rockmusik, deren Klangteppiche dann wiederum weltweit kreative Aneignung erfuhren (Fifka 2007: 75). 19 Zugleich begannen sich innereuropäische Verflechtungen populärer Genres zu verstärken, auch dank grenzüberschreitend erfolgreicher Jugendradioformate oder des Grand Prix Eurovision de la Chanson im Fernsehen, der sich im Laufe der langen 1960er Jahre von einer gediegenen Komponistenkonkurrenz zu einem Populärkultur-Event mauserte (Fickers 2011: 299f.). Unter deutsch-französischen Gesichtspunkten stellt sich für beide Länder die Frage nach den Spezifika des nationalen Kulturbetriebs für das Aneignen populärer Musik im Zeichen der Beatwelle. Dominierte hier zunächst das Nachahmen angelsächsischer Vorbilder, entstand dort eine stilbildende génération yé-yé mit Trendsettern wie Françoise Hardy, France Gall oder Sylvie Vartan, die angelsächsische Rock-, Beat- und Pop-Klänge zunächst „nationalisierten“, dann den french touch auch „transnationalisierten“ angesichts massiver Nachfrage gerade auf den britischen Inseln und beim westdeutschen Nachbarn. Im Nachbarland präsent und populär zu sein oder sogar – wie etwa Françoise Hardy20 – von der Bravo als marktführender Jugendzeitschrift jahrelang „adoptiert“ zu werden, das gelang damals vielen weiteren französischen bzw. frankophonen Sängerinnen und Sängern.21 Darunter fanden sich ganz verschiedene musikalische Profile: Musen der Saint-Germain-des-Prés-Ära, klassische Chansonniers und länger etablierte Künstler, erfolgreiche Grenzgänger aller Art und dann eben die ganz junge Garde der yé-yé-Idole, meist mit eingängigen, deutsch vorgetragenen, in die Schlagerschublade gesteckten Liedern à la française (Schmitz-Gropengießer 2012: 219ff.) Den Schlussstein für die 1960er Jahre sollte dann der Song Je t’aime ... moi non plus setzen, 1967 von Serge Gainsbourg mit Brigitte Bardot eingespielt, dann im Herbst 1969 als Duett mit seiner neuen Lebensgefährtin, der

19 Dazu auch der Beitrag von Egbert Klautke in diesem Band. 20 Françoise Hardy war eine der europäischen Musik-, Mode- und Stil-Ikonen der 1960er Jahre, die gleich mehrfach auch die Bravo zierte; vgl. Bravo Nr. 15 (1965), 43 (1965), 10 (1966), 23 (1967), 34 (1967), 7 (1968). 21 Dazu zählten Adamo, Antoine, Charles Aznavour, Barbara, Gilbert Bécaud, Marie Paul Belle, Jacqueline Boyer, Pierre Brice, Jacques Brel, Georges Chelon, Dalida, Joe Dassin, Jacques Débronckart, Sacha Distel, Jean Ferrat, France Gall, Daniel Gérard, Juliette Gréco, Françoise Hardy, Serge Lama, Catherine Lara, Mireille Mathieu, Georges Moustaki, Jean-Claude Pascal, Michel Polnareff, Serge Reggiani, Régine, Henry Salvador, Sévérine, Charles Trenet, Sylvie Vartan, Hervé Vilard. Vgl. Helms 1972; Bardong/Demmler/Pfarr 1992.

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englischen Schauspielerin Jane Birkin, veröffentlicht.22 Dutzende andere Stücke sind bis weit in die 1970er Jahre hinein ins Deutsche übertragen worden, häufig allerdings in eher freier Übersetzung oder mit völlig neuem Text. Eine treue west- wie ostdeutsche Fangemeinde goutierte französische Chansons in deutscher Sprache, egal ob von einheimischen oder Originalinterpreten wie Adamo, Aznavour, Bécaud, Dalida oder Barbara.23 Für Teilpubliken überaus attraktiv war Frankreichs Chanson-Szene als solche wie auch die ausdrücklich politik- und sozialkritischen Sparten im engeren Sinne. Aus der Perspektive einfacher Menschen und in Solidarität zu gesellschaftlich Benachteiligten boten damals Georges Brassens, Jacques Brel, Jean Ferrat, Léo Ferré und andere ein stattliches Repertoire an nonkonformistischen und anarchistisch-libertären Liedern dar, die Politisches und Poetisches in Einklang brachten, zudem bei einem französischen Massenpublikum auf offene Ohren stießen. Viele derer, die sich – bei geringerer Resonanz freilich – seit den 1960er Jahren im deutschsprachigen Raum sozialkritisch-politischen Liedern verschrieben, fanden die maßgeblichsten Inspirationsquellen im Nachbarland. Besonders faszinierte Georges Brassens mit seinen literarischen Anspielungen und intertextuellen Spielereien, die klassisches Bildungsgut mit Straßenjargon verwoben. Immer wieder bezeichneten später Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader oder Walter Mossmann die Auseinandersetzung mit seinen Stücken als Initialzündung für den eigenen musikalischen Weg in die frühe westdeutsche Protestsänger- und Liedermacher-Szene.24 Erwähnenswert als ein weiteres, mehr noch auf Nischenkulturen beschränktes Phänomen, wenn es um populärmusikalische deutsch-französische Transfers der frühen Nachkriegszeit geht, sind die sogenannten Exis, die sich Cool Jazzund Modern Jazz-Spielarten verpflichtet fühlten und an der ExistentialistenSzene des Pariser Rive Gauche orientierten. Wie die meisten Jazz-Fans damals stammte auch die vielfach schattierte Exi-Jugend aus bürgerlich-bildungsnahen Kreisen mit „Hochburgen“ im gymnasialen und studentischen Milieu. Kurze Haare im „Cäsarenschnitt“, dunkle Hosen und Rollkragenpullover galten als männliche Markenzeichen, auch die Mädchen trugen vorzugsweise schwarz,

22 Nicht zuletzt dank kalkulierter Skandalisierung war der französische Song 31 Wochen in den westdeutschen Charts vertreten; vgl. Erwe 2011: 125ff. 23 Als einheimische Interpreten wären etwa Alexandra, Joana, Hildegard Knef, Gisela May zu nennen, in den 1970er Jahren dann auch Michael Heltau, Erika Pluhar, Klaus Hoffmann oder auch Katja Ebstein. Vgl. Bonnermaier 2003: 40f. 24 Zu Degenhardt vgl. Rupprecht 1999: 101ff.; zu Wader vgl. Funk 2002; zu Mossmann vgl. Frey 2004. Überblicksartig Böning 2007.

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lange Haare mit Pferdeschwanz und Pony à la Juliette Gréco oder Kurzschnittfrisuren wie Jean Seberg in Godards A bout de souffle. Distanziert gegenüber dem American way of life, setzten sich die Exis bewusst von arbeiterjugendlichen Ausdrucks- und Verhaltensformen ab, wussten jedoch anti-proletarische Grundhaltungen mit konventionslos-antibürgerlichen Attitüden zu einer spezifischen Form jugendlicher Gegenkultur und Zivilisationskritik zu verbinden. Nicht wildes Tanzen und ostentative Körperlichkeit standen im Vordergrund. Eher schon ergingen sich die Exis in kennerhaft-genießerischem Zuhören bei düsterem, den Kellern des Saint-Germain-Viertels nachempfundenem Ambiente, um anschließend über die Musik zu fachsimpeln oder Gespräche über Philosophie und Literatur zu führen (Krüger 1986: 263ff.; Braese 2015). Eine Rezeptions- und Aneignungsgeschichte französischer Musikgenres und eng damit konnotierter Jugendszenen der ersten Nachkriegsjahrzehnte liegt weder für Westdeutschland noch für andere europäische Länder ansatzweise vor. Die Exis sind weiterhin kaum erforscht, doch auch die breitenwirksameren Kulturtransfers über die yé-yé-Stars, die engagierten auteurs, compositeurs, interprètes oder andere Interpreten populärer Genres der Zeit sind bestenfalls bruchstückhaft bekannt und nirgends systematisch untersucht. Es gibt kaum gesicherte Erkenntnisse über massentaugliche oder spartenorientierte Fernsehsendungen und Radioformate, die Sängerinnen und Sänger aus dem Nachbarland präsentiert, über Fangemeinden und Fanclubs, die sich gebildet, über Frankreichbilder und Verständigungseffekte, die sich daran geknüpft haben. Nicht allein Amerikanisches oder Britisches hatte damals Konjunktur, auch Französisches faszinierte zahlreiche Deutsche gerade mit bildungsbürgerlichem Hintergrund: Kulturelles und Kulinarisches, Mode und Lifestyle, aber auch Politisches – das offenbar intakte republikanische Nationsmodell etwa oder die deutlich ausgeprägtere politische Streitkultur – machten neugierig, galten mitunter als modellhaft. Dass manche kulturellen Transferphänomene auf gesellschaftliche Nischen beschränkt blieben und das Lebensgefühl „einer frankophil disponierten Minderheit“ (Christadler 1990: 224ff.) trafen, sagt wenig darüber aus, wie intensiv, wirkungsreich und dauerhaft dies dennoch Menschen lebensweltlich prägen und Verstärkereffekte zeitigen konnte. Ob die Wertschätzung für populäres Liedgut aus Frankreich bei deutschen Publiken tatsächlich in einem ursächlichen Zusammenhang stand mit Prozessen fortschreitender deutsch-französischer Verständigung oder mit verstärktem Jugendwerksaustausch (Herrwerth 1998: 59f.), wäre eingehender zu prüfen. Ins Auge springt, dass es sich um eine recht einseitige Transfergeschichte von West nach Ost handelt, und dass westdeutsche Künstler in Frankreich kaum vergleichbare Erfolge verbuchen konnten. Weder ein einzelner Millionenseller,

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wie der Sprechgesang-Hit „Monja“ in den späten 1960er Jahren, noch die Anerkennung, die Reinhard „Frédérik“ Mey mit seinen französischen Alben erfuhr, widersprechen dem Befund, sondern sind lediglich prominente Ausnahmen von der Regel einer Nicht-Rezeption deutscher Lieder und Interpreten im Nachbarland. Damit stehen die Austauschprozesse fraglos für die damals anschwellenden binneneuropäischen Musikflows parallel zum transatlantischen Austausch, zugleich für asymmetrische deutsch-französische Interdependenzen und gewisse Ungleichzeitigkeiten in der wechselseitigen Kulturrezeption, die selten gleichmäßig in beide Richtungen verlief (Christadler 2001: 2, 8). Offenbar korrelierte in den 1950er und 1960er Jahren ein hohes Attraktionspotential einiger französischer Genres und Szenen mit einer doch großen Offenheit gegenüber Neuem und Nicht-Einheimischem unter jungen Leuten im Nachkriegsdeutschland und ließ die bilaterale Verflechtungsbilanz eindeutig zugunsten Frankreichs ausfallen (Hüser 2005: 209f.). Dies unterstreicht im Übrigen, wie bedeutsam es für solche verflechtungsbilanzierenden Projekte zu Film, Musik oder anderen Artikulationen sein muss, bei allen Transfers, um die es primär geht, zugleich die spezifisch nationalen, manchmal subnationalen Aneignungskontexte zu erfassen, miteinander zu vergleichen und strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede für den Umgang mit auswärtiger Populärkultur herauszuarbeiten. Dass es im deutsch-französischen Fall damals markante Gemeinsamkeiten in den Rezeptionskontexten für Populärkultur gab, aber auch gewichtige Differenzen, gerade was die Erfahrungs- und Verarbeitungsmuster der Weltkriegsjahre sowie ein spürbareres Suchen der Menschen in Deutschland nach neuen attraktiven Modellen als Folge von Nationalsozialismus und Zivilisationsbruch, liegt auf der Hand.

3. B ILANZ & P ERSPEKTIVEN Das Gros der Bundesbürger war in den ersten Jahren nach der zweiten deutschen Republikgründung längst noch nicht auf dem „langen Weg nach Westen“ angekommen und das politische Klima noch „sehr viel ‚deutschnationaler‘ als die praktische Politik“ (Winkler 2000: 169), das hatten wir eingangs schon festgehalten. Dass populärkulturelle Produkte, Phänomene und Praktiken in verschiedensten Facetten eine Rolle für das Ankommen im Westen und die innere Demokratisierung des Landes spielten, wird immer wieder gern in den Raum gestellt, doch bis auf wenige Ausnahmen fehlt es weiter an quellenbasierten zeithistorischen Forschungsarbeiten zu zahlreichen Aspekten transnationaler Populärkultur. Die empirischen Studien, die für die westdeutsche Frühgeschichte vor-

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liegen, lassen tatsächlich einen solchen Nexus von Kulturellem und Politischem als plausibel und evident erscheinen: bei aller gebotenen Vorsicht, den Faktor „Populärkultur“ für den Wandel gesellschaftlicher wie politisch-kultureller Verhältnisse nicht zu hoch zu gewichten, und bei allen Schwierigkeiten, konkrete Einflüsse und Wirkungen im Aneignen populärer Kulturformen durch einzelne Nutzer oder größere Publiken zu bemessen. Ganz offensichtlich hat Populärkultur einen lange historiographisch unterschlagenen Beitrag für die innere Demokratisierung und das viel zitierte „Demokratiewunder“ der Bundesrepublik Deutschland geleistet. Am Beispiel populärer Musik lässt sich zeigen, dass damals unterschiedliche Genres auf verschiedene Art und Weise im Raum gesellschaftlicher und politischer Orientierungen eine hohe Veränderungsdynamik entfachten und dass gerade junge Leute eng verwobene Klang- und Lebenswelten als Labor nutzten, um Neues zu erleben, Experimente zu wagen, Grenzen auszuloten und Horizonte zu öffnen. Tradierte Repräsentationsformen und Autoritätsstrukturen fanden sich musikalisch und lebensweltlich hinterfragt, „anti-respektable“ Verhaltensstile befördert, neue Muster politischer Artikulation und Partizipation angebahnt. Im Zusammenspiel von Jugend, Musik, Medien, Mode, Kulturindustrie, auch im Gegeneinander von Befürwortern und Widersachern neuer Artikulationsmuster, war allenthalben zu erkennen, wie sich in den 1950er und 1960er Jahren veränderte Weltsichten, Bewusstseinshorizonte und Lebensentwürfe ausgebildet haben. Meinungsumfragen zufolge gingen traditionelle Pflichtwerte zurück, Toleranz- und Selbstentfaltungswerte nahmen zu. Im Umgang mit gesellschaftlich und kulturell Fremdem, auch mit vielen, lange tabuisierten Gesellschaftsfragen machten sich Normalisierungstendenzen breit: häufig zunächst im Denken und Handeln kleinerer Gruppen, dann infolge öffentlicher Debatten und verschobener Machtbalancen als neue dominante Diskurse, Werte und Praktiken breiterer Bevölkerungskreise (Rödder 2014: 36f.). Auch büßten schließlich gängige Negativdiskurse über Populärkultur mehr und mehr an Boden ein gegenüber einer Sichtweise, nach der es sich um eine Art „Normalkultur“ westlich-liberaler Massendemokratien handele (Maase 2006: 155). All dies hat die Zeitgeschichte künftig noch weiter und breiter zu erforschen, auch viel konsequenter als bisher in transnationaler Perspektive.25 Der vorliegende Artikel wollte am Beispiel populärer Musikgenres der frühen Nachkriegsjahrzehnte eine zeithistorische Bestandsaufnahme für das Verhältnis von Politik

25 Der augenfällige Mangel an quellengesättigten vergleichs- und transferhistorischen Studien stößt seit langem auf Kritik; zuletzt etwa Hüser/Pfeil 2015: 19f.; Levsen/Torp 2016: 11f., 16f.

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und Kultur vorlegen und damit Basismaterial für eine Kulturgeschichte des Politischen liefern, die weniger von den politischen als von den kulturellen Produkten, Phänomenen und Praktiken her argumentiert. Für den westdeutschen Fall sind unter dem Rubrum „Fremd-Politisierung“, „Selbst-Politisierung“, „HabitusPolitisierung“ und „Trans-Nationales“ mehrere pragmatisch unterscheidbare Muster des potenziell Politischen im Populären aufgezeigt worden, die damals gewiss auch anderswo, in Frankreich etwa, ähnliche, dauerhaft spürbare gesellschaftliche Konsequenzen und mittelfristig profunde Liberalisierungsprozesse nach sich gezogen haben. Für das nachhaltige Verankern demokratischer Grundhaltungen war jedoch ein populärkulturell inspiriertes Neuvermessen des politisch-kulturellen Raumes dort dank zivilgesellschaftlich verwurzelter, fortwährend wirkmächtiger Grundpfeiler des republikanischen Modells verzichtbarer als für die junge Bundesrepublik. „Wunder gibt es immer wieder“, hieß es bei Katja Ebstein. Doch wie schon das eingangs zitierte „Wirtschaftswunder“ war auch das westdeutsche „Demokratiewunder“ alles andere als ein Wunder. Die innere Demokratisierung des Landes war keineswegs vorgezeichnet, hatte viele Väter und Mütter, beruhte auf vorteilhaften Zeitumständen, auf teils freiwilligen, teils erzwungenen Lernprozessen, auf zahlreichen hausgemachten wie auswärtigen Impulsen und Initiativen. Dass Populärkultur dabei auch ein wichtiges Moment unter anderen war, wird sich künftig nicht mehr wegdiskutieren lassen.

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Abstracts

Hartmut Nonnenmacher | Die Formierung des Comic-Feldes während der langen 1960er Jahre in Frankreich, Spanien und Argentinien In an article published in 1975, Luc Boltanski noted that from 1960 on, the “field of comics” had emerged in France. He observed several aspects of this process of consecration: the creation of specialised magazines, the organisation of exhibitions, the establishment of prizes for cartoonists, the emergence of both journalistic and academic critique as well as changes undergone not only by comic readers but also by the cartoonists themselves: While comic readers became more mature and educated on average, the cartoonists increasingly conceived themselves as artists, using more refined expressive strategies such as selfreferencing. A similar emergence of the field of comics occured in the “long decade of the 1960s” in Spain and Argentina, marked, however, by the specifics of political and social developments in both countries: the gradual lifting of Francoist repression in Spain and the decomposition of democratic institutions during the long interlude between Perón’s two presidencies (1955-1973) in Argentina. In contrast, the emergence of the comic field in France took place against the backdrop of a political, cultural and economic apotheosis due to the post-war boom of “The Glorious Thirty”. Each of these three countries saw, during that time, the creation of internationally successful classic comics, mirroring the general tone of the situation in their home societies: mischievous and rebellious lightness in the case of Astérix, black and grating humour in the case of Mortadelo y Filemón, and pessimistic scepticism in the case of Mafalda. Dans un article publié en 1975, Luc Boltanski constate qu’à partir de 1960 se serait produite en France la « constitution du champ de la bande dessinée ». Il relève plusieurs aspects de ce processus de consécration : la fondation de revues spécialisées, l’organisation d’expositions et de prix pour auteurs de BD, le sur-

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gissement d’une critique aussi bien journalistique qu’universitaire, ainsi que des transformations subies non seulement par le lectorat des BD – qui devient plus adulte et plus cultivé en moyenne – mais aussi par les auteurs de BD qui se conçoivent eux-mêmes de plus en plus comme des artistes, ayant recours à des stratégies expressives plus raffinées comme l’autoréférentialité. Une « constitution du champ de la BD » analogue se produit dans la « longue décennie des années 60 » en Espagne comme en Argentine, marquée cependant par les spécificités de l'évolution politique et sociale de ces deux pays: sortie progressive de la répression franquiste en Espagne, décomposition des institutions démocratiques lors du long intermède entre les deux présidences de Perón (1955-1973) en Argentine. En France en revanche, la constitution du champ de la BD se déroule sur fond d’apothéose politique, culturelle et économique des « trente glorieuses ». Chacun des trois pays crée lors de cette époque des classiques de la BD qui remportent un succès international tout en reflétant par leur tonalité générale la situation de leurs sociétés d’origine : légèreté espiègle et rebelle dans le cas d’Astérix, humour noir et grinçant dans celui de Mortadelo y Filemón et scepticisme pessimiste dans celui de Mafalda.

Marcel Kabaum | Der Blick westdeutscher Schülerinnen und Schüler in den 1950er und 1960er Jahren auf Jugendkultur und die USA – Ein Vergleich ihrer Darstellungen in Schülerzeitungen The article analyses the way in which students at West German secondary schools wrote about their own generation, the US, and a youth culture that was strongly influenced by Anglo-American models in their school newspapers. The analysis is based on self-edited school newspapers for a period spanning from 1950 to 1970, with a focus on the “long 1960s”. In these school newspapers, like in the public debate in general, the US functioned as a metaphor in political and cultural communication. During the 1950s, the perception of the US was mostly positive, and often personal; “Americanisation” as such is hardly discussed. Following the large media coverage of youth riots, pupils started to reflect on “youth” and youth culture. In the wake of beat music more and more German pupils identified with popular youth culture, thus ending a first phase of aversion. A desire to be different from their parents became apparent. At the same time and in contrast to the enthusiasm for American youth culture, students developed a more abstract and critical view of the US as a political actor. In school newspapers, a long-lasting national discourse appears, in which identification

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with or demarcation from the US as well as parts of its culture serve to establish one’s own political and cultural position. L’article présente et analyse la manière dont, dans les journaux lycéens, les lycéens ouest-allemands ont abordé le rôle des Etats-Unis, les enjeux de leur propre génération et l’influence de la culture jeune anglo-américaine sur celle-ci. Ainsi, la période entre 1950 et 1970 est-elle prise en considération, notamment les « longues années soixante ». Dans les journaux lycéens de cette époque, les Etats-Unis remplissent également une fonction métaphorique dans la communication politique et culturelle, comparable à celle des grands débats publics. Pendant les années cinquante, le regard porté sur le pays est surtout positif et souvent personnel ; une « américanisation » n’est guère visible. Suite au phénomène médiatique des « blousons noirs », les élèves commencent à réfléchir sur le rôle de la jeunesse et sur la culture jeune. Avec la musique beat, l’identification avec la culture de jeunesse populaire outre-Atlantique l’emporte sur l’aversion qui était observable jusque-là. Une prise de distance à l’égard des parents est articulée de manière nette. Contrairement à l’engouement pour la culture jeune d’origine anglo-américaine, un regard plus abstrait et critique sur les Etats-Unis en tant qu’acteur politique se développe dans les années soixante. Les journaux lycéens sont empreints de ce discours national durable, dans lequel le choix de s’identifier avec les Etats-Unis ou de se démarquer d’eux ou d’une partie de leur culture sert à établir sa propre position politique et culturelle.

Alexander Simmeth | „So apart from everything we’ve ever heard“ – Die britische und US-amerikanische Krautrock-Rezeption in den 1970er Jahren As the first pop musical innovation emanating from outside the Anglo-American sphere, the “Krautrock” of the 1970s seems to be especially well-suited for investigating transnational dimensions of popular culture. In the United Kingdom and the United States alike, West German experimental sounds were perceived as the pop music of the future, as a “sound like science fiction”. The perception of “Krautrock” as a substantial contribution to pop music as well as the roots of its on-going agency are central aspects of this essay. Focusing on transatlantic pop-cultural exchange, the emphasis of this paper is less on movement from the Anglo-American sphere into continental Europe, a frequently investigated direction of travel; instead, it looks at “Krautrock” as an early example of popcultural transfer in the opposite direction, for which the term “Krautrock” was

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coined in the first place. In this context, the contribution reveals pop-cultural transfers between West Germany, Great Britain, and the United States as well as their reception and discursive repercussions within their respective national contexts. Première innovation de la musique pop émanant en dehors de la sphère angloaméricaine, le « Krautrock » des années 1970 apparaît comme un sujet particulièrement seyant en vue d’une analyse des dimensions transnationales de la culture pop. En Grande-Bretagne comme aux Etats-Unis, la musique expérimentale ouest-allemande fut considérée comme la musique de l’avenir, comme un son digne de la science-fiction. Nous analysons ici la perception du « Krautrock » en tant que contribution substantielle à la musique pop, mais également les origines de ses effets durables et nous focalisons sur les échanges transatlantiques de la culture pop. Nous nous intéressons non pas au transfert culturel en provenance de la sphère anglo-américaine vers l’Allemagne de l’Ouest, mais à la direction opposée de ce transfert, c’est-à-dire la direction pour laquelle le terme de « Krautrock » fut formulé à l’origine. Dans cette contribution, nous mettrons ainsi en lumière les transferts culturels de la musique pop entre l’Allemagne de l’Ouest, la Grande Bretagne et les Etats-Unis ainsi que leur réception et les répercussions discursives à leur sujet dans leurs contextes nationaux respectifs.

Egbert Klautke | Die „britische Invasion“ der 1960er Jahre – Britische Pop- und Rockmusik in den Vereinigten Staaten This contribution focuses on the “British Invasion” of the American music market. It presents the success of the Beatles as well as a number of further British bands as a decisive moment in the history of modern pop and rock music, which put an end to the global domination of American popular music. While the US had dominated the development of modern popular music since the beginning of the 20th century, the “British Invasion” increasingly complicated the direction of transfers between the “old” and the “new world”. From 1964 on, the modes of reception between the US and Europe – till then one-sided – changed suddenly, and for good. The history of the “British Invasion” does not fit into attempts to explain popular culture as part of the global, irresistible and unstoppable “Americanisation” of the world. Rather, the success of British pop and rock music in the United States tells a different, more complicated story of transatlantic transfers of popular culture. Therefore, the history of the “British Invasion” invites us to re-think concepts such as “Americanisation” or “Europeanisation”.

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Dans cette contribution, il sera question de l’« invasion britannique » sur le marché musical américain. Nous présenterons le moment décisif dans l’histoire de la musique pop et rock moderne qui fut marqué par le succès des Beatles ainsi que d’un certain nombre de groupes musicaux britanniques, mettant un terme à la domination globale de la musique pop américaine. Tandis que les Etats-Unis avaient dominé le développement de la musique pop moderne au début du vingtième siècle, l’« invasion britannique » compliqua de plus en plus la direction de transferts entre la « vieille Europe » et le « nouveau monde ». Dès 1964, les modes de réception entre les Etats-Unis et l’Europe – jusque-là très unilatéraux – changèrent brusquement et ce pour de bon. L’histoire de l’« invasion britannique » ne peut correspondre à l’idée selon laquelle la culture populaire ferait partie du phénomène global et irréfrénable d’américanisation du monde. Le succès de la musique pop et rock britannique aux Etats-Unis témoigne plutôt d’une compréhension différente et plus compliquée des transferts transatlantiques de la culture pop. Ainsi, l’histoire de l’« invasion britannique » nous amène-t-elle à repenser des concepts tel l’« américanisation » ou l’« européanisation ».

Fernando Ramos Arenas | Die Illusion einer anderen Realität – Cinéphiler Kulturtransfer in der DDR und in Spanien um 1960 This paper focuses on the film cultures of two very different European dictatorships during the 1950s and early 1960s: Spain under General Franco and the socialist German Democratic Republic. It looks at their position as part of a common European cinephilian community, which relied on the same institutional networks and traditions, pointed out similar film-historical references and developed a series of discourses based on paradigms of film criticism such as auteurcinema or realism. It was these common references, discourses and traditions which were strongly modified in different (national) contexts of reception, thereby generating new debates. This contribution examines which and how Italian Neorealist films – at the time considered the strongest modern alternative to traditional cinema – were received in both countries. Furthermore, the article especially focuses on the debates that these works unfolded within national film cultures and analyses a rare critical exchange between representatives of both Spanish and East German film cultures, published in the Spanish journal “Cinema Universitario”, one of the leading magazines among cinephilian circles in 1962, in which different positions on the “crisis of social cinema” were exchanged.

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Cette contribution s’interroge sur les cultures du cinéma dans deux dictatures européennes très différentes durant les années 1950 et le début des années 1960 : il s’agit de l’Espagne sous le Général Franco et de la République Démocratique d’Allemagne socialiste. Cet article s’intéresse à leurs positions en tant que membres d’une communauté européenne commune de cinéphiles qui furent liés par les mêmes réseaux institutionnels, des traditions communes, firent des références filmographiques historiques similaires et développèrent une série de discours basés sur les paradigmes critiques filmographiques tels que le cinéma d’auteur ou le réalisme. Ce furent particulièrement ces références, discours et traditions en commun qui se modifièrent fortement selon les différents contextes de réception nationaux, générant des débats nouveaux. L’article analyse la manière dont les films néoréalistes italiens – à l’époque considérés comme l’alternative la plus forte et la plus moderne au cinéma traditionnel – furent reçus dans chacun des deux pays. Sera également analysé l’échange rare de critiques entre les représentants espagnols et est-allemands de la culture du cinéma, publié dans la revue espagnole « Cinema Universitario », l’une des plus grandes revues lues dans les cercles cinéphiles en 1962 et dans laquelle les différentes positions de la « crise du cinéma social » furent échangées.

Lukas Schaefer | Cineastische Internationale der langen 1960er Jahre – Eine transfer- und verflechtungsgeschichtliche Biographie der westdeutschen Zeitschrift Filmkritik Sketching a transfer biography of the Western German film magazine “Filmkritik” (established in 1957) and its contributors, this paper deals with a multifaceted object of study in cultural history. The film critics stimulated the Federal Republic’s film culture, mostly inspired by Western European influences. At the same time, they represented critical opposition and attempts of liberalisation in their home country. Due to early stays abroad and thorough reading of the international film press, the young student founders of the magazine soon became experts in the Western German film culture, still rather provincial at the time. In their texts, cultural criticism according to Kracauer, Adorno, and Horkheimer met with the pursuit of critical realism as promoted by the Italian film magazine “Cinema Nuovo”. The critics positioned themselves as European “angry young men”, attacking both society and film of the Federal Republic. Festivals in both Western and Eastern Europe led to the desired international contacts. Thus, the film magazine became part of a European network of left-wing film culture, which exchanged articles, visits, and opinions. In the 1960s, “Filmkritik”

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further fuelled the renewal of Western German film production. However, some of its members began to turn away from Realism in favour of French Nouvelle Vague’s modernism. Cette contribution s’intéressera à la revue ouest-allemande « Filmkritik » (fondée en 1957), qui fait figure d’objet d’études protéiforme dans l’histoire de la culture. Ses auteurs vitalisèrent la culture du film en République fédérale, inspirée surtout par les influences d’Europe occidentale. En même temps, ils incarnèrent l’opposition critique et le désir de libéralisation dans leur pays. L’article tente de réunir ces aspects à l’aide d’une biographie-transfert de la revue ellemême, ainsi que de ses contributeurs. Grâce à leurs séjours précoces à l’étranger et une lecture attentionnée de la presse internationale du film, les jeunes étudiants fondateurs de la revue se muèrent rapidement en experts de la culture – encore largement provinciale – du cinéma ouest-allemand. Dans leurs textes, ils entremêlèrent la Kulturkritik selon Kracauer, Adorno et Horkheimer et les idéaux du réalisme critique du cinéma d’après l’interprétation de la revue italienne « Cinema Nuovo ». En polémiquant contre la société et le cinéma de la République fédérale, ils se positionnèrent comme des jeunes hommes européens en colère. Les festivals en Europe occidentale et orientale leur permirent d’établir les contacts internationaux tant désirés. La revue s’intégra au fur et à mesure dans un réseau européen de critique du cinéma orienté à gauche, échangeant articles, visites et opinions. Dans les années 1960, « Filmkritik » s’engagea pour la réorientation du cinéma ouest-allemand. Pourtant, certains de ses contributeurs commencèrent à se détourner du réalisme pour se tourner vers le modernisme de la Nouvelle Vague française.

Christian Henrich-Franke | Kulturtransfer im „Fenster zur Welt“ – Fernsehprogrammhandel und transnationaler Kulturtransfer im Westeuropa der 1960er Jahre This contribution addresses the transfer of television programs between the Western European television stations throughout the 1960s. The focus is placed on programme exchange and purchase on the programme markets and festivals under the auspices of the European Broadcasting Union (EBU). On the one hand, spaces of entanglement and transfer are outlined. On the other hand, the article highlights transnational elements in the programme, asking whether popular culture was a specific mixture of “established national” or of “new transnational” elements. The contribution argues that despite their heterogeneity, the

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1960s turned out to be a period of transformation in which an elite of “high culture”-orientated programme directors attempted to repress popular culture; however, they subsequently had to integrate popular culture in their programmes after all. At the end of the 1960s, popular culture was an established element in television programmes across Western Europe. From an “entangled history” perspective, popular culture in television programmes is a remarkable phenomenon: it had a limited tendency towards spatial concentration; its spaces were less contoured, and it satisfied popular demand (throughout Europe) for light entertainment and run-of-the-mill topics. Cette contribution traite du transfert des programmes de télévision entre les stations de télévision d’Europe occidentale durant les années 1960. L’analyse se focalise sur les échanges et les ventes de programmes à l’occasion des salons et des festivals sous les auspices de l’European Broadcasting Union (EBU). D’une part, cet article exposera les espaces d’interaction et d’interdépendance à l’intérieur de l’Europe occidentale. D’autre part, il traitera des éléments de programmes transnationaux ainsi que de la question de savoir dans quelle mesure la culture populaire se compose d’éléments nationaux établis et d’éléments transnationaux nouveaux. L’article met en exergue le fait que les années 1960 représentent dans l’ensemble – tout en restant hétérogènes – une phase de transformation: l’élite culturelle au sein des directions des programmes eut beau écarter les émissions de culture populaire, elle fut malgré tout obligée de l’intégrer dans la grille des programmes. Il en résulte qu’à la fin des années 1960, la culture populaire fut une valeur sûre de la télévision européenne. Avec l’avènement de la culture populaire à la télévision, se développa un nouveau phénomène intéressant pour la perspective de l’histoire croisée : on constate une tendance limitée vers la densification spatiale, les espaces deviennent moins définis. Les besoins de divertissement assez semblables parmi les Européens se voient satisfaits et ce, sous la forme de niaiseries et de représentations de la vie quotidienne.

Aline Maldener | Fabulous consumerism? – Mediale Repräsentationen jugendlicher Konsumkultur in westdeutschen, britischen und französischen Jugendzeitschriften der 1960er und 1970er Jahre In an intercultural comparison, the approach of Western German, British and French youth magazine makers in designing their publications during the 1960s and 70s turned out to be strikingly similar. There seemed to be a general Western

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European “pattern” the editors referred to when developing their magazines. Themes and products, their quantity and positioning within the periodicals matched, just as the editors’ strategies for visualisation and linguistic representation. National specifics of youth consumer culture were either highly straightened out, respectively adjusted to social norms and standards, or, on the contrary, stylised to a cultural “other” in an alienating and estranging manner, sometimes even perverted and intensified as national stereotypes. Concerning the etymological dimension of the term “fabulous”, on the one hand, the young economically powerful consumer, connoted as normative and media-dispersed, used the fabulous, the “excellent” offer of consumer products within a more and more diversified range of goods. On the other hand, the young consumer was a highly idealised and stylised prototype of “fabulous”, meaning “fairy-tale”, “utopian” consumption behaviour, referring to products being prominently positioned within the magazines but unaffordable for the young ones in reality. The key to understanding and decoding this image of the British, Western German and French young consumer lies just in this normativity and media-specific style of communication and dissemination. A travers une comparaison interculturelle, force est de constater que le mode de fabrication des magazines des jeunes en Allemagne, en Grande-Bretagne et en France pendant les années 1960 et 1970 se ressemblait beaucoup. Il paraît qu’il y eut des standards universels, propres à l’Europe occidentale, que les producteurs respectaient pour la création de leurs magazines. Les thèmes et les produits, leurs quantités et leurs positionnements dans les revues apparaissent de façon analogue, tout comme leur visualisation et représentation linguistique. Les spécificités nationales d’une culture jeune de consommation furent adaptées à certaines normes et valeurs sociales ou bien, au contraire, représentées comme émanant de « l’autre » dans un sens aliénant ; quelquefois même intensifiées et perverties en stéréotypes et clichés. Etymologiquement, le terme « fabuleux » fut une chimère, une créature fantastique, à double titre. D’un côté, le jeune consommateur disposa d’une puissance économique sans précédent et profita de l’offre des produits de consommation fabuleux, « excellent ». D’un autre côté, ce consommateur jeune figura comme prototype extrêmement stylisé et idéalisé d’une consommation fabuleuse, « légendaire », « utopique », qui se référa aux produits souvent hors de prix pour les jeunes. Afin de pouvoir interpréter et décoder l’image du jeune consommateur ouest-allemand, britannique et français, il importe de comprendre justement sa normativité ainsi que la communication et dissémination spécifique des magazines qui suivent une certaine logique médiatique.

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Katharina Böhmer | „Auch die Schweiz kennt dieses Problem“ – Die „Halbstarken“ der 1950er und 1960er Jahre als transnationale Jugendkultur und Gesellschaftsproblem im westeuropäischen Vergleich Early in 1962, the “Neue Zürcher Zeitung” stated that Switzerland now also seemed to have its own “Halbstarken” problem: Since the mid-1950s, there had indeed been “youth riots” in many Western and Eastern European countries, following concerts of American popular music or film screenings – and the “Halbstarke” had been identified as the culprits. Although the designation for these adolescents varied from country to country, it always described the same phenomenon: groups of mostly male youngsters who – in their dress style and activities – modelled themselves on American film stars. Their parents’ generation considered their looks, tastes in music and behaviour to be as provocative as their seemingly aimless cruising on mopeds and motor-bikes through urban neighbourhoods. Comparing four different countries, this contribution examines, on the one hand, the various discourses arising around the West German and the Swiss “Halbstarke“, the French “blousons noirs“ and the British “Teddy Boys“ of the 1950/60s. On the other hand, it is shown that convergences in this “reflecting upon youth“ were relatively high on either side of the Channel, despite national differences. Using the example of this first youth culture in post-war Europe – which was especially “visible“ due to its flamboyant dress style – this article seeks to open up a comparative perspective on sociocultural change in four Western European countries: the handling of pop-cultural forms of articulation is interpreted as a yardstick for social change in general. Début 1962, la « Neue Zürcher Zeitung » constatait que la Suisse aussi avait un « problème de blousons noirs »: En effet, depuis le milieu des années 1950, de nombreuses « émeutes de jeunes » éclataient dans les pays d’Europe de l’Ouest et de l’Est à la suite de concerts de musique américains ou de projections de films. Leurs initiateurs furent identifiés comme étant les « blousons noirs ». Si la désignation de ces jeunes variait d’un pays à l’autre, elle faisait toujours référence au même phénomène : de jeunes hommes se déplaçant en groupe, qui, dans leur style vestimentaire et l’organisation de leurs loisirs, s’inspiraient de modèles tirés de films américains. L’apparence physique, les goûts musicaux et le comportement des « blousons noirs » exaspéraient la génération des adultes, tout comme leurs déplacements apparemment sans but à mobylette ou à moto dans les quartiers urbains. Cette contribution analysera les différents discours des quatre pays portant des jugements sur les « Halbstarken » ouest-allemands et

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suisses, les « blousons noirs » français et les « Teddy Boys » britanniques dans les années 1950/1960. L’exemple de la première culture jeune « visible » d’après-guerre – notamment du fait de leur style vestimentaire particulièrement voyant – permet d’opérer une comparaison entre les transformations socioculturelles dans ces quatre pays d’Europe de l’Ouest. La relation à des formes d’expression populaires devient l’indicateur du changement social dans son ensemble.

Katja Marmetschke | Klang, Kleidung und Konsum – Anmerkungen zur populärkulturellen Revolution in der Mode der 1960er Jahre in Großbritannien und Westdeutschland Using the example of the English Mod culture, which is considered to have been the nucleus of a revolution in popular culture, this contribution analyses the emergence and diffusion of young fashion in the 1960s. Starting in Great Britain, where the mod style took off on its triumphal course thanks to the booming music and entertainment industry and a generation of young designers, the movement began to conquer the Federal Republic of Germany in the second half of the mid-sixties. Labelled as “beat”, an array of TV and radio shows, magazines and fashion lines were launched, all tailored to the particular needs of the young and affluent target group. In both countries, the initial rejection of the new life and fashion style soon gave way to relatively broad acceptance, indicating that both societies were becoming increasingly liberal. Finally, a characteristic of the 1960s fashion look is its on-going reception in a small retro-scene with strong transnational ties. Prenant l’exemple du mouvement « mod », considéré comme le germe de la révolution de la culture populaire des années 1960, l’article analyse la genèse, la transmission et la diffusion de la mode jeune. Partant de la Grande-Bretagne, où le style « mod » fit sa marche triomphale grâce à l’industrie du divertissement et de la musique en plein essor, la tendance atteignit la République Fédérale dans la deuxième moitié des années 1960. Sous la désignation « beat », de nouveaux formats de radio, de télévision et de presse ainsi que des lignes de mode furent lancés, tous répondant aux besoins de la jeune clientèle ciblée. Dans les deux pays, le refus initial du nouveau style de vie et de mode vestimentaire fit vite place à une acceptation relativement large, indiquant ainsi une libéralisation croissante de la société en général. Enfin, une particularité du style des années

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1960 réside dans sa réception jusqu’à nos jours au sein d’une petite scène-rétro aux liens transnationaux étroits.

Kaspar Maase | Populärkultur, Jugend und Demokratisierung – Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg This piece departs from the assessment of many historians that American popular culture played an important role in re-establishing a democratic political culture in Western Germany after 1945. Instead, it enquires under what conditions and in what ways popular arts could have a “democratising” effect. The underlying argument is that the appraisal of “American” cultural transfers was shaped by social tensions and conflicting interest with regard to a societal balance of power. The opponents of “cultural Americanisation” ascribed political meanings to popular styles of music, dancing, and dress by calling them vulgar, underclass, and a threat to German culture. In the end, the success of stigmatised cultural practices shifted the cultural balance of power to the disadvantage of traditional elites. Within this frame, some trends in the popular arts fostered what Norbert Elias has described as “informalisation”: everyday practices symbolising the refusal of subordination towards authorities. The concluding section takes up theories of affordance in order to discuss in what way specific aesthetic traits and specific uses of popular arts may have had an imminent potential to generate political, democratising effects. Cet article part du constat fait par bon nombre d’historiens selon lequel la culture populaire américaine a joué un rôle important dans le rétablissement d’une culture politique démocratique en Allemagne de l’Ouest après 1945. Il s’agit ici de s’interroger sur les conditions et la manière dont l’emploi des arts populaires put avoir un effet « démocratisant ». Il importe de souligner que les rapports de force au sein de la jeune République fédérale ne s’étaient pas encore solidifiés. Les opposants d’une « américanisation culturelle » conférèrent aux styles de danse, musicaux et vestimentaires, une signification politique en les étiquetant comme des importations vulgaires, plébéiennes, comme une attaque contre la tradition culturelle allemande. Le succès de ces arts, associés aux « foules incultes », put décaler l’équilibre du pouvoir culturel, et ce au préjudice des élites traditionnelles. L’informalisation, tel Elias la définie, y joua un rôle particulier : le refus de se subordonner au sein de la jeunesse issue des classes subalternes. En ayant recours aux théories d’affordance, nous analyserons enfin de quelle manière les

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propriétés esthétiques des arts populaires détiennent un immanent potentiel de démocratisation ou bien si elle devient porteur d’un sens politique.

Dietmar Hüser | Westdeutsches „Demokratiewunder“ und transnationale Musikkultur – Dimensionen des Politischen im Populären in den langen 1960er Jahren Up to now, historical research has underrated the role of popular culture in answering the question how West Germany did not only institutionally develop into a democracy, but also on the level of dominant values and norms in the 1960s. Using popular music genres as example, the article demonstrates in what different ways political content was conveyed musically, with potentially democratising effects. It argues that in the Federal Republic of Germany, which in the 1950s did not have a predominantly democratically minded citizenry, this musical transmission and the appropriation of various forms of popular culture were particularly important for permanently stabilizing the situation and fostering the intellectual anchorage in the West. En répondant à la question de savoir comment l’Allemagne de l’Ouest est devenue, dans les années 1960, une démocratie non seulement sur le plan institutionnel mais aussi sur celui des valeurs dominantes et des normes, la recherche historique a jusqu’à présent sous-estimé le rôle de la culture de masse. En prenant l’exemple de genres de musique populaire, cet article cherche à éclairer les diverses manières par lesquelles des contenus politiques à potentiel démocratique ont été véhiculés musicalement. La thèse défendue ici est que cette transmission par la musique ainsi que l’appropriation de différentes formes transnationales de culture de masse jouèrent un rôle particulièrement important pour la stabilisation durable de la situation et l’ancrage mental à l’Ouest, dans une Allemagne fédérale dont les citoyens, dans les années 1950, n’étaient pas encore majoritairement acquis à la démocratie.

Autorinnen und Autoren

Katharina Böhmer studierte Geschichte und französische Literatur- und Sprachwissenschaft in Paris, Saarbrücken, Oxford und Berlin. Sie ist Redakteurin und Assistentin der Geschäftsführung der Zeitschrift „Historische Anthropologie“ an der Universität Basel. Von 2003 bis 2009 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie an der Universität Kassel und hat Lehrveranstaltungen zur englischen, französischen, deutschen und spanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts abgehalten. Seit 2013 ist sie Lehrbeauftragte an den Universitäten Zürich und Basel; außerdem arbeitet sie seit langem als Übersetzerin wissenschaftlicher wie literarischer Texte aus dem Englischen und Französischen. Ihre Promotion an der Universität des Saarlandes zu den Schweizer „Halbstarken“ der 1950er/1960er Jahre befasst sich am Beispiel dieser transnationalen Jugendkultur in vergleichender Perspektive mit sozialem Wandel im Westeuropa der Nachkriegszeit. Christian Henrich-Franke studierte Geschichte, Sozialwissenschaften und Mathematik in Siegen und Skövde. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Siegen und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Archivwesen in Marburg. Die Promotion erfolgte 2005 zum Thema „Globale Regulierungsprobleme in historischer Perspektive: Der Fall des Funkfrequenzspektrums 1945-1988“; die Habilitation folgte 2010 mit einer Arbeit zum Thema „Gescheiterte Integration im Vergleich: Der Verkehr – ein Problemsektor gemeinsamer Rechtsetzung im Deutschen Reich (1871-1879) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958-1972)“. Zuletzt publiziert: Standardisierung und Integration europäischer Verkehrsinfrastruktur in historischer Perspektive, Baden-Baden 2009 (Hg. m. G. Ambrosius et al.); Infrastrukturintegration und internationale Politik, Baden-Baden 2010 (Hg. m. G. Ambrosius/C. Neutsch); Integration von Infrastrukturen in Europa. Band 1: Synopse, BadenBaden 2013 (m. G. Ambrosius); Airy Curtains in the European Ether: broadcasting and the Cold War, Baden-Baden 2013 (Hg. m. A. Badenoch/A. Fickers);

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Die Schaffung Europas in der Zwischenkriegszeit, Münster 2014 (Hg.); Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive. Föderale Systeme: Kaiserreich – Donaumonarchie – Europäische Union, Baden-Baden 2015 (Hg. m. G. Ambrosius). Dietmar Hüser, Studium der Fächer Geschichte, Politikwissenschaft, Völkerund Europarecht an den Universitäten Bochum, Heidelberg, Paris, Saarbrücken; 1991-2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Assistent, dann Hochschuldozent an der Universität des Saarlandes; 1994 Promotion, 2002 Habilitation; 2002/03 Lehrbeauftragter, 2003/04 Alfred-Grosser-Gastprofessor an Sciences Po Paris; 2004-2013 Professor für Geschichte Westeuropas im 19./20. Jh. an der Universität Kassel, seit 2013 Professor für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes. Zuletzt publizierte Bücher: Tour de France – Eine historische Rundreise, Stuttgart 2008 (Hg. m. A. Heinen); „Frankreichs Empire schlägt zurück“ – Gesellschaftswandel, Kolonialdebatten, Migrationskultur, Kassel 2010 (Hg.); Medien – Debatten – Öffentlichkeiten in Deutschland und Frankreich im 19./20. Jahrhundert, Stuttgart 2011 (Hg. m. J.-F. Eck); Deutschland und Frankreich in der Globalisierung des 19./20. Jahrhunderts, Stuttgart 2012 (Hg. m. J.-F. Eck); Skandale zwischen Moderne und Postmoderne – Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin 2014 (Hg. m. A. Gelz/S. Ruß); Populärkultur und deutsch-französische Mittler – Akteure, Medien, Ausdrucksformen, Bielefeld 2015 (Hg. m. U. Pfeil); Fußball und Diversität in Frankreich und Deutschland, Dossier der Zeitschrift Lendemains n°161, Tübingen 2016 (Hg. m. J.-Chr. Meyer/P. Weiss); Markgrafschaft - Metropolen Medien. Krisen, Kommunikation und Politisierung europäischer Gesellschaften: Festschrift für Clemens Zimmermann, Trier 2016 (Hg. m. G. Clemens et al.). Marcel Kabaum studierte Erziehungswissenschaften, Literaturwissenschaft und Neuere und Neueste Geschichte in Münster und Berlin. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und hat über Partizipation von Schülerinnen und Schülern und jugendkulturelle Artikulation in den 1950er und 1960er Jahre am Beispiel von Schülerzeitungen an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Er war zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und am Lehrstuhl für Historische Bildungsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Außerdem war er in der Expertenkommission „Berufskolleglehrkräftesicherung“ des Ministeriums für Schule und Weiterbildung und des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen tätig sowie in der Expertenkommission „Mathematik entlang der Bildungskette“ der Deutschen

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Telekom Stiftung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Zwischen Partizipation und Zensur: jugendeigene Presse und Meinungsfreiheit in der Schule während der 1950er und 1960er Jahre. Mit einer Darstellung der derzeitigen schulrechtlichen Situation“, in: Zeitschrift für Pädagogik 63, 6 (2017), [i. E.]; Schülerzeitungen als Werkzeug der Demokratisierung (1945–1970), in: Das Archiv: Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte 5 (2017), S. 4–5; Ideen und Realitäten von Universitäten, Frankfurt 2013 (Hg. m. M. F. Buck); Milieutheorie deutscher Pädagogen (1926–1933): Pädagogische Soziologie bei Walter Popp, Adolf Busemann und Max Slawinsky, Würzburg 2013. Egbert Klautke, Studium der Geschichte und Politikwissenschaften an den Universitäten Heidelberg, München und Manchester/UK; 1995-1998 Stipendiat am Graduiertenkolleg des Frankreich-Zentrums der Universität Freiburg; 19992001 Postdoktorand am Centre Marc Bloch, Berlin; 2001-2005 DAADFachlektor für Deutsche Geschichte an der School of Slavonic and East European Studies, University College London; derzeit Senior Lecturer für Cultural History of Central Europe am University College London. Ausgewählte Veröffentlichungen: Unbegrenzte Möglichkeiten: „Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich 1900-1933, Stuttgart 1993; The Mind of the Nation: Völkerpsychologie in Germany 1851-1955, New York/Oxford 2013, 2. Auflage 2016; „Sex, Coffee and Madness: New Studies on the History of Vienna“, in: Central Europe Bd. 13, London 2015, S. 107-113; „Die halbierte Moderne: Amerikanismusdebatten und Amerikanisierungsängste in den 1920er Jahren“, in Ph. Gassert et al. (Hg.): Amerika und Augsburg: Aneignungen und globale Verflechtungen in einer Stadt, Augsburg 2014, S. 167-84; „The French Reception of Völkerpsychologie and the Origins of the Social Sciences“, in: Modern Intellectual History Bd. 10, Cambridge 2013, S. 293-316. Kaspar Maase studierte Germanistik, Soziologie, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft in München und Berlin (DDR). Nach der Promotion (1971) arbeitete er als freiberuflicher Lektor, Publizist und Lehrbeauftragter, später als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Marxistische Studien und Forschungen (Frankfurt/M.) und am Hamburger Institut für Sozialforschung. 1992 erfolgte die Habilitation an der Universität Bremen mit einer Studie über die Verwestlichung der Jugend in der Bundesrepublik. Seit 1995 war er tätig am Ludwig-UhlandInstitut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, von 2006 bis zu seinem Ruhestand 2011 als außerplanmäßiger Professor. Von 2010-2013 war er Mitglied der DFG-Forschergruppe „Ästhetik und Praxis populärer Serialität“. Zu seinen Publikationen zählen: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Ju-

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gendkultur in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, Hamburg 1992; Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, 4. Aufl., Frankfurt 2007; Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt/New York 2008 (Hg.); Das Recht der Gewöhnlichkeit. Über populäre Kultur, Tübingen 2011; Die Kinder der Massenkultur. Auseinandersetzungen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt/New York 2012. Aline Maldener, Studium der Historisch Orientierten Kulturwissenschaften an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und am Trinity College in Dublin; derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte an der Universität des Saarlandes. Publikationen: Monopole, Marktverstopfer, Mitbewerber. Die Landschaft der Zeitschriften und Anzeigenblätter, in: Cl. Zimmermann et al. (Hg.): Medienlandschaft Saar: von 1945 bis in die Gegenwart, Bd. 2, München 2010, S. 111-145; „Gold gab ich für Eisen“. Frauenengagement zwischen Eigeninitiative und Fremdmobilisierung im DeutschFranzösischen Krieg 1870/71 in der Saarregion, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 58 (2010), S. 63-89; Von der Preußischen Industriekolonie zum französischen Vasallenstaat? Ein postkolonial-kultureller Deutungsversuch der Saargegend des 19. und 20. Jahrhunderts nach Homi Bhabha, in: H. Keazor et al. (Hg.): Genialer Schrott. Interdisziplinäre Studien zur Industriekultur, Saarbrücken 2014, S. 83-103; Von Racheengeln, Cowboy-Karikaturen und RodeoClowns. Zum postmodernen Verständnis von Gender-Konstruktionen im Film „True Grit“, in: D. Schmitt/St. Blum, (Hg.): „Sorry, you just got Coened“. Das postmoderne Kino der Coen Brothers, Würzburg 2015; French cultural policy and the cinematic landscape of postwar Saarland: Comparative research on small-town and big-city cinemas, 1945-1955, in: International Journal of Media & Cultural Politics, Bd. 11/1, Bristol 2015, 55-71. Katja Marmetschke studierte Romanistik, Hispanistik und Wirtschaftswissenschaften in Kassel, Lyon und Barcelona, forschte und lehrte nach Studienende an der Universität Kassel und promovierte dort 2007 im Fachbereich 5 Gesellschaftswissenschaften mit einer politikwissenschaftlichen Arbeit über den Germanisten Edmond Vermeil. Von 2012-2014 übernahm sie eine Vertretungsprofessur für Deutsch und Französisch an der St. Edward’s University in Austin, Texas. Ihr Forschungsschwerpunkt sind die deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Publikationen zu transnationalen Mittlerinstitutionen und Mittlerfiguren. Ausgewählte Publikationen: Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock, Kassel 2005 (Hg. m. François Beilecke); Feindbeobachtung und Verständigung: Der Germa-

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nist Edmond Vermeil (1878-1964) in den deutsch-französischen Beziehungen, Köln 2008; Mittlerpersönlichkeiten, in: Lendemains n° 146/147 (2012), S. 1017; Les relations culturelles franco-allemandes. Un champ de communication transnationale au croisement de la politique culturelle extérieure, de la coopération bilatérale et des initiatives privées, in: Allemagne d'aujourd'hui n° 201 (2012), S. 60-71. Hartmut Nonnenmacher, 1987-1995 Studium und erstes Staatsexamen in den Fächern Deutsch, Französisch und Spanisch an der Universität Tübingen; 1989/90 DAAD-Stipendiat an der Universität Tours; 1995-2000 DAAD-Lektor am Departamento de Filoloxía Alemana der Universität von Santiago de Compostela; 2000-2003 wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Romanistik der Universität Regensburg; Promotion 2001 an der Universität Tübingen; seit 2003 am Romanischen Seminar der Universität Freiburg, seit 2008 als Akademischer Rat. Ausgewählte Publikationen: Natur und Fatum. Inzest als Motiv und Thema in der französischen und deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Frankfurt 2002; Tango, Bolero, Copla ... Canciones populares modernas de España y de Hispanoamérica, Stuttgart 2009 (Hg.); Der Trick mit der Eklipse. Stationen eines Motivs von Kolumbus über Mark Twain und Hergé bis Augusto Monterroso, in: Romanistisches Jahrbuch 62 (2012), S. 425-448; Apuntes sobre la canción popular moderna en México, in: Frank Leinen (Hg.): Pop. Mex. 3, Düsseldorf 2013, S. 49-63; Avatares de la figura de Gardel en el teatro, el cómic y el cine, in: Karen Saban (Hg.): El fenómeno Tango. Estudios interdisciplinarios sobre música popular y cultura del Río de la Plata. Stuttgart/Córdoba 2014, S. 231273. Fernando Ramos Arenas, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig (DFG-Projekt „Cinéphilie unter der Diktatur. Europäische Filmkultur zwischen 1955 und 1975 am Beispiel Spaniens und der DDR“); 1999-2004 Studium der Medienwissenschaft und Journalistik in Madrid und Leipzig; Promotion 2010 mit einer Arbeit zur Geschichte der filmischen Autorenschaft (Der Auteur und die Autoren, Leipzig 2011). Letzte Publikationen: Zur Wahrhaftigkeit des poetischen Gedächtnisses. Heimatbilder in Jean Renoirs La Grande Illusion, in: L. Karl et al. (Hg.): Der lange Weg nach Hause. Die Konstruktion von Heimat im europäischen Spielfilm, Berlin 2014, S. 23-36; Zwischen fortschrittlichem Film und modernem Kino. Das erste Jahrzehnt des Leipziger Universitätsfilmklubs, in: Th. Nachreiner/P. Podrez (Hg.): Feststellungen. Dokumentation des 25. Filmund Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums, Marburg 2014, S. 332-340;

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Mashups. Neue Praktiken und Ästhetiken in populären Medienkulturen, Wiesbaden 2015 (hg. m. F. Mundhenke/Th. Wilke); Film criticism as a political weapon: theory, ideology and film activism in Nuestro Cinema (1932-1935), in: Historical Journal of Film, Radio and Television, 36, 2 (2016) [i.E.]. Lukas Schaefer studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Kassel (Bachelor) sowie im Master „Geschichte Westeuropas“ in Kassel und Verona. Nach dem Studium hielt er am Lehrstuhl für Geschichte Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert an der Universität Kassel Seminare, u.a. zu Film und Filmkritik der 1950er Jahre und zum deutsch-italienischen Verhältnis vom Faschismus bis zum Wirtschaftswunder, und war Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Zurzeit ist er als Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Filme(n) für eine „bessere Welt“. Filmkritik und Gesellschaftskritik im Westeuropa der Nachkriegszeit in Vergleich, Transfer und Verflechtung“ am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes tätig. Seine Interessen- und Arbeitsschwerpunkte liegen in der deutschen und italienischen Geschichte im 20. Jahrhundert, der deutsch-italienischen Beziehungsgeschichte und der Kulturgeschichte nach 1945 mit besonderem Fokus auf Filmkultur. Aktuelle Publikation: „Sie nennen es Realismus“. Die Zeitschrift „Filmkritik“ und der internationale Film der 1950er Jahre, in: B. Blachut et al. (Hg.): Reflexionen des beschädigten Lebens? Nachkriegskino in Deutschland zwischen 1945 und 1962, München 2015, S. 314-332. Alexander Simmeth studierte Geschichte und Philosophie in Hamburg und Berkeley. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien (ZIP) der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Von 2011 bis 2015 promovierte er als Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung in Mittlerer und Neuerer Geschichte zum Thema „Krautrock aus transnationaler Perspektive 1968-78“. Jüngste Publikationen: „The Final Solution to the Musical Problem“ – Die Krautrock-Rezeption in Großbritannien und den Vereinigten Staaten im Laufe der 1970er Jahre, in: A. Gallus et al. (Hg.), Deutsche Zeitgeschichte – transnational, Göttingen 2015, S. 259-276; Krautrock transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD 1968-78, Bielefeld 2016; The Future Past. Reflections on the Role of History in Star Trek – The Next Generation, in: P. Lee (Hg.): Star Trek TNG Anthology, Jefferson [vorauss. 2017].

Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.)

Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0

Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)

Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie 2016, 296 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3021-3 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7

Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)

Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4

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Geschichtswissenschaft Manfred E.A. Schmutzer

Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 2015, 544 S., Hardcover 49,99 E (DE), 978-3-8376-3196-8 E-Book PDF: 49,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3196-2

Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)

Zeitgeschichte des Selbst Therapeutisierung — Politisierung — Emotionalisierung 2015, 394 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3084-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3084-2

Thomas Etzemüller

Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt 2015, 294 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3183-8 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3183-2

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