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German Pages IX, 391 [404] Year 1981
QUELLEN UND STUDIEN ZUR GESCHICHTE DES öSTLICHEN EUROPA BAND XIV
HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAG DES ARBEITSKREISES DER OSTEUROPAHISTORIKER AN DEN HOCHSCHULEN DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN VON GüNTHERSTÖKL
FRANZ STEINER VERLAG GMBH WIESBADEN 1981
FRANKj10LCZEWSKI
POLNISCH-JÜDISCHE BEZIEHUNGEN 1881-1922 EINE STUDIE ZUR GESCHICHTE DES ANTISEMITISMUS IN OSTEUROPA
FRANZ STEINER VERLAG GMBH WIESBADEN 1981
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CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek GOlczewski, Frank: Polnisch-jüdische Beziehungen 1881-1922 [achtzehnhund~rteinundachtzig bis neunzehnhundertzweiundzwanzigJ : e. Studie zur Geschichte d. Antisemitismus in Osteuropa / Frank Golczewski, - Wiesbaden: Steiner, 1981. (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 14) ISBN 3-515-03361-0 NE:GT Alle Rechte vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Werk oder einzelne Teile daraus nachzudrucken oder auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie usw.) zu vervielfaItigen. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 1981 by Franz Steiner Verlag GmbH, Wiesbaden. Printed in Germany
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Die Arbeit an dieser Schrift begann 1974. Besonderen Wert wurde auf publizistisches Material gelegt, das geeignet ist, latente Stimmungen der Bevölkerung widerzuspiegeln. Pressestimmen schaffen einen Zugang zu einer "Meinung", die andere Quellen dem Historiker nur unvollständig erschließen können. Die polnischen Zeitungen und Zeitschriften konnten auf einer Bibliotheksreise durch Polen erarbeitet werden: Die Universitätsbibliotheken von Posen, Thorn, Warschau und Krakau, die Wojewodschaftsbibliothek in Lublin sowie die Sejm-Bibliothek waren sehr hilfsbereit. Der Zugang zu polnischen Archiven wurde bis zum Abschluß der Arbeit verweigert. Die Genehmigung wurde erst 1980 erteilt - das inzwischen erschlossene Material wird in künftigen Arbeiten berücksichtigt werden; Widersprüche zu den hier vorgetragenen Thesen ergaben sich nicht. Die zeitweise Sperrung der polnischen Archive konnte teilweise durch die Arbeit in israelischen Archiven ausgeglichen werden, wobei besonders der umfangreiche Nachlaß Grünbaum zu erwähnen ist (Grünbaum war Vorsitzender des Jüdischen Kreises im Polnischen Sejm und nahm seine Akten bei seiner Emigration nach Israel mit). Dieser Bestand befindet sich im Zionistischen Zentralarchiv in Jerusalem, wo auch die Unterlagen des Zionistischen Zentralbüros zur Verfligung standen. Ergänzungen waren mit den Beständen des Zentralarchivs flir die Geschichte des Jüdischen Volkes in Jerusalem möglich. Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn wurde die diplomatische Korrespondenz zur "Judenfrage" in Polen eingesehen. Nützlich waren Besuche der Bibliothek Germania Judaica (Köln), der Bayerischen Staatsbibliothek, des Herder-Instituts (Marburg), des Yad Vashem (Jerusalem) und des Bibliographischen Instituts der Kibutz-Meuchad-Bewegung (Be'eri). Deren Bediensteten sei flir ihre Hilfe gedankt. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Günther Stökl, meinem akademischen Lehrer, der mit Anteilnahme und Verständnis das Entstehen der Arbeit verfolgt hat. Den Herren Professoren Molitor und Süssmuth danke ich für das Entgegenkommen bei der Vereinbarung meiner Forschungstätigkeit mit den dienstlichen Obliegenheiten. Im Dezember 1979 nahm die Philosophische Fakultät der Universität zu Köln diese Arbeit als Habilitationsschrift an. Finanziell unterstützte die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Reise nach Israel sowie die Publikation. Dafür sei ihr und ihren Gutachtern gedankt. Die vorliegende Buchausgabe enthält aus Raumgründen einen Teil der theoretischen Überlegungen nicht, die der Habilitationsschrift vorangestellt waren. F.G.
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INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X
I. Zur Ausgangssituation des Forschers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1 1. Probleme des Forschungsobjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2 Inhalte des antijüdischen Komplexes (4), Begriffe (5), Die ,,jüdische Frage" (7), Gemeinsame Kennzeichen judenfeindlicher Thesen (8), Facetten des Antisemitismussyndroms (9), Autostereotyp des Antisemiten (3).
2. Antisemitismus in Deutschland und in Polen. . . . . . . . . . . . . . . . .. 14 11. Polnisch-jüdische Beziehungen bis 1881. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Zur Siedlung der Juden in Polen. . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . .. 2. Anmerkungen zu den polnisch-:iüdischen Beziehungen bis zu den Teilungen ............. -.......... '.' . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Reformversuche des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reformprojekte (24), Zeit des Aufstands von 1830/31 (27), Die Lage in den Teilungsgebieten (29), Jüdisch-polnische "Verbrüderung" (33), Aufstand von 1863 (36), Nach dem Aufstand (38).
III. Die War schauer Weihnachtsausschreitungen von 1881. . . . . . . . . . 1. Vorboten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verlauf der Ausschreitungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zeitgenössische Wertung der Unruhen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Ausschreitung~n als Symptom eines vorhandenen Konflikts.
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IV. Die Arbeiterunruhen von L6di 1892 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 V. Die westgalizischen Bauernunruhen 1898. . . . . . . . . . . 1. Zur Rolle der Juden im polnischen Dorf . . . . . . . . . 2. Zur galizischen Bauernbewegung in den 90er Jahren. . 3. Die antisemitische Agitation des "Zwiflzek Chlopski". 4. Die Unruhen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wieliczka (70), Jasto (72), Frysztak (72), Rozdziele (74), Alt- und Neu-Sandez (75), Auslösung der Exzesse (76), Reaktion der polnischen Gruppen (80), Wertungen (8,3).
60 60 64 66 70
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Inhalt
VI. Bialystok - Siedlce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 85 VII. Die Boykottbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Trennungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die ,,Progressiven". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Das ,,Litwaken"-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Die Duma-Wahlen 1912 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Boykott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Motivierung des Judenboykotts (106), Durchführung des Boykotts (112), Effekte des Boykotts (114), Bedeutung des Boykotts (117).
VIII. Polnisch-jüdische Beziehungen im Eisten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Die Zeit des russischen Vormarschs (1914/15) . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Ausländische Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3. Das Verhalten der Mittelmächte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4. Die Bürgerkomitees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5. Zum Vorwurf der jüdischen Kollaboration. . . . . . . . . . . . . . . .... 140 6. Das Verhalten der deutschen Behörden und der deutschen Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 7. Schul- und Sprachenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 8. Die War schauer Selbstverwaltungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Einlaß in die öffentlichen Grünanlagen (163), Neuverteilung der Verkaufsstände (165).
9. Unruhen während der Besetzungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 169 10. Die Auswirkungen des Weltkriegs auf das polnisch~üdische Verhältnis. 171 11. Der Abzug der Okkupanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 IX. Antisemitismus und Unabhängigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kielce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Chrzan6w . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die psychische Situation zur Zeit der Unabhängigkeitserlangung .... 5. Das Problem der Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X. Militär und Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 1. Pinsk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Wilna, Lida, Minsk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Wilna (229),Lida (230), Minsk (231)
3. Kommunismus und Juden. ..
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Generalisierung (234), Umkehrschluß (235), "Protokolle der Weisen von Zion" (236), Messianismus (237), Doppelte Taktik (238), "Judäo-Polonien" (239).
4. Die Internierung jüdischer Soldaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
Inhalt
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XI. Polnisch-jüdische Beziehungen und die innere Situation ............ 246 1. CZ$lstochowa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . 246 2. Antijüdische Aktionen radikalisierter Bauern und Bürger .......... 253 Strzyi:6w (254), Rzesz6w (257), Tyczyn (259), RaniZow (260), Majdan Krolewski (260), Kolbuszowa (260), Baran6w, Tarnobrzeg (263), Brzostek, Jodtowa (263).
3. 4. 5. 6.
Judendiskriminierung unterhalb der Gewaltgrenze . . . . . . . . . . . . .. 265 Diskriminierungen im Ausbildungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Sonntagsruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Kirche und Judenfeindschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
XII. Die polnisch:iüdische Dimension im innen- und außenpolitischen Geschehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 1. Paderewski und Drnöwski in den USA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Zur Tätigkeit der Untersuchungskommissionen in Polen .......... 290 3. Der Minderheitenschutzvertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 4. Polens Reaktion auf den Minderheitenschutzvertrag . . . . . . . . . . . . . 303 5. Die Nossig-Verhandlungen. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 6. Zu den polnischen und jüdischen politischen Gruppierungen . . . . . . . 311 Nationaldemokraten (312), Christdemokraten (316), National-Sozialisten (316), Bauernparteien (317), Sozialisten (318), Kommunisten (320), Bund (321), Zionisten (321), Folkisten (325), Orthodoxie (326), Assimilationsanhänger (328).
XIII. Der Mord an Narutowicz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 1. Die Wahlen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Die Dezember-Unruhen 1922. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 3. Der Präsidentenmord . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . ........... 346 XIV. Polnisch-jüdische Beziehungen bis 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 1. Der Präsidentenmord als Kulminationspunkt des Antagonismus ..... 352 2. Nicht-Juden und Juden in Polen zwischen 1881 und 1922 ......... 355 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Personenregister ........ ; . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
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ABKÜRZUNGEN AGAD AJYB APIP AZJ Biuletyn ZIH CAHJP CA KCPZPR CRPA CZAJ DP DZA FAZ GC GL GI:,
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Archiwum Gtowne Akt Dawnych, Warszawa American J ewish Year Book, Philadelphia Archiwum Polityczne Ignacego Paderewskiego Allgemeine Zeitung des Judentums Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem Centraine Archiwum Komitetu Centrainego Polskiej Zjednoczonej .Partii Robotniczej, Warszawa Conference de la Paix 1919-1920, Recueil des Actes de la Conference Central Zionist Archives, Jerusalem Dziennik Poznanski Deutsches Zentralarchiv, Merseburg Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland Goniec Cz~stochowski Gios Lubelski Gazeta f,6dzka Gazeta Poranna Dwa Grosze, Warszawa Gazeta Warszawska Jewish Conjoint Committee, London Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge Jewish Journal of Sociology Jüdische Rundschau, Berlin Jewish Social Studies Kurjer Czystochowski Kurjer Lwowski Kurjer Ptocki Kurjer Polski, Warszawa Kurjer Poznanski Komisja RZSldowa Spraw Wewnytrznych Kurjer Warszawski Mitteilungen des Kopenhagener Büros der Zionistischen Organisation Neue Freie Presse, Wien Narodowy ZwiSlzek Robotniczy Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn Polska Agencja Telegraficzna Polska Partia Socjalistyczna Papers Relating to the Foreign Relations of the United States Polski Slownik Biograficzny Polskie Stronnictwo Ludowe Socjaldemokracja Krolestwa Polskiego i Litwy Zwillzek Chlopski, Nowy SS\cz Zentralkomitee der Zionistischen Organisation Ziemia Lubelska Ziemia Przemyska Ziemia Rzeszowska Ziemia Rzeszowska i J aroslawska Zydowska Organizacja
1. ZUR AUSGANGSSITUATION DES FORSCHERS
Im folgenden wird eine Gruppenbeziehung aufgearbeitet, die bisher kaum im Blickpunkt des allgemeinen Interesses stand. ,,Polnisch-jüdisch" steht dabei nicht nur für ein Gegensatzpaar - vielmehr macht gerade die Zugehörigkeit zu beiden Gruppen etwa die Anhänger der Assimilation zu teilweise tragischen Gestalten, an denen sich die nationalistische Unsinnigkeit dieses künstlichen Gegensatzes erweist. Für die Mehrheit der das Zeitverständnis ausdrückenden Verfasser von Quellen war ein Antagonismus jedoch fraglos vorhanden. Bei der Darstellung der sich hieraus ergebenden Polarisierung der Standpunkte wird das Hauptgewicht auf die bisher nur ungenügend dargestellte "polnische" Seite gelegt - siewar die eindeutig aktivere -, sie wirkte initiativ und bestimmte damit den Wandel des zu betrachtenden Verhältnisses. Ihre Aktivitäten wiesen oft originale Merkmale auf, auch wenn sie zu einem großen Teil auf west- und mitteleuropäischen Modellen basierten. Gerade die Rezeption und Transformation fremder Einflüsse läßt im Vergleich Rückschlüsse auf Originales zu, erlaubt die Erkenntnis von Distinktivem und ermöglicht so eine weitergehende historische Wertung von bereits Bekanntem. Die Gedanken jener Zeit kreisten um die im Zusanunenhang der neuerlichen Staatwerdung Polens notwendige Gestaltung der Beziehungen zwischen seinen nicht-jüdischen und seinen jüdischen Bewohnern. Dies ist der Ausgangspunkt der polnischen "Judenfrage" (kwestia zydowska). Aus den historischen Fakten ergibt sich eine Zweiteilung der Darstellung. Bis 1918 beschreibt man im polnisch-jüdischen Verhältnis die Beziehungen zweier unterdrückter Gruppen. Nach 1918 ist eine dieser beiden Gruppen zu einem Staatsvolk aufgestiegen; danach bestehende Diskriminierungen der Juden haben demnach den Charakter der Unterdrückung einer Minderheit durch ein Staatsvolk. Der Aufbau dieser Arbeit spiegelt dies wider. Im ersten Teil ist die "Judenfrage" ein Moment primär anders motivierter politischer, sozialer und ökonomischer Konflikte auf dem Wege zur politischen Emanzipation der polnischen Gesellschaft, der zweite Teil zeigt die Beziehungen auf drei Ebenen auf, die zum Teil erst nach der Erlangung der Unabhängigkeit autonom gestaltet werden konnten: 1. auf der Ebene der gewaltsamen Auseinandersetzung, 2. auf der Ebene wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung, 3. auf der Ebene der Innen- und Außenpolitik. Nahezu alle Vorstellungen zur "Judenfrage" gingen von einer negativen Haltung zur jeweiligen Gegenwart der polnisch-jüdischen Beziehungen aus. Keine nichtjüdische Gruppierung war bereit, den Juden freiwillig im Rahmen der polnischen Gesellschaft das Recht auf ein "Anders-Sein" zuzugestehen. Nationaldemokraten
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Zur Ausgangssituation des Forschers
wie Sozialisten, Anhänger der Unterdrückung wie der Assimilation kritisierten dil zeitgenössischen Erscheinungsformen des Judentums. Damit gerät die Geschichtl der polnisch~jüdischen Beziehungen in weiten Teilen zu einer Geschichte des im 19 und frühen 20. Jahrhundert noch nicht durch die Verbrechen des Nationalsozialis mus diskreditierten Antisemitismus. Die Geschichte der polnisch-jüdischen Bezie hungen zwischen 1881 und 1922 ist damit auch die Geschichte des polnischel Antisemitismus jener Zeit. Eine Feststellung muß getroffen werden, die in ihrer Banalität eigentlich über flüssig sein müßte: Die Bearbeitung des Antisemitismus in Polen will keine neuet nationalen Vorurteile zeugen, sie beinhaltet keine Generalisierung, beabsichtig nicht im Mindesten, Antisemitismus in anderen Gebieten - mit Deutschland an de Spitze! - zu exkulpieren oder zu verharmlosen. Taten anderer verändern die Quali tät eigener nicht im Geringsten! Andererseits kann aber dieser allzu häufige Recht fertigungsversuch auch nicht umgekehrt wirken. Die großen - deutschen - Ver brechen machen die ,,kleinen" der anderen nicht ungeschehen. Die historischE Realität ist nicht in publizierbare und tabuisierte Bereiche teilbar. Gewarnt se daher vor jeglicher ahistorischer Verwertung des hier vorgestenten Materials ohne die Berücksichtigung seines historischen Umfeldes. Die sich erschließenden Denkrnechanismen sind allerdings mit denjenigen ir anderen Gesellschaften vergleichbar. Sie zeigen, daß die Internationale der Intole ranz und des Hasses nicht auf bestimmte Gesellschaften beschränkt ist, daß sie eine erschreckende Neigung zur Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen zeigt
1. PROBLEME DES FORSCHUNGSOBJEKTS Die Problematik des polnisch-jüdischen Verhältnisses ist weitgehend unbear beitet. Trotz Anspielungen in Romanen! und Feuilletonartikeln2 gilt immer noct vorherrschend, was Korzec die "conspiracy of silence" nennt 3 • Dabei besteht an auszuwertendem Material kein Mangel: Man bemüht sich urr die Geschichte des polnischen Judentums, Polens nicht-jüdische Geschichte ist weit gehend geschrieben und auch der theoretische Aspekt des Antisemitismus erfreu1 sich einer umfangreichen Literatur, in der es allerdings neben Weizen auch vie Spreu gibt. Bis 1863 reichen polnische Arbeiten zur Judenfrage 4 , die späteren Jahre sind jedoch - von einzelnen Artikeln und den apologetischen Publikationen del exilierten jüdischen Gemeinden abgesehen - nirgendwo untersucht. Daflir gibt es mehrere Gründe: Der in dieser Zeit wachsende Antisemitismm
1 G. Regler, Das große Beispiel. Frankfurt 1976, S. 61 f. (New York '1940). 2 J. Becker, "Wäre ich hinterher klüger? ", FAZ 98/13.5.1978. 3 P. Korzec, "Antisemitism in Po!and as an Intelectua![!], Socia!, and Political Movement". In: J. A. Fishman, Studies on Polish Jewry 1919-1939. New York 1974, S. 17. 4 u. a. A. Eisenbach, Kwestia rownouprawnienia Zydow w Kr6!estwie Po!skim. Warszawa 1972; ders., Wielka Emigracja wobec kwestii zydowskiej. Warszawa 1976.
Probleme des Forschungsobjekts
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macht die bis heute sowohl in Polen als auch bei exilierten Forschern vorherrschende nationale Apologetik unmöglich, wirft einen düsteren Schatten auf die Wiederauferstehung der geteilten Nation. Wo heute zunehmend in polnischen Publikationen auf den Antisemitismus der Nationaldemokratie hingewiesen wird, setzt meist eine Abdrängung dieser Erscheinung an die Peripherie des Interesses ein, sie wird zu einer letztlich irrelevanten Größe erklärt und möglichst unauffallig abgehandelts . Damit wird das polnisch-jüdische Verhältnis zu einem Objekt der Fremdhistorie 6 • In Polen ist die "Judenfrage" - die so oder anders in der untersuchten Zeit in jedem Land zwischen Rußland und Amerika gestellt wird - ein "integrales Element der polnischen historischen Entwicklung, ein Element der Sozialgeschichte"7, das einen zu großen Einfluß auf die übrige Entwicklung ausübte, um unbeachtet zu bleiben. Antisemitismus ist das Symptom einer "tieferen und breiteren Erkrankung"S, deren Analyse erst durch seine Untersuchung möglich wird. Das gentile Verhalten gegenüber Juden sagt mehr über die gentile Gesellschaft aus als über die jüdische. Ursachen und Funktionen dieses Verhaltens liegen außerhalb der formulierten Thesen. Diese sind Interessenurteile, projizierte Gefühle, Wertvorstellungen und Statusansprüche, die einen tiefen Einblick in das Selbst- und Umweltverständnis ilirer Vertreter gestatten9 • Die negative Einstellung zu den Juden hat eine Orientierungsfunktion. Sie macht "undurchsichtige" Zusammenhänge überschaubar 1o , hilft verschiedenartigen Elementen dabei, sich in der - hier - polnisch-nationalen Gruppe zurechtzufinden, indem diese zumindest negativ definiert werden kann. Auf vielfältige Weise hilft sie den anti-jüdischen Gruppen, iliren Bestand argumentativ zu sichern l l . Aber auch die ausschließliche Betrachtung der gentilen Gesellschaft ist einseitig: 12 So wenig Stereotype "richtig" sein müssen, so wenig ist ihre prinzipielle Unrichtigkeit von vornherein gegeben 13 • Die vorurteilsvolle Haltung ist niemals auf eine Partei beschränkt - es ist jedoch oftmals unmöglich, Ursache und Wirkung klar voneinander zu trennen. Daraus erwächst die Notwendigkeit, im Zusammenhang des Antisemitismus der jüdischen Seite als Objekt, aber auch als motivierender 5 Allgemeine Arbeiten zum Antisemitismus kommen oft ohne einen Hinweis auf Polen aus. VgL V. Morais, A Short History of Anti-Semitism. New York 1976 u. a. 6 K. Közniewski erkennt dies und schreibt (Przemiany Polak6w. Warszawa 1969, S.80): "Vielleicht sollten solche Bücher Ausländer verfassen, die weniger gefühlsmäßig in unseren Angelegenheiten engagiert sind und vor Empörung (was leider unsere Qualität ist) keinen Ausschlag bekommen, wenn jemand etwas Schlechtes über Polen sagt ... " 7 Eisenbach, Kwestia, S. 80. 8 A. Hertz, Zydzi w kulturze polskiej. Paris 1961, S. 9. 9 Vgl. ebd., S. 69; C. Brunner, Die Herrschaft des Hochmuts. Stuttgart 1969 e 1920), S. 21; K. Felden, Die Übernahme des antisemitischen Stereotyps als soziale Norm ... Diss. Heidelberg 1963, S. 47; A. Cohen, The Psychology of Anti-Semitism. London (1940), S. 3. 10 Vgl. E. Barres, Das Vorurteil in Theorie und Wirklichkeit. Opladen 1974, S. 106/7. 11 Ebd. S. 116/7. 12 Vgl. E. Reichmann, Die Flucht in den Haß. Frankfurt(1956), S. 35. 13 O. Klineberg, Die menschliche Dimension in den internationalen Beziehungen. Bern/Stuttgart 1966, S. 56.
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Zur Ausgangssituation des Forschers
Faktor Beachtung zu schenken 14 .Der jüdische Beitrag ist nur selten bewußt: Er besteht in der Einbindung in eine komplexe historische, soziale und sozialpsychische Situation, in der unbewußt eben jene Momente sichtbar gemacht werden, die den Antisemitismus der Antisemiten bestärken, zum Teil auch in der in ihrer ganzen Tragweite nicht erkannten Übernahme - und damit Bestätigting - antisemitischer Stereotype - wie z. B. des Produktivitätsmythos durch die frühen Zionisten15 • Der Hauptteil der Arbeit beginnt mit dem Jahr 1881. Die Weihnachtsunruhen in Warschau sind in diesem Jahr das erste Symptom des tiefergehenden Konflikts. Wenngleich sich die "bessere polnische Gesellschaft" von den Exzessen distanziert, so gibt es doch auch erste Stimmen, die die späteren Entwicklungen vorwegnehmen. "Sprunghaft" und "zusammenhanglos"16 sind antisemitische Vorgänge bis 1912, dann aber erreichen sie die politische Ebene - der Boykott des jüdischen Handels wird zum ausdrücklichen Programm der polnischen Nationaldemokraten. Auch wenn 1912 ein erster Kulminationspunkt erreicht wurde, muß betont werden, daß die Zeit bis dahin in der Regel eine Zeit der Ruhe war. Der Historiker übergeht oft diese Ruhezeiten, die sich durch ihre Ereignislosigkeit auszeichnen, und läuft dann Gefahr, die Geschichtsschreibung zu einer die Realität nicht genau erfassenden Konfliktchronik werden zu lassen. Um diesen Eindruck zu mildern, soll daher betont werden, daß die polnisch-jüdischen Beziehungen in den polnischen Gebieten bis 1912 - vergleicht man die Lage mit Polens Nachbarländern - relativ "gut" waren. Die Änderung von 1912 spiegelt die wachsende Bedeutung der polnischen wie der jüdischen Nationalbewegungen und ihrer zum Teil einander entgegengesetzten Interessen wider. Hier wie bei der sich anschließenden Auseinandersetzung der Gruppierungen um Dmowski und Pilsudski bietet die Ebene der "Judenfrage" eine Kampfarena, in der Gefechte ausgetragen werden können, wenn man, aus welchem Grunde auch immer, Kämpfe auf anderen Gebieten scheut. Mit Hilfe der "Judenfrage" können die Bedrohungen der Moderne veranschaulicht werden, sie erweist sich als leicht einzusetzendes Solidarisierungsinstrument in der Hand ihrer Benutzer. Der untersuchte Zeitraum endet mit dem Mord an dem StaatspräSidenten Narutowicz, der als "Präsident der Juden" diffamiert wird. Hier findet die polnisch-jüdische Beziehung auch Eingang in die üblichen Darstellungen der polnischen Geschichte. Sie wird dort allerdings ihrer Herleitung entkleidet dargestellt - die Aufgabe dieser Arbeit soll die Darstellung der Eskalation bis zu diesem Punkt sein. Ein wichtiges Ereignis der Geschichte der Zwischenkriegszeit wird damit erstmals in bezug auf seine Genese untersucht. Neben der Faktengeschichte sollen die Inhalte des antijüdischen Komplexes vorgestellt werden. Diese Inhalte, die man mit einer gewissen Berechtigung als Mythen 14 Vgl. dazu grundlegend B. Bettelheim, "The Dynamism of Anti-Semitism in Gentile and Jew", The Journal of Abnormal and Socia! Psychology 42 (1947),8.153-68. 15 Vgl. u. a. D. Bermann, Produktivierungsmythen und Antisemitismus. Phil. Diss. München 1971. 16 P. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus. Gütersloh 1966, S. 120.
Probleme des Forschungsobjekts
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bezeichnen kann, werden häufig als irrelevant abgetan. Judenhaß ist jedoch nur beschränkt an der Realität orientiert. Wenn Felden richtig erkennt, daß "der Blick des Antisemiten ... von den realen Vorgängen seiner Umwelt ab gewandt und ganz auf das Sein-Sollen konzentriert ist"17, dann gewinnen die Hirngespinste der Antisemiten an realitätsgestaltender Bedeutung, dann muß man diese seltsamen Gedankenwege kennenlernen, um die Fakten einordnen zu können. Das Handeln des Subjekts orientiert sich an der subjektiven Rezeption der Realität. Daher ist es wichtig, den Gedankengang des Antisemiten bei diesem weiterzuverfolgen - bis die Thesen fallengelassen oder in Aktionen umgesetzt werden. Die Inhalte antijüdischer Thesen dürfen deshalb nicht zu früh "erklärt" werden - wirksam werden sie in ihrer ursprünglichen, unretuschierten Form. Der Antisemitismus wird damit. subjektiv erklärbar, im Rahmen seiner historischen zeit- und situationsimmanenten Entwicklung nachzeichenbar. Die Geschichte des Antisemitismus wird zu einer Mythosgeschichte, in der auch nicht jederzeit der Realitätsbezug im Vordergrund stehen kann. Mag man auch Mythen als Funktionen sozialer Motive auffassen, irgendwo erwerben sie doch ein Eigenleben, das nicht vernachlässigt werden darf. Die Beschränkung auf die Deskription der Denk- und Motivationsvorgänge verringert die teilweise schier unlösbar scheinenden Probleme der heutigen Vorurteilsforschung. Aber auch in der Reduzierung auf deren subjektive Funktion ist Vorsicht am Platze. Weder verlaufen antisemitische Gedankengänge ausschließlich nach dem Modell individueller Affektabläufe, noch bedürfen sie überhaupt einer logischen Zwangsläufigkeit. Das "subjektive Bewußtsein" und die "individuelle Lagedeutung"18 werden ,Jetztlich nur verständlich aus den die spezifische Feldsituation definierenden und motivierenden stereotypen Systemen"19 , die sich oft einer "Vergesetzlichung" entziehen. So soll auch hier an keiner Stelle versucht werden, eine Zwangsläufigkeit zu beweisen. Jeder Mensch - auch der Antisemit - ist frei, sich in einem bestimmten Maße von psychischen, ökonomischen und politischen Zwängen zu lösen. Als Beleg reicht hier aus, daß eben nicht alle polnischen und deutschen Kleinbürger Antisemiten sind oder waren. Wir können also in dieser Arbeit nur Strukturen kenntlich machen, von denen im nachhinein gesagt werden kann, daß sie - wahrscheinlich zu einer bestimmten Haltung oder Aktion geflihrt haben, jeder weitergehende Schluß ist unbeabsichtigt. Die Auseinandersetzung um den "Antisemitismus" macht Aussagen zur hier verwendeten Begrifflichkeit erforderlich. Wir gehen nicht von der Einzigartigkeit des modernen Antisemitismus aus, die Begriffe "Abneigung gegen Juden, Judenhaß" und "Antisemitismus" sind austauschbar - sie verweisen in keinem Falle auf ein ausgefeiltes System, das der letztere Begriff in der diesbezüglichen Literatur häufig andeuten will. Dazu scheinen folgende Überlegungen zu berechtigen: 17 Felden, Übernahme, S. 47. 18 Vgl. E. Cramer, Ideologie und Handeln in Theorien über den Antisemitismus. Diss. Hannover 1970, S. 292. 19 R. Bergler, Psychologie stereotyper Systeme. BernjStuttgart 1966, S. 263.
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Zur Ausgangssituation des Forschen
Die Trennung von "Judenhaß" und "Antisemitismus" wird häufig historisch zwischen judenfeindlichen Erscheinungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit einerseits und des "rationalen" Zeitalters, des 19. und 20. Jahrhunderts andererseits gezogen. Abgesehen davon, daß eine genaue Trennungslinie immer arbiträr bleiben muß, widerspricht dem schon die These, auch im modernen Antisemitismus überwögen - wenngleich unbewußt - religiöse Motive 2o • Auch die schon alte Forderung, Antisemitismus erst dort zu sehen, wo es eine "soziale Problematik" gibt 21 , führt nicht weiter, weil der dieser gegenübergestellte Begriff "Abneigung" (niech~c) auch stets "soziale" Komponenten hat. Andererseits ist eine Unterscheidung von Arten des Judenhasses gefahrlich, weil sie apologetischen Charakter besitzt. Versuche, den Judenhaß auf eine Ursache zurückzuführen, widersprechen historischer Wissenschaftlichkeit,die sich vor monokausalen Thesen zu hüten hat, aber man muß die Warnung Sartres beherzigen, Endziel jedes, auch des kaschierten Antisemitismus sei der Tod des Juden, die vorgeschobene Erniedrigung, Demütigung, Diskriminierung und Verbannung nur Ersatz, Symbol des eigentlichen Zieles 22 • Daher gibt es keine "gefahrlicheren" und ,,harmlosen" Spielarten des Judenhasses, Abstufungen in der Intensität werden durch Machtverhältnisse, nicht durch die Qualität des Antisemitismus selber bestimmt 23 • In seiner leider wenig beachteten Arbeit zeigt Bergman, wie falsch jede Unterscheidung zwischen ,,milden" und "gewaltsamen" Formen des Judenhasses ist: der Unterschied liege nicht im Wesen des Antisemitismus, sondern in der Violenz des betreffenden Antisemiten begründet, die ihrerseits keinen Maßstab für die Intensität oder Qualität des gegen die Juden gerichteten Geftihls der betreffenden Persönlichkeit abgebe 24 • Hieraus erwächst die Berechtigung, sich mit dem polnischen "Antisemitismus" zu beschäftigen, auch wenn dessen Violenz und historische Bedeutung - wenn man die Zahl der Opfer vergleicht - neben den deutschen und ukrainischen Aktivitäten in der Tat derart gering erscheint, daß man versucht wäre, ihn als quantite negligeable zu übergehen. Kolakowski begründet die Beziehung zwischen dem nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Judenmord ausgebildeten polnischen Judenhaß und der deutschen nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Polen, die auf der Tradition des "gewaltlosen Boykotts" aufbauen konnte. Wir möchten uns dem polnischen Philosophen anschließen und aus seinem Satz "Die heutige Tolerierung der schwächsten Erscheinungen des Antisemitismus bedeutet ... die
20 S. Lehr, Antisemitismus - religiöse Motive im sozialen Vorurteil. München 1974, S. 4. 21 W. Alter, "Argumenty antysemickie". In: 0 ZYdach i antysemityzmie. Warszawa 1936, S.I1. - Zur Diskussion zwischen der Einzigartigkeits- und der "Iterations-"These vgl. Cramer, Ideologie, S. 165. 22 J. P. Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage. Zürich 1948, S. 43. 23 E. Simmel, "Anti-Semitism and Mass Psychopathology". In: ders., Anti-Semitism, a Social Disease. New York 1946, S. 52. 24 Sh. Bergman, "Some Methodological Errors in the Study of Anti-Semitism". JSS 5 (1943), S.44.
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Probleme des Forschungsobjekts
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Tolerierung der Pogrome von morgen"25 das Recht herleiten, den polnischen Judenhaß des untersuchten Zeitraums als Antisemitismus abhandeln zu dürfen. Wenn auch polnische Autoren zum Teil stolz darauf waren, in Polen Antisemitismus vorweisen zu können (noch war dieser ja nicht durch Auschwitz und Treblinka diskreditiert), so wehrten sie sich doch häufig dagegen, gewaltsamer Handlungen bezichtigt und insbesondere mit dem Begriff "Pogrom" in Zusammenhang gebracht zu werden. Dabei wird die Abgrenzung von russischen Erscheinungen deutlich; polnische Stimmen, die eine "Abrechnung mit den Juden" fordern, stellen die kulturelle Höhe der polnischen Nation der kulturlosen Brutalität anderer Völker gegenüber und werten die "milde" Form der gewaltlosen Auseinandersetzung als besonderes Kennzeichen dieser Kultur 26 • Selbst der sozialistische Abgeordnete Ignacy Daszynski lehnte in einer vielbeachteten Sejm-Ansprache den Begriff "Pogrom" ab, sah in ihm ein polemisches Produkt der ausländischen Propaganda und wollte ihn für Polen durch ,,Exzesse" und "Straßenkämpfe" ersetzt sehen 27 • Damit entsprach er der ähnlichen These des Nationaldemokraten Korfanty: "Pogrome gab es bisher in Polen nicht, solche Pogrome, wie sie sich in Kisinev und anderen Städten Rußlands ereignet haben, weil dies dem tiefen christlichen Gefühl des polnischen Volkes widerspricht. ,,28 Man erkennt, daß der Pogrombegriff hier mit emotionalen Momenten befrachtet wird, denn sowohl vom Ausmaß als auch von der organisationellen Seite einzelner Aktionen her ergibt sich kein allgemein verständliches Unterscheidungsmerkmal. Dies jedoch kann uns auch veranlassen, auf dieses Klischee, das heute nur mehr wenig illustriert, zu verzichten und im folgenden diesen Begriff zu ersetzen: Nicht mit begrifflichen Klischees, sondern mit den ihnen zugrunde liegenden Inhalten soll diese Arbeit operieren. Die "jüdische Frage" ist die Frage nach der Rolle der jüdischen Bevölkerung in einer zukünftig veränderten Gesellschaft. Ihr liegt ein allgemeiner Konsens über die Unmöglichkeit zugrunde, die Juden - wie sie in der damaligen Gegenwart bestanden - unverändert in die neue Ordnung aufzunehmen. Aus der Zukunftsplanung erwächst damit eine Kritik am zeitgenössischen Judentum, die sich verselbständigt und in ihrer Ausrichtung gegen die Juden zum Selbstzweck wird. Von der ursprünglich angestrebten Gesellschaftsveränderung bleibt nichts mehr übrig - im Gegenteil wird die Judenfrage als Ablenkung von ihr verstanden, als Mittel, die vorhandenen Strukturen zu erhalten. Nur so kann sie zum Argument konservativer Gruppierungen werden. Der ursprüngliche Zweck hingegen bleibt in den Bestrebungen der sozialreformerischen oder -revolutionären und der entsprechenden jüdischen Gruppen erhalten. So wird der frühe Zionismus in seiner Theoriebildung von der
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25 L. Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative. München 1960, S. 181/2. 26 Vgl. u. a. J. Kruszynski, Zydzi a kwestja zydowska. Wloctawek 1920, S. 7. - M. C. Zawisza, Jak Zydzi rujnowali Polsky• Warszawa 1923, S. 9. 27 Sejm-Stenogramm 48/12.6.1919, Sp. 62/63. 28 Ebd. 57/27.6.1919, Sp. 61.
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Zur Ausgangssituation des Forschers
Annahme der sozialen Anomalie des jüdischen Volkes gespeist. Wenn demnach einer der prominentesten polnischen Zionisten von den Juden als der "Parodie eines Volkes" spricht, das "vor allem aus nur zwei monströs hypertrophen Klassen: aus Krämern und Handwerkern" besteht29 , dann unterscheidet sich diese Äußerung wohl in der vom Zionismus verfolgten Absicht, nicht aber im vordergründigen Wortlaut von einer Situationsanalyse der antisemitischen Seite. Von daher steht gas bearbeitete Problem im Zeichen der historischen Gesellschaftskritik, die mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Mitteln betrieben wird. Ihrer Methodik und· Wirksamkeit, was das polnisch-jüdische Problemfeld betrifft, soll die Aufmerksamkeit geschenkt werden. Als gemeinsames Kennzeichen juden[eindlicher Thesen erscheint der sich als Erklärung der Gegenwartsmisere anbietende Fremdherrschaftswahn. Diesem liegt ein Drei-Phasen-Schema zugrunde, das die Gegenwart als den Tiefpunkt der historischen Entwicklung beschreibt und für die Zukunft die Rückgewinnung "alter" Freiheiten anstre bt 3o . Für Polen vor 1918 mit seiner faktischen Fremdherrschaft ist dieses Schema bestechend. Kann man dann noch - wie im folgenden dargestellteine einheimische Gruppe als Hauptrepräsentanten der Fremdherrscher festmachen, dann liegt damit der gemeinsame Nenner fest, auf dem die unterschiedlichsten Vorwürfe gegenüber dem Judentum vereinigt werden können. Die Zeit nach 1918 erscheint damit als aus der Teilungszeit her zu verstehende Epoche der Realisierung der früheren, rationalisierenden Wirklichkeitsbewältigungen. Den Juden als den "Repräsentanten der die Gegenwart verdüsternden Fremdherrscher" wird die Schuld an negativen Erscheinungen der Jetztzeit gegeben; Erfolge werden auf dem Konto der eigenen Gruppe verbucht. Die Juden als Vertreter der Feinde werden Objekte von Feindbildern, wie sie in der Propaganda üblich sind (Motivselektion, Zu schreibung feindlicher Motive, Erfindung zusätzlicher feindlicher Attribute)31 . Hinzu tritt der "Halo-Effekt", die Generalisierung von einem als dominant angenommenen Stereotyp aus 32 . Aus diesen Prozessen entstehen "die Juden", ein monolithischer Block, wie er in der Realität nirgendwo nachweisbar ist; am wenigsten noch in dieser unendlich zersplitterten menschlichen Gruppe. Einzelmenschen werden nunmehr ausschließlich aufgrund dieser ihrer Gruppenzugehörigkeit beurteilt: damit wird andererseits auch die Inanspruchnahme der ganzen Gruppe für isolierte Einzeltaten ermöglicht. Eine etwaige Trennung zwischen Ost- und "West-" Juden dient nur dazu, die Menschen, mit denen man es in Polen zu tun hat, noch weitergehend herabzustufen, indem man ihnen nicht einmal den Rang der "kultivierten" Westler zugesteht 33 . Es gehört zum Wesen der Feindbilder, Konflikte auf ein einfaches Verhältnis zu reduzieren. Inhalt dieses einfachen Gegensatzpaares ist der manichäische Kampf
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A. Hartglas, Zasady naszego programu politycznego w Polsce. Warszawa 1918, S. 1l. Vgl. Mühlmann, S. 329/30; Cramer, Ideologie, S. 13/14; Lanternari, S. 464/65 u. a. Vgl. Ostermann/Nicklas, Vorurteile und Feindbilder, S. 230/l. Vgl. Lißmann/Nicklas/Ostermann, "Feindbilder", S. 39/40. Vgl. u. a. A. Niemojewski, Mysl Niepodlegta 439/1919, S. 53/54.
Probleme des Forschungsobjekts
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zwischen Gut und Böse. Diese antithetische Generalisierung gestattet Einblicke in die Denkweise ihrer Vertreter 34 Möglicherweise demaskiert sie einen Affekt, der seinem Wesen nach einfach sein muß und demzufolge darauf angewiesen ist, jegliche Differenzierung zu beseitigen35 • Dabei scheint es sinnvoll zu sein, die Funktion der affektiven Homogenisierung der Gegengruppe rur die Eigengruppe zu betrachten. Die Judenfeindschaft richtet sich gegen die (zunächst eigens konstruierte) jüdische Gruppe, also nicht gegen den einzelnen - oder nur gegen den einzelnen als Gruppenmitglied 36 • Damit wird die Bedeutung der Gruppe betont, was im Gegenzug erlaubt, den Zusammenhalt der eigenen Gruppe als überlebenswichtig zu unterstreichen; dissidente Fraktionen des eigenen Lagers werden auf den ..Hauptgegensatz" hingewiesen, wodurch die eigene Gruppe konsolidiert wird. Neben diesem politisch-praktischen Nutzen befriedigt die Homogenisierung auch das Bedürfnis, komplexe Vorgänge monokausal zu erklären - ein Bedürfnis, das, wenn man die diversen ökonomisierenden, psychologisierenden oder rassistischen Deutungsversuche der Weltgeschichte betrachtet, nicht auf die Thematik des Antisemitismus beschränkt ist 37 • Im Bereich der Untersuchung des jüdisch-gentilen Verhältnisses spielen diese Versuche eine bedeutsame Rolle. Je nach der Sicht der damit befaßten Forscher können die unterschiedlichen Facetten des Antisemitismussyndroms 38 überbetont werden, was letzten Endes immer wieder in eine monokausale Sackgasse hineinführen muß. Dabei ist keine der selbständig untersuchten Formen antisemitischer Argumente völlig unbegründet: Eine überbetonung einzelner Faktoren verleitet nur leider allzu oft zu dem Trugschluß, die möglich erscheinende Ausräumung der faktischen Basis der Argumentation werde die Erscheinung .. absterben" lassen. Für das Beispiel Polen ist der ökonomisch motivierte Judenhaß am häufigsten in den Analysen anzutreffen. Die Juden als intermediäre Fremdgruppe, in deren ökonomische Position die Polen im 19. Jahrhundert zunehmend hineindrängen, sind zu einfach auszumachen, um im ökonomisierenden Geschichtsdeuten befangene Historiker nach weiteren Momenten suchen zu lassen. Dies allerdings bedeutet eine Reduktion der jüdisch-gentilen Kontakte auf den wirtschaftlichen Bereich - einen Fehlgriff, dessen sich die Exponenten dieser Kontakte die ganze Geschichte des letzten Jahrtausends hindurch schuldig gemacht haben. 34 Bettelheim/Janowitz (Dynamics of Prejudice. London 21964, S. 273) sprechen vom "personal frame of reference within which objective reality is experienced". 35 Von den Merkmalen des Affekts wird hier besonders auf die Bewußtseinseinengung auf das Affekterlebnis sowie auf die Einschränkung der Willenskontrolle und des Kritikvermögens hingewiesen. Vgl. Sartre, Betrachtungen, S. 7; Brunner, Judenhaß, S. 22; Felden, Übernahme, S. 47. 36 Vgl. H. Greive, Theologie und Ideologie. Heidelberg 1969, S. 10; Bettelheim, "Dynamism", S.157. 37 Vgl. T. Adorno, The Authoritarian Personality. New York 1950, S. 621. 38 Diese treffliche Begriffswahl, die die Selbständigkeit und den gleichzeitigen Zusammenhalt der "Facetten" erfaßt, erscheint bei A. Silbermann/H. A. Saller, "Latenter Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland", Kölner Zeitschrift fUr Soziologie und Sozialpsychologie 28 (1976), S. 713.
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Zur Ausgangssituation des Forschers
Förderlich ist dieser Sicht die im französischen Antisemitismus übliche Gleichsetzung "Jude = Kapitalist", die sich auch Marx in seinen frühen Schriften aneignet. Während aber dieser frühe antijüdische Antikapitalismus noch gegen· jeglichen Kapitalismus gerichtet ist, mutiert er sehr bald zu einer Erscheinung, in der er nur mehr die Juden mit dem Kapitalismus identifiziert und damit zu einer willkommenen Ablenkungsideologie vom "christlichen" Kapitalismuswird 39 • Er wurde damit zu einem bloßen Instrument zur Ausschaltung einer lästigen Konkurrenz4o . Daneben ist bisher - nicht zuletzt aufgrund der starken religiösen Bindung der polnischen Bevölkerung - der religiös motivierte Antisemitismus am häufigsten herausgestrichen worden41 . Hierbei spielen die theologische Begründung mit dem "Christusmord" und die religionsgeschichtliche Tradition der christlich-jüdischen Rivalität die fundamentale Rolle. Oberflächliche Bigotterie bei gleichzeitiger Abwesenheit tieferschürfender theologischer Überlegungen, die Identifizierung von nationalen und konfessionellen Kategorien fördern absonderliche "Volksglauben" (mit ihren Höhepunkten in der vorgeblichen Hostienschändung und im Ritualmordvorwurf), an denen auch die polnische Geschichte nicht arm ist. Ihre Vitalität wird nicht zuletzt in den Strzyzower Ereignissen und in der Übernahme des Schimpfwortes "Beilis" fUr Juden deutlich. Hinter diesen Momenten treten in Polen biologisch-rassische Motive, wie sie in Frankreich und Deutschland virulent sind, zurück. In Polen gibt es erst spät Ansätze einer Rassentheorie, die meist aus prinzipiellen Erwägungen - nicht zuletzt aus der katholischen Theologie heraus - abgelehnt wird. Dagegen ist die Verwendung von Motiven häufig, die nur mit rassistischem Gedankengut erklärbar sind, weil sie von einer fundamentalen biologischen Andersartigkeit der jüdischen Menschen ausgehen. So läßt sich als verdeckter Rassismus deuten, was der Literat Jeske-Choinski mit "in Jahrtausenden erstarrten Zügen" beschreibt, die nicht modernisierbar sind42 , wenn die mangelnde Eignung der Juden zum Militärdienst mit dem "großen physischen und geistigen Unterschied zwischen der arischen und der semitischen Rasse ,rk 1971, S. 166. 79 Auss. Rabinowicz, S. 15. - Bürgermeister Pomorski gab die Anzahl der ansässigen Juden mit 416 Familien an, von denen etwa 3/4 zu Schaden gekommen seien (8.15). 80 Aussage Bielak, S. 12. 81 Vgl. Auss. Evidenzoffizier Roman Czapliflski, S. 17: "Die Ursache der hiesigen Unruhen sehe ich im Boschewismus, den ich flir ein jüdisches Werk halte". Vor diesen Vorurteilen konnte sich auch der Starost Tyszkowski nicht freihalten, der eine neugegründete jüdische Kooperative so wertete: "Unter ihrer Jugend sind mit dem Bolschewismus sympathisierende Elemente, aber man konnte ihre Arbeit noch nicht enttarnen, denn sie tun sie sehr heimlich; sie haben hier so eine frisch einl!;erichtete Genossenschaft, deren Mitglieder sehr extreme Tendenzen haben und jedenfalls in hohem Grade staatsfeindlich sind" (S. 17, CZAJ A127/ 82).
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Polnisch-jüdische Beziehungen und die innere Situation
Vorgängen, die sie nicht analysieren konnten, anscheinend ziemlich ratlos gegenüberstanden. Sieht man jedoch von dem Vorwurf der Kommunistenfreundlichkeit und der falschen Terminologie "Bolschewisten"82 fUr die Anhänger Okons und D~bals ab, dann lassen die Beobachtungen der Zeugen schon einen Einblick in den Hintergrund der Ausschreitungen zu. Am 1. April hielt D~bal in Kolbuszowa eine Versammlung ab, in der er die Bauern dazu aufrief, wenn nicht bald eine Bodenreform käme, selber die Sense in die Hand zu nehmen. Er versprach jedem Dorf zwei Volkshäuser , drückte seine negative Einstellung zum polnischen Militär aus - welches auch in Kolbuszowa als Symbol der polnischen Staatlichkeit und der sie tragenden Schicht galt _83 und umriß die Zielrichtung der propagierten Selbstjustiz mit den Worten: "Ihr wißt schon, was Ihr mit den Juden machen sol1t"84. Nicht die konkret berichtete Wahlversammlung D~bals, wohl aber die gesamte übrige Agitation der Partei in allen Dörfern des Gebiets, über deren Art die Aussagen zu D~bals Veranstaltung Aufschlüsse geben, schuf mit der allgemeinen bäuerlichen Unzufriedenheit die Basis der Judenverfolgungen85 . Hinzu kamen demobilisierte Truppen und Deserteure, die sich in den umliegenden Wäldern seit längerer Zeit eingenistet hatten und sich von der "selbständigen" Bodenreform der bäuerlichen Radikalen die Schaffung einer neuen Existenz versprachen. Sie überfielen und beraubten Reisende, verbreiteten allem Anschein nach die antisemitischen Gerüchte und trugen zur Verunsicherung bei86 . Durch diese Elemente wurde die anarchistisch-antisemitische Bauernbewegung gestärkt, die im November 1918 eingesetzt hatte. Sie wirkten sich brutalisierend aus, indem sie im Unterschied, zu den nur materiell interessierten Bauern auch mordeten und ihre Opfer vor dem Tode oft noch grausam quälten87 . Der soziale Hintergrund der Vorgänge wird auch in den Vorschlägen deutlich, die der Kolbuszower Starost als Maßnahmen nannte, um künftig der antisemitischen Bewegung Herr zu werden: Neben einer Bestrafung der Täter und einer allgemeinen Entwaffnung der Zivilbevölkerung empfahl er Schritte zur Verbesserung der 82 Den Begriff "Bolschewisten" dermierte der Evidenzbeamte Roman Czaplmski allgemein mit "Mord, Brandstiftung, Diebstahl" (S. 17). 83 Auss. Bielak, S. 12, Auss. Czaplinski, S. 17; CZAJ A127/82. 84 Auss. Kosek, S, 12, CZAJ A127/82. - Nach Kosek führte D;tbals Versammlung unmittelbar zur Entwaffnung eines Gendarmeriepostens. 85 Vgl. dazu auch Auss. A. Lesicki, S. 10, Skrobaczewski, S. 13, Stadtassessor Osiniak, S. 16, stellv. Bürgermeister Ekstein, S. 17, alle CZAJ A127/82. 86 Auss. W. Lipiarz (S. 11); J. Bielak (S. 12) berichtete von einem ihm unbekannten Soldaten, den er ftir einen Fremden aus der Gegend von Lublin hielt, und der, aus der Richtung Kolbuszowas kommend, im Wald verschwand. Diese ist eine der wenigen Aussagen, in denen wir einen konkreten Anhalt für die Agitationsart gewinnen: Der Unbekannte berichtete über die Unruhen in der Nähe von Rzesz6w und kündigte ähnliches auch in Kolbuszowa an. Er verbreitete antistaatliche Propaganda, indem er berichtete, die polnische Armee sei bei Lemberg geschlagen worden und das Militär desertiere, weil es nicht für die Herrengüter im Osten kämpfen wolle (CZAJ A127/82). Die Deserteure erfreuten sich im Rzeszower Gebiet der weitgehenden Unterstützung der polnischen Bauernbevölkerung. Vgl. Kowalski, "Tyczyn". In: Ders., 6001at, S.120. 87 Auss. W. Rabinowicz, S, 14. CZAJ A127/82; - Nowy Dziennik 96/23.5.1919, S. 3.
Antijüdische Aktionen radikalisierter Bauern und Bürger
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Lebensmittelversorgung, die Durchführung irgendwelcher "öffentlichen" Arbeiten, um die Arbeitslosigkeit und die aus ihr resultierende Unruhe zu beseitigen, und als weitere Entlastung die Wanderarbeit und die Emigration88 • Die zusätzliche Drohung, nach den Juden werde es gegen die "Pans und die Pfarrer" gehen, rundet dieses Bild ab 89 • Am 5. Mai kam es in Baranow zu einem Kampf zwischen Soldaten und einer "Hooligans-Bande" - bis es dem Militär gelang, die Ruhe wiederherzustellen, wurden 24 Juden verprügelt und beraubt 90 • Am 7. Mai wartete eine ähnliche Bande in Tarnobrzeg auf dem Bahnhof auf jüdische Reisende, die in den Zug LublinKrakau einsteigen wollten. Hier kam es anscheinend zu einer Verständigung zwischen den Räubern und den Tarnobrzeger Bahnbeamten, denn der Krakauer Zug wurde außerhalb des Bahnhofs angehalten, wo die reisenden Juden ini aller Ruhe beraubt und verprügelt werden konnten 91 • Bei den Tätern handelte es sich auch hier nicht um Ortsansäf>sige - es wurde betont, daß es während der Ausschreitungen in der Stadt selber ruhig war92 • Am gleichen Tag brach ein weiterer Unruheherd in Brzostek auf. Auch hier war der Jahrmarkt mit der durch ihn bewirkten Zusammenkunft der Bauern aus der Umgebung der Anlaß, auch hier waren die zehn Ortsgendarmen willens, aber unfähig, die Menge zu beruhigen, auch hier waren den Raubzügen entsprechende Gerüchte vorangegangen. Die Hilfe des polnischen Arztes Lach für die Opfer wurde hervorgehoben, die Ortsbewohner beteiligten sich nicht an den Unruhen93 • Für den folgenden Tag, den 8. Mai, war das benachbarte Jodlowa zum Tatort bestimmt worden, denn ab 9 Uhr strömten die Bauern mit dem Ruf ,,Hurra na zydow" in den Ort und begannen zu plündern. Die abwehrende Gendarmerie tötete einen Angreifer, konnte jedoch nichts Ernsthaftes gegen die bis in die Nacht hinein dauernde Plünderung ausrichten, in deren Verlauf acht Juden verletzt wurden 94 • Die Unruhen der Gegend von Kolbuszowa blieben in der polnischen Öffentlichkeit nicht ohne Resonanz. Angesichts der Tatsache, daß in ihnen nicht ausschließlich antisemitische Motive mitspielten, daß sie letztlich eine Bedrohung der herrschenden sozialen Ordnung darstellten und in ihrer Argumentation auch konkret mit einer im Sejm vertretenen Partei in Zusammenhang gebracht werden konnten, die die allgemeine Abneigung der übrigen Sejm-Gruppen genoß, war die öffentliche Meinung nicht in dem Maße wie bei den Unruhen im Frontgebiet bereit, die Angelegenheit stillschweigend zu übergehen. Dazu kam der ungeheuer negative Eindruck der Nachrichten aus Galizien auf die Pariser Verhandlungen. So wurde eine Sejm88 Auss. St. Tyszkowski, S. 17. - Ebenso Auss. A. Lesicki, S. 10, CZAJ A127/82. 89 Auss. T. Mach, S. 10; Auss. Antoni Brablec, Jan Lubremski, S. 10; GabryelJarosz, Skrobaczewski, S. 12, CZAJ AI27/82. Nach einem bei Stankiewicz (Konflikty, S. 163) zitierten Regierungsbericht verhinderte ein Pfarrer das Übergreifen der Plünderung auf nicht-jÜdische Kaufleute. 90 Detaillierte Angaben in Nowy Dziennik 84/11.5.1919, S. 1. 91 Ebenda, S. 2. 92 Der Tarnobrzeger Vorfall unterscheidet sich von den andernorts üblichen Überfällen auf Bahnhöfe und Züge dadurch, daß hier nicht das Militär zum Täterkreis zählte. 94 Nowy Dziennik 90/17.5.1919, S. 3. 93 Nowy Dziennik 84/11.5.1919, S. 2.
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Polnisch-jüdische Beziehungen und die innere Situation
Kommission unter der Leitung von Witos (Piast) und Schiper (Poale-Zion) entsandt, die beide als Gegner der Ok6n-Richtung gelten konnten. PAT schrieb in ihrer Meldung, daß sich die Unruhen in Mittelgalizien aue h gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet hätten und betonte so die über die Judenfrage hinausweisende Bedeutung, die man diesen Ereignissen zumaß 95 • Eugeniusz Okon sah sich am 15. Mai im Sejm gezwungen, scheinheilig die Entsendung der Sejm-Kommission zu begrüßen, die seiner Meinung nach beweisen würde, daß die antisemitische Bewegung in Galizien "durch die Provokation der Juden selber" entstanden sei96 • Die Veröffentlichung der Kommissionsberichte, auf denen die obige Darstellung basiert, straft die Behauptungen Okons Lügen. Sie führte dazu, daß die polnischen Behörden vermehrte Anstrengungen unternahmen, den Agitatoren auf die Spur zu kommen und sie gerichtlich zu bestrafen. Ende 1919 konnte ein Korrespondent aus Galizien berichten, daß sich die "Pogromwelle nunmehr gelegt" habe und daß die Urteile in den Prozessen "keineswegs milde" waren. Ausdrücklich wurde dieser Umstand der Aktion der polnischen Regierung zugeschrieben, die sich in diesen galizischen Unruhen selber betroffen gefühlt habe 97 • Aber auch die Beruhigung an der ukrainischen Front Mitte 1919 trug zu dieser Entspannung bei. Zum einen hatte das polnische Staatswesen seine Schlagkraft, zum anderen seinen Nationalismus bewiesen, so daß das bäuerliche Vorgehen gegen die Obrigkeit nicht mehr als Verteidigung eines "bodenständigen Polen" gegen in fremdem Sold stehende Oberherren ausgegeben werden konnte. Damit aber lief die Landbevölkerung von Okon zu Witos' "Piast" über, der gemäßigte Bodenreformkonzepte vertrat und als Ministerpräsident naturgemäß alles daran setzte, Unruhen zu vermeiden98 • Mit dem Ende der Hoffnungen auf eine anarchische Bauemherrschaft, wie sie Okon genährt hatte, und der Besserung der psychischen Lage der Bauern (auch wenn die Bodenreform weit hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurückblieb, erwartete man doch zunächst ihren Erfolg) ging die durch die Wirren des Kriegsendes und die heftige Sejmwahlagitation aufgerührte Stimmung im Landvolk zurück und mit ihr die in Umbruchzeiten übliche Enthemmung. Aber auch wenn die offene, gewaltsame Judenverfolgung eingestellt wurde, blieb die fortschreitende Judendiskriminierung in zahlreichen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens bestehen, gegen die nur die jüdischen und die sozialistischen Parteien ~pponierten und die oft durch einen scharfen Widerspruch zwischen den gesetzlichen Bestimmungen und der Realität, wie sie durch lokale Instanzen gestaltet wurde, gekennzeichnet war. 95 Abgedr. u. a. in Hajnt 109/13.5.1919, S. 1. - Schiper war das einzige jüdische Mitglied der Kommission. Morvid ("Pogrom", S. 167/68) behauptet, Witos habe sich bei den Kommissionssitzungen antisemitisch gebärdet, er habe unter anderem die Strzyiower Kellerlegende als wahr bezeichnet, Dies kann nicht verifiziert werden, da nur Zeugenaussagen erhalten sind. Morvid beruft sich auf den Redakteur Wiesenfeld. 96 GP2132/16.5.1919, S. 3. Neben den der Sejm-Kommission liegen in poln. Archiven Berichte einer Regierungs- und einer Militärkommission. 97 Korrespondenzbericht in JR 1920. S. 15. Eine militärische Paziflzierungsaktion tat das ihre. Stankiewicz (Konflikty, S. 167) sieht falschlicherweise darin eine absichtliche Aktion; man habe Antisemitismus gefördert, "um die revolutionäre Bewegung zu bremsen." (s. S. 76) 98 Die galizischen Zionisten blieben dennoch erbitterte Gegner von Witos: Bei der Wahl des Sejm-Vorsitzenden war Osias Thon eher bereit, den Posener Nationaldemokraten Trsunp-
Judendiskriminierung unterhalb der Gewaltgrenze
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3. JUDENDISKRIMINIERUNG UNTERHALB DER GEWALTGRENZE
Man kann im Verkehr zwischen dem jüdischen Bevölkerungsteil Polens und der Obrigkeit zwei Tendenzen verfolgen, die eine einfache Gesamtbewertung der Situation erschweren. Zum einen bemühte sich die polnische Regierung tatsächlich wenn auch langsam - Rechtsbeschränkungen, die in bezug auf die Juden von den Teilungsmächten Rußland und österreich geerbt worden waren (in Preußen waren die Juden juristisch emanzipiert), zu beseitigen, so daß vom Ende des Krieges an eine Tendenz zur Beseitigung der antijüdischen Rechtsvorschriften zu beobachten ist. Zum anderen jedoch meinten die staatstragenden Rechtsgruppen des neuen Staates, in der neuen Republik, die in ihrer Verfassung von 1921 (Art. 114) der katholischen Kirche die "HauptsteIlung unter den gleichberechtigten Bekenntnissen" zugesprochen hatte, die bisherige mindere Stellung der Polen in Handel und öffentlichem Dienst durch eine Privilegierung ausgleichen zu müssen, die u. a. zu Lasten der Juden ging, denen gegenüber im Inland eine Diskriminierung leicht verantwortet werden konnte. Hinzu kam die kaum zu kontrollierende Rolle lokaler und halbamtlicher Instanzen, gegen die der Staat zeitweise einzuschreiten versuchte, ohne immer erfolgreich zu sein. Bevor dies jedoch kritisiert werden kann, muß beachtet werden, daß in Polen in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in weiten Bereichen der Verwaltung und Versorgung chaotische Zustände herrschten, die der Korruption untergeordneter Instanzen Tür und Tor öffneten. Deren Folgen hatten sowohl christliche Polen als auch Juden zu tragen. Von den die nicht-jüdischen Polen fördernden Maßnahmen der polnischen Regierungs- und Verwaltungsinstanzen griffen die Entlassungen aus dem Staatsdienst und die Neuordnung der polnischen Wirtschaftsstruktur die soziale Lage der Juden am stärksten an 99 • Wenn auch in Rußland und österreich Juden in höheren Positionen des Staatsdienstes selten waren, so bekleideten doch viele von ihnen untere und mittlere Posten bei der Bahn oder der Post. Aus diesen Stellungen wurden sie zum großen Teil bereits 1919 entfernt 1oo• Bis 1921 sank der jüdische Beschäftigtenanteil bei der czynski als Witos zu unterstützen (I. Grünbaum, "Osias Thon". In: Dawidowicz, The Golden Tradition. London 1967, S. 486). 99 In der Begründung von Maßnailmen auf diesem Gebiet werden die Parallelen zu den "Nürnberger Gesetzen" deutlich. In Anlehnung an ein Wort Zeromskis von "inländischen Ausländern" (Krajowi cudzoziemcy), verlangte GP2 (282/15.11.1918, S. 3) bereits bei der Befreiung, 1. die Juden zu Ausländern zu erklären, 2. sie aus Polen auf "geplante, rationelle und gewaltlose Weise" abzuschieben und 3. die Enteignung jeglichen jüdischen Grundbesitzes. 100 Vgl. E. Gabara/t. Gejler, "Kronika ruchu robotniczego i zwiSIZkowego w srodowisku iydowskim w latach 1918-139", Biuletyn iIH 67 (1968), S. 137, 144, 139. - Am 15.7.1919 wurde der Bahnzahnarzt der Militärbahn in Bialystok Stanislaw Uiallski entgegen dem mit ihm abgeschlossenen Vertrag entlassen (CZAJ AI27/83, Teczka 6, S. 2). Georges Castellan ("Remarques sur les structures sociales de la communaute juive de Pologne durant l'entre-deux-guerres", Revue historique 97 (1973), S. 86) gibt die Gesamtzahl der entlassenen Bahnangestellten mit .6000 an. - Vgl. Grünbaum im Sejm, 181. Sitzung vom 4.11.1920, Sp. 47. - Situationsbericht des Jüdischen Nationalrats für Ostga-
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Polnisch-jüdische Beziehungen und die innere Situation
Post bei einem Bevölkerungsanteil von über 11 % auf 1,7 %, bei der Bahn auf 0,8 %101. Ähnlich war die Situation in den Staatsunternehmen, in denen der Anteil der jüdischen Beschäftigten bei 1,4 % (1924) lag 102, obwohl gerade in den hier gesuchten Berufsgruppen (technische und ökonomische Intelligenz) der Anteil der Juden im Verhältnis hoch war. Vielfach kam die Verstaatlichung eines Unternehmens - in der Zwischenkriegszeit einer der Versuche, die infolge der Krisen marode Wirtschaft zu sanieren - der Entlassung aller jüdischen Beschäftigten gleich 103 ; die leitenden Positionen der Staatsunternehmen wurden oft nach politischen und ethnischen Prinzipien vergeben104 . Schloß sich eine Stadtverwaltung vom allgemeinen Trend der Judenentlassungen aus, wurde sie zur Zielscheibe gehässiger Presseangriffe, die alle auftretenden Mißstände der Weiterbeschäftigung von Juden anlasteten 105 ; begründet wurde die Ausschaltung der Juden aus dem polnischen Leben mit Unabhängigkeitsargumenten106• Neben die Entlassung jüdischer Beschäftigter trat die Benachteiligung jüdischer Kaufleute und Unternehmer. Bei der Vergabe von Staatsaufträgen wurden jüdische Angebote auch bei günstigeren Konditionen oft zugunsten von christlich-polnischen Unternehmen, besonders aber Genossenschaften zurückgewiesen 107 • Besonders hart traf die polnischen Juden der Entzug der Tabakmonopolkonzession. Es war planmäßige polnische Politik, die zwar keinen Reichtum, aber ein einigermaßen regelmäßiges Einkommen vermittelnde Tabakkonzession besonders an polnische Kriegs versehrte zu vergeben - ein an sich lobenswertes System, das die unzureichende soziale Sicherung Versehrter auSzugleichen half. Nur traf diese Sozialmaßnahme die
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lizien v. 16.5.1919, CAHJP P83/J.68. - Prilucki brachte die Bahnentlassenen im Sejm am 24.2.1919 zur Sprache (3. Sitzung, Sp. 187) und erhielt darauf einerseits den bestätigenden Zwischenruf "Litwacy!", andererseits (von OkO!l) den Zwischenruf "Das ist ein Märchen aus 1001 Nacht!" - Am 18. März 1919 (15. Sitzung, Sp. 811) verlas er ein Schreiben der Postgewerkschaft an den Briefträger Hersz Himmelszajn, wonach nur Personen christli· chen Bekenntnisses Postbedienstete sein dürften. Die antisemitische Presse publizierte anonyme Briefe von Bahnbediensteten, die gegen die Weiterbeschäftigung von Juden protestierten (GP2 1/1.1919, S. 5). Gliksman, S. 125. Bronsztejn, Ludnosc, S. 71, nach Rocznik Statystyczny 1924. M. Orzech, "Walka z iydowskim swiatem pracy". In: 0 iydach i antysemityzmie. Warszawa 1936, S. 41. J. Lestschinsky, Volk, S. 58. So im Falle von Jaroslaw. ZRJ 48/1.12.1922, S. 3. So schrieb GL 322/23.11.1922, S. 3, in einer Übernahme aus dem Hetzblatt GP2 (318/1922): ,,Der Ausschluß der Juden aus allen Gebieten unseres Lebens, dem gesellschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen, vor allem aber aus dem wirtschaftlichen, die Stärkung der polnischen Selbständigkeit durch verstärkte Arbeit an der Schaffung der Stellen und Instrumente des wirtschaftlichen Lebens, wo uns heute noch die Juden ,aushelfen', die Hinführung zur vollständigen Selbstgenügsamkeit des polnischen Volkes in Polen - das ist das Programm dieses letzten Kampfes um die Unabhängigkeit". "Bojkot i jego ,moralnosC' ", Nowy Dziennik 133/1.7.1919, S. 1. - Nach der Demobilisierung stellte die polnische Regierung die Militärpferde unentgeltlich den Bauern zur Verfügung. Die Verteilung erfolgte über die katholischen' Geistlichen "nur an Katholiken polnischer Abstammung". Bericht des dt. Konsuls Drubba, 1.6di 12.5.1921, PAAA Gesandtschaft Warschau 35/1, Nationalitäten, Minderheiten, Judenfragen, Bd. 1.
Judendiskriminierung unterhalb der Gewaltgrenze
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bisher in diesem Bereich dominierenden Juden besonders hart: Sie wurden aus den Konzessionen gedrängt, ohne daß die schlechte Wirtschafts- und Hande1slage des Landes ihnen ein Ausweichen in andere Berufsbereiche ermöglicht hätte 108 • Eine ähnliche Wirkung hatte die Erhöhung der Gebühren für Handelskonzessionen. Hiervon waren die jüdischen Kleinsthändler getroffen, die von ihren geringen Umsätzen die Lizenzen nicht erneuern konnten, aber dennoch gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt durch den Kleinsthandel zu bestreiten, und somit kriminalisiert wurden109 • Die Handelstätigkeit wurde auch dadurch behindert, daß ein Moratorium für die Schulden der Bauern ausgesprochen wurde, was den über wenig Kapital verfügenden Kleinhandel existentiell bedrohte llo . Eine weitere Maßnahme traf den jüdischen Handwerkssektor: Um die Genehmigung zu bekommen, Lehrlinge auszubilden, mußten alle Handwerker vor den Handwerkskammern Prüfungen ablegen. Da zu den Prüfungsthemen auch die Kenntnis der polnischen Sprache gehörte und in den Handwerkskammern die christliche Konkurrenz die Majorität hatte, wurde vielen jüdischen Handwerkern die Lehrlingsausbildung untersagt, wodurch wiederum die Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten der jüdischen Jugend eingeschränkt wurden 111 • Da die Mehrzahl der polnischen Juden mit ihrer Wirtschaftstätigkeit kaum mehr als das Existenzminimum verdiente, war sie schon durch geringe Maßnahmen zu verelenden. Die so erfolgte Proletarisierung mußte dann wiederum ihrerseits die chancenlose jüdische Jugend in den revolutionären Bewegungen drängen, wodurch der Vorwurf der Kommunistenfreundlichkeit bestätigt wurde. Aber auch wo Juden noch auf dem Land lebten, wo die Landflucht in die überftillten Städte sie noch nicht mittellos gemacht hatte, blieben sie nicht ungeschoren. Viele Dorfgemeinden hielten nach der Erlangung der Unabhängigkeit die Stunde für gekommen, die jüdischen Dorfbewohner auf der Basis der alten, nicht durchgängig befolgten Gesetzgebung der Teilungsmächte vom Bauernland zu verweisen 112• 108 Von den etwa 1000 jüdischen Tabakkonzessionen, die 1914 in Warschau bestanden, waren 1925 nur mehr 3 in jüdischem Besitz (Gliksman, Aspect, S. 169). Castellan (S. 86) beobachtet eine ähnliche Entwicklung auch im Bereich des Alkohol- und Zündhölzermonopols. 109 Lestschinsky (Volk, S. 61) gibt die Anzahl der nicht erneuerten Konzessionen mit 10000 an. - Einzelne Behörden versuchten darüber hinaus, den jüdischen Handel ganz zu unterbinden. So erließ der Regierungskommissar für den Kreis Janow am 13.5.1919 eine Verordnung, die Händlern mosaischen Bekenntnisses die Tätigkeit in den Dörfern verbot. Das Verbot wurde am 14.7. vom Innenminister für unzulässig erklärt. (CZAJ AI27/83, Teczka 6, S. 1). 110 O. I. Janowsky, People at Bay. London 1938, S. 113. 111 Vgl. Lestschinsky, Volk, S. 69-71. - Die Folgen dieses Sachverhalts, wenn auch als illegale Übergriffe untergeordneter Amtsstellen, bestanden in der oft angeordneten Schließung von nicht der Kammer angehörenden Handwerksbetrieben. Dagegen protestierte der I. Kongreß Jüdischer Handwerker in Warschau (8.-10.7.1919) (CZAJ AI27/83, Teczka 6, S. 2). 112 In Przyszk6w Kameralny (Kreis Nisko) wies der Gemeinderat am 21.3.1919 die Juden mit drei Wochen Frist aus der Gemeinde aus und untersagte jede Handelsausübung. Auf Initiative der Dorflehrerin beschlossen die christlichen Bewohner von Brzeziny, Gern. Szydl:owam 20.4.1919, die Juden auszuweisen. Am 9.7.1919 wurde der jüdische Grund-
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Die Rechtsgrundiage, auf der sich die obigen Vorgänge abspielten, war die ganze Zeit über unklar. Zwar hatte der PPS-Ministerpräsident J~drzej Moraczewski bereits arn 20. November 1918 im Amtsblatt Monitor Polski (208/20.11.1918) verfUgen lassen, "gemäß dem Zeitgeist ... unverzüglich die völlige Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied der Konfession und Nationalität" einzuführen, in Wahrheit jedoch schrieb man häufig die alten Beschränkungen fort. Dieser Vorgang läßt sich arn Beispiel der Krankenhauskosten verfolgen. Beschlüsse der polnischen Behörden aus der Zeit vor dem polnischen Aufstand von 1863 113 legten den Jüdischen Gemeinden die Begleichung der Krankenhausrechnungen für Juden auf, die ihre Behandlungskosten nicht selber aufbringen konnten. Mit der Errichtung der Fürsorge der Verwaltungsgemeinde, die auch die Heilfürsorge der mittellosen Juden aus Steuermitteln zu bestreiten hatte, erfolgte somit häufig eine doppelte Zahlung der Krankenhausrechnungen: Sowohl die Stadt als auch die Jüdische Gemeinde wurden zur Zahlung aufgefordert. Der Innenminister bestätigte diesen Mißstand arn 19. 1. 1919 und übertrug im Dekret vom 4. 2. 1919 die Fürsorge ausschließlich der Zivilgemeinde. Das Dekret wurde im Monitor Polski jedoch erst arn 23.3.1921 veröffentlicht - und noch am 25.11.1921 erging in einem Rundbrief die Mahnung des Innenministers an die Wojewodschaften, die Einziehung der Behandlungskosten fUr die mittellosen Juden von den Jüdischen Gemeinden einzustellen. Ähnlich war das Verhalten gegenüber der jiddischen und hebräischen Sprache. Zwar war allein Polnisch Amtssprache, im privaten Gebrauch war jedoch angeblich der Gebrauch des Jiddischen und Hebräischen nicht eingeschränkt. Aber nicht nur in den eroberten Ostgebieten, wo man den Ersatz jiddischer Geschäftsschilder durch polnische noch als enthusiastischen übergriff verstehen konnte 114, sondern auch im Kern Polens versuchte man mit allen möglichen Mitteln, den ungehinderten Gebrauch des Jiddischen zu unterbinden 115 • Der Gebrauch des Jiddischen war auf besitzer Moszko Hofer in Kicki, Gern. Cegt6w, Kreis Minsk Maz., aufgefordert, seinen Boden zu verkaufen, da er als Jude kein Recht habe, auf dem Land zu leben. Das Kreisamt in Minsk Maz. belehrte am 26.8.1919 den Dorfschulzen im gegenteiligen Sinne. 20 jüdische Familien in Milanow, Krs. Radzyn, erhielten am 14.7.1919 den Ausweisungsbefehl. Das Kreisamt Radzyn schritt am 18.8. dagegen ein und teilte mit, daß der Dorfvorsteher mit seinem Ausweisungsbefehl einen unzulässigen Beschluß des Dorfgemeinderates ausgeführt hatte (alle Beispiele aus CZAJ AI27/83, Teczka 6, S. 1-3). - Piast (21/25.5.1919) berichtete über den Beschluß der Gemeinde Rosztoka-Brzeziny Krs. Nowy SjiCZ, den einzigen Dorfjuden zu boykottieren und ihm nicht mehr bei der Feldarbeit zu helfen. Die Presseabteilung des Innenministeriums gab dagegen bekannt, derartige Beschlüsse der Gemeinderäte besäßen keine Rechtsgrundlage. Ausweisungen irgendwelcher Personen könnten nur gerichtlich nach geltendem Recht durchgesetzt werden (Robotnik 145/ 1.4.1919, S. 4). - Stellenweise unterstützten Gerichte diese Bestre bungen unter Berufung auf die alten russischen Gesetze (Vgl. Rozw6j 1/1.12.1918, s. 4). 113 Beschluß des Verwaltungsrates des Königreichs Polen vom 25.11./7.12.1841; Beschluß der Regierungskommission für Innere und Geistliche Angelegenheiten vom 15./27.10.1859 (nach Frenkiel, Sytuacja, S. 2) (s. S.167). 114 Pinsk-Protokolle, Auss. E. Milecka v. 17.4.1919, S. 8, CZAJ AI27/75. 115 Der Starost von Biatystok verbot am 6.9.1919 jiddische und russische Schilder auf der Basis des Gesetzes zur Sicherung der Ruhe und der öffentl. Ordnung vom 25.7.1919. ZR
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öffentlichen Versammlungen gestattet. Auf Drängen der jüdischen Abgeordneten veröffentlichte der Innenminister im Amtsblatt 116 ein Wiederholungs-Kommunique, in dem er ausführte, es beständen keinerlei Einschränkungen für den Gebrauch der jiddischen Sprache. Da dieses Kommunique jedoch keinen Dekretcharakter hatte, es war nur eine erneute Bekräftigung eines bestehenden Rechtszustands, wurde es im nicht-amtlichen Teil des Amtsblatts veröffentlicht. Für den Starosten von Biala Podlaska war dies Grund genug, anzunehmen, der Innenminister "meine das nicht so" und weiterhin jiddisch-sprachige Versammlungen zu verbieten 117. Noch 1921 wurde der jüdischen Volksuniversität (Volkshochschule) in Cz~stochowa die Konzession entzogen, weil eine überwachung infolge des Gebrauchs der jiddischen Sprache unmöglich sei 118 , und erst im Monitor Polski vom 25.2.1921 wurde die Beseitigung der angeblich letzten kaiserlich-russischen Ausnahmegesetze bekanntgegeben, die u. a. den Bodenkauf und das Recht auf die Unterzeichnung von Urkunden in hebräischen Schriftzeichen betrafen. Sie war erst nach den langwierigen sog. Nossig-Verhandlungen (s. S. 309) möglich geworden 119• Aber wenn auch die Beschränkungen der Teilungszeit schrittweise immer weniger spürbar wurden, so traten an deren Stelle neue Restriktionen, die ebenfalls geeignet waren, der jüdischen Bevölkerung das Leben schwer zu machen. Zu den unangenehmsten und wegen ihrer Beschäftigungsstruktur für die Juden am stärksten spürbaren Diskriminierungen gehörten der "numerus clausus" an den Hochschulen und die Einführung der Sonntagsruhe.
4. DISKRIMINIERUNGEN IM AUSBILDUNGSBEREICH
Im Ausbildungsbereich begann die Auseinandersetzung bereits im Schulsektor. Juden wie Nicht-Juden maßen dem schulischen Bereich eine hervorragende Be-
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(19/22.11.1919) denunzierte den Verfasser eines der Anweisung des Starosten widersprechenden Aushangs in hebräischen Lettern; der Schulinspektor in Stawk6w, Krs. Olkusz, verlangte von allen Kindern die Eintragung "polnisch" in der Rubrik "Muttersprache" (CZAJ AI27/83, S. 3, T. 6), jiddisch geschriebene Briefe wurden entgegen den Anweisungen des Postministeriums von den Postämtern mit dem Vermerk "Unverständliche Sprache" zurückgegeben (ebd.). Monitor Polski 6/15.3.1919. Abg. Hartglas im Sejm, 185. Sitzung vom 16.11.1920, Sp. 52. Jüdisch-polnische Nachrichten Berlin 11.3.1921, PAAA Politik 6 Polen Bd. 1, BI. 099. Auch dies war noch nicht der letzte Schritt. Am 9. Januar 1922 sah sich der Ministerrat noch einmal genötigt, Rechtsbeschränkungen aus der Teilungszeit für die Juden KongreßPolens aufzuheben (Bericht vom 11.1.1922, PAAA Politik 6 Polen Bd. 2, BI. 4). Am 15.7.1925 bestätigte der Ministerrat in einem Beschluß erneut das Nichtvorhandensein von Beschränkungen des Gebrauchs des Hebräischen und Jiddischen. Am 12.2.1927 verfaßte das Innenministerium ein weiteres Rundschreiben gleichen Inhalts, "weil auf dem Gebiet der einzelnen Teile des Staates in der Praxis Differenzen in der Anwendung des erwähnten Beschlusses eintreten können" (Sprawy Narodowosciowe 1 (1927), S.46).
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deutung zu. Richtig erkannt wurde von beiden Gruppen, daß die Schule als Hauptsozialisierungs- und Prägungsinstanz über das künftige Schicksal ihrer Besucher entscheiden würde. In der Teilungszeit hatte sich das Nationalbewußtsein neben dem kirchlichen Sektor vor allem im Schulbereich pflegen lassen. In Kenntnis dessen verlangten nun auch die jüdischen Nationalisten eine eigene jüdische Schule, die von polnischem Einfluß frei sein sollte und neben der Chancenerhöhung fUr die jüdische Jugend auch ihr (jüdisches) Nationalbewußtsein pflegen sollte 120• Man muß diesen Hintergrund der Förderung des eigenen Nationalbewußtseins kennen, um zu verstehen, warum Polens (allgemeine) Zionisten und Folkisten sowohl gegen die die Assimilation anstrebenden polnischsprachigen Schulen waren, in denen jüdische Religionslehre und Philosophie sowie Hebräisch nur als Nebenfacher unterrichtet wurden 121 , als auch gegen die orthodoxen Xadarim, wo in weltlichen Disziplinen nur wenig ausgebildete Lehrer primär die religiösen Inhalte des Judentum vermittelten. Insbesondere die Angriffe der Zionisten auf die Xadarim lieferten den Antisemiten gern akzeptierte Argumente gegen das jüdische Grundschulwesen 122, während andererseits der Alleinvertretungsanspruch der jüdischen Orthodoxie gegenüber den Zionisten die Vorwürfe des jüdischen Separatismus und der Rückständigkeit bestätigten 123. Trotzdem begrüßten es alle jüdischen Gruppen, daß im Zuge der Bestätigung des Konfessionsschulwesens in Polen l24 auch den polnischen Juden die staatliche Förderung einer jüdisch-konfessionellen Schulautonomie zugebilligt wurde. Neben den religiösen Schulen entstanden ein weltliches jiddisches Schulwesen (CIShO), das 1925 über 182 Institutionen (davon drei Gymnasien) verfügte, und ein System zionistischer Tarbut-Schulen, unter deren 176 Einrichtungen 1925/26 13 Gymnasien waren 125 • Zwar wurde behauptet, der Kampf um die jüdische Schulform sei 120 Vgl. dazu auch die ausflihrlichen Angaben in M. Eisenstein, Jewish Schools in Poland 1919-1939. New York 1950; statistische Angaben; S. 5, 95. 121 Vgl. u. a. Eisenstein, Schools, S. 97; Mornik,Kampf, S. 70/71. 122 So behauptete die zionistische hebräische Warschauer Ha Tsefira (7.9.1915), das Wesen der Xeder-Schulen sei die Unordnung und sie hätten nur in einem derart unordentlichen Staat existieren können, wie es das zarische Rußland gewesen sei. Für die antisemitischen Angriffe auf das jüdische Schulwesen vgl. u..a. GP2 24.12.1916, S. 1; 30.12.1918, S.2; 7.1.1917, S. 3; 22.1.1917, S. 2;GL 15.2.1917, S.l. 123 Die polnische Rabbiner-Konferenz vom Januar 1922 forderte in ihren Resolutionen, die profanen Fächer in den Xadarim auf die letzten zwei Stunden des Tages zu verdrängen, Hebräisch nur als Unterrichtsfach, und zwar in der aschkenasischen, nicht in der im Umgangs-Neuhebräischen empfohlenen sephardischen Aussprache zu unterweisen (JR 1922, S. 63). 124 Das in Preußen mögliche Simultan-Schulwesen wurde im ehemaligen preußischen Teilungsgebiet am 1.2.1919 abgeschafft. 125 Im Unterschied zu den jiddischen Schulen waren die zionistischen Schulen Hebräisch/Polnisch (einige wenige auch Hebräisch/Jiddisch) zweisprachig und bereiteten somit auf das Berufsleben in Polen besser vor (Eisenstein, Schools, S. 35, 56-7). - Im Sejm (284. Sitzung vom 10.2.1922) protestierte der jüdisch-orthodoxe Abgeordnete Mendelsohn gegen die weltlichen jiddischen Schulen, denen er "zerstörende Arbeit" vorwarf, die Zionisten forderten im Sejm im Februar 1923 und im Dezember 1924 die Streichung der
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eine Sache weniger Parteiftihrergewesen, an der die Masse keinen Anteil hatte 126, die Tatsache, daß ein separates jüdisches Schulsystem entstand, wurde jedoch auch von Teilen der assimilierten jüdischen Bevölkerung begrüßt, weil der Unterricht in den polnischen Schulen manchmal - aber natürlich nicht immer - im Dienste antijüdischer Agitation stand 127• Nicht allein wegen ihres Selbstverständnisses als Träger des polnischen Nationalismus waren polnische Lehrer für die Parolen des Antisemitismus anfällig. Besonders in den unteren Schultypen entstammten sie oft der bäuerlichen Schicht, so daß für sie der Aufstieg in das kleinbürgerliche Lehrermilieu nicht notwendig mit der Ablegung der bäuerlichen antijüdischen Vorurteile verbunden war. Die auf unzureichender Ausbildung beruhende Halbbildung des Lehrerstandes (ein keineswegs auf Osteuropa beschränktes Phänomen), verbunden mit der dem Lehrerberuf innewohnenden Selbstbestätigung und der Aufgabe, auch komplizierte Inhalte in einer Kindern yerständlichen Sprache und logisch einfach zu erfassenden Struktur wiederzugeben, begünstigte ein Freund-Feind-Denken und eine Übernahme der einfachen Vorurteilschemata in den Unterricht ebenso wie der oft sehr enge Kontakt zum niederen Klerus. Da es im Gegensatz zum Volks-und Oberschulsystem (außer den Jeshivot) keine separaten jüdischen Hochschuleimichtungen gab, mußte spätestens hier der Zusammenstoß zwischen der auf beiden Seiten teilweise im Geist des Separatismus erzogenen Jugend erfolgen. Infolge der spezifischen Berufsstruktur der jüdischen Bevölkerung in Polen, bei der handwerkliche, kaufmännische und die einen Hochschulabschluß verlangenden freien Berufe einen nicht unbeträchtlichen Raum einnahmen 128, war bei den Juden der Drang zu den Hochschulen ungleich stärker als in staatlichen Subsidien flir jiddisch-sprachige Schulen (A. Hafftka, "Spoleczne szkolnictwo iydowskie w Polsce". Sprawy Narodowosciowe 1 (1927), S. 109.) 126 Stecka, Zydzi, S. 74-75. 127 Berichte über diese Art der Agitation häufen sich in der Zeit der Sejm- und Präsidentenwahlen 1922. Nicht immer nahm das Geschehen einen so tragischen Verlauf wie im Staatsgymnasium Lida, wo unter dem Eindruck eines antijüdisch ausgerichteten Geschichtsunterrichts Klassenkameraden den einzigen jüdischen Mitschüler hängten. Der Schüler konnte von einem älteren Mitschüler gerettet werden; zwei Gymnasiasten, nicht aber der den geistigen Hintergrund liefernde Geschichtslehrer, wurden der Schule verwiesen. (Nach Unzer tag (Wilna) aus JR 1922, S. 624.) - Selbst Ziemia Lubelska (340/13.12.1922, S. 3) kritisierte, daß Leiter staatlicher Schulen die Schüler unterwiesen hätten, die Wahl des Präsidenten sei ungiiltig, "weil fremde Nationalitäten kein Stimmrecht haben und dennoch an der Wahl teilnahmen". - Robotnik (333/5.12.1922, S.4-5) kritisierte pädagogisch unqualifiziertes Lehrpersonal an den Schulen und berichtete laufend über die antijüdische Hetze (341/13.12.1922, S. 3; 343/15.12.1922, S. 3, 10; 345/17.12.1922, S. 5). 128 Die Vergleichszahlen zwischen Juden und Nichtjuden liegen in Polen 1921 (im Prozentsatz der von den jeweiligen Gnippen erwerbstätigen Bevölkerung) im Handwerk bei 32,2 : 7,7, im Handel und Kreditwesen 35,1 : 1,5, in der Landwirtschaft 9,8 : 80,7 (nach Seraphim, Judentum, S. 723; Gliksman [Aspect, S. 82-84] kommt zu ähnlichen Zahlen), bei den Ärzten liegt der jüdische Anteil in Polen ohne die preußischen Gebiete 1931 bei 35,2 %, bei den Rechtsberufen in Gesamtpolen bei 49 % (Zieminski, Problem, S. 22-23). Die letzteren Zahlen verbergen, daß der Großteil der freiberuflichen Juden vollständig assimiliert (poionisiert) war.
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der noch primär bäuerlichen nichtjüdischen Bevölkerung. Die berufliche Qualifikation war eine der Vorbedingungen sozialen Aufstiegs, die dauernde Wirtschaftskrise begünstigte im ökonomischen Bereich die Absolventen qualifzierender Ein" richtungen. Dazu kam, daß die traditionellen jüdischen Beschäftigungen im nichthochschulpflichtigen Bereich durch dauernde Beschränkungen und Entlassungen, aber auch durch die Ausbildung eines parallelen polnischen Wirtschaftspotentials, immer weniger ertragreich wurden, so daß ein Ausweichen in den höher qualifizierten Bereich zu einer EXistenzfrage wurde 129 • Der Vorwurf des überproportionalen Anteils jüdischer Studenten an polnischen Hochschulen, auf den meist die Forderung nach einem "numerus clausus" basierte (im Studienjahr 1921/22 war der Anteil der jüdischen Studenten an der Gesamtstudentenzahl 24,6 %130, bei einem jüdischen durchschnittlichen Bevölkerungsanteil von 11,6 %131), verliert seinen Aussagewert, wenn man das soziale Milieu der Studenten in Betracht zieht und davon ausgeht, daß vor allem die städtische Jugend zu einem Hochschulstudium motiviert ist. 1931 lebten 77 % der Juden in Städten, dagegen nur 27 % der gesamten Bevölkerung (einschließlich der Juden!)132. Insgesamt betrug der Anteil der Juden an der gesamten Stadtbevölkerung Polens 1937 27,3 %133, so daß sich der jüdische Anteil an den Studierenden sehr wohl im normalen, proportionalen Rahmen der für das Studium in Frage kommenden Schichten bewegte. Die städtische Ausrichtung der jüdischen Studenten spiegelte auch die Fächerskala wider, in der die eher städtischen Berufe (Medizin 30,2 %; Pharmazie 29,9 %; Zahnmedizin 41,1 %; Philosophie 35,4 %) einen weitaus stärkeren jüdischen Zulauf aufwiesen als die eher ländlichen (Veterinärmedizin 16,5 %; Agronomie 0,8%; Ingenieurwesen 9,5 %; Meßwesen/Technik 1,6 %)134. Dennoch wurde versucht, einen Teil der Diskriminierung jüdischer Bildungssuchender aus dem zarischen Rußland in das neue Polen zu übernehmen, wobei sich 129 Vgl. Bronsztejn, Ludnosc, S. 192. 130 S. Langnas, Zydzi a studium akademickie w Polsce w latach 1921-1931. Lw6w 1933, S.68. . 131 Seraphim, Judentum, S. 310. 132 Ebd. S. 344. 133 Ebd. S. 345. - Dagegen war bereits 1930/31 der Anteil der Juden an der Studentenzahl auf 18,5 % gesunken (Langnas, Studium, S. 68). 134 Ebd. S. 69. - Alle Zahlenangaben beziehen sich auf das Studienjahr 1923/24, in dem der Gesamtanteil der Juden 24 % beträgt. Selbstverständlich beziehen sich alle obigen, auf amtlichen Statistiken beruhenden Angaben auf Angehörige der jüdischen Religion. Bei den obigen Zahlen wurden die Studenten der Priesterseminare nicht berücksichtigt, wobei iedoch i11l katholischen Polen der Priesternachwuchs einen nicht zu vernachlässigenden Prozentsatz der Jungakademiker ausmachte. - Selbst nachdem die Nationalsozialisten in Polen 95 % der Juden ermordet hatten, konnte diese Argumentation weiterbestehen. So entdeckte Werblan im Zusammenhang mit der "antizionistischen" Kampagne von 1968 die alte These wieder, daß "keine Gesellschaft die übermäßige Teilnahme der nationalen Minderheit in der Machtelite tolerieren will" und daß der jüdische Anteil in Parteipositionen "nur durch absolute· Gedankenlosigkeit oder Cliquen solidarität auf Nationalitätenbasis" erklärbar sei(A. Werblan, "Przyczynek do genezy konfliktu", Miesij)cznik Literacki 3 (1968), H. 6, S. 69).
Diskriminierungen im Ausbildungsbereich
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die Verfechter der Judenbeschränkung oft die russisch-zarischen Argumente zu eigen machten. Nachdem es während der deutschen Besetzungszeit keine Diskriminierung auf den wiedereröffneten polnischen Hochschulen gegeben hatte, begannen entsprechende Aktivitäten bereits gegen Ende der Okkupation (s. S. 176). 1919 ftihrten die Universitäten von Warschau 135, Krakau und Lemberg die Norm ein, daß nur demobilisierte Angehörige des polnischen Heeres zum Studium zugelassen wurden. Da sich die nationaljüdischen Studenten in Lemberg wegen der unsicheren Situation und der proklamierten jüdischen Neutralität, in Warschau wegen der Tumulte auf der Versammlung der Studentenschaft vom 6. 11. 1918 nicht freiwillig gemeldet hatten, wurden somit die Juden mit Ausnahme der polonisierten Assimilierten vom Hochschulbesuch vorübergehend ausgeschlossen 136• über diesen Ausschlußversuch hinaus wurde vergeblich versucht, eine Prozentnorm einzuftihren, um der polnischen Jugend damit die Zulassung zum Studium, aber auch die spätere übernahme jüdisch besetzter Berufszweige zu erleichtern. Der Bildungs- und Religionsminister wies 1922 den Rektor der Universität Lemberg an, die Prozentnorm an der juristischen und der medizinischen Fakultät als mit der Verfassung nicht vereinbar zurückzunehmen 137 • In Krakau sprach sich Prof. Marchlewski für einen 10-%-n.c. für die medizinische Fakultät aus 138 , in Posen beschlossen Rektor und Senat der Universität am 5. Mai 1919, im akademischen Jahr 1919/20 Juden und Deutsche nur im Prozentsatz der Bevölkerung des preußischen Teilungsbereiches zu immatrikulieren - für die Juden bedeutete das eine 2_o/o-Norm 139 • Auch wenn der "numerus clausus" nicht offiziell eingeführt wurde, konnte er faktisch angewandt werd~n. So wurde in Posen, Krakau und Lemberg jüdischen Studenten unter Hinweis auf Platzmangel die Immatrikulation verweigert, während polnische Studienanfänger dennoch Studienplätze erhielten 14