Politische Schriften: Hrsg. und eingeleitet von Manfred Rehbinder [1 ed.] 9783428524082, 9783428124084

Mit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie gegen Ende des I. Weltkrieges verlor der Rechtssoziologe

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German Pages 207 Year 2007

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Politische Schriften: Hrsg. und eingeleitet von Manfred Rehbinder [1 ed.]
 9783428524082, 9783428124084

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EUGEN EHRLICH

Politische Schriften

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Prof. Dr. Andreas Voßkuhle

Band 88

Eugen Ehrlich

Politische Schriften Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Rehbinder

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7514 ISBN 978-3-428-12408-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einleitung des Herausgebers

7

I. Zur Zeitgeschichte des Ersten Weltkrieges 1. Das Ende eines großen Reiches (1921)

19

2. Die Memoirenmanie der Generäle (1921)

81

3. Bismarck und der Weltkrieg (1920)

105

4. Die Schuldfrage (1919)

121

5. Die Amnestie (1918)

125

II. Zur Sozialpolitik 1. Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und Bauernfrage) (1916)

131

2. Karl Marx und die soziale Frage (1922)

153

I I I . Zur Friedensbewegung 1. Die historischen Grundlagen der Friedensbewegung (1918)

165

2. Die sittlichen Voraussetzungen der Friedensbewegung (1918)

173

3. Von der Zukunft des Völkerbundes (1919)

183

Anhang Über das „lebende Recht" (1921)

191

Namensregister

201

Sachregister

204

Einleitung des Herausgebers Als Eugen Ehrlich, der Begründer der Rechtssoziologie, am 2. Mai 1922 im Alter von 59 Jahren im Sanatorium der Wiener Kaufmannschaft an den Folgen einer Beinamputation verstarb 1, ausgelöst durch die Verschlimmerung seiner Zuckerkrankheit, befand er sich in einem Kampf um seinen Arbeitsplatz an seiner Heimatuniversität Czernowitz. Mit dem für Österreich verlorenen Ersten Weltkrieg wurde das Herzogtum Bukowina mit seiner Landeshauptstadt Czernowitz am 28. Nov. 1918 dem Königreich Rumänien eingegliedert, und dies führte zum Ende der deutschsprachigen Franz-Josephs-Universität in Czernowitz. Durch Dekret Nr. 4091 vom 12. Sept. 1919, veröffentlicht in Monitorul Oficial No. 126, wurde mit Wirkung von 1. Oktober 1919 die deutschsprachige in eine rumänischsprachige Universität transformiert, mit dem Angebot an das deutschsprachige Lehrpersonal, um Beurlaubung zwecks Erwerbs der rumänischen Sprache nachzusuchen. Mangels Antrags auf Beurlaubung seien die betreffenden Dozenten auf Ende Sept. 1919 (d. h. zu Beginn des Studienjahres 1919/20) entlassen, wurde in der Tagespresse bereits am 15. Juni 1919 bekannt gemacht. Mit wenigen Ausnahmen haben daraufhin die „deutschen" Professoren in einem Sonderzug am 6. Sept. 1919 Czernowitz in Richtung Westen verlassen2. Bereits vor der Eingliederung der Bukowina in das Königreich Rumänien wurden auf Beschluss des deutsch-österreichischen Staatsrats vom 11. Nov. 1918 Abklärungen getroffen, ob und wie man die Professoren der beiden weltlichen Fakultäten von Czernowitz (rechts- und staatswissenschaftliche sowie philosophische Fakultät) im Falle der Schließung von Czernowitz in Österreich unterbringen könne. In dem Bericht von Nationalrat Dr. Erler an das Unterrichtsministerium heißt es dazu, Ehrlich betreffend, dessen Lehrstuhl für Römisches Recht lautete: ,falls Ehrlich nicht wegen Kränklichkeit und Alter in Pension geht, käme für ihn PragLeitmeritz in Betracht, wo nur ein Ordinarius für dieses Fach wirkt und der Extraordinarius Nicolo als Italiener in Wegfall kommt" 3 . Die Suche nach einer Unterbringung der Czernowitzer Professoren endete jedoch kläglich. Am 17. Juni 1919 1

Siehe M. Rehbinder, Aus den letzten Jahren im Leben und Schaffen von Eugen Ehrlich, FS Ernst-Joachim Lampe, Berlin 2003, S. 199, 203 ff., sowie ders., Eugen Ehrlich als Rechtslehrer, in: W. Brauneder: Die österreichischen Einflüsse auf die Modernisierung des japanischen Rechts, im Erscheinen, bei Fn. 5. 2 Rehbinder, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Franz-Josephs-Universität in Czernowitz, FS Hans Stoll, Tübingen 2001, S. 329 m.N. 3 Allg. Verwaltungsarchiv (AVA) des k.k. Ministeriums für Cultus und Unterricht 12230/19.

Einleitung des Herausgebers

8

erfolgte der Beschluss des Kabinettrats der Unterrichtsverwaltung betr. die der deutschen Nationalität angehörenden Professoren, welche von der rumänischen Regierung mit Ende Sept. 1919 ihres Dienstes enthoben wurden: Zunächst erfolge ihre Übernahme in den Staatsdienst der Republik Österreich unter Versetzung in den einstweiligen Ruhestand unter Weiterzahlung ihrer Dienstbezüge aus dem Etatposten für „Beihilfe"; dann aber würden alle Betroffenen in den endgültigen Ruhestand versetzt, da eine Verteilung auf westliche Universitäten infolge deren Opposition nicht möglich sei4. Ehrlichs beamtenrechtliche Situation war auf diesem Hintergrund die folgende: Er hatte für das WS 1918 vom Wiener Ministerium einen Urlaub zu „wissenschaftlichen Zwecken" in der Schweiz erhalten5 und befand sich zu dieser Zeit in Bern und Zürich 6 . Im Juni 1919 erhielt er eine ,3eihilfe"-Zahlung auf sein Wiener Konto bei der Anglo-Österreichischen Bank 7 . Am 18. Juni 1920 beantragte er in Wien mit Schreiben aus Bern seine Versetzung in den dauernden Ruhestand8. Am 24. Okt. 1920 wurde unter dem Rektorat des Historikers Jon Nistor, der sich als Aktivist für eine durchgreifende Rumänisierung des öffentlichen Lebens in der Bukowina und damit als Gegner einer Wiederernennung von Ehrlich in Czernowitz hervortat 9, im Beisein des Königs, der königlichen Familie sowie von Regierungsmitgliedern aus Bukarest die rumänische Universität Czernowitz unter dem Namen Ferdinand I.-Universität eröffnet. Wenige Tage später kehrte Ehrlich nach insgesamt 2 Jahren in der Schweiz am 2. Nov. 1920 nach Czernowitz zurück 10 und sah sich dort mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe sich nach seiner Beurlaubung nicht in Czernowitz zurückgemeldet und auch nicht fristgemäß den Antrag auf Bestätigung im Amt sowie Beurlaubung zwecks Erlernung der rumänischen Sprache gestellt. Ehrlich reiste daher nach Bukarest weiter, wo es ihm erst nach Monaten, im Juli 1921, gelang, auf einen neu für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Philosophie des Rechts und Soziologie berufen zu werden 11. Gegen Ehrlichs Rückkehr wurde nämlich in der von Nistor beherrschten Zeitschrift Glasul Bucovinei eine Pressekampagne inszeniert, gipfelnd in einer Protestresolution der rumänischen Studentenschaft vom 13. März 1921 12 , in der Ehrlich unter Gewaltandrohung im Falle der 4 AVA, Unterricht Allgem., 24534/19. 5

Ministerium für Kultus und Unterricht Z 21726. Siehe Rehbinder, Neues über Leben und Werk von Eugen Ehrlich, FS Helmut Schelsky, Berlin 1978, S. 403,414 ff. 7 AVA 15013/19. 6

8 In diesem Schreiben stellt er fest, seine Wohnung in Czernowitz sei während des Krieges geplündert worden, so dass er Schwierigkeiten beim Nachweis seiner (für die Dienstaltersberechnung relevanten) Tätigkeit als Advokat in Schwechat habe (AVA 12237/20). 9 Siehe Rehbinder (FS Lampe, Fn. 1), S. 205. 10 Rehbinder, ebd. S. 204. 11 Rehbinder, ebd. S. 208. Zugleich wurde eine einjährige Beurlaubung zwecks Studiums der rumänischen Sprache gewährt.

Einleitung des Herausgebers

Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit als „Vorkämpfer des Österreichertums" (des sog. Josephinismus)13 und „Feind des rumänischen Volkes" 14 angegriffen wurde, sowie in tätlichen Auseinandersetzungen am 29. März 1921 zwischen den jüdischen und den sie angreifenden rumänischen Studenten, die ein Eingreifen der Polizei erforderlich machten15. In Bukarest hingegen fand Ehrlich die Unterstützung des berühmten Historikers Nicolai Jorga, der Ehrlich zu Vorträgen am 12. und 19. Dez. 1920 über „lebendes Recht" in seinem Südosteuropäischen Institut einlud und diese in der von ihm herausgegebenen Tageszeitung Neamul Romänesc veröffentlichte 16. Jorga berichtete später über seine Audienz beim König vom 28. Dez. 1920, dieser habe sich ebenfalls für einen Verbleib Ehrlichs an der Universität Czernowitz ausgesprochen 17. Auch fand Ehrlich die Unterstützung des Agrarsoziologen Dimitrie Gusti 18, damals Dekan der Philosophischen und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bukarest, bei dem Ehrlich sich später ausdrücklich in seinem Testament bedankte. Dieser legte in seinen unveröffentlichten Nachlasspapieren offen, dass der Widerstand gegen Ehrlichs Wiederernennung zum Professor im wesentlichen auf Jon Nistor zurückging, da dieser annahm, Ehrlich werde im Falle seiner Ernennung gegen Nistors Wahl zum Universitätssenator stimmen19. Die in Bukarest schließlich im Juli 1921 durchgesetzte Ernennung auf einen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie und Soziologie führte in Czernowitz erneut zu wütenden Protesten der rumänischen Studentenschaft und zu Angriffen in der Presse mit dem Vorwurf des ministeriellen Eingriffs in die Hochschulautonomie20. Ehrlich, der ohnehin bei seiner Wiederernennung einen Sprachurlaub von einem 12 Nachweise bei Rehbinder ebd. S. 205 ff. Siehe auch die Belege bei Lucian Nastasä, Die Unmöglichkeit des Anders-Seins. Überlegungen zum universitären Antisemitismus in Rumänien 1920-1940, Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 54-67 (57). 13 E. Ehrlich, Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten, 4 A. München/ Leipzig 1916, S. 29 f.: „Ich selbst gehöre noch einem Geschlechte an, für das es keine andere Lösung der Judenfrage gibt, als ein vollständiges Aufgehen der Juden im Deutschtum. Wem die Interessen des deutschen Volkes in Österreich und die Weltgeltung des Deutschtums am Herzen liegt - und zu denen gehöre ich auch,.. 14 Insbesondere wurde ihm seine Begründung für die Forderung nach Verlegung der Universität Czernowitz in den Westen vorgeworfen, siehe Rehbinder (FS Stoll, Fn. 2) S. 335338 und A. Morariu, Sä apäram prestigiul universitätii noastre, in Glasul Bucovinei 4. März 1921, S. 1 - 2 . 15 Rehbinder (FS Stoll, Fn. 2), S. 333 f. 16 Rehbinder (FS Lampe, Fn. 1), S. 207 f. Siehe auch Jorga: Memoirii Bd. HI, Bukarest 1931, S. 94. 17 Jorga ebd. S. 103.

18 1880-1955, siehe Sociologii Români. Mica enciclopedie, Bukarest 2001, S. 221 -230. 19 Unveröffentlichte Nachlasspapiere Gusti Bd. II Ms. 12 „Dreptul", S. 6, 10, im Archiv der Rumänischen Akademie der Wissenschaften; ferner ohne Namensnennung: Gusti, Opere Bd. V: Fragmente autobiografice, Bukarest 1971, S. 197-199. 20 Nachweise bei Rehbinder (FS Lampe, Fn. 1), S. 208 f.

10

Einleitung des Herausgebers

Jahr erhielt, ist daher nicht wieder nach Czernowitz zurückgekehrt. Den Monat August 1921 verbrachte er in einem neu eröffneten Luxushotel in 01äne§ti, einem Kurort in der kleinen Walachei. Dorthin war für die Sommermonate als Direktorin des neuen Hotels Dr. Tatiana Grigorovici verpflichtet worden, die kaufmännische Leiterin der Frauenklinik in Czernowitz. Diese gehörte zu den führenden Köpfen der Sozialdemokratie, bekannt durch zwei weitverbreitete Schriften, nämlich ihre in Bern als volkswirtschaftliche Dissertation angenommene Arbeit über„Die Wertlehre bei Marx und Lassalle. Beitrag zur Geschichte eines wissenschaftlichen Missverständnisses", Wien 1910, sowie die als Bd. 1 der Schriftenreihe Das wahre Wort, in Czernowitz o. J. von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei der Bukowina herausgegebene Broschüre „Der Klassenkampf 4. In 01äne§ti hatte sie in diesem Jahr einen Kreis sog. Austromarxisten um sich versammelt, zu dem neben ihrem Mann, dem sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten Gheorge Grigorovici, u. a. der Soziologe Henri H. Stahl, dessen Schwager §erban Voina und der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete und Parteivorsitzende in der Bukowina, Jacob Pristiner, gehörten 21. Die Austromarxisten, zu denen u. a. auch Max Adler, Rudolf Hilferding, Otto Bauer und Karl Renner zählen, haben den nationalistischen Zerfallsprozessen des Habsburgerreiches vor dem Ersten Weltkrieg dadurch entgegenwirken wollen, dass man alle Donaustaaten, also neben Österreich auch Ungarn, Siebenbürgen, Serbien, Tschechien, Slowakei, Rumänien usw. in einem multinationalen sozialistischen Staat mit dem Zentrum in Wien vereinigt. Die politische Entwicklung nach Kriegsende zwang sie jedoch, diese politische Wunschvorstellung aufzugeben 22. Tatiana Grigorovici, die uns als eindrucksvolle Persönlichkeit von überragender Intelligenz geschildert wird, hatte Ehrlich zu den Diskussionen in ihrem Kreis eingeladen, weil Ehrlich sich während des Krieges aktiv für die Erhaltung des Vielvölkerstaates Österreich eingesetzt hatte 23 und nun intensiv über die politische Zukunft nachdachte. Ferner war Ehrlich mit seiner Grundlegung der Soziologie des Rechts in der Wiener Monatsschrift der Austromarxisten, „Der Kampf 4 , als „bürgerlicher Wissenschaftler" scharf angegriffen worden 24 und nahm gern die Gelegenheit war, seine Auffassung von der Rechtssoziologie und vom lebenden Recht in diesem Kreise zu erklären. Außerdem hoffte er sicherlich, sein Gesundheitszustand werde sich durch den Besuch des Kurortes bessern 25. 21 Siehe Henri H. Stahl, Amintiri §i gänduri, Bukarest 1981, S. 21; Zoltán Rostas, Monografía ca Utopie. Interviuri cu Henri H. Stahl, Bukarest 2000, S. 34-37. 22 Rostás, ebd. S. 316 f. 23 Rehbinder (FS Schelsky, Fn. 6), S. 417. 2 4 Friedrich Hahn, Eine Soziologie des Rechts, in: Der Kampf 7 (1914), S. 401-407 (407: „Nur wer auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung steht, kann die Erscheinungen des Rechtslebens wie die des gesellschaftlichen Lebens überhaupt erkennen. Denn Marxismus und Soziologie sind eins"). Entgegnung von Ehrlich, Zur Soziologie des Rechts, ebd. S. 461 -463. 25

Über Ehrlichs Erkrankung an Diabetes siehe Rehbinder (FS Lampe, Fn. 1), S. 209.

Einleitung des Herausgebers

Die kurze ihm verbleibende Lebenszeit bis zu seinem gesundheitlichen Zusammenbruch und seiner Abreise nach Wien blieb Ehrlich bei Verwandten in Bukarest und arbeitete als Mitglied des von Dimitrie Gusti im Rahmen der rumänischen Akademie der Wissenschaften neugegründeten Rumänischen Instituts für Soziologie an Veröffentlichungen in rumänischer Sprache. Zwei dieser Arbeiten erschienen in der Zeitschrift des Instituts noch zu seinen Lebzeiten, nämlich die Nicolai Jorga gewidmete umfangreiche Analyse des Zusammenbruchs der österreichisch-ungarischen Monarchie 26 sowie die äußerst kritische Abhandlung über die Kriegserinnerungen der Generäle Ludendorff und v. Hindenburg 27. Die dritte Arbeit über die soziale Frage bei Karl Marx konnte erst nach seinem Tode erscheinen28. Diese in Bukarest aufgefundenen drei letzten Arbeiten aus der Feder Ehrlichs werden hier in Rückübersetzung aus dem Rumänischen ins Deutsche wiedergegeben, da deutschsprachige Originalmanuskripte, sollten sie existiert haben, trotz intensiver Bemühungen nicht mehr aufzufinden sind. Dasselbe gilt für Ehrlichs Bukarester Vorträge über lebendes Recht, die in Fortsetzungen in der Tageszeitung „Neamul Romänesc" in rumänischer Übersetzung aus dem französischen Originaltext erschienen sind. Ergänzt durch die ebenfalls neu aufgefundenen beiden Aufsätze über die historischen Grundlagen und die sittlichen Voraussetzungen der Friedensbewegung aus der Wiener Wochenschrift DER FRIEDE bilden diese Übersetzungen aus dem Rumänischen, für die Univ.-Doz. Dr. Rudolf Gräf (Cluj) und meinem Zürcher Assistenten Emil Salagean besonderer Dank gebührt, den Schwerpunkt und den Anlass für die Herausgabe dieses nunmehr dritten Sammelbandes kleinerer Arbeiten Ehrlichs. Der erste Band diente der Rekonstruktion des ursprünglich geplanten zweiten Bandes von Ehrlichs berühmter Grundlegung der Soziologie des Rechts29. Der zweite diente schwerpunktmäßig der Wiedergabe von in Japan entdeckten Arbeiten aus der Frühzeit und aus der Spätzeit von Ehrlichs Schaffen 30. Dieser dritte Sammelband erhält den Titel „Politische Schriften". Stellt Ehrlich doch in der Einleitung zu seiner Zürcher Schrift über Bismarck fest, er habe vor dem Weltkrieg, da mit anderen (nämlich rechtswissenschaftlichen) Arbeiten vollauf beschäftigt, keine „politischen" Artikel geschrieben31. Deshalb wur26

Sfär§itul unei man impärä^ii, in: Arhiva pentru §tiin{a §i Reforma socialä EI (1921), S. 80-124. 27 Memoriomania Generalilor, in: Arhiva pentru §tiin{a §i Reforma socialä III (1921), S. 369-383. 28 Karl Marx §i chestia socialä, in: Arhiva pentru §tiinja §i Reforma socialä IV (1922), S. 651-658. 29 Siehe: Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, Berlin 1967, meine Einleitung S. 7 - 9 . 30 Siehe: Gesetz und lebendes Recht. Vermischte kleinere Schriften, Berlin 1986, meine Einleitung S. 7 - 9 . 31 Siehe unten S. 105; er meinte hier wohl allerdings nur die Tagespolitik; denn zur Sozialpolitik hatte er sich schon früher geäußert.

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Einleitung des Herausgebers

den auch hier seine Ausführungen über lebendes Recht (seine neue Sicht der Rechtswissenschaft) in einem Anhang 32 untergebracht. Die ersten fünf Aufsätze analysieren den Verlust des Weltkrieges und damit den Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie, Ehrlichs bisheriger politischer Heimat. Die dann folgenden beiden Aufsätze betreffen die Sozialpolitik. Der erste über das Bauern- und das Judenproblem in der Bukowina war ein Vortrag aus dem Jahre 1909 vor dem Sozial wissenschaftlichen Akademischen Verein in Czernowitz, den Ehrlich zusammen mit Joseph Schumpeter begründet hatte. Als Bd. 1 einer Schriftenreihe dieses Vereins, im Verlag Duncker & Humblot erschienen, erlebte diese kleine Schrift während des Krieges die vierte Auflage. Ehrlichs hier vertretene Hauptthese, dass Sozialpolitik in der bitterarmen Bukowina nicht in der Ausarbeitung sozialstaatlicher Gesetze bestehen könne, sondern aus wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Förderung des Wirtschaftswachstums, wiederholte er in der Situation des wirtschaftlichen Zusammenbruchs infolge des verlorenen Weltkrieges ganz generell in seinem Aufsatz über Karl Marx. Nachdem er bereits früher in seiner Auseinandersetzung mit seinem akademischen Lehrer, dem Kathedersozialisten Anton Menger, gegen Marx' Verelendungstheorie zu Felde gezogen war 33 , warnte er davor, das Heil in einer sozialistischen Staatswirtschaft zu sehen, und plädierte nachdrücklich für eine soziale Marktwirtschaft: Er sei „Gegner der nationalökonomischen Richtung, die heutzutage insbesondere in Deutschland verbreitet und die bestrebt ist, Sozialpolitik zu betreiben hauptsächlich mit Hilfe der Gesetzgebung und Verwaltung. Ich glaube mit den klassischen Nationalökonomen, dass die Verteilung des Volkseinkommens im Interesse der unteren Klasse vor allem durch Erhöhung des gesamten Volkseinkommens bewirkt wird" 3 4 . Die soziale Frage mit staatlichen Sozialisierungsmaßnahmen lösen zu wollen, sei „wirtschaftliche Alchemie" 35 . Zwar bedeutet das keine Aufforderung zur sozialpolitischen Abstinenz in Gesetzgebung und Rechtsanwendung. Im Gegenteil hat Ehrlich, die um die Jahrhundertwende erlassenen verbraucherschützenden Abzahlungs-(Ratenzahlungs-) Gesetze beurteilend, zu einer deren rechtspolitischen Zielsetzung gerecht werdenden „sozialpolitischen Rechtswissenschaft" aufgefordert, die er der „klassischen Rechtswissenschaft" gegenüberstellte36. Grenze seiner sozialpolitischen Rechtswissenschaft ist aber das Gesetz: „Über die Mängel des Gesetzes hilft keine sozialpolitische Jurisprudenz hinweg" 37 . Diese Gesetzesbindung der Jurisprudenz ist 32 Siehe unten S. 191. 33

Anhang zu: Anton Menger (1906), in: Ehrlich, S. 84-87. 34 Siehe unten S. 134.

Gesetz und lebendes Recht (Fn. 30),

3

5 Unten S. 162.

36

Dazu eingehend M. Rehbinder, Eugen Ehrlichs Plädoyer für ein soziales Vertragsrecht, in FS Heinz Rey, Zürich 2003, S. 279-283. 37 Beleg ebd. S. 281 f.

Einleitung des Herausgebers

verbunden mit einer Begrenzung der Rechtsfortbildung durch den in den Rechtstatsachen feststellbaren gesellschaftlichen Wandel 38 , sie hat mich dazu veranlasst, Ehrlichs politische Grundhaltung als sozial-konservativ zu bezeichnen39. Stefan Vogl hat dem in seiner Monografie über Ehrlich, der bisher umfassendsten und tiefsinnigsten Analyse von dessen Lebenswerk 40, mit der Begründung widersprochen, unter „Sozialkonservatismus" sei, gemäß Lorenz von Steins Lehre vom „sozialen Königtum", ein „Festhalten am monarchischen Obrigkeitsstaat mit seinen quasi-feudalen Herrschaftsstrukturen und die Ablehnung des demokratischen Staatsgedankens" zu verstehen 41. Mir war allerdings dieses Begriffsverständnis, als ich Ehrlichs Grundeinstellung als „sozial-konservativ" bezeichnete, nicht bekannt. Ich wollte damit nur sein Eintreten für eine soziale Marktwirtschaft 42 im Gegensatz zur sozialistischen Staatswirtschaft zum Ausdruck bringen. Dass ich damit nicht ein Eintreten für den monarchistischen Obrigkeitsstaat gemeint haben kann, geht schon daraus hervor, dass ich Ehrlich als „Vorkämpfer für die Demokratisierung des Rechts" und sein Scheitern mit seinem Bemühen festgestellt habe, „die demokratische Rechtsauffassung mit wissenschaftlichen Mitteln als richtig zu erweisen" 43. Ehrlich war auch kein Konservativer im Sinne einer neo-(radikal-) liberalen Gegnerschaft gegenüber staatlicher Sozialpolitik, sondern er betonte lediglich, „dass der Staatstätigkeit durch die Gesetze der Volkswirtschaft Grenzen gezogen sind, die der Staat nicht überschreiten darf und bis zu einem gewissen Grade auch nicht überschreiten kann" 44 , also statt sozialistischer Staatsorientierung sozialliberale Marktorientierung. Und ich bleibe entgegen Vogl dabei 45 : Ehrlich hat die nach dem Weltkrieg folgende Entwicklung hin zur staatlichen Daseinsvorsorge, zur Ausdehnung der Staatstätigkeit hin zum Sozialstaat, falsch eingeschätzt, geschweige denn den Weg vieler Länder in die Diktatur. Die letzte Abteilung dieses Sammelbandes enthält zwei neuaufgefundene Aufsätze über die Friedensbewegung sowie seine Vorstellungen über die Zukunfts38

„Die freie Rechtsfindung ist konservativ wie jede Freiheit", so Ehrlich, Recht und Leben (Fn. 29), S. 190 f.; dazu M. Rehbinder, Richterliche Rechtsfortbildung in der Sicht von Eugen Ehrlich, in ders . Abhandlungen zur Rechtssoziologie, hg. von Th. Würtenberger, 1995, S. 191-202. 39 Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich 2 A. Berlin 1986, S. 109 ff. 40 Während meine Monografie über Ehrlich sich die Aufgabe stellte, dessen schriftstellerisches Werk theoretisch-systematisch in ein harmonisches Ganzes zusammenzufügen, hat Vogl das Werk in zeitliche Schichten geordnet und auf eine Entwicklung seines Rechtsdenkens befragt. 41 Stefan Vogl, Soziale Gesetzgebungspolitik, freie Rechtsfindung und soziologische Rechtswissenschaft bei Eugen Ehrlich, Baden-Baden 2003, S. 236-239. 42 So auch Vogl, S. 239. 43 44

Fn. 39, S. 142.

Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 4. A. Berlin 1989, S. 347; vgl. auch Vogl, S. 233. 4 5 Siehe Fn. 39, S. 111 f.; dagegen Vogl, S. 325.

14

Einleitung des Herausgebers

aufgaben des Volkerbundes (des Vorläufers der UNO). Ehrlich engagierte sich während des Krieges nachdrücklich für die Friedensbewegung46, und zwar in der vom Nederlandsche Anti-Oorlog-Raad im Haag begründeten „Zentralorganisation für einen dauerhaften Frieden" 47 , die vom österreichischen Außenministerium wegen ihres „extremen" Pazifismus als staatsgefährlich eingestuft wurde 48 , so dass die von Ehrlich gewünschte Teilnahme an den Friedenskonferenzen des Jahres 1917 in Christiania (Oslo) und Bern als unerwünscht erklärt wurde 49 . Ehrlich erstellte für die Zentralorganisation ein Gutachten mit dem Titel „The National Problems in Austria", das diese im Haag 1917 herausgab. In diesem wandte er sich gegen den Vorwurf, dass der Vielvölkerstaat Österreich die nationalen Minderheiten unterdrücke. Für das WS 1918/19 wurde Ehrlich vom Unterrichtsministerium für eine Reise zu „wissenschaftlichen Zwecken" in die Schweiz beurlaubt, mit dem Auftrag, dort eine weitere Publikation über die Nationalitätenfrage in französischer Sprache zu veröffentlichen, um die Alliierten von der Zerschlagung der österreichisch-ungarischen Monarchie abzuhalten. Diese Arbeit erschien Ende 1918 unter dem Titel „Quelques aspects de la question nationale autrichienne" in Genf. Nach Kriegsende beklagte sich Ehrlich, er sei von der Zensur betroffen gewesen: „Ich habe selbst eine Reihe von Versuchen gemacht, gegen die Kriegsstimmung in Deutschland und Österreich in Wort und Schrift anzukämpfen, und darf es als ein Wunder betrachten, dass ich dafür nicht vor Gericht gestellt wurde. Natürlich hat aber der Zensor das meiste unterdrückt" 50. In der Tat ist Ehrlich schon bei Kriegsbeginn beim Kriegsüberwachungsamt des Kriegsministeriums aktenkundig geworden 51. Der niederösterreichische Landesamtsdirektor Albert Edler von Managetta-Lerchenau meldete am 27. August 1915 dem Amt: ,»Meine Frau, welche über Sommer in Bad Ischl, Pension Traun, Götzstraße wohnt, schreibt mir heute wörtlich Folgendes: ,Seit einigen Tagen wohnt hier in Ischl in der „Pension Traun" ein Professor Ehrlich, der soll bei Tisch immer wilde Reden gegen Deutschland führen, dass es allein am Kriege schuld sei, England verteidigen und außerdem russophil sein. Außerdem will er jetzt in Wien an 46 Siehe die Darstellung von Vogl, S. 101 -103 m. N. 47 Siehe auch die Angaben über die auf österreichischer Seite tätige Gruppe, zu der neben Ehrlich u. a. der Strafrechtler Prof. Heinrich Lammasch (später: österr. Ministerpräsident), Prälat Seipel (später: österr. Kanzler), die späteren Friedensnobelpreisträger Prof. Ludwig Quidde und Alfred Fried gehörten und die vom „Großkaufmann Julius Meinl" finanziert wurde: Edvard Benes\ Der Aufstand der Nationen. Der Weltkrieg und die tschechoslowakische Revolution, Berlin 1928, S. 439 f. Sekretär der Gruppe war der Holländer B. de Jong van Beek en Done, der die von Meinl finanzierte Zeitschrift „Die Stimme" herausgab. Von deutscher Seite engagierten sich dort u. a. die Professoren Delbrück, Dernburg und von Liszt, siehe die folgende Fn. 48. 48 Einleitung S. 7 zu Joseph Alois Schumpeter, Briefe/Letters, Tübingen 2000. 49 Österreichisches Staatsarchiv - Außenministerium Nr. 961 von 1917. so Siehe unten S. 123; vgl. auch S. 104. Siehe zum folgenden AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht, Z. 3261 ex 1915, und Kriegsarchiv, Kriegsüberwachungsamt, Z. 39970 ex 1915.

Einleitung des Herausgebers

betreffender Stelle (?) alle Daten sammeln und ein Buch herausgeben, das beweist, dass Deutschland wegen seiner Flotte den Krieg angezettelt habe etc. Ich finde das empörend und man soll darauf aufmerksam machen, damit er beobachtet wird. Natürlich ist er ein alter Jud.' Ich fühle mich verpflichtet, sehr geehrter Herr Hofrat, den Tatbestand mitzuteilen und hieran nur die Bitte zu knüpfen, falls Sie die Sache überhaupt zu verfolgen finden, dem Umstände Rechnung zu tragen, dass es für die hochanständige Pensionsinhaberin schädlich sein könnte, wenn es bekannt würde, dass von ihrer Pension aus der Vorfall zur behördlichen Kenntnis gelangte." Die Behörde ermittelte einige der Pensionsgäste, von denen sie nur wenige, die noch nicht abgereist waren, ausfragte. Am ergiebigsten war noch die Befragung der Tochter der Pensionsinhaberin. Sie gab an, „dass Professor Ehrlich in seinem Fache tüchtig sein dürfte, in allen anderen aber sehr zerstreut zu sein scheint. Ehrlich hätte einigemale in seinen Reden, besonders bei dem gemeinsamen Tische, Sympathie für die Engländer dadurch bekundet, dass er den Minister Grey und die Bildung der Engländer als auf erster Stufe stehend schilderte. Grey verteidigte er hauptsächlich deshalb, weil er von der Tischgesellschaft als ein falscher Politiker hingestellt wurde. Abträgliches über Deutschland oder eine Sympathiekundgebung für Russland sowie über die Herausgabe eines Buches hätte sie nicht gehört." Zum Ende des Aktenstücks heißt es: „Das vorliegende Geschäftsstück wurde von der Polizeidirektion in Wien unterm 27. Sept. 1915 Pr.Z. 17488/K mit der Klausel »Gesehen und vorgemerkt 4 vidiert." Zum Schluss dieser einleitenden Bemerkungen möchte ich noch auf die Frage eingehen, warum so hervorragende Vertreter der rumänischen Intelligenz wie der Historiker und Politiker Nicolai Jorga und der Soziologe Dimitrie Gusti sich für Ehrlich einsetzten und für dessen rechtssoziologische Konzeption des lebenden Rechts interessierten. Der Grund dafür ist wohl in folgendem zu sehen: Mit dem Ende des ersten Weltkrieges hatte Rumänien sein Territorium und seine Einwohnerzahl durch Annektierung der Bukowina, von Bessarabien und von Teilen Siebenbürgens ungefähr verdoppelt. Die Bukowina (Hauptstadt: Czernowitz) war bis dahin im Geltungsbereich des österreichsichen Rechts gewesen, Bessarabien (Zentrum: Kischinau) im Geltungsbereich des russischen Rechts und Siebenbürgen (Zentrum: Klausenburg) im Geltungsbereich des ungarischen Rechts. Die Integrierung dieser Landesteile in ein Großrumänien stellte das Königtum vor eine enorme Integrationsaufgabe 52. Diese konnte nur bewältigt werden, wenn man die einzelnen Ethnien, anstatt sie mit zentralistischem Zwang durch „Rumänisierung" zu verprellen, an der langen Leine ließ und geduldig eine langsame Vereinheitlichung der Gesellschaft abwartete, entsprechend dem Motto von Ehrlichs Rechtssoziologie, der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung läge weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft 52 Siehe dazu Mariana Hausleitner: Die Rumänisierung der Bukowina. Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Anspruchs Großrumäniens 1918-1944, München 2001.

16

Einleitung des Herausgebers

selbst. Das hat Ehrlich in der multikulturellen Bukowina vorgelebt gesehen. Gusti hat später bekannt, es sei vor allem Ehrlich gewesen, von dem er die Verwendung umfassender Fragebögen gelernt habe, um in sog. monografischer Feldforschung für seine Agrarsoziologie erfolgreich ganzheitliche Erhebungen einzelner Dörfer durchzuführen 53. Wer wird hier nicht an die Integrationsprobleme der EU erinnert? Zürich, im November 2006

Manfred Rehbinder

53 Gusti , Fragmente autobiografiche, in: ders., Opere Bd. V, Bukarest 1971, S. 197-199.

I. Zur Zeitgeschichte des Ersten Weltkrieges

2 Ehrlich

1. Das Ende eines großen Reiches* Herrn Nicolae Iorga

Nach fast vierhundertjähriger Existenz des Habsburgerreiches ist dieses wie ein Kartenhaus infolge einer Note des Präsidenten Wilson zusammengebrochen. Mit Ausnahme der Deutschen und der Ungarn, die ohne Zweifel infolge des Zusammenbruches sehr viel ihrer wirtschaftlichen und politischen Dominanz eingebüßt haben, mit Ausnahme der Juden, die während der letzten Jahrzehnte immer gerecht behandelt worden sind (manchmal mit Wohlwollen und in Ungarn sogar sehr gut behandelt worden sind, überall aber besser als im benachbarten Russland oder Deutschland), hat keine Nationalität auch nur eine Träne am Grabe der Monarchie vergossen. Diesen Zustand kann man anhand dessen verstehen, was die früheren Österreicher darüber sagen oder schreiben, Gesagtes und Geschriebenes, das gleichzeitig historisches Dokument ist. Vor mir liegt ein Buch, das sich mit diesem Thema auseinandersetzt: Der Untergang der Österreichisch-ungarischen Monarchie von Friedrich Kleinwächter 1, dem Neffen des bekannten Wirtschaftswissenschaftlers. Es ist eine der besten politischen Abhandlungen, die in den letzten Jahren erschienen sind. Glänzend geschrieben und Ergebnis eines reifen politischen Denkens, beruht dieses Buch auf einer gründlichen Kenntnis der Menschen und des Materials, das sich der Verfasser während einer langen Beamtenlaufbahn erarbeitete, die ihn durch alle Provinzen der Monarchie in eine Spitzenposition des Finanzministeriums gebracht hat. Welches sind wohl die Ursachen des Zusammenbruchs Österreichs? Kleinwächter ist der Meinung, dass die Monarchie am Fehlen einer Staatsidee gescheitert ist. Österreich wurde von der Habsburgerdynastie gegründet. Nachdem die dynastische Idee ihre Kraft verloren hat, wurde sie von keiner lebensfähigen Staatsidee ersetzt. Wie man ferner sehen wird, ist Kleinwächter der Meinung, dass nur die Idee des Nationalstaates lebensfähig ist: der Fehler bestand also darin, dass es keine österreichische Nation gegeben hat. Dadurch wird das Problem aber nur verschoben und nicht gelöst. * Sfar§itul unei mari impàrâtii, in: Arhiva pentru §tinta §i Reforma socialä III (1921), S. 80-124; nachgedruckt in Rivista Romanä de Sociologie XIV (2003), N. 1 - 2 , S. 105141. Übersetzung von Univ.-Doz. Dr. Rudolf Graf von der Universität Cluj (Klausenburg) und lie. iur. Emil Salagean (Zürich). 1 Der Untergang der Österreichisch-ungarischen Monarchie, Leipzig 1920; siehe auch das Buch von N. Iorga, Originea §i dezvoltarea statului austriac, Ia§i 1918. 2*

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I. Zur Zeitgeschichte des Ersten Weltkrieges

Warum wurde eine österreichische Nation nicht geboren? Fast alle großen europäischen Staaten wurden als dynastische Staaten gegründet und haben vom Anfang an zahlreiche Völker umfasst, die erst nach mehreren Jahrhunderten zu einer Nation verschmolzen sind. Die Spuren dieser Verschmelzung, die Fugen sieht man teilweise auch heute noch. Wer schmolz zur französischen Nation zusammen? Iberer, Kelten, Griechen Römer, Franken, Burgunder, Flamen, Araber, Germanen, Italiener. Bis heute gibt es in Frankreich Basken (freie), Germanen (Elsass-Lothringer), Flamen, Provenzale, Italiener: Viele von diesen verteidigen bis heute ihren speziellen, ererbten Charakter. Die britische Nation ist aus der Vermischung von Kelten, die sich vorher mit einer älteren, nichtkeltischen Bevölkerung vermischt haben, mit Römern, Angel-Sachsen, Dänen und Normannen entstanden. Der Unterschied zu den Schotten (auch sie aus Angel-Sachsen und Kelten verschmolzen) und den Kelten aus Wales ist noch immer sehr lebendig. Der Schotte widersetzt sich energisch, wenn man ihn als „Engländer" bezeichnet, während man den Bewohner von Wales nicht so nennt, weil die Unterschiede zu offensichtlich sind. Aber was die allgemeinen, praktischen nationalen Fragen betrifft, sind die einen ebenso gute Franzosen wie die anderen gute Engländer sind. Wie könnte man dasselbe über die Deutschen, Tschechen, Slowaken, Polen, Rumänen, Ruthenen, Ungarn, Kroaten, Serben, Italiener sagen, die zusammen Österreich bildeten, aber nie dieselbe Treue ihrem Staate gegenüber zeigten? Kleinwächter wendet ein, dass die Völker der Monarchie sich im entscheidenden Zeitpunkt auf einer zu hohen Stufe ihrer Entwicklung befunden hätten, um auf ihre charakteristischen Eigenschaften zu verzichten. Dieser kritische Zeitraum dauerte, seiner Ansicht nach, vom Anfang des 16. Jh. bis zum Ende des 18. Jh. Eben zu jener Zeit kann man in Österreich keine Nationalbewegung feststellen. Die ersten Zeichen einer Nationalbewegung machen sich während der Regierungszeit von Kaiser Joseph II. bemerkbar, also während der letzten Jahrzehnte des 18. Jh. Und was geschieht zur gleichen Zeit in der Welt? Im Jahre 1756 fand die Schlacht von Culloden statt, wo das Heer Karls m . vernichtet und zerstreut wurde. Es folgte die Verfolgung der Schotten, die bis zum Anfang des 19. Jh. gedauert hat. Ihre alte Verfassung wurde abgeschafft, sie wurden unter den verschiedensten Vorwänden enteignet. Auch ihre Nationaltracht wurde ihnen verboten, so dass es geschah, dass die Leute nicht ihre Häuser verlassen konnten, weil sie keine anderen Kleider hatten. Dies verhinderte aber nicht, dass die Schotten sich heute ohne Vorbehalt zu Mitgliedern, wenn nicht der englischen, so doch der britischen Nation rechnen und als eine der ersten in die deutschen Schützengräben während des Weltkrieges von 1914-1918 eingedrungen sind. Elsass-Lothringen wurde Frankreich im Jahre 1648 einverleibt, gute hundert Jahre später, als Böhmen und Ungarn unter die Habsburger kamen. Aber auch nachdem es ein halbes Jahrhundert zu Deutschland gehört hat, zieht es vor, französisch zu bleiben. Auf den Besitztümern des Markgrafen von Brandenburg und in Ostpreußen waren die Deutschen im 16. Jh. wahrscheinlich eine Minderheit. Die Bevölkerung besteht großteils aus Slawen, Letten, aus Resten der alten Pruzzen (Borussen), die sich aber heute zu den hartnäckigsten Preußen zählen. Noch etwas muss man jedoch beachten. In Frankreich und Eng-

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land schmolzen die verschiedenen ethnischen Elemente zu einer Einheit besonders in der Zeitspanne zwischen dem 11. und 14. Jh. zusammen. Wir bezweifeln aber, ob die Völker, die die Habsburgermonarchie bildeten, mit Ausnahme der Deutschen und der Tschechen, im 16., 17., 18. Jh. sich tatsächlich auf einem höheren Entwicklungsniveau befanden als die Völker Frankreichs und Englands zwischen dem 11. und 14. Jh. Im Vergleich mit dem Abendland war der Osten Europas immer zurückgeblieben. Noch am Ende des 18. Jh. hatten die Polen absolut kein Nationalbewusstsein, denn wie anders hätten sie selbst es in ihrem Parlament beschlossen und wie hätten sie es ruhig hingenommen, dass ihr Land geteilt wird. Ein einziger Abgeordneter, Rejtan, beweist noch gar nichts. Erst während der napoleonischen Zeit wird die berühmte Vaterlandsliebe der Polen erweckt. Folglich stellen wir fest, dass das Verschmelzen der verschiedenen ethnischen Elemente zu einer einzigen Nation, das anderswo von selbst geschehen ist, im habsburgischen Kaiserreich nie stattfinden konnte. Die Lösung des Rätsels befindet sich in den kursiv geschriebenen Wörtern: dies ist in den meisten Fällen von selbst geschehen, während man es in Österreich im Interesse des Staates gemacht hat. Denn auch in anderen Ländern hatte der Staat keinen Erfolg, als er selbst dieses Verschmelzen versuchte. Den Engländern ist es in Irland nicht gelungen; den Preußen nicht in Elsass-Lothringen, im Norden Schleswigs und in Posen; den Russen nicht in Polen, in der Ukraine und in Bessarabien. In diesen Gebieten verfolgte man eine Zwangsnationalisierung, in der Vergangenheit unter dem Vorwand religiöser Bekehrung, heute direkt, offen als staatliche Nationalitätenpolitik. Die Bildung der Nationen ist an sich ein rein sozialer Prozess2, der mit sozialen Mitteln stattfindet, durch Wirtschaftsverkehr, durch die soziale Annäherung in Ehe und Familie, durch den Einfluss der Wissenschaft, der Kunst, der Freundschafts- und Kameradschaftsbeziehungen. Wo sich hingegen der Staat mit seiner schwerfälligen Hand einmischt, gelingt es ihm nur zu verderben und zu vernichten. Das Herz des Menschen ist nicht wie das Glas, das unter Hammerschlägen zerbricht, sondern wie Metall, das unter diesen Schlägen nur noch härter wird. Dies sind Dinge, die auch heute noch nur wenige wahre Staatsmänner verstehen. Auch heute noch werden jene Politiker als große Staatsmänner betrachtet, die auf Gewalt setzen, ohne auf die fürchterlichen Folgen zu achten, die früher oder später jede Gewaltpolitik haben wird. Leider waren die Habsburger keine Staatsmänner. Wenn wir den interessanten und ideenreichen Maximilian II. beiseite lassen, der zwar sehr interessant und ideenreich war, der aber während seiner kurzen Herrschaft nur wenig zustande gebracht hat, finden wir unter den Habsburgern nur einen einzigen wahren, ganzen Menschen, und das war eine Frau: Maria Theresia. Selbst sie hat die schönste Zeit ihres Lebens mit den von Friedrich II. von Preußen aufgezwungenen Kriegen verbracht. Ihr kann man vielleicht die tragische Figur Josephs II. hinzuzählen. Wenn 2

Siehe D. Gusti, Die Frage der Nation, in: Arhiva pentru §tiinta §i Reforma Socialä, Jg. I, Nr. 2 - 3 .

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jemand noch so geneigt ist, wie ich es bin, diesem Menschen, der weit über den anderen steht, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, kann man ihn trotzdem nicht einen Staatsmann nennen. Ansonsten herrscht eine grausame Wüste. Von den drei letzten Kaisem, die zusammen fast 120 Jahre geherrscht haben, Franz I, Ferdinand und Franz Joseph, waren Ferdinand schwachsinnig, die anderen beiden beschränkt, stur und böse. Wenn man über etwas staunt, so ist es nur, wieso Österreich unter ihrer Leitung 120 Jahre überlebt hat. Auch außerhalb des Thronsaales herrschte kein besserer Zustand. Unter den Menschen, die einen entscheidenden Einfluss hatten, befindet sich nur einer, der richtig bedeutend ist, und das war ein Fremder, ein Franzose: Prinz Eugen von Savoyen. Im ganzen 19. Jh. kann von denen, die an der Regierung waren, kaum jemand erwähnt werden, nur Graf Taaffe vielleicht. Vielleicht auch Lammasch, der sein ganzes Leben an den Rand gedrängt und nur dann, als nichts mehr zu retten war, nach vorne gerückt wurde. Den Habsburgern hat die Persönlichkeit gefehlt, die übrigens im Allgemeinen nur selten in der deutschen Rasse zu finden ist. Wie viele Persönlichkeiten sind unter den zahlreichen römischen Kaisern germanischen Ursprungs zu finden oder unter den deutschen Fürsten, den Ministern und den anderen Politikern, bis zum heutigen Tag, wo sogar der Mann fehlt, der den Deutschen als für das Präsidentenamt geeignet präsentiert werden kann? Natürlich haben die Preußen für den Völksschulunterricht einen kleinen Olymp zusammengestellt: Friedrich II., Stein, Hardenberg, Bismarck. Friedrich II. hat das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, dem auch er zugehörte, im Stich gelassen, hat sein eigenes Land durch sinnlose, für ein Stückchen Erde geführte Kriege erschöpft und so die Katastrophe von Jena vorbereitet, hat die Luft Europas vergiftet und der preußischen Politik den Weg gezeigt, den sie ein Jahrhundert lang bis zur Vernichtung Preußens sowie Deutschlands verfolgen wird. Er war im besten Falle ein kluger und fleißiger Verwalter, aber er kann auch hierin nicht mit dem besten Habsburger verglichen werden, und ohne Zweifel verdient er nicht den Übernamen „der Große". Stein und Hardenberg waren brave, ehrliche und weitgereiste Leute, die vieles gesehen und gelernt haben. Sie erreichen die Hälfte eines wahren englischen oder französischen Staatsmannes, aber nicht mehr. Bismarck war eine Art Richelieu, der ins 19. Jh. versetzt war. Aber Richelieu hat im 17. Jh. Taten vollbracht, die der Zeit entsprachen. Der Richelieu des 19. Jh. hat hingegen mit veralteten Mitteln veraltete Zwecke verfolgt und hat einen Bau errichtet, der nach einem halben Jahrhundert auf unglückliche Art zusammengefallen ist. Diesen vier wird ein unparteiischer Denker einen fünften hinzuzählen: Wilhelm von Humboldt, der, weil er größer ist als die anderen, nicht in die Schulbücher aufgenommen wurde. Man kann sagen, dass im kleinen Holland mehr Staatsmänner geboren wurden als in der tausendjährigen Geschichte Deutschlands. Darum stand es in Österreich nicht schlechter als in Deutschland, reichte aber für die Entfaltung eines österreichischen Nationalismus nicht aus. Das Fehlen bedeutender Männer führte dazu, dass nichts besonderes unternommen werden konnte und dass man meistens fehlgetreten ist. Es ist kein Zweifel, dass dies keine

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Erklärung für alles ist. Gewöhnlich findet man unter den Regierenden selten Staatsmänner und die Menschen begnügten sich auch zu anderen Zeiten mit dem, was zu finden war, ohne dass die Staaten zerbrachen. Es waren in Wirklichkeit gewisse Ursachen, die nicht mehr und nicht weniger bedeuteten, als dass die Art der Habsburger nicht mit der Art der von ihnen beherrschten Völker zusammenpasste. Die Geschichte Österreichs ist gewissermaßen die Geschichte der verpassten Gelegenheiten. Die Verteidiger Österreichs haben bis in unsere Tage meist darauf bestanden, dass dies nicht ein aus einzelnen Hochzeiten hervorgegangener Staat war, wie es seine Feinde behaupteten. Es ist wahr, dass die Völker Österreichs sich gegenseitig brauchten, größtenteils wirtschaftlich und kulturell. Aber ein Blick auf die Karte des Reiches zeigt, dass dies für seine Fortdauer nicht genügte. Nur drei oder vier Nationen, höchstens fünf waren ganz im Reich eingeschlossen: die Tschechen, Ungarn und Slowenen und (getrennt gesehen, seit dem Anschluss von BosnienHerzegowina) die Kroaten, denen man noch die Slowaken hinzuzählen kann, die heute zu den Tschechen gehören. Von den anderen Nationen: den Deutschen, Polen, Ukrainern, Rumänen, Serben, Italienern, gehörten nur Teile zu ÖsterreichUngarn, so dass der größte und führende Teil dieser Nationen außerhalb des Reiches lebte. Ohne Zweifel spürte man das in den vergangenen Jahrhunderten wenig, als man nicht allzu viel vom Leben der Nationen sprach. In dem Maße aber, in dem das Nationalleben erwachte, mussten diese Nationen ihren Schwerpunkt außerhalb der Grenzen Österreich-Ungarns suchen. Schrittweise haben vier dieser Völker blühende Nationalstaaten begründet: das Deutsche Reich, Rumänien, Serbien und Italien entstanden nacheinander und haben auf die Deutschen, Rumänen, Serben und Italiener aus Österreich-Ungarn einen großen Einfluss ausgeübt. Der Panslawismus, der sich in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jh. sehr stark entwickelt hat, beeinflusste besonders die Tschechen und die Ukrainer. All dies hat die Kohäsion der Monarchie bedroht und ihre Außenpolitik beeinflusst. Die Verhältnisse der österreichischen Politik und ihrer Nationalitäten haben in einem gewissen Maße eine Opposition gegenüber allen Nachbarstaaten hervorgerufen: Deutschland, Russland, Rumänien, Serbien und Italien. Die Habsburger hätten ein großartiges Mittel gehabt, um gegen diese ihnen ungünstige Entwicklung zu kämpfen, ein Mittel, das überdies ihrer Art auch entsprach. Was man auch gegen die Habsburger sagen mag, etwas bleibt: die meisten waren gute Verwalter, mit Liebe und mit Befähigung. Die Grundlagen der österreichischen Verwaltung wurden schon vor der Existenz Österreichs gelegt, nach einigen Vorgängern (Rudolf I., Albert der Weise) von Maximilian I., der nur die deutschen Erblande beherrschte, in einer Art, die seiner Zeit vorausging. Denselben Weg gingen Ferdinand I., Karl VI., Maria Theresia, Joseph II., und Franz Joseph, der abgesehen von seinen zahlreich begangenen Fehlern sich intensiv mit der Verwaltung des Staates beschäftigte. Die österreichische Verwaltung hat dort große Erfolge erzielt, wo sich primitive Verhältnisse bewahrt hatten, also in den Territorien, die im Parlament vertreten waren (außerhalb Ungarns), die bis zuletzt

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der beste Teil des Staates waren. Bis zur neuen Ordnung Stein-Hardenberg und später bis zur neuen Gestaltung der berühmten preußischen Verwaltung im Jahre 1860, war die österreichische Verwaltung besser als diese und, obwohl veraltet in den letzten Jahren, eine der besten in Europa. Eine gute Verwaltung ist ohne Zweifel eine gute Staatsidee, besonders unter allen anderen. Ein Beispiel ist die Schweiz mit ihren drei oder vier Nationen, einer der konsolidiertesten Staaten, letztlich dank der Tatsache, dass ein jeder Bürger sich Rechenschaft gibt, dass es ihm in jeder anderen Staatsform nicht besser gehen würde. Wenn die österreichische Staatsidee jemals in eine Bevölkerungsschicht eingedrungen ist, so war dies die der Bauern, die entschlossen von Maria Theresia und Joseph II. unter ihren Schutz genommen und nach 1848 befreit wurden, folglich infolge von Verwaltungsmaßnahmen. Trotzdem war die staatliche Verwaltungsidee in Österreich ein Misserfolg. Der Beweis dafür ist die Zersplitterung des Staates. Vielleicht ist es auch richtig, wenn man sagt, dass eben die gute Verwaltung der Habsburger zu deren Untergang geführt hat. Und dies dank ihrem Charakter. Wahrscheinlich war keinem der Habsburger der Gedanke fremd, dass die Verwaltung zugunsten, für die Wohlfahrt der Bevölkerung existiert, und bei den besten unter ihnen, Maria Theresia, Josef I I und Franz Joseph ist dieser Gedanke offensichtlich lebendig. Gleichzeitig lebt aber auch der dynastische Gedanke, den keiner von ihnen richtig abschütteln konnte. Der Staat war ihr Eigentum, er musste so sein, wie sie ihn wollten, und damit er so ist, damit jeder Widerstand gebrochen wird, dazu hatten sie die Verwaltung. Diese Auffassung widerspiegelt sich vielleicht am besten in den naiven Worten von Franz I., der einmal, als man ihm jemanden als guten Patrioten vorgestellt hat, fragte: „gut, wird er aber auch für mich ein guter Patriot sein?" Es ist ohne Zweifel, dass die Habsburger eine gute Verwaltung wünschten, aber es sollte eine gute Verwaltung zu ihrem Nutzen sein, ein Werkzeug ihres Willens, und dies hat sie öfters in eine hartnäckige Opposition ihren Völkern gegenüber geführt, schlimmer als es eine schlechte Verwaltung getan hätte, gegen die der Mensch letztlich die Methode findet, sich zu arrangieren. In Ungarn, wo die deutsche Verwaltung im Jahre 1867 abgeschafft wurde, waren die Verhältnisse annehmbar, weil gewöhnlich wegen der ungarischen Korruption Wege zu finden waren, ein wenig die Ketten der ungarischen Tyrannei zu lockern. Welches waren die politischen Ideen der Habsburger? Vor allem waren sie deutsch. Deutsch durch ihren Ursprung, denn der Kern ihrer Herrschaft war deutsch; deutsch, weil die meisten unter ihnen gleichzeitig römische Kaiser deutscher Nation waren. Wahr ist auch, weil die deutsche Nationalidee erst im 19. Jh. bewusst wird, dass auch die Habsburger ihrer vorher nicht bewusst gewesen sind: Franz I. und sein mächtiger Minister Metternich, der auch unter Ferdinand weitermachte, waren noch im Ganzen Menschen des 18. Jh. und waren den nationalen deutschen Bestrebungen gegenüber feindlich eingestellt. Erst Franz Joseph scheint wirklich deutschnational gefühlt zu haben. Dies hindert aber nicht die Tatsache, dass die deutsche Nationalidee in ihnen viel früher bewusst gewirkt hat. Hier be-

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findet sich in erster Linie die Ursache, warum es nicht, wie in Frankreich und in England unter denselben Verhältnissen, zu einer österreichischen Nation gekommen ist. Dort hat der Staat nicht bewusst nationalisiert oder entnationalisiert, sondern die Gesellschaft in ihrem Ganzen hat sich dieser Aufgabe angenommen. Aber die Herrscher waren selbst Franzosen oder Engländer und sie nahmen persönlich Anteil an den sozialen Bestrebungen mit ihrem starken Einfluss auf das alltägliche Leben, auf die Kunst, Wissenschaft, Literatur. Die Habsburger hingegen wollten keine österreichische Nation, denn sie fühlten sich als Deutsche, und dies reichte ihnen. Wollten sie vielleicht ihre Völker in Deutsche umwandeln, so wie es die Preußen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. mit ihren Franzosen, Dänen und Polen wollten? Nicht einmal: Denn dafür waren sie zu wenig auf bewusste Art Deutsche. Sie waren nicht mehr und nicht weniger als Verwalter, die sich in dynastische Ideen verwickelt haben, und danach erst Deutsche. Der deutsche Charakter sollte nur der Dynastie und der Verwaltung dienen. In den früheren Zeiten, bis zum Tode Maria Theresias, ist dies alles trüb und verwickelt. Bei Joseph II. ist die Verwaltungsidee vorherrschend. Er bildet sich ein, dass die Verwaltung viel leichter, einfacher, genauer und ohne Konflikte wäre, wenn im ganzen Reich alle Bewohner deutsch verstünden und sprechen würden und sich mit den Behörden in dieser Sprache verständigen würden. Darum verdeutscht er die Verwaltung und verlangt vom Volke, sich zu fügen. Nach seinem Tode wird diese Pflicht abgeschwächt, bleibt aber im Allgemeinen so bis zu Franz Joseph. Dieser hebt in der ersten Etappe seiner Herrschaft die dynastische Idee hervor. Der deutsche Charakter muss der Klebstoff sein, der sein sprachlich buntes Reich zusammenhält, das er gleichzeitig dem Deutschen Bund anschließt, den er zu dominieren versucht. Als er infolge des glücklosen Krieges mit Preußen den Bund verlassen muss, verzichtet er auf diese Idee in Wirklichkeit nur in Bezug auf Ungarn, bewahrt sie aber in den Königreichen und Ländern, die im Parlament vertreten sind, eine Zeit lang, bis Graf Taaffe, sein Premierminister, der mit aristokratischer Leichtigkeit noch irgendwie den Blick eines Staatsmannes hatte, erkannte, dass das Unternehmen als Ganzes unmöglich war, und vollständig darauf verzichtete. Unterdessen war aber das Unglück geschehen. Die Nutzung der Nationalität zu verwaltungsmäßigen Zwecken erwies sich als ebenso fatal wie die Nutzung der Verwaltung zum Zwecke der Nationalisierung. Die von Josef II. bei den Behörden eingeführte deutsche Sprache hat den nationalen Funken in Ungarn und in Böhmen entzündet und die unter Franz Josef zwangsweise erfolgte Betonung des deutschen Charakters bis 1860 hat aus diesem Funken eine Flamme gemacht. Als die kaisertreuen Kroaten, mit deren Hilfe Franz Josef die Ungarn besiegt hat, auf dieselbe Art behandelt wurden wie die aufständischen Ungarn, sagten letztere den Kroaten mit Spott: ihr habt als Belohnung dasselbe bekommen wie wir als Strafe. Vielleicht, dass in der Vergangenheit sich die österreichischen Volker zu einer Nation zusammengeschlossen hätten, wenn sich die Habsburger rechtzeitig darum gekümmert hätten. Oder sie hätten sich mit einem reinen Verwaltungsstaat be-

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gnügt, wie in der Schweiz, Belgien, Kanada. Aber als man von ihnen verlangte, sie sollten auf ihre Nation verzichten zugunsten der Dynastie und der Verwaltung, widersetzten sie sich hartnäckig. Außerdem waren alle Habsburger eifrige Katholiken. Sogar Joseph II. machte trotz seinen Bestrebungen, die Kirche in weltlichen Dingen dem Staat zu unterstellen, keine Ausnahme. Ihre charakteristische Zwiespältigkeit zeigte sich auch darin: mal wollten sie mit Hilfe der Kirche politische Ziele erreichen, mal wollten sie die Verwaltung in den Dienst der Kirche stellen. Die älteren Habsburger haben mit Hilfe der Kirche in allen ihren Ländern die Macht jener vernichtet, die zum Protestantismus übergetreten sind, und haben die Kirche in die politischen Kämpfe hereingezogen. Damals hat die Verfolgung der Protestanten begonnen, die aus Österreich (Ungarn ausgenommen) einen rein katholischen Staat gemacht hat. Dann war die Verwaltung im Dienste der Kirche. Im 19. Jh. hat man diesem katholischen Charakter Bedeutung beigemessen, einerseits weil er als ein vereinigendes Element für das österreichische Volk betrachtet wurde und andererseits weil man die Katholiken aus dem Ausland gewinnen wollte, als katholische Macht. Ohne Zweifel hat dies den Habsburgern viel Nutzen gebracht. Die Katholiken in Österreich sahen im Kaiser nicht nur den Herrscher, sondern auch den Verteidiger des Glaubens, und die Habsburger fanden in den Katholiken des Auslands viel wertvolle Unterstützung, besonders während des Kampfes mit Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland. Andererseits entfremdeten sie sich auf diese Art alles, was in Österreich und überall nicht katholisch war. Der Glaubenseifer hat ihnen mit der Vertreibung der Protestanten aus der Alpengegend riesigen wirtschaftlichen und kulturellen Nachteil gebracht, hat zum dreißigjährigen Krieg geführt, der Deutschland und Österreich fast in den Abgrund getrieben hat, war die Ursache so vieler schwerer Kämpfe mit den kalvinistischen Ungarn und hat bis zur Mitte des 19. Jh. viele Kräfte vom Staat ferngehalten. Ohne Zweifel waren diese Dinge in Österreich nicht schlechter als anderswo. Die religiösen Kriege und Verfolgungen waren in Frankreich roher und blutiger als in Österreich; so etwas wie die „Dragonaden" von Ludwig XIV. hat man in Österreich nicht gesehen, und zu den öffentlichen Ämtern wurden in Österreich und Ungarn Protestanten zugelassen in einer Zeit, als man in England die Protestanten aufgrund des Test Act von diesen fernhielt. Dies verhinderte aber nicht, dass Österreich im Inneren zu leiden hatte und von der Außenwelt als ultrareaktionärer katholischer Staat beschimpft wurde. Und das ist so geblieben, auch nachdem unter Franz Joseph jede Ungerechtigkeit den Protestanten gegenüber seit langem beseitigt war und ein Protestant Gouverneur der bedeutendsten Provinz, Niederösterreich, und Premierminister geworden ist. Während dieser Zeit, mit der weltweiten Verringerung des Interesses an religiösen Fragen, ist die Anziehungskraft des Katholizismus gesunken. Selbst in Deutschland sind nach 1871 die Katholiken, die aus religiösen Gründen ernsthaft einen Anschluss an Österreich gewünscht hätten, zur Kuriosität geworden. In Österreich ist der niedere Klerus, der hier immer benachteiligt war, mit Ausnahme der Alpengebiete gänzlich der nationalen Bewegung beigetreten und wurde so für die politischen Zwecke der Habsburger unbrauchbar.

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Und schließlich: die Habsburger waren Aristokraten, nicht nur äußerlich, sondern ihrer tiefsten seelischen Einstellung nach. Um eine gewisse Popularität zu erreichen, traten sie als „gnädiger Herr" in Erscheinung, zeigten sie ein stolzes und gleichzeitig Distanz bewahrendes Wohlwollen, eine gewisse Großzügigkeit, übrigens genügend sparsam und den Weg der Kirche wählend sowie einen gewissen Prunk bei Gelegenheiten, die sich alle auf die Residenzstadt Wien beschränkten. Zu den breiten Massen hatten sie keine Beziehung. Sie konnten nicht verstehen, wie diese etwas zu verlangen hatten, und betrachteten jede Volksbewegung als gesetzwidrige Rebellion. Wenn sie sich schwach fühlten, erlaubten sie, dass man ihnen gewisse Dinge abpresste, aber niemals gaben sie etwas von selbst oder waren froh, selbst das Notwendige gesehen zu haben. Mit den Nationen konnten sie verhandeln, wenn diese von Adligen geführt waren, also mit den Ungarn und Polen, manchmal mit den Tschechen und Kroaten, aber meistens wurden die nationalen Bewegungen in Österreich von den Intellektuellen begonnen und drangen zu den Bauern und dem Kleinbürgertum vor, was dazu führte, dass sie unbeholfen diesen gegenüber standen. Dies ist besonders bei Franz Joseph klar. Als er sich genötigt sah, die konstitutionelle Regierungsform zu akzeptieren, hat er Schwerling bezüglich der neuen Wahlordnung und Organisation freie Hand gelassen, der erstens im Interesse der Föderation und zweitens im Interesse der heiß ersehnten Einheit des Reiches mit den größten Willkürakten für immer die Mehrheit der Deutschen in der Abgeordnetenkammer sichern musste und zugunsten der ungarischen Oligarchie die Nationalitäten in Ungarn und zugunsten der Polen die Ukrainer im Stich gelassen und bei den Minderheiten beständig Unterstützung gegen die Mehrheit gesucht hat. Nur in den letzten Jahrzehnten ist er unter dem Einfluss Steinbachs ein Anhänger des allgemeinen Wahlrechts geworden in der Hoffnung, in den wirtschaftlichen Bestrebungen der Massen ein Gegengewicht zu den nationalen Strömungen finden zu können. Vielleicht wäre dieser Versuch gelungen, wenn er auch über Ungarn ausgedehnt und wenn nicht der Krieg ausgebrochen wäre. Aber vieles zeigt, dass es für diese halbherzige und von vielen geheimen Gedanken begleitete Wende zur Demokratie zu spät war. Die Fehler der Vergangenheit ließen sich nicht so leicht beseitigen. Die nationalen Leidenschaften waren entfacht und konnten in einem oligarchisch regierten Ungarn nicht zur Ruhe kommen. Das neue Parlament, das infolge des allgemeinen Wahlrechts zu Stande gekommen war, entsprach noch weniger den Absichten des Kaisers als das alte. Enttäuscht und verbittert vom allgemeinen Wahlrecht, auf den Rat des unglücklichen Grafen Stürgkh hörend, hat sich der Kaiser seiner Jugendliebe zugewendet, dem Absolutismus, und das Land während des Krieges ohne Parlament regiert, um dann nach dem Mord, den Friedrich Adler begangen hat, sich wieder dem anderen Weg zuzuwenden. Aber die Todesstunde hatte geschlagen. Letztlich noch etwas: Im Unterschied zu den gelehrten Vorgängern des Mittelalters haben die Habsburger, mit Ausnahme Maximilians II., kein Interesse an Kultur gezeigt. Sie verhielten sich kühl der Kunst, Wissenschaft und Literatur gegenüber. Sie begnügten sich nur mit etwas Theater und Musik, aber alles war oberflächlich, nur für die Unterhaltung. Es war dies nicht der unbedeutendste Grund,

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der sie gestürzt hat. Es wäre ihnen ein Leichtes gewesen, Wien, wo sich der Hof befand, zum Kulturzentrum Deutschlands zu machen, anstatt diese Aufgabe dem kleinen Prinzen von Weimar zu überlassen. So hätten sie ihre Stellung in Deutschland gestärkt, und mit Hilfe der kulturellen Strömungen, die sich von Wien her über ihre Besitztümer verbreitet hätten, hätten sie diese besser an Deutschland binden können als mit Waffengewalt und allerlei politischen Intrigen. Sie hätten aber Wien auch zum Treffpunkt des intellektuellen Lebens der Nationalitäten machen, dort alle Werte hinziehen können, was in deutscher Sprache im ganzen Reich den österreichischen Geist verbreitet und den Samen einer österreichischen Nation gesät hätte. Oder sie hätten sich um das geistige Leben ihrer Völker kümmern und Zentren in Prag, Budapest, Agram, Laibach, Krakau, Lemberg bilden können. Man weiß, wie leicht sich die Künstler, Dichter, Schriftsteller einfangen lassen und wie dankbar sie für jede von oben kommende Unterstützung sind. Die intellektuellen Führer der Volker Österreichs hätten nicht versäumt, diese für die Staatsidee zu gewinnen, und die Völker wären nicht unempfindlich geblieben für das, was man für ihre geistige Entwicklung gemacht hätte. Einen kleinen Anfang hat man diesbezüglich zu Beginn des 19. Jh. gemacht, als mehrere serbische Wissenschaftler und Dichter vor den Türken nach Österreich geflüchtet sind. Dieser noch so kleine Anfang war fruchtbar, aber leider blieb es dabei. Sonst wurde nichts gemacht. Es gibt vielleicht keinen anderen Staat, in dem der Intellektuelle noch mehr verachtet wurde als in Österreich. Am Hofe erschien außer den Adligen vielleicht ab und zu ein Kleriker, aber nie ein Künstler, ein Wissenschaftler oder Schriftsteller. Ab und zu bekam einer Dank dem Wohlwollen eines Ministers einen bescheidenen Titel oder eine noch bescheidenere Auszeichnung oder er wurde in den Reichsrat aufgenommen; dann war er aber ohnehin schon so bekannt, dass ihn dies wenig berührte. Auf diese Weise verloren die Habsburger alle Vorteile, die sie hätten haben können, wenn sie den Geist nicht verachtet hätten. Im weiteren wollen wir zeigen, wie dieser Charakter der Habsburger sich in der Geschichte des Reiches ausgewirkt hat. Dafür muss zuerst dessen Struktur geschildert werden. Man weiß, dass das Reich nicht durch Eroberungen entstanden ist, sondern durch Belehnung, Erbschaft, Familienverträge und andere friedliche Mittel. Tu, felix Austria nube! In allen Ländern (sogar in Galizien, in der Bukowina, in Dalmatien, die im 18. und 19. Jh. angeschlossen wurden) herrschte bei ihrem Anschluss eine feudale Verfassung mit einer Ständeversammlung, gebildet aus den Adligen, dem Klerus und den Städten (in Tirol auch den Bauern). Wenn der Herrscher vom Land etwas verlangte (gewöhnlich Geld) oder das Land vom Herrscher, musste es zu einem Abkommen kommen, das die Versammlung beschloss und vom Herrscher bestätigt und so Gesetz wurde. Zu einem Abkommen kam es auch, als der junge König Ludwig aus dem Hause der Jagellonen 1526 in der Schlacht mit den Türken in Mohacs gefallen war und die Stände aus Ungarn und Böhmen Ferdinand I. zum König gewählt haben, ein Familienvertrag im Angesicht der türkischen Gefahr. Darum war die Lage des Herrschers in jedem der Länder eine andere, gestützt auf Besitzrechte und auf die späteren Verträge mit den Ständen, wie übrigens in allen Feudalstaaten. Vom Anfang an versuchen die Habsburger, die

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Ständeversammlungen zu vereinheitlichen, ihnen die Macht zu nehmen und eine einheitliche Verwaltung einzuführen, Gesetze zu geben, die für das ganze Reich gültig sind. Der Höhepunkt dieser Bestrebungen wird unter Maria Theresia und Joseph II. erreicht, jedoch bis 1848 dringen sie nicht richtig durch. Bis zu jenem Augenblick war die Pragmatische Sanktion der einzige konstitutionelle Ausdruck der Einheit, der von allen Ständeversammlungen angenommen war und das Erbrecht für das ganze Reich bestimmte. Erst nachdem Franz Joseph, nach der Unterdrückung der Revolution, den Absolutismus eingeführt hat, wurde das Reich kraft Verfassung als Einheit angesehen. Aber auch das Parlament von 1848, dem die aufständischen Ungarn nicht angehörten, kann als ein einheitliches Verfassungsorgan angesehen werden. Die Ungarn haben sich am stärksten und mit dem meisten Erfolg den Vereinigungsbestrebungen der Habsburger widersetzt. Bis im 18. Jh. waren sie kein Volk, sondern ein feudaler Adel, der die von ihm unterjochten Völker, aber auch das ungarische Bauerntum blutig unterdrückte. Ein Teil des Adels stand auf der Seite der Habsburger; der andere Teil verbündete sich gegen diese mit jedem, der bereit war, es zu tun: mit dem türkischen Sultan und dem Chan der Krimtataren, mit dem König von Schweden oder mit Ludwig XIV. In Ungarn kämpften die Habsburger mit einzelnen feudalen Cliquen, so wie es unendliche Male im Mittelalter in Frankreich, England oder Deutschland geschehen ist. Die Adligen sprachen unter sich in einem Küchenlatein, das auch die Sprache der Regierung, der Behörden und des Parlamentes war. Mit dem Volk verständigten sie sich im verachteten Ungarischen oder Slawischen. Sie widersetzten sich der Einmischung der Habsburger in die inneren Angelegenheiten des Landes, denn dies gefährdete ihre wilde Raubwirtschaft. Bis zum Anfang des 18. Jh. waren die Ungarn größtenteils unter türkischer Herrschaft, Gebiete, wo die Habsburger nichts tun konnten. Maria Theresia hat den Adligen freie Hand gegeben, denen sie ihre Krone verdanken sollte. Die Geschichte war übrigens weder poetisch noch glorreich. Sie war ganz anders als in dem billigen sentimentalen Bild: Moriamor pro rege nostro, Maria Theresia! Der erste, der direkt eingegriffen hat, war Joseph II. mit Richtern und Behörden, die Deutsch sprachen (mit dem er nicht das Ungarische, sondern das Jahrmarktlatein ersetzt hat). Er hat das Parlament nicht mehr einberufen. Jetzt waren die Privilegien der Adligen schwer gefährdet. Mit einem geschickten Frontwechsel - Inszenierungen, in denen sich die Ungarn immer als Meister erwiesen haben hat der Adel den Kampf für diese Privilegien mit dem Bekenntnis zur ungarischen Nation verknüpft und hat so die Verbindung hergestellt zum magyarischen Teil des ungarischen Volkes. Die neue Josephinische Ordnung des ungarischen Staates blieb abgeblockt, und unter Franz wurde sogar das Parlament einberufen. Aber nachdem Franz Joseph den Aufstand niedergeworfen hat, hat er das Werk Joseph II. weitergeführt, hat deutsche Gerichte und Behörden gegründet und traute sich ohne Parlament zu regieren. Dies bis zum Jahre 1867. Der glücklose Krieg mit Preußen hat das Weiterführen dieses Prozesses vereitelt.

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Die ungarischen Staatsrechtler des 19. Jh. waren hinterhältige Rechtsanwälte, geschickt darin, die Tatsachen zu verfälschen oder zu verschweigen. Wenn man ihre Werke gutgläubig liest, staunt man über die Freiheit und den fortschrittlichen, modernen Charakter des ungarischen Staates. Man braucht viel Klugheit, um den geschickt gemachten Knoten aufzumachen. Glaubt man ihnen, haben die Ungarn für ihren Staat das verlangt, was die Habsburger über Verträge mit den Ständeversammlungen den Adligen gegeben haben. Dies klingt ganz modern, wenn einem das Detail entgeht, dass der ungarische Staat bis zuletzt nur eine Clique Adliger war. Das ungarische Parlament wird den Naiven als eine moderne Versammlung dargestellt, ist aber in Wirklichkeit nur eine zurechtgeschminkte Kammer der Stände, und zwar dies nicht nur wegen eines vorsintflutlichen Wahlgesetzes, sondern auch wegen grausamer Missbräuche während der Wahlen, die nicht mehr und nicht weniger waren als ein Teil des ungarischen Verfassungsrechtes, wovon man dem gutgläubigen Fremden absolut nichts sagte. Bei Timon und Maczali findet sich keine einzige Zeile darüber, und nur der unermüdliche Seton-Watson (Scotus Viator) hat dies für die Öffentlichkeit bekannt gemacht. Mit Hilfe dieser Verfassung, die sich mehr auf Missbrauch denn auf Gesetze begründete, hat der Adel den Staat so sehr beherrscht, dass es letztlich unwichtig war, ob die „Freiheiten" - im mittelalterlichen Latein waren die Freiheiten die Privilegien des Adels - dem Adel zustanden oder formell dem Staatsvolk. Der Verfassung entsprechend beruhte die Beziehung Ungarns mit dem Gesamtstaat außer auf der Pragmatischen Sanktion nur auf den Verträgen mit den Habsburgern. Was die Habsburger dort mit diesen Verträgen begründet haben, hatte als gemeinsame Institutionen und Gesetze für die Ungarn keine Geltung und betraf sie nicht. Sicher konnten dasselbe auch die Steiermark und Tirol behaupten, aber auch Bretagne und Dauphine in Frankreich sowie Basel und Zürich in der Schweiz: Man kann sich vorstellen, wie ein moderner Staat aussehen würde, wenn alle feudalen Verträge gültig blieben! Die Ungarn aber setzten sich 1867 mit diesen durch, nur dass sie ihnen äußerlich eine verfassungsrechtliche Form gegeben haben. Die Außenpolitik und das Heer blieben gemeinsam sowie die Emissionsbank, die von einer österreichischen in eine österreichisch-ungarische Bank umgewandelt wurde, sowie die Zollpolitik. Ungarn sollte mit etwas mehr als 30% zu den gemeinsamen Ausgaben beitragen, zusammen mit den anderen Ländern, eine Quote, die alle zehn Jahre neu bestimmt werden sollte. Drei gemeinsame Ministerien sollten tätig sein: das Außenministerium, das Kriegs- und das Finanzministerium. Letzteres hatte aber kein eigenes Einkommen außer den Zöllen und der 30%-Quote. Auch die Wirtschaftspolitik und das Transportwesen sollten bestimmte Gemeinsamkeiten haben, die ebenfalls durch ein Abkommen alle zehn Jahre verhandelt werden sollten. Zum Zwecke der Ausübung der Haushaltsrechte sollten aus dem ungarischen Parlament und den gesetzgebenden Versammlungen der anderen Länder zwei Kommissionen (Delegationen) gegründet werden, die getrennt berieten, getrennt Maßnahmen trafen (in Entscheidungen, die die Zustimmung beider Delegationen brauchten) und die abwechselnd sich einmal in Wien und einmal in Budapest versammelten. Sie hatten keine legislative Gewalt.

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All dies wurde zwischen dem Kaiser, jetzt König von Ungarn, und den Ungarn abgemacht und wurde im Parlament im Jahre 1867 zum Gesetz oder, wie es dort heißt, wurde Unartikuliert". So ist Ungarn als ein eigenständiger Staat unabhängig geworden. Zu diesem gehörten außer dem eigentlichen Ungarn auch Siebenbürgen sowie Kroatien und Slawonien, obwohl letztere beiden Staaten ebenso an Österreich wie an Ungarn gebunden waren. Sie wurden von Österreich von den Türken zurückerobert und früher waren sie nie Teil Ungarns. Die Bewilligung für den Anschluss an Ungarn wurde den Ständeversammlungen der Länder mit Mitteln abgezwungen, die bei jedem zivilisierten Volk ins Strafgesetzbuch gehören, auch ins ungarische Strafgesetzbuch. Jetzt war ein Staat begründet. Was geschieht nun mit dem Rest der habsburgischen Herrschaft? Mit Müh und Not musste auch dieser Teil sich zu einem eigenen Staat zusammenfinden, eigenständig, unabhängig und mit gleichen Rechten wie der andere. Mit gleichen Rechten? Hat er auch mit dem Kaiser einen Vertrag geschlossen, der durch die freiwillige Zustimmung der Versammlung seiner Repräsentanten zum Gesetz erhoben wurde? Nein. Man hat ihnen nur eine armselige Übersetzung der Abkommen mit den Ungarn vorgelegt, die sie so annehmen mussten, wie sie waren. Dies sieht nicht sehr nach Gleichberechtigung aus, aber etwas anderes konnte man nicht machen: der Kaiser hatte das Abkommen mit den Ungarn schon abgeschlossen und Österreich, ob es das wollte oder nicht, konnte nur mit dem Kopf nicken. Diese Art von Gleichberechtigung wurde dann auch in Zukunft beibehalten. Die Ungarn haben bis zuletzt ihren Willen in allen Fragen, die beide Staaten betrafen, durchgesetzt, bei denen alle Nationen außer den Ungarn den Mund hielten, weil deren gut organisierte Oligarchie auf die österreichische Hälfte des Reiches, in der alle Nationen, Parteien oder Richtungen ein Wort zu sagen gehabt hätten, eine Art militärische Überlegenheit ausübte. Der Kaiser fürchtete sich unheimlich vor ihnen, und wenn er ihnen auch nach einem langen Widerstand nachgab, so setzte er alles daran, dass auch Österreich zustimmte, wo er immer von den zahlreichen Parteien des Parlamentes jemanden auf seine Seite ziehen konnte. Die Methode der Ungarn war sehr einfach und immer dieselbe. Eigentlich war ihnen die Gemeinsamkeit mit Österreich sehr nützlich. In der Außenpolitik konnten sie nur als Großmacht etwas darstellen, als Österreich-Ungarn. Sie brauchten das gemeinsame Heer nicht nur, um die Außenpolitik zu unterstützen, sondern auch, um die Nationalitäten im Zaum zu halten. Die gemeinsame Zollpolitik hat ihnen einen Staat mit fünfzig Millionen Einwohnern in die Hand gegeben und hat sie in die Lage gesetzt, Serbien und Rumänien von Europa zu trennen und sich den europäischen Markt für ihre Landwirtschaft zu sichern. Die gemeinsame Bank erlaubte ihnen, billige hypothekarische Anleihen zu machen, indem sie den Kredit des reichen Österreichs benützten. Wir wissen, wie sehr der Kaiser an diesem Rest von Gemeinschaft hing, der für ihn das Symbol des früheren Reiches war. Die Ungarn taten dann so, als ob ihnen diese Gemeinschaft nichts bedeutete, und immerfort verlangten sie eine neue Trennung: mal ungarische Kommandosprache

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beim Heer, ungarische Wappen und Farben für die gemeinsamen ungarischen Waffenverbände, mal eine innere, eigene Zollpolitik, mal eine eigene Nationalbank. Wenn man ihnen alle diese Ansprüche erfüllt hätte, so wären sie in eine schwierige Lage geraten. Sie wussten aber, dass der Kaiser nichts davon wissen wollte, und setzten alles auf eine einzige Karte. Ihr Ziel war es jedoch, irgend einen anderen Vorteil zu erreichen, um den es ihnen in Wirklichkeit ging. Zu all diesen Übeln, die aus der Verfassung selbst entstanden sind (die Beziehungen zwischen den Ungarn und den Österreichern mittels unendlicher diplomatischer Korrespondenz bei allen Verhandlungen, das gegenseitige Überlisten, die großen Schwierigkeiten in der Verwaltung, bei der Organisation des Heeres und in der Wirtschaftspolitik, die ewig diskutiert wurde, der Anteil am gemeinsamen Haushalt, der auch zu Gunsten der Ungarn bestimmt wurde, das Fehlen des Kontaktes zwischen dem Parlament und der Außenpolitik, wofür nur zwischen den Delegationen Kontakte hergestellt wurden mittels der nutzlosen jährlichen Exposés, mit all den Intrigen von allerlei ungarischen Cliquen) kamen auch noch andere hinzu, verursacht von den Gefühlen, die auf jeder Seite existierten. Die Ungarn hassten die andere Hälfte des Staates, der gegenüber sie sich entsetzlich minderwertig fühlten. Letztlich blieb den Österreichern nur noch übrig, sich mit allen Mitteln zu verteidigen. Mit Lueger, der die Formel der Judeo-Magyaren an Stelle der gegenseitigen Machenschaften verbreitet hat, ist man zum offenen Kampf auf der ganzen Linie übergegangen. Aber Lueger, der allein im Stande war, den Krieg mit Geschick zu führen, ist bald gestorben und die Ungarn haben sich in Kürze wieder ihren alten Interessen zugewandt. Der Dualismus, politisch eine der unglücklichsten Verfassungen, war für die ungarische Oligarchie ein wunderbares Werkzeug. Sie hat dieses Mittel klug benützt, wenn man mit „klug" das bezeichnen kann, was zuletzt nicht nur sie selbst, sondern auch andere in den Abgrund geführt hat. In der Innenpolitik hatten die Ungarn freie Hand, die sie ohne Rücksicht dazu nutzten, alle Nationalitäten Ungarns zu unterdrücken. Da sie im eigenen Land, selbst nach gefälschten Statistiken, in denen sie auch die Juden zu den Ungarn rechneten, eine Minderheit von 48 % bildeten, konnten sie ihre Unterdrückungspolitik nur mit Hilfe der im ganzen Lande verbreiteten Juden ausüben. Von hier stammt ihre so genannte Liebe zu den Juden. Die Juden, die sich sehr geschmeichelt fühlten, dankten ihnen mit einem enthusiastischen magyarischen Chauvinismus. Sie bildeten in den Städten das „magyarische" Element und spielten besonders bei den Wahlen eine große Rolle. Wie groß die Freundschaft den Juden gegenüber war, sieht man heute, wo die Ungarn die Juden nicht mehr brauchen oder dies wenigstens glauben. Möglicherweise gibt es auch heute noch welche, die in der willkürlichen, hinterlistigen und unterdrückenden Politik der Ungarn ein großes Maß an politischer Weisheit sehen. Aber: respice finem! Kein Zweifel, dass sie große Erfolge gehabt haben: wo sind diese aber heute? Es ist ihnen gelungen, den österreichisch-ungari-

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sehen Staat zu zersplittern. Was würden sie nicht tun, um ihn wiederherzustellen! Sie befanden sich nicht unter den letzten, die den Krieg entfesselt haben. Jetzt scheinen sie nicht sehr glücklich über ihre Leistung! Im Krieg, der für sie geführt wurde, waren sie die ersten, die das Heer verlassen haben, und allem Anschein nach haben sie die Niederlage von Vittorio Veneto verursacht. Die Folgen aber waren schlecht für sie. Die Stellung der Habsburger gegenüber den Tschechen war eine andere. Das Königreich Böhmen gehörte zum Heiligen Römischen Reich seit dem Mittelalter. Die böhmischen Könige nahmen als Kurfürsten an der Wahl des Kaisers teil und versuchten mehrmals, aber ohne Glück, sich die Kaiserkrone anzueignen. Ottokar m . eroberte alle Besitztümer der Babenberger und wurde von allen Ständen als Herrscher anerkannt, was eben ein Beweis für den in jener Zeit schwachen nationalen Sinn der Tschechen war. Denn wenn Ottokar Rudolf von Habsburg besiegt und jene Länder behalten hätte, wäre Böhmen wahrscheinlich germanisiert worden, wie alle siegreichen Völker, die sich auf jener Entwicklungsstufe befinden, die sie veranlasst, die Nationalität der Besiegten anzunehmen. Wenn wir die Haltung der Tschechen aus der Zeit vor und während des Krieges betrachten, so können wir sagen, dass der Sieg der Deutschen von 1272 ihre Niederlage von 1918 mit sich gebracht hat. Es wäre sehr zu wünschen, die zahlreichen heutigen Historiker, die uns überzeugen wollen, dass die Weltgeschichte wie eine richterliche Instanz ihr Urteil während der Kämpfe spricht, würden sich öfter vorstellen, als sie dies gewöhnlich tun, wie die Folgen der sogenannten „glorreichen Siege" nach dem Verlauf von einigen Jahrhunderten aussehen. Das Nationalgefühl der Tschechen hat sich erst im 14. und 15. Jh. entwickelt. Die Tschechen sind dabei das erste Volk der Welt, bei dem sich ein Nationalbewusstsein fast in unserem heutigen Sinn entwickelt hat, nicht nur bei einzelnen Individuen, sondern auch bei den breiten Massen, unter den Stadtbewohnern und Bauern: die Folge davon war der Hussitismus, eine religiöse, aber auch nationale und soziale Bewegung, die diesen sozialen Schichten entsprungen ist. Nach der Reformation wurde der Hussitismus zum Protestantismus, der im 16. Jh. das ganze Volk erfasst hat. Als nach der Schlacht von Mohacs und dem Tode des Königs von Böhmen und Ungarn die tschechischen Stände, eher wegen der Türkengefahr als infolge der Familienverträge, Ferdinand von Habsburg zum König gewählt haben, waren die nationalen Kontraste stark, aber eher den Tschechen als den Deutschen bewusst, die zu jener Zeit nicht viele Zeichen eines Nationalgefühls zeigten. Es konnte nicht die Rede davon sein, dass damals ein Volk vom anderen geschluckt wird. Die tschechischen Stände, hinter denen das ganze Volk stand, waren permanent mit den Habsburgern im Streit. Infolge eines solchen unbedeutenden Streites ist der Dreißigjährige Krieg ausgebrochen. Die tschechischen Stände wählten als König den Kurfürsten von Rheinland-Pfalz, Friedrich V., den „Winterkönig". Nachdem die Habsburger dessen Heer auf dem Weißen Berg vernichtet hatten, blieben sie die unbestrittenen Herrscher des Landes und haben die gnadenlose 3 Ehrlich

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Ausrottung der Protestanten und der anderen Nichtkatholiken begonnen, die in milderen Formen bis zur Herrschaft Joseph II. gedauert hat. Wer sein Leben retten wollte, musste auswandern. Der Adel und die Gelehrten wurden vernichtet, die Bevölkerung ist auf 780.000 Menschen gesunken, das geistige Leben wurde fast gänzlich erstickt, ein einzelner Jesuit hat damit geprahlt, er allein habe 60.000 tschechische Bücher verbrannt. Die Landesverfassung wurde nicht beachtet („wurde eine Meinung"). Das tschechische Volk wurde zu einem Volk von Bauern, Tagelöhnern und Dienstboten, ohne jede Kultur gemacht. Einige bedeutendere Persönlichkeiten wirkten im Ausland, wie z. B. der berühmte Pädagoge Commenius; wer in seinem Bereich in der Heimat arbeiten wollte, machte es auf Deutsch. Vergleichbare religiöse Verfolgungen haben auch in Frankreich, auch in England und Spanien nicht gefehlt, sie waren eher noch roher. Unter den Vertretern der großen Weltreligionen, mit Ausnahme der Juden, denen die Kraft dazu fehlte, können sich nur die Buddhisten damit rühmen, dass für ihren Glauben kein Tropfen Blut geflossen ist, und auch das ist nicht ganz wahr. Jahrhunderte hindurch haben die Juden ebenso schwer gelitten. Den Protestanten ist es auch auf den deutschen Besitztümern der Habsburger so gegangen. Charakteristisch für die Verfolgungen der böhmischen Protestanten war die Tatsache, dass sie, obwohl sie gegen einen religiösen Glauben gerichtet waren, in Wahrheit ein ganzes Volk trafen, das groß, gebildet, auf dem Weg des Fortschrittes und seiner Nationalität bewusst war. Damit kann nur die Verfolgung der Katholiken in Irland verglichen werden, die übrigens dieselben Folgen gehabt hat. Die Tschechen haben nicht vergessen, was ihnen die Habsburger angetan haben. Als die furchtbare Verfolgung am Ende des 18. Jh. aufhört, bewegt sich das intellektuelle Leben und entfesselt unvorstellbare politische, wirtschaftliche und kulturelle Kräfte. Diese Wiedergeburt findet mit einer noch nie erlebten Geschwindigkeit statt und ist gegen Österreich gerichtet. Als Slawen suchen die Tschechen in der Politik Unterstützung bei den Russen und erklären sich teilweise zu Anhängern des Panslawismus, eben um die Eigenständigkeit gegenüber Österreich zu unterstreichen. Kunst, Wissenschaft und Literatur blühen, aber es ist selten, wenn ein gutes Wort über Österreich fällt, wie das viel zitierte vom Vater der Nation, Palacky. Auch die Verbindung mit der glorreichen, unabhängigen und national autonomen Vergangenheit wird hergestellt. Volksheld wird nicht irgendein tapferer Krieger, sondern der große König Podebrand, eine der interessantesten Erscheinungen der Weltgeschichte. Dieser hat in seinem Königreich zum ersten Mal in der Weltgeschichte das Prinzip der religiösen Gleichberechtigung eingeführt, wenigstens zwischen Katholiken und Hussiten, und hat im 14. Jh. ein Bündnissystem der europäischen Staaten konzipiert, offensichtlich mit dem Ziel, sich gegen die Türken zu wehren. Er versuchte, durch Verhandlungen dieses Bündnis auch in die Tat umzusetzen, ohne Erfolg jedoch, denn das Europa seiner Zeit war nicht auf seinem Niveau. Diese gleichzeitig nationalen wie liberalen Ideen der tschechischen Bewegung wurden seit 1895 vom tschechischen Präsidenten Masaryk weithin bekannt ge-

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macht in seinem Werk: Ceska otazkä (Die tschechische Frage). Oft scheint es, als würden die Tschechen gegen das Zugeständnis einer umfassenden Autonomie eine Aussöhnung mit Österreich akzeptieren. Masaryk vertritt diesen Standpunkt, was aber nicht eine richtige Aussöhnung bedeutet, sondern den Willen, die Kräfte nicht in einem zwecklosen Kampf zu zersplittern. Die Masse lauerte ständig auf die geeignete Gelegenheit. Diese Gelegenheit war der Krieg. Die tschechischen Politiker treten mit den Alliierten in Verbindung, die tschechischen Soldaten und Offiziere kämpfen im österreichischen Heer für Russland und Italien und nehmen ihm die innere Kraft, zerstören es, laufen massenweise zum Feind über. So sieht der Sieg vom Weißen Berg nach 300 Jahren aus. Die Habsburger haben 1620 dieselbe politische Kunst bewiesen, auch für die Zukunft den Sieg zu bewahren, wie die Deutschen nach 1871. Eine solche Weisheit hat sich bis heute noch nicht gezeigt. Vielleicht kann man für die Zukunft an dieses Fehlen die Hoffnung knüpfen, dass die Weltgeschichte sich einen anderen Gerichtshof suchen wird. Ganz unterschiedlich im Vergleich mit den Ungarn und mit den Tschechen haben sich die Habsburger zu den Südslawen verhalten. Wie wir sehen konnten, war der Grund, weshalb die Ungarn und Tschechen den jungen Sohn Maximilians zum König gewählt haben und mit den deutschen Ländern der Habsburger und dem Römischen Reich in Kontakt traten, die Angst vor den Türken nach der Schlacht von Mohacs. So war über drei Jahrhunderte lang auch ihre Außenpolitik gegen die Türken gerichtet, von denen es ihnen gelang zurückzugewinnen, was sie verloren hatten, und ihren Vormarsch zu stoppen. In der Folge waren dann die slawischen Völker ihre natürlichen Verbündeten. Im 18. Jh. erfreute sich Österreich unter diesen einer großen Popularität. Wenn Österreich die Politik Karl VI. und des Prinzen Eugen von Savoyen weitergeführt hätte und die Interessen der Rumänen, Jugoslawen und Griechen unterstützt hätte bei der Befreiung vom türkischen Joch, wäre der Einfluss Russlands leicht vom Balkan entfernt worden. Im entscheidenden Augenblick hat ihnen aber ein böser Geist einen schlechten Staatsmann gegeben, den Aristokraten Metternich, der die richtige Politik genau so gut kannte wie auch andere große Staatsmänner. Sein Ziel war, jene Throne zu stärken, die seit der Französischen Revolution unsicher waren. Dies wollte er aber nicht mit Hilfe einer guten Regierung machen, sondern indem er die liberalen Tendenzen bekämpfte und das Prinzip der Legitimität bewahrte. Dieses Prinzip verlangte aber auch die Erhaltung der Türkei, die Ruine eines barbarischen Raubstaates. In diese Richtung hat Metternich die Politik Österreichs fixiert, die Jahrhunderte lang bis zum Frieden von Bukarest, dem Ende des ersten3 Balkankrieges, unverändert geblieben ist. Der türkischen Legitimität zuliebe hat Österreich der Reihe nach die Unabhängigkeitsbestrebungen der Griechen, Rumänen, Serben, Bulgaren bekämpft und hat all diese Völker daran gewöhnt, woanders Unterstützung zu finden. Die Slawen besonders bei den Russen, denen es leicht war, Österreich als ihren berüchtigten 3 In Wirklichkeit: des zweiten Balkankrieges (M.R.). 3*

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Feind darzustellen. Einmal diesen Weg eingeschlagen blieb Österreich auf ihm auch dann noch, als das Legitimitätsprinzip schon längst seine Unantastbarkeit verloren hatte: Österreich sah sich gezwungen, die Türkei zu unterstützen, um sie als Hindernis für den ständig wachsenden Einfluss der Russen auf dem Balkan und als Hindernis der Feindschaft der Völker dieser Halbinsel zu nutzen. Nach der Niederlage der Türken im Kriege mit den Russen machte dies keinen Sinn mehr. Aber anstatt jetzt wenigstens die Balkanvölker zu unterstützen, begannen die Intrigen der Diplomatie. Mal wurde Serbien gegen Bulgarien aufgehetzt, mal Bulgarien gegen Serbien, mal Rumänien gegen beide. Letztlich waren alle beleidigt und Österreich verlor auch die letzte Spur von Vertrauen, das man ihm gegenüber haben konnte. Während des Balkankrieges trat Österreich wieder auf die Seite der Türkei, und weil der Krieg ganz anders verlief, als man erwartet hatte, mischte sich Österreich in allerhand dumme Intrigen gegen Serbien und Rumänien ein und unterstützte erfolglos Bulgarien. Dadurch verbesserte sich die Lage Österreichs selbstverständlich nicht. Diese Politik, infolge derer das Reich alles verlor, was es im 18. und 19. Jh. gewonnen hatte, war nicht nur kleinlich, sondern auch besonders dumm, weil sie auf die eigenen Jugoslawen Auswirkungen haben musste. Diese bildeten drei Völker: die Slowenen, die Kroaten und die Serben. Nur die Slowenen lebten allein innerhalb Österreichs. Die Kroaten lebten auch im Königreich Kroatien und in Slawonien und die Serben in Montenegro und in Serbien. Nach dem Anschluss der Herzegowina lebten fast alle Kroaten in der Monarchie. Die Folge war, dass die Jugoslawen vor dem Krieg zu sieben oder immerhin sechs Staatenkonföderationen gehörten: Österreich, Ungarn, Kroatien und Slowenien, Serbien, Montenegro und, bis zum Balkankrieg, die Türkei. Ein Staatsmann musste erkennen, dass diese Situation nicht von Dauer sein konnte, und hätte eine gewisse Lösung angestrebt. Für diese existierten drei Möglichkeiten, die den politischen Strömungen entsprachen, die unter den Jugoslawen existierten: Durch Sprache und Ursprung sind die Serben und die Kroaten verbunden. Die serbische Sprache unterscheidet sich von der kroatischen nur durch die Schrift (die erste slawisch, die zweite lateinisch) sowie durch drei, vier Wörter. Trotzdem gibt es zwischen ihnen große Unterschiede. Die Serben sind griechisch-orthodox und die Kroaten römisch-katholisch. Die Serben gehören zum östlichen Einflusskreis, während die Kroaten unter dem Einfluss des Abendlandes stehen. Auch die sozialen Beziehungen sind verschieden. Der serbische Adel wurde größtenteils von den Türken vernichtet, der Rest ist zum Islam und zur türkischen Nationalität übergetreten, so dass die Serben ein Bauernvolk geworden sind. Unter Österreich haben die Kroaten ihren alten Adel bewahrt und sind oft Stadtbewohner geworden. Diese Kontraste führten zu einer Feindschaft, die bis heute lebendig ist. Es sind nicht nur zwei Völker, sondern auch zwei Nationen. Bis ins 19. Jh. haben sich die Slowenen wenig national geäußert. Seit dann hat sich auch bei ihnen ein starkes Nationalgefühl entwickelt. Sie sind katholisch und stehen auch ansonsten den Kroaten viel näher als den Serben.

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Im 19. Jh. hatten unter den österreichischen Südslawen zwei politische Richtungen einen gewissen Einfluss: Eine, die die Vereinigung aller Kroaten und Slowenen in einem einzigen Staat, einem Großkroatien unter den Habsburgern verlangte, und eine andere, die in diese Gemeinschaft auch die Serben, also alle österreichischen Jugoslawen einbeziehen wollte. Ihnen gegenüber stand eine dritte Richtung, die dem Fürstentum und späteren Königreich Serbien die Rolle eines Piemonts zuschreiben wollte und den Anschluss aller Serben, sowohl österreichischer wie auch türkischer, oder aber die Vereinigung aller Jugoslawen erstrebte. Folglich waren die ersten beiden Österreich freundlich und die letzten beiden ihm feindlich gesinnt, so dass letztere bei Russland Unterstützung gefunden haben. Die österreichische Regierung hatte also den Weg vorherbestimmt. Sie musste zwischen den beiden ersten Varianten wählen. Großkroatien hatte große Vorteile. Vor allem waren die Kroaten unter den Völkern der Monarchie vielleicht die einzigen, die keine Hintergedanken den Habsburger gegenüber hegten, und nur sie blieben unter den Slawen bis zum Ende des Krieges den Habsburgern treu. Dies entsprach alter Kampftradition: Wallenstein, dessen Elitetruppen sie gebildet haben, und Eugen von Savoyen, unter dessen Fahne sie begeistert gegen die Türken gekämpft haben. Auch weil sie eifrige Katholiken sind, fühlten sie sich von den Habsburgern angezogen. Letztlich kamen mit der Besetzung Bosniens alle Kroaten unter österreichische Herrschaft. Wenn die bosnische Frage einen Sinn haben sollte, so konnte dieser nur in der Bildung (zusammen mit den österreichischen Kroaten) eines Großkroatiens liegen. Der einzige Nachteil dieser Lösung wäre gewesen, dass die österreichischen und ungarischen Serben dann allein geblieben wären und auf das unabhängige Serbien hätten schauen müssen. Die zweite illyrische Lösung war ohne Zweifel mutiger, aber unvergleichbar schwieriger; denn erstens hätten die Serben und die Kroaten ihren alten Hass vergessen müssen, den sie übrigens nicht einmal heute in ihrem gemeinsamen Staat vergessen haben, und zweitens hätte Österreich auch Serbien und die serbischen Gebiete aus der Türkei annektieren müssen. Letzteres schien nicht eben ohne Chancen. Schon seit den Türkenkriegen hatte Österreich viele Anhänger unter den Serben aus Serbien und der Türkei. Zweimal wurde Serbien den Habsburgern angeboten, und zwar unter dem Fürsten Alexander Karagheorghevici und unter Milan Obrenovici. Hätte man damals dem serbischen Volk in Österreich eine bessere Stellung eingeräumt, so hätte sich dieses auf die Seite Österreichs gestellt. So wenigstens lauten die Versicherungen verschiedener Quellen. Nichts von alledem ist geschehen. Die Politik Österreichs und Ungarns den Südslawen gegenüber kann nur dann verstanden werden, wenn man vom Sprichwort ausgeht: „Wenn Gott jemanden vernichten will, dann nimmt er ihm zuerst den Verstand". Es gibt keine Torheit, die nicht gemacht worden wäre. All das, was hätte nützlich sein können, wurde beiseite gelassen. Zuerst etwas, was wie ein schlechter Scherz klingt: seinem großen Titel entsprechend ist der ungarische König auch König von Bosnien, Herzegowina, Dalmatien, so wie er übrigens auch König von Serbien, Bulgarien, Kumanien (Rumänien) ist. Jeder weiß, was diese Titel bedeuten: weniger als nichts. Der Kaiser von Österreich war doch auch König von

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Zypern und Jerusalem, und sowohl England als auch die Türkei ließen sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Die Ungarn fanden aber hier den Anlass, auf Bosnien, Herzegowina und Dalmatien Anspruch zu erheben. Wenn sie wenigstens dabei geblieben wären. Was aber sehr interessant ist, ist die Tatsache, dass sie zur gleichen Zeit diese Länder nicht wünschten. Sicher hatten sie guten Grund dafür, denn ohnehin waren sie bei sich zu Hause eine Minderheit. Wenn jetzt auch noch diese Länder mit ausschließlich slawischer Bevölkerung dazugekommen wären, hätten sie ihre vorherrschende Stellung verloren. Ihre „Ansprüche" verfolgten lediglich das Ziel, Verlegenheiten hervorzurufen. Zum Beispiel: Dalmatien war vom österreichischen Territorium durch Kroatien getrennt, das zu Ungarn gehörte. Die Österreicher brauchten unbedingt eine Eisenbahnverbindung mit Dalmatien. Die Ungarn wollten diese Verbindung nicht herstellen, eben um die Annäherung Dalmatiens an Österreich nicht zu unterstützen, und verurteilten so dieses von Gott gesegnete Land fast zum Tode. Andererseits brauchte Ungarn eine Eisenbahnverbindung mit Deutschland durch Österreich über Annaberg. Die Österreicher wollten sie nicht bauen, bis sie nicht die Verbindung mit Dalmatien hatten. Endlich kam es zu einem Abkommen, nach dem beide Seiten ihre Verbindungen bauen sollten. Die Ungarn kamen aber nie über die Vorbereitungsarbeiten hinaus, die sie besonders gründlich haben wollten, während sie bis heute keine Verbindung zu Deutschland über Annaberg haben. Ursache dafür ist nur die Tatsache, dass im langen Titel des apostolischen Königs von Ungarn auch Dalmatien vorkommt. Ähnliche Ansprüche hatten sie auch auf Galizien. Weil aber zwischen Ungarn und Galizien ein Streifen ungarischen Bodens fehlte, konnten diese für nichts gut sein. Diese Ansprüche wurden trotzdem erwähnt, weil man hoffte, dass sie einmal zu etwas nützlich sein werden. Daraus kann man sehen, ob eine gerechte Lösung der jugoslawischen Frage im Einverständnis mit den Ungarn vorstellbar gewesen wäre; also die Schaffung von günstigen Entwicklungsmöglichkeiten. Die Ungarn wollten alle Entwicklungsmöglichkeiten nur für sich, und dies sahen sie nicht erreichbar durch eigene Kräfte, wie bei jedem zivilisierten Volk, sondern allein durch die Unterdrückung und Ausbeutung oder wenigstens durch die Behinderung anderer Völker. Die jugoslawische Frage war kompromittiert, schon bevor Franz Joseph Kroatien und Slawonien den Ungarn geopfert hat. Beide Länder wurden von den ungarischen Königen schon im Mittelalter erobert, waren aber an Ungarn nur durch Personalunion gebunden. Zusammen mit Ungarn kamen sie unter österreichische Herrschaft und wurden mal als Teil Ungarns, mal als Teil Österreichs betrachtet, fielen den Türken zum Opfer und wurden wieder befreit. Sie bewahrten aber ununterbrochen ihre Autonomie. Kroatien und Slawonien (es ist nur ein Königreich mit zwei Provinzen) werden von Kroaten und Serben bewohnt, die aber nur ein Teil der Kroaten und Serben sind, die in Österreich und Ungarn leben. Folglich würde ein selbstständiges Königreich Kroatien und Slawonien die Trennung der Kroaten und Serben in diesem Königreich von ihren Blutsbrüdern in Österreich bedeuten. Darum haben die Ungarn darauf

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bestanden, dass ein solches Königreich unter ihrer Herrschaft bleibt. Dagegen widersetzten sich mit voller Kraft die Kroaten und Serben, die die Ungarn wie den Teufel hassten. Im Einverständnis mit den Ungarn wurde beschlossen, dass Kroatien und Slawonien als autonomes Königreich bei Ungarn bleiben. Die Kroaten und die Serben, die unter dem Kommando des Banus Jelacic im Jahre 1848 Franz Joseph treu geblieben sind und die aufständischen Ungarn geschlagen haben, bekamen jetzt ihren Lohn. Um die Bewilligung des kroatischen Parlamentes zu erzwingen, das sich mehrmals dagegen ausgesprochen hat, hat der Hof den Baron Rauch zum Banus eingesetzt, der überall ungarnfreundliche Beamte ernannte, die Finanzen Kroatiens dem ungarischen Finanzministerium unterstellte und dem es, mit Hilfe der unerhörtesten Zwänge, Bestechungen, Wahlfälschungen, im Jahre 1868 gelungen ist, ein den Ungarn günstig gestimmtes Parlament einzuberufen. Das Abkommen dieses Parlamentes mit Ungarn ist eines der beispiellosesten der Geschichte. Das ungarische Parlament, das für Ungarn, Kroatien und Slawonien funktionierte, war gebildet aus einer Kammer der Magnaten, der (neben mehreren hundert ungarischen Magnaten und Geistlichen) der Erzbischof, die Bischöfe, der große Abt und zwei kroatische Abgeordnete der kroatischen Kammer angehörten (es hätten auch nur 1,5 sein können!). In der ungarischen Abgeordnetenkammer waren von 413 Mitgliedern 28 (später 34) Abgeordnete, die von der kroatischen Kammer gewählt worden sind. Kroatien hatte im Inneren eine autonome Verwaltung, Autonomie im Kirchenleben, im Lehramt und der Justiz. Die Finanzen blieben beim ungarischen Finanzministerium: 55% kamen nach Budapest und 45 % (garantiert mit 2 V2 und von 1873 an mit 3 V2 Millionen Goldmünzen oder 7 Millionen Kronen) wurden für die besonderen Bedürfnisse des Landes verwendet. Die offizielle Sprache war kroatisch. Die Stadt Fiume, deren Zugehörigkeit umstritten war, wurde Ungarn zugesprochen. Die endgültige Regelung der Beziehung Ungarns mit Kroatien wurde auf später verschoben, was niemals geschehen ist, so dass die Verfassung in nichts verändert wurde. Die Ungarn haben dieses Abkommen auf eine Weise in die Tat umgesetzt, die nicht mit irgendeiner politischen oder öffentlichrechtlichen Theorie erklärt werden kann, sondern nur mit dem Strafgesetzbuch. Einige Beispiele: über die Einnahmen aus Kroatien und Slawonien, von denen 45 % dem Lande verbleiben mussten, hat Kroatien nie eine Abrechnung erhalten. Die Ungarn bezahlten so viel sie wollten und behielten das Restgeld. Die Kenner des Strafrechts mögen sich den Kopf zerbrechen, ob dies Diebstahl oder Unterschlagung war. Ich neige eher zur zweiten Variante. Die Folge davon war, dass das Land von der ungarischen Finanzverwaltung ausgebeutet wurde und sich nicht um die eigenen wirtschaftlichen und kulturellen Interessen kümmern konnte. Während der österreichische Karst befriedigend bewaldet wurde, blieb der kroatische Karst eine Wüste. Die Landwirtschaft und die Schulen sind zurückgeblieben. Die Verfassung der Stadt Fiume mochte verändert werden, die Ungarn aber hatten dort die ungarische Polizei eingeführt und brauchten nicht viel mehr, um die Stadt komplett zu kontrollieren. In der Urkunde über die Stadt Fiume wurden

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einige Wörter beseitigt und durch andere ersetzt. Seton-Watson4 hat dies mit seinen eigenen Augen gesehen, und er ist ein Mensch, in den man volles Vertrauen haben kann. Trotz aller Bemühungen konnten ihn die Ungarn bei keiner Lüge ertappen und mussten bis zuletzt verärgert schweigen. Nach der Eingliederung Kroatiens und Slawoniens in die militärische Grenze stellte sich die Frage, wem die riesigen Walder gehören: sie gehörten dem „Staate", aber welchem Staate? Der ungarischen Krone, die auch Kroatien und Slawonien beherrschte, oder dem Staate Kroatien und Slawonien? Nur ein Gerichtsurteil hätte diesen Fall entscheiden können. Die Ungarn jedoch lehnten einen Gerichtsentscheid ab und nahmen sich die Wälder, was ohne Zweifel Raub ist. Dem Abkommen entsprechend war die offizielle Sprache in Kroatien und Slawonien das Serbokroatische. Aber die Eisenbahnlinien wurden vom ungarischen Staat betrieben, und dieser setzte die ungarische Sprache als Dienstsprache durch, die im Lande von niemandem verstanden wurde oder wenigstens wo niemand die Pflicht hatte, sie zu verstehen, auch nicht die Freunde des Landes, die dort reisten. Usw. dulce in infinitum. Den Rest kann man bei Seton-Watson finden. Hier haben wir kaum einen Teil erwähnt. All dies machte die Leiden der Jugoslawen so groß, dass die Ungarn mit ihnen viel zu tun gehabt hätten, wenn nicht der Krieg ihren Staat vernichtet hätte. Dazu kam auch noch die Besetzung von Bosnien-Herzegowina. Sie hätte selbstverständlich Sinn gemacht, wenn sie der Lösung der jugoslawischen Frage gegolten hätte. Daran haben aber zu jener Stunde weder Franz Joseph noch sein damaliger Außenminister Andrassyi gedacht. Es ging nur um Gebietserweiterung, für einen großen Staatsmann, wie man weiß, das höchste Gefühl. Für den Kaiser war es wichtig, dass er anstelle der beiden verlorenen Provinzen, der Lombardei und Venetien, seinen Nachfolgern zwei andere hinterlassen konnte. Schweine anstelle von Orangen, wie es einmal der verstorbene Abgeordnete Carneri formuliert hat. Solch tiefe Ursachen standen am Anfang einiger Ereignisse, die zur Quelle unendlicher Verwicklungen wurden und letztlich die Ursache des Zusammenbruchs des Kaiserreichs waren. Die Schwierigkeiten begannen, als man entscheiden musste, welches der juridische Status der Provinzen sein sollte, denn die Ungarn wollten sie nicht, weil sie nicht wollten, dass sich die Anzahl der Slawen in ihrem Reichsteil vergrößerte. Den Österreichern wollten sie sie aber auch nicht überlassen, denn sie ließen ihnen nie etwas, ferner befanden sich die beiden Provinzen „im großen Titel". Man hätte sie dem Reich als drittes Glied anschließen können, aber so wäre es zu einem Trialismus gekommen, was die Ungarn nie akzeptiert hätten. Andererseits wäre dies eine vernünftige Lösung der südslawischen Frage gewesen, was aber eben darum ausgeschlossen war. Man hätte sie als Land des Reiches der österreichisch-ungarischen Monarchie anschließen können, was aber nicht möglich war, denn der unga4

R.W. Seton-Watson, Die südslawische Frage im Habsburger Reiche, Berlin 1913.

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rischen Verfassung nach existierte eine solche Monarchie nicht. Sie existierte nur in den Verträgen zwischen den Ungarn und der Monarchie. Darum wurde alles in der Schwebe gelassen, was bedeutete, dass für das Regieren der beiden Länder keine konstitutionelle Form bestimmt wurde. Dies hat sich nicht verändert, bis die Besetzung (Okkupation) durch die Annexion ersetzt wurde. Zwar haben Bosnien und Herzegowina eine Landesversammlung erhalten, dieser aber entgingen die für die Gemeinschaft wichtigsten Fragen, eben weil keine Form existierte. Die Folge davon war, dass die Provinzen, mit oder ohne Versammlung, auf absolute Weise vom gemeinsamen Finanzministerium in Wien regiert wurden. Also von Ungarn. Denn sowohl von Kailay, der erste gemeinsame Finanzminister, der die Regierung und Verwaltung organisiert hat, wie auch die meisten seiner Nachfolger waren Ungarn. Wenn auch ab und zu ein Pole Finanzminister wurde, war der Unterschied nicht groß. Einige haben die Resultate als großartig charakterisiert, andere sprachen von Potemkinschen Dörfern. Überall, auch in Griechenland, in Serbien und in Bulgarien hat man gesehen, dass ein von den Türken befreites und einer zivilisierten Regierung unterstelltes Land Fortschritte macht, als ob es verzauberte Stiefel tragen würde. Aber wir wissen auch, was die ungarische Herrschaft bedeutet. Alles wird so gemacht, wie es den Ungarn passt. Die Bevölkerung wird von niemandem gefragt. Ein Blick auf die Karte der Eisenbahnlinie zeigt, dass sich die Ungarn nicht anders benommen haben, als sie es gewöhnlich taten: nach Bosnien kann man nur über Budapest fahren; man sorgte lange Zeit hindurch nicht für eine Verbindung mit der so nahe liegenden Adriaküste. Charakteristisch ist die Haltung der ungarischen Regierung der bosnischen Nation gegenüber. Weil es im Interesse der Ungarn war, dass sich die Slawen, Serben und Kroaten nicht entwickelten, stützte sich die Regierung auf die Mahomedaner, die sie mit allen Mitteln unterstützte. Nicht nur, dass diese eine Minderheit darstellten, sie waren auch im Vergleich mit den anderen zurückgeblieben. Ihr einziges Verdienst war, dass sie auf ihrer Seite die Bei, den Landadel hatten, der früher zum Islam übergetreten ist, um seinen Besitz zu retten. Darum wurde die lebenswichtige Frage der beiden Provinzen, die Frage der Kmeten, so gelöst, wie es die Bei's, folglich auch die Ungarn wünschten. Nach dem Plan des Finanzministers Burian, ein Ungar, wären die Kmeten erst in ungefähr hundert Jahren entschuldet gewesen. All dies führte dazu, dass Bosnien und Herzegowina kochten. So dass dann, als die Annexion dekretiert wurde, nicht nur die Kroaten und Serben, sondern auch die Mahomedaner entschieden dagegen waren. In diesem Hexenkessel wurde der Weltkrieg gekocht. Die beiden Provinzen, die Franz Joseph seinen Nachfolgern hinterlassen wollte, haben sein Reich aufgefressen. So sehen auch die großen diplomatischen Siege nach einem halben Jahrhundert aus. Die italienische Frage konnte auch von besseren Staatsmännern als den Österreichern nicht zu Gunsten Österreichs gelöst werden. Wir müssen mit Kleinwächter (S. 185 f.) übereinstimmen, dass die Ruhe nur hergestellt werden konnte, wenn man freiwillig Italien seine italienischen Provinzen zurückgab, mit Ausnahme von Trieste und Fiume, die als Hafenstädte für Österreich unentbehrlich waren. Die ita-

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lienische Nationalbewegung, il Risorgimento, hat schon im 16. Jh. begonnen. Nach den Tschechen sind die Italiener das erste Volk, das ein Nationalgefühl entwickelt hat. Im 17. und 18. Jh. dehnt sich die Bewegung auf Südtirol aus. Dies ist selbstverständlich. Wie konnte sie ihren Zauber nicht auf österreichische Italiener ausüben, wenn eine jede gefühlvolle Seele sich vor die Wahl gestellt für Italien aussprechen würde. Vor Kurzem habe ich bei einem englischen Autor das großartige Wort gelesen: Out of Italy don't know how vulgär a world is. Um die Mitte des 18. Jh. hat ein Dichter aus Tirol, dessen Name mir jetzt entgeht, dem italienischen Dichter Marochesi ein Sonnet gewidmet, das ich aus dem Gedächtnis wiedergebe, eben wegen seiner Bedeutung: Del Tirolo al governo, o Marochesi, Für queste valli sol per accidente Suddite un di; del rimanimente Italiani siam noi, non Tirolesi. E che in giuzdizio dei poeti... Tu non la sbagli colla losca gente Chi le cose confonde ed il ver non sente Una certa regolo io qui stesi: Quando verrei in parte, dove il sermone Trovi un urlo canglato, torrido il suole II sol in capricorno in ogni stagione, De manzi e carettieri immenso stuolo, Le case aguzze, tonde le persone: Allor di francamento: ecco il Tirolo.

Diese Verse zeugen nicht eben für eine große Heimatliebe. Die Wörter Italiani siam noi, non Tirolesi, wurden seitdem zur politischen Losung. Als der Wiener Kongress Österreich Venetien und die Lombardei zugesprochen hat, hat er Österreich ein Dornenbett bereitet. Norditalien, eines der ersten Länder der Welt, was die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung betrifft, sollte von Österreich regiert werden, das nicht einmal mit seinen Ungarn zurechtkam. Ein österreichischer Staatsmann hätte erkennen müssen, dass er vor einer verzweifelten Aufgabe stand, und hätte versuchen müssen, sie wenigstens zu begreifen. Noch im Mittelalter befanden sich in der Lombardei Überbleibsel der kaisertreuen Partei, die zum österreichischen Kaiser wie zum Nachfolger der römischen Cäsaren schauten, ihn als Nachfolger der Hohenstaufen, des Friedrich Barbarossa und Friedrich II. betrachteten. Dante hat nicht umsonst die Divina Comedia und De Monarchia geschrieben. Ein Staatsmann hätte mit diesen Elementen gearbeitet, sie wären wenigstens die historische Grundlage gewesen für eine österreichische Partei. Auch hätte man auf die Forderungen nach geistigem Leben hören sollen. Schon im Mittelalter hat sich die italienische Wissenschaft, Kunst und Kultur auf Mäzene gestützt. Das wunderbare Erblühen der Renaissance ist weitgehend dem Mäzenatentum zu verdanken. Die Italiener haben die Unterstützung eines Mäzens stets

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begrüßt. Unter dem literarisch und künstlerisch so begabten italienischen Volk wäre es nicht schwer gewesen, eine Reihe von Persönlichkeiten zu finden, die die Idee vertraten, dass die italienische Nationalbewegung am besten mit der Idee eines mächtigen Reiches zusammengeht. Man hätte an die Taten Maria Theresias und Joseph II. anknüpfen und die Bauernfrage lösen können, indem man den Bauern, der seinen Boden nur zur Pacht hatte, zum Eigentümer dieses Bodens machte, und zwar mit einer fetten Entschädigung aus der Staatskasse für den früheren Eigentümer. Auf diese Weise hätte die österreichische Regierung die Masse der Bauern sowie die größtenteils liberalen Intellektuellen und das städtische Bürgertum für sich gewinnen können. Die österreichische Regierung ist jedoch, man könnte fast sagen: verständlicherweise, den dümmsten Weg gegangen. Sie hat begonnen mit der Ausbeutung der beiden reichen Provinzen zugunsten des nimmersatten Fiskus. Wenn die Unzufriedenheit stieg, ließ sie die Polizei eingreifen. Anstatt (wie die Medici oder Sforza) die Poeten, Künstler, und Wissenschaftler zu subventionieren, unterhielt die österreichische Regierung Horden von Spionen und Verrätern, Polizisten und Spitzeln, die in Italien niemals fehlen und die für das erhaltene Geld auch tätig werden mussten. In jeder geistigen Bewegung vermutete man eine offene Rebellion, Zeitungen und Bücher wurden verboten, im sozialen Leben griffen Verdächtigungen um sich, Schriftsteller und Dichter wurden verhaftet. In Kürze hatte Österreich niemanden mehr in Italien auf seiner Seite, mit Ausnahme des klerikalen Adels und jener, die Österreich bezahlte. Der damals entzündete Hass dauert bis in unsere Tage. Es wäre interessant festzustellen, wie viel vom Anteil Italiens am Kriegsausbruch Silvio Pellico zukommt, der 1820 zu Tode verurteilt worden ist, ohne dass man richtig wusste, warum, um dann „begnadigt" zu werden. Die Strafe wurde in 15 Jahre Haft umgewandelt, von denen er 10 in Spielberg (Brünn) verbracht hat. Sein Buch Le mie prigioni, in dem er seine Haft beschreibt, wird in Italien als ein Klassiker betrachtet und Bruchstücke davon sind in die Schulbücher gewandert. Ein Volk verzeiht nur schwer den Angriff auf seine geistigen Führer. Die letzten Ghibellinen haben die Österreicher aus Italien vertrieben. Der Hass gegen alles, was österreichisch war, hat diejenigen Italiener erfasst, die seit längerer Zeit Österreich Untertan waren. Für Österreich wäre es ein großes Glück gewesen, wenn es nach den Kriegen von 1859 und 1866 mit der Lombardei und Venedig auch seine anderen italienischen Besitztümer verloren hätte. Aber zu seinem Unglück hat Österreich 1866 den Krieg mit Italien gewonnen und Südtirol sowie die italienischen Gebiete von Gorizia und Triest behalten, die Ursache für alle späteren Streitereien mit dem italienischen Königreich. Noch ein Beweis für die Art, wie sich die schönsten Siege in der Geschichte widerspiegeln. Im Laufe der Zeit haben die politischen Verfolgungen aufgehört. Sogar die Irredenta-Bewegung konnte ziemlich offen agieren. Auch wirtschaftlich ist es den Italienern nicht schlecht gegangen. Triest als einziger österreichischer Hafen und Fiume als einziger ungarischer Hafen wurden mit allen Mitteln ausgestattet; die Tiroler Bauern, von Zöllen verschont, konnten ihre Weine um Preise verkaufen,

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die sie niemals in Italien bekommen hätten. Es ist klar, dass die österreichische Verwaltung hoch über der italienischen stand, und der Arbeiter konnte die Arbeitergesetze über Krankenversicherung und Unfallversicherung nutzen, die in Italien fehlten. All dies war den österreichischen Italienern wohl bekannt. Es ist aber ein großer Fehler zu glauben, dass man Völker, in denen das Nationalgefühl entfacht wurde, noch mit wirtschaftlichen oder anderen Erleichterungen beruhigen könne. Die österreichischen Italiener wollten zu Italien gehören. Nichts konnte dagegen gemacht werden. In der Forderung nach eigener Jurafakultät fanden sie ein wichtiges Agitationsmittel. Sie wurde ihnen zugestanden, aber man musste einen Sitz dafür festlegen. Die Italiener schlugen Triest oder Trient vor, aber die Regierung wollte das nicht, „um die Entstehung eines Zentrums irredentistischer Unruhen zu vermeiden"; als ob solche Unruheherde gefehlt hätten oder nicht in einer italienischen Hochschule hätten ausbrechen können; ob in Triest, Trient oder in jeder anderen italienischen Stadt. Schließlich hat man dafür in Wilten-Innsbruck Platz gemacht. Das aber löste eine große Begeisterung bei den deutschen Studenten der Universität Innsbruck aus, die sich zu einer grandiosen Tat entschlossen. Sie stürmten in der Nacht, gleich nach der Eröffnung, das Gebäude der italienischen Jurafakultät, zerstörten alles, so dass keine Bank ganz blieb, und belagerten die italienischen Studenten, die sich, ohne was zu ahnen, bei einem feierlichen Bankett befanden. Dann schoss einer der Gäste, wahrscheinlich ohne jede Erfahrung in solcher Staatskunst, einen deutschen Studenten tot. Dadurch kam Innsbruck nicht mehr in Frage. Den Professoren wurde gekündigt; einer befand sich im Jahre 1913 in England. Die Idee der Fakultät, aber nicht auch die Fakultät selbst, reiste nach Roveredo, dann nach Wien, wo die Regierung eine Gründung zwar versprach, aber nichts dafür tat. Als offensichtlich wurde, dass sie auch nichts tun wollte, erregte das die Italiener mehr, als wenn sie das öffentlich abgelehnt hätte. Mehr noch: die italienischen Studenten wurden bei den deutschsprachigen Universitäten in Österreich, die sie jetzt besuchen mussten, schikaniert. Ohnehin hätte eine italienische Jurafakultät den Österreichern nicht viel geholfen in ihren Beziehungen mit den Italienern, auch wenn diese gegründet worden wäre. Österreich wäre aber mindestens salonfähiger gestürzt. Galizien nannte man den Teil Polens, der bei der Teilung des Landes Österreich zugesprochen wurde. Seinen Namen erhielt Galizien von den Österreichern, und zwar nach dem ukrainischen Fürstentum Halici, das im 14. und 15. Jh. unabhängig blieb und danach für kurze Zeit zu Ungarn gehörte, bevor es Polen einverleibt wurde. Das Land Galizien ist im Westen überwiegend von Polen bewohnt, im Osten vorwiegend von Ukrainern, aber die Großgrundbesitzer und ein Teil der Stadtbewohner sind auch im Osten Polen, während ein anderer Teil der Stadtbewohner Juden sind, weil die Ukrainer seltener in Städten wohnen. Das Verhältnis von den Polen zu den Ukrainern ist 2/5 zu 3/5. Neben dem, dass die Ukrainer Bauern sind, weil ihre Adligen sich den Polen, noch in der Zeit der Republik, angeschlossen hatten und auch ein städtisches Bürgertum sich nicht bilden konnte,

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gehören sie der uniierten griechisch-katholischen Kirche an, zu welcher die Polen sie schon im 14. Jh. von ihrem griechisch-orthodoxen Glauben bekehrten, während die Polen römisch-katholisch waren. Obwohl die Unterschiede nur in der Liturgie bestehen und in der Kirchendisziplin (z. B. können die verheirateten Pfarrer in der Hierarchie aufsteigen, so dass fast der ganze Klerus verheiratet ist), empfindet das Volk dies als einen religiösen Unterschied. Polnische Sympathien hatten in Galizien nur der Kleinadel und die polnischen Stadtbewohner; der Bauer, egal ob Pole oder Ukrainer, konnte nicht das grausame Joch vergessen, unter welchem er in den Zeiten der polnischen Republik gelitten hat. Der polnische Großadel hatte sich schnell mit der österreichischen Herrschaft versöhnt. Trotzdem wurden die Polen während der Widerstandsbewegung zwischen 1830 und 1863 von der Regierung bekämpft. Die Bewegung hatte sich meistens gegen Russland gerichtet, aber sie hat auch die Herrschaft über Galizien gefährdet. Die Bauernschaft, die damals noch an die Scholle gebunden war, fand in der österreichischen Autorität einen Schutz gegen die Grundbesitzer und stellte sich auf die Seite des Kaisers. Als 1846 in West-Galizien ein Aufstand auszubrechen drohte, genügte ein Zeichen aus Wien, damit die polnischen (und nicht die ukrainischen) Bauern die Höfe der Adeligen angriffen. Die berühmte Beschuldigungshymne von Ujejski, die mit den Worten „mit dem Rauch der verbrannten Häuser, mit dem Dampf von brüderlichem Blut, ertönt diese Stimme - zu Dir, Gott" beginnt, steht im Zusammenhang mit diesen Ereignissen. Die Treue des Bauerntums dem Kaiserhaus gegenüber ist 1848 gewachsen, als zweifellos dank der Revolution die Bauern befreit und die Grundentlastung durchgeführt wurde. Diese wurde vor allem im Westen zum Nachteil der Bauern durchgeführt, da man ihnen, unter verschiedenen Vorwänden, ihre alten Rechte auf Wald und Weide weggnahm, was zu Unruhen führte, die blutig unterdrückt wurden. Die Bauern meinten aber, dass alles Gute vom Kaiser kam, und schrieben alle Auswüchse den Beamten zu. Wenn ein Bauer glaubte, dass ihm Unrecht angetan wurde, war sein erster Gedanke, beim Kaiser eine Audienz zu erbitten. Als nach 1863 den Polen klar wurde, dass ohne die Unterstützung der Adligen oder Bauern ihre Versuche, die Unabhängigkeit durch Aufstände zu erkämpfen, hoffnungslos waren, sahen sie kein Hindernis mehr gegen ein Abkommen mit Österreich. Die Führung wurde von der konservativen und klerikalen Partei aus Krakau übernommen, den sogenannten Stanczyki, die immer gegen Aufstände waren. Diese Partei hat fast den gesamten Adel aus Ost-Galizien eingegliedert. Die anderen polnischen Parteien, die eigentlich auch alle konservativ und klerikal waren, ließen sich gern nachziehen. Nach dem Abschluss des Vertrags mit Ungarn sah das Kabinett Auersperg, das sich für Zentralisierung und Germanisierung einsetzte, ein, dass es unmöglich war, gegen alle österreichischen Völker anzukämpfen. Von einer Germanisierung Galiziens konnte man deshalb nicht sprechen, und die Deutschen verfolgten dieses Ziel auch nicht, so dass mit der Genehmigung des Kaisers, der sehr gut mit den Aristokraten auskam, ein Abkommen mit den Polen unterschrieben wurde. Durch einen kaiserlichen Erlass, eigentlich komplett außer-

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halb des Gesetzes, wurde die polnische Sprache als offizielle Sprache für alle Staatsämter eingeführt. Dadurch erhielt Galizien die vollständige Autonomie. Die deutschen Beamten wurden schrittweise zurückgezogen und durch Polen ersetzt. Wenn eine Streitfrage nach Wien als dritte Instanz kam, wurde die Sache einem polnischen Referenten geschickt, denn nur dieser konnte den polnischen Akt verstehen. Der Gouverneur von Galizien war von da an bis zum Ende der Monarchie ein Pole. Das Wahlgesetz für das Parlament und die Provinzialkammer förderte die Polen stark. Ein Drittel der Sitze war gemäß der Verfassung den Großgrundbesitzern reserviert, die immer für die polnischen Konservativen und Geistlichen stimmten; was die Städte und die Dörfer betrifft, übten sie die polnische Art des Wahlkampfes, die sich nicht groß von der ungarischen unterschied. Aus den Städten, wo der alte polnische revolutionäre Patriotismus noch einige Parteigänger hatte, die aber unter jüdischem Einfluss manche liberale Meinungen äußerten, und aus den Dörfern, in denen ab und zu ein Ukrainer oder ein demokratischer Bauer siegte, kamen gelegentlich „unordentliche" Elemente ins Parlament oder in die Kammer, aber wenige, und darum leicht zu kontrollieren. In der Abgeordnetenkammer bildeten die Vertreter Galiziens, manchmal unterstützt von einigen polnischen Abgeordneten aus Schlesien, einen Klub, der gewöhnlich 60 Mitglieder hatte. Nur gegen Ende traten manche sozialdemokratische Abgeordnete oder Bauern aus, was keine große Bedeutung hatte. Der Klub schrieb seinen Mitgliedern die Stimmabgabe vor und stimmte wie ein einziger Mann. So gewann er die Vorherrschaft im Parlament. Jede Regierung musste auf ihn achten, doch stand er auch jeder Regierung zur Verfügung. Er blieb nur kurze Zeit in Opposition, bis er bekam, was er verlangte. Der Wunsch des Kaisers war ihm Befehl. Und mit Recht, denn er konnte sich auf den Souverän verlassen. Auch war er jederzeit seine sicherste Unterstützung. Darum zeigten sich die Polen am Anfang uninteressiert und offen gegen jede Ausdehnung der Autonomie der Kronländer. Was sie sich einmal wünschten, erhielten sie: Galizien wurde ein fast unabhängiges polnisches Königreich. Eine Schwächung des Parlaments oder der Regierung zugunsten eines anderen Kronlandes erlitten sie nicht. Sie verfolgten eine äußerst egoistische Politik und für ihre Unterstützung forderten sie Vorteile, aber nicht fürs Land, sondern für sich selbst: große Besitztümer, Alkoholbrennereien, Erdöl- und Zuckerindustrie. Dank ihrer Unterstützung ist es den Ungarn gelungen, das Verbot des Viehimports durch das ungarische Parlament zu bringen. Wurden die Polen dadurch gute Österreicher? Es wäre Unsinn, so etwas zu glauben! Die Polen haben für eine Weile ihre Bestrebungen für ein vereinigtes Polen vertagt, aber nicht vergessen. Höchstens hätten sie sich mit einem österreichischen Erzherzog als König zufrieden erklärt. Der Erzherzog Karl Stephan hatte große Aussichten; er hatte Grundbesitz in Galizien, konnte fließend polnisch sprechen, verheiratete seine Töchter mit polnischen Adligen. Er war auch sehr populär. Aber die wichtigen politischen Entscheidungen Polens wurden nicht in Galizien getroffen. Die von Bismarck begonnene und von seinen Nachfolgern fortgeführte Vertreibung der Polen aus Posen löste bei den Polen einen mächtigen Hass auf die

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Deutschen aus und veränderte die Beziehungen zwischen den Polen und den Verbündeten Deutschlands. Nach der Einführung der Verfassung in Russland entstand dort die Partei der Alten Polen, die eine Vereinigung aller Polen unter russischer Herrschaft erstrebte. Die Partei war so tief in Galizien verwurzelt, dass kurz vor dem Krieg Glombinski, der Anführer der Alten Polen, die offensichtlich österreichfeindlich waren, als Minister für die Eisenbahnen ernannt werden musste. Als der Krieg ausbrach, ist die Saat aufgegangen. In der Lage, zwischen Deutschland und Russland zu wählen, haben sich die russische Polen, ohne es lange zu überlegen, an Russland angeschlossen, und haben auch die österreichischen Polen nachgezogen. Russland hat große Möglichkeiten für die Zukunft angeboten, einen unbegrenzten Absatzmarkt für die polnische Industrie, während zur gleichen Zeit Deutschland und Österreich gehasst wurden. Der polnische Staat, von Deutschland und Österreich erfunden, wurde von den Polen boykottiert, und der polnischen Armee fehlten nur die einheimischen Soldaten und Offiziere. Bei der Zersplitterung Österreichs haben sich die Polen mit leichtem Herzen von Österreich getrennt, wie die in Deutschland lebenden Polen von Preußen. Da fast alle Ukrainer an die Scholle gebunden waren, war am Anfang die ukrainische Frage nicht eine nationale, sondern eine rein bäuerliche. So erscheint es auch im Parlament von 1848. Dort hat ein Bauer auf beeindruckende Weise den Status seiner Klasse geschildert. Übrigens war die Lage der polnischen Bauern nicht viel besser. Nach der Befreiung der Bauern hat die deutsche absolutistische Regierung (und nachher die zentralistische) die nationale Bewegung der Ukrainer, damals Ruthenen genannt, unterstützt, nur um die Polen im Zaum zu halten, die sie auf diese Art noch mehr quälte. Die Leitung dieser Bewegung bestand aus der damals noch sehr dünnen, neuen Schicht der Intellektuellen. Das Volk war so arm, dass es nicht in der Lage war, seinen Kindern eine höhere Ausbildung zu ermöglichen. Am Anfang konnte man ihre Ausbildung aus dem Religionsfonds fördern, und später, als dieser verstaatlicht wurde, konnte die unbemittelte Jugend in den vom Staat unterstützten Seminaren lernen. Dann ist auch heimlich eine von den panslawistischen Kreisen und der russischen Regierung unterstützte Bewegung entstanden, die die Lösung nicht in der Entwicklung einer eigenen Nation, sondern in der Beziehung zu Russland suchte. Die leidenschaftlich diskutierte Frage lautete: sind die Ukrainer eine eigenständige oder ein Zweig der russischen Nation? Merkwürdigerweise waren philologische Gesichtspunkte maßgebend: ist Ukrainisch eine selbständige Sprache oder nur ein ethnischer Dialekt? Als ob das irgendeine Bedeutung hätte für die nationale Frage: die Schweizer und die Niederländer sprechen beide deutsche Dialekte und bilden doch selbständige Nationen; die Basken, die Bretonen, die Flamen und die Elsässer, deren Sprache sich sehr von der Französischen unterscheidet, bekennen sich als Teil der französischen Nation. Die Autonomie Galiziens bedeutete, so wie der Dualismus in Ungarn, dass die Ukrainer den Polen ausgeliefert waren. Die Beamten waren Polen, wie auch der Grundbesitzer, der über den ukrainischen Bauern verfügte. Kaum konnte ein Ukrainer in die Provinzkammer oder ins Parlament gelangen. Dadurch wurden ihre

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Gefühle für Österreich kühler, aber die meisten blieben doch an der Seite Österreichs, weil sie in der Regierung eine Unterstützung gegen die polnische Willkür fanden. Die Nationalisten meinten, dass sie kulturellen und sprachlichen Kontakt nur mit Russland suchen sollten, weil Russland, bis zur Revolution von 1905, nicht einmal von einer ukrainischen Nation hören wollte und jede nationale Bewegung unterdrückte, ja sogar den Druck von ukrainischen Büchern (mit Ausnahme derer über Volkskunde) verbot. Die Russen hätten auch nicht davor zurückgeschreckt, die Ukrainer vom griechisch-katholischen Glauben zur Orthodoxie zu bekehren. Die Revolution von 1905 brachte eine Verbesserung, aber stellte keine Wende dar. Als der Krieg ausbrach, konnte man bemerken, dass die russische Strömung in Galizien viel stärker war, als man es sich vorgestellt hat. Die Russen wurden von einem Teil der ukrainischen Bauernschaft begeistert empfangen. Es scheint aber, dass die meisten Ukrainer auf der Seite Österreichs standen, in der Hoffnung, dass ein deutscher Sieg die Gründung eines ukrainischen Staates in der russischen Ukraine mit sich bringen würde, an den mit der Zeit sich auch die österreichische Ukraine (Ost-Galizien) anschließen könnte, oder dass die Ukraine Österreich eingegliedert wird, wo sie sich, in der Monarchie, als ein großes vereinigtes Volk entwickeln könnte. Kleinwächter (S. 196 ff.) behandelt als letztes die österreichischen Deutschen, und so werden wir es auch machen, obwohl sie an den Anfang gehören, weil die Habsburger Österreich von den deutschen Besitztümern aus aufgebaut haben und vor allem weil ihre Unterstützung bis ans Ende dauerte. Er beschuldigt sie, dass sie, statt ihre eigene Politik zu machen und nur ihre nationalen Interessen zu verteidigen, immer nur eine österreichische Politik betrieben haben. Damit sind wir nicht einverstanden. Die Deutschen waren „österreichisch" nur, solange Österreich die führende Macht im Deutschen Bund war. Österreich war nur ein Teil Deutschlands. Auch österreichisch blieben sie nur, solange Österreich zentralistisch war, das heißt von den Deutschen geführt wurde. Aber schon seit dem Ende dieser Periode, im Jahre 1879, hat Georg Hans v. Schönerer die Deutsche Nationale Partei gegründet, welche offen den Anschluss der deutschen Teile an das Deutsche Reich verlangte. Das war nichts anderes als eine Irredenta. Sie sagten es nicht offen, weil das österreichische Strafgesetz es nicht zuließ, aber ich, der ich in meinem Leben in direkten Kontakt mit vielen Leuten aus diesen Kreisen gekommen bin, kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ihre Loyalität dem Kaiser und der Monarchie gegenüber zu wünschen übrig ließ. Auch die italienische und die serbische Irredenta war nicht offener als die österreichischen Anhänger Schönerers. Es ist aber wahr, dass später aus den radikalen Schönerianern die Bewegung von K. H. Wolf entstand. Aber was war der Unterschied zwischen ihnen? Er bestand darin, dass sie meinten, dass - solange Österreich der Verbündete Deutschlands war - die irredentistische Agitation der deutschen Frage schade, weil sie die nicht-deutschen Volker entfremdete, die dann Österreich fehlen würden. Die Wolfianer hassten dies ebenso wie die Schönianer, aber sie akzeptierten es bis zum Ende des Bündnisses, da es dem Deutschen Kaiserreich nützte. Die Deutschen in Böhmen und Mähren folgten diesen beiden Parteien fast ausnahmslos, wie auch fast alle Stadtbewohner aus den

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anderen Regionen von Deutsch-Österreich und vor allem die ganzen deutschen Studenten. Unter den Deutschen waren nur die Bauern aus den Alpen Österreicher geblieben, meistens aber aus religiösen Gründen. Werfen wir jetzt einen Blick auf die Stellung zur Nationalitätenfrage als Ganzes. Der letzte Versuch von Franz Joseph, während seiner absolutistische Epoche, aus Österreich einen deutschen Staat zu machen, scheiterte und wurde endgültig aufgegeben. Die Grundidee des Dualismus war die Machtübergabe in der österreichische Hälfte des Kaiserreiches den Deutschen und in der ungarischen Hälfte den Ungarn. Die Entwicklung dieser Idee war in den beiden Staaten sehr unterschiedlich. Es ist nötig, diese Sache hervorzuheben, weil im Ausland Österreich und Ungarn gewöhnlich als gleichgestellt angesehen werden. Was Seton-Watson über Ungarn sagt, wird meistens auch für Österreich als gültig betrachtet. Es ist zweifellos, dass man in Österreich versucht hat, die Herrschaft der Deutschen aufrecht zu erhalten. Bis zur Ernennung des Ministers Taaffe im Jahre 1879 befindet sich die Regierung, mit einer kurzen Unterbrechung, in den Händen der deutschen Zentralisten, die in der österreichische Hälfte des Reiches erfolglos versuchen, das zu verwirklichen, was von Joseph II. bis 1867 erfolglos für die ganze Monarchie versucht wurde. Süd-Tirol stellte seit langem einen Sonderfall dar: in der Schule, bei den Beamten, im öffentlichen Leben war Italienisch die einzige benützte Sprache und weder Absolutismus noch Zentralismus hatten gewagt, dies zu verändern. Die zentralistische Regierung hat auch Galizien freigelassen, wie auch alle italienischen und slawischen Länder, außer Böhmen, Mähren und Schlesien, wo große deutsche Minderheiten neben der slawischen Bevölkerung lebten. Hier versuchte man, sein Ziel mit den alten Mitteln der politischen Verfolgung zu erreichen. Vereine und Gesellschaften wurden aufgelöst, Veranstaltungen verboten, Spione beauftragt, politische Führer, nationale Schriftsteller und Herausgeber von Zeitschriften verhaftet, sogar in Ketten gelegt, und man betraute mit den Gerichtsverfahren nicht die zuständigen juridischen Instanzen der tschechischen Länder, sondern die Gerichtshöfe aus den deutschen Gegenden, die leichter zu beeinflussen waren. Das hat, wie immer, wenn geistige Bewegungen unterdrückt werden, dahin geführt, dass die tschechische nationale Bewegung jeden Tag stärker wurde und drohte, zu einer Revolution zu werden. Die Tschechen suchten die Annäherung an die panslawischen Russen. Bis zuletzt löste diese Haltung den Widerstand einer liberalen Minderheit der deutschen Abgeordneten wie auch einer Minderheit der zentralistischen Regierung Auersperg aus. Bei einer Sitzung des Kronrates, unter dem Vorsitz des Kaisers, führten die unterschiedlichen Gesichtspunkte dazu, dass die Minister sich fast gegenseitig verprügelten; der Kaiser verließ die Sitzung und wandte sich an Graf Taaffe mit den Worten: befreie mich von diesen Leuten! Mit der Regierung von Graf Taaffe hören die politischen Verfolgungen auf. In Österreich wurden keine Maßnahmen mehr gegen die nationale Bewegung getroffen, nur wenn große Unruhen dadurch entstanden sind, wie es in Böhmen manchmal der Fall war. Politische Gerichtsverfahren wurden zur Seltenheit, mit Ausnahme der Anklagen wegen Hochverrats, Majestätsverbrechens und Störung der 4 Ehrlich

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öffentlichen Ordnung, meistens gegen Anarchisten und Sozialisten. Die Ausrufung des Notstandes unter Graf Taaffe war ebenso gegen diese beiden Kategorien gerichtet. Ein Nachteil des österreichischen Pressgesetzes, den man oft spürte, war, dass einer seiner Artikel es erlaubte, jedes Buch oder jede Zeitschrift, die in den Anwendungsbereich des Strafgesetzbuches fielen, ohne eine Gerichtsverhandlung gegen die betreffende Person zu vernichten. Diese Vorschrift wurde zweifellos auch öfters gegen die nationalen Bestrebungen verwendet. Dann entstand in Österreich auch ein Recht der Nationalitäten, meistens als ein Recht der Sprachen. Entscheidend war der Artikel XIX der Verfassung von 1867, der die Grundrechte der Bürger wie folgt statuierte: 1. Alle Völker haben gleiche Rechte; jedes Volk hat das unverletzbare Recht, seine Sprache und Nationalität zu pflegen und zu verteidigen. 2. Man anerkannte auch das Recht, alle im Staat gesprochenen Sprachen im Unterrichtswesen, in öffentlichen Ämtern und im öffentlichen Leben zu benützen. 3. In den Provinzen, wo mehrere Völker zusammenlebten, sollten die Stätten des öffentlichen Unterrichts so verteilt sein, dass jedes Volk die nötige Ausbildung in seiner Muttersprache bekommen konnte, ohne eine zweite Sprache erlernen zu müssen. Die Wirkung dieses Gesetzes, das schon unter der deutschen zentralistischen Regierung verabschiedet wurde dank einer vorübergehenden Parteiengruppierung, die für die Parteien in der österreichischen Kammer kennzeichnend war, wurde später als Dorn im Auge der deutschen Zentralisten empfunden. Adolf Hauer, Professor an der Universität Wien, versuchte in einem Vortrag zu beweisen, dass wegen seiner äußerst allgemeinen Form dieses Gesetz nicht verpflichtend sei und nur die Grundlage für ein zweites Gesetz sein könne, welches genauere Bestimmungen über das Recht der Nationalitäten, ihre jeweiligen Sprachen zu benützen, enthalten müsste. Zwei Instanzen waren damit beauftragt, darauf zu achten, dass das Gesetz auch respektiert wird: mit Beschwerdeschrift gelangte man, weil es um ein Verfassungsgesetz ging, direkt zum kaiserlichen Gerichtshof, der ein Verfassungsgerichtshof war, und zum Verwaltungsgerichtshof, wenn über die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsmaßnahmen zu entscheiden war. Hier hat man manchmal über Fragen von Weltinteresse entschieden, z. B. ob man die Straßenschilder in Städten mit gemischter Bevölkerung ein- oder mehrsprachig schreiben sollte, ob bei den tschechischen Eisenbahnen die Inschriften zuerst auf Deutsch oder auf Tschechisch geschrieben werden sollten, oder ob man einen Turnverein daran hindern kann, seine nationale Flagge zu hissen. Teilweise durch Gerichtsentscheide, teilweise durch spätere Gesetze, Verordnungen und Dienstanweisungen hat man in Österreich die Grundlage für ein Nationalitätenrecht geschaffen. In den Grundschulen, die von den Provinzen und nicht vom österreichischen Staat verwaltet waren, hat man nur in der Muttersprache unterrichtet. Wo in einem Umkreis von 2 km die Eltern von mindestens 40 Kindern einen muttersprachlichen Unterricht verlangten, musste eine diesem Zweck die-

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nende Schule gegründet werden. Mittelschulen mit Unterricht in der Muttersprache waren ebenfalls ausreichend vorhanden: es gab Mittelschulen mit den Unterrichtssprachen Tschechisch, Polnisch, Ukrainisch, Italienisch, Serbokroatisch und Slowenisch. Es ist wahr, dass eine rumänische Schule fehlte, aber in vier Mittelschulen wurden manche Fächer auf Deutsch und andere auf Rumänisch unterrichtet. Weiter verfügten die Polen sogar über zwei Universitäten, die Tschechen über eine einzige; Polen und Tschechen hatten auch je eine Hochschule und eine Kunstakademie privat gegründet, aber vom Staat gefördert. Jeder konnte bei den Beamten eine Petition oder eine Erklärung in einer der Landesprachen einreichen. Dabei muss man noch sagen, dass das Beamtentum jeder Provinz gewöhnlich zur Nationalität von dessen Bevölkerung gehörte. Das verdankte man dem Anspruch, dass jeder Beamter die einheimische Sprache kennt, und teilweise auch der Sitte, dass ein Beamter dort blieb, wo er seine Kariere begann, bis man ihn in ein Ministerium oder zum Obersten Gerichtshof rief. Durch dieses Nationalitätenrecht und auch durch seine Praxis kam Österreich der Lösung der Nationalitätenfrage näher als jeder andere europäische Staat mit Ausnahme der Schweiz. Trotzdem gab es mehrere Lücken und Mängel, die die Basis späterer Problemen wurden. Das Prinzip, wonach jeder vor dem Gericht oder anderen Ämtern eine der Landessprachen benützen konnte und dass auch die offizielle Entscheidung in derselbe Sprache erfolgen musste, stützte sich auf eine ministerielle Verordnung. Die Behörden mussten sich dieser Verordnung unterwerfen, nicht aber die Gerichtshöfe, die dank der Unabhängigkeit der Justiz von der Verwaltung durch keine Verordnung dazu gezwungen waren. Darum wurde die Verordnung von den Gerichtshöfen der deutschen Länder Böhmens abgelehnt und bestritten, dass Tschechisch die Landessprache sei. Mehr noch, das Prinzip der Gleichstellung der Sprachen wurde auch nicht von den Oberen Gerichten in Wien respektiert, da dort die Gerichtsverhandlungen auf Deutsch gehalten werden mussten. Die wichtigste Frage war die der offiziellen internen Sprache. In Südtirol war es, alten Bräuchen gemäß, Italienisch, in Galizien, auf Grund einer Ministerialverordnung, Polnisch, aber in den anderen Kronländern war es Deutsch. Eine große Kontroverse entstand zwischen Deutschen und Tschechen rund um die Frage der offiziellen Sprache. Die Einen verlangten Deutsch als Zeichen von Kontinuität und Präponderanz, die Anderen lehnten dies ab, da die deutsche Sprache nur noch ein Zeichen vergangenen Glanzes sei. Bei solcher Argumentation war jeder Kompromiss ausgeschlossen, unabhängig von allem, was fachlich dafür sprach. Jeder kann sich vorstellen, wie schwerfallig die Verwaltung eines Staates werden konnte, wo die Ämter untereinander in acht verschiedenen Sprachen kommunizieren mussten. Kleinwächter (S. 233 ff.) zeigt, was für Schwierigkeiten die Vielfalt der benützten Sprachen allein für die Ausarbeitung von Gesetzesartikeln in den Ministerien schaffen konnte. Besorgniserregend ungerecht behandelt wurden die Nationalitäten durch das Wahlgesetz. Das alte, für die Wahl zu den Kammern erlassene Gesetz hatte als einzigen Zweck, unter jeden Umständen die deutsche Mehrheit zu sichern, und *

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war eine Monstrosität. Es hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die Entstehung eines nach Klassen eingeteilten Wahlgesetzes zur Folge: ein Drittel der Bewohner gehörten zu den Großgrundbesitzern und der Rest wurde zwischen Städten, Dörfern und Handelskammern aufgeteilt. Die kleinen deutschen Orte wählten je einen Abgeordneten, auch wenn anderswo nur Tausende von Wahlberechtigten das machen konnten. Es ist offensichtlich, dass die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes dazu führte, dass die Deutschen, die kaum ein Drittel der Bevölkerung bildeten, ihre Mehrheit verloren. Mit Hilfe der Wahlgeometrie schafften es die Deutschen jedoch, 45 Prozent der Sitze zu gewinnen. Man wollte, dass die Deutschen auf der Seite der Rumänen eine Mehrheit gegen die Slawen bilden. Darum vertrat ein Abgeordneter je 38.000 Italiener, 40.000 Deutsche, 40.000 Rumänen, 50.000 Slowenen, 52.000 Polen, 55.000 Serben und Kroaten, 55.000 Tschechen und 102.000 Ukrainer. Diese Wahlgeometrie erreichte umso weniger ihr Ziel, als ein Teil der sozialistischen und der klerikalen Abgeordneten, aber auch ein Paar „Wilde", ihre Stimmen nicht nur aus nationaler Verbundenheit abgaben. All diese Probleme, die man in der österreichischen Hälfte des Kaiserreiches viel zu viel besprach, waren eigentlich zweitrangig und konnten nicht zum Zusammenbruch des Staates führen. Die wenigen Fälle, wo der Gebrauch der Landessprache hinterherhinkte, hätte man leicht beseitigen können durch gesetzliche Einführung des Sprachenrechtes. Das Wahlgesetz wurde von 2 / 3 akzeptiert, das heißt von allen Nationen; und ungeachtet der vielen Fehler, die man alle hätte verbessern können, und mit der Zeit wäre das ganze Gesetz zweifellos durch ein besseres ersetzt worden. Sogar die schwierige Frage der Staatssprache hätte sich, mit ein wenig Geschicklichkeit, von selbst gelöst. Kein Volk lässt zu, dass eine fremde Sprache sich durchsetzt, benützt aber jede, wenn es merkt, dass sie ihm hilft, sich mit den anderen zu verständigen. Die alten Römer haben niemals den Nationalismus propagiert, und trotzdem haben sie mehr als die Hälfte ihres Reiches latinisiert, in solchem Maße, dass Latein bis heute in einem großen Teil der Welt weitergesprochen wird in der Form der italienischen, französischen, spanischen, portugiesischen und rumänischen Sprache. Auch war es in seiner traditionellen Form länger als zwölf Jahrhunderte nach dem Zusammenbruch Roms die Sprache aller gebildeten Menschen und der Wissenschaften im Westen Europas, eben weil es keinen Zwang diesbezüglich gab. Latein wurde die Verständigungssprache für alle. So passiert das auch heute überall. Wenn heute ein Engländer, der nicht Französisch kann, auf einen Franzosen, der nicht Englisch kann, in Ost-Indien oder an der holländischen Küste trifft, dann reden sie gemeinsam ... Malaysisch. Dies ist eine Sprache, die aus den Beziehungen zwischen verschiedenen Nationalitäten entstanden ist, eben um als Verständigungsinstrument zwischen diesen zu dienen, und wird von keinem malaysischen Volk gesprochen. In Österreich hat sich die deutsche Sprache auch als Verständigungssprache entwickelt. Ein Tscheche unterhielt sich mit einem Polen, ein Kroate mit einem Ukrainer, ein Ungar mit einem Rumänen, wenigstens mit einem aus der Bukowina, in der deutschen Sprache. Außer dieser faktischen Anerkennung war alles, was man bewusst für die offizielle Einführung der deutschen Sprache unternahm, unnötig und nutzlos.

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Ein großer Mangel des österreichischen Nationalitätenrechtes war, dass es in Wirklichkeit als ein rein individualistisches Sprachenrecht von den Untertanen der österreichischen Nation verstanden wurde. Jeder Tscheche, Pole oder Kroate durfte seine Kinder in seiner Muttersprache erziehen, die Beamten mussten seine Klagen in derselben Sprache beantworten, und als Abgeordneter im Parlament konnte er auch in seiner Muttersprache reden und seine Reden wurden stenographiert und veröffentlicht: aber die tschechische, kroatische und polnische Nation hatte keine Rechte. Die Nation selbst, als gesellschaftliche Organisationsform, war dem österreichischen öffentlichen Recht unbekannt. Das hieß aber, dass die Nation als Ganzes kein Vertretungsorgan ihrer eigenen Kulturpolitik hatte. Wenn man etwas in dieser Hinsicht machen wollte, so war das nur durch eine private Initiative möglich oder durch die Vermittlung des Staates. Obwohl das Vereinswesen sehr stark unter den Tschechen verbreitet war, hatte es seine Grenzen. Seine freiwillig übernommenen Aufgaben konnten den großen Bedarf nicht befriedigen. Und der Staat, wenn es um kulturelle Fragen geht, ist eine sehr ungeschickte und langsame Maschine. Welche Konflikte dadurch entstehen können, zeigt die Geschichte der italienischen Jurafakultät und des slowenischen Gymnasiums in Cilli. Hier hätte nur die Anerkennung der nationalen Autonomie genützt. Aber an eine solche Idee hatte bis zur Geburtsstunde des österreichischen Nationalitätenrechtes niemand gedacht. Selbst die Schweiz hat es erst jetzt erreicht und auf dem Umweg der Kantonsverfassungen. Die Kantone sind die Vertreter der nationalen Autonomie in der Schweiz, die mehrheitlich doch national einheitlich sind; wo ein Kanton gemischte Nationen enthält, werden nationale Streitfälle nur vermieden, weil die Mehrheit die Minderheit berücksichtigt. Manche Lücken lassen sich auch da bemerken, wie die Forderung der französischen Bewohner des Jura nach einer Trennung vom deutschen Kanton Bern zeigt. Die österreichischen Volker suchten die nationale Autonomie auf denselben Umwegen wie die Schweiz zu erreichen durch die Autonomie der Kronländer, die auf der schon bestehenden Grundlage eingeführt und verbreitet werden sollte. Aber da die meisten national gemischte Bevölkerungen hatten, hätte eine solche Autonomie zur nationalen Enteignung der Minderheit geführt, wie es im Fall Galiziens mit den Ukrainern geschehen ist. Darum haben sich die Minderheiten dagegen gewehrt. Dann tauchte der Plan auf, den nationalen Gemeinschaften dieselben Gruppenrechte zu verleihen, wie sie die religiösen Gemeinschaften seit langem hatten. Die Mitglieder jeder Nation sollten in einem Nationalbuch eingetragen werden, eine nationale Vertretung wählen und das Recht auf eigene Exekutivkörperschaften, auf ein eigenes Budget und auf Einführung und Erhebung von Steuern für nationale Zwecke bekommen. Dieser Plan wurde besonders von den Sozialdemokraten Otto Bauer und Karl Renner vertreten. Hätte man ihn verwirklicht, würde die Grundlage für einen modernen Nationalitätenstaat gelegt worden sein. Daraus verwirklichte man aber nur die Errichtung eines Nationalregisters und ein Wahlgesetz der Nationalitäten für die Provinzkammern zweier Länder - in Mähren und in der Bukowina.

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Ganz anders sah die Lage in Ungarn aus. Unter dem Einfluss von Eötvös, im sechsten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, entschied man sich für ein Nationalitätengesetz, das keine klare korporative Vertretung der Nationalitäten kannte, aber wenigstens den Bedarf nach Förderung der Nationen auf einer individuellen Grundlage berücksichtigte. Dieses Nationalitätengesetz wurde dann später komplett ignoriert. Als der Abgeordnete Vaida-Voevod um 1890 in der ungarischen Kammer die Anwendung dieses Gesetzes beantragte, wurde sein Vorschlag abgelehnt - der einzige Fall in der Geschichte der Menschheit, dass eine gesetzgebende Versammlung ein bestehendes Gesetz nicht aufhebt, sondern seine Anwendung behindert. Grund dafür war, dass das Gesetz auch für spätere Zeiten nötig war, aber nur um die ausländischen Beobachter zu täuschen. Es wäre zu wenig zu sagen, dass es in Ungarn kein Nationalitätengesetz gab. Was dort geschah, war eine nationale Unterdrückung durch äußerst ungeeignete und manchmal auch kriminelle Mittel. Man muss vorab sagen, dass das Ungarntum sich niemals exklusiv nach dem Geburtsrecht verstand. Im Blut der heutigen Ungarn kann man fast keinen Tropfen mehr finden aus dem der Magyaren, die, als sie einst Europa durchquerten, mordeten, brandschatzten und plünderten. Sie haben sich von den Völker, unter denen sie sich niederließen, niemals abgeschlossen und haben - als eine am Anfang sehr kleine Minderheit - nur dadurch einer vollständigen Eingliederung widerstanden. Bis vor Kurzem haben sie mit offenen Armen jeden, der sich als einen der Ihren erklärte, willkommen geheißen. Er konnte sicher sein, dass ihm die größten Erleichterungen gewährt würden. Nur eines konnte er niemals schaffen - in die Verwaltung der ungarischen Grafschaft aufgenommen zu werden. Das blieb dem Adel vorbehalten und jedem fremden Element verschlossen. Es ist nicht jedem gegeben, sein eigenes Volk zu verleugnen. Nationale Aufgaben sind in den Augen des modernen Gelehrten eine geistige Notwendigkeit, vielleicht die einzige Form von Idealismus, die ihm in der heutigen wilden Welt noch bekannt ist. Und was in Ungarn geschah, darf man nicht nach einem abendländischen Maßstab zu verstehen suchen, wie z. B. nach dem, was Deutschland gegen die nationalen Bewegungen in Posen, Oberschlesien oder Elsass-Lothringen plante. Es ging nicht nur um die Verhinderung von Veranstaltungen, Auflösung von Vereinen, Angriffe und Intrigen; sogar die preußische Ansiedlungs- und Enteignungspolitik war nur ein Kinderspiel, verglichen mit der ungarischen Nationalitätenpolitik. Die ungarischen Wahlen sind zu Recht weltberühmt geworden. Wenn Millionen von Wahlberechtigten nur von einem, zwei, drei oder gar weniger vertreten wurden, kann man dies einen Rekord an Wahlverfälschung nennen, und was manchmal in Europa geschah (die Wahlen für das irische Parlament im 18. Jh., wo die Iren als Katholiken nicht wahlberechtigt waren) ist damit gar nicht vergleichbar. Gleichwohl stellte das nicht das größte Problem dar. Am schlimmsten war die schamlose Idee nach Art primitiver Barbaren, dass man die nationalen Bewegungen mit dem Strafgesetzbuch bekämpfen müsste. Unter jedem Vorwand wurde der Staatsanwalt tätig, jedes freie Wort öffnete das Tor des Gefängnisses für mehrere Jahre. Der slowakische Pfarrer Hlinka wurde mit 2 Jah-

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ren Freiheitsentzug bestraft, weil er gesagt hatte, dass die slowakischen Bauern (die nicht Ungarisch konnten) vor den ungarischen Gerichtshöfen (wo nur Ungarisch gesprochen wurde) standen wie die Kuh vorm neuen Tor. Dazu kamen die andauernden Verfolgungen der Presse. Zuweilen verfolgte man die Zeitschriften systematisch, nach jeder Ausgabe, und die Geschworenen, die aus den ungarischen Gegenden ernannt wurden, verurteilten alle Mitglieder der Redaktion, einen nach dem anderen, zu mehreren Jahren Zuchthaus, bis die Zeitschrift mangels Mitarbeitern oder wegen Gerichtskosten ausgeschaltet war. An eine derart freundschaftliche Lösung der Nationalitätenfrage dachte auch Graf Tisza, als er, kurz vor Ende des Krieges, eine serbokroatische Vertretung mit den Worten empfing: „Ich werde euch vernichten"! Die Vertretung drehte sich ruhig um und machte sich auf den Heimweg. Ein paar Monate später, als es klar wurde, dass Alles verloren war, ging der große Staatsmann nach Bosnien, um über dessen Anschluss an Ungarn zu verhandeln. Er wurde gnadenlos verspottet. Kurze Zeit später lag der Unterdrücker mit zerschlagenem Schädel am Boden, diesmal aber durch die Ungarn. Eine solche staatliche Organisation konnte zweifellos ihren Nationen nur sehr unbefriedigend auf die kulturellen Probleme eines modernen Staates antworten. Der ganze staatliche Unterricht war ausschließlich ungarisch, von der Grundschule bis zur Universität, und diente mehr zur Magyarisierung als zum Unterricht. Weil der Unterricht in der Grundschule, wie es sich von selbst verstand, sehr unpädagogisch war, war er fast wertlos. Ein Kind kann mit Erfolg nur in seiner Muttersprache lernen. Auch in der Mittelschule und Hochschule wurden die Ergebnisse der jahrhundertealten ungarischen Kultur in der ungarischen Sprache verbreitet. Aber man muss unterstreichen, dass die Erlernung der ungarischen Sprache ein übertriebener Anspruch war. Die ungarische Sprache ist ein asiatisches Idiom, ural-althaisch, wie Türkisch oder Finnisch, sehr schwer für die Europäer zu lernen. Wegen ihrer geringen Verbreitung ist sie nutzlos und ist als Grundform für die Schaffung geistiger Werte überhaupt nicht nötig. Ein winziges Volk, das mehrere Jahrhunderte unter türkischer Herrschaft stand und seine Kräfte in feudalen Kämpfen sinnlos verschwendet hat, konnte nicht in der Lage sein, auch wenn es hervorragend ausgerüstet war, Größeres zu verwirklichen. Aber auch dieses Rüstzeug fehlte ganz. In der Kunst, Wissenschaft und Literatur gab es kaum ein Werk, das man nicht ruhig zur Seite legen konnte, ohne dass es eine Lücke hinterließ, und das hätte helfen können, die Sprache zu lernen. Auch ihre berühmte Musik wurde von den Zigeunern gemacht. Justiz und Verwaltung standen auch nicht besser da. Die Aussage des Bauern, der kein Wort ungarisch konnte, wurde in einer Niederschrift zusammengefasst, die am Ende von dem Bauern blind unterschrieben wurde. Was in der Urkunde stand, hing von den Beamten ab, die es ausdachten. An den Gerichtsverhandlungen nahm die Seite, die mit der ungarischen Sprache nicht vertraut war, stumm teil: beide Seiten und Zeugen wurden von Dolmetschern verhört. Ein Augenzeuge erzählte mir, wie ein Beklagter seinen hoffnungslosen Zustand mit bewegenden Worten in einer langen ukrainisch gehaltenen Rede schilderte: der ungarische Dolmetscher, ein dünner Mann aus dem Adel, hat alles in ein Paar gelangweilten Sätze

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wiedergegeben. So sah in ungarischer Übersetzung die berühmte Unmittelbarkeit des Gerichtsverfahrens aus, auf die die modernen Juristen den größten Wert legen. Alle Vorladungen waren auf Ungarisch geschrieben: der Bauer musste jedes Mal jemanden bezahlen, der ihm sagte, was man von ihm verlangte. Wie viele Termine und Tagsatzungen so verlorengegangen sind, kann man gar nicht ausrechnen. Wenn man noch die Teilung des Landes, die Unbeholfenheit der Menschen und die Schwäche der Beamten gegenüber Bestechungen dazu zählt, wird das Gesamtbild alles, nur nicht schön. Und all dies stand im Widerspruch mit dem immer noch gültigen Nationalitätengesetz. Am Ende gelangte man dahin, dass der ungarische Staat beim größten Teil der Bevölkerung jede Unterstützung verlor: 52 Prozent standen feindlich gegen 48 Prozent5. Zur Zeit der Unabhängigkeitsbestrebungen, nach 1860, stand hinter den Ungarn noch ein großer Teil der Nationalitäten. Jetzt aber (nach 1867) konnte man eher über eine für immer verlorengegangene Sache reden. Die europäische Sympathie verschwand stufenweise, als man entdeckte, was für eine „Freiheit" es war, wofür man einmal schwärmte. Der ungarische Staat ähnelte einer auf die Spitze gestellten Pyramide: beim kleinsten Schwanken wäre sie zusammengebrochen. Notwendig war nur ein Gesetz über allgemeines Wahlrecht und die Garantie freier Wahlen, bei denen die Nationalitäten in ihrem Wahlkreis ihrer Zahl entsprechend vertreten gewesen wären. So etwas ähnliches wurde auch von Erzherzog Franz Ferdinand geplant. Franz Joseph verfolgte dasselbe Ziel, als er die sogenannte „Regierung der Trabanten" an die Macht rief, mit General Fejervary an der Spitze. Aber in dem entscheidenden Moment fehlte ihm der Mut. Viele Ungarn ahnten die Gefahr und versuchten unter der Führung von Jassy eine Einigung mit den Nationalitäten, aber die ungarische Oligarchie konnte dies leicht unterdrücken. Dies muss immer wieder erwähnt werden, weil es heute noch sehr aktuell ist. Mit tränenden Augen pilgerte Graf Apponyi, einer der skrupellosesten Vertreter dieser skrupellosen Nationalitätenpolitik, durch ganz Europa, und mit manchem seiner Genossen hatte er den Mut, um Gerechtigkeit für Ungarn zu betteln. Diese „Gerechtigkeit" würde bedeuten, dass wieder einige Völker den Ungarn gegen ein Paar Zusagen von Wohlverhalten ausgeliefert werden. Und sie fanden Menschen, die ihnen glaubten. Darum darf man nicht vergessen, in welcher Form die Ungarn ihre Versprechungen wahrmachten, mit denen sie die Nationalitäten bis 1867 abspeisten und die Welt täuschten. Man sollte sich hüten, einem erwiesenen Lügner zu glauben. Die Ungarn haben alle ihre Territorien, die von einer rein ungarischen Bevölkerung bewohnt waren, behalten, aber sie durften keine weiteren Gebiete verlangen, die von anderen Nationalitäten bewohnt sind, auch wenn dadurch kleine ungarische ethnographische Inseln an andere Staaten fallen. Auch wenn das Schicksal der Nationalitäten in Österreich deutlich besser war als in Ungarn, das Problem der Nationalitäten schlug auch dort hohe Wellen, und Schuld daran war die Haltung der Deutschen. Das war äußerst ungeschickt. Wäh5 Im Text irrtümlich: 48 % feindlich gegen 52 %.

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rend der 2 Jahre, die ich in der Schweiz verbracht habe, habe ich mich des öfteren gefragt, ob dieser Staat nur 14 Tage lang bestehen könnte, wenn die politischen Begabungen der deutschen Schweizer auf dem Niveau der deutschen Österreicher wären. Komisch ist, dass diese Sache dort funktioniert. Im Jahre 1848 zeigten die deutschen Abgeordneten im Wiener und Kremser Parlament ein gewisses Verständnis für die nationale Frage und bejahten die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung. In der nächsten, absolutistischen Periode machten sie mit den Germanisierungsmaßnahmen einen schrecklichen Fehler, der aber nicht von den Deutschen kam, sondern von der Regierung. Als dann im Verfassungsstaat die Deutschen an die Führung kamen, waren sie viel zu ungeschickt und setzten die Germanisierungspolitik der Regierung fort. Gleichwohl war ein Teil von ihnen einem Kompromiss mit den Tschechen nicht abgeneigt, und in der kleinlichen Atmosphäre, die gegen alle nichtnationalen liberalen Bewegungen herrschte, besaßen sie eine genügend offene Denkweise, eine Stärke und Entschlossenheit, die jahrzehntelang Österreich dienten. In die Opposition gegangen während der Regierung Taaffe, verbissen sie sich immer tiefer in ihre Oppositionshaltung und entfernten sich vollkommen von ihren liberalen Einstellungen; Menschen, die ernst, gebildet, gut erzogen waren, die ihre ungeschickte Sicht in sehr geschickten Worten auszudrücken vermochten, wurden am Ende von ihren unbedeutendsten, wenn auch am lautesten redenden Anhängern beiseite gedrängt, deren Verständnis kaum die nationalen Phrasen überstieg, reine Emotion war, ohne einen Hauch von Idee. Am Ende geriet die Führung des deutschen Volkes in die Hände eines Karl Hermann Wolf, eines gescheiterten Studenten, der mittellos für seine Zeitung vom Kartell der Zuckerproduzenten finanzielle Unterstützungen annehmen musste, was vor Gericht bewiesen wurde. Es war genug, ihn wahnsinnig zu machen, wenn man ihm ein Stück Zucker zeigte, und schon drohte er mit Ohrfeigen, die er allerdings nie austeilte, und verlor den Verstand. Man kann sich leicht vorstellen, wie viel ein solcher Führer des deutschen Volkes zu dessen Ruhm beigetragen hat. Die Lage der Deutschen in Österreich wurde niemals juridisch festgeschrieben, sondern stützte sich auf die geschichtliche Entwicklung. Sie waren eine relative Mehrheit, insofern sie zahlreicher waren als jedes andere Volk der Monarchie; sie waren wirtschaftlich besser entwickelt, weil sie fast die ganze Industrie und einen großen Teil des Handels kontrollierten; sie waren kulturell den Slawen weit überlegen, auch weil sie mit den Deutschen im Kaiserreich in Verbindung waren und im Zentrum des westlichen Einflusses lagen oder weil sie eine ältere und bessere Schule hatten; die meisten Staatsbeamten stammten aus ihren Reihen, vor allem jene in den Ministerien und den hohen Gerichtsinstanzen in Wien; sie beherrschten bis zuletzt auch das deutsche Wien, dank dessen Ruhm sie ganz Österreich hätten einen deutschen Charakter geben können. Aber alle diese Vorteile waren bestimmt zu verschwinden. Gerade die über so viele Jahrhunderte gewonnene wirtschaftliche und kulturelle Überlegenheit der Deutschen war von solcher Art; denn die zurückgebliebenen Slawen vermehrten sich schneller. Und auch wenn das Verhältnis sich zahlenmäßig nicht sehr änderte,

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veränderte es sich in sozialer Hinsicht sehr schnell, weil der Zuwachs, wie überall, aus den wirtschaftlich und geistig zurückgebliebenen Schichten stammte. Und er floss als Strom von Arbeitern und Bediensteten in die deutschen Gebiete. Das geschah besonders in Böhmen, wo der Grundbesitz im tschechischen Teil seit dem 30jährigen Krieg überwiegend unveräußerlich war, dem hohen Adel gehörte und keine Arbeitsplätze für den Bevölkerungsüberschuss bot. Die einzige Lösung in diesen Gebieten war die Aussiedlung in die deutschen Industriegebiete. Die slawischen Handarbeiter in Industrie oder Bergbau, die viel einfacher als die deutschen lebten, konnten diese leicht durch kleinere Lohnansprüche verdrängen. Zweifellos wäre ein Gegenmittel die Beibehaltung der deutschen Arbeiter mittels höherer Löhne gewesen, aber gerade darum kümmerten sich die deutschen Unternehmer nicht, sondern begnügten sich mit den billigeren Arbeitskräften und beruhigten ihr Deutschtum durch Zahlungen an die „Ostdeutsche Rundschau", das Blatt des Herrn Karl Hermann Wolf und zeitweise auch des Zuckerproduzentenkartells: es kostete weniger und hatte dieselbe Wirkung. So wurde die Sprachgrenze immer mehr zum Nachteil des Deutschen verschoben. Wo tschechische Arbeiter waren, wurde Tschechisch zur Landessprache; das brachte die Gründung von tschechischen Schulen mit sich, die Anstellung von tschechischen Beamten bei den Gerichten und anderen Ämtern. Genau so war die Lage auch in der Steiermark und Kärnten den Slowenen gegenüber, und in Tirol mit den Italienern. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. überholten die Slawen und am meisten die Tschechen die Deutschen sowohl wirtschaftlich wie auch kulturell. Jetzt waren sie im Stande, auch mehr Staatsbeamte aus ihren Reihen zu stellen. Während der Deutsche mit seinem von Sedan und Gravelotte oder sogar von Königgrätz geprägten Bewusstsein vom Erlernen einer slawischen Sprache gar nichts hören wollte, konnte jeder slawische Beamte selbstverständlich neben seiner Muttersprache auch Deutsch und wurde auch bei den oberen Gerichten in Wien unentbehrlich, nachdem die Akten in slawischer Sprache immer zahlreicher wurden. So wurde auch ein Teil des Beamtentums entgermanisiert. Hätten die Deutschen große Staatsmänner gehabt, so hätten sie damit ohne weiteres leben können. Die Entwicklung war unvermeidlich und stützte sich auf natürliche Gesetze: es hätte keinen Sinn gehabt, sie bekämpfen zu wollen. Sie war vom österreichischen Gesichtspunkt aus von Vorteil, weil der Aufschwung der slawischen Volker auch den Aufschwung Österreichs bedeutete. Als treue Österreicher hätten die Deutschen Österreichs es nicht verhindern, sondern unterstützen sollen. Sie hätten ihre nur auf die geschichtliche Tradition begründete Überlegenheit verloren, aber einen viel breiteren Wirkungskreis gewonnen! Dank ihrem Kapitalreichtum hätten sie an der ganzen wirtschaftlichen Tätigkeit Österreichs teilnehmen können. Sie hätten mit Interesse die kulturellen Bestrebungen der österreichischen Völker verfolgen sollen, sich als Lehrer und Meister beteiligen und durch Blätter und Zeitschriften bekannt machen. Dichter, Künstler oder Wissenschaftler, die tschechisch, polnisch oder kroatisch waren, hätte man nicht als tschechisch, polnisch oder kroatisch, sondern als Österreicher gefeiert und deren Berühmtheit hätte sich auf das ganze Österreich und nicht nur auf deren Nation ausgewirkt. Da

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sie die Sprache eines 70 Millionen großen Volkes sprachen, die langsam zu einer Universalsprache wurde, hätten sie, was man in den 8 österreichischen Sprachen tat, der ganzen Welt mitteilen können. Was hätte Wien diesbezüglich nicht alles machen können! Und alles hätte der Gemeinschaft gedient und in keinem Fall die Deutschen geschädigt, sondern ihnen den gerechten Teil geschenkt. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jh. mangelte es den Deutschen nicht an einer Vorahnung davon. Da waren viele, die sich als Böhmen oder Mähren fühlten, die böhmischen und mährischen Tschechen als ihre Brüder sahen, den Boden Böhmens und Mährens als gemeinsames Vaterland verstanden. Es gab deutsche Dichter, die aus Böhmen stammten, wie Meissner und Ebert, die die ruhmreiche Vergangenheit in ihren Gedichten lobten. Später verschwand diese Strömung. Die bekannte mährische Dichterin Ebner-Eschenbach blühte bis ins 20. Jh. als die letzte dieser Richtung. Diese Sicht wurde nach 1890 vom Wochenjournal „Die Zeit" übernommen, das von zwei Juden veröffentlicht wurde - Prof. Singer und Dr. Kanner, zusammen mit einem den Juden damals nahestehenden Schriftsteller, Hermann Bahr. Sie fanden bei den Deutschen weder Unterstützung noch Verständnis. Wer die Haltung der Deutschen in Österreich in den letzten 50 Jahren verstehen will, muss berücksichtigen, dass sie sich seit der Gründung des Deutschen Reiches nicht mehr als Österreicher verstanden, sondern als dessen Söhne, die von ihrem Vaterland getrennt wurden durch die wertlose gelb-schwarze Flagge. Sie wollen nicht die österreichischen Interessen, sondern die deutschen pflegen. Die nichtdeutschen Österreicher waren für sie nur fremde Menschen, denen sie nichts schuldeten und denen sie im besten Falle gleichgültig gegenüberstanden. Das war ihnen aber nicht genug. Wer die Deutschen beobachtet, seit dem Siege von 1870/71 übermütig gemacht, weiß, dass sie ganz einfache freundliche Beziehungen mit den Nationen, mit denen sie in Kontakt kamen, sich nicht vorstellen können. In den vielen Jahren, seit ich unter Deutschen lebe, habe ich kein gutes Wort über ein anderes Volk gehört, vielleicht mit Ausnahme eines über die Türken. Ihr Inneres war von tiefem Misstrauen und Hass geprägt. Deutschland war erstaunt, dass während des Krieges auch die Neutralen fast ausnahmslos auf der Seite seiner Gegner waren. Es war wie das Echo auf seine Äußerungen. Die österreichischen Deutschen waren in dieser Hinsicht gar nicht sehr verschieden von den Reichsdeutschen. Es gab keine von den vielen österreichischen Nationen, mit welcher sie gute Beziehungen hatten. Wenn man Österreich mit der Schweiz vergleicht, dann darf man die wichtigste Sache nicht vergessen. Es ist wahr, dass in beiden Ländern die Deutschen führend waren; aber die deutschen Schweizer sahen in den französischen und italienischen Schweizern, mit den vielen Ungereimtheiten, doch einen Schweizer, während der deutsche Österreicher feindlich auf den tschechischen, polnischen, italienischen, rumänischen, kroatischen, serbischen oder slowenischen Österreicher blickte. Kleinwächter (S. 129 ff.) schildert die Lage in Prag. Einst war die Zahl der Deutschen bedeutend und sie waren, dank ihrer Kultur und ihres Wohlstandes, sehr hoch angesehen. Da sie politisch liberal eingestellt waren, hatten sie auch das zahl-

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reiche Judentum in Prag auf ihrer Seite. Mit der Zeit verschwanden sie durch „Tschechisierung", und nur die Juden blieben den Deutschen treu. Immer wenn man die Juden für die Wahlen, für die Beibehaltung deutscher Institutionen wie z. B. das Theater brauchte, hat man sie gerufen; sonst wurden sie abgelehnt. Die Juden zählten sich seit langem nicht mehr zu den Deutschen, aber sie folgten ihnen aus Gewohnheit. Die Deutschen bildeten mit tausend Seelen in Prag eine geschlossene Gesellschaft. Sie hatten sich abgesondert, heirateten nicht außerhalb ihrer Gemeinschaft, unterhielten sich nur auf Deutsch und viele konnten kaum Tschechisch, nur das Notwendige, um sich mit den tschechischen Dienstboten oder Pförtnern zu verständigen, nahmen nicht Teil an dem sehr aktiven intellektuellen Leben der Tschechen. Um das zu beweisen, erzählt Kleinwächter (S. 142), dass ihm der Besuch des tschechischen Theaters in Prag verboten wurde mit der Androhung, ihn aus der deutschen Gemeinschaft auszuschließen. So sah die Lage in Prag aus, wie auch überall, wo deutsche Österreicher mit Österreichern einer andern Nationalität zusammenlebten, obwohl nirgends so klar. Es ist nicht leicht zu sehen, welche politischen Ziele die Deutschen in Österreich hatten. Sie jedenfalls fühlten sich verfolgt, unterdrückt und verjagt. Weil ihre Stellung jedoch dominierend war, waren solche Klagen schlicht und einfach lächerlich. Ich kann kein besseres Wort dafür finden. Es ist zwar offensichtlich, dass sie bei manchen autonomen öffentlichen Behörden wie auch im öffentlichen Leben, wo sie eine Minderheit darstellten, gewisse Schwierigkeiten hatten. Dies passiert aber immer, wenn Volker sich feindlich gegenüberstehen. Dort, wo sie die Mehrzahl bildeten, blieben die Deutschen den anderen nichts schuldig. Es reicht, die zahlreichen Schikanen zu erwähnen, die sie der armen tschechischen Volksschule gemacht haben, die mit privaten Geldern funktionierte. Es ist unbestreitbar, dass die Herrschaft der Deutschen in Österreich gefährdet war. Jedoch hat man bisher noch kein Heilmittel gegen wirtschaftliche und demographische Umwälzungen gefunden. Die Freizügigkeit des tschechischen Arbeiters konnte doch in Österreich nicht verboten werden. Und wenn dies trotzdem möglich gewesen wäre, so hätten die Deutschen als erste darunter zu leiden gehabt, denn ihre Industrie konnte sich nicht ohne die billige tschechische Arbeitskraft entwickeln. In Wirklichkeit fühlten sich die Deutschen verfolgt und unterdrückt, nur weil sie sehen konnten, wie sie Schritt für Schritt ihre Jahrhunderte alten Privilegien verloren. Heute muss man sich eine begünstigte Stellung in einem Staat verdienen, und zwar durch die Überlegenheit der politischen Begabungen, also eben durch das, was nicht nur den Deutschen in Österreich fehlt. Der größte Wunsch der Deutschen war eine Vereinigung mit den so genannten Blutsbrüdern aus dem Deutschen Reich. Die Lösung wäre sehr einfach gewesen, wenn sie gewusst hätten, wie dies anzustellen. Österreich-Ungarn oder nur Österreich an Deutschland anzuschließen, so dass der deutsche Kaiser den österreichischen Polen, Rumänen, Serben befehlen kann und dass der deutsche Reichstag ihnen die Gesetze macht, war ein Gedanke, den vielleicht nur während der Kriegszeit das von Hochmut erhitzte Gehirn eines Ludendorff hatte, den aber niemand

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vor dem Kriege zu Ende gedacht hat. Es blieb die Variante, von Österreich die deutschen Länder zu trennen und sie Deutschland anzuschließen. Darüber sprachen viele, jedoch außer den Ideologen hat niemand darüber im Ernst geredet. Die österreichischen Deutschen hätten so auf ihren riesigen Einfluss verzichten müssen, den sie in Österreich ausübten, und Deutschland hätte die Kräfte der Slawen, Ungarn und Rumänen verloren, die Deutschland mit Hilfe der Dynastie und der österreichischen Deutschen durch das deutsch-österreichische Bündnis für sich vereinnahmt hat. Trotzdem wollte niemand in Deutschland die österreichischen Deutschen haben. Einmal aus Furcht, dass die Anzahl der Katholiken wachsen wird. Außerdem liebten die Deutschen die österreichischen Deutschen ebenso wenig wie jede andere Nation, mit Ausnahme der Türken. Obwohl der österreichische Deutsche in vielen Hinsichten, besonders aber im künstlerischen Bereich, besser veranlagt ist als der nordische Deutsche und auch im Alltag angenehmer ist als dieser, wurde er immer von oben herab angesehen und entschieden mit derselben liebevollen Hartnäckigkeit abgewiesen. Gleichwohl hatte die eigentliche, wirkliche Politik der österreichischen Deutschen ein anderes Ziel. Diese hätten sich mit Freuden in derselbe Lage gesehen wie die Ungarn in der anderen Reichshälfte. Nur etwas ist ihnen entgangen, dass nämlich die Lage in Österreich mit der in Ungarn nicht vergleichbar war. Vor allem stellten die Ungarn 48 % der Bevölkerung und die Deutschen kaum ein Drittel. Sodann wurde die Herrschaft der Ungarn sehr stark in der ungarischen Grafschaft unterstützt, die in den Händen des Landadels war, der die berühmten ungarischen Wahlen organisierte. Davon war keine Spur in Österreich zu finden. In Österreich, trotz des elenden Wahlrechts, existierte eine Kammer (ein Parlament), ohne die keine Regierung auskommen konnte, während es in Ungarn nur eine Kammer der Klassen gab, die etwas zurechtgeschminkt war und aus der die Nationalitäten fast gänzlich entfernt waren. Die Ungarn waren so geschickt, die im ganzen Land verstreuten Juden auf ihre Seite zu bringen und sie für sich arbeiten zu lassen, während die Deutschen sie mit ihrem Antisemitismus von überall entfernt haben. Im Allgemeinen waren die österreichischen Volker viel weiter fortgeschritten als jene in Ungarn, und gegen solche Gemeinheiten, wie sie in Ungarn täglich geschahen, hätten sie sich hartnäckig und am Ende erfolgreich gewehrt. Letztlich braucht man bei solchen Dingen Menschen! Der Ungar ist geborener Sklavenhalter und seit Jahrhunderten zur Ausbeutung anderer erzogen. Wenn der Deutsche den Herren spielen will, ist er grob, schwerfällig und ungeschickt, und absolut unfähig, wenn es um die feine Kunst der Zähmung der Sklaven geht. Dies ist der Grund, warum die Mittel, mit denen dieses Ziel von den Deutschen in Österreich verfolgt wurde, im Grunde genommen völlig ungeeignet waren. Sie bestanden grundsätzlich darin, den österreichischen Völkern das Leben so unangenehm wie möglich zu machen. Denn wenn die Deutschen in Österreich auch nicht im Stande waren, die anderen Völker zu unterdrücken, heißt das doch nicht, dass ihnen der Sinn dafür fehlte. Der Gedanke, der die Deutschen in Österreich beherrschte, kann in das Folgende zusammengefasst werden: der Deutsche ist in

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Gefahr. In der Welt gibt es kein feineres Porzellan als dieses deutsche Volk. Wie sehr man es auch schont, es war trotzdem in Gefahr. Der Deutsche war in Gefahr in jeder Parallelklasse eines mehrsprachigen Gymnasiums in einer vielsprachigen Region, in jedem Kreisgericht oder Ministerium, das nicht einem Deutschen gegeben wurde, durch jede Fahne mit Nationalfarben. Die österreichische Beamtenschaft, und wir müssen gestehen: auch die deutschstämmige, die dieser Situation unparteilich gegenüberstand, wurde wie von einem Sturmwind hin und hergeworfen. Jede Bosheit, die jemandem gesagt wurde, der einer anderen Nationalität als der deutschen angehörte, wurde gleich als Heldentat gefeiert. Folglich feierte man auch den kindischen Anschlag der Studenten aus Innsbruck, wie auch die vandalische Vernichtung der italienischen Fakultät von Wilten, deren tragische Folgen sich bis zum Weltkrieg hinzogen. Von einer Anklage hat man nichts gehört. Lange Zeit existierte in Wien eine Privatschule mit tschechischer Unterrichtssprache, die nicht geschlossen werden konnte, weil sie den Gesetzen entsprach. Es fehlte jedoch nicht an der Suche nach allerlei Schikanen. Weil die Schule sich aber trotzdem sehr zufriedenstellend entwickelte, hat man auf einmal, kurz vor Ausbruch des Krieges, festgestellt, dass das Gebäude den hygienischen Vorschriften nicht entsprach. Die Leiter der Schule suchten andere Gebäude, jedoch keines schien dem Magistrat der Stadt genügend gut für die tschechischen Kinder zu sein. Man soll nicht sagen, dass wenn die anderen an der Macht gewesen wären, sie sich besser verhalten hätten. Die Tschechen hatten wohl nicht die Aufgabe der Erhaltung Österreichs. Das war Sache der Deutschen. Doch hätten die Tschechen sich durch Entfaltung politischer Begabungen rechtfertigen sollen und haben sich selbst verurteilt, indem sie es nicht getan haben. Diese Stimmung hat, unglaublich, auch während des Krieges weiter geherrscht, ja sogar gegenüber den Flüchtlingen aus Galizien und Italien. Den Deutschen, deren Land von den Verwüstungen verschont geblieben ist, hätte doch einfallen sollen, dass sie etwas jenen schulden, die mit ihrem ganzen Hab und Gut bezahlt haben, damit Österreich ganz bleibt. Im Gegenteil: sie bekamen Fußtritte, und zwar nicht von der Regierung, die für sie alles Mögliche machte, sondern von der Bevölkerung. Ich habe dies mit eigenen Augen gesehen. Ein berühmtes Beispiel hat die Universität gegeben. Die Medizin hat ein Jahr vor Kriegsbeginn, scheinbar aus Mangel an Studienplätzen, beschlossen, keine Studenten aufzunehmen, die in ihren Herkunftsprovinzen ihre eigene medizinische Fakultät hatten. Ich konnte nicht feststellen, ob diese Maßnahme auch gegen andere Studenten gerichtet war als gegen solche aus Galizien. Kein Zweifel, dass diese Maßnahme politisch nicht besonders klug war. Wenn sie Augen zum Sehen gehabt hätte, so hätte sie sich Rechenschaft gegeben, was eine Kultureinrichtung wie die Universität für die Staatsidee bedeutet. Jedenfalls war dies vollkommen illegal. Kein Gesetz erlaubte der Universität, österreichische Staatsbürger, die alle gesetzlichen Bedingungen erfüllten, vom Studium abzuweisen. Aber die Wiener Universität war genügend mächtig, um ihren Willen sogar gegen den Unterrichtsminister durchzusetzen, dem die Maßnahme reichlich unangenehm war. Unerhört ist aber die Tatsache, dass dieser Beschluss während des Krieges auch auf Flüchtlinge angewendet worden ist.

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Ich selbst hatte die Gelegenheit, ein Wort einzulegen für die Tochter einer Dame, die aus Galizien geflüchtet ist und die in Wien eine Stelle gefunden und sich dort niedergelassen hat. Der damalige Dekan, Professor Schattenfroh, ein Herr, der ohne jedes wissenschaftliche Verdienst, weiß Gott mit welcher Protektion, ordentlicher Professor der Medizinischen Fakultät geworden ist, blieb unerschütterlich. Die Dame, die in Wien lebte, musste mit ihren kargen Mitteln ihre Tochter nach Krakau oder Lemberg schicken. Eine einzige deutsche Partei hatte etwas, das einem Programm ähnelte, wenn man etwas, das praktisch absolut undurchführbar ist, Programm nennen kann. Es war die Partei von Karl Hermann Wolf. Mit Sicherheit stammt es nicht von ihm, sondern vom Linzer Programm, das um 1880 von zwei deutschnationalen Politikern für den damaligen Leiter der Deutschnationalen, Georg Ritter v. Schönerer, ausgearbeitet wurde, die später zur Sozialdemokratischen Partei übergetreten sind: Victor Adler (horribile dictu: ein Jude) und Engelbert Pernerstorfer. Da dieses Programm in Vergessenheit geraten war, konnte es Herr Wolf als sein eigenes Programm vorstellen. Das Programm versuchte, den Deutschen eine dominante Stellung zu sichern, indem die Abgeordneten aus Galizien und Dalmatien aus dem Parlament entfernt werden sollten und man den beiden Provinzen eine weitgehende Autonomie zusicherte. Nur in den Angelegenheiten, die die ganze österreichische Reichshälfte betrafen, sollten auch diese Abgeordneten einberufen werden. Es wurde nicht bestimmt, wie dies gemacht werden sollte. Die Galizier, Polen und Ukrainer wollten davon nichts hören, denn sie waren nicht geneigt, ihre Teilnahme am österreichischen Parlament für das Linsengericht der Autonomie zu verkaufen. Es hätte auch nicht viel geholfen, denn die Tschechen waren schon fast so zahlreich wie die Deutschen. Dazu kamen noch die Südslawen und Italiener, die Sozialdemokraten und sogar viele Kleriker, neben den zahlreichen deutschen Politikern, die überlegten und Gerechtigkeitssinn hatten. Es ging um eine Herrschaft mit Hilfe des Schwertes, die nicht länger gedauert hätte, als diese Art von Herrschaften dauern. Der Rest dieses Programms bestand aus der trockensten chauvinistischen Phraseologie, aus einem Gerede vom „edlen Geschlecht" der Germanen und vom Bekämpfen der nichtgermanischen Völker Österreichs, besonders der Juden. Es lohnt nicht, dass wir uns näher mit diesem Programm beschäftigen. Alles, was dieser Staatsmann zur Vernichtung Österreichs hat machen können, hat er nach Kräften gemacht. Erst während des Krieges schien die Erfüllung der deutschen Wünsche zu nahen. Ebenso wie in Deutschland wurde auch in Österreich das Offizierskorps die entscheidende politische Macht. Es stimmt, dass dieses Korps seit langer Zeit mit jugoslawischen, ungarischen, polnischen, tschechischen und sogar ukrainischen Elementen durchsetzt war, jedoch sein Geist war deutschösterreichisch und erfasste jeden, der sich ihm anschloss. Zu Beginn des Krieges war der Gemütszustand, auch in der nichtdeutschen Bevölkerung, gar nicht so ungünstig: die Kriegspsychose hatte alle erfasst, auch die Tschechen, und wenn die günstige Stunde genützt worden wäre, wäre man vielleicht zu einer Aussöhnung der österreichischen Volker gelangt und zu einem Neubau Österreichs, auf neuen Grundlagen. Aber in Österreich regierte Graf Stürgkh, ein politischer Schwindler

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der allerletzten Sorte, der sich die Gunst des alten Kaisers mit Hilfe von allerhand Kunststücken erschlichen hatte, so dass er nicht mehr ausgeschaltet werden konnte. Er setzte die Verfassung außer Kraft, einfach indem er das Parlament nicht einberief, um seine miesen politischen Geschäfte zu betreiben, was vom österreichischen Strafgesetz als Hochverrat bezeichnet wird, der mit dem Tod bestraft werden kann. In Ungarn herrschte nach seinem Belieben Graf Tisza. Er machte den Nationalitäten keine Konzessionen, der ungarische Chauvinismus betäubte regelrecht. Bald sollte der Krieg sein wahres Gesicht zeigen, ein Kampf, in dem die österreichischen Völker ihr Blut für eine ihnen fremde Sache, ja gegen die eigenen Interessen gerichtet, vergossen haben. Die Jugoslawen, die als erste für Österreich hätten gewonnen werden können, wurden aufs höchste von der ungarischen Nationalitätenpolitik gereizt, und man verlangte von ihnen sogar, gegen ihre Brüder aus Serbien zu kämpfen. Die Ukrainer standen seit langer Zeit teilweise unter russischem Einfluss. Die Polen, die in die Lage versetzt wurden, zwischen Deutschland und Russland zu wählen, kämpften öfter, dank der deutschen Polenpolitik, auf der Seite der Russen. Die Tschechen, die unter den Slawen das größte Selbstbewusstsein aufwiesen, konnten nach der klugen Erklärung des deutschen Kanzlers, dass der Krieg ein entscheidender Kampf zwischen Deutschen und Slawen sein sollte, ihre Rolle kaum auf deutscher Seite suchen. Damit war der Geist der Anfangsstunde verschwunden und im Heer schlug der Samen des Zerfalls Wurzel. Spionage, offener Verrat und Desertierung nahmen überhand und die Angst vor Spionen sowie die Suche nach Verrätern war jetzt begründeter als je. Die Art aber, wie in Österreich und Ungarn darauf reagiert wurde, hat jede Erwartung übertroffen, die unter den betreffenden Umständen berechtigt gewesen wäre. Es war reiner Wahnsinn, der gegen die eigene Bevölkerung gerichtet wurde. Es fehlen die statistischen Daten über die so genannten Hinrichtungen, die keine Hinrichtungen, sondern regelrechte Massenmorde waren, bei denen niemand nach Schuld und Unschuld gefragt hat. Nur über die Todesurteile der Militärgerichtshöfe gibt es einige Daten, die die deutsch-österreichische Regierung nach Kriegsende veröffentlicht hat. Trotz ihrer Willkür waren diese Gerichtshöfe nicht das größte Übel. Meistens wurde ohne jedes Gerichtsverfahren und ohne ein gerichtliches Urteil gehandelt. Dazu kommen die Verurteilungen bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit, die Einweisung in Zuchthäuser oder Internierungslager auf unbestimmte Zeit und unter den unmenschlichsten Bedingungen. Alle Gräuel, deren man die Deutschen in den besetzten Gebieten anklagte, wurden in Österreich unter der Verantwortung des Heereskommandos gegen österreichische Staatsbürger begangen. Meiner Überzeugung nach hat man dadurch Österreich die letzte Chance seiner Existenz genommen. Der Geist, der unter diesen Umständen in den Ländern der Krone geboren wurde, war besonders in Böhmen geradezu tragisch. Während des Krieges stand das Heereskommando permanent in Verbindung mit den deutsch-österreichischen Politikern, unter denen der einflussreichste, der am meisten chauvinistische, K. H. Wolf war, sowie mit den deutschen Politikern aus

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dem deutschen Reich. Von den zahlreichen Siegesberichten betäubt, die, wie man weiß, nicht wahr waren, haben die Generäle zusammen mit den Führern des deutschen Volkes zahlreiche Pläne für die Neugestaltung Österreich-Ungarns, nicht nur Österreichs, geschmiedet. Davon habe ich einiges aus zweiter oder dritter Hand erfahren. Kleinwächter scheint vieles selbst gesehen zu haben. Ich lasse ihn reden (S. 324-326): «Unter dem Titel der Wahrnehmung militärischer Interessen - schließlich war in diesem Kriege alles mit militärischen Interessen in Verbindung zu bringen - trat die Armeeleitung mit den phantastischsten Forderungen an die Regierung heran. So wurde ein ganzes Unterrichtsprogramm entworfen, dessen Durchführung gefordert wurde. An der Spitze stand die militärische Ausbildung der Jugend. Offiziere sollten als Lehrer fungieren. Alles sollte aus der Schule ausgeschaltet sein, was irgendwie an eine selbstständige Regung der Geister erinnerte. An den Universitäten sollten Generalstabsoffiziere militärische Fächer lehren. Wenn z. B. ein Kandidat bei einer juristischen Prüfung in den militärischen Fächern nicht entsprochen hätte, sollte er, auch wenn er in den juristischen Fächern die beste Zensur erhielte, reprobiert werden. An den Reichsgrenzen sollten Gebietsstreifen enteignet werden - die Verordnungsentwürfe waren bereits fertiggestellt - und Truppen dort, nach Art der ehemaligen Militärgrenze, angesiedelt werden. Permanente Feldbefestigungen sollten errichtet und auf diese Weise das Reich dauernd gegen Angriffe geschützt werden. Das sind nur zwei Beispiele für den Wahnsinn, zu dem sich ein hemmungslos arbeitender Militarismus zu versteigen vermag. Mitteleuropa durch einen mit Geschützen gespickten Stacheldrahtzaun von der übrigen Menschheit abgesperrt, das sollte die Zukunft sein. Als ich von diesen Plänen erfuhr, kam ich zur Erkenntnis, dass, wenn alles das Wirklichkeit werden sollte, nichts mehr übrig bleibt, als Harakiri zu machen, denn um eine Verminderung des „Menschenmaterials" zu verhindern, war auch beabsichtigt, die Auswanderung zu verbieten. Zu denen, die auf eine rasche Durchführung der Neuordnung des Staates drängten, gehörte auch ein großer Teil der deutschen Abgeordneten. Vor mir liegt ein Exemplar der als Handschrift gedruckten «Forderungen der Deutschen Österreichs zur Neuordnung nach dem Kriege». Der Inhalt dieses Programms baut sich auf einem Einleitungssatze auf, der den ganzen großen Irrtum enthüllt, in den das deutsche Volk geführt worden war, nämlich: „Wir haben heute die Gewissheit, dass wir den ungeheueren Kampf gegen eine ganze Welt von Feinden zu einem siegreichen Ende führen werden". Die wichtigsten Forderungen sind: Engstes Bundesverhältnis zum Deutschen Reiche, Schaffung eines Kaisertums Österreich, das in Zukunft zielbewusst deutsch regiert werden müsse, Schaffung einer festgefügten deutschen Mehrheit in der Volksvertretung, zu diesem Zwecke Sonderstellung von Galizien, der Bukowina und Dalmatiens durch Ausscheidung der Vertreter dieser Länder aus dem österreichischen Reichsrate, enger Zusammenschluss der Sudetenländer, Alpen5 Ehrlich

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länder und des Küstenlandes (!) zu einem einheitlichen Verwaltungsgebiete, in Galizien, der Bukowina und Dalmatien Einführung einer Militärverwaltung, auch in den sondergestellten Gebieten (Galizien, Bukowina, Dalmatien) Pflicht der Behörden zur Annahme deutscher Eingaben und ihrer Erledigung in deutscher Sprache, Festlegung der deutschen Sprache im ganzen Verwaltungsgebiete, Hintanhaltung der Errichtung neuer nichtdeutscher Mittel- und Hochschulen. Regelung des Verhältnisses zwischen den Deutschen und den anderen Völkern Österreichs unter dauernder Wahrung der führenden staatlichen und kulturellen Stellung des Deutschtums. Überprüfung des staatsrechtlichen Verhältnisses zu Ungarn, Einheitlichkeit der auswärtigen Angelegenheiten und der gesamten Wehrmacht, Festlegung der deutschen Sprache als Sprache der gemeinsamen Behörden und der gesamten Wehrmacht, Ausschluss der unter Militärverwaltung gestellten Gebiete von einer Vertretung in den Delegationen, militärische Verwaltung in Bosnien und der Herzegowina, Wirtschafts- und Zollgemeinschaft mit dem Deutschen Reiche, in der Balkanpolitik Sicherung des Zuganges zum Ägaischen Meere.» Dieser Beschreibung Kleinwächters fehlt noch ein Punkt: man plante, in ganz Österreich den Ausnahmezustand auszurufen und während dieser Zeit die sogenannten Reformen durchzuführen. Wenn man all das in Ruhe liest, kommt einem der bekannte Spruch in den Sinn: der Wagen des Staates bewegt sich auf einem Vulkan. Oder der des Lustigus, der beim Sprung aus dem zweiten Stockwerk ruft: „cela va très bien pourvu que cela dure". Die Herrschaft mit Hilfe des Schwertes ist für die Schwertträger sehr leicht, aber nur solange sie das Schwert tragen. Es ist gar nicht so sicher, dass die Völker Österreichs es ewig erduldet hätten, und kaum kann man das Ende absehen, die Folgen des Durcheinanders, die diese Herrschaft erzeugt haben würde. Eigentlich geht es nur um die alte Wahrheit, dass man aus der Geschichte nichts lernt: die Herren wollten nur eine neue Ausgabe des im Jahre 1850 gemachten Versuches von Franz Joseph, der so kläglich gescheitert ist, sie wollten ein neues deutsches Österreich gründen, das mit dem Schwert geschmiedet worden wäre. Die Perspektiven wurden seitdem nicht klarer. Die ehemals allmächtige militärische Partei reduzierte sich auf einige geistesschwache Erzherzöge und auf die hohe Generalität. Die Deutschen haben die Verbindung mit dem Bund verloren und wurden zersplittert durch das Wachsen der Sozialdemokratie, und die österreichischen Völker haben sich kräftig sozial und kulturell entwickelt. Man kann sich leicht die Folgen vorstellen: einerseits stand der ganze Polizeiapparat, mit Polizisten, Gendarmen, Spionen, Staatsanwälten, Richtern oder das, was man gewöhnlich mit diesem Namen benennt: Wächtern, und auf der anderen Seite die Mittel der modernen Revolution, mit dem, was diese während des Krieges und nachher neu kennengelernt hat: Messer, Bomben, Dynamit, Giftgas, bis zu den Arbeiterbewegungen, Boykotts, Generalstreiks. Es gibt keinen Zweifel, dass die Herren bei den Reaktionären aus Deutschland Unterstützung gefunden hätten, die ähnliche Gedanken ihrem eigenen Volk gegenüber hegten; wenn man aber diese Ideen auch dort in die Tat umsetzen wollte, so wären sie dort im Falle eines Sieges auf den hartnäckigsten

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Widerstand gestoßen und jede Unterstützung wäre verschwunden. Wenn die Leiter des deutschen Volkes und die mit ihnen verbündeten Generäle nur die leiseste Ahnung von den Aufgaben eines Staatsmannes gehabt hätten, dann hätten sie vor allem darüber nachgedacht, wie sie Österreich für seine Völker bewohnbar gemacht hätten. Sie zogen es aber vor, Österreich als einen Völkerkerker vorzubereiten, in dem die Deutschen die Rolle der Chefaufseher spielen sollten. Die Dummheit und die Gemeinheit, die Völker für das für den Staat vergossene Blut auf eine Weise zu belohnen, dass sie es kein zweites Mal machen würden, ist für die deutsche militaristische Staatsauffassung charakteristisch. Kleinwächter (S. 324) sagt sehr milde und zurückhaltend, doch sehr zu recht: „Die Geschichte hat hinlänglich oft bewiesen, dass selbst die besten Heerführer, wenn sie anfangen, sich politisch zu betätigen, in die primitivsten Irrtümer verfallen. In ihrem Wirkungsbereiche daran gewöhnt, dass mit Gewalt nahezu alles zu erreichen ist, halten sie diese Methode auch im politischen Leben für ohne weiteres anwendbar und erfolgversprechend." Der siegreiche Militarismus hat auch in so fortgeschrittenen Staaten wie Frankreich und den USA sehr besorgniserregende reaktionäre Kundgebungen verursacht. Man kann sich kaum vorstellen, was er in reaktionäreren Ländern wie Österreich und Deutschland hätte verursachen können, wenn der Sieg ihm eine scheinbar unbesiegbare Macht in die Hände gelegt hätte. Nur die Schriften von Naumann geben uns einige Erklärungen über die in Deutschland konzipierten Pläne. Diese sind aber viel weiter gegangen. Der preußische Landtag versuchte sogar, die vom Kaiser feierlich versprochene Wahlreform bis nach dem Endsieg aufzuschieben, weil er sie dann nicht ablehnen konnte. Unter dem Einfluss der Niederlage wurde sie sicher angenommen und gleichzeitig das allgemeine Wahlrecht erlassen. Nach alldem ist es nicht gerade schwer zu sagen, dass der Zusammenbruch des deutschen Militarismus ein Glück für die Völker war. Dass diese dadurch einer Sklaverei entkommen sind, die viel schlimmer gewesen wäre als alle Folgen der Niederlage, und dass sie auf diese Art sozialen Kämpfen aus dem Wege gegangen sind, die ihnen für Jahrhunderte ihre Zivilisation begraben hätten. Vor dem Kriege war der Militarismus ohnehin modern und stark durch das grenzenlose Vertrauen beschränkt, das die Truppe einflößte. Aber während des Krieges wurden viele von ihrer eigenen Macht überzeugt und wollten nicht mehr den Offizieren gehorchen. Solche Erscheinungen, die übrigens auch im französischen und italienischen Heer zum Vorschein traten und sogar den Engländern nicht ganz gefehlt haben, führten in Deutschland zur bekannten Katastrophe. Wenn der Militarismus bis nach dem Krieg überlebt hätte, so wäre diese Entwicklung furchtbar gewesen. Die österreichische Außenpolitik musste schon öfters behandelt werden, als die Beziehungen der Monarchie zur jeweiligen Nationalität untersucht wurden: ein Blick auf das Ganze wird aber sicherlich nicht nutzlos sein. Denn die völlige Verständnislosigkeit für die Existenzbedingungen Österreichs hat hier ihren Höhepunkt. Man kann nur allzu gut behaupten, dass die österreichische Außenpolitik im letzten Jahrhundert alles getan und nichts vermieden hat, um das Desaster herbei5*

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zuführen. Dies betrifft ihre Ziele, die Personen und ihre Konzeption. Die alte österreichische dynastische Idee, die in letzter Zeit in der Innenpolitik vor dem Geist einer freien Zeit zurückweichen musste, hat bis zum Schluss das Außenministerium und die diplomatischen Vertretungen beherrscht und sie jeder modernen Idee gegenüber hermetisch verschlossen. Gleich einem Grundbesitzer aus alten Zeiten, der nicht sein Einkommen, sondern nur sein Gut vergrößert, haben sich die Habsburger bis zuletzt nur um die Erweiterung ihres Reiches gekümmert, ohne darüber nachzudenken, was dies dem Volke bringen würde. Im 19. Jh. hatten alle ihre Kriege im Westen einen unglücklichen Ausgang. Folglich werden sie in den Balkan verlegt, wo man nach der nutzlosen Besetzung von Bosnien und der Herzegowina sich auf den Weg nach Saloniki wie auch nach Albanien machte. Noch während des Krieges streckte sich der Arm Österreichs nach Polen und der Ukraine aus. Nach dem Schlag, den die Habsburger von den Franzosen im Jahre 1859 und von den Preußen im Jahre 1866 erhielten, hat Franz Joseph auf kriegerische Unternehmungen verzichtet. Nach 1871 hat er auch auf den Gedanken verzichtet, der ihn eine Zeitlang geplagt hat, sich von den Preußen Revanche zu holen. Die dynastische Idee hat er durch die Idee „Prestige" ersetzt. Das „Prestige meines Hauses" war nicht berührt, wenn z. B. einem Österreicher im Ausland die größte Ungerechtigkeit geschieht, auch war es nicht „engagiert", dort wo es um die wirklichen Interessen der Monarchie ging, erhielt aber phantastische Dimensionen in Dingen, die keinem ernsthaften Menschen in Österreich etwas bedeuteten. Folglich hat dieses Problem des Prestiges den Kaiser daran gehindert (nicht aber seine Minister, die andere Interessen hatten), die bosnisch-herzegowinische sowie die serbische Frage von 1914 auf einer Konferenz zu besprechen. Diese Richtung in der Außenpolitik setzte die Existenz bestimmter Personen voraus, die sie betreiben sollten. Die einzigen dazu geeigneten fand man in den Reihen des hohen Adels. Nur diesen vertrauten die Habsburger, mit allen Schwächen der Aristrokatie, dass sie die Politik nach ihrem Willen machen würden; nur diese hatten eine Mentalität, die eine Politik möglich machte, die nur die Interessen der Dynastie im Auge hatte, ohne die Bedürfnisse der Völker zu beachten. Darum war der Außenminister immer ein Mitglied des hohen Adels, und dasselbe kann man auch vom übrigen Personal des Außenministeriums, der Botschaften und der Vertretungen sagen, im Unterschied zu den Beamten der Konsulate, die in den meisten Fällen dem Bürgertum angehörten. Die Charakteristik des hohen österreichischen Adels ist bekannt: es gibt keine andere auf der Welt, die ihr an Eitelkeit, Unfähigkeit und Beschränktheit ähnelt. Die dem Staate erbrachten Dienste entsprechen auch diesen Eigenschaften. Jeder Österreicher oder Ungar, den sein schlechter Stern mit den diplomatischen Vertretern seines Landes in Kontakt gebracht hat, könnte davon erzählen. Es gab keinen Staat, dessen Auslandsvertreter weniger für ihre Mitbürger getan haben, als die Großmacht Österreich-Ungarn. Ausnahme war, wenn der Betreffende ihrer Kaste angehörte. Von den ersten Wörtern an konnte man spüren, dass es die Hauptsorge des großen Herren war, einen

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bis zur Türe zu geleiten. Es lag ihm wenig daran, dass er auf diese Art auf jede weitere Information verzichtete. Im Zentrum des Interesses stand die große Politik mit ihren Intrigen, im Interesse der Dynastie. Die Persönlichkeit des Dummkopfs und Mörders Graf Berchtold ist jetzt in ihrer ganzen Größe, Dank der Veröffentlichungen der österreichischen Republik, bekannt. Sie ist aber typisch. Der beste Außenminister, den die Monarchie im letzten Jahrhundert gehabt hat, war vermutlich Graf Goluchowski. Dieser hat mit Recht gesagt, dass einem Herzkranken nicht erlaubt ist, lange zu tanzen, dass also ein so angeschlagener Staat wie der, dessen Außenangelegenheiten er verwaltete, sich in kein großes Unternehmen einlassen darf. Seine Nachfolger, die Grafen Aerenthal und Berchtold, waren anderer Meinung und haben die dynastische, traditionelle Politik weitergeführt. Und man kann mit Sicherheit sagen, dass nicht nur ihre Ziele falsch waren, auch aus der Sicht der Diplomatenkunst war es Pfuscharbeit. Der hohe österreichische Adel war durch seine repräsentativen Persönlichkeiten die soziale Schicht, die im Staat am überflüssigsten war und zu einer so großen Bedeutung nur durch das Wohlwollen der Dynastie gelangt ist. Oder, mit den schönen Worten von Kleinwächter: „Die Pflanze, die sich eng um den Baum geschlungen hat, ohne den sie nicht hätte leben können, glaubte sich die Stütze des Baumes. Und was die größte Täuschung war: der Baum selbst glaubte, dass die Schlingpflanze seine größte Stütze ist". Von hierher kam die Rolle, die man im Staat der Außenpolitik einräumte. Ganz im Einklang mit der dynastischen Idee glaubten die Habsburger, dass die Außenpolitik ausschließlich ihnen reserviert sei, und Franz Joseph glaubte sogar, dass es selbstverständlich sei, dass die Volksvertretung hier nichts zu suchen hat. Das sogenannte Oktoberpatent, wodurch er zur konstitutionellen Regierungsweise überging, wurde vom Kaiser nur infolge der Niederlage im Krieg gegen Frankreich erlassen, als schreckliche Exzesse in der Verwaltung des Absolutismus zum Vorschein gekommen waren; denn er konnte sich davon überzeugen, dass ohne ein gutes Ansehen im Ausland keine starke Außenpolitik gemacht werden und dass dieses gute Ansehen im Ausland nicht ohne eine parlamentarische Kontrolle gewonnen werden kann. Später aber war er sehr erstaunt, festzustellen, dass das Parlament, anstatt sich auf die Kontrolle der Finanzen zu beschränken, versuchte, nicht nur auf die Innenpolitik Einfluss zu gewinnen, sondern auch auf die Außenpolitik. Nur im Laufe der Zeit hat er sich damit abgefunden, jedoch ohne dies weniger als eine grobe Einmischung zu betrachten. Mit dem Ausgleich wurde die Außenpolitik der Kontrolle des Parlaments entzogen und die Delegationen, denen man diese anvertraute, konnten nie einen Einfluss gewinnen. Darum ist die Außenpolitik Österreich-Ungarns absolutistisch geblieben. Dies bedeutet aber nicht, dass sie den gesellschaftlichen Strömungen entzogen war, sondern dass diese gesellschaftlichen Strömungen sie nur in jenem Maße beeinflussten, in dem sie den Kaiser und das Ministerium betrafen, also den hohen Adel und besonders den ungarischen. Selbstverständlich sind dies Dinge, die nicht nur der Habsburgermonarchie eigen sind. Die Außenpolitik aller europäischen Staaten war bis zum Weltkrieg

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besonders zurückgeblieben, in vorzeitliche Ideen verwickelt, von unfähigen Aristokraten geleitet und weit weg von jeder neuen Idee, nirgends aber so wie in Österreich-Ungarn. Wer hatte ein Interesse, die Missverständnisse mit Italien bis zum Bruch zu schüren? Die Sympathien aller österreichischen Völker, auch der Deutschen und der Ungarn, waren auf Seite der Italiener, und akzeptable Beziehungen mit diesem Land waren nicht ausgeschlossen. Aber alle Bemühungen scheiterten, weil der ungeschickte Außenminister Baron Haymerle den Besuch von König Umberto von Italien in Wien akzeptiert hat, während Kaiser Franz Joseph, um den Papst nicht zu verärgern, dem König nicht mit einem Gegenbesuch antworten wollte. Man kann nicht übersehen: Einer der Funken, die den Weltkrieg entzündet haben, wird auch von hier weggesprungen sein! Ich kenne auch in der assyrischen oder tausendjährigen ägyptischen Geschichte keine unbedeutendere Bagatelle, die den Frieden der Völker gestört hat. Die Irrtümer der Politik in der serbischen Frage sind bekannt. Sie beginnen beim Berliner Kongress, wo Österreich das Recht bekommen hat, Bosnien und Herzegowina zu besetzen. Die Sache wäre gar nicht so schlecht gewesen, wenn sie zur Lösung der südslawischen Frage geführt hätte. Aber wir haben schon gezeigt, welch kleinliche dynastische Ursachen diese folgenschwere Tat verursacht haben. Wozu dann der von Aehrenthal vollzogene Anschluss führen musste, hätte jeder vernünftige Mensch voraussehen können. In Wirklichkeit hat man nichts anderes getan, als ein Wort zu ändern: was früher Besetzung genannt wurde, nannte sich nun Annexion. Es wäre schwer zu glauben gewesen, dass es die Rolle eines Außenministers sein sollte, nur solche Wellen in der Außenpolitik auszulösen. Ohne Zweifel wollte man nach den ersten Wahlen für das erste Parlament in der Türkei, vom Sultan einberufen, verhindern, dass diese Wahlen auch in den zwei Provinzen veranstaltet werden, die zu Recht Teil der Türkei waren, obwohl dies der Wunsch eines gewissen Teiles, besonders der mohammedanischen Bevölkerung war. Niemand aber, der die Verhältnisse der besetzten Territorien kannte, wird glauben, dass dies die wirkliche Ursache war. Denn die Gefahr der Wahlen konnte auf verschiedene Arten beseitigt werden und vor allem mit anderen Konzessionen der türkischen Regierung gegenüber, die nur hätte erklären müssen, dass sie die Wahlen verhindert und die Abgeordneten nicht in das Parlament empfängt. Die größten Konzessionen für eine solche Erklärung hätten bei weitem nicht so viele Folgen gehabt wie die Folgen der Annexion. Es hätte vielleicht genügt, wenn die österreichische Garnison aus dem Sangeak Novi Bazar zurückgezogen worden wäre, was sowieso gleichzeitig mit dem Anschluss geschehen ist. Man hätte die christliche, serbische und kroatische Bevölkerung für sich gewinnen können, indem man auf eine den Mohammedanern wohlwollende Politik verzichtet hätte. Es gibt keinen Zweifel, dass die Serben und Kroaten über einen Anschluss an die Türkei nicht glücklich gewesen wären, und wenn sie an den Wahlen teilgenommen hätten, so hätten sie es nur als eine gegen Österreich gerichtete Geste getan, das immer bei den Mohammedanern Unterstützung gesucht hat. Ohne Teilnahme der christlichen Bevölkerung, da die Muslime zahlenmäßig gering waren, wären die Wahlen ein Bubenstreich geworden und man hätte hieran zeigen können, dass die

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Bewohner bei Österreich bleiben wollen. Man hätte die Wahlen kurzfristig aufhalten können. Anhand des Besetzungsmandates hat sich die Regierung so viele Befugnisse angeeignet, dass eine solche Maßnahme nicht viel bedeutet hätte. Was den zweiten Trick des Anschlusses betrifft, so wäre niemand in Aufregung geraten, wenn die Verfassung noch während des Besatzungszustands erlassen worden wäre. Wenn man aber die endgültige Lösung der Beziehungen mit den beiden Ländern regeln wollte, was früher oder später doch geschehen musste, wäre es notwendig gewesen, diesen Schritt gründlich diplomatisch und politisch vorzubereiten. Die paar Wörter nur, die Iswolski in Buchlau zugeflüstert wurden und die dieser mit Sicherheit nicht verstanden hat, waren bestimmt nicht genug. Dazu wären Verhandlungen wenigstens mit den anderen unterschreibenden Mächten des Berliner Vertrages sowie mit der Türkei und Serbien notwendig gewesen. Damals war es ohnehin verwegen, anhand eines nutzlosen Papierfetzens, wie der Berliner Vertrag es war, Bosnien und die Herzegowina zu nehmen. Man darf aber nicht übersehen, dass der Anschluss, in dieser übereilten Form, noch einen tieferen und ernsten Grund gehabt hat. Man musste in einem Handstreich, der die Welt stumm vor Staunen vor der österreichischen Macht machen sollte, zur sechzigsten Feier der Thronbesteigung des Kaisers diesem die beiden Provinzen zu Füßen legen. Vom Geiste dieses „zu Füßen legen" war die österreichische Diplomatie durchdrungen. Sogar während des Krieges wurden viele und nutzlose Siege gefeiert, um dem Kaiser etwas „zu Füßen zu legen", zu einem gewissen Tage, oder vielleicht nicht einmal dem Kaiser, sondern einem gewissen General. Auch dieser Anschluss Bosniens und der Herzegowina war eine Ursache des Völkerkrieges. Aber nicht die bosnische Frage, sondern die österreichisch-ungarische, und zwar die ungarische Handelspolitik hat zu den Zusammenstößen geführt, die die Welt in Brand gesetzt haben. Es ist bekannt, dass Österreich-Ungarn allmählich seine Grenzen nach 1870 gegenüber Rumänien und nach 1890 gegenüber Serbien geschlossen hat. Schon damals stellte sich die Frage: zu wessen Nutzen? Zu dem der österreichischen Bevölkerung mit Sicherheit nicht. Diese begehrte die landwirtschaftlichen Produkte ihrer südlichen Nachbarn und man kennt die Straßenunruhen in Wien nach der Teuerung, die von der Schließung der Grenzen mit Serbien hervorgerufen wurde. Der österreichische und der ungarische Bauer hatten nicht das geringste Interesse hieran, denn sie erzeugten nicht für den Markt, und wegen der Getreideknappheit und der Notwendigkeit, Vieh zu kaufen, hatten der galizische Bauer und jener aus der Bukowina eben wegen der hohen vom Zollkrieg verursachten Preise zu leiden. Auch die Rinderseuche war keine Rechtfertigung, da die gegenwärtige Tiermedizin genügend Mitteln hat, um die Verbreitung von Seuchen zu verhindern. Wie man sehen kann, handelte es sich um die schmutzigsten Geldinteressen der ungarischen Großgrundbesitzer und der mit ihnen versippten Deutschen und Polen. Um ihre Geldbeutel zu füllen, schreckten diese Patrioten nicht davor zurück, vitale

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Interessen der Bevölkerung und der Monarchie zu opfern, mehr noch, wie es sich später zeigen sollte, sogar den Frieden eines ganzen Kontinents. Rumänien hat furchtbar unter der Schließung der Grenzen gelitten, die Getreideausfuhr wurde verhindert, die Viehzucht erlitt ihren Niedergang. Die rumänische Landwirtschaft wäre ohne diese Taten in den letzten Jahrzehnten nicht in die heute so bedrohliche Lage gekommen. Und Serbien steht noch schlechter da. Rumänien hatte wenigstens den Zugang zum Meer, der Serbien fehlte, das noch mehr vom Viehexport abhängig war. Die ungarischen und österreichischen Aristokraten brachten die Serben systematisch an den Rand der Verzweiflung und schauten grinsend zu, wie ein erdrosseltes Volk wild um Luft kämpfte. Und als die entfesselte Wut der Geplagten sich gegen alles wandte, was österreichisch war, hatten sie die Unverschämtheit, auf die Serben als diejenigen zu zeigen, die die Ordnung stören. Dann fanden die serbischen Siege im Balkankrieg statt. Außenminister von Österreich-Ungarn war Graf Berchtold, er selbst einer der Großgrundbesitzer, steinreich und, folglich, persönlich finanziell interessiert an der Niederlage Serbiens. Er rechnete mit der Niederlage Serbiens, und als dann der Sieg kam, verlor er völlig die Fassung und forderte offen den Krieg. Serbien wünschte einen Hafen an der Adria, um die Erdrosselung loszuwerden. Dieser wurde ihm von Berchtold abgelehnt mit der Begründung, dass er Russland in einem Krieg gegen ÖsterreichUngarn nützlich sein könnte. Einmal der Gedanke formuliert, Serbien in den Krieg zu verwickeln, waren alle Argumente überflüssig: auch dass, solange die Dardanellen geschlossen blieben und die Türkei nicht offen auf die Seite Russlands trat, das Zarenreich nicht in die Adria gelangen konnte (wie es sich auch im Weltkriege zeigen sollte); dass, wenn die Türken so weit gegangen wären und die Russen durch die Meerengen gelassen hätten, diese den serbischen Hafen nicht mehr benötigt hätten, weil ihnen die türkischen Häfen zur Verfügung gestanden wären; dass die Adria, auch ohne jenen serbischen Hafen von der italienischen, englischen und französischen Flotte zugeriegelt werden konnte. Als sich Serbien, unter dem Druck Russlands, Frankreichs und Englands, zurückgehalten hat, wurde der Fall Prochaszka erfunden. Die Serben hätten also den österreichisch-ungarischen Konsul Prochaszka ermordet. Dieser lebte aber gut und gesund in Prizrend, was der österreichische Außenminister hätte erfahren sollen, ehe er seine Kriegsdrohungen in die Welt posaunt hat. Noch während des gespanntesten Austauschs von diplomatischen Noten erschien der Konsul Prochaszka, gesund und in voller Kraft, unter dem Gelächter von ganz Europa. Aber Graf Berchtold gab seine Absicht nicht auf. Die Ermordung des Erzherzogs war, man weiß es heute, nur der Vorwand, nicht aber die Ursache des Krieges. „Der alte, noch unentschlossene Kaiser" wurde zur Unterschrift bewogen mit der Lüge, dass die Serben die Kampfhandlungen begonnen hätten. Über den moralischen Wert der Ereignisse, die auf bewusste Weise den Krieg herbeigeführt haben, lohnt es heute nicht mehr, auch nur ein Wort zu sagen. Ihre einzige Erklärung besteht darin, dass Österreich-Ungarn und ihr Verbündeter, Deutschland, zu jener Zeit von Kriminellen regiert wurden. Sieben Menschen set-

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zen sich an einem Tisch und entscheiden im Einverständnis mit jenen in Berlin, dass jetzt der günstige Augenblick gekommen sei, um sich auf Serbien zu stürzen! Und mit tödlicher Leichtfertigkeit setzen sie einen ganzen Kontinent in Brand. Ein einziger, Graf Tisza, blieb zögerlich vor einem so unglaublichen Ereignis. Aber nur weil das Unternehmen ihm nicht sicher schien. Nachdem seine Besorgnis, die der Zusammenarbeit mit Deutschland galt, beschwichtigt war, gab auch er seine Zustimmung. Aus dem ursprünglichen Zögern Tiszas muss man nicht schließen, dass er vernünftiger als die anderen war. Schon vor dem Kriege machte er alles ihm nur Mögliche, um die Beziehungen mit Serbien zu verschärfen und den Krieg auf jeden Fall herbeizuführen. Sein Verhalten gegenüber den Rumänen in Ungarn führte zum Krieg mit Rumänien. Wie ein Feind hat er zum Auspressen und Aushungern Österreichs beigetragen, zusammen mit den deutschen Verbündeten, die aus den von ihnen besetzten Gebiete alles wegschleppten, was sie nur konnten. Tisza war eine sonderbare, sentimentale Natur, der seine reine Unschuld mit dem Tod sühnen musste! Die, die ihn überlebt haben, waren keineswegs besser als er. Darüber aber ein anderes Mal. Eines ist wahr: Die Beziehungen mit der Monarchie waren sehr gespannt. Sie wären aber leicht zu verbessern gewesen, wenn die österreichischen Agrarier wie Berchtold und Tisza sich entschieden hätten, einige ihrer Profite auf dem Altar der Heimat zu opfern, und Serbien ein akzeptables Handelsabkommen angeboten hätten, von dem die Monarchie nur zu gewinnen gehabt hätte. Stattdessen kam die berühmte Note. Die deutsche Regierung behauptet, sie nicht gekannt zu haben. Dies ist so fragwürdig, dass es niemand glauben kann. Neben den vielen Lügen, mit denen die deutschen Behörden uns überraschen, hat eine mehr oder weniger keine Bedeutung mehr. Aber auch wenn dies wahr wäre, würde dies nichts mehr verbessern, denn dadurch hat Deutschland zugegeben, dass es den Krieg wollte und dass es den österreichisch-ungarischen Drahtziehern überlassen hat, wie er begonnen werden sollte. Wenn die Deutschen darauf bestehen, dass sie den Krieg nicht gewollt haben, sondern dass er ihnen aufgezwungen wurde, so haben sie in einem gewissen Sinne zweifelsohne Recht. Denn der Krieg, so wie er dann war, ein Kampf mit der Hälfte der Welt, den wollten sie nicht. Es ist selbstverständlich, dass wenn ein Land in den Krieg zieht, es nicht von sich aus die Anzahl der Feinde vergrößert, mit denen es gleichzeitig kämpfen müsste. Eher wird es sich nacheinander mit diesen messen, so wie es Bismarck gemacht hat, der zuerst den einen, dann den anderen und zuletzt den dritten Feind ohne jede äußere Hilfe besiegt hat. Aber um dies so wie Bismarck zu machen, ist der scharfsinnige diplomatische Blick von Bismarck notwendig sowie dessen kluge Entscheidungsfähigkeit, denn Bismarck war nicht als Staatsmann, sondern als diplomatischer Taktiker wirklich groß. Seine Nachfolger und Nachahmer waren niederträchtige Pfuscher, und zwar nicht gemessen an wahren Staatsmännern, für die die Herstellung eines Zusammenhangs mit jenen ja schon eine Beleidigung wäre, sondern gemessen an der Berufsehre eines Diplomaten. Das berühmt gewordene Wort, man habe sich auf einmal vor einer Welt von Feinden gesehen, hat einen tiefen Eindruck auf die politisch naiven Deutschen und Österreicher gemacht, die glaubten, in eine Falle ge-

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tappt zu sein. Die meisten von ihnen waren ehrlich, als sie von der „niederträchtigen Invasion" sprachen. Sie sahen nicht, dass die Schlingen, in denen sich Deutschland und Österreich gefangen hatten, von eben ihren Führern mit unendlichem Ungeschick gelegt worden sind. Sie waren nun wie eine Fliege auf dem Klebestreifen, die mit jeder Bewegung tiefer festklebt. All dies zeigt, dass die österreichisch-ungarische Politik nichts mit den Wünschen, Nöten und Bestrebungen ihrer Völker zu tun hatte. Diese zeigten nicht das geringste Interesse an den Streitereien mit Italien, an der wirtschaftlichen Isolierung Rumäniens und der Erdrosselung Serbiens. Hier ging es nur um die Gelüste und Wünsche und Notwendigkeiten der Dynastie und einiger aristokratischer, besonders ungarischer Cliquen. Darum hat die Außenpolitik Österreich - Ungarns im Inneren der Monarchie gewirkt und die Italiener, Rumänen und Jugoslawen von Österreich-Ungarn der Monarchie entfremdet. Diese mussten sich von der Haltung Österreich-Ungarns den Staaten gegenüber, in denen ihre Nationen lebten, beleidigt fühlen. Dadurch wurden die Fehler der Innenpolitik extrem verschärft. Aus historischer Sicht ist es offensichtlich, dass auch in anderen Ländern dieser Zustand herrschte. Der Staat ist fast überall das Werk der Dynastien und ihrer adligen Verwandtschaften. Diese Eigenschaft seines Wesens erscheint auf gewissen Entwicklungsstufen als notwendig. Bis zur Französischen Revolution, dann unter den beiden Napoleons hat die französische Politik dasselbe Merkmal, ebenso die englische Politik bis zum Ende der napoleonischen Kriege. Starke Überreste dieser Strömung waren in diesen beiden Staaten noch während des Weltkrieges und danach zu spüren. Auch Russland und Deutschland verfolgten nie eine andere Außenpolitik. Am klarsten zeigte sich das in der speziellen Beziehung zu Deutschland, deren letzter Ausdruck das deutsch-österreichisch-ungarische Bündnis war. Die Idee, dass Österreich ein Staat ist, der aus Hochzeiten hervorgegangen ist, ist ohne Zweifel kindisch. Wer etwas von politischer Geographie versteht, weiß, dass die Staaten nur auf einer gewissen geographischen Basis entstehen und sich halten können, und diese hat Österreich nicht gefehlt, wenn man bedenkt, dass dieses vier Jahrhunderte überlebt hat und einen starken Staat bilden konnte. Aber das, was sich auf dem geographischen Gebiet entwickelt hat, hängt von den Menschen ab: klarer gesagt vom sozialen Gefüge, das gewisse Schichten an die Oberfläche bringt und gewisse Individuen an die Spitze des Staates stellt. Auf dieser geographischen Basis oder woanders wäre ohnehin ein Österreich geboren, sei es durch den Premysliden Ottokar von Böhmen, sei es durch Ferdinand I. von Habsburg, der Staat hätte aber ein ganz anderes Aussehen gehabt. Von den Habsburgern gegründet ist Österreich ein Anhängsel Deutschlands geworden. Alle Kriege Österreichs waren eigentlich Kriege des Reiches, geführt mit dem Blut der Völker Österreichs. Denn wie man weiß, hat das Reich fast mit nichts dazu beigetragen. So war es mit dem dreißigjährigen Krieg, mit den Türkenkriegen, mit den Kriegen gegen Ludwig XIV, sogar mit Friedrich II., der das Reich vernichten wollte, und mit den Kriegen gegen Napoleon. Als später das Reich vom Deutschen Bund ersetzt wurde, haben sich die Dinge nicht verändert. In den italienischen Kriegen, in jenen

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gegen Napoleon III., gegen Dänemark, überall ging es um deutsche Interessen, für die Österreich die Heere lieferte. So war Österreich kein Staat mehr, sondern eine Schande. Auch ein Befürworter der Gewaltpolitik wäre der Meinung, dass ein Staat mit einer solchen Politik seine eigenen Interessen verfolgt und nicht die eines anderen Volkes oder Staates. Die Verknüpfung der österreichischen Interessen mit den deutschen war immer ein Grund für die innere Schwäche Österreichs, der bedeutendste, der die Gründung eines einheitlichen Staates und einer österreichischen Nation verhinderte. Mit dem Krieg von 1866, der Österreich aus dem Bund ausgeschlossen hat, sollte diese Beziehung ein Ende nehmen. Aber Franz Joseph hat auf das Bündnis mit Deutschland nicht verzichtet, und nur um sich den Weg einer Restauration zu ebnen, hat er den Ungarn den Dualismus gegeben. Er hoffte, auf diese Art den Deutschen die Vorherrschaft in der österreichischen Hälfte des Kaiserreiches zu sichern, die Ungarn für seine Ideen zu gewinnen und die Slawen und Rumänen, die sich ihm widersetzten, im Zaum zu halten. Der unheilvolle Dualismus war also nur eine Folge der unglücklichen Beziehungen mit Deutschland. Aber Bismarck hat diesen Prozess durch das deutsch-österreichische Bündnis in eine vollständig neue Richtung orientiert. Es ist schwer zu sagen, wozu Österreich-Ungarn dieses Bündnis hätte nützen können. Österreich-Ungarn hatte zwei mögliche Feinde: Russland und Italien. Das Bündnis sollte nur im Falle eines zweifachen, italienischen und russischen Angriffs in Kraft treten. Italien allein war zu schwach, um Österreich-Ungarn anzugreifen. Russland aber hatte absolut keine feindlichen Absichten der Monarchie gegenüber. Es ist ein Märchen, dass es Galizien wollte. Wenn dies wahr gewesen wäre, hätte Russland sich Galizien leicht im Jahre 1870 oder auch später noch nehmen können, als es noch enge Beziehungen mit Deutschland hatte. Russland hat es aber nicht getan, weil ein jeder vernünftige Russe wusste, dass die Eingliederung mehrerer Millionen Katholiken den Staat geschwächt oder ihm wenigstens die bisherige konfessionelle Basis vernichtet hätte. Die Gedanken Russlands waren in Richtung Balkan, nach Konstantinopel gerichtet. Doch die Balkan-Pläne Russlands berührten Österreich-Ungarn nicht. Auch während des Krieges von 1877/78 hat Österreich-Ungarn Russland gegenüber eine wohlwollende Neutralität bewahrt. Gegner Russlands im Balkan waren vor allem England, einigermaßen Frankreich und, seit dem Beginn der Ostpolitik Wilhelms, Deutschland. Ruhig hätte Österreich-Ungarn die Lösung dieser Frage den nahe interessierten Mächten überlassen können und hätte dann eine nützliche Unterstützung in England gefunden. Russland ist erst, nachdem Österreich-Ungarn auf Leben und Tod sein Schicksal mit dem Deutschlands verbunden hat und entschlossen war, den Weg Russlands nach Konstantinopel zu versperren, offen auf die Seite der Feinde Österreich-Ungarns getreten. Die sogenannten deutschen Staatsmänner handelten so klug, dass das alte Spannungsverhältnis zwischen Russland und England vergessen wurde und England zuletzt den Russen Konstantinopel überließ. Qui mange du pape en meurt. Bismarck als Preuße und Protestant war schon immer ein hartnäckiger Feind Österreichs gewesen, aber mit nichts hat er diesem

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so geschadet wie mit dem Bündnis. Für ihn war es mit Sicherheit der einzige Ausweg aus der Situation, in die er sich selbst hereingeschleust hat durch die sinn- und zwecklose Annektierung von Elsass-Lothringen. Frankreich war der Erzfeind, und er sah dessen unausweichliches Bündnis mit Russland voraus: es war offensichtlich, dass Deutschland nicht mit zwei solchen Feinden kämpfen konnte. Es wird aber für immer ein Geheimnis bleiben, wozu Österreich dieses Bündnis gebraucht hat, in einem Augenblick, in dem es von keinem Krieg bedroht war. In der Tat hat Österreich auch den letzten Nagel für den eigenen Sarg gereicht. Das Bündnis hat die Opposition gegen Russland hervorgerufen, aus der der Weltkrieg hervorgegangen ist. Dies war völlig sinnlos, denn sowohl Deutschland wie auch England hätten auch ohne das Bündnis die Eroberung Österreich-Ungarns durch Russland nicht erlaubt. Dieses Bündnis hat auch verhindert, dass sich Österreich-Ungarn auf die Großmächte stützen kann, obwohl Eduard VII. dazu öfters aufgefordert hat. Es hat Österreich-Ungarn auch keine richtige Freundschaft gebracht, denn der Deutsche (habgierig, neidisch, giftig) ist unfähig, ein solches Gefühl zu haben; politisch und wirtschaftlich wurde Österreich-Ungarn von Deutschland während des Bündnisses geschädigt, aus allen Kräften und überall, besonders aber in Italien und im Balkan, und während des Weltkrieges wurde Österreich-Ungarn mitleidslos, bis zum letzten Blutstropfen und bis zur letzten Sau aus dem Stall des Bauern in der Bukowina, ausgepresst. Das wichtigste ist aber, dass dieses Bündnis der österreichisch-ungarischen Politik eine Richtung gegeben hat, die den Volkern der Monarchie meist aus der tiefsten Seele verhasst war. Letztlich konnte es dem österreichischen Deutschen recht sein, dass Österreich ein Anhängsel Deutschlands geworden ist. Auch der Ungar konnte sich gut fühlen, in Deutschland wegen seiner slawenfeindlichen Politik eine Unterstützung zu finden. Aber was sagten die Slawen und die Rumänen Österreichs und Ungarns, als man ihre Kräfte für Zwecke einsetzte, die nichts mit den eigenen zu tun hatten? Die österreichisch-deutsche Allianz kann nur historisch erklärt werden. Dreieinhalb Jahrhunderte hat man es als selbstverständlich angesehen, dass die Habsburger das Blut ihrer Volker dem Römischen Reich Deutscher Nation opferten. Nachdem Bismarck Österreich fest an Deutschland gebunden hat, dachte er nicht mehr daran, auf die Vorteile zu verzichten, die er von Österreich haben konnte. Dieses Ziel verfolgte er schon 1866, als er, etwas hellsichtiger als Wilhelm und die preußischen Generäle, den berühmten milden Frieden mit Österreich geschlossen hat. Der Bund hat seine Gedanken gekrönt: Österreich sollte in Zukunft keinen Einfluss mehr in Deutschland haben, ist aber Deutschland nützlich geblieben. Er knüpfte nur an eine alte Tradition an, ohne die sein ganzer Bau sinnlos gewesen wäre, und Franz Joseph, vom Ungarn Andrassyi beraten, war noch genügend in dieser Tradition befangen, um zu akzeptieren. Er fühlte sich ohne Unterbruch als ein deutscher Herrscher. Erst im Weltkrieg zeigte sich das wahre Gesicht des Bündnisses. Die Kroaten und Ukrainer mussten kämpfen, damit die Deutschen Belgien schlucken und Kurland als Geschenk deutscher Generäle verteilt werden konnte, eine Idee, die wirklich nicht in den Kopf eines modernen Menschen will. Den Deutschen schien dies natürlich, es war aber gegen den Sinn des

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Bündnisvertrages, denn dieser wurde nur für Zwecke der Verteidigung abgeschlossen, nicht auch für Eroberungen. Die einzige mögliche Lösung wäre gewesen, dass Österreich von Deutschland verlangt hätte, auf seine Eroberungsabsichten zu verzichten, und dass es, wenn dies nicht geschehen wäre, separate Friedensverhandlungen begonnen hätte. In Wirklichkeit waren alle klarsichtigen Österreicher Anhänger eines Separatfriedens von dem Augenblick an, in dem die Eroberungsgedanken Deutschlands zum Vorschein getreten sind. Die Deutschen verstanden aber so wenig von dieser Situation, dass sie entschlossen waren, nach dem siegreichen Abschluss des Krieges das nach dem Völkerrecht abgeschlossene Bündnis in einen Staatenbund zu verändern, also aus den österreichischen Slawen und Rumänen nicht gleichberechtigte deutsche Bürger, sondern ihre Untertanen, eine Art Belgier oder Letten zu machen. Tatsache ist, dass das heutige Aussehen Europas nicht sehr erfreulich ist, aber wir müssen erschrecken vor dem, was Europa gewesen wäre, wenn die Deutschen gesiegt hätten. Das Thema der Beschreibung der Ursachen für den österreichisch-ungarischen Zusammenbruch ist unendlich, aber die wichtigsten Dinge wurden bis hier gesagt. Eigentlich wurde Österreich-Ungarn selbst nicht besiegt, sondern es ist unter dem Einfluss der militärischen Ereignisse in Stücke auseinandergefallen, weil nach Vittori o Veneto die Armee als das einzige Element, das es noch zusammengehalten hat, nicht mehr existierte. Und wenn wir die Frage stellen, wie es denn möglich sei, dass ein Staat nicht länger als sein Heer überlebt, kommen wir wieder zu dem Thema zurück, von dem wir ausgegangen sind: weil in diesem Staat die Nation nicht geboren wurde. Denn kein anderer europäischer Staat, auch ein am Ende seiner Kräfte angekommener, wäre auf diese Art durch seine Völker selbst zu Grunde gegangen. Letztlich ist aber die Nation nur ein Wort, höchstens ein Wort mit mehrfacher Bedeutung. In diesem Fall kann es nur bedeuten, dass zwischen den zahlreichen Teilen, die im Staat vereinigt sind, nie ein richtiges Gemeinschaftsgefühl existierte. Wenn der österreichische Deutsche sich näher den Tschechen, den österreichischen Polen oder Kroaten oder Italienern als den Deutschen außerhalb der Staatsgrenzen gefühlt hätte oder österreichische Polen, Serben oder Italiener sich näher den österreichischen Deutschen gefühlt hätten als den Polen, Serben oder Italienern außerhalb der Grenzen, dann hätte eine österreichische Nation existiert. Dasselbe gilt für die Schweizer, die übrigens keine gegenseitige Sympathie (wenn sie anderssprachig sind) zeigen und auch nicht untereinander (national gemischt) heiraten. Die Ursachen dieses Phänomens sind sehr unterschiedlich. Sie wurden aufgezeigt und sind schwer in eine einfache Formel zu fassen. Immerhin existiert eine solche Formel und wir erlauben uns, sie zu formulieren. Wer die Entstehung der Nationalitäten über drei Jahrhunderte in Europa beobachtet, sieht, dass dort, wo dieser Prozess irgendwie vollständig durchgespielt ist, der Ansporn dazu nie unter Zwangsanwendung vom Staat ausgegangen ist, sondern von der Gesellschaft. Das Gemeinschaftsgefühl, das von der Vernunft verlangt wird, entsteht auf einer niedereren Entwicklungsstufe durch die Beziehungen zwischen den Stämmen; später dann in der Polis durch die Aufnahme in die

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Rechtsordnung der Stadt, wenn diese sich auf ein größeres Gebiet ausdehnt. Seit dem Mittelalter bringen die religiöse Gemeinschaft und die feudalen Beziehungen ihren Beitrag zur Bildung der Nationalitäten, und in modernen Zeiten die Sprachgemeinschaft. Immer mussten aber verschiedene geographische Voraussetzungen erfüllt sein. Im Falle von einigen Nationen wie den Italienern, Spaniern, Franzosen, Engländern ist die Beziehung mit dem geographischen Raum offensichtlich. Die Entstehung keiner dieser Nationen kann ohne Berücksichtigung der Geographie erklärt werden. Der politischen Geographie müsste man die nationale Geographie beiseite stellen. Wo sich aber der Staat mit seinen Zwangsmitteln eingemischt hat, dort wurde dieser natürliche Prozess gestört. Er hat einen, sonst nicht vorhandenen, Widerstand hervorgerufen. Nur die Gesellschaft hat zur Bildung der Nationalitäten beigetragen, der Staat nicht. Von den beiden großen Nationen des Altertums ist die griechische in der Diadochenzeit entstanden. Seit dann (und nicht in der hellenischen Zeit) entwickelte sich die griechische Nation von heute, und zwar aus einem gegenseitigen Durchdringen der griechischen mit der orientalischen Zivilisation, begleitet von der Verbreitung der griechischen Sprache. Diese verbreitete sich weit über die Grenzen der griechischen Blutsgemeinschaft. Die zweite Nation des Altertums, die römische, entstand durch die Verleihung des römischen Staatsbürgerrechts an die Bewohner des römischen Reiches, die sich auf das Niveau der römischen Kultur gehoben hatten. Die römische Nation überlebt heute noch in den neolateinischen Nationen. In keinem der beiden Fälle wurde je ein Zwangsmittel gebraucht. Die Germanen, die ins römische Reich während der Volkerwanderung eingedrungen sind, waren im Innenverhältnis Blutsverwandte, nicht Nationen. Die deutschen Staaten stützen sich auf eine Vermischung der primitiven Stammesverfassung mit den Überbleibseln der römischen Verwaltung. Begründer der Nationalität war erst der Feudalismus, den diese gebar. Irgendjemand war Franzose, Deutscher oder Engländer, nur wenn er durch irgendwelche feudalen Beziehungen an den König von Frankreich, den Kaiser oder die englischen Könige gebunden war. Die Normannen aus dem Norden Frankreichs waren Engländer, weil ihr höchster Herr der englische König war, und der Herzog von Burgund wird sogar von Shakespeare als Verräter angesehen, weil er während des hundertjährigen Krieges den englischen König, dessen Vasall er war, verlassen hat und auf die Seite des Königs von Frankreich getreten ist. Heute noch gibt es europäische Staaten, die man nur von ihrer feudalen Grundlage ausgehend verstehen kann (die Belgier, die Portugiesen und, wenn sie als Nation betrachtet werden können, die Schotten). Die Art, wie die Grenzen heute gezogen sind, kann nur durch die ehemaligen feudalen Abhängigkeiten erklärt werden. Im Osten hingegen hatte der Feudalismus nie einen besonderen Einfluss. Hier waren außer den Stammesbeziehungen (auch heute noch bei den Kurden, Arabern, Albanern) die Begründer der Nationalität vor allem die Religionen. Fast alle orientalischen Nationen stützen sich auf die Religionsgemeinschaft und die nationalen Gegensätze auf religiöse Unterschiede. Auch in Europa hat die Religion oft ver-

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einigend oder trennend gewirkt. Wahrend der Religionskriege war unbewusst die Idee wirksam, dass wer eine andere Religion hat, „einen anderen Gott hat", auch national anderen Gemeinschaften angehört. Erst seit dem 18. Jh. wurde die Sprache entscheidend. Ein Mensch, mit dem man sich durch die Sprache verständigen kann, ist für die Annäherung geeignet. Dies hat in allen Zeiten Folgen gehabt. Ihre große Bedeutung erreichte die Sprache erst, als sie Ausdruck einer kulturellen Gemeinschaft geworden ist. Darum ist die moderne Nationalbewegung, die sich auf die gemeinsame Sprache gründet, von den Intellektuellen ausgegangen. Zweifelsohne fühlten diese zuerst die auf die Sprachengemeinschaft begründete Kulturgemeinschaft. Je mehr wir in der Zeit fortschreiten, um so mehr erkennen wir, dass die Nation nicht ein sekundäres Produkt der Stammesverfassungen, der feudalen Beziehungen, der Religion oder Sprachgemeinschaft ist, sondern mehr das Resultat des geistigen Lebens, das von den Dichtern, Künstlern und Gelehrten verkörpert wird. Diese wollen ihre Idealität im eigenen Volk widerspiegeln. Eigentlich haben die nationalen Eigenschaften keinen Ewigkeitswert. Wenn neue soziale Notwendigkeiten es verlangen, tauschen die Völker leicht und ohne Gewalt Sitten und Brauch, aber auch Religion und Sprache mit anderen, die nicht unbedingt besser sind. So sind im Laufe der Zeit unzählige kleine Völkergemeinschaften verschwunden und haben sich mit anderen vermischt, ohne es selbst zu bemerken. Nur so kann man die fast unbemerkte Verschmelzung der kleinen ethnischen Gruppierungen in großen Nationen erklären; in die italienische Nation, französische, spanische, englische Nation. Und die Künstler, Poeten, Schriftsteller und Gelehrten freuen sich mehr, wenn sie zu einer großen und nicht nur zu einer kleinen Gemeinschaft sprechen können. Wie sie im Altertum Latein und Griechisch bevorzugten, so haben sie im Mittelalter bis zum Ende des 17. Jh. Latein benützt, danach aber Französisch und teilweise Englisch. Nur wo man die Beziehung zwischen den Nationen mit Zwangsmaßnahmen zu ordnen versucht, wo mit Hilfe des Staates eine Nation andere Nationen unterdrücken will, nimmt die Verteidigung des Nationalcharakters die Form eines Kampfes für die nationale Freiheit an und die Poeten, Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, ein armer Haufen, werden diejenigen, die zum Kampf aufrufen. Dadurch wird die nationale Bewegung eine demokratische Bewegung. Wenn es zu einer wahren Demokratie kommt, wird diese ruhiger und eine Verschmelzung der ethnischen Gruppierungen ist immer noch möglich. Dank der Demokratie gab es in der Schweiz und in den USA nie nationale Schwierigkeiten. Die französische Nation hat ihre Bildung erst in der großen Revolution abgeschlossen. Die englische Nation hat ihre Einheit im 19. Jh. unter dem Einfluss des immer demokratischer werdenden Parlamentarismus erhalten, die aber vom Weltkrieg schwer auf die Probe gestellt wurde. Für die Einheit der deutschen Nation war das allgemeine Wahlrecht für das Parlament mehr als jede diplomatische Kunst Bismarcks. Die konstitutionelle oder gar die parlamentarische Regierungsform heißt aber noch bei weitem nicht Demokratie. Das absolutistische Russland konnte sicherlich weder mit den Polen noch mit den Ukrainer oder Balten und Letten, aber auch

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nicht mit den Tataren zurechtkommen. Aber selbst Deutschland mit seinem allgemeinen Wahlrecht konnte seinen Partikularismus nicht vollständig besiegen, so wie es sich heute als offensichtlich erweist. Weil Deutschland damals von Preußen geführt wurde, war es vollständig erfolglos in Posen, Elsass-Lothringen, im nordischen Holstein, weil diese Länder, trotz der Volksvertretung, von den Preußen in absolutistischer Form geführt wurden. Der gegenwärtige Erfolg in Oberschlesien erklärt sich durch die Tatsache, dass das Land über Jahrhunderte von germanisierten, aber einheimischen Fürsten regiert wurde und weil dort die deutsche Nationalität freiwillig, schon vor dem Anschluss an Preußen, angenommen wurde. England hat dank seiner Demokratie die Schotten und die Bewohner von Wales schon im 19. Jh., spielend gewonnen. Hingegen erklären sich die Misserfolge in Irland durch die preußischen Methoden, die sie hier angewandt haben und deren Erinnerung durch die Konzessionen der letzten 50 Jahren nicht beseitigt werden konnte. Es ist offensichtlich, dass nur die Gesellschaft eine Nation bilden kann. Der Staat kann es nicht. Dies lehrt uns die tausendjährige Geschichte der Menschheit. Wir werfen jetzt einen Blick auf das österreichische Reich. Dieses hat die Demokratie nicht einmal in den sehr bescheidenen Formen wie die des ancien régime in Frankreich gekannt. Ihrem Verständnis entsprechend, konnten die Habsburger als Deutsche, fanatische Katholiken und Aristokraten sich nicht mit jenen verstehen, die anders als sie fühlten und dachten, sowie mit der großen Masse des Volkes, wie es die Demokratie voraussetzt. Sie versuchten in den letzten Jahrhunderten, die Einheit des Reiches wiederherzustellen durch die Verteidigung der Zünfte, durch die Gegenreformation, durch den Kampf gegen die Tendenz der Ungarn und Tschechen, sich loszureißen, durch einheitliche deutsche Verwaltung, und erreichten im besten Fall, dass die Völker den Staat akzeptierten, sich aber nicht mit diesem identifizierten. Zweimal siegte eine demokratische Richtung: 1848 und 1907, als das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, und in beiden Fällen erschienen Zeichen der Annäherung der Völker. Aber die Bewegung von 1848 wurde durch die Rückkehr zum Absolutismus unterbrochen, das allgemeine Wahlrecht ist nicht auch in Ungarn durchgedrungen, und von Anfang an sah sich die Demokratie tödlich getroffen. Die Demokratisierung von unten nach oben, wie sie überall stattgefunden hat, schlug fehl wegen der politischen Ausnutzung durch die Deutschen und der räuberischen Gewalttätigkeit der Ungarn. Beide waren für die Demokratie zu stark, zu habgierig, zu untüchtig. Auf diese Art bekam der stolze lateinische Vers: Tantae molis erat romanam condere gentem bezogen auf die Verhältnisse in Österreich-Ungarn den entgegengesetzten Sinn: soviel Unfähigkeit und Bosheit mussten ein großes Reich zu Grunde richten!

2. Die Memoirenmanie der Generäle Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, 3. Aufl. Berlin 1919; Urkunden der obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeiten 1916-1918, hrsg. von Erich Ludendorf, Berlin 1920. Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg: Aus meinem Leben, Leipzig 1920. General Edmont Buat: Ludendorff, Paris 1920.* Die große Anzahl von Erinnerungsschriften, mit welchen deutsche Generäle die Welt beglückten, ist ein recht ungewöhnliches Phänomen. Bestand doch seit dem Jahre 1870 kein großes Bedürfnis, Tinte zu verbrauchen. Auch haben die Generäle der Entente die Welt mit ihren Berichten verschont, mit Ausnahme von Cadorna, dem es im Krieg aber genau so erging wie seinen deutschen Kollegen. Deshalb steht zu vermuten, dass der Drang der Generäle, der Menschheit etwas über ihre Taten erzählen zu müssen, erst auftauchte, nachdem es ihnen nicht gelungen war, auf dem Kriegsschauplatz zu zeigen, welch tapfere Krieger sie waren. Infolgedessen sind diese so genannten „Denkschriften" in der Realität nur als bloße Plädoyers seitens der Angeklagten zu betrachten, denen eine der schrecklichsten Niederlagen der Geschichte vorgeworfen wird. Sie war nicht nur das Ergebnis einer mangelhaften Kriegsführung, sondern vor allem einer katastrophalen und völlig unerwünschten Einmischung in die Politik. In jedem anderen Staat wäre daher ein Strafprozess vor einem Gericht eröffnet worden. In Deutschland hingegen hat man eine parlamentarische Untersuchungskommission für ausreichend erachtet, weil die entsprechenden Herren sich als sehr tapfer erwiesen hätten. Als die Kommission jedoch sehr unangenehme Entdeckungen machte, inszenierte man einen riesengroßen Aufstand, worauf die Untersuchungen unterbrochen und nie wieder aufgenommen worden sind. Die Verursacher der Misere bleiben weiterhin unbehelligt. Aber sie bekennen ganz klar, dass damit der Grund der Misere nicht erledigt ist, und schrieben Denkschriften. Es ist schwer zu glauben, dass Ludendorff es nur wegen des Glaubens an seine Unschuld für richtig fand, bei Kriegsende nach Schweden zu reisen. Zwar geschah die Reise „mit Genehmigung der deutschen Regierung" und nur „um sich auszuruhen". Seltsam bleibt jedoch, dass der General für seine Erholung keinen einzigen Ort in ganz Deutschland finden konnte, so dass er im tiefsten Winter nach Schweden reiste, in ein Land, das nicht gerade als Winterkurort bekannt ist! * Memoriomania Generalibor, in: Arhiva pentru §tiinta §i Reforma socialä III (1921), S. 369-383. Übersetzung von lic. iur. Emil Salagean (Zürich). 6 Ehrlich

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Sobald Denkschriften keine historischen Dokumente mehr sind, sondern lediglich Plädoyers, muss man sie auch nur als solche beurteilen. Man weiß, dass der Angeklagte nicht verpflichtet ist, vor Gericht die Wahrheit zu sagen. Es ist richtig, dass weltweit der „Soldat als Mann der Ehre" angesehen wird, der nicht lügt, da man normalerweise glaubt, dass die Lüge nicht zu einem Helden passt. Nur waren die Helden von diesem Glauben wenig überzeugt. Zwischen den während des Krieges begangenen Taten - Morde, Plünderungen, Brandstiftungen, Folterungen und den durch Meldungen herausposaunten „Wahrheiten" würde die Lüge sowieso nur wie eine Blume im Ohr wirken. Und besonders der höhere Generalstab schien die Lüge nicht zu den eingestellten Kampfhandlungen zu zählen. Leider wurde das berühmte Telegramm vergessen, worin der deutsche Generalstab das deutsche Volk über die schwere, entscheidende Niederlage an der Marne unterrichtete. Der Wortlaut war fast - ich bedauere es sehr, dass ich das Original nicht finden kann wie folgt: „Die Kämpfe vor Paris nehmen einen erfolgreichen Verlauf. Die vom Feind verbreiteten Nachrichten sind erlogen". Es gibt keinen Zweifel, dass Hindenburg und Ludendorff für diese Nachricht nicht verantwortlich waren, da sie damals nicht an der Kommandospitze standen. Aber die berühmten Sieges-Telegramme, mit denen auch sie dreieinhalb Jahre lang das deutsche Volk unterrichteten, haben sich als unwahr erwiesen. Es ist richtig, dass diese Verlautbarungen keine grobe Erfindungen, sondern kunstvolle Täuschungen waren, bis zu dem Augenblick, wo man die Realität nicht mehr verbergen konnte. Das deutsche Volk stand plötzlich, nach vermeintlichen Siegen, die die Welt erschaudern ließen, vor der größten Niederlage seiner Geschichte, so dass es sie, obwohl man es ihm ad oculos demonstrierte, bis heute nicht zu glauben vermag. Ob die Beschreibungen der militärischen Operationen, die den größten Teil der Bücher von Ludendorff und Hindenburg füllen, mit der Wahrheit übereinstimmen oder nicht, müssen Fachleute beurteilen. An dieser Stelle werden diesbezüglich keine Untersuchungen angestellt. Die Bekanntmachungen von Ludendorff hingegen über politische Geschehnisse, militärische Siege und Sachverhalte der Armee muss man einerseits als geschönt und andererseits als schlicht unwahr charakterisieren. Mit dieser Aussage wird man, zumindest Ludendorff, kein Unrecht antun, da er schon mehrmals bei Unwahrheiten ertappt wurde. So hat er sogar einmal in seinen Kriegserinnerungen behauptet, dass die gesamte Vorgehensweise des Außenministers v. Kühlmann im großen Hauptquartier zu Bad Kreuznach beschlossenen wurde, und später, als er gegenüber General Hoffmann Rechenschaft ablegen musste, sagte er richtigerweise aus, dass man in Bad Kreuznach nichts entschieden habe. Am 13. August 1918 sagte Ludendorff in Spaa dem Außenminister v. Hinze, dass „eine strategische Verteidigung den Willen des Feindes zum Krieg beseitigen könnte, was schrittweise zum Frieden führen würde". General v. Hindenburg fügte aber hinzu, dass man, um dies zu verwirklichen, auf französischem Gebiet verbleiben müsse, damit man so den Feind zu einem Friedensangebot zwingen könne. Am folgenden Tage, dem 14. August 1918, haben sich jedoch beide im Großen Hauptquartier still verhalten und jene Entscheidung mitgetragen, gemäß derer mit den Friedensbemühungen noch abgewartet werden

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sollte, bis die Welt sieht, dass man die deutsche Armee nicht aus Frankreich vertreiben könne. Am 29. September 1918 aber, als Ludendorff nicht mehr im Stande war, die Niederlage zu leugnen, hat er mit aller Entschiedenheit vor dem Außenminister v. Hinze behauptet, dass er schon am 14. August die Eröffnung der Friedensverhandlungen beantragt habe. Selbstverständlich ist die Thematik in den Kriegserinnerungen nur durch sehr vage Aussagen abgehandelt worden. Aber sogar dort behauptet Ludendorff, nichts von der Antwort seiner Regierung auf die Anfrage von Präsident Wilson im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Friedensbedingungen gewusst zu haben, welche die Regierung im Dezember 1916 gegeben hat. General Buat sagte als höflicher Franzose dazu: „L'affirmation est au moins singuliere". Die deutsche Untersuchungskommission hat in der Tat festgestellt, dass Ludendorff und v. Hindenburg in die geheimen Verhandlungen eingeweiht waren, die die deutsche Regierung in dieser Angelegenheit unternommen hatte. Tatsache war jedoch: Ludendorff bestritt energisch seine Einmischung in die Bemühungen um einen Waffenstillstand am 29. September 1918 und danach wie folgt: „Wie der Gedanke hat entstehen können, ich hätte gesagt, der Waffenstillstand müsse in 24 Stunden abgeschlossen werden, sonst bräche die Front zusammen, ist mir unerfindlich". Dennoch lauten die Telegramme von Ludendorff, die er am 1. Oktober 1918 an den Außenminister richtete, wie folgt: „Sie müssen dringend Friedensverhandlungen eingehen". „Heute können wir noch die Truppen halten, aber man kann nicht voraussehen, was morgen geschehen wird". „Wir können nicht mit dem Friedensangebot bis zur Bildung der neuen Regierung warten, weil die Frontlinie in jedem Augenblick zusammenbrechen kann". „Die Truppen können keine achtundvierzig Stunden mehr warten. Alles hängt davon ab, ob spätestens in der Nacht zum Mittwoch oder Donnerstag das Friedensangebot sich in Händen der Entente befindet. Nur wenn Prinz Max die Bildung der Regierung während der Nacht schafft, könnte man bis zum nächsten Tag warten". Wahrscheinlich sind alle diese Texte deutlich genug. Die Untersuchungskommission weist v. Hindenburg mindestens eine Unwahrheit nach. Die Beteuerung seiner Unkenntnis von den Verhandlungen zwischen der deutschen Regierung und Wilson im Zusammenhang mit der Entfesselung des U-Boot-Krieges entsprach nicht der Wahrheit. In seinen Memoiren versucht er auch jene Fakten zu beschönigen oder auszulassen, die ihm ungelegen kamen. So erinnert er sich z. B. nicht an die Aufforderung zu einem unverzüglichen Waffenstillstand, obwohl diese nicht gerade bedeutungslos war. Wir wären froh, seine Meinung dazu zu erfahren. Muss man die Memoiren der beiden Generäle als das werten, was sie tatsächlich sind, nämlich als Plädoyers gegen alles, was ihnen angelastet wurde, dann muss man zuerst feststellen, für was die Generäle verantwortlich gemacht werden können. Auf diesem Wege können wir beweisen, was schon in der Kriegszeit jedem klar war, der Augen hatte, zu sehen. Die Verantwortung, welche die Generäle selbst übernommen hatten, ging viel weiter als ihre militärischen Pflichten. Die Bedeutung der Generäle kann man kaum vergleichen mit der von Joffre oder Foch *

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in Frankreich, beziehungsweise der von French oder Haig in England oder der von Cadorna in Italien oder der von Pershing in den Vereinigten Staaten von Amerika und noch nicht einmal mit der von Conrad v. Hötzendorfer und Arz in ÖsterreichUngarn. Wahrend des Krieges hat sich Deutschland in das verändert, was es bereits zum Zeitpunkt der Gründung des Kaiserreiches war, nämlich in ein ausgedehntes Preußen. In Preußen war, seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, als Friedrich II. die Vereinbarung mit den Junkern traf, die Macht stets in deren Händen, mit Ausnahme einer kurzen Zeit nach der Revolution von 1848. Die wahre Vertretung der Junker in der Regierung aber war der OfFiziersverband. Fast alle stammten aus jenen Kreisen, besonders die Generäle, die einen ständigen Kontakt zum König pflegten und durch ihn ihren Willen durchsetzen konnten. Der Zweck der Verfassung des Kaiserreichs, die von Bismarck entworfen war, war gerade die Ausdehnung jenes Systems auf ganz Deutschland, sicher mit gewissen Abweichungen in einzelnen Staaten, einhergehend mit der erforderlichen Toleranz und dem Zugeständnis verschiedener Selbstverwaltungen. Im Krieg war diese Schranke, ausgenommen bis zu einem gewissen Maß in Bayern, fast vollständig gefallen. Die deutsche Regierung war in die Hände des Offiziersverbandes gefallen und hatte in der obersten Führung die Durchsetzung des Willens von Ludendorff und v. Hindenburg zur Folge. Der Einfluss des Kaisers hat sich dadurch stets vermindert. Er hat dann „acte de présence" nur für seine höchst überflüssigen Reden gearbeitet. Er setzte sich manchmal für Gott weiß was ein. Der Reichstag war, sozial-demokratisch bis in die hintersten Bänke, genau so nachgiebig wie die preußische Kammer. Wenn er überhaupt einmal eigene Wege gehen wollte, konnte man ihn ausmanövrieren, so wie es Kanzler Michaelis bei der Friedensresolution mit der berühmten Aussage getan hat: „So wie ich es verstehe!" Die kaiserliche Regierung war allmählich gezwungen, alle Wünsche der Generäle zu erfüllen. Der Kanzler Bethmann-Hollweg wurde von ihnen, gegen den Willen des Kaisers, gestürzt, sicherlich sogar mit Hilfe des Reichtages, da er sich ihnen nicht völlig unterordnete, sowie Außenminister von Kühlmann, obwohl dieser die Mehrheit des ganzen Parlaments hinter sich wusste. Es ist wahr, dass es ihnen nicht gelang, einen Kanzler zu stürzen wie den Grafen v. Bülow oder den großen Admirai v. Tirpitz. Aber weder der Kanzler v. Bethmann-Hollweg noch Michaelis, Hertling oder der Prinz Max v. Baden wurden ohne deren Einwilligung ernannt. Zumindest einer der Außenminister, nämlich v. Hinze, hat seinen Auftrag durch deren Vorschlag erhalten. Angesichts des so entscheidenden Einflusses auf die Besetzung der wichtigsten Stellen in der Regierung konnte deren Einfluss auf die Regierung nicht geringer sein. Keiner konnte gegen den Willen der Generäle bestehen. Jeder musste deshalb das tun, was diese forderten. Sicherlich waren sie, wie der Kaiser, vor der Verfassung unverantwortlich; allerdings gegenüber der Geschichte und dem eigenen Volke trägt derjenige die Verantwortung, der seinen Willen anderen aufzwingt. Dementsprechend erstreckt sich ihre Verantwortlichkeit auf alle Maßnahmen, die man auf Grund ihrer Entscheidungen getroffen hat. Die Verteilung dieser Verantwortung auf Ludendorff und v. Hindenburg fällt ziemlich einfach aus. Vom juristischen Standpunkt aus lagen die Entscheidungen

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bei v. Hindenburg. Ludendorff war ihm zur Unterstützung zugeordnet. Hätte v. Hindenburg „nein" gesagt, hätte Ludendorff nichts unternehmen können, weder in politischen noch in militärischen Angelegenheiten. Es ist jedoch bekannt, dass während der viereinhalb Jahre des Krieges beide immer das gleiche Ziel vor Augen hatten. Da es psychologisch unmöglich ist, immer die gleiche Meinung zu haben, kann man dieses im höchsten Grade seltsame Phänomen nur so erklären, dass einer der beiden entweder nie eine eigene Meinung hatte, oder dass sich einer vom anderen stets beherrschen ließ. Welcher von beiden der dominante Mann war, lässt sich ohne Zögern sagen: Ludendorff war ein vierzigjähriger Mann mit einem zügellosen Willen, einem glühenden Machttrieb, selbstbewusst und voller Entschlossenheit; General v. Hindenburg hingegen war ein alter, sanfter Mensch, der seinen siebzigsten Geburtstag während des Krieges feierte. Diesen Eindruck gewinnt man aus den Memoiren, aber auch aus anderen Quellen. Alle Pläne wurden von Ludendorff entwickelt, laglich um neun Uhr traf er sich mit seinem Vorgesetzten und teilte ihm mit, was er entschieden hatte. V. Hindenburg musste nur noch ,ja" sagen. Hindenburg selbst bestätigt dies im folgenden Zusammenhang: „Man traf die Entscheidungen meistens, nachdem man ein paar Vorschläge austauschte. Oftmals genügten zwei, drei Worte, um eine Einigung zu erzielen, die General Ludendorff als Basis für dessen Arbeiten diente". Derjenige, der versteht, was die Zusammenarbeit der beiden Generäle bezüglich solch riesiger Pläne bedeutet, wird zugeben, dass die Dinge nur dann laufen konnten, wenn einer von ihnen nicht viel zu sagen hatte. Wer die Verantwortlichkeit nach strafrechtlichen Prinzipien auf beide aufteilen möchte, wird Ludendorff als den Anstifter oder Täter und v. Hindenburg als Mittäter oder Tatgehilfen bezeichnen müssen. Über v. Hindenburg werden wir im folgenden nicht mehr viel zu sagen haben, da seine Bedeutung im wesentlichen rein dekorativer Art war. Wir werden nicht die militärische Verantwortlichkeit untersuchen, weil militärische Taktik derzeit eine Wissenschaft ist, über die sich zu äußern nur Fachleuten erlaubt ist. Die einst uneingeschränkte Bewunderung, die man für Ludendorff, und besonders für seine Erfolge an der russischen Front, hatte, musste ein wenig berichtigt werden, als man erfuhr, dass er fast immer ausführlich über die Absichten des Feindes informiert war. Er behauptete zwar, dass dies reine Zufalle waren. Diese wiederholten sich aber so oft, dass keiner mehr glauben konnte, sie kämen einfach so vom Himmel gefallen. Von diesem Zeitpunkt an wurden die Militärs ziemlich kritisch, und zwar nicht nur die Franzosen, sondern auch die Deutschen. Sie lasteten ihm viele Fehler und grobe Ausrutscher an. Allerdings bedeutet dies noch nicht viel. Es ist wohl selbstverständlich, dass in einem Krieg, der viereinhalb Jahre unter unvorstellbaren Bedingungen dauert, zahlreiche Fehler passieren können. Es geht aber nun darum zu wissen, ob ein anderer Großer fähig gewesen wäre, jene zu vermeiden, und andererseits, ob es nicht sogar schlechter gewesen sein könnte, wenn er auf eine andere Art und Weise gearbeitet hätte. Für jeden Schlachtplan gibt es einen Gegenplan. Immerhin, Freunde und Feinde waren sich einig: In Erledigung gewisser Dinge war er gegen jede Kritik erhaben. Wer Verständnis für die soldatische Leistung hat, der kann ihn für einen großen Feldherrn

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halten. Mir fehlt gewissermaßen dieses Verständnis, weil ich mich stets frage, nicht was die Tat für den Täter und dessen Leute bedeutet, sondern was die Tat für die Menschheit bedeutet. Friedrich II. und Napoleon I. haben furchtbares Leid über die Menschheit gebracht, und ich muss rückhaltlos gestehen, dass ich mich vor ihnen nicht verbeugen werde, nur weil es ihnen gelang, einige glänzende Schlachten zu liefern. Washington bewundere ich gerne, weil er an der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika beteiligt war, obwohl er nur als mittelmäßiger General galt. Schließlich ist zu sagen, dass ein Sieg nur ein relatives Argument ist, wenn ein Ungleichgewicht der Kräfte oder ein außergewöhnliches Glück nicht berücksichtigt wird. Es beweist nur, dass der andere noch schlechter als der vorige war. Die großartigen Siege auf dem östlichen Kriegsschauplatz Preußens waren nur möglich, weil Samsonow und Rennenkampf, unfähig bis zur Bewusstlosigkeit, sich zu einem blöden Wettlauf verlocken ließen. Mit etwas, was mehr zur Situation gepasst hätte, mit dem Vierfachen an Kräften, hätten sie den Kampf gewonnen. Damit wäre Ludendorffs Talent nicht geringer gewesen, aber wenn die Russen 1914 bis nach Berlin vorgerückt wären, dann hätte sich der Ruf von seiner Gescheitheit nicht derart verbreitet. An der abendländischen Front, wo sich Ludendorff mit Führern gleichen Kalibers wie er befand, sind solche Schläge kaum mehr erwähnenswert. Buat sagt zu Recht, wenn Ludendorff auch die Front durchbrochen hätte, hätte er dennoch in Frankreich keinen Sieg erringen können, weil er vergaß, dass man zuerst die Reserven des Feindes durch eine ununterbrochene Reihe von Angriffen aufreiben muss. Mit den Reserven aber hätte die durchbrechende deutsche Armee immer noch rechtzeitig gestoppt werden können. Für solche Operationen hatte Ludendorff jedoch weder Zeit noch geeignete Mittel. Es wären ganz überlegene Kräfte hierfür nötig gewesen. Von Buat behauptet, diese Voraussetzungen seien für die Entente erst im August 1918 gegeben gewesen, als sie mit dieser Taktik begonnen hatte. Eine solche benötigt allerdings sehr viel Zeit, die er nicht mehr zur Verfügung hatte, da die amerikanische Hilfe vor der Türe stand. Dennoch: Wir mögen Ludendorff die scheinbar verdiente Wertschätzung gönnen als einen der bedeutendsten Taktiker und außerordentlichen Heerführer. Aber die Verantwortlichkeit von Ludendorff ist in erster Linie eine politische. Er fühlte sich berufen, ausgestattet mit der Macht, die er besaß, das Ziel des Krieges zu bestimmen und dieses mit allen Mitteln zu erreichen. Seine Kriegsziele sind uns nicht nur aus den Erinnerungen vom Kriegsschauplatz sowie von weiteren Verkündungen bekannt, sondern auch aus den Friedensabkommen von Brest und Bukarest, in welchen diese sich - zumindest in den großen Linien - verwirklicht hatten. Es waren demnach, mit gewissen Schwankungen, folgende: 1. Die Zersplitterung Russlands: Die Ukraine, Polen und die Randstaaten mussten von Russland abgetrennt werden. 2. Die Ukraine war bis Kriegsende von den Deutschen besetzt. Ludendorffs Gedanke war, diese Lage so lange wie möglich zu erhalten, um einen wie Hatman Skuropdasky an die Spitze dieses Staates zu stellen, der nur Dank der deutschen Truppen an der Macht bleiben konnte, da er unter deren Befehl stand.

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3. Deutschland sollte von Polen einen ungefähr einhundert Kilometer breiten Streifen bekommen. Was dann noch von Polen übrig blieb, war ihm völlig unwichtig. 4. Litauen und Kurland mussten ein Bündnis mit Deutschland eingehen. Diese Länder wurden zum Abschluss eines militärischen Abkommens gezwungen. Sie mussten das Blut ihrer Söhne für die deutschen Kriege opfern und für weitere kriegerische Bedürfhisse Deutschlands einstehen. Außerdem mussten sie auch der deutschen Kolonisierung dienen. Obwohl sich keine Grundstücke ohne Besitzer in den beiden Ländern befanden, waren sie - nach dem zynischen Ausdruck von Ludendorff - einfach von den aktuellen Besitzern zu beschlagnahmen. Was mit der Bevölkerung geschehen würde, war Ludendorff wiederum gleichgültig. Das stimmte mit den Absichten der Pangermanisten überein, die Ludendorff sehr nahe standen. 5. Klare Absichten Estland, Livland und Finnland betreffend hatte Ludendorff nicht. Er wollte dennoch auf keines verzichten. Sie sollten wenigstens deutsche Souveräne haben, um auf diese Weise mit Deutschland verbunden zu sein. Ob er weitergehende Pläne im Kopf hatte? Es gibt gewisse Anzeichen, aber nichts Konkretes. 6. Belgien sollte ein „selbständiger Staat" werden. „Selbständig", aber nicht unabhängig. Diese Formulierung hat man bis zur Äußerung von Kanzler Hertling im September 1918 beibehalten, also bis zu dem Zeitpunkt, als es ihm an den Kragen ging. Der Unterschied bestand darin, dass die Unabhängigkeit ein präziser juristischer Begriff des Völkerrechts ist, der von jedem Juristen klar zu begreifen ist und nicht ausgelegt werden kann, wie man es wünscht. Heute weiß man, was damals unter diesem Begriff zu verstehen war, wenigstens so lange wie man die Befehle befolgte. Wie es Ludendorff selbst sagte, Belgien hätte auch nach Abschluss des Friedensvertrages noch für eine gewisse Zeit militärisch besetzt bleiben sollen - ob es später freiwillig geräumt werden sollte, war wahrscheinlich nur Ludendorff in der Lage zu wissen. Die Besatzung hätte sich sowieso auch später bis zu Escaut verlängert. Wie sich aus anderen Quellen ergibt, hätte man die Übergabe der belgischen Eisenbahnen verlangt. Außerdem war die Unterzeichnung eines Handelsabkommens beabsichtigt, das Deutschland den belgischen Markt gesichert und die Nutzung der Bodenerträge sowie der Industrieerzeugnisse des Landes erlaubt hätte. Zuletzt hätte Deutschland auch das Recht erhalten, den Flamen zu helfen, deren nationale Integrität zu erhalten, obwohl man dies nie angesprochen hatte, was auch nicht nötig war, da sie die Mehrheit in der belgischen Kammer hatten. Die militärische Besetzung, Eisenbahnen, Verpflichtungen aufgrund eines Handelsabkommens, das durch Deutschland aufgedrängt wurde, und an ein Friedensabkommen gebunden, das sogar unkündbar sein sollte, das Einmischungsrecht in interne Angelegenheiten, mit all diesen Bedingungen blieb nicht mehr viel übrig von den Kennzeichen einer „Selbständigkeit"! Wenn es weiter nach Ludendorff gegangen wäre, hätte man Belgien in kurzer Zeit dem deutschen Reich angegliedert. Man hätte Bei-

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gien so viel Autonomie wie nötig belassen, was bedeutete, dass es im deutschen Reichstag nicht einmal vertreten gewesen wäre. Das ist, was man mit „selbständig" meinte. 7. Von Frankreich hätte man „Grenzkorrekturen" verlangt. Es war die Rede vom Bergbaugebiet von Briey, wie es Ludendorff behauptete. Dabei ging es allerdings nicht um die Bodenschätze, sondern ausschließlich um die Ausdehnung der Grenzen. Wer es kann und will, der soll ihm nun glauben (in Rumänien hatte sich Deutschland bereits freie Hand über Erdöl und Ernten für mehrere Jahre gesichert). Außerdem sicherlich auch um die Übergabe von Kolonien, Handelsabkommen und anderes. Die wahre Dimension dieser Pläne ergibt sich erst im Zusammenhang mit der Situation, die Deutschland mit seinen Alliierten, Türkei und Österreich-Ungarn, für sich schaffen wollte. Die entsprechenden Verhandlungen waren ziemlich weit gediehen. Somit hätte Deutschland, militärisch und wirtschaftlich, die zwei großen Reiche unterwerfen können. Wenn man sich überlegt, dass die Mehrheit der Bevölkerung des Österreich-Ungarischen Reiches, die Slawen, die Rumänen, die Italiener, die Türken, die Griechen und die Araber, eher eine Neigung zur Entente hatten, und dass die Tatsache, auf der Seite Deutschlands zu stehen, eine Folge fremder Herrschaft war, konnte offensichtlich Deutschland auch hier nicht die angestrebten Ziele, ausgenommen im Falle eines Sieges, erwarten. Es war die Rede von der Gründung eines universellen Reiches, viel größer, als es die Menschheit je gesehen hat, dauerhaft gestützt auf Militarismus und Kapitalismus. Außerdem wäre in Europa nur ein niedergeknüppeltes Frankreich, ein verstümmeltes Russland, ein ohnmächtiges Italien, ein fortdauernd durch Belgien bedrohtes England geblieben. Das entfernte Spanien und die kleineren Staaten hätten sich nicht einmal mehr selbständig halten können. Dieses universelle Reich hätte fast alle Kohle, die meisten Metalle und die wichtigsten Erdölquellen ganz Europas zur Verfügung gehabt. Das herrschende Volk des Reiches wäre das deutsche gewesen. Das also waren die Pläne von Ludendorff (und der mit ihm liierten Pangermanischen Partei). Man sollte sich nicht mit Ludendorff über dieses Thema streiten. In seinen Memoiren berühmt er sich stets seiner Absichten und betont, wie er sich um das deutsche Volk kümmern wolle. Keiner hätte mit moralischen oder juristischen Einsprüchen etwas gegen diese monströsen Pläne ausrichten können - er hätte sie genau so gut verstanden, als würden sie in Konfuzius' Sprache vorgetragen. Das Ganze muss man so verstehen, als wäre man ein General, der glaubt, man könne der Welt gleich so wie seinen Truppen befehlen, und der überzeugt ist, dass er bei allem, was er unternimmt, die Erlaubnis hat, die Kanonen zu betätigen. Es ist erstaunlich, dass er nie die politische Möglichkeit einer solchen Unterwerfung des ganzen Kontinentes bezweifelt hat. Die einzige Möglichkeit, eine solche Unterwerfung aufrecht zu erhalten, wäre nur die Gewissheit, dass das Schwert und das Gewehr, das zerschneidet und schießt, dies bewirkt. So etwas hätten auch die Deutschen selbst nicht lange ertragen können. In zehn Jahren hätte dieses unglaublich ungehobelte Bauwerk an allen Ecken und Enden gekracht. Das

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heutige England, das über ganz andere politische Gaben und Mittel verfügt, als Deutschland je gehabt hat, noch zurückgeblieben und wegen des Krieges erschöpft, kann nicht einmal seine Probleme mit Irland lösen, verzichtet auf Ägypten und bereitet sich vor, Indien zu verlassen. Glaubt jemand, dass Deutschland, das solche schrecklichen Beweise seiner Unfähigkeit gezeigt hat, in der Lage sei, fremde Völker in Elsass-Lothringen, Posnanien und Schleswig-Holstein zu beherrschen, wenn es sich sogar gegen die schwarze Bevölkerung in Afrika derart aufgeführt hat, dass es den Aufstand der Hereros ausgelöst hat, wahrscheinlich der bedeutendste Aufstand einer schwarzen Bevölkerung gegen eine europäische Herrschaft, glaubt da noch jemand, dass gerade Deutschland in der Lage gewesen wäre, über eine längere Zeit hinweg ein Gebiet wie Europa vor der Sklaverei zu bewahren? Sogar während des Krieges hat sich die Bevölkerung aller Länder gegen die sie unterdrückende deutsche Armee erhoben (Polen, Litauen, Letten, Ukrainer, Rumänen). Aber all dies ist nur zweitrangig. Andere Fragen kommen zuerst. Selbstverständlich hätten sich die Pläne von Ludendorff nur durch einen vollständigen Sieg über die Entente, nämlich Frankreich, England und Amerika, realisieren lassen. Mit welchen Mitteln wollte Ludendorff dieses Ziel erreichen? Der ursprüngliche Kriegsplan, mit dem Einfall in Belgien, dem Überfall auf Frankreich, das unvorbereitet war, die unvorhergesehene Niederlage, die Einnahme von Paris und das dort ausgeübte Friedensdiktat - als v. Hindenburg und Ludendorff die oberste Befehlsgewalt bekommen hatten - haben das Ziel völlig verfehlt. Kaiser Wilhelm hat das Abendessen, das für den Gedenktag des Falles von Sedan in Paris geplant war, auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Es folgten zwei Jahre ziemlich planloser Siege in vielen Teilen der Welt. Einmal in Polen, dann in Frankreich, dann wieder in Serbien oder in Makedonien, in Italien und in Rumänien, in Litauen und in Palästina, jeweils, um tatsächlich zu kämpfen oder nur um Hilfe zu leisten: Ludendorff und die deutschen Truppen. Es war jedermann klar, dass all diese so genannten Siege den Frieden nicht erzwingen konnten. Den letzten Weg hierzu schien der U-Boot-Krieg zu verheißen. Die am Anfang erzielten Erfolge der Unterseeboote haben tatsächlich gewisse englische Kreise beeindruckt, aber auch sie haben dem Sieger nicht den Frieden gebracht. Besonders in England hatte niemand im Sinn, Belgien im Stich zu lassen. So etwas konnte man auch nicht erwarten, wenn man die kleine Anzahl von Unterseebooten in Betracht zieht. Am Anfang des U-Boot-Krieges hatte Deutschland ungefähr 50 Unterseeboote, von denen fast ein Drittel stets beschädigt war und repariert werden musste, ein Drittel lag vor Anker und nur ein Drittel war auf hoher See. Hinzu kam noch, dass die Unterseeboote sich im Kanal nicht durchzusetzen vermochten. England blieb immer in der Lage, seine Truppen in Frankreich über den Kanal zu versorgen. Selbst wenn das Unmachbare sich verwirklicht hätte und der Weg nach Frankreich versperrt worden wäre, standen immer noch die Wege über Spanien, Portugal oder Italien zur Verfügung. Die Engländer wären sicher gezwungen gewesen, den Gürtel enger zu schnallen, aber sicher nicht so wie die Deutschen und Österreicher 1917 und besonders 1918. Die Engländer hätten also keinen Grund gehabt, nachzugeben.

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Ende des Jahres 1917 war es allgemein erkennbar, dass auch der U-Boot-Krieg das Ziel verfehlte. Dann versuchte Ludendorff das letzte Mittel: Er will die französisch-englische Front durchbrechen und Paris erobern. Dass aus taktischer Sicht diese Versuche falsch eingeleitet waren und dass es General Foch mit seinen Reservetruppen immer möglich war, eine andere Frontlinie aufzubauen, wurde schon besprochen. Was wäre aber geschehen, wenn Ludendorff tatsächlich Paris erobert hätte? Clemenceau hat die Antwort gegeben: „Ich kämpfe vor Paris, ich kämpfe in Paris und ich kämpfe hinter Paris." Ich bin Ludendorff für seine Kriegs-Memoiren dankbar, insbesondere für mein Verstehen der Ursachen eines bedeutenden historischen Unterganges. Heute weiß ich, weshalb Hannibal Rom nach der Schlacht von Canae nicht erobert hat. Grund dafür ist, dass Hannibal tatsächlich ein großer Feldherr und nicht nur ein schlauer Taktiker war. Er wusste ganz genau, dass er nur nach schweren Kämpfen und langer Belagerung Rom hätte erobern können. Selbst dann hätte er nicht viel gewonnen. Die Römer hätten nämlich zwischenzeitlich in Italien eine neue Armee zusammengestellt, der gegenüber er nur eine geschwächte Truppe, ohne große Angriffslust, hätte aufbieten können. Ludendorff hingegen, kein großer Feldherr, sondern bloß ein guter Taktiker, hat sich vorgestellt, dass er mit Paris in seinem Besitz den Frieden würde diktieren können. Aber die Alliierten hätten eine andere Front, von Paris zurückweichend, errichtet, um dort auf die Amerikaner zu warten. Dann hätten sich Ludendorff und seine auseinandergerissenen Truppen mit ihnen messen müssen. In Wahrheit war Ludendorff schon von der ersten - ziemlich glorreichen - Offensive vom Mai 1918 so erschöpft, dass er nicht mehr in der Lage war, einen Vorteil aus dem Sieg zu ziehen. Wie kläglich er nach der dritten Offensive aussah, kann man sogar von seiner eigenen Hand lesen. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, den letzten französischen Widerstand zu zerschlagen, hätte er nicht den Frieden des Siegers errungen. Denn die Engländer und Amerikaner hätten nach wie vor die Kontrolle über Meere und Ozeane ausgeübt. Deutschland war bis auf die Knochen von allen Siegen erschöpft und von der ganzen Welt isoliert. Es hätte keine Wahl gehabt und es hätte einen Frieden bekommen, der nicht viel gescheiter gewesen wäre, als der von Versailles, da es nicht mehr die Stärke gehabt hätte, eine mehrjährige Seeblockade aufrecht zu erhalten. So eingehend man die Schriften und Aussagen von Ludendorff und v. Hindenburg auch untersucht, kann man über das Hauptsächliche nichts finden, weder eine einzige strategische Idee, noch etwas über die Art und Weise, wie man erfolgreich einen Krieg bis zu Ende führen kann. Alles dreht sich um taktische Fragen, Kämpfe und taktische Erfolge bei Schlachten. Sie haben den Sinn dieses Weltkrieges nie erfasst und sind bis zum Ende in der preußischen Kriegswissenschaft von Clausewitz bis Schlieffen stecken geblieben, die nichts über einen Weltkrieg gesagt haben, einfach weil sie ihn nicht vorhergesehen haben. Die vorangegangenen Kriege, einschließlich der napoleonischen, von welchen die preußischen Strategieprofessoren hauptsächlich gelernt haben, waren aber nur Schlachtenkriege, deren ganze Strategie letztlich wieder nur eine reine Schlachtenstrategie war. Alles beschränkte sich auf das Ziel, die feindliche Armee durch einen oder mehrere Zusammenstöße zu vernichten. Die Möglichkeit der Aufstellung von stets neuen

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Armeen war damals undenkbar, da die Staaten über nur wenig Mittel verfügten. Zweifellos gab es auch damals Kriege, aus denen man lernen konnte, Kriege, die man unter gewissen Umständen nicht mit einer Schlacht gewinnen konnte, so z. B. der Dreißigjährige Krieg, der Siebenjährige Krieg, der spanische Erbfolgekrieg und der zweite punische Krieg. Aber deren Sinn war von den preußischen Kriegsforschern nicht begriffen worden, mit Ausnahme von Delbrück, des besten Kriegshistorikers, der wie jede einfache Zivilperson verachtet war. Ansonsten, da die Umstände völlig anders waren, hätte das für den Weltkrieg nicht viel geholfen. Diesen kennzeichnen zwei Dinge, die völlig neu waren. Vor allem die riesige Übermacht, die die moderne Technik der Verteidigung zur Verfügung stellte. Eine Front, die man durch solche technischen Mittel verstärkt, konnte man jahrelang nicht erobern. Sogar eine Armee wie die österreichische, wegen der Kämpfe an der russischen Front erschöpft, von innen aufgerieben, in gewisser Hinsicht schlecht ausgerüstet und ungeschickt geführt, konnte sich an der italienischen Front vier Jahre lang verteidigen. Sodann ist ein moderner Staat, völlig anders als beispielsweise der Staat des XIX. Jahrhunderts, in der Lage, die Kräfte einer Nation bis zur Vernichtung zu erschöpfen und diese kriegsbereit zu halten. Das Ganze dreht sich darum zu wissen, wie man sich in der Verteidigung zusammenzieht, bis zu dem Zeitpunkt, wo der Feind die Grenze seiner Geduld erreicht hat, um ihn dann mit den vorher erwähnten Kräften zu überwältigen. Der Einzige, der all dies vor dem Weltkrieg vorausgesehen hat, war der russische Staatsrat Ivan de Bloch. Dieser hat kurze Zeit nach dem spanischen Krieg ein Werk in mehreren Bänden über denjenigen Krieg geschrieben, der Zar Nicolas IL gezwungen hat, die Haager Konferenz einzuberufen. Er zeigte, dass angesichts der großen Vorteile, die die Verteidigung in der heutigen Kriegstechnik bietet, sich die Kriege über mehrere Jahre erstrecken müssten. Er täuschte sich allerdings, wenn er glaubte, dass ein defensiver Krieg nicht realisierbar wäre, falls der Staat nicht genügend Geld mehr zur Verfügung hätte. Er war auch der Meinung, dass man Kriege nicht mit Menschen, sondern mit Geldern, mit Reserven der staatlichen Wirtschaft und mit Bodenschätzen führt. Aus militärischer Sicht hat er die Bestätigung im Weltkrieg bekommen. Mit seiner Vorstellung vom Krieg der Finanzen lag er jedoch falsch, weil er kein Militär-, sondern Finanzmann (Bankier in Warschau) war. Es ist nicht die Rede vom viel besprochenen Kontrast zwischen den Stellungsund den Bewegungskriegen, sondern zwischen einem Krieg, der den Sieg durch Kämpfe erzwingt, und einem solchen, der den Sieg durch Erschöpfung des Feindes ermöglicht: Stellungs- und Bewegungskrieg können sowohl im Kampf- als auch im Erschöpfungskrieg vorkommen. Im Kampfkrieg bekommt eine bessere Führung, die Tüchtigkeit der Armee, das Gelände und der Schauplatz der Schlacht (innere Linien) eine besondere Bedeutung. Im Erschöpfungskrieg läuft die Zeit im Interesse desjenigen, der zum Schluss noch die meisten Kräfte hat. Dies kann sicherlich nur derjenige sein, der über die größten Mittel verfügt. Im Weltkrieg war dies gewiss die Entente. Zu ihr kamen zahllose Kampfeinheiten aus Russland, aus den französischen und englischen Kolonien und später aus den Vereinigten Staaten von Amerika und, was die Munition betraf, aus der ganzen Welt. Deutschland mit

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all seinen Alliierten dagegen war nicht in der Lage, bis ans Ende über vergleichbare Möglichkeiten zu verfügen. Jeder Tag, der den Krieg verlängerte, unabhängig vom einen oder anderen Sieg auf der einen oder anderen Seite, bedeutete ein Gewinn für die Entente und ein Verlust für Deutschland und dessen begrenzt verfügbare Mittel. Sogar die Eroberung eines neuen Gebietes und die Angliederung eines neuen Alliierten, wie die Türkei, bedeutete einen Verlust, da dies zu einer Machtzersplitterung führte. Wie viel hat allein das türkische Operationstheater geschluckt? Männer, Munition, Geld und besonders Offiziere, die später bei entscheidenden Kämpfen gefehlt haben. Für die Entente dagegen wog die Vergeudung von Kräften nicht schwer in der Waagschale, da sie manchmal mehr Kräfte als nötig an der Westfront hatte. Dies war die einzige Front, die sie interessierte. Sofern sie gezwungen worden wäre, alles dorthin zu beordern, hätte sie sich mit dem Notwendigsten an den Nebenfronten einschränken können. In einer solchen Situation war das Verhalten eines großen deutschen Führers, der, wie jeder echte Führer, gleichzeitig Staatsmann sein sollte, wie Ludendorff es sein wollte und glaubte zu sein, genau vorgezeichnet. Er hätte den Krieg mit der größten Schonung der bescheidenen Eigen- und Alliiertenkräfte zu einem so schnell wie möglichen Abschluss bringen müssen. Außerdem wäre das Kriegsziel auf das Notwendigste zu beschränken gewesen. Der Krieg war für Deutschland und deren Alliierte im Wesentlichen ein Verteidigungskrieg. Es war unwichtig, wer ihn verursacht hat. So lange das Bleiben auf fremden Gebieten dauerte, hatten alle taktischen Entwürfe letztlich nur der Verteidigung gedient. Der Gedanke, ein fremdes Gebiet zu erobern, um es nach Friedensschluss zu behalten, ist typisch für Kampfkriege. Es hätte in diesem Falle eines Erschöpfungskrieges, der mit so ungleichen Mitteln geführt wurde, aufgegeben werden müssen. Das fremde besetzte Gebiet hätte ohnehin vom erschöpften Deutschland verlassen werden müssen. Die Rückgabe Belgiens und die betreffende Entschädigung war, was man in Deutschland zu spät erkannte, eine Ehrenschuld. Es war undenkbar, dieses Land annektieren zu können, z. B. durch einen Friedensvertrag mit dem Sieger. Ein Land, das man in Verletzung aller internationalen Verträge überfallen hat, ohne dass es eine Provokation gab. Man verschweigt dem deutschen Volk noch heute, dass es im belgischen Verhalten nichts gibt, was einen Überfall rechtfertigen konnte. Überdies hat man das Land eher ausgeplündert als erobert. Weiter könnte man sich auch über Elsass-Lothringen unterhalten. Es blieb sowieso, fast wie alle deutschen Eroberungen und wie man es während 44 Jahren gesehen hat, fremd in seiner Beziehung zu Deutschland. Es war kein Gewinn, sondern ein Grund für Verwirrungen. Wenn man einen Friedensvorschlag rechtzeitig unterbreitet hätte, hätte sich die Entente zweifellos auf einen Austausch geeinigt: Elsass-Lothringen gegen wertvolle Entschädigungen aus den Kolonien. Sogar die völlige und bedingungslose Überlassung der beiden Provinzen könnte man nicht mit dem schrecklichen und voraussehbaren Unglück vergleichen, das über Deutschland als Folge der Kriegsniederlage hereinbrach. Die Tatsache, dass Deutschland frei von jeder feindlichen Besetzung geblieben ist, während sich die deutsche Armee auf großen Gebieten des Feindes befand,

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hätte zweifellos ein großer Vorteil für Deutschland bei Friedensschluss sein können. Am 13. August 1918 hat sogar Ludendorff seinem Außenminister v. Hinze erklärt, dass er in der Lage sei, durch eine strategische Verteidigung den Willen des Feindes zu schwächen und ihn schrittweise zu einem Friedensvertrag zu bringen. Diese Möglichkeit war am 13. August 1918 schon lange nicht mehr wahr, da bereits eine große Anzahl Truppen aus Amerika angekommen war und die Schwäche Deutschlands sich nach der letzten Offensive deutlich zeigte. Aber zwischen 1915 bis ungefähr Mai 1918, als die deutsche Armee noch unerschüttert war, wäre es möglich gewesen. Warum hat Ludendorff nicht damals versucht, als es noch nicht zu spät war, durch eine strategische „Verteidigung", und noch dazu auf fremdem Gebiet, nämlich dem französischen, den Willen des Feindes zu schwächen, um ihn schrittweise zu zwingen, ein Friedensangebot zu machen? Auf diesem Wege hätte ein ehrenvoller Frieden erreicht werden können, der Deutschland unzerteilt, zumindest das Land vor der größten Katastrophe bewahrt hätte. Dies hätte aber nicht zu einem „Frieden des Siegers" mit sicheren Eroberungen von universellen Dimensionen geführt. Um den Frieden des Siegers zu erreichen, hätte Ludendorff Siege gebraucht. Aber alles, was er tat, waren Täuschungsmanöver, die sich später auch als solche erwiesen. Das Unglück des deutschen Volkes war, dass es ein Oberkommando hatte, welches diese Tauschungsmanöver als Siege betrachtete und sie nicht ausnutzte, so wie man Täuschungsmanöver ausnutzen kann, um den Feind zu einem Friedensvertrag zu bringen. Man wollte vielmehr damit einen Frieden des Siegers erzwingen, was man schon im Voraus als völlig unrealistisch bezeichnen konnte. Der Seufzer, den Ludendorff in seinen Memoiren ausstößt, nach dem Bericht von den Schlachten von Soissons und Reims (Ende Mai 1918), erlaubt uns aufgrund seiner Naivität eine tiefe Einsicht in die Intelligenz des großen kämpferischen Feldherrn: „Die Entente denkt nicht einmal nach dieser zweiten Niederlage des Jahres an Frieden". Die Entente hatte, wie es das Ende gezeigt hat, die Wahrheit auf ihrer Seite. Die schwere Niederlage bedeutete nicht irgendwie einen Sieg für die Deutschen, sondern war höchstens ein faktischer Erfolg ohne entscheidende Folgen für den Kriegsverlauf. Der Fehler lag beim Chef des Hauptquartiers, da er von solchen „Siegen" das Ende des Krieges erwartete. Die riesengroße Verantwortung, die Ludendorff trifft, und mit ihm auch v. Hindenburg, ist, dass sie den wahren Verteidigungscharakter dieses Krieges nicht erkannt haben und mit ihren unmöglichen Plänen, die Welt erobern zu wollen, ein Friedensangebot sinnlos gemacht haben, welches zur Versöhnung hätte führen können. Damit haben sie Deutschland ins Unglück gestürzt. Das Ziel, nach welchem Ludendorf strebte, war nicht mit seinen Siegen zu erreichen. Einmal hier, einmal dort, auf zwei Kontinenten. Diese Siege hätten aber sicher einen ehrenvollen Frieden erlaubt. Ein derartiges Angebot hätte im Jahre 1915 stattfinden sollen nach der Schlacht von Gorlice oder 1917 nach dem Zusammenbruch Russlands. Sogar 1918, aber vor der Landung der amerikanischen Truppen und vor den schweren Verlusten und vergeblichen deutschen Offensiven, wäre der richtige Zeitpunkt gewesen. Wenn Deutschland, sogar in jenem letzten Augenblick, die 14 Punkte von Wilson angenommen hätte, dann wären diese ganz

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bestimmt nicht nur auf dem Papier geblieben, da Deutschland damals noch eine ungeschlagene Armee hatte. Zu diesem Zeitpunkt hätte Wilson eine ganz andere Stellung innerhalb der Entente gehabt. Aber einen derartigen Frieden konnte Ludendorff nicht erlauben, da er hartnäckig nach dem Frieden des Siegers strebte. Die Blindheit in seinem Lager war so groß, dass v. Hindenburg nach der Maioffensive, als der Zusammenbruch schon vor der Tür stand, noch kühn gesagt hat: „Man wird keinen weichen Frieden schließen". Hätten ihm diese Worte irgendein Aischylos oder Shakespeare in den Mund gelegt, dann würde es in der Literatur als kunstvolle Bezeichnung einer kriminellen Verirrung gelten. So hat man wertvolle Zeit bis in den August hinein verschwendet. Erst am 18. August 1918, nach der Niederlage vom 13. August, als man nicht mehr die Augen verschließen konnte, und angesichts der sinkenden Moral der Truppe ist Ludendorff aufgewacht. Zum ersten Mal gab er den Anstoß zu Friedensverhandlungen, jedoch in einer so vagen Weise, dass Minister v. Hinze, der vor kurzem von seinem Stellvertreter im Oberkommando v. Lersner erfahren hatte, dass, je mehr sich Deutschland dem Abgrund nähere, desto mehr ihn Ludendorff und v. Hindenburg beruhigen würden, sich berechtigt fühlte, vor jeder Aufnahme von Friedensverhandlungen zuerst auf einige militärische Siegesmeldungen aus dem Westen zu warten. Im August war es aber zu spät. Was Ludendorff und Lersner sahen, dass die deutsche Armee nämlich täglich an Widerstandswillen verlor, konnte auch der Entente nicht entgehen. Günstige Friedensbedingungen konnte man zu diesem Zeitpunkt schwerlich erwarten. Tatsächlich kam der Vorschlag für die Eröffnung der Friedensverhandlungen erst am 28. September, als der Sieg der Entente bereits offensichtlich war und die deutschen Truppen Stellung um Stellung verließen. Von Hindenburg beurteilte dies hart: „Die Gegner sahen unsere gesamte Lage seit damals zu klar, um den Weg für Friedensverhandlungen einzuschlagen". Mit der ihm eigenen Naivität unterstrich Ludendorff, dass nach Entsendung der ersten Note an Wilson nun das Geschwätz über den Versöhnungsfrieden verstummte. Er hätte aber von selbst begreifen können, dass damals nicht mehr von einem Versöhnungsfrieden die Rede sein konnte, wenn man einen Frieden des Siegers diktieren wollte. Der Sieg stand nach einem blutigen viereinhalbjährigen Krieg nahe, in welchem der Gegner nicht viel dafür getan hatte, eine Absicht der Versöhnung erkennen zu geben, die auch einen entsprechenden geistigen Zustand der Versöhnung hätte bewirken können. So ist geschehen, was geschehen musste. Eine schreckliche Niederlage, die man nicht mehr verhindern konnte, und ein Frieden, dessen Berechtigung mit tragischer Ironie gerade eben v. Hindenburg mit seiner Prophezeiung gegeben hat: „Es wird keinen weichen Frieden geben". Wilson konnte nichts mehr ändern, obwohl ihm ein guter Wille nicht fehlte. Aber von dem Moment an, als der Sieg der Entente gesichert war, konnte er in dieser Situation nicht mehr Schiedsrichter sein. Demzufolge ist Ludendorff anzulasten sein Streben nach einem Eroberungsfrieden und das Versäumnis, einen Versöhnungsfrieden zu unterzeichnen, als dies noch möglich gewesen wäre. Sowohl Ludendorff als auch v. Hindenburg wenden hiergegen ein, dass die Entente nie einem solchen Frieden zuneigte, sondern dass

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diese ausschließlich die vollständige Vernichtung Deutschlands verfolgte. Dieser Gedanke ist in den Büchern ihrer Gegner festgehalten und wiederholt sich ständig. Angesichts einer solchen Aussage ist doch die vordringlichste Frage: Woher wissen es denn die beiden Herren Generäle? Hat man irgendwann der Entente einen annehmbaren Plan für den Frieden vorgeschlagen, den diese abgelehnt hat? Oder wurden gerade Ludendorff und v. Hindenburg von der Entente heimlich in ihre Pläne eingeweiht? Nirgends findet man einen Satz, der Grundlage für eine solche Vermutung abgeben könnte, und die Generäle tun nichts anderes, als zu behaupten und zu bitten, dass man ihren Behauptungen glauben solle. Die Sache scheint aber nicht sehr wahrscheinlich, da auf der Seite der Entente letzten Endes sowohl die Leute wie auch deren Einstellung sich geändert zu haben scheinen. In den viereinhalb Jahren des Krieges gab es genug Momente, besonders in den vier Jahren vor der Machtübernahme durch Clemenceau, in denen sich die Leute, die dazu in der Lage waren, mit vollem Einsatz hätten dafür engagieren können, dem Blutbad ein Ende zu machen, wenn die Perspektive für eine Verständigung mit Deutschland gegeben gewesen wäre. Aber hier geht es nicht nur um eine unbegründete Behauptung und zwar eine leichtsinnige, sondern um eine bewusste Unwahrheit. Wir wissen vor allem, dass die 1917 von Graf Reverterá im Auftrag von Czernin in der Schweiz begonnenen Verhandlungen mit dem französischen Grafen Armand zum Ergebnis führten, dass die Franzosen mit der Rückgabe von Belgien und Elsass-Lothringen zufrieden gewesen wären. Im Tausch hätten sie den Deutschen ihre (sogar vergrößerten) Kolonien belassen, sowie freie Hand im Morgenland. Von Österreich-Ungarn verlangte man nur die von Italienern bevölkerten Gebiete. Was man auch immer von der Rückgabe von Elsass-Lothringen hält, das stets ein Fremdkörper im Kaiserreich war, sah dieser Friedensvorschlag nicht einmal aus der Ferne nach Deutschland-zerstörerischen Absichten aus. Ferner können Sätze wie zum Beispiel: „Jedes Volk steht und fällt mit seiner Ehre" niemanden mehr täuschen, da weder von der Ehre noch von der Existenz des deutschen Volkes die Rede sein konnte. Es gibt keinen Staat in Europa, der im Laufe der Jahrhunderte sich nicht durch die Aufgabe von Gebieten einen Frieden erkaufen konnte. Damit hat ein Staat in keiner Weise seine Ehre verloren. Wenn Ludendorff sagte, dass von Gebietsaufgaben nicht die Rede sein könne, „solange wir nicht geschlagen sind", vergisst er, dass in dem Moment, in dem Deutschland geschlagen gewesen wäre, man nicht mehr Elsass-Lothringen, sondern viel mehr verlangt hätte. Dass die Entente hierin nur einen Beweis der Schwäche gesehen und dass man dann andere Ansprüche geltend gemacht hätte, ist nicht wahr. Graf Czernin hat nicht nur leichtfertig Vorschläge unterbreitet, sondern im Laufe der Verhandlungen zwischen einem eigenen Vertrauensmann und einem Vertrauensmann der Entente Vorschläge unterbreitet, und sicherlich hat man die vor Ludendorff nicht verschwiegen. Wie hätte man anders einen Versöhnungsfrieden beginnen können, als durch solche geheimen Gespräche? Eine andere, hoffnungsvolle Friedensinitiative begann im Jahre 1917 durch den Papst. Ludendorff versucht die Sache so darzulegen, als ob der Papst die Initiative

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in eigener Verantwortung und auf eigenes Risiko unterbreitet hätte. So sei es ihm beschieden gewesen, das Ziel - neben der Entente - zu verfehlen. Er schließt: „Die Entente hat negativ oder unpräzis geantwortet. Unsere Antwort, so wie die österreichisch-ungarische, war entgegenkommend und in vielen Punkten mit diplomatischen Vorsichten versehen. Der Brief des Papstes hatte leider keine Wirkung". Heute kennen wir ganz klar die Fakten durch Äußerungen von Erzberger und Scheidemann, wodurch sich herausstellt, dass die Beschreibung Ludendorffs völlig falsch ist. Der Papst hat den Friedensbrief nicht erst veröffentlicht, nachdem er Kontakte zu England aufgenommen hat, sondern, wie zu vermuten ist, auf deren Initiative. Dies brauchte lediglich eine zufriedenstellende Antwort bezüglich Belgien, um in die Friedensverhandlungen einzutreten. Darüber wird schwarz auf weiß im Brief von Nuntius Pacelli an den Kanzler Michaelis vom 30. August 1917 geschrieben. Der Kanzler beantwortete den Brief erst am 24. September wie folgt: „Ich bin noch nicht in der Lage, dem Wunsche Eurer Exzellenz zu entsprechen und eine bestimmte Erklärung über die Absichten des kaiserlichen Reiches betreffend Belgien zu formulieren". Dies bedeutete, dass er jede Erklärung in Hinsicht auf Belgien kurzerhand abgelehnt hat. Diese Antwort wurde im Einvernehmen mit Ludendorff gegeben. Dieser sagte, dass der Kanzler ihm seine Antwort vorlas, dass die jedoch Ludendorffs Ansicht nicht entsprach: „Aber ich habe meine Einwände zurückgezogen und habe nur unwesentliche Gegenvorschläge gemacht". Ludendorff sagte nicht, und es war auch nicht seine Meinung, dass ihm seine Einwände in Wirklichkeit die Erklärung über Belgien abzubrechen erlaubten. Dieser Versuch war nicht ergebnislos, weil er gegen den Zerstörungswillen der Entente gerichtet war, sondern weil Ludendorff sich nicht entscheiden konnte, Belgien zurückzugeben, so wie es die Ehrenpflicht Deutschlands gewesen wäre. Dass die österreichisch-ungarische Antwort die gleiche wie die deutsche war, „in vielen Punkten mit diplomatischen Vorsichten versehen", ist verständlich. Österreich hatte nichts über Belgien zu sagen. Es gibt noch andere Argumente gegen der Annahme des Zerstörungswillens. Balfour hat im Jahre 1917 im House of Commons erklärt, dass er einem neutralen Diplomaten, der ihn über dieses Thema im Auftrag der deutschen Regierung befragt hatte, geantwortet habe, dass die englische Regierung bereit sei, jedes Friedenszeichen zu empfangen, das die deutsche Regierung sende, und auch mit den andern Alliierten darüber zu beraten. Auf diese Aussage hat er keine Antwort erhalten. Es kann nicht sein, dass Ludendorff nichts darüber erfahren hat, da man das Ganze in den Zeitungen lesen konnte. Schließlich, im Schreiben von Nowak, findet man eine detaillierte Beschreibung der Friedensangebote, die der Außenminister von Kühlmann nach dem Frieden von Brest-Litowsk unterbreitet hat. Dieses Schreiben stützte sich zweifellos auf die Mitteilungen v. Kühlmanns und wurde von ihm gelesen, wie das Vorwort des Buches andeutet, bevor man es zum Druck gab. Die Friedensverhandlungen waren ziemlich weit gediehen, als Kühlmann von den Konservativen, also den Parteigängern von Ludendorff gestürzt wurde, allerdings nicht ohne seine eigene Intervention. Von diesen Bemühungen hätte auch Ludendorff wissen müssen, da Kaiser Wilhelm II. es wusste und es ihm sicher

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nicht verheimlicht hätte. Man kann die Vermutung nicht vom Tisch wischen, dass genau jene Anstrengungen den Sturz von Kühlmanns verursacht haben, weil er Belgien aufgeben wollte. Aber all dies tritt hinter das Verhalten von Ludendorff und v. Hindenburg bei den Friedensvermittlungen zurück, die von Wilson in den Jahren 1916 und 1917, sowie von der deutschen Regierung, in die Wege geleitet wurden. Hier hat die Untersuchungskommission zweifelsfrei festgestellt, dass beide Generäle von fast allen Interventionen informiert waren und dass sie die Erklärung des U-BootKrieges nur vorangetrieben haben, um die Friedensvermittlungen zu vereiteln. Wilson wollte einen Frieden weder mit Siegern noch Verlierern. Mit einem derartigen Frieden wären aber alle Pläne, die die Eroberung der Welt bezweckten, hinfällig worden, während man mit dem U-Boot-Krieg in sechs Monaten, und sei es auch ein Jahr, England in die Knie zwingen wollte. War dies Geistesstörung oder Verbrechen? Nach meiner Überzeugung war es beides. Wenn wir uns vorstellen, wie die Lage Deutschlands gewesen wäre, falls sich die Friedensbemühungen Wilsons erfüllt hätten: Deutschland hätte sich in den alten Grenzen als ein starker Staat erhalten können, mit wahrscheinlich mehr Kolonien, das „einer Welt von Feinden" widerstanden hätte, ohne dass es irgendeine Niederlage hätte hinnehmen müssen. Aber wenn Wilson angesichts des Zerstörungswillens der Entente sein Ziel verfehlt hätte, wie es Ludendorff behauptete, hätte Deutschland endgültig Präsident Wilson und die Vereinigten Staaten von Amerika auf seine Seite gebracht. Es gilt als sicher, dass die Vereinigten Staaten von Amerika nie mehr an die Seite der Entente getreten wären, noch nicht einmal, wenn später Deutschland den U-Boot-Krieg erklärt hätte. Über das, was Ludendorff zu Papier zu bringen wagte, kann man sein Urteil fällen: „Die Behauptungen, nach welchen man den Frieden erlangen könne, unter diesen oder jenen Bedingungen, sind unglaubliche Leichtfertigkeiten und eine erneute bewusste Irreführung des deutschen Volkes. Die Entente hat nie ein Angebot gemacht und hatte nie im Sinne, etwas zu geben, sondern nur zu nehmen." Eine unglaubliche Leichtfertigkeit und eine bewusste Irreführung des deutschen Volkes besteht zweifellos, aber vollständig auf Seiten Ludendorffs. Die Wahrheit ist, dass 1917 und oftmals auch früher eine zufriedenstellende Erklärung der deutschen Regierung, Belgien betreffend, genug gewesen wäre, um zu Friedensverhandlungen zu gelangen. Dies kam durch Ludendorffs Verschulden nie zustande. Für die endgültige Niederlage machte Ludendorff alle verantwortlich, besonders die Kanzler (einschließlich des unglaublichen Michaelis, obwohl dieser Schuldige nie etwas anderes war als seine Marionette) und schließlich das deutsche Volk und die deutsche Armee. Nur er selbst und v. Hindenburg waren frei jeder Schuld. Die Kanzler, vor allem Bethmann-Hollweg, aber auch Hertling oder Prinz Max v. Baden, beschuldigte er insbesondere, wenn ich ihn richtig verstehe, keine Zauberkünstler gewesen zu sein. Sicherlich waren alle nicht nur von unzulänglicher Kompetenz, sondern auch arme Sünder. Was die Persönlichkeit von Prinz Max betrifft, erscheint dieser in der Tat in einem schlechten Licht, weil ein Brief, der für Prinz 7 Ehrlich

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Hohenlohe bestimmt war, von der Entente veröffentlicht worden ist. Aber wie sie hätten erreichen können, was Ludendorff und v. Hindenburg von ihnen verlangten, ist kaum vorstellbar. Das Ideal der beiden Herren wäre ein Krieg nach Art und Weise jenes zwischen den beiden Hunden, wo am Ende nur noch die Schwänze übrig blieben. Dieser Idee hat sich Frankreich dank Clemenceau sehr genähert. Die französische Kammer musste nun mit acht Abgeordneten weniger auskommen, da die Bevölkerung durch die hohen Verluste auf dem Schlachtfelde entsprechend abgenommen hatte. Aber einem Clemenceau war es viel leichter, Frankreich bis zum letzten Tropfen bluten zu lassen, als einem deutschen Kanzler, weil Frankreich mit Lebensmitteln und Munition aus der ganzen Welt versorgt wurde, während Deutschland sich alleine versorgen musste. Deswegen musste man ständig eine Menge von guten Arbeitern innerhalb des Landes bereithalten. Das so genannte Programm Hindenburgs stützte sich auf die vollständige Unkenntnis dieser Gesamtlage. Man konnte scheinbar nicht von einem Kanzler verlangen, dass er persönlich jedem Deserteur oder jedem nachlässigen Reservisten hinterheijagt. Dazu brauchte er Hilfe, und er konnte sie nur bei Leuten finden, die gut für die Front oder andere militärische Dienste waren. Je mehr man solche Leute für jene Angelegenheiten brauchte, desto weniger waren für die Front übrig. Gleichermaßen ungerecht behandeln Ludendorff und v. Hindenburg das deutsche Volk und die Armee. In Sachen Kriegsbegeisterung hat man in Deutschland deutlich genug getan. Dies waren, wenn man es näher betrachtet, aber alles nur Aufputschmittel. Jeder Arzt kann bestätigen, dass, je mehr man damit die eigene Kraft verschwendet, desto schneller man in die Teilnahmslosigkeit stürzt. Dies sind Wahrheiten, die jeder wissen sollte, umso mehr, wenn es sich um einen Feldherrn handelt. Wenn Ludendorff und v. Hindenburg nicht nur Truppenkommandeure gewesen wären sondern auch große Führer, hätten sie berücksichtigen müssen, dass die moralische Ausdauer des Volkes und der Armee ein Limit hat, und hätten demnach die entsprechenden Entscheidungen rechtzeitig treffen müssen. Vor ungefähr dreißig Jahren, bei einem Wettrennen zwischen Wien und Berlin, an dem österreichische und deutsche Kavallerieoffiziere teilnahmen, war ein Preuße der zuerst Angekommene. Aber sein Pferd war am Ziel unter ihm zusammengebrochen und verendet. Für diese Qual des Pferdes hat man den Preußen überaus gelobt, und zwar deswegen, weil er gewusst habe, von seinem Pferde das Äußerste zu verlangen, was es zu leisten vermochte. Aber Ludendorff und v. Hindenburg waren nicht auf dem Niveau dieses Offiziers. Die Pferde, die sie geritten haben, nämlich das deutsche Volk und die deutsche Armee, waren unter diesen beiden zusammengebrochen, ohne das Ziel je erreicht zu haben. Beide skizzieren ein schreckliches Bild vom Untergang der deutschen Armee, von welchem sie angeblich erst am 8. August 1918 Kenntnis erhalten haben. Dieser Untergang hat jedoch nicht in der Nacht vom 7. auf den 8. August 1918 begonnen; kurz, er war schon längst vorhanden. Welcher Armeeführer sollte so einen Fakt nicht voraussehen können? Wenn Ludendorff diese unvermeidbare Niederlage schon im Mai 1918 vorausgesehen hätte, und zwar vor den Offensiven - und das hätte er unter allen Umständen sehen müssen - und wenn er damals die Vorschläge von Präsident Wilson auf der Basis

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der vierzehn Punkte angenommen hätte, wäre alles mindestens so gut angenommen worden, wie im Oktober. Nur hätte er Deutschland vor der schrecklichsten Niederlage bewahren können. Jetzt kommt die berühmte Geschichte des „Dolchstoßes in den Rücken", mit der Revolution, die für alles die Schuld trägt, und mit der Kapitulation, die man überhaupt nicht rechtfertigen könne. Aber wir müssen uns dazu die Frage stellen, was eigentlich geschehen wäre, wenn die Revolution und die Kapitulation nicht stattgefunden hätten. Wie Ludendorff selbst schreibt, hat Major Graf von dem Busche in seinem Vortrag am 2. Oktober 1918 vor den Parteiführern des Reichstages erklärt, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Die Frage des Nachschubs und der Reserven für die entstandenen Frontlücken wären nicht zu lösen, man könne die Mängel nicht mehr beheben. Der Marschall und General Ludendorff hätten sich deshalb entschieden, den Kampf einzustellen und auf die Fortsetzung der Kriegshandlungen zu verzichten, da sie aussichtslos wären. Major Graf von dem Busche fügte hinzu: „Die deutsche Armee ist immer noch stark genug, um den Feind monatelang auf der gleichen Stelle zu halten, um lokale Erfolge zu erzielen und um die Entente vor neue Opfer zu stellen" ... Aber „nach jeden 24 Stunden kann sich die Lage verschärfen und dem Gegner Gelegenheit bieten, unsere vorübergehende Schwäche noch klarer zu sehen". Mit diesen Worten, sagte Ludendorff, hat Major Graf von dem Busche sein Programm und seine Gedanken dargelegt. Was der Major sagte, hat die Öffentlichkeit erreicht, „und in einer Weise, die uns aufs schwerste schaden musste. Klarer konnte unsere Schwäche dem Feinde gar nicht mitgeteilt werden, als wie es jetzt geschah". „Unter den Zuhörern befand sich auch ein Pole". „Die Regierung hätte wissen müssen, dass dieser alles, was er hörte, sofort im Inlande und nach dem Auslande verbreiten würde". Am 3. Oktober hat v. Hindenburg dem Kanzler in einem Memorandum die Meinungen des Oberkommandos unterbreitet, die sogar Ludendorff als „genau" beurteilte. „Als Folge des Zerfalls der makedonischen Front... und als Folge der Unmöglichkeit, die sehr großen Verluste der letzten Tage zu bewältigen, besteht nach menschlichem Ermessen keine Aussicht mehr, den Feind zum Friedensschluss zu zwingen. Der Gegner setzt hingegen täglich neue Reserven im Kampf ein und die Lage wird täglich schwerer." Der Generalfeldmarschall zeigt absichtlich, dass das Verlassen der deutschen Gebiete im Osten kein Thema sein könne, und hat die handgeschriebene Bemerkung gemacht, dass im Friedensangebot vom 29. September nur von der Vorbereitung eines ehrenhaften Friedens die Rede war. So war die Lage am 2. und 3. Oktober, etwas mehr als einen Monat vor der Revolution des 9. November. Ein Sieg über den Feind war, vernünftig beurteilt, unmöglich und deswegen musste man über einen ehrenhaften Frieden beraten. Wie wäre es, wenn die Entente diesem ehrenhaften Frieden nicht zustimmen würde? Dann wolle man, nach der Meinung der beiden, den Widerstand fortsetzen. Major von dem Busche sagte zwar, dass „der Widerstand den Feind monatelang auf der gleichen Stelle hätte aufhalten können", aber „jeder Tag bringt den Gegner näher zu seinem Ziel, und er wird immer weniger bereit sein, einen erträglichen Frieden 7*

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zu schließen"., Jede 24 Stunden können die Lage verschlechtern und können dem Feind die Gelegenheit geben, noch besser unsere aktuelle Schwäche zu sehen". Wenn es so ist, wie kann dann Ludendorff behaupten, dass die Weiterfiihrung des Widerstandes über weitere Monate einen besseren Frieden hätte bringen können? Und mehr noch. Sowohl Ludendorff als auch v. Hindenburg wiederholen bis zum Überdruss, dass die Entente in den ganzen vier Jahren, während sich Deutschland auf französischem Gebiet mit einer siegesbewussten und unerschütterlichen Armee befand, nur einen „zerstörerischen Frieden" abgeschlossen hätte. Aber jetzt, wo die Entente in der Lage war, die Deutschen aus Frankreich und Belgien schrittweise zurückzuschlagen und den Krieg auf deutsches Gebiet zu verlagern, wenn sie täglich frische Truppen an die Front werfen konnte, während Deutschland von der letzten Reserve zehrte, jetzt wo die Entente von Major von dem Busche direkt erfahren hatte - Ludendorff selbst gab zu, dass der Bericht des Majors auch im Ausland bekannt war - dass der Widerstand höchstens ein paar Monate dauern könne, jetzt musste die Entente bereit sein, einen ehrenvollen Frieden zu gewähren, falls die Revolution Deutschland nicht bereits erdolcht hätte! Eine derartige Sichtweise ist ausgeschlossen: Ludendorff und v. Hindenburg haben bewusst gelogen, entweder damals, als sie die Theorie vertraten, dass die Entente die Vernichtung Deutschlands beabsichtige, oder jetzt, dass man - trotz aller Umstände einen ehrenvollen Frieden hätte schaffen können. Beide Theorien können der Wahrheit nicht entsprechen, aber beide können lügen, und dies ist hier der Fall. In der Tat, als Erzberger am 8. November die Waffenstillstandsverhandlungen im französischen Hauptquartier begonnen hatte und ihm die Bedingungen mitgeteilt wurden, war die Revolution vom 9. November noch nicht ausgebrochen. Sogar an diesem Tage, als Erzberger seine Gegenvorschläge formulierte und dem Marschall Foch überreichte, wusste er noch nichts von der Revolution. Die Nachricht wurde ihm erst um 9 Uhr abends überbracht. Die Revolution hatte mithin überhaupt keinen Einfluss, weder auf die Bedingungen der Alliierten noch auf die Gegenvorschläge von Erzberger. Am Sonntag, den 10. November kam ein Telegramm von Hindenburg an Erzberger, in dem er Entgegenkommen bei den Waffenstillstandsbedingungen, die er erfahren hatte, verlangte. Er schließt aber wie folgt: „Auch wenn es Ihnen nicht gelingt, diese Punkte zu bereinigen, sollte man trotzdem unterzeichnen!" Zweieinhalb Stunden später kam ein anderes, vom „Reichskanzler" unterzeichnetes Telegramm, welches aber tatsächlich, wie sich später erwies, v. Hindenburg geschickt hat. Dies bevollmächtigte Erzberger zur Vertragsunterzeichnung. Demzufolge waren die Waffenstillstandsbedingungen, die eine Verlängerung des Widerstandes verhinderten, von Hindenburg genehmigt worden. Zu diesem Zeitpunkt war Ludendorff nicht mehr Oberkommandierender des Hauptquartiers (des Heeres). Nach allem, auch nachdem man von der Revolution erfahren hat, hat Erzberger ein paar Erleichterungen erreicht. Wenn Hindenburg entschlossen war, die Waffenstillstandsbedingungen zu akzeptieren, was den Friedensvertrag von Versailles einleitete, dann muss er sehr starke Gründe gehabt haben. Die große alliierte Offensive sollte am 14. November beginnen. Zu diesem Zweck hatte die Entente hundert frische Divisionen in die Etappe gebracht, nur als

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Reserve. Hindenburg hingegen verfügte gerade über eine Reserve von nur etwa 15 Divisionen. Wie sahen diese aus? Am 6. November hat ein General Erzberger mitgeteilt, dass eine Division 437 Soldaten zähle und eine andere 349. Anders gesagt: Der Angriff der Alliierten, der am 14. November beginnen sollte, hätte mit einer Katastrophe für die deutsche Armee geendet, verbunden mit dem Einmarsch des Feindes auf deutschen Boden, mit allen Schrecken einer feindlichen Besetzung und mit einem in Berlin diktierten Frieden. Es ist, als müssten wir die Fähigkeiten Hindenburgs vollkommen bezweifeln, wenn wir vermuten würden, dass er das Ganze am 9. November noch nicht vorausgesehen hätte. Aus diesem Grund, und nicht wegen der Revolution, hat Hindenburg sich mit der Idee des Waffenstillstandes abgefunden, welche wenigstens eine Katastrophe für Deutschland und seine Armee vermeiden konnte. Aber darüber findet man kein einziges Wort, weder im Buch von Hindenburg noch in dem von Ludendorff. Obwohl man diese Fakten kannte, erzählte man dem deutschen Volk die Dolchstoßlegende, weil angeblich der Sieg (!) nur ein paar Schritte entfernt war, als die Revolution ausbrach. Die Universität von Königsberg - der arme Kant! - erteilte Ludendorff die Doktorwürde im Bereich Medizin mit den Worten: „Weil sie einige lügnerische Gerüchte geglaubt hat, hat die deutsche Armee die unerschütterte Waffe aus der Hand fallen lassen". Um so etwas zu verstehen, muss man sich an die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick erinnern: Ein sündiger Mensch, der aus dem Gefängnis entlassen wurde und sich danach eine Hauptmannsuniform von einem Händler besorgte, hat damals den Bürgermeister von Köpenick verhaftet und die Gemeindekasse geplündert, weil in Deutschland keiner es wagte, einem Mann in Uniform nicht zu trauen und erst recht nicht, sich einem solchen Mann zu widersetzen. Wenn dies mit einer Hauptmannsuniform möglich war, wie ist es erst dann, wenn man eine Generalsuniform trägt? Deshalb müssen wir uns nicht wundern, dass unsere zwei Helden, nach einer Niederlage ohnegleichen, fähig waren, das ganze deutsche Volk zu überzeugen, sie hätten siegen können und nur die Revolution habe ihnen den Sieg genommen. Und sie, die man beide vor ein militärisches Strafgericht hätte bringen sollen - zweifellos wären sie auch anderswo dort gelandet (Ludendorff wusste das, sonst wäre er sicherlich nicht am Ende seiner heroischen Handlungen so schnell nach Schweden aufgebrochen!) zählen zu den Lieblingen des deutschen Volkes. Natürlich steht es mir nicht zu, mich als Verteidiger der deutschen Revolution darzustellen. Sie war ein Unglück, weil sie, wie jede Revolution, die ruhige Entwicklung unterbrach und viel mehr Kräfte paralysiert und zerstört hat, als erweckt. Sie war ein besonderes Unglück für Deutschland, weil in dem Augenblick, als das Volk entkräftet war und Erholung und friedliche Arbeit brauchte, gegenseitiges Misstrauen, erbitterte politische Kämpfe und Straßenunruhen ausbrachen. Es war ein besonders schweres Unglück für die Demokratie. In ihrem Interesse hätte man nur hoffen können, dass diejenigen, die den Krieg angezettelt und ihn so lange geführt haben, auch die Verantwortung für all seine Folgen übernehmen würden. Das Volk hat jedoch ein schlechtes Gedächtnis und schreibt die Schuld der er-

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schreckenden Lage zu, in welcher sich der Staat wegen des Krieges befand, also nicht denjenigen, die den Staat in diese Lage gebracht haben, sondern denjenigen, die es nicht schafften, sie zu ändern - auch wenn sie faktisch nicht zu ändern war. Nach allen Unbegreiflichkeiten und Unsinnigkeiten, die der Krieg an den Tag brachte, sollte man die Leute vom alten System in keinem Falle noch weiter ans Staatsruder lassen. Deutschland wäre eine Demokratie geworden nicht durch einen erzwungenen Umsturz, sondern durch eine friedliche Entwicklung. Aber es ist gleichgültig, wie viel Mitleid diese Revolution auslöste. Sie war genau so unschuldig wie ein neugeborenes Kind an der Niederlage und am Zerfall Deutschlands. Der Eindruck von der Persönlichkeit Ludendorffs, den wir aus den Memoiren bekommen, ist wenig vorteilhaft durch die Art, wie sie die Fakten vor und während des Krieges widerspiegeln. Hart im Denken, brutal in den Handlungen, unsicher, ohne irgendeine politische Überlegung, ohne Verständnis für höhere moralische Bedürfnisse, mit einer Sicht, die nie über den Kasernenhof hinausgeht, hat sich diese traurige Person in einer zügellosen Einbildung getraut, das Schicksal seiner eigenen Nation zu lenken. Als mit Grausen das Ende gekommen ist, hat er sich bewusst gegen die Wahrheit gestellt. Die Verantwortung, die er sich ungebeten zu eigen machte, hat er auf schamlose Weise auf andere übertragen. Genau so benimmt er sich auch später. Nachdem ihm die Furcht ein wenig vergangen und er aus Schweden zurückgekommen war, um seine Heimat wiedersehen zu können, verwickelt er die so geliebte Heimat, die aber nichts anderes mehr als Ruhe brauchte, weiter in neue Abenteuer. Er sollte, wie jeder derart vernichtend geschlagene General, keine andere Rolle haben, als sich einfach in einer entfernten Höhle zu verstecken, um dort in einer hoheitsvollen Haltung zu schweigen, wie zum Beispiel der arme Benedek. Er sieht dies überhaupt nicht ein: er ist heute immer noch so arrogant wie alle Sieger. Seine militärischen Kenntnisse bleiben weiterhin sehr gering. Obwohl ihm das Ende des Krieges hätte die Augen öffnen müssen, hält er immer noch seine taktischen Erfolge für strategische Siege. Wie viel auch immer Ludendorff jeden ehrlichen Menschen auf eine abstoßende Weise beeindruckt, ist er gleichwohl noch dem grauhaarige Held v. Hindenburg vorzuziehen. Alles was bei Ludendorff aufregt, findet man im Überfluss auch bei Hindenburg. Aber Ludendorff verschont wenigstens den Leser mit seinem Gefühlsleben. Er erzählt seine größten Nichtsnutzigkeiten mit einer homerischen Sicherheit. Jedem fällt auf, dass er sich so gibt, wie er auch ist. Hindenburg hingegen ist voller Gefühlswallungen, ungefähr von solchem Kaliber: „Man muss nur an die 70 Millionen Menschen denken, die hungern, und an die vielen, die aus diesem Grunde langsam sterben. Man muss an die unzählbaren Säuglinge denken, die wegen des Hungers ihrer Mütter sterben, und an die vielen Kinder, die ihr ganzes Leben gebrechlich und krank bleiben werden... Eine Hungersnot, die aus der Entscheidung und der Macht von Menschen entstanden ist, die sich sonst der Zivilisation rühmen. Wo ist denn hier die Zivilisation? ... Dass man Frauen und Kinder hungern lässt! So etwas, Gott sei dank, wirkt auf Männer und Väter an der Front, auch wenn es nicht auf einmal, sondern nur schrittweise wirkt! Wahrscheinlich

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werden sich jene Ehemänner und Väter entscheiden, die Gewehre wegzuwerfen, weil zu Hause der Tod die Frauen und Kinder bedroht, der Tod der Zivilisation. Solche Gedanken haben gewisse Leute, und sie können noch zu Gott beten!" Derjenige, der diese Worte zu Papier gebracht hat, ist kein anderer als derjenige, der den Befehl gegeben hat, offene Städte und die „Festung" London mit Luftfahrzeugen zu bombardieren, und dass man keinen Unterschied mache zwischen Männern, Frauen und Kindern, nach dessen Rat man völkerrechtswidrig Deportationen durchgeführt hat, wobei Frauen und Kinder allen Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen unterworfen waren. Es war derjenige, der so grausam acht französische Departements verwaltet hat, dass man nachher nicht einmal mehr die Stelle fand, wo früher ein Dorf oder eine Stadt lag. Es war derjenige, der bis zum letzten Augenblick nur aus Vergnügen, da es keine Notwendigkeit für einen Krieg mehr gab, großartig die Zerstörung der französischen Kohlebergwerke befohlen hat, so dass Deutschland nach dem Krieg mit den wertvollen Kohlevorräten aus dem Saargebiet bezahlen musste. Der Gleiche verliert kein Wort über die schrecklichen Erschießungen belgischer Gefangener, als Frauen, alte Leute und Kinder bis zum 14. Lebensjahr ermordet wurden. Es erregt einfach Ekel vor so viel Heuchelei! Nur, dass man mich nicht falsch versteht: Als entschlossener Pazifist hasse ich den Krieg mit allen Grausamkeiten, egal von welcher Seite begangen, und hasse deswegen auch den von der Entente geführten Aushungerungskrieg. Ich möchte keinesfalls Unterschiede zwischen den verschiedenen Grausamkeiten machen, egal auf welche Weise oder wie es dieser oder jener Seite Vorteile bringen kann. Es ist eindeutig, dass der Aushungerungskrieg demütigend ist, aber nicht weniger demütigend als das Trommelfeuer der Artillerie auf Hunderttausende, unter welchem diejenigen, die nicht zerfetzt wurden, den Verstand verloren haben. Die Aushungerung ist ein sehr beliebtes Mittel, seitdem es Kriege gibt. Dass man bis jetzt nur Städte und nicht ganze Länder in Hungersnot gebracht hat, liegt nur daran, dass man bis zum Weltkrieg noch nicht die Art und Weise gefunden hat, ganze Länder auszuhungern. Aber wenn der Eine die Aushungerung von 2.000.000 Pariser als richtig beurteilt, dann hätte er sich sicherlich nicht gescheut, 60.000.000 Engländer und Franzosen zu opfern, wenn er gekonnt hätte. Übrigens, ein Fakt, den man, verwunderlich, der Vergessenheit anheimfallen lässt, nämlich die Aushungerung Englands durch U-Boote, was man schon seit Februar 1915 versuchte, also viel früher, als der englische Aushungerungskrieg begann. Man hatte dies auf Grund des amerikanischen Protestes aufgegeben. Die Versenkung der ,JLusitania", als man bewusst Frauen und Kinder ertrinken ließ, hat auch vor dem Aushungerungskrieg stattgefunden. Dann, Hindenburg war schon ab 1917 in der Lage, dem Aushungerungskrieg ein Ende zu setzen, wenn er dem Kanzler Michaelis gestattet hätte, eine befriedigende Erklärung über Belgien abzugeben. Letztlich könnte ich mich auf den drittgrößten Heiligen Preußens beziehen, nämlich auf Clausewitz. Der große Mann hat gesagt: „Im Krieg ist jedes Mittel human, wenn es dazu beitragen kann, den Krieg zu verkürzen". Dass der Aushungerungskrieg beigetragen hat oder hätte beitragen können, die Nerven der deutschen Soldaten zu schwächen, sagt Hinden-

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bürg genau hier! Folglich, nach der Meinung von Clausewitz, war dieser Aushungerungskrieg human. Dies soll keineswegs bedeuten, man könne den Aushungerungskrieg entschuldigen. Es wendet sich nur gegen die übermässig verbreitete Vorstellung, als ob er schlechter wäre als all jene Grausamkeiten, die manchmal nicht nur wegen der Notwendigkeit des Krieges verursacht wurden, für welche Ludendorff und Hindenburg verantwortlich sind. Und zweitens will es zeigen, was hätte geschehen können, wenn wir uns an den Aussagen über die Sterblichkeitsrate an Clausewitz, Hindenburg und Konsorten orientiert hätten. Oder soll man weiterhin lesen dürfen: „Enver und Talaat Pascha haben sich aus ihren Ämtern zurückgezogen, wurden von ihren Gegnern beschimpft, aber blieben ansonsten ohne Flecken". Der erste von diesen Unbefleckten, Enver Pascha, ist der vorsätzlichen Ermordung von Sefket Pascha schuldig und ist folglich ein gewöhnlicher Mörder. Wir können vergessen, was ihn mit dem Krieg verbindet, weil man es gerichtlich nicht bewiesen hat. Das Gesagte reicht ohnehin, um seine Unbeflecktheit zu beweisen. Der zweite, Talaat Pascha, ist der hauptsächliche Verursacher der gegenüber den Armeniern verübten Grausamkeiten, für die auch Hindenburg an einer anderen Stelle Krokodilstränen vergießt. Dieser Talaat Pascha ist demzufolge nicht nur ein einfacher Mörder, sondern einer, der Millionen getötet hat, wie es nur wenige durch die Jahrhunderte gab. Sein Mitverschulden ist so klar, dass der junge Armenier, der dieses Ungeheuer beseitigt hat, von den Berliner Geschworenen freigesprochen wurde. Solche Herzensergüsse wie bei v. Hindenburg sind bei Ludendorff wenigstens nicht zu verzeichnen. Aus diesem Grunde kann ich auch Ludendorff besser als v. Hindenburg ertragen. Es sei mir erlaubt, aus persönlichen Gründen hinzuzufügen, dass das, was ich hier über Ludendorff und v. Hindenburg geschrieben habe, auch völlig übereinstimmt mit dem, was ich als österreichischer Bürger während des Krieges geglaubt habe. Alle, die mit mir in dieser Zeit Kontakt hatten, können dies bestätigen; nur dass seitdem mein Material sicherlich noch umfangreicher geworden ist. Da man mir während des Krieges die Zensur vergönnt hat, habe ich erst seitdem meine Meinungen veröffentlichen können, vor allem in zwei Aufsätzen in der Wiener Wochenschrift „Frieden".

3. Bismarck und der Weltkrieg* L Vielleicht darf ich diese Schrift mit dem Bekenntnis beginnen, dass in meinem Hause nie ein Bismarckbild gehangen hat. Ich habe die Politik des Eisernen Reichskanzlers fast mein ganzes Leben lang aufmerksam verfolgt und immer mit größter Entschiedenheit verurteilt, auch zu einer Zeit, da sie von aller Welt bewundert worden ist. Ich habe meine Ansicht allerdings bisher nie öffentlich ausgesprochen, da ich vor dem Kriege, mit anderen Arbeiten vollauf beschäftigt, keine politischen Artikel geschrieben habe; aber im Kreise meiner Bekannten habe ich mich stets sehr unumwunden darüber geäußert. Es war gewöhnlich nicht sehr angenehm. Ich stand damit ganz vereinsamt, wurde für einen Sonderling und oft noch für Schlimmeres gehalten: erst während des Krieges habe ich erfahren, dass ich mich, mit einem Constantin Frantz**, eigentlich in recht guter Gesellschaft befinde. Ich muss das hier mit Nachdruck betonen, damit man mir nicht einwende, dass mir diese Erkenntnis, wie so vielen anderen auch, erst mit den letzten Ereignissen gekommen ist. Das, was ich in der Folge sagen werde, stimmt durchwegs mit dem überein, was ich seit mehr als 30 Jahren bekenne. Es liegt gewiss sehr nahe, die ganze Schuld an dem jammervollen Zusammenbruch des Bismarckschen Werkes seinen Nachfolgern aufzuladen. Und zweifellos wäre es nie so weit gekommen, wenn die Männer, die nach ihm das Steuer in die Hand genommen haben, ihrer Aufgabe nur einigermaßen gewachsen gewesen wären. Aber wie war es möglich, dass ein Mann wie Kaiser Wilhelm II. ein Menschenalter hindurch ein großes tüchtiges Volk fast ohne jede Hemmung missregieren konnte? Das „persönliche Regiment" ergab sich doch unmittelbar aus der Verfassung, die Bismarck dem Deutschen Reiche gegeben hatte, und für diese Verfassung trägt er die geschichtliche Verantwortung. Man sagt, er habe die Verfassung ganz auf seine Person zugeschnitten. Das wäre schon arg genug, denn er wusste ja, dass er nicht ewig leben werde. Eine Verfassung muss so sein, dass nicht bloß große Staatsmänner, sondern auch Mittelmäßigkeiten, die ja doch unter den Politikern die überwiegende Mehrzahl bilden, damit arbeiten können; sie soll aber auch * Verlag Orell Füssli, Zürich 1920. ** Constantin Frantz (1817-1891), Gegner des Bismarckschen Deutschen Reiches und Befürworter einer mitteleuropäischen Föderation unter deutscher Führung unter Einschluss Polens und anderer osteuropäischer Länder (Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, Mainz 1879; Die Weltpolitik, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, Chemnitz 1882/83).

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Hemmungen für Unzulänglichkeiten und Schlechtigkeiten schaffen, die doch in jedem Staate leider vorkommen. Wer das wunderbare Kapitel in dem Werke von Bryce, The American Commonwealth gelesen hat, das überschrieben ist: How it works, der weiß, wie großartig die amerikanische Verfassung diese Aufgabe erfüllt, so dass selbst sehr bedenkliche Leute, die dort zeitweilig ans Ruder gelangt sind, dem Staate schließlich nicht viel anhaben konnten. In Wirklichkeit waren aber Bismarcks Beweggründe tiefer: Er wollte nicht bloß seine persönliche Stellung unangreifbar machen, sondern vielmehr die Vorherrschaft Preußens im Deutschen Reich für alle Zeiten sichern, und gerade dieses Ziel ließ sich nur mit einer Verfassung erreichen, die das Reich ganz dem König von Preußen ausliefert, selbstverständlich auf die Gefahr hin, es damit einem durchaus Minderwertigen auszuliefern. Indessen tut man seinen Nachfolgern nach vielen Richtungen entschieden Unrecht. Die Wege, die sie gegangen sind, waren ihnen zum größten Teil schon durch Bismarck zwangsläufig vorgezeichnet, sonst aber wiederum zum Teil durch den Gang der Entwicklung aufgedrungen, die das Reich, so wie es eben von Bismarck gezimmert worden ist, nehmen musste. Das Reich ist zugrunde gegangen nicht an den Irrgängen Wilhelms II., nicht an den Zufälligkeiten des Krieges, sondern an den ursprünglichen Fehlern seines Aufbaus, und zwar nicht bloß in der Staatsverfassung, sondern auch in der innern und äußeren Politik. Das alles geht aber auf Bismarck zurück. Seinen Nachfolgern fehlte meist nur die Geschicklichkeit, mit der er das Schiff durch die Klippen, in die er es selbst gebracht hatte, durchzusteuern wusste; man sollte jedoch nicht ganz übersehen, dass das auf die Länge immer schwieriger wurde. Gewiss hätte der Weltkrieg vermieden werden können, aber nur um den Preis eines Bruches mit aller Überlieferung der Bismarckschen, also der ganzen preußischen Politik. Wollte man daran festhalten, so musste der Krieg und damit der unvermeidliche Zusammenbruch früher oder später kommen. Wie jeder bedeutende Mann, so war auch Bismarck eine aus viel zu mannigfachen Elementen zusammengesetzte, viel zu sehr verschlungene Natur, als dass er vollständig aus einem Punkte erklärt werden könnte. Aber der Grundzug seines Wesens war preußisch im Sinne der Kaste, die Preußen seit Friedrich II. beherrschte. Preußisch waren seine Ziele, seine Wege, sein ganzer Gedankenkreis. Die Kaste stand dem deutschen Einheitsgedanken stets feindlich gegenüber, denn es schien ihr unmöglich, dass sie im Reiche so herrschen könnte, wie sie es in Preußen gewohnt war. Daher strebte auch Bismarck in seinen Anfängen keineswegs ein einheitliches Deutsches Reich an. Er wollte bloß Preußen großmachen und ihm, nachdem er Österreich hinausmanövriert hatte, den allein maßgebenden Einfluss im Deutschen Bunde verschaffen. Wann er den Entschluss der Reichsgründung gefasst hatte, ist schwer festzustellen: wahrscheinlich erst nach den Ereignissen des Jahres 1866. Zunächst gründete er bloß den Norddeutschen Bund, der nur ein erweitertes Preußen war. Als er endlich daran ging, das deutsche Reich auszubauen, verwirklichte er damit nur einen Gedanken der Demokraten und der Liberalen; aber er sorgte dafür, dass es ganz anders ausfalle, als es den Demokraten und Liberalen

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vorschwebte. Es wurde wieder nur ein erweitertes Preußen daraus. Man rühmt sehr die Schonung der Bundesfürsten und der Bundesstaaten in der Reichsverfassung. Im Jahre 1866 hatte man davon nichts gemerkt. Damals wurden eine Reihe deutscher Staaten ohne jede Schonung Preußen einverleibt, und selbst bei Sachsen machte man nur halt, um den Krieg mit Österreich zu beenden, bevor der drohende Angriff Napoleons III. erfolgte. Auch diesmal siegte bei Bismarck nicht etwa der Rechtsgedanke, in dieser Form etwas von der Freiheit der deutschen Stämme im Reich zu erhalten, sondern die Einsicht, dass der deutsche Süden die preußische Herrschaft auf die Länge doch nur dann ruhig ertragen werde, wenn ihm gleichzeitig ein hohes Maß der Selbständigkeit im Innern gewahrt bleibe. So war ihm die Selbstverwaltung der Bundesstaaten nur der Preis, um den er die Vormachtsstellung Preußens, die Leitung der gesamten auswärtigen Politik und der militärischen Angelegenheiten sowie eine Anzahl anderer Vorrechte erkaufte. Der Grundgedanke war offenbar, den Junkern, die Preußen in der Hand hatten, so viel als eben möglich die Herrschaft in Deutschland zu sichern. Zweifellos hatte Bismarck einiges Verständnis für die moralischen Kräfte der Gesellschaft. Aber er hätte es gewiss für eine große Naivität gehalten, die Politik, die innere oder äußere, irgendwie davon bestimmen zu lassen. Er besaß auch nichts von der Kunst, in der die englischen Staatsmänner seit jeher, zumal seit Palmerston, Meister waren, die moralischen Kräfte der Gesellschaft für seine Absichten zu verwerten: man muss wenigstens einiges davon in seinem eigenen Busen spüren, um sich ihrer zu bedienen. Sie galten ihm als unbequeme Hindernisse, die der Reiter, weil sie eben da sind, nehmen muss. Sonst waren sie ihm nichts; er nannte sie verächtlich Imponderabilien. Moralische Skrupel haben den Mann, der eine Depesche fälschte, um damit einen Krieg zu entzünden, gewiss nicht geplagt. Wenn es ihm nützlich schien, verband er sich mit ungarischen Rebellen gegen Österreich, mit italienischen Republikanern gegen den drohenden Eingriff Italiens in den französischen Krieg - um dann, wenn sie überflüssig geworden sind, die einstigen Verbündeten mit größter Seelenruhe mit einem Fußtritt fortzujagen. Im Jahre 1866 hat er Italien im Frieden mit Österreich lächelnd im Stiche gelassen, mit Berufung auf den schlau ausgeklügelten Bündnisvertrag, und die Art, wie er die Klapkaschen Legionäre, nachdem sie ihre Schuldigkeit, der Wiener Regierung ein wenig Angst einzujagen, getan hatten, ihrem Schicksal überließ, hat sogar dem bismarckfrommen Friedjung ein schüchternes Wort der Entrüstung entlockt. Es sind nicht die leitenden Gedanken seiner Politik, die Bismarck den Zug von Größe verleihen, die ihm kein Unbefangener abstreiten kann. Dass er den Gedanken von Deutschlands Einheit unter Preußens Führung gefasst habe, kann niemand behaupten: er war zu seiner Zeit Gemeingut der ganzen kleindeutschen Partei, und, abgesehen von Anhängern Österreichs und den Partikularisten, widerstrebten ihm nur die preußischen Konservativen, die für ihre Alleinherrschaft in Preußen fürchteten, wenn dieses in Deutschland aufgehen sollte. Ein einiges Deutschland unter Preußens Führung hätte man doch schon im Jahre 1848 haben können, wenn es die Konservativen nicht zu Falle gebracht hätten. Gewiss war es ein Verdienst, dass

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er sich dieses Gedankens schließlich selbst bemächtigte und ihn nun bis zum Ziele zähe verfolgt hat. Dagegen wird es ihm heute kaum jemand hoch anrechnen, dass er es in einer Weise getan hat, die Deutschland in den wichtigsten Beziehungen willenlos an Preußen ausgeliefert hat. Von dem Augenblick an, da das Werk vollbracht war, fehlt es seiner Politik an jedem großen, ja sogar einem einheitlichen Gedanken: man wird nicht nur in seinen Taten, sondern auch in den Reden, Briefen, in den Erinnerungen vergebens danach suchen. Er fasst seine Entschlüsse von Fall zu Fall und alles ist nur darauf gerichtet, die Früchte der Siege in Ruhe zu genießen, etwaige Schwierigkeiten für den Augenblick zu beseitigen. Man mag Bismarcks spätere Politik immerhin als friedlich bezeichnen, aber nicht etwa in dem Sinne, wie die Gladstones, der jeden Anspruch unbefangen auf seine Berechtigung prüfte, und, wenn er die Prüfung bestand, anerkannte. Bismarck tat es wohl auch zuweilen (Schnäbeleaffäre, Carolinenstreit), aber doch nur, weil ihm die Lage ungünstig war, oder das Spiel die Kerze nicht wert schien. Im Allgemeinen zog er bis zum Schlüsse vor, nach bewährtem altpreußischen Muster, den Frieden dadurch zu erhalten, dass er auch dem berechtigten Anspruch überlegene Gewaltmittel entgegenstellte. Wer Bismarcks Gedanken und Erinnerungen in die Hand genommen hat, um von dem vielbewunderten Staatsmann etwas von den großen Zielen seiner Staatskunst oder der Staatskunst überhaupt zu lernen, wird das Buch enttäuscht weglegen. Es ist darin kaum je von etwas anderem die Rede, als von dem diplomatischen und politischen Spiel, in dem es seine stets auf unmittelbare, praktische Erfolge gerichteten Absichten zu erreichen suchte, von den kleinen Mitteln, mit denen er sich geholfen, den Schlichen, durch die er sich aus der Schlinge gezogen hat. Wer Bismarck gerecht werden will, darf ihn auch in der Tat nicht als Mann schöpferischer politischer Gedanken, sondern als großen diplomatischen Techniker würdigen; denn darin ist er in der Tat bewundernswert. Und da sind es allerdings immer dieselben Künste, die er anwendet. Vor allem ist er ganz großartig darin, wie er für jede seiner Absichten stets eine vollständig ausgerüstete, fertige Armee bereitstellt, und wie er jeden seiner Gegner immer einzeln abzufassen und, bis er erledigt ist, die anderen durch unverbindliche Versprechungen und vage Zusagen hinzuhalten weiß. Er besitzt ein sicheres Augenmerk für die militärischen Machtverhältnisse, nimmt es immer nur mit dem Schwächeren auf, hat stets dafür gesorgt, diesem ein weitaus überlegenes Heer entgegenzustellen; er versteht es, jedes Bündnis, dem er nicht gewachsen wäre, zu verhindern und jeder drohenden Koalition durch einen rechtzeitigen Friedensschluss zuvorzukommen. Damit erringt er alle Erfolge bis zum Frankfurter Frieden. Später führt er keine Kriege mehr, es genügt im Notfalle einiges Säbelrasseln, hie und da ein „kalter Wasserstrahl": Man kennt ihn bereits und weiß, dass er nicht vergeblich drohe. Aber bis zum Schlüsse sorgt er vor allem für das Heer: die Septennatsvorlagen stehen immer im Mittelpunkt seines Interesses. Das sind im Grunde die alten, uralten Hausmittel der hergebrachten Diplomatie. Und nirgends hat man sie besser gekannt als in Preußen. Man darf wohl sagen, dass Bismarck der Politik Friedrich II. inhaltlich nichts hinzugefügt hatte. Neu war nur

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die vollendete Meisterschaft, mit der er das Werkzeug angewendet hat. Schon der „alte Fritz", der ja im Nebenamte auch sehr musikalisch war, pflegte zu sagen: „Unterhandlungen ohne Waffen sind wie Noten ohne Instrumente", und Clausewitz, der drittgrößte Heilige im preußischen Heiligenhimmel, lehrt: Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Bismarcks Politik war reich an ungeheuren Erfolgen, aber sein Werk war nicht von Dauer. Die Erfolge waren vorübergehend. Das lag an ihr selbst. Sie war ganz auf die Technik abgestellt und Meister der Technik sind selten: Seine Politik durfte daher von seinen Nachfolgern, die weit hinter ihm zurückstanden, nicht ohne weiteres fortgesetzt werden. Und doch hat er ihnen eine Umkehr sehr schwer, ja unmöglich gemacht. Er hatte bereits eine Lage geschaffen, an der nicht viel zu ändern war. Da er stets nur die Gewalt angebetet hat, so rechnete er Zeit seines Lebens nur mit den militärisch wohl ausgerüsteten Staaten, genauer gesprochen mit deren Regierungen, denn nur diese verfügen ja über die Armeen: die kleineren Staaten vernachlässigte er, glaubte sie sogar, wenn es ihm nützlich schien, misshandeln zu dürfen. Ebensowenig galten ihm etwas die Völker, die Stimmungen und Strömungen in der Gesellschaft, die öffentliche Meinung und sonstige „Imponderabilien". Aber der Schwache, der von der Gewalt zurückweicht, tut es stets mit dem Vorbehalt, den Kampf bei günstiger Gelegenheit wieder aufzunehmen. Die ohnmächtige Wut der von ihm Zertretenen hat ihn nicht sehr gestört, der Schwache ist aber doch nur in der Vereinzelung schwach. Er hatte während der langen Zeit, da er über das Deutsche Reich herrschte, so viele gereizt und verletzt, dass er sich gar nicht ohne Grund fortwährend vom cauchemar des coalitions heimgesucht fühlte. Seiner großen Kunst gelang es zwar immer noch, im entscheidenden Augenblick die Gegner zu trennen. Aber das wurde von Schritt zu Schritt schwieriger; je öfter jemand überlistet wird, umso mehr wird er sich in Zukunft in Acht nehmen. Dabei fehlte ihm gerade wegen der Verachtung, die er stets für die „Imponderabilien" hegte, jeder versöhnliche, großherzige Zug. Wenn er sich für einen anderen einsetzte, merkte man sofort, dass er für sich etwas herausschlagen will; nie erwies er jemand einen Gefallen ohne sich der Gegenleistung zu versichern; er bekannte sich offen zu dem Grundsatz do ut des. So sehr er in der zweiten Hälfte seines Lebens den Krieg zu vermeiden suchte, so lag es doch im Wesen seiner Politik, stets mit dem Krieg als letztem Auskunftsmittel zu rechnen. Der Krieg ist aber unter allen Umständen ein gefährliches Spiel. Die Römer, die vom Krieg auch etwas verstanden, pflegten zu sagen: belli dubius eventus. Mit seinem sicheren Blick für die militärische Lage konnte er es immerhin wagen: Aber er hinterließ seinen Nachfolgern damit eine böse Erbschaft. Die Erfahrung lehrt, dass der geschickteste Spieler, wenn er immer weiter hasardiert, doch schließlich am Ende verliert.

n. Es war ein richtiger Gedanke Bismarcks, nachdem das Reich durch drei Kriege begründet worden war, ruhige Bahnen einzuschlagen, um dem deutschen Volke die

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Möglichkeit zur wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung zu geben. Um dieses Ziel zu erreichen, galt es, dem deutschen Reiche und Volke krampfhaft Freunde zu erwerben, Bündnisse zu suchen, die in Interessengemeinschaft begründet und im Herzen der Völker verankert wären. Das Bündnis mit Österreich war gewiss nicht von dieser Art, denn die Grenzen von Österreich-Ungarn umschlossen nicht ein Volk, sondern einen Staat. Viel leichter wäre es mit Frankreich gegangen. Der Sieg von 1870 erschien den Franzosen anfänglich als Krieg gegen Napoleon DI. Nachdem das der großen Mehrheit des französischen Volkes verhasste Kaisertum gestürzt und dieses Hindernis der deutschen Einheit beseitigt war, hätte ganz wohl dem französischen Volk die Hand zur Versöhnung gereicht und ein großmütiger Friede abgeschlossen werden können. Diese herrliche Gelegenheit ist von Bismarck gar nicht bemerkt worden. Aber auch sonst war seine Politik nicht gut beraten; er stellte alles ganz auf die Regierenden ab, und wen er nicht gewinnen konnte, den suchte er einzuschüchtern. Deutschland hatte am Ende der Laufbahn Bismarcks eine Menge von Feinden und keinen einzigen aufrichtigen Freund. Die Feindschaften waren alle echt, denn sie beruhten auf dem Hass, den seine Politik erregt hat. Die Freundschaften waren unecht, denn sie waren nur mit den Regierungen, nicht mit der Gesellschaft geknüpft. Keine Regierung kann sich auf die Dauer den gesellschaftlichen Einflüssen entziehen. Darin liegt die Bedeutung der Imponderabilien. Diese hat sein Zeitgenosse D'Israeli viel richtiger eingeschätzt, als er da sagte, das Papsttum und die geheimen Gesellschaften seien die einzige wirkliche Macht in Europa, wobei ihm Papsttum und geheime Gesellschaften nur ein Ausdruck waren für alle die Kräfte, die ohne äußere Gewaltmittel die Herrschaft über die Geister üben. So war die Weltkoalition, der Deutschland im Weltkriege erlegen ist, eigentlich schon von ihm selbst vorbereitet. Es wäre ihm so leicht gewesen, wenn es das im Prager Frieden von Österreich auf das Drängen Napoleons III. zugestandene Plebiszit in Nordschleswig vorgenommen hätte; und was lag denn dem Deutschen Reich an dem schmalen, von Dänen bewohnten Streifen in Nordschleswig? Aber wie viele Regimenter könnte Dänemark bestenfalls in Feld stellen? Und so zog er es vor, in einem mit Österreich nach vielen Jahren abgeschlossenen Übereinkommen diese Bestimmung streichen zu lassen. Dänemark hatte kein Einspruchsrecht, da es ja im Präger Frieden nicht Partei war. Nun ist Dänemark gewiss ein kleiner Staat, aber der dänische Hof hatte sehr wertvolle Verbindungen in Russland und in England. Es wäre ein dankbarer Gegenstand für eine Habilitationsschrift, welchen Anteil Dänemark an der feindseligen Stimmung gegen Deutschland in Russland und in England und darüber hinaus auch in Griechenland gehabt hat, die im letzten Ende zur Weltkoalition gegen Deutschland geführt hat; jedenfalls war er nicht ganz gering. Noch stärker trat das in Bismarcks Verhalten gegen Frankreich hervor. Er war allerdings einsichtsvoll genug, nach dem französischen Teil Lothringens keine Gelüste zu haben. Da es aber die preußischen Generäle verlangten und Frankreichs militärische Macht nach seiner Überzeugung zerschmettert war, so nahm er es

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ruhig mit. Damit war der Erfolg erzielt, dass Deutschland bei jeder Bewegung, die es machte, mit Frankreich als unversöhnlichem Feind im Rücken zu rechnen hatte. Bismarck sagte es selbst: Von nun an ist Frankreich für jede Koalition gegen Deutschland zu haben. Nur handelte es sich dabei nicht um Frankreich allein. Vermöge seiner historischen Stellung, seinen gesellschaftlichen Beziehungen, der großartigen Leistungen auf allen Gebieten des geistigen Lebens, in Kunst, Wissenschaft, Literatur, der Anziehungskraft der Stadt Paris, wohin die besten Köpfe der ganzen Welt kamen, um zu sehen und zu lernen, und die reichsten Leute der Welt, um sich zu unterhalten, der französischen Liebenswürdigkeit und Höflichkeit, schließlich der Geschicklichkeit seiner Diplomatie, gab es auf der Erde keinen Winkel, wo Frankreich als Staat und die Franzosen als Volk nicht ihren Einfluss ausgeübt hätten. Man kann es mit Grund sagen: mit dem Frankfurter Frieden war der Grundstein zur nachmaligen Weltkoalition gegen Deutschland gelegt. Allerdings behauptet man in Deutschland häufig, die Franzosen hätten von der Revanche nicht abgelassen, auch wenn man ihnen Elsass-Lothringen nicht genommen hätte. Das ist der deutsche Konjunktiv, der bei politischen Erörterungen der Deutschen alten Stiles stets wiederkehrt. Wenn man solchen Deutschen zeigt, welche Folgen ihre rücksichtslose Politik nach sich gezogen hat, so antworten sie immer, es wäre gerade so gekommen, wenn sie das Gegenteil getan hätten. Das beruht auf der höchst sonderbaren Vorstellung, dass Ursachen keine Wirkungen haben. Vielleicht hätten sich gewisse kleine französische Kreise mit der Niederlage auch dann nicht abgefunden, wenn man Frankreich Elsass-Lothringen gelassen hätte. Das aber, womit sich die großen Massen des französischen Volkes nicht abfinden wollten, das war eben der Verlust von Elsass-Lothringen. Jedenfalls hätte die erbitterte feindselige Stimmung gegen Deutschland nie diesen Umfang angenommen, und ohne die wäre vielleicht sogar das von vielen auf beiden Seiten gewünschte Bündnis zustande gekommen. Österreich hat sich Bismarck, wie man weiß, schon bei Abschluss des Prager Friedens warm gehalten. Das Vorgehen Bismarcks im Jahre 1866 war klug, aber der Grundgedanke des Bündnisses durchaus verfehlt, wieder nur erklärlich durch die Erwägung, dass für Bismarck die Volker, ihre Gefühle und Überlieferungen nichts anderes waren, als „Imponderabilien". Deutschland hatte ein Interesse an dem Bestände Österreichs, aber es konnte nicht erwarten, dass ein zu Dreivierteln aus Slawen bestehender Staat im Falle eines Waffenganges Deutschlands mit Russland sich auf die Seite Deutschlands werde stellen können, ohne im Innern zu zerfallen. Es ist wirklich ganz unmöglich, dass ein Staat stark bleibt, wenn die große Mehrheit seiner Bevölkerung die äußere Politik geradezu als einen Schlag ins Gesicht empfinden muss. So hat das Bündnis Deutschland im entscheidenden Augenblick nicht gerettet, es hat aber Österreich mit in den Abgrund hineingerissen. Der zweite Verbündete Deutschlands war Italien. Dieses Bündnis hat Bismarck angenommen, als es ihm von Crispi in einem Augenblick der Missstimmung gegen Frankreich angeboten worden ist; aber es war im vorhinein eine lächerliche Sache, und man würde dem Scharfsinn Bismarcks gewiss zu nahe treten, wollte man glau-

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ben, dass es ihm je wirklich ernst damit gewesen wäre. Italien hat nie eifriger einen Krieg vorbereitet, als den gegen Österreich, Österreich hat nie einen entschiedeneren Gegner gehabt als Italien: und die beiden sollten mit Deutschland verbunden Schulter an Schulter kämpfen. Dazu kamen die starke Zuneigung großer und politisch sehr wichtiger Schichten des italienischen Volkes zu Frankreich, mit dem es durch zahllose wirtschaftliche, gesellschaftliche und ideale Bande verknüpft war, und die angebliche Gemeinschaft der „lateinischen" Rasse, Dinge, um die sich Bismarck allerdings wieder nicht kümmerte, weil sie doch nur Imponderabilien waren. Für freundschaftliche Beziehungen und allfällige Bündnisse kamen noch England und Russland in Betracht. Bei dem damals sehr starken Gegensatz zwischen diesen Reichen konnte Bismarck nicht daran denken, mit beiden zu gehen: er musste wählen. England wurde von ihm militärisch tief eingeschätzt, überdies war es ihm wegen des liberalen Geistes seiner Politik widerwärtig, und so wählte er Russland, das ihm durch seine Riesenarmee imponierte, und das er, weil es doch stets der Hort der Reaktion war, liebte. Das war wohl der verhängnisvollste unter den Fehlern Bismarcks. England war für ein aufrichtiges Bündnis mit Deutschland damals ohne weiteres zu haben, schon deswegen, weil seine asiatischen Besitzungen durch Russland fortwährend bedroht wurden; es hätte Deutschland in seiner Kolonialpolitik unschätzbare Unterstützung gewährt, und welchen Dienst seine Flotte im Kriegsfalle Deutschland hätte leisten können, ist heute wohl jedermann klar. Ein Bündnis mit Russland war unter allen Umständen ein brüchiges Ding. Russland plante Kriege gegen Österreich-Ungarn, gegen die Türkei und gegen England: gegen Österreich durfte Bismarck nicht mitgehen, gegen die Türkei brauchte man seiner nicht, gegen England konnte er es nicht wagen. Auch hätte das Bündnis nicht viel genutzt, da ja England für Deutschland unangreifbar war. Dabei waren deutschfreundliche Neigungen am russischen Hofe und in der Gesellschaft sehr gering; es war eine starke panslawistische Partei, die für ihre Ziele auf Frankreichs Hilfe rechnete, und auch sonst war der französische Einfluss in Russland stets maßgebend. Russland konnte seinerseits Bismarck nichts bieten, als bestenfalls eine zweifelhafte Neutralität in einem Kriege mit Frankreich. Bismarck konnte in einem Kriege Russland nicht einmal das in Aussicht stellen, da Deutschland doch in Österreich und im Orient große Interessen hatte, die mit den russischen nicht vereinbar schienen. In der Tat war Bismarck während des Berliner Kongresses gegen sein Wollen durch die Umstände gedrängt, Russland in den wichtigsten Fragen im Stiche zu lassen und sich auf die englische Seite zu schlagen, was ihm von den Russen seither nie verziehen worden ist. Das Bündnis, das Bismarck mit Russland später in der Tat abgeschlossen hatte, war der sogenannte Rückversicherungsvertrag, der vor kurzem veröffentlicht worden ist. Die Rückversicherung besteht darin, dass sich Deutschland und Russland gegenseitig im Kriege mit einer Großmacht wohlwollende Neutralität zusichern; doch soll das nicht gelten für den Angriff einer dieser Mächte gegen ÖsterreichUngarn oder Frankreich. Der Vertrag sollte also vor allem wirksam werden im

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Falle eines Angriffs Österreich-Ungarns auf Russland. Das widersprach, wörtlich genommen, nicht dem Vertrag mit Österreich-Ungarn, da dieser wiederum nur für den Fall eines Angriffs von Russland auf Österreich lautete. Es war aber, wenn es ehrlich gemeint war, für Russland wertlos: denn dass Österreich, ohne eine werktätige Unterstützung Deutschlands, und mit Italien im Rücken, einen Angriffskrieg gegen Russland wagen würde, war ein abenteuerlicher Gedanke. Einen Sinn hatte es nur, wenn man davon ausgeht, dass man im Kriege immer behaupten kann, der andere habe angegriffen. Die Voraussetzung wäre also, dass Bismarck in der Tat unter gewissen Bedingungen, die man nicht kennt, sich mit Russland zu einer Hilfe an Russland gegen Österreich-Ungarn verband, wobei Österreich als Angreifer hingestellt worden wäre. Die Perfidie eines solchen Bündnisses wäre umso schlimmer, als es vor Österreich-Ungarn, dem Verbündeten, geheim gehalten worden ist. Es gibt aber in der Tat gar keine Anzeichen, dass es von Bismarck wirklich so gemeint war. Aus der Bestimmung über Frankreich ergibt sich, dass sich Russland vorbehalten hat, Frankreich im Falle eines Angriffs von Seiten Deutschlands zur Hilfe zu eilen. Da selbstverständlich jeder deutsch-französische Krieg für Russland ein deutscher Angriffskrieg gewesen wäre, so ist es sehr schwer, sich einen Fall auszudenken, in dem die Versicherung hätte praktisch werden können. Der Rückversicherungsvertrag war daher im Wesen nur eine diplomatische Spielerei, wurde gewiss von Russland nie anders aufgefasst, und Bismarck selbst konnte das unmöglich übersehen. Es ist ganz unbegreiflich, warum er nachträglich der wilhelminischen Politik so bitter vorgeworfen hat, dass sie den Draht nach Russland, der doch nie bis zum Herzen Russlands geführt hat, abgerissen habe. Für Russland bestimmend wird die weiter folgende Vereinbarung betreffend die Aufrechterhaltung des Status quo auf dem Balkan gewesen sein; sie war wohl in erster Linie gegen die österreichischen Orientpläne gerichtet. Mit einem „Bündnis" hat derartiges gar keine Verwandtschaft; der Rückversicherungsvertrag war, wie es sich jetzt zeigt, in der Hauptsache ein Übereinkommen über die Orientpolitik.

in. Bismarcks nationale Politik im Innern war von gleicher Art. Dass die ganz ungefährlichen wenigen Dänen in Nordschleswig nicht bloß um ihr Selbstbestimmungsrecht gebracht, sondern auch drangsaliert worden sind, war ja schon arg genug, denn es musste Dänemark noch mehr gegen Deutschland erbittern. Schwerer fiel ins Gewicht das Vorgehen in Elsass-Lothringen. Wenn diese beiden Länder, wie die offizielle Darstellung ging, als altes Reichsland Deutschland angegliedert worden sind, so hätten die Elsass-Lothringer eben von Anfang an als Deutsche behandelt werden müssen. Man hätte Elsass-Lothringen als Bundesstaat dieselbe Selbstverwaltung wie den anderen Bundesstaaten einräumen sollen. Gewiss wären damit nicht alle Elsässer versöhnt gewesen, aber ein großer Teil der Bevölkerung hätte die Vorteile der Selbstverwaltung, die sie in Frankreich nicht gehabt hat, vollauf gewürdigt; sie hätten sich bald, wenn auch nicht als Franzosen, sondern einfach 8 Ehrlich

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als Elsass-Lothringer gefühlt und dabei hätte man sie auch lassen können. Vielleicht hätten sich die Franzosen in Frankreich damit abgefunden, wenn sie gesehen hätten, dass die Elsass-Lothringer eine Änderung des Zustandes gar nicht wünschen. Aber sie haben von Bismarck nicht die Stellung gleichberechtigter Bürger, sondern von Untertanen erhalten. Damit war wohl die Verwaltung erheblich erleichtert, aber gleichzeitig entstanden auf Schritt und Tritt unüberwindbare Schwierigkeiten. Am unbegreiflichsten ist jedoch Bismarcks Polenpolitik gewesen. Da es ja Bismarck unmöglich entgehen konnte, dass sich ein Krieg mit Russland unter Umständen nicht werde vermeiden lassen, so war es wohl das Nächstliegende, die Polen, die ein Abgrund des Hasses von den Russen trennte, mit allen Mitteln an Deutschland zu fesseln. Wäre das geschehen, so wären die Deutschen bei ihrem Einzug in Russisch-Polen überall als Befreier begrüßt worden. Bismarck zog hingegen auch hier eine Politik der nationalen Unterdrückung vor, mit dem Erfolge, dass die Polen schließlich nicht einmal ihre Unabhängigkeit aus deutscher Hand annehmen wollten. Bismarcks innere Politik zeigt also denselben Grundzug wie die äußere. Der große Staatsmann glaubt auch hier, mit Gewalt alles richten zu können, und weckt damit nur Widerstände, denen er mit Gewalt nicht beikommen kann. Er hat die Dänen nicht gebrochen; er hat die Elsass-Lothringer erst zu glühenden Franzosen gemacht; er hat das in Polen schon recht erschlaffte Polentum tatsächlich neu belebt. So ging er auch sonst noch vor, und hat überall das Gegenteil von dem erzielt, was er angestrebt hatte. Eine seiner ersten Taten nach der Reichsgründung war der „Kulturkampf 4 : eine ganz ausgesprochene religiöse Verfolgung in der zweiten Hälfte des XDC. Jahrhunderts, was man doch wohl nicht mehr für möglich gehalten hätte. Der Erfolg war auch darnach: Die deutschen Katholiken schlossen sich zu einer Partei (Zentrum) zusammen, und diese wurde bald so mächtig, dass Bismarck den Kampf aufgeben musste. Bis auf den heutigen Tag ist Deutschland wohl der einzige Staat europäischer Gesittung, in dem eine große Partei auf rein religiöser Grundlage besteht; diese Partei war schon zu Bismarcks Zeiten maßgebend, und sie ist es bis jetzt geblieben. Darauf nahm er es mit der Sozialdemokratie auf; und ihm ist wohl zu danken, dass die Sozialdemokratie in Deutschland einen Aufschwung nahm, wie sonst nirgends auf der Welt. Und wie überflüssig das war, wie harmlos, wie leicht zu behandeln, wie staatsfromm diese von Bismarck zum „Reichsfeind" abgestempelte deutsche Sozialdemokratie im Grunde ihres Herzens ist, hat sich ja während des Krieges gezeigt. Wie heißt es denn im Gedicht: „dass dein ärmster Sohn dein treuester war!" Die verhängnisvolle Lage Deutschlands am Beginn des Weltkrieges kündigte sich schon an, als Bismarck noch am Ruder war. Das Bündnis Frankreichs mit Russland war schon vor seiner Entlassung eingeleitet, England beharrlich zurückgewiesen, die öffentliche Meinung in vielen Staaten gegen Deutschland aufgebracht, die feindlichen Strömungen überall von Frankreich aus genährt. Das System der papiernen Bündnisse mit den Regierungen über die Köpfe der Völker

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hinweg, auf das Bismarck unbegreiflicherweise soviel Wert legte, konnte sich unmöglich bewähren in einer Zeit, wo die Regierungen doch schließlich von den Völkern abhängen. Schon in den Achtzigerjahren hat der Krieg auf zwei Fronten (Russland und Frankreich) gedroht; er ist vermieden worden, weil ihn eben Deutschland damals nicht wollte und Alexander III. wusste, dass er eine Niederlage mit dem Leben bezahlen werde. Wäre er aber ausgebrochen, er hätte Deutschland ebenso vereinsamt an der Seite der Wiener Regierung gefunden, wie der Weltkrieg. Das Ansehen des Deutschen Reiches war allerdings, so lange es von Bismarck geleitet worden ist, groß, denn die Welt war von Bismarcks Erfolgen in der Vergangenheit geblendet, und seine Mittel infolge günstiger Umstände, die von Politik ganz unabhängig waren, überwältigend gewachsen; die schwache Stellung des Reiches trat hingegen nicht hervor, weil Bismarck sich für „saturiert" erklärte, und im Allgemeinen nichts Positives mehr erstrebte. Aber diese Passivität war ihm aufgenötigt: Deutschland konnte sich nicht rühren, ohne überall anzustoßen, und ein Mann, der so tief blicken konnte wie er, hat das gewiss nicht übersehen. Wo er aus der Passivität heraustrat, fand er jetzt überall offene und verborgene Hindernisse, so im Jahre 1874, als er Frankreich bedrohte, bei Gortschakow (man vergleiche das wütende: Gortschakow protège la France in den Erinnerungen), so während des Berliner Kongresses, so auch in der Kolonialpolitik. Die berühmte Einkreisung war daher schon von Bismarck eingeleitet; sie kam allmählich von selbst, wenn sie auch kaum je so vollständig geworden wäre ohne ein Genie der Unbesonnenheit, wie es Wilhelm II. war, der durch seine ach so überflüssige Flottenpolitik die letzte Macht, mit der Deutschland noch hätte auskommen können, herausgefordert hatte und das Wunder eines Bündnisses Englands mit Russland, die durch einen fast ein Jahrhundert alten Gegensatz getrennt waren, leichten Herzens zustande brachte. Nun hat allerdings im XVII. und XVIII. Jahrhundert England durch eine ähnliche Politik der Gewalttätigkeiten und rein diplomatischen Bündnisse seine Weltmacht begründet; aber das war eben im XVII. und XVIII. Jahrhundert. Damals ist das Wort vom perfiden Albion entstanden, und damals konnte es nicht schaden. Aber die Größe der englischen Staatskunst besteht darin, dass sie sich wandelt mit dem Wandel der Zeiten. Seit Beginn des XIX. Jahrhunderts hören die Gewalttaten gegen Völker europäischer Gesittung nahezu auf. Der Krimkrieg ist bis zum Weltkrieg der nahezu letzte Krieg, den England auf europäischem Boden geführt hat. Wo es Ansprüche zu stellen hat, versucht es sie stets rechtlich zu begründen. Überall durch den ganzen Erdball steht es auf Seiten derer, die für die großen Ideen der nationalen, religiösen, politischen Freiheit kämpfen. Bald gewöhnen sich die Volker, in England den Hort aller freiheitlichen Bestrebungen zu erblicken. In Deutschland spricht man oft von englischer Heuchelei; es handle sich immer um englische Interessen; aber hat England je, um seiner Interessen willen, auch die politische Reaktion, religiöse Unterdrückung, nationale Massaker unterstützt? Der Vorwurf der Heuchelei beruht auf einem moralischen Werturteil, und es ist eine Frage, ob er moralisch schwerer wiegt, als der Vorwurf der rücksichtslosen Gewaltanwendung. Die Engländer haben durch ihre freiheitliche auswärtige Politik große Vorteile errungen, weil sie sich damit die Zuneigung der Völker erworben 8*

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haben; dass sie solche Vorteile wirklich angestrebt hätten, ist in vielen Fällen ihren Staatsmännern, vor allem Gladstone, nicht nachzuweisen, und gilt jedenfalls nicht vom englischen Volke, denn eine von großen sittlichen Ideen erfüllte Staatskunst entspricht tatsächlich den Gefühlen breiter englischer Schichten und den Bestrebungen vieler wahrhafter englischer Politiker. Dem sei aber wie immer: Heuchelei ist doch wenigstens eine Verbeugung vor der Tugend, und daher der nackten Brutalität unter allen Umständen vorzuziehen. Sie nötigt dem Heuchler immerhin viele Hemmungen auf, die der Gewaltmensch nicht kennt, und wenn sich in der Atmosphäre, die sie erzeugt, ein gesitteter Europäer unmöglich wohlfühlen kann, so vermag er darin in der Regel wenigstens zu atmen. Nur einmal haben die Engländer im letzten Jahrhundert gegen ein Volk europäischen Ursprungs Wege beschritten, die an die Bismarckschen erinnern. Das war in ihrem Kampf gegen die Boeren. Der Erfolg war auch darnach: ein allgemeiner Schrei der Entrüstung durch ganz Europa, in den auch Kaiser Wilhelm, wenigstens anfänglich, einstimmte. Leider hat er nichts daraus gelernt. Anders als Bismarck in Elsass-Lothringen, haben die Engländer jedoch auch den Boeren gegenüber sofort, nachdem der Krieg beendigt war, volle Selbstverwaltung gewährt.

IV. Bismarck wartet noch auf seinen Shakespeare, der uns seine ganze Persönlichkeit bloßlegen würde: in seiner urwüchsigen Wucht und einfachen Größe erinnert er ja doch an so manche Gestalt in den Königstragödien und Römerdramen. Hier soll derartiges, dem nur ein Dichter ersten Ranges gewachsen wäre, nicht versucht werden: nur nach dem Grundzug seines Wesens, wie es in seinen Taten und Worten erscheint, soll gefragt werden. Dass er in seinen Anfängen nicht Deutscher, sondern bloß Preuße war, wird heute kaum mehr bestritten. Später mag er zum Deutschen Reich auch Liebe gefasst haben, wie jeder Schöpfer für sein eigenstes Werk; aber solche erworbene, angelebte Gefühle ermangeln stets der elementaren Ursprünglichkeit. Der deutschen Kunst, Wissenschaft, Literatur stand er sein Leben lang ebenso fremd gegenüber, wie sein erleuchtetes Vorbild, Friedrich II.; nie hat sich ein geistig Schaffender seiner Unterstützung oder nur des näheren persönlichen Umgangs erfreut. Auch für das deutsche Volk als solches hatte er nichts übrig, kein Stück Poesie wird von ihm öfters angeführt als Shakespeares Coriolanus, und dieses dürfte wohl am besten sein seelisches Verhältnis zum Volke spiegeln. Er hat zwar das allgemeine Stimmrecht eingeführt, aber bekanntlich nur, weil er damit, wie Napoleon DL, stets eine gefügige Mehrheit im Parlament zu erhalten hoffte: als er sich darin getäuscht sah, hat er es bitter bereut und dachte an einen Staatsstreich, um es zu beseitigen. Die Arbeiterversicherung, das einzige Stück Sozialpolitik, für das er sich einsetzte, war ihm doch nur - er sagte es offen - eine verbesserte Armenpflege. Seine Absicht dabei war hauptsächlich, der Sozialdemokratie „den Wind aus den Segeln zu nehmen". Tiefer und echter war sein Preußentum. Es war in der Hauptsache die aufrichtige Hinneigung zum preußischen Junkertum, aus dem er hervorgegangen ist: beson-

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ders zu dessen gesellschaftlichen und militärischen Überlieferungen. Er war stets bedacht, es in seiner politischen Herrscherstellung zu erhalten, und war eifrig um sein wirtschaftliches Wohlergehen besorgt: soweit es von ihm abhing, regnete es nur so Schutzzölle, Liebesgaben und sonstige Begünstigungen. Echt preußisch war auch die Geselligkeit auf seinem Landgut. Seine durchwegs auf die Geltendmachung der militärischen Macht nach außen und der staatlichen Kraft nach innen gerichtete Politik war ganz vom preußischen Geist erfüllt. Wenn man seinen Worten glauben will, so war die Lehnstreue für seinen „allergnädigsten Herrn" die einzige Triebkraft seines Handelns. Man muss jedoch zugeben, dass ihm sein allergnädigster Herr die Treue ziemlich leicht gemacht hat. Der Lehnsherr, der seinen Vasallen machen lässt, was er für gut hält, ist wohl viel eher ob seiner Treue zu bewundern. Das er bei seiner höchst persönlichen Politik fortwährend den König und später den Kaiser vorschob, hatte für ihn den großen Vorteil, jede gegen ihn gerichtete Opposition als eine solche gegen den Monarchen hinzustellen, seine politischen Gegner als Republikaner oder Rebellen zu schelten. Davon machte er ausgiebig Gebrauch. Als dann der schwer zu behandelnde Wilhelm II. den Thron bestieg, war vom „allergnädigsten Herrn" gar nicht mehr die Rede, und nach seiner Entlassung machte er dem Lehnsherrn Opposition, wie nur einer der viel verlästerten Republikaner. Damit hat er gewiss durchwegs Recht gehabt, aber das ist eine andere Sache: hier kommt es nur auf die Frage an, ob es ihm mit seiner Lehnstreue ernst war, und ob er es ehrlich meinte, wenn er die Opposition in einem monarchischen Staate in seiner bekannten Weise brandmarkte. Bismarcks Gefühls- und Triebleben war jedoch nicht stark genug, als dass es viel dazu beitragen könnte, seine Persönlichkeit zu enträtseln. Er war ein Mann, ausgestattet mit einem ganz außerordentlichen Verstände und einer kraftstrotzenden Natur; er hatte daher, wie jeder Mensch dieser Art, das ungestüme Verlangen, sich im Leben vollständig auszuwirken, im Rahmen seiner Begabung das Beste zu leisten. Das Schicksal hat ihn in einer schicksalsschwangeren Zeit an die Spitze eines großen Staates gestellt, und er hat da Großes vollbracht; aber er hätte als Plantagenbesitzer in Brasilien oder als Direktor einer Waffenfabrik in China ebenso Hervorragendes geleistet: er war von denen, die der Welt nichts schuldig bleiben und überall an die Oberfläche kommen. Seine tiefe Menschenkenntnis, gepaart mit einer düsteren Menschenverachtung, gab ihm eine ungeheure Überlegenheit über alle seine Gegner, die sich von Einbildungen, Gefühlen und Trieben leiten lassen. Aber er war bei alledem stets der kalte, rücksichtslose, preußische Junker, ohne Verständnis für seelische Bedürfnisse eines Volkes, ohne Mitgefühl für fremdes Leid; er hatte nichts Erwärmendes, nichts Erhebendes an sich. Die Bewunderung der Zeitgenossen galt rein äußerlich seinem Werk, der Geist, der darin waltete, konnte niemand hinreißen. Man vergleiche damit die Gedanken und Gefühlswerte, mit denen die Staatsmänner der französischen Revolution und selbst noch Napoleon III. Frankreich zu erfüllen verstanden, durch die englische Politiker das englische Weltreich auf seine heutige Höhe emporgehoben haben, mit deren Hilfe das Völkergemisch der Vereinigten Staaten jeden Tag zu einem großen,

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selbstbewussten Volke wird: nichts derartiges fand sich im Bismarckischen Deutschland. Am ehesten erinnert Bismarck an Ludwig XIV. Das Schicksal, das ihn, wenn auch erst nach dem Tode, erreichte, gleicht auch vielfach dem des Sonnenkönigs. Schon Geffken hat einmal ausgerufen: „Zeigen Sie mir doch einen einzigen edlen Zug bei Bismarck!" Damit hat er auch das Richtige getroffen. Das, was dem preußischen Junker am meisten fehlt, das ist das, worauf er sich das meiste einbildet: der Adel. Die einzige Leidenschaft, die Bismarck zuweilen übermannte, war der Hass. Dieser trieb ihn manchmal sogar zu einer Unbesonnenheit. Als der amerikanische Kongress dem deutschen Reichstag aus Anlass des Todes Eduard Laskers, der auf amerikanischem Boden gestorben war, das Beileid ausdrückte, verweigerte es Bismarck, die Mitteilung dem Reichstag zu überbringen, und begründete es im Reichstag mit einer höchst verletzenden Rede, die zweifellos die guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten gefährdete. Er sagt darin (nach zahlreichen Ausfallen gegen Lasker und den Liberalismus), dass ein Verkehr von Parlament zu Parlament unzulässig sei. Wo steht denn das? Beziehungen der Parlamente zueinander, zumal Glückwünsche und Beileidskundgebungen kommen doch jeden Tag vor. Eine bloße harmlose Höflichkeit ohne alle Folgen war doch eines derartigen Aufwandes an Kraftmitteln nicht wert. Aber Lasker war ein Liberaler, er war Jude, er war ein durchaus ehrlicher Mann, und stieß damit oft an Bismarck an, er hatte einigen Anteil an der Begründung des Deutschen Reiches, und machte das zuweilen geltend; er war lange Zeit in Opposition, die Vereinigten Staaten waren durch den Ozean von Deutschland getrennt, der deutsche Reichstag war nahe und es war gute Gelegenheit, ihm einiges Unangenehme zu sagen: Konnte sich Bismarck da die Gelegenheit zu einer Rede entgehen lassen? Bismarck drückte dem deutschen Volke für ein halbes Jahrhundert den Stempel seines Geistes auf. Es mag dahingestellt bleiben, aus welchen Stücken sich im Allgemeinen die Eigenart eines Volkes zusammensetzt: aber man sollte nicht übersehen, wie sehr sie durch den Eindruck geformt wird, den auf die Massen des Volkes einzelne den Durchschnitt weit überragende Persönlichkeiten machen. Unwillkürlich ahmt das ganze Volk seinen großen Männern nach. So ist der ungeheure und im Ganzen sehr unerfreuliche Wandel zu erklären, der mit den Deutschen seit dem Jahre 1871 vor sich ging. Nicht bloß der deutsche Politiker, auch der deutsche Industrielle, der deutsche Kaufmann, der Handlungsreisende, der Professor, sie alle wurden kleine Bismärcker. Es entstand die Vorstellung, die zuvor dem Deutschen ganz fremd war, dass der Erfolg überhaupt nichts ist als eine „Machtfrage". Die Folgen waren ähnlich wie in der Politik: Der Deutsche hatte bald überall Feinde, nirgends einen aufrichtigen Freund. Heute weiß man es auch in Deutschland, dass diese Art ein verhängnisvoller Fehler war. Bismarcks Schöpfung ist nach kaum einem halben Jahrhundert zugrunde gegangen, das Werk Washingtons steht heute, nach fast hundertfünfzig Jahren, stärker als je. Wem es genügt, der mag es auf historische Zufälligkeiten zurückführen. Das wäre jedoch nur dann richtig, wenn das Persönliche zufällig wäre: es ist aber stets

3. Bismarck und der Weltkrieg

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gesellschaftlich verankert. Man setze für Washington einen aus militärischen Kreisen hervorgegangenen General, der, ungleich Washington, die ihm angebotene Krone angenommen und eine Dynastie begründet hätte. Er und seine Nachfolger hätten einen der damals halb so feudalen Südstaaten, wo sie die Stütze ihrer Macht gefunden hätten, zur Vormacht erhoben, damit die dazumal noch auf ihre Besonderheiten sehr stolzen anderen Bundesstaaten gereizt und ihr Aufgehen im Gesamtstaat verhindert; sie hätten, angeblich wegen der immer drohenden englischen Gefahr, eine starke Armee geschaffen und, in Ermangelung andrer Verwendung dafür, fortwährend Händel, bald mit Kanada, bald mit europäischen oder südamerikanischen Staaten, gesucht; sie hätten den Kongress nach Möglichkeit kaltgestellt und ihm fortwährend vorgeschrieben, dass der Bund nicht durch das Volk, sondern durch den glorreichen Ahnherrn und sein Heer begründet worden sei. Die Vereinigten Staaten wären entweder längst schon in selbständige Staaten zerfallen, oder hätten sich - an Stelle des einzigen Sezessionskrieges - erst nach vielen Wirren, Staatsstreichen, Umwälzungen zu einem einheitlichen Freistaat emporgearbeitet. Deutschland steht heute dort, wo die Vereinigten Staaten bei der Wahl Washingtons zum Präsidenten waren. Bismarcks Gebilde ist wohl endgültig abgetan: Deutschland kehrt zu den Idealen der Demokraten und Liberalen vom Jahre 1848 zurück, und nähert sich damit dem Ideal Washingtons und der Mitbegründer der Vereinigten Staaten. Ob ihm das Glück jetzt so hold sein wird, wie den Vereinigten Staaten? Es beginnt seinen Weg unter viel schwierigeren Umständen, und wenn es nie mehr soweit kommen sollte wie diese, so ist das gerade die tragische Schuld Bismarcks und seiner Anbeter. In den Gesprächen mit meinen deutschnationalen Freunden machte ich mir oft den Spaß, einen Satz mit den Worten zu beginnen: „Der größte Staatsmann des 19. Jahrhunderts . . . " Jeder erwartete nun, ich werde Bismarck sagen, - ich sagte aber Gladstone. Und es steckte Ernst hinter diesem Spaß. Ich halte Gladstone für den weitaus größeren Staatsmann. Er war der erste Politiker überhaupt, der ganz bewusst, wenn auch nicht durchwegs und überall, aber doch soweit es in seiner Zeit möglich war, sittliche Grundsätze in die Politik eingeführt hat. Und damit kündigte er der Menschheit eine neue Zeit an.

4. Die Schuldfrage* In einem angesehenen schweizerischen Blatte waren jüngst mehrere polemische Aufsätze zu lesen darüber, wen auf deutscher Seite die Schuld für den Ausbruch des Krieges und für eine Reihe von Vorkommnissen während des Krieges treffe: den deutschen Kaiser oder das deutsche Volk. Ueber den Kaiser möchte ich mich hier nicht äußern, denn hier spitzt sich die Frage ganz auf die juristische Konstruktion und die Zurechenbarkeit zu. Etwas anderes ist es jedoch, ob man von der Schuld des Kaisers und des Volkes überhaupt in einem Atem sprechen kann. Der Kaiser ist eine Einzelperson, und die rechtliche und sittliche Verantwortlichkeit des Einzelnen ist ein der modernen Jurisprudenz und Sittenlehre durchaus geläufiger Begriff. Welchen Sinn hat es aber, von einer Schuld des deutschen Volkes zu sprechen? Gewiss, der deutsche Reichstag hat die Kriegsanleihen, zuerst beinahe einstimmig, bewilligt, den Brester und Bukarester Vertrag genehmigt, und das deutsche Volk in seiner Gesamtheit hat sich nie dagegen verwahrt. Weder der Reichstag, noch das deutsche Volk in seiner Gesamtheit hat je die Verletzung der belgischen Neutralität, das Vergehen der deutschen Heerführer und Offiziere in Belgien, die Torpillierung der „Lusitania", den „unbedingten" U-Bootkrieg in wirksamer Weise verurteilt. Es ist zweifellos, dass im Deutschen Reichstag eine große, vielleicht sogar eine überwiegende Mehrheit mit alledem einverstanden war, dass ein großer Teil des deutschen Volkes es gutgeheißen hat, dass insbesondere eine Menge von Deutschen den unbedingten Unterseebootkrieg sogar ungestüm verlangt hat. Kann man aber deswegen von einer Schuld des deutschen Volkes sprechen? Ware diese Frage irgendwo in Europa vor etwa dreitausend Jahren aufgeworfen worden, so hätten sie vielleicht die Weisesten nicht einmal verstanden. Damals beherrschte noch die Vorstellung, dass die Gesamtheit für das Verhalten jedes ihrer Angehörigen unbedingt hafte, das ganze Denken und Fühlen der Menschheit. Bei den Völkern, die sich heute noch annähernd auf der Entwicklungsstufe befinden, wie wir vor dreitausend Jahren, ist es so auch jetzt noch. Wenn einem Beduinen der Bruder getötet wird, so hat er keine andere Sorge, als, wenigstens wenn er des Mörders selbst nicht habhaft werden kann, seinen Bruder oder vielleicht sonst einen von seiner Sippe zu töten. Dasselbe gilt bei Indianern Amerikas, bei afrikanischen Negern und selbst in Europa noch in Albanien und im Kaukasus. Aber die gesitteten Völker Europas haben diese Entwicklungsstufe schon seit Jahrhunderten überwunden. Das war unser Stolz. Das heutige Strafrecht und die moderne Sittlich* Das neue Europa V 4 (Zürich 1919), S. 14-17.

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I. Zur Zeitgeschichte des Ersten Weltkrieges

keit beruht auf dem Gedanken, dass jeder nur das verantwortet, was er selbst getan hat, und dass jedem Beschuldigten seine Schuld individuell bewiesen werden müsse. Niemand fällt es mehr ein, einen Menschen dafür haftbar zu machen, dass sein Bruder ein Mörder ist. Aber der Krieg ist Atavismus, ist Rückfall in der Urväter Barbarei. Wie er selbst ein Überbleibsel aus der grauen Vorzeit ist. so versetzt er auch jeden Einzelnen, der in seinen Bannkreis kommt, in die Welt, in die er selbst gehört. Unsere wilden Ahnen sind nicht ganz gestorben, sie haben nur einen langen, harten Schlaf in unserer Brust geschlafen, und der Kriegslärm hat sie wieder ganz munter gemacht. Fünf Jahre lang wurden wir von ihrem Geist besessen, wir haben gesprochen, gefühlt, gehandelt, wie die Menschen auf der Entwicklungsstufe des Europäers vor dreitausend Jahren. Welcher fromme Europäer hätte vor dem Kriege zu Gott dem Allgütigen gebetet, er möge die Feinde vernichten? Seitdem haben es aber Millionen getan. Ganz wie die Fidschi-Insulaner. Hätte man es vor sechs Jahren verstanden, dass man ein ganzes Dorf verbrennt, weil dort einige Waffen gefunden worden sind? Oder wäre es im Juli 1914 so ganz ohne weiteres selbstverständlich gewesen, dass man irgend jemandem sagt: Du wirst sofort erschossen, wenn in diesem Dorfe ein Schuss fällt? Und dass man das gegebenenfalls sogar ausführt? So darf man sich nicht wundern, dass in dieser milden Luft des Seelenaufschwungs auch der uralte Gedanke der Gesamtschuld zum neuen, kräftigen Leben erwacht ist. Nun aber ist es wohl höchste Zeit, dass wir es versuchen, wieder einmal gesittete Europäer zu werden. Der Krieg ist zu Ende und damit die Indianertänze, die Städte- und Dörferverbrennungen, die Geiseln und ähnliche Scherze der Herren Generäle. Damit könnte wohl auch die Frage nach der Schuld des deutschen Volkes erledigt sein, denn sie gehört, so wie sie gestellt wird, ebenso wenig in unsere Gesittung, wie der Krieg selbst. Das deutsche Volk als solches ist weder schuldig noch unschuldig; nur bei einem einzelnen Deutschen kann die Schuldfrage gestellt, und auch er kann nur wegen dessen verurteilt werden, was ihm nachgewiesen worden ist. Die Erklärung der 93 war gewiss nicht schön, aber niemand ist dafür verantwortlich als ihre Unterzeichner, und auch bei ihnen müsste man zwischen Urhebern, Mittätern und bloßen Mitläufern unterscheiden; selbstverständlich moralisch, denn von einer rechtlichen Verantwortlichkeit kann wohl keine Rede sein. Ebenso ist aber der belgischen Verbrennungen und Erschießungen nur schuldig, wer sie befohlen, des Unterseebootskrieges nur, wer ihn verlangt und wer ihn angeordnet, des Brester und Bukarester Friedens nur, wer ihn veranlasst, abgeschlossen oder im Reichstag genehmigt hat Und die Millionen Deutschen, die alle diese Dinge billigten, sind schuldig, eine unsittliche Handlung gutgeheißen, nicht aber sie begangen zu haben; wobei den meisten noch der Ausschließungs- oder Milderungsgrund des Irrtums und des Kriegstaumels zugute kommen dürfte. Wer will, der mag in jedem einzelnen Falle die Art und das Maß der Schuld untersuchen, aber mit einer Gesamtschuld darf er da nicht kommen. Denn diesen stehen unzählige Millionen Deutscher gegenüber, die, zu unbedingtem Gehorsam geboren und erzogen, die Ratschlüsse der Obrigkeit als etwas Unabänderliches hinnahmen, und

4. Die Schuldfrage

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die vielen, die im Geheimen die Faust ballten, da sie weder reden durften noch konnten, weil ihnen sonst der Tod durch Erschießen drohte. Und schließlich gab es auch solche Deutsche, die laut genug gesprochen haben, ohne sich im Inlande, geschweige denn im Auslande vernehmlich machen zu können. Ich habe selbst eine Reihe von Versuchen gemacht, gegen die Kriegsstimmung in Deutschland und Österreich in Wort und Schrift anzukämpfen, und darf es als Wunder betrachten, dass ich dafür nicht vor Gericht gestellt wurde. Natürlich hat aber der Zensor das Meiste unterdrückt. Wenn man durchaus nach den Schuldigen forschen will, so möge man die die Einzelnen treffenden Verantwortlichkeiten feststellen. Man möge eine Kommission Neutraler einsetzen, die untersuchen soll, wer in den letzten fünfundzwanzig Jahren vor dem Kriege in den am Krieg beteiligten Staaten die Kriegspartei gewesen ist. Man möge die einzelnen Personen bezeichnen, die zum Kriege gehetzt haben, die Zeitungen und die Parteien, wohl auch die Unternehmungen der Schwerund der Munitionsindustrie, die die Kriegshetze mit Geld unterstützt haben. Ich wüsste nicht, wer schuldiger wäre als diese.

Die Amnestie* Sie ist gekommen, weil sie kommen musste. Weil Österreich unmöglich, neben dem Kriege, den es fast gegen die ganze gesittete Welt führte, auch noch einen Krieg gegen seine eigenen Völker aufnehmen konnte. Weil die militärgerichtlichen Urteile, wie jedermann wußte, zum Teil irrtümlich waren und unerträgliche Härten enthielten. Weil der Staat nicht Tausende schuldloser Familien der Trauer und dem Elend preisgeben durfte. Weil für einen modernen Staat Staatsanwalt, Kerkermeister und Gendarmen für die Dauer nicht die richtigen Stützen abgeben. Weil ohne die Amnestie selbst ein Versuch, sich mit den österreichischen Völkern friedlich auseinanderzusetzen, undenkbar war. Das ist nur ein Auszug aus den zahllosen Gründen, aus denen die Amnestie unvermeidlich und unaufschiebbar war. Damit ist über die durch die Amnestie erledigten politischen Prozesse allerdings noch nicht alles gesagt. Wenn ich sie entschieden verwerfe, so folgt daraus noch nicht, dass sie wirklich verwerflich sind. Alles kommt darauf an, ob man bei seinem Urteil die Gesellschaft als Ganzes oder ob man bloß einen vorübergehenden Vorteil des Staates in seiner augenblicklichen Form ins Auge fasst. Denn mit den politischen Prozessen wehrt sich nicht die Gesellschaft gegen ihre Feinde, sondern eine bestimmte Gruppe der Gesellschaft, die gerade den Staat beherrscht, gegen ihre Gegner. Daher sind die politischen Verbrecher von gestern oft genug die lorbeerbekränzten Helden oder die gefeierten Staatsmänner von morgen: an ihnen selbst hat sich zwar nichts geändert, aber das Rad hat sich ein wenig gedreht, und hat die heraufgebracht, die kurz zuvor noch tief unten waren. Die politischen Prozesse gehören somit gar nicht der Rechtspflege an, sondern der Politik. Der praktische Politiker mag unter Umständen mit Recht überzeugt sein, dass er dieser Waffe im politischen Kampfe nicht entbehren könne. Ich aber bin kein praktischer Politiker, und so darf ich mir auch den Luxus gönnen, die Mittel und Ziele der praktischen Politik auf ihren Ewigkeitswert zu prüfen, sie nicht an dem Staate zu messen, dem sie dienen sollen, sondern an dem Staate der Zukunft, der auch einmal kommen wird. Es handelt sich darum, dass der Staat, der einst, vor Jahrtausenden, als militärisches Machtzentrum entstanden ist, der daher alles dem Zwecke der bevorstehenden oder der möglichen Kriegführung unterordnet, sich schon seit etwa drei Jahrhunderten, sehr langsam aber stetig, in einen Körper für wirtschaftliche, nationale und kulturelle Verwaltung verwandelt. In manchen glücklichen europäischen * Der Friede. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur Bd. 1 (Wien 1918), S. 126-127.

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I. Zur Zeitgeschichte des Ersten Weltkrieges

Klein- und Mittelstaaten, der Schweiz, den Niederlanden, den skandinavischen Staaten, in einigen englischen Kolonien, zumal in Neuseeland (das seine Bürger God's own country nennen), in Australien, einigermaßen auch in Kanada, am wenigsten in Südafrika, war diese Entwicklung schon vor dem Kriege recht weit vorgeschritten, und selbst zwei Großstaaten, Großbritannien und die Vereinigten Staaten, befanden sich auf dem Wege dahin; der Rückschlag infolge des Krieges kann diesen Vorgang wohl verzögern, aber nicht dauernd verhindern. Ebenso wie im modernen Verfassungsstaate die auf Änderung der Verfassung oder der gesellschaftlichen Schichtung gerichtete politische Tätigkeit, die im absoluten Polizeistaate oft blutig unterdrückt worden ist, als durchaus zulässig gilt, so wird dereinst, im Verwaltungsstaate der Zukunft, das Streben nach Loslösung eines Teiles des Staatsgebietes nicht anders beurteilt werden, als heute das nach Abtrennung einer Gemeinde von einer Bezirkshauptmannschaft und deren Zuweisung an eine andere. Mit der Morgenröte einer besseren Zeit, von der uns höchstens ein oder zwei Jahrhunderte trennen, wird der Begriff des politischen Verbrechens ebenso aus den Gesetzbüchern verschwinden, wie heute schon die Verbrechen der Ketzerei und der Hexerei darin nicht mehr zu finden sind. Aber der praktische Politiker der Gegenwart ist dem politischen Verbrecher gegenüber annähernd in der Lage eines Arztes, der sich die Frage vorlegt, ob er dem Fiebernden Chinin eingeben solle. Er weiß, dass Chinin ein gefährliches Gift ist, das den Organismus dauernd schädigt, und dass es den Heilungsprozeß gefährdet, da der Organismus das Fieber, das durch Chinin herabgesetzt wird, braucht, um die eingedrungenen Schädlinge zu bekämpfen, die die Krankheit verursachen. Trotzdem wird der Arzt oft genug zum Chinin greifen, denn er wird sich sagen müssen: wenn das Fieber weiter steigt, so wird ihm der Körper erliegen, und dann nützt es ihm wenig, dass er nicht durch Chinin dauernd geschädigt und in seinem Kampf gegen die Eindringlinge nicht gestört worden ist. Wer das Vergehen der Staaten und das Erlöschen des menschlichen Lebens nur im Zusammenhange der Weltentwicklung betrachtet, der mag es zuweilen bezweifeln, ob deren Hinausschieben oder Vermeiden um den Preis langwierigen Leidens oder dauernden Siechtums nicht zu teuer erkauft ist: für den praktischen Politiker ist der Staat, wie das menschliche Leben für den praktischen Arzt, das höchste Gut überhaupt, und kein Opfer zu groß, wenn es sich um deren Bewahrung handelt. Aber jeder besonnene Arzt wird dafür sorgen, dass das Gift, nachdem es einmal seine Schuldigkeit getan hat, aus dem Körper entfernt werde, auf dass es nicht weiter um sich fresse. Als nach der Kriegslage keine Gefahr mehr für den Bestand Österreichs vorhanden war, standen die österreichischen Staatsmänner vor einer ähnlichen Aufgabe. Die Entfernung des Giftstoffs war allerdings noch keine Heilung: denn die Verheerungen, die das Gift im Körper anrichtet, sind damit noch nicht behoben, dass das Gift selbst herausgebracht wird. Aber es war die Voraussetzung einer Heilung. Die Amnestie hat wenigstens verhindert, dass die Wunde in Brand übergeht, der weiter umsich greift, und sie hat auch den Zeitpunkt festgesetzt, von dem an die Wunden zu vernarben beginnen könnten. So ferne uns

5. Die Amnestie

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auch der nationale Friede in Österreich scheinen mag, mit jedem Tage, an dem sie früher gekommen ist, ist auch der Friede nähergerückt. Das alles wird wohl von jedermann in Österreich eingesehen. Aber manche Politiker meinten, man hätte die Amnestie nicht umsonst hergeben sollen, denn man hätte dafür wertvolle Zugeständnisse haben können. Es scheint mir sehr zweifelhaft, ob sich unter den nationalen österreichischen Politikern jemand herbeigelassen hätte, die Amnestie, die, wie jedermann in Österreich wußte, unvermeidlich und unausweichlich war, irgendwie zu erkaufen. Aber noch wichtiger ist die Frage, ob es sich empfohlen hätte, die kaiserliche Gnade zum Gegenstande eines Tauschhandels zu machen: der Vorgang wäre jedenfalls neu. Es ist allerdings schon vorgekommen, dass der Begnadigte ein bestimmtes Verhalten versprechen, etwa auf die Betätigung seiner staatsfeindlichen Gesinnung verzichten musste: aber dass man dafür geradezu eine Gegenleistung verlangt hätte, überdies nicht von den Begnadigten selbst, sondern von den Vertretern der an ihrem Verbrechen ganz unbeteiligten Völker, ein solcher Fall hat sich kaum je zuvor ereignet. Man möge doch bedenken, wohin wir kämen, wenn die Übung einrisse, kaiserliche Gnaden für politische Gegendienste im Abgeordnetenhause zu gewähren. Und höchst zweifelhaft wäre auch der Wert eines solchen Handels. An das Abkommen wären doch wohl nur die Personen gebunden, die es abgeschlossen haben, nicht aber die Völker, und es scheint mir höchst wahrscheinlich, dass diese ihre Vertreter, die sich zu einem Geschäft dieser Art herbeigelassen hätten, zum Rücktritte vom öffentlichen Leben gezwungen hätten. Ihre Versprechungen hätten dadurch jede Bedeutung verloren, und wir wären gerade so weit wie zuvor. Von einem Abgeordneten, der seine politischen Verbindlichkeiten nicht erfüllen kann, kann man nichts mehr verlangen, als dass er auf seinen Sitz verzichte. Nein, es ist gut, dass die Amnestie das war, was sie sein soll: ein Gnadenakt, kein Tauschartikel. Aber Inhalt und Umfang der Amnestie gehen recht weit darüber hinaus, was den Umständen nach gegeben werden musste und was allgemein erwartet worden ist. In ihrer Unbeschränktheit, Unbedingtheit, Vorbehaltlosigkeit - die wenigen Ausnahmen, die sie macht, waren unbedingt notwendig und kommen nicht in Betracht - liegt ein großer Zug, dem alle Kleinlichkeit fremd ist: mit einer ungemein vornehmen Geste wird alles gewährt, was irgendwie gewährt werden konnte, und ein hoher Adel der Gesinnung spricht aus jeder Zeile der Urkunde. Dass das von keiner beteiligten Seite erkannt und anerkannt wurde, hat die Vertreter einer versöhnlichen Nationalitätenpolitik peinlich überrascht. Es war zweifellos ein grober politischer Fehler. Der Fehler wurde selbstverständlich von den Scharfmachern gehörig ausgenützt: „Jetzt zeigt es sich wieder," sagten sie, „dass es nichts anderes gibt, als mit dem Säbel dreinhauen; für Entgegenkommen haben sie gar kein Verständnis". Wenn aber diese Aufnahme der Amnestie politisch unklug war, psychologisch ist sie nicht unbegreiflich. Gewiss waren die Prozesse nicht gegen die Völker, sondern immer nur gegen einzelne gerichtet. Der Verlauf des Krieges hat es ja deutlich gezeigt, wie wenig verbreitet die staatsfeindlichen Handlungen waren. Aber die

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I. Zur Zeitgeschichte des Ersten Weltkrieges

nationale Zugehörigkeit der Beschuldigten, manche Fehler und Missgriffe in der Führung der Prozesse sowie bei Internierungen und anderen Maßregeln haben es mit sich gebracht, dass sich die Völker selbst getroffen fühlten. Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit mit den verfolgten Volksgenossen wurde dadurch außerordentlich gesteigert: ein Freund, deutscher Nationalität, der um diese Zeit aus Böhmen zurückkehrte, beschrieb mir die dort in tschechischen Kreisen herrschende Stimmung geradezu als tragisch. Das war nicht die richtige geistige Verfassung, um die Amnestie gerecht zu würdigen. Die Gemüter waren durch das, was in den drei Jahren geschehen ist, viel zu verhärtet, um sofort für mildere Regungen empfänglich zu sein. Die heißersehnte Versöhnung der österreichischen Völker hat uns die Amnestie also nicht gebracht. Dazu war sie auch nicht bestimmt. Sie sollte nur das Unkraut ausjäten, das, üppig wuchernd, die Saat der Versöhnung auch in Zukunft zu ersticken drohte. Trotzdem wird die großherzige Art, wie sie gewährt wurde, gewiss nicht ohne Wirkung bleiben: nur darf man den Zeitraum, dessen es dazu bedarf, nicht unterschätzen. Die Völker sind ungeheure Menschenmassen, und wie im Ozean braucht auch bei ihnen jeder Anstoß eine lange Zeit, bis er in alle Tiefen aufwühlend eindringt. Wie geringschätzig auch die missgünstigen Zeitgenossen über die Amnestie urteilen mögen, vor dem Urteil der Geschichte wird sie bestehen. Die Zukunft wird zeigen, dass sie nicht nur eine sittlich gebotene, sondern auch eine weise, staatsmännische Tat gewesen ist.

II. Zur Sozialpolitik

9 Ehrlich

1. Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und Bauernfrage)* Vorrede zur vierten Auflage Der Vortrag, der der vorliegenden Schrift zu Grunde liegt, wurde - das muss nachdrücklichst hervorgehoben werden - in dem Sozialwissenschaftlichen Akademischen Verein in Czernowitz im Jahre 1909 gehalten. Er war für eine hauptsächlich aus Angehörigen der Universität bestehende Hörerschaft bestimmt, und sein Zweck war vor allem, meinen Schülern zu sagen, wie sie in ihrer Heimat fruchtbare Sozialpolitik betreiben könnten. Als ich die Zustimmung zu seiner Veröffentlichung gab, konnte ich nicht annehmen, dass die vom Sozialwissenschaftlichen Akademischen Vereine herausgegebene Sammlung je außerhalb der Bukowina verbreitet werden könnte. Aber bald nach dem Erscheinen erregte er, wie auch andere Schriften der Sammlung, in ziemlich weitem Kreise Aufmerksamkeit. Und nun haben weltgeschichtliche Ereignisse den darin behandelten Fragen eine Wichtigkeit verliehen, von der vor einem halben Jahrzehnt niemand eine Ahnung haben konnte. Es darf wohl schon heute als einigermaßen wahrscheinliches Ergebnis des gewaltigen Ringens betrachtet werden, dass Polen in irgendeiner Form die nationale Selbständigkeit wiedererlangen wird. Und in der Tat wäre kein Preis dafür zu hoch. Für mich ist es zweifellos, dass die Teilung Polens, gegen die sich die große Kaiserin Maria Theresia, wohl einer der bedeutendsten Staatsmänner, die je gelebt haben, nicht nur, wie man gewöhnlich glaubt, aus sentimentalen, sondern auch aus politischen Gründen so heftig gesträubt hatte, ein verhängnisvoller Fehler war, der fast an jedem großen Unglücke Schuld trägt, von dem Europa seither heimgesucht worden ist. Ohne Polen wäre Russland eine asiatische Macht geblieben, die uns nicht viel mehr angeht als Persien. Das Ziel jeder vernünftigen deutschen und österreichischen Politik, das noch vor einem halben Jahrhundert auch das Ziel der französischen und vor einem Viertel Jahrhundert das Ziel der englischen Politik war, Russland nach dem Osten zu verweisen, wo seiner großartige Aufgaben harren, wäre mit unabweisbarer Notwendigkeit erreicht worden. Nur die freundliche Einladung, in die europäische Politik einzutreten, die mit der Zuteilung Polens ergangen war, ließ Russland, zu Europas und seinem eigenen Verderben, verkennen, dass alle seine Interessen an der Kolonisierung der unermeßlichen Strecken Asiens * Schriften des Sozialwissenschaftlichen Akademischen Vereins in Czernowitz, Heft 1. Duncker & Humblot, München/Leipzig, 4. A. 1916. 9*

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II. Zur Sozialpolitik

hängen, für die sein hochbegabtes Volk, wie die glänzenden Ergebnisse der bisherigen Tätigkeit zeigen, vortrefflich geeignet ist. Deutschland und Österreich haben vor allem Interesse an einem lebensfähigen Polen, das mit allen Mitteln an die westeuropäische Gesittung zu ketten wäre. Noch vor einem Jahrzehnt wäre das mit größter Leichtigkeit zu erreichen gewesen, heute besteht bereits in Polen, infolge verhängnisvoller politischer Missgriffe, eine starke Strömung für ein Zusammengehen mit Russland. Aber diese Strömung ist bisher nur auf die oberen Schichten beschränkt, und sie wird, wenn nicht neue Fehler begangen werden, zweifellos zurückgehen. Der katholische Glauben und die westliche Gesittung werden die großen Massen des polnischen Volkes, denen Russland nach wie vor als Erbfeind erscheint, zu uns herüberziehen. Es handelt sich jetzt darum, auf welche Bevölkerungsschichten wir bei dieser Arbeit mit Sicherheit zählen können, auf dem flachen Lande und in den Städten. Die Verhältnisse sind da in Polen annähernd die gleichen wie in Galizien und der Bukowina, mit denen ich mich in dem Vortrage befasse. Auf dem flachen Lande kommt es vor allem auf den Bauern, in den Städten auf den Juden an. In dem polnischen Bauern, wenn nicht alles trügt, was ich von ihm erfahren konnte, steckt ein ungemein tüchtiger Keim. Dem deutschen Leser, der ihn näher kennen lernen will, empfehle ich die lebensvolle Schilderung in dem Romane von Reymont: Die Bauern (Chlopi), der - wenn ich nicht irre - ins Deutsche übersetzt ist. Alles kommt darauf an, ihn auf eine gesunde wirtschaftliche Grundlage zu stellen. Der größte Übelstand ist die Zerstückelung des bäuerlichen Besitzes, verschuldet teils durch das Überwiegen des Großgrundbesitzes, teils durch das Erbrecht. Ich halte jetzt noch die Produktionsgenossenschaften für das richtige Mittel. Diese zu schaffen, wäre eine dankbare Aufgabe für die deutsche Organisationsbefähigung. Außerdem dürfte eine weitherzige Siedelungspolitik auf dem übermäßig ausgedehnten Großgrundbesitze unvermeidlich sein. Der slawische Bauer pflegt überall seinen Besitz letztwillig ziemlich gleichmäßig unter die Söhne zu verteilen. Das führt mit der Zeit zu Zwergwirtschaften, auf denen der Betrieb nicht mehr fortgeführt werden kann. Die ungeheure Auswanderung aus den slawischen Ländern beweist, dass die Zustände, die dadurch geschaffen wurden, jetzt schon unhaltbar sind. Jede Bauernpolitik im Osten wird daher damit beginnen müssen, den Bauernsöhnen Raum zu schaffen. Auch diese Frage wird im Romane von Reymont scharf beleuchtet. Die Judenfrage hat im Osten eine ungeheure Bedeutung. Im Westen ist sie nach meiner Überzeugung eine aus parteipolitischen Gründen künstlich aufgebauschte Sache. Die westlichen Juden sind, wie die Statistik zeigt, im Aussterben begriffen; nur infolge des Zuzugs aus dem Osten tritt das weniger hervor. Abgesehen davon wirken die zahlreichen Übertritte und die Mischehen so zersetzend, dass sie ihre Sonderart gewiss nicht mehr lange werden behalten können. Aber das alles gilt nicht für den Osten. Die nationale Frage sollte hier ganz aus dem Spiele gelassen werden. Ich halte es jetzt selbst für unmöglich, die östlichen Juden beim Deutschtum festzuhalten. Noch vor einem Vierteljahrhundert war bei ihnen allerdings eine

1. Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten

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starke Strömung dafür vorhanden, sich ganz an das Deutschtum anzuschließen; seither hat sich aber, unter dem Einflüsse des deutschen Antisemitismus, eine entschiedne Wendung vollzogen. Man wird es nunmehr den östlichen Juden selbst überlassen müssen, wie sie sich national stellen wollen: ob sie noch eine Annäherung an das Deutschtum suchen werden, ob sie sich zu einer eignen Nation ausgestalten oder mit den Völkern, unter denen sie wohnen, verschmelzen. Für das letzte scheinen ihre großen Massen nur in Ungarn, wo man ihnen in dieser Beziehung weit entgegenkommt, gewonnen zu sein. Uns muss es jedoch genügen, dass die Juden in Polen politisch unbedingt zuverlässig sind: sie werden, wenigstens in absehbarer Zeit, weder für eine russische noch für eine panslawistische Politik zu haben sein. Umso wichtiger ist es, sich um ihre wirtschaftliche Lage zu kümmern. Das, was ich im Vortrage gesagt habe, gilt heute noch in viel höherem Grade: die Juden im österreichischen Osten, ebenso in Russisch-Polen, in Südrussland und in Rumänien, befinden sich mitten in einer wirtschaftlichen Katastrophe. Geholfen kann ihnen nach meiner Überzeugung nur werden durch die Großindustrie: sie müssen Industriearbeiter werden. Wer das als unmöglich bezeichnet, kennt sie eben nicht: Fabrikarbeiter und Handwerker sind sie in diesen Gegenden jetzt schon zum größten Teile, und stets bereit, es zu werden. Was sie daran hindert, ist eben nur der geringe Umfang der Großindustrie in diesen Gegenden, zum Teile auch das Widerstreben des Industriellen, jüdische Arbeiter, obwohl sie anerkanntermaßen sehr tüchtig sind, einzustellen.

Meine Damen und Herren! Als ich die Ankündigung meines Vortrages an den Straßenecken von Czernowitz las, da fühlte ich einiges Gruseln. Ich habe erst jetzt erfahren, dass ich über die Sozialpolitik in der Bukowina sprechen soll. Das ist aber ein Gegenstand, der in einem dreibändigen Werk behandelt werden müsste, ein jeder Band eng gedruckt und mit sehr vielen Anmerkungen versehen. Werde ich das in der kurz bemessenen Zeit eines Vortrages bewältigen können? Mir stiegen leichte Zweifel auf; ich versuchte mich zu erinnern, ob ich mich selbst vor diese unmögliche Aufgabe gestellt habe, und das Ergebnis war, dass dem ein Missverständnis zugrunde liege. Ich habe den Abgesandten des sozialwissenschaftlichen Vereins nicht gesagt, dass ich über „Sozialpolitik in der Bukowina" sprechen werde, sondern über die Aufgaben der Sozialpolitik in der Bukowina. Das klingt schon etwas menschlicher und ich bitte Sie, mir zu gestatten, auch meinen heutigen Vortrag darauf zu beschränken; es liegt nicht bloß in meinem, sondern auch in Ihrem Interesse. Ich will also über die „Aufgaben der Sozialpolitik in der Bukowina" sprechen, und zwar in erster Linie als Professor; nicht als Mann des praktischen Lebens, sondern als einer, der die Dinge von einer Straßenecke aus beobachtet und sich seine Gedanken darüber macht. Ich will auch darin mich als Professor bewähren, dass ich zunächst über den Begriff der Sozialpolitik spreche. Darunter versteht man den Teil der Volkswirtschaftspolitik, der eine geänderte Verteilung des Volksvermögens

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II. Zur Sozialpolitik

im Interesse der rechtlich, gesellschaftlich oder wirtschaftlich zurückgesetzten Klassen anstrebt. Ich möchte nun zunächst bemerken, dass ich im allgemeinen Anhänger der sogenannten klassischen Nationalökonomie bin und daher auch Gegner der nationalökonomischen Richtung, die heutzutage insbesondere in Deutschland verbreitet ist, und die bestrebt ist, Sozialpolitik zu treiben hauptsächlich mit Hilfe staatlicher Maßregeln, also vor allem mit Hilfe der Gesetzgebung und Verwaltung. Ich glaube mit den klassischen Nationalökonomen, dass die Verteilung des Volkseinkommens im Interesse der unteren Klassen vor allem durch Erhöhung des gesamten Volkseinkommens bewirkt wird. Je mehr der Reichtum des Volkes im ganzen wächst, je wohlhabender die einzelnen Angehörigen eines Volkes werden, um so mehr fällt auch für die heute rechtlich und gesellschaftlich zurückgesetzten Klassen ab. Ich glaube, dass auch manche Sozialisten, insbesondere ihr großer Führer Karl Marx, eigentlich im tiefsten Innern ihres Herzens derselben Überzeugung gewesen sind. Wenn Sie Karl Marx gründlich studieren, so überzeugen Sie sich, dass er überall davon spricht, dass eine andere gesellschaftliche Ordnung erst dann möglich sein wird, wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür vorhanden sein werden. Und als erste unter diesen Voraussetzungen bezeichnet er stets die Industrialisierung der Welt und damit zusammenhängend eine solche Erhöhung des Volksreichtums, dass damit auch eine andere Verteilung des Volkseinkommens möglich wäre. Das ist auch meine Auffassung. Ich glaube, wir in der Bukowina können uns leicht überzeugen, wie vieles gerade für diese Auffassung der Aufgaben der Sozialpolitik spricht. Hier in der Bukowina gelten im Grunde genommen dieselben sozialpolitischen Gesetze wie im übrigen Österreich; es besteht kein Unterschied in der Gesetzgebung: denn kein österreichisches sozialpolitisches Gesetz von einiger Bedeutung hat die Bukowina ausgenommen. Und dennoch können wir sagen, dass die Sozialpolitik in der Bukowina nach wie vor nach den meisten oder vielleicht nach allen Richtungen in sehr bedauerlicher Weise gegen die westlichen Provinzen Österreichs zurücksteht. Warum das. meine Herren? Einfach deswegen, weil sich Sozialpolitik durch Gesetze nicht machen lässt, wenigstens nicht durch Gesetze allein. Wenn der Volksreichtum sich einigermaßen gehoben hat, dann ist erst eine Verwaltungstätigkeit und sind gesetzliche Maßnahmen im Interesse der untern Volksklassen an der Zeit. Wäre das hierzulande bereits der Fall, dann wären auch die Voraussetzungen für eine weiterreichende Sozialpolitik gegeben und man könnte hier das versuchen, was man im Westen Österreichs ausgeführt hat. Bei uns in der Bukowina sind wir gegenwärtig lange nicht so weit und deswegen fallen alle sozialpolitischen Maßnahmen hier eigentlich ins Wasser. Wie kann man hier von Sozialpolitik z. B. zu Gunsten des Arbeiters sprechen, wenn sein Arbeitgeber selbst nur ein armer Handwerker ist, der froh wäre, wenn er soviel hätte, wie bei einer gesunden Sozialpolitik für seinen Arbeiter entfiele. Wenn Sie mich also fragen würden, was eigentlich die erste Aufgabe, die wichtigste Voraussetzung der Sozialpolitik in der Bukowina wäre, so würde ich darauf antworten: Zuerst eine Erhöhung des Gesamtreichtums in der Bukowina. Die Bukowina, die leider zu den ärmsten Ländern der Monarchie und vielleicht zu den ärmsten der Welt gehört,

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müsste, um wirklich eine gesunde Sozialpolitik zu treiben, zunächst trachten, sich Mittel dazu zu verschaffen. Ich gehe weiter in der Erörterung des Begriffes der Sozialpolitik. Sozialpolitik ist nicht Chirurgie, sondern Heilkunst; sie ist nicht Zerstören, sondern Aufbauen; sie ist nicht Geschwätz, sondern nützliche gesellschaftliche Arbeit. Und nun möchte ich Ihnen sagen, was ich für den Grundstein und Eckstein jeder Sozialpolitik, nicht bloß der Sozialpolitik in der Bukowina, sondern sogar als Grundstein und Eckstein jeder wahren Politik halte. Wenn Sie Sozialpolitik treiben wollen, dann, meine Herren, bekämpfen Sie nichts! Mit gutem Grunde stelle ich das an die Spitze meiner heutigen Ausführungen. Wir leben in Österreich und ich verfolge die österreichische Politik nicht erst seit gestern mit der größten Aufmerksamkeit; ich verfolge sie seit dreißig und mehr Jahren und ich kann wohl als Ergebnis dieses meines Studiums sagen: Ein österreichischer Politiker ist zunächst ein Mann, der etwas bekämpft. Ob er etwas Positives will, das ist ihm und seinen Wählern gleichgültig. Der eine bekämpft die Polen, der andere die Czechen, der dritte die Juden, dann wieder die Ungarn oder die Slovenen; dann kommen welche, die die Kirche, die Religion oder die Armee bekämpfen. Unlängst hat mir einer gesagt, man müsse das Notariat bekämpfen. Eigentlich hatte der Mann recht, denn das Notariat wurde bisher noch sehr wenig bekämpft. Nebenbei gesagt, halte ich unser Notariat wenigstens so, wie es sich im Westen Österreichs entwickelt hat, für eine der nützlichsten und fast tadellos funktionierenden Einrichtungen unseres Rechtslebens. Nun, ich möchte wiederholen, was ich bereits gesagt habe: Die Sozialpolitik ist positive Arbeit. Wenn wir wirklich Sozialpolitik betreiben, so müssen wir zunächst trachten, den Reichtum des Volkes, den Reichtum des Landes zu heben und das bedeutet in erster Linie die Verwertung aller Kräfte, die im Lande vorhanden sind. Alle diese Kräfte müssen den großen Zielen des Landes dienstbar gemacht werden. Das ewige Bekämpfen aber ist eine Vergeudung und nicht eine Verwertung der Kräfte. Ich habe mich viel mit der Bekämpfungspolitik, die für unsern Staat so ungeheuer bezeichnend ist, beschäftigt und glaube, wenn diese Kräfte, die für das ewige Bekämpfen verwendet werden, für dieses Bekämpfen, das eigentlich nach meiner besten Überzeugung hauptsächlich in der schrecklichen Ideenarmut unserer Politiker, denen eben nichts Positives einfällt, seinen Grund hat, wenn also diese Kräfte für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Arbeit im Volke verwendet würden, wenn wir nicht fortwährend schauen würden, was ein anderer macht und nicht macht, sondern darauf achten, dass wir selber etwas Nützliches treiben, dann würden die Sachen heute ganz anders stehen. Deswegen ist eine der ersten Voraussetzungen einer jeden Politik, dass das ewige Bekämpfen, der ewige Kampf des Einen gegen den Andern aufhört. Der Kampf Aller gegen Alle, der in unserem lieben Österreich tobt, ist eine so unglaubliche, jämmerliche Verschwendung der Kräfte, die im Volke vorhanden sind, dass schon das allein genügen würde, um ein gutes Stück des österreichischen Elends zu erklären. Deswegen sage ich noch einmal: Bekämpfen Sie nichts! - Der Kampf ist ein verneinendes und nicht ein be-

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jahendes Prinzip. Der Kampf erzeugt keine Güter, sondern er zerstört sie. Ich wünsche mir nicht, dadurch reich zu werden, dass das Haus meines Nachbarn abbrennt. Arbeiten Sie an Ihrem eigenen Haus, lassen Sie den Nachbarn an dem seinigen arbeiten; dann wird es Euch beiden gut gehen. Um nun an etwas nicht ganz außerhalb des Gewöhnlichen Liegendes anzuknüpfen: Sie wissen, dass ein gutes Stück des Kampfes in Österreich dem Klerikalismus gilt. Nun bin ich - ich sage es jedermann, der es hören will - kein Klerikaler. Und doch, wie oft musste ich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, was für eine Menge von Kräften in dem ewigen Bekämpfen des Klerikalismus vergeudet wird. Ich bin dagegen, weil es meine aufrichtige Überzeugung ist, dass der Klerikalismus durch das Bekämpfen nicht bekämpft wird, sondern wächst. Wo der Religion und ihrer Betätigung vollständige Freiheit gegeben wird, dort nimmt der Klerikalismus eine so harmlose Gestalt an, wie es etwa in England der Fall ist, einem Lande mit der größten Religiosität und der größten Freiheit der Religionen, die ich irgendwo gesehen habe. Dieser aggressive Klerikalismus, den wir in Österreich haben, ist, glaube ich, nur die Folge davon, wie der Klerikalismus fortwährend bekämpft wird. Gestatten Sie mir hier schon auf die Sozialpolitik in der Bukowina eine unmittelbare Nutzanwendung zu machen. Ich habe gesagt: Sozialpolitik ist nicht Geschwätz, sondern Arbeit. Zur Arbeit braucht man Kräfte, Kräfte, die über das ganze Land verstreut sind, Kräfte in jedem Dorfe, in jedem Winkel des Landes. Welche Kräfte stehen Ihnen für die sozialpolitische Arbeit zur Verfügung? Ich wüsste wahrlich nicht, an wen Sie sich in der Bukowina auf dem Lande wenden könnten, wenn nicht an den Pfarrer und Lehrer. Was wäre demnach die erste Aufgabe der Sozialpolitik in der Bukowina? Den Pfarrer und Lehrer zur sozialpolitischen Arbeit heranzuziehen. Wenn Sie auf die verzichten - bei der so ungeheuern Armut unseres Landes an Intelligenz so haben Sie niemand. Dass Sie in Czernowitz irgendwelche Vorträge halten oder halten lassen, das ist noch keine Sozialpolitik. Sie müssen Leute haben, die die sozialpolitische Arbeit durch das ganze Land verrichten. Wo nehmen Sie nun aber solche her, die Sie doch haben müssen? Sie können sich doch nur des Pfarrers und des Lehrers bedienen, der Einzigen, die Sie selbst im letzten Gebirgsdorf finden können. Einmal wird sich der Lehrer, ein anderesmal der Pfarrer besser eignen; das wird von den Verhältnissen abhängen. Wenn Sie aber den Klerikalismus bekämpfen, dann müssen Sie sofort auf den Pfarrer verzichten; denn der Pfarrer, das ist ja der leibhaftige Klerikalismus. Ich möchte jetzt etwas näher ins Einzelne eingehen. Zunächst muss ich einige Worte über die Ihnen übrigens bekannte gesellschaftliche und wirtschaftliche Schichtung der Bukowina sagen. Wir haben hierzulande vor allem den Bauern, dann den Großgrundbesitzer, ferner den Handwerker, den Kaufmann, außerdem die liberalen Berufe und zum Schluß - last not least - die Juden. Wenn Sie dieses Bild der gesellschaftlichen und der wirtschaftlichen Schichtung in der Bukowina überblicken, so finden Sie einige Eigentümlichkeiten. Zunächst

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finden Sie das nicht, worüber außerhalb der Bukowina in erster Linie gesprochen wird, wenn von der Sozialpolitik überhaupt gesprochen wird, nämlich den Arbeiter. Warum finden Sie ihn nicht in der Bukowina? Aus einem ungeheuer einfachen Grunde. Weil der Arbeiter im westlichen Sinne, der Arbeiter, um den sich zunächst jede Sozialpolitik kümmert, der Fabrikarbeiter ist. Und diesen Arbeiter, den Fabrikarbeiter, gibt es in der Bukowina nicht, weil es hier keine Großindustrie gibt, die den Fabrikarbeiter nähren könnte. Die Folge davon ist, dass eigentlich fast alles, was im Westen als Sozialpolitik gilt, in der Bukowina unanwendbar ist. Das, was wir im Westen sozialpolitische Gesetzgebung oder sozialpolitische Maßregeln im Interesse der unteren Volksklassen nennen, das fällt, selbst wenn es in der Bukowina gilt, mehr oder weniger ins Wasser, das wird hier zu einem harmlosen Vergnügen, manchmal zu einer Farce, sehr selten ist es von irgendwelcher Bedeutung. Welche sozialpolitische Einrichtungen im westlichen Sinne haben wir hier? Ich glaube, ich könnte mit reinem Gewissen nur das Gewerbegericht und einige Krankenkassen nennen: das dürfte so ziemlich alles sein. Ich glaube daher, dass der Ausbau der Sozialpolitik, wie man es im Westen Österreichs versuchte, für die Bukowina ziemlich wertlos ist und ich würde das sogar von einer so großartigen Maßregel, wie es die neue Altersversicherung ist, behaupten. Ich brauche Ihnen bloß zu sagen, dass die neue Altersversicherung eigentlich in erster Linie auf der Idee sich aufbaut, dass selbst der ärmste Teufel imstande ist, eine Krone monatlich für seine Altersversicherung zu bezahlen. Das bedeutet, dass ein Bauer, der eine mitbesitzende Frau und einen Sohn von mehr als 17 Jahren hat, fast 3 Kronen monatlich, also jährlich 36 Kronen zu zahlen hat. Wenn Sie glauben, dass es viele Bauern in der Bukowina gibt, die imstande sind, 36 Kronen jährlich außer den sonstigen Steuern zu bezahlen, dann hat diese Sozialpolitik für die Bukowina einen Wert, sonst nicht. Ich glaube aber nicht daran. Nach meiner Überzeugung gibt es so wenige Bauern bei uns, die das imstande wären, dass auch diese großartige Maßregel zweifellos zusammenbrechen wird, wenn sie nicht von Reichswegen gehalten werden sollte. Und dasselbe kann ich wohl auch von allem andern sagen. Unsere Gewerkschaften, die auch eine Übertragung von Einrichtungen, die sich im Westen bewährt haben, in die Bukowina sind, mögen vielleicht irgendeine Bedeutung haben, sie ist aber gewiss nicht groß: mit der Bedeutung, die ihnen im Westen zukommt, ist sie gewiss nicht zu vergleichen. Von dort wird das Heil nicht kommen. Warum? Weil, wie gesagt, die Bukowina nicht so weit vorgeschritten und der Reichtum nicht genügend entwickelt ist, damit davon ein größerer Anteil auch auf die unteren, gesellschaftlich zurückgesetzten Klassen zurückfallen würde. Wir können es einfach nicht. Wir haben allerdings in der Bukowina eine sozialdemokratische Partei und sogar auch einen sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichsrat. Aber ich glaube nicht, dass meine Ansicht widerlegt ist. Der sozialdemokratische Abgeordnete ist, soviel ich weiß, in erster Linie von Handwerkern und Kleinbauern in Rosch gewählt und vertritt infolgedessen gar nicht die Interessen der eigentlichen Arbeiterschaft. Und wenn er die Interessen seiner Wähler vertreten wollte, so könnte er gar nicht Sozialdemokrat sein, denn diese sind eben keine Arbeiter. Der Sozialismus in der Bukowina, wenn er überhaupt etwas bedeutet, so bedeutet er

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weiter nichts als den politischen Radikalismus, und unsere sozialdemokratische Partei ist, was allerdings auch für andere Teile Österreichs zutrifft, ebenso wie für Frankreich und manchmal gar für Deutschland, vor allem eine bürgerliche radikale Partei, ein Ersatz für den auf dem Festlande aus verschiedenen Gründen unbeliebt gewordenen Liberalismus. Das ist meine Überzeugung seit langem. Die Arbeiterschaft fehlt also bei uns zum großen Teile und das gibt den Zielen und Aufgaben der Sozialpolitik in der Bukowina einen sehr eigentümlichen Charakter. Wer ist also als Gegenstand sozialpolitischer Fürsorge in der Bukowina zu betrachten? Ich glaube, diese Antwort können Sie sich selbst geben, wenn Sie einigermaßen sich fragen: Worauf beruht eigentlich das ganze wirtschaftliche Leben im Lande? Wer ist es, der die Güter erzeugt, von denen man hier lebt? Die Antwort darauf ist ungeheuer einfach: das ist der Bauer. Wer immer in der Bukowina lebt, er mag Kaufmann oder Handwerker sein oder den liberalen Berufen angehören, der wird sagen, wir leben hauptsächlich vom Bauern: wenn es dem Bauern gut geht, geht es uns allen gut, wenn es dem Bauern schlecht geht, geht es uns allen schlecht. Das, was andern Ländern den ungeheuern Reichtum verschafft, das, woraus andere Länder wie Deutschland, Frankreich, England ihre Millionen schöpfen, die Großindustrie und der Handel, davon ist in der Bukowina keine Rede und infolge dessen darf ich wohl behaupten, jede Sozialpolitik in der Bukowina muss zunächst im Auge haben, die Lage und die Stellung des Bauern zu heben. Damit ist wohl ihr erstes, größtes und wichtigstes Ziel angegeben, aber nicht die Mittel. Die Lage des Bauern zu heben, den Bauern zu einem besser gestellten Mann zu machen, als wir ihn heute haben, das ist eine schwere Aufgabe, sogar im Westen. Sie wissen, seit einer Reihe von Jahrzehnten ist im ganzen Westen fortwährend die Rede davon, dass der Bauer zugrunde geht. Und wie geht er erst in der Bukowina zugrunde! Sie dürfen nicht vergessen, dass unser Bauer etwas ganz anderes ist als der Bauer im Westen. Seit einer Reihe von Jahren, wenn ich meinen studentischen Hörern in Erinnerung bringe, dass der römische Staat anfänglich ein Bauernstaat gewesen ist, schicke ich voraus - denn ich habe mich überzeugt, dass sie ganz falsche Begriffe davon haben - , was eigentlich ein Bauer ist. Der westliche Bauer ist, im Grunde genommen, mit dem Bukowinaer Maßstabe gemessen, kein Bauer, sondern ein Großgrundbesitzer. Der westliche Bauer, der im Durchschnitt 30 oder 40 Joch sein Eigen nennt, - ja, wo haben Sie diesen Bauern in der Bukowina? Sie haben vielleicht in einem Dorfe einen, zwei oder höchstens drei Bauern im westlichen Sinne. Aber ich glaube, dass Sie, mit Ausnahme einiger Gemeinden im Kimpolunger Bezirke oder bei den Huzulen sehr hoch im Gebirge, keine Gemeinde haben, wo man sagen könnte, dass diese Art von Bauern die Regel wäre. Unser Bauer - das wissen wir alle - ist nur ein jämmerlicher Zwergwirt. Grundbesitzer dieser Art werden im Westen nicht Bauern, sondern Häusler genannt, und sie leben kaum je vom Ertrage ihrer Wirtschaft, sondern verdienen ihren Unterhalt größtenteils als Arbeiter oder Taglöhner. Das ist aber bei uns mangels einer Großindustrie unmöglich. Es ist nun vollständig klar, dass man diesem Bauern mit den Mitteln nicht helfen kann, mit denen man dem westlichen Bauern aufzuhelfen gedenkt. Die Sozialpoli-

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tik in der Bukowina wäre nach dieser Richtung etwas ganz anderes als die gewöhnliche Agrarpolitik. Nehmen Sie als Beispiel die Frage der Schutzzölle. Ich will darauf gar nicht eingehen, ob die Agrarschutzzölle dem Bauern irgendwelche Vorteile bringen. Aber selbst der eifrigste Agrarier wird mir zugeben, dass das nur dann der Fall sein kann, wenn der Bauer soviel hat, dass er Einiges verkaufen kann. Nur in diesem Falle kann für ihn eine Preiserhöhung durch die Schutzzölle eine Bedeutung haben. Kann davon aber in der Bukowina die Rede sein? Was hat denn der Bauer bei uns zu verkaufen? Verkauft er Getreide? Verkauft er Vieh? Er hat ja kaum soviel, um selbst davon leben zu können. Was nützen ihm somit die Agrarschutzzölle? Was nützt ihm das Anerbenrecht? Ist dieses in der Bukowina durchführbar? Wäre das bei unserem Parzellenbesitzer, der, wenn er schon besser gestellt ist, drei oder vier Joch sein Eigen nennt, eine Maßregel von irgendwelcher Bedeutung? Sie sehen: was man im Auslande eine Agrarpolitik nennt, eine Sozialpolitik im Interesse des Bauernstandes, ist hier in der Bukowina im vorhinein nicht möglich, weil unser Bauer etwas ganz anderes ist, weil er nicht ein Bauer im Sinne der deutschen Länder unserer Monarchie oder im Sinne Deutschlands ist, sondern eher ein Kolone in dem Sinne, wie man ihn etwa in Italien antrifft. Trotzdem muss für diesen Bauern, um den sich eigentlich ernstlich kein Mensch in der Bukowina kümmert, etwas geschehen, wenn wir nicht alle mit ihm zugrunde gehen sollen. Aber was? Ich hätte nun damit die erste und wichtigste Aufgabe meines Vortrages wenigstens in bezug auf die Bauern überschritten; denn ich wollte nicht über Sozialpolitik als solche, sondern bloß über deren Aufgaben sprechen. Trotzdem, glaube ich, werden Sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich einiges sage, was mir gerade eingefallen ist, ohne irgendwelchen andern Anspruch zu erheben, als den, einige flüchtige Anregungen gegeben zu haben. Eine der Hauptaufgaben für uns ist es, dem Bauern zu ermöglichen, dass er auf seiner kleinen Parzelle etwas einrichtet, was er verkaufen und womit er das wenige Geld verdienen könnte, das er braucht. Seine Parzelle trägt ihm jetzt so wenig ein, dass er sich davon nur teilweise und nur notdürftig ernähren kann. Und alle andern Bedürfnisse als die nach Nahrung kann er davon nicht befriedigen, weil er eigentlich nichts verkaufen kann. Allerdings verkauft er schon etwas, weil er Steuern bezahlen und sonst sich noch etwas verschaffen muss. Aber dieser Verkauf bedeutet für ihn ein langsames Verhungern. Er könnte ja ohnehin vom Ertrage seiner Parzelle kaum leben. Aber wenn er davon noch etwas verkaufen muss, damit er die Steuern bezahle, damit er sich sonst noch etwas verschaffe, so bedeutet das, dass er es einfach seinem Munde entzieht. Er isst also um so viel weniger, und es wurde in der Tat schon vor vielen Jahren von dem verstorbenen Abgeordneten Szczepanowski in bezug auf die ganz ähnlichen Verhältnisse in Galizien hervorgehoben, dass dort 50000 Menschen mehr starben, als nach der Bevölkerungszahl sterben sollten. Und es wurde von ihm mit gutem Grunde behauptet, dass diese 50 000 Leute Bauern sind, die in Galizien verhungern: nicht an Hunger im gewöhnlichen Sinne des Wortes, wohl aber an chronischer Unterernährung sterben. Wenn ich nun am Montag auf den Austriaplatz in Czernowitz gehe und die hiesigen Bauern anschaue, dann weiß ich ganz

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genau, was Szczepanowski sagen wollte, als er behauptete, dass die Bauern an chronischem Hunger leiden und an chronischem Hunger sterben. Ich habe ähnliche Gedanken wie heute oft schon geäußert, bin aber in der Regel dem Zweifel begegnet, ob sich mit dem ruthenischen Bauern überhaupt etwas anfangen lasse. Aber alle diese skeptischen Herren vergessen, dass ein Mensch sich nur bewähren kann, wenn er vor eine angemessene Aufgabe gestellt wird. Auf seinen drei oder vier Joch, aller Betriebsmittel entblößt, wird der ruthenische Bauer selbstverständlich ein sehr schlechter Landwirt sein, weil es unter diesen Bedingungen eine gute Landwirtschaft überhaupt nicht gibt. Er wird auch deswegen ein schlechter Landwirt sein, weil bei mangelnder Ernährung auch die Energie und Lebenskraft leidet. Aber stellen Sie ihn nur vor die richtigen Aufgaben und geben Sie ihm gehörig zu essen, und dann wollen wir weiter reden. Ich verweise auf einen merkwürdigerweise hier fast unbekannten Aufsatz des Wiener Professors Philipovich in der „Österreichischen Rundschau" über seine Reise nach Kanada. Lesen Sie das vor allem, meine Herren von der ruthenischen Nationalität, damit Sie sich überzeugen, was aus dem ruthenischen Bauer werden kann. Würden Sie es glauben, dass der ruthenische Bauer, von dem viele mit solcher Verachtung sprechen, in Kanada der geschätzteste, tüchtigste, sparsamste und genügsamste Landwirt ist, dass die ödesten Strecken dem ruthenischen Bauern zur Bewirtschaftung übergeben werden und dass er sie im Verlaufe von zehn bis fünfzehn Jahren in die fruchtbarsten Gefilde verwandelt? Wissen Sie, dass sich die kanadischen Staaten um den ruthenischen Bauern geradezu reißen, um diesen ruthenischen Bauern, der hier in Hunger und Elend verkommt, während er dort, vor große Aufgaben gestellt, so Großartiges leistet? Wie könnte man nun diesen Bauern helfen? Mehr Grund und Boden könnte man ihnen kaum verschaffen, wenigstens nicht für den Augenblick; aber man könnte ihre Arbeit intensiver machen. Ich war vor zwei Jahren in einem Lande, das sich dessen rühmen kann, die blühendste Landwirtschaft in Europa zu haben, die einzige Landwirtschaft, die über ihr Schicksal nicht klagt, und das ist Dänemark, das Paradies der Bauern. Dieses Dänemark - ich habe mich nicht nur mit der Agrarfrage in Dänemark beschäftigt, sondern auch viele geschichtliche Werke gelesen dieses Dänemark ist heute das Land, das in agrarischer Beziehung am höchsten steht. Aber vor 100 oder 150 Jahren war der Bauer in Dänemark gerade so elend wie in der Bukowina. Es war gerade ein solcher Jammer, wie heute in der Bukowina. Da habe ich mich gefragt: Wie haben es die Leute dazu gebracht, dass sie heute das sind, was sie eben sind. Die Antwort, die mir die Dänen darauf gegeben haben und die ich aus dänischen Werken geschöpft habe, war, dass in erster Linie dies das Ergebnis der Bemühungen von Grundtvig sei, eines pietistischen Schriftstellers und Politikers, der in den 30 er Jahren des vorigen Jahrhunderts gewirkt hat. Sein Werk sind die über das ganze Land verstreuten Volkshochschulen, eine Art von Schulen zur Ausbildung für die Bauern und Bauernsöhne, wo sie insbesonders die sechs Wintermonate zubringen und alle möglichen Sachen, die zur allgemeinen Bildung gehören, auch landwirtschaftliche Gegenstände, lernen. Es wird

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aber mehr Wert gelegt auf die allgemeine Bildung, als auf das, was zur landwirtschaftlichen Bildung gehört. Diese Volkshochschulen haben zunächst den Erfolg gehabt, dass sie ungeheuer die Intelligenz des Bauern gehoben haben. Der dänische Bauer gehört zu den intelligentesten Bauern der Welt, wie ich mich selbst zu überzeugen Gelegenheit gehabt habe. Ich habe in einem dänischen Buche ein Verzeichnis von Büchern gesehen, die in einer Durchschnittsbibliothek eines gewöhnlichen Bauern sind. Sie würden, meine sehr Verehrten, die Hände über den Kopf zusammenschlagen, wenn Sie vernehmen, was ein jüttischer Durchschnittsbauer in seiner Bibliothek hat. Jeder dänische Bauer hält zwei bis drei Zeitungen. In einem dänischen Werke, das in dänischer Sprache geschrieben und „Dänemarks Kultur im 19. Jahrhundert" betitelt ist, ist angegeben, was für Bücher bestellt worden sind in einem gewöhnlichen Landstädtchen von 14000 Einwohnern in einer der drei dort bestehenden Buchhandlungen. In jeder dieser drei Buchhandlungen des dänischen Landstädtchens sind mehrere Abonnementswerke bestellt im Preise von 100 - 200 dänischen Kronen. (100 dänische Kronen sind 66 Gulden.) Das ist selbstverständlich sonst nirgends als in Dänemark möglich. Der Erfolg ist die blühende dänische Landwirtschaft. Darüber sind sich die Dänen vollkommen im Klaren: In erster Linie verdanken sie ihre Landwirtschaft der ungewöhnlichen Intelligenz des Bauern. Ich will dabei nur das eine hervorheben: das dänische landwirtschaftliche Genossenschaftswesen. Sie haben in Dänemark keine Gemeinde, die nicht eine landwirtschaftliche Genossenschaft hätte und zwar eine landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft. In Dänemark wird die beste Butter der Welt erzeugt und zwar nicht etwa von Gutsbesitzern, sondern von Bauern und nicht etwa von einzelnen Bauern, sondern alle Bauern Dänemarks sind in wirtschaftliche Produktivgenossenschaften zusammengeschlossen, die diese Butter erzeugen und die mit ihrer Butter ganz England versorgen; in ganz England erhält man dänische Butter. Solche Produktivgenossenschaften haben sie auch für Schweine. Die Bauern schließen sich zusammen, gründen Schweinezüchtungs- und Schlachtungsgenossenschaften. Die meisten Länder des europäischen Westens werden von Dänemark mit Schweinefleisch versehen. Solche landwirtschaftliche Betriebsgenossenschaften haben sie für die Pferde und beinahe für alles mögliche. Nun, meine Verehrten, glauben Sie, dass das möglich wäre ohne die großartige Intelligenz des dänischen Bauern? Und dabei - lesen Sie die Statistik - sind die dänischen Bauern keineswegs Großbauern. Sie haben reiche Bauern in Dänemark, selbstverständlich, aber ein großer Teil sind auch Häusler, die gerade wie unsere Bauern auf drei oder vier Joch sitzen; sie sind jedoch ungeheuer betriebsam, ernst, fleißig, arbeitsam und schicken ihre Kinder in die Schulen. Dieser dänische Bauer hat es also dazu gebracht, der reichste Bauer der Welt zu sein. Wenn ich also irgendetwas sagen könnte in bezug auf unsere Bauernpolitik, so ist es folgendes: Wir müssen zunächst nach Möglichkeit trachten, durch Gründung und Ausgestaltung von Schulen den Bauernjungen zu erziehen, ihn zu etwas zu bringen, daneben aber auch zur Entwicklung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens zu schreiten. In diesem von der Natur so reich gesegneten Lande Bukowina, das einen Boden hat, der zu

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den besten der Welt gehört, könnten wir es dazu bringen, dass unsere Butterproduktion, unsere Produktion an Eiern, - womit Dänemark ein gutes Stück der Welt versorgt, - an Geflügel und allen Sachen der landwirtschaftlichen Kultur uns soviel eintragen, um tatsächlich den Bauern das Leben irgendwie möglich und erträglich zu machen. Das wäre zunächst die erste und wichtigste Aufgabe der Sozialpolitik in der Bukowina. Das ist auch vielleicht das größte Unglück aller Politik in unserer engern Heimat Bukowina, wie auch in unserer Heimat Österreich: Jede politische Frage wird ausschließlich als nationale Frage aufgefasst. Ich aber sage Ihnen: die wichtigste nationale Frage ist die wirtschaftliche Frage. Die beiden Nationen, die sich die Bukowina streitig machen, die Rumänen und die Ruthenen, sollten zunächst daran denken, dass sie in erster Linie Bauernvölker sind und dass die Größe und Entwicklung ihrer Bauern die Größe ihrer eigenen Nation bedeutet. Wenn der ruthenische und der rumänische Bauer verhungert, in Elend und Unbildung zugrunde geht, so geht mit ihm auch ein Stück der ruthenischen und der rumänischen Nation zugrunde und kein ruthenisches oder rumänisches Gymnasium, keine nationale Agitation, kein den andern abgenommener Wahlkreis wird ihnen darüber hinweghelfen. Jeder rumänische oder ruthenische Bauer aber, der es zu etwas bringt, bedeutet um soviel einen Zuwachs zum nationalen Vermögen der Rumänen und Ruthenen. Die Rumänen und Ruthenen können nur groß werden, wenn sie ihre Bauernschaft zur Entwicklung bringen. Es ist ganz eigentümlich, dass beide Völker in erster Linie daran denken, soviel Gymnasien als möglich zu begründen. Ja, glauben Sie, dass wirklich ein Volk durch Gymnasien groß wird oder groß werden kann? Ich bin nicht dieser Ansicht und möchte möglichst wenig von Gymnasien hören, die noch so sehr besucht sind und noch so viele Beamtenstellen für sich zu verschaffen trachten. Meine Verehrten! Ich halte sehr viel von unsern Hofräten, aber ich kann Ihnen versichern, für jede wohlhabende Bauerngemeinde gebe ich 10 oder 100 Hofräte, soviel Sie wollen. Das Volk wird groß durch die, die die Güter erzeugen, aber nicht durch diejenigen, welche sich von den von andern erzeugten Gütern ernähren. Hofräte sind sehr gut, aber zunächst müssen Bauern sein. Die zweite brennende Frage in der Bukowina ist die Judenfrage. Bevor ich darauf zu sprechen komme, möchte ich eines bemerken: Ich selbst gehöre noch einem Geschlechte an, für das es keine andere Lösung der Judenfrage gibt, als ein vollständiges Aufgehen der Juden im Deutschtum. Das galt nicht nur für die Juden, die unter den Deutschen wohnen, sondern auch für die Juden hier im Osten, die mitten unter slawischen Völkern ihren Sitz haben. Das Judentum des Ostens stellten wir uns vor als eine Erweiterung der deutschen Machtstellung bis tief in das Gebiet fremder Völker und Reiche hinein. Wir beurteilten die Judenfrage ausschließlich vom Standpunkte der deutschen Interessen und schätzten den Wert des Deutschtums für die Juden ausschließlich von einem gewissen allgemein menschlichen, kulturellen, sittlichen Standpunkt ein. Wenn dieser ganze Plan jetzt aufgegeben werden muss, so liegt es ausschließlich an dem Antisemitismus, der das deutsche Volk ergriffen hat. Viele Juden werden gewiss noch immer beim Deutsch-

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tum bleiben, zumal wenn sie durch Religionswechsel, Familienbeziehungen, persönliche Verbindungen oder auch ihre Eigenart und ihre persönlichen Erfahrungen hingezogen werden, aber für die große Masse der Juden, zumal die im Osten wohnenden, ist es kaum möglich, Deutsche zu bleiben, wenn die überwiegende Menge des deutschen Volkes von ihnen nichts hören will. Deutsche Politik können die Juden nur treiben mit den Deutschen, nicht gegen die Deutschen. Beginnt doch unter dem Einflüsse des Antisemitismus selbst im Stammlande des liberalen Judentums, in Böhmen, ein großer Teil der Juden bereits seine eignen Wege zu gehen. Wem die Interessen des deutschen Volkes in Österreich und die Weltstellung des Deutschtums am Herzen liegen, - und zu denen gehöre ich auch - der kann das nur bedauern; ich glaube, dass dieser nicht sehr gescheite Studentenulk, der Antisemitismus, hier eine verhängnisvolle historische Rolle gespielt hat, dass er die Deutschen um ein Machtgebiet oder um mindestens eine Einflusssphäre gebracht hat, die einst vom Böhmerwald bis Odessa gereicht hatte. Hier hat der Deutsche überall Menschen gefunden, die deutsch sprachen, ihre Kinder mit Schiller und Goethe erzogen, sich zu den Deutschen in einem besonderen Nahverhältnis und zur Wahrung der politischen und wirtschaftlichen Interesse des Deutschtums berufen fühlten, - nicht selten sogar aus durchaus slawischen Gegenden deutsche Abgeordnete nach Wien entsendeten - und eigentlich nichts dafür verlangten, als dass man ihnen erlaubt, sich Deutsche zu nennen. Ein Volk mit einigem politischen Verständnis hätte sich solche Vorteile schon zu sichern gewusst. Der Mann, der einmal die Geschichte schreiben wird, wie Österreich aufgehört hat, ein deutscher Staat und ein Vorposten deutscher Kultur im Osten zu sein, der wird dem deutschen Antisemitismus einen längeren Abschnitt widmen müssen. Es ist ja schließlich nicht ganz gleichgültig, ob man die anderthalb Millionen österreichischer Juden für sich oder gegen sich hat. Ich habe den Gedanken des Zusammenhanges der Juden und Deutschen im Osten noch nicht aufgegeben, aber man wird ihm schwerlich sobald wieder näher treten können. Allerdings dürfte die Stimmung bei den Deutschen ziemlich bald umschlagen, Anzeichen dafür mehren sich mit jedem Tage, zumal bereits die Wunden sichtbar hervortreten, die ihnen der Antisemitismus geschlagen hat, aber ich zweifle, ob die Stimmung bei den Juden in absehbarer Zeit umschlagen wird, und darauf kommt es schließlich auch an. Bei einem Teile der mehr nach Westen vorgeschobenen Juden halte ich das für immerhin möglich, nicht aber bei den Juden, die hier im Osten mitten unter Slawen wohnen; die dürften jetzt für das Deutschtum endgültig verloren sein. Und so will ich den Fall, dass es noch einmal gelingen könnte, die Juden, auch bei uns, in der Bukowina, den Interessen des Deutschtums dienstbar zu machen, von der ferneren Betrachtung ausschließen; trotz meiner persönlichen Wünsche und Hoffnungen. Die praktische Politik darf nicht persönliche Wünsche und Hoffnungen zur Grundlage haben und nicht mit entfernten, unwahrscheinlichen Möglichkeiten rechnen. Ich möchte, bevor ich zur Sozialpolitik der Judenfrage, wenn auch nur in der durch den Gegenstand dieses Vortrages gebotenen zeitlichen und örtlichen Beschränkung übergehe, ganz kurz bemerken, dass alle die, die heute im europäischen Westen an der Judenfrage herumpatzen, herumschwätzen, herumschimpfen,

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von ihrem wahren Wesen und ihrer wirklichen Tragweite auch nicht die blasseste Vorstellung haben. Das ist ja auch gar nicht anders möglich, da sie doch immer nur westliche Verhältnisse vor Augen haben. Der Sitz der Judenfrage ist aber der europäische Osten: Südrussland, Galizien, Polen, Bukowina, teilweise Rumänien und Ungarn. Und hier sieht jeder, der nicht sehr gründlich die Augen verschließt, dass die Judenfrage weder eine Rassen- noch eine nationale Frage, weder eine religiöse noch im gewöhnlichen Sinne eine wirtschaftliche Frage ist. Sehr bedeutende Kenner des Judentums, vor allem Erneste Renan, bestreiten überhaupt den Zusammenhang der östlichen Juden mit den westlichen. Sie nehmen an, dass die östlichen Juden nur zu sehr geringem Teile von den alten Juden abstammen, nur insofern ihre Vorfahren aus Deutschland eingewandert sind. Die große Mehrzahl ist derselben Abstammung wie die Völkerschaften, unter denen sie wohnen, die im Laufe des XIV. und XV. Jahrhunderts in großem Maße zum Judentume übergegangen sind. Schon viel früher, im IX. Jahrhundert, hat der finnische Volksstamm der Chazaren, der in der Nähe der Krim gewohnt hat, die jüdische Religion angenommen. Aus eigener Wahrnehmung kann ich nur sagen, dass die Juden des Ostens sich durch Körperbildung, Gesichtsformen und ihre ganze Art sehr von den westlichen unterscheiden. Die Judenfrage des europäischen Ostens ist, ähnlich wie die russische Revolution, ein Ausdruck der Tatsache, dass die östliche Gesellschaft gerade jetzt in einer Umwälzung begriffen ist. Die Judenfrage hier gleicht den großen Verrückungen in unserem Erdkörper, mit denen er, aus seinem bisherigen Gleichgewicht gebracht, sich der neuen Lage anzupassen sucht und die sich einstweilen in den schrecklichen Länder und Völker verheerenden Katastrophen Luft machen. Was aber dem Westen Europas als Judenfrage erscheint, ist nur ein leises Fernbeben, das dem erschreckten Seismologen die grauenhaften Verwüstungen ankündigt, die, tausende Kilometer weit, elementare Umwälzungen angerichtet haben. Gäbe es keine Judenfrage im Osten, würde der durch wilde Stürme aus seinen bisherigen Sitzen aufgescheuchte Jude des Ostens nicht jeden Augenblick ein neues, unbequemes Problem nach dem Westen tragen, kein Mensch im Westen würde mehr an eine Judenfrage denken. Darum muss auch die Judenfrage im Osten mit einem ganz andern Maßstabe gemessen werden als im Westen. Dort ist sie ein so kleines, unscheinbares, bedeutungsloses Problem, dass man nur über die Menge des Staubes staunen muss, die sie aufgewirbelt hat. Und selbst die größten Torheiten, die bei ihrer Behandlung begangen werden, können der Gesamtheit nicht gar viel Schaden bringen. Was heißen denn die paar Juden in Deutschland, Frankreich und Westösterreich (allerdings mit Ausnahme der größtenteils slawischen Länder Böhmen, Mähren, Posen)? Aber für die Völker des Ostens, die Polen, Südrussen, Ruthenen, Rumänen und teilweise auch für die Ungarn handelt es sich um Leben oder Tod. Gelingt es ihnen, die Judenfrage zu einer friedlichen und gedeihlichen Lösung zu bringen, dann steht ihnen, nach meiner besten Überzeugung, eine Zeit wirtschaftlicher und kultureller Blüte bevor, die nichts nachgibt der höchsten Blütenentfaltung irgendeines andern Volkes der Welt. Die Juden, in ihren eigenen Volkskörper aufgenommen und angeglichen, könnten ihn mit einer ganzen Reihe

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von intellektuellen und wirtschaftlichen Kräften ausstatten, die ihm bisher noch gefehlt haben. Gelingt ihnen diese Art der Lösung der Judenfrage nicht, dann zweifle ich nicht daran, dass sie sich daran verbluten. Die fortwährenden Kämpfe und Stürme, wilden Ausbrüche und ohnmächtigen Zuckungen werden für absehbare Zeit der wirtschaftlichen Entwicklung den Weg verlegen, das politische und gesellschaftliche Leben vergiften. Glauben Sie nicht, dass wir heute schon wirtschaftlich viel weiter wären, wenn wir es dazu bringen könnten, dass in Laden und Werkstätte jüdische und christliche Arbeiter und Angestellte nebeneinander ihr Werk verrichten würden? Und nun möchte ich allen denen, die soviel von der Judenfrage reden, die Juden wegen ihres Reichtums verunglimpfen und beneiden, sagen, dass es vielleicht in ganz Europa kein größeres Elend gibt, als es unter den Juden des Ostens herrscht. Selbst das tiefste Lumpenproletariat Süditaliens und Spaniens dürfte ihnen, zumal, wenn man das günstigere Klima in Rechnung stellt, in Lebenshaltung und Einkommen nicht nachstehen. Wenigstens habe ich mich mit eigenen Augen überzeugt, dass die berüchtigsten Zufluchtsstätten des Lasters und des Elends in Süditalien, insbesondere auch in Neapel, den, der eine galizische oder bukowiner Judenstadt gesehen hat, nicht zu schrecken vermögen. All diese jüdischen Halb- und Viertelexistenzen, alle diese Mäkler, Faktoren, Schanker, Greisler, Handwerker, Taglöhner verdienen kaum soviel als ein halbwegs geschickter Lumpenproletarier durch gelegentliche Arbeit, Bettel oder Laster im Westen verdient; und diese Zustände reichen hoch ins Intelligenzproletariat hinauf. Brauchen wir eines weiteren Beweises, dass die Judenschaft des Ostens als solche Gegenstand sozialpolitischer Fürsorge sein sollte? Sie haben, als ich vor Ihnen von der sozialen Schichtung der Bukowina zu sprechen begonnen habe, vielleicht mit Erstaunen bemerkt, dass ich die Juden in der Bukowina als eignen Stand betrachte. Die Juden als Stand zu betrachten, das würde mir selbstverständlich nirgends anderswo einfallen, aber in der Bukowina muss ich es wohl oder übel. Ein Teil der Juden sind hierzulande auch Advokaten. Ärzte, Großindustrielle, Großgrundbesitzer, Großkaufleute und Kaufleute, es soll auch hier in der Bukowina jüdische Bauern geben, davon aber spreche ich selbstverständlich nicht. Aber ein großer Teil der Juden sind in der Bukowina ebenso wie in Galizien ziemlich ausgesprochen ein Stand. Ich bemerke ausdrücklich, dass ich keine unsinnige Rassenpolitik und auch keine konfessionelle Politik betreiben will. Ich spreche hier weder von Rasse noch von Konfession, ich spreche bloß von der gesellschaftlichen Schichtung der Bukowina und von der Stellung, die den Juden innerhalb dieser gesellschaftlichen Schichtung zukommt. Wie es dazu gekommen ist, dass die Juden in Galizien und in der Bukowina, überhaupt im Osten Europas, einen Stand bilden, das ist eine ungeheuer schwierige Frage. Ich habe mich damit eingehend beschäftigt, bin aber zu einer Lösung nicht gekommen und sie liegt tatsächlich nicht klar. Ich glaube, die Sache ist die, dass der Osten Europas im 13. oder 14. Jahrhunderte sich einmal auf einer Entwicklungsstufe befunden hatte, auf der sich die westlichen Länder Europas um viele 10 Ehrlich

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Jahrhunderte früher befanden. Einerseits war die Landwirtschaft noch die ausschließliche Nahrung der Bevölkerung, andererseits fehlte jeder Zusammenhang der einzelnen wirtschaftlichen Gruppen, jeder Zusammenhang der Gemeinden, jeder einzelnen wirtschaftenden Familie. Es fehlte vollständig jeder Handel und Verkehr. Es fehlten daher auch beinahe vollständig die Städte. Es ist mir zumal aus der Geschichte Polens bekannt und dürfte auch Ihnen bekannt sein, dass lange hindurch die Deutschen in Polen die Aufgabe hatten, dieses Bindeglied zwischen den einzelnen wirtschaftlichen Gruppen zu bilden, den Handel und den Verkehr zu organisieren und zu pflegen. Sie gründeten hier die Städte, wurden mit großen Privilegien ausgestattet, und gelangten zu einem beträchtlichen Reichtum. Sie wissen, dass bis in das 15. und 16. Jahrhundert die Städte in Polen beinahe ausschließlich deutsch waren. Der Deutsche war dort Kaufmann, Geschäftsvermittler, d. h. er hat aus dem Westen Waren bezogen, hat sie an die Bauern und Gutsbesitzer verkauft, hat auch von den Bauern und Gutsbesitzern gekauft und nach dem Westen geschickt. Im Laufe des 15. Jahrhunderts beginnt nun eine noch nicht genügend aufgeklärte Auswanderung der Deutschen aus Polen. Die Deutschen verlassen die polnischen Städte und kehren nach Deutschland zurück - aus welchem Grunde weiß man nicht - und an ihre Stelle rücken nun die Juden und übernehmen die Aufgabe, die bisher den Deutschen zugefallen ist, nämlich diesen wirtschaftlichen Zusammenhang der einzelnen wirtschaftlichen Gruppen, den Handel und Verkehr, zu vermitteln. Das war damals eine wirtschaftlich vollständig gerechtfertigte Aufgabe. Man brauchte die Leute, gab ihnen ähnliche Privilegien, wie sie die Deutschen zuvor gehabt haben, behandelte sie verhältnismäßig gut, und sie wissen, dass damit die heutige wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der Juden in Polen zusammenhängt. In unserer Bukowina hat sich, ebenso wie in Galizien, Südrussland und zum Teile auch in Rumänien, diese Stellung der Juden noch bis heute erhalten, sie haben heute noch diese Stellung, die sie während des Bestandes des alten Polen erobert haben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass alles, was eigentlich die wirtschaftliche Voraussetzung dieser Stellung gewesen ist, sich seither vollständig geändert hat. Diese wirtschaftliche Voraussetzung ist, dass die Menschen mehr oder weniger isoliert wirtschaften und dass sie einen Vermittler brauchen, dem sie tatsächlich für diese Vermittlerarbeit Dank wissen. Das war früher in hohem Maße der Fall, aber heute hört das selbst bei uns langsam auf. In jedem Augenblick hebt sich die Intelligenz und wirtschaftliche Kraft der Bevölkerung und das bedeutet, dass sie mit jedem Augenblick dieses Vermittlers weniger bedarf. Ich zweifle gar nicht, - es ist dies meine aufrichtige Überzeugung - dass, wenn die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes in normaler Weise vor sich geht, wie wir es alle wünschen und wünschen müssen, in absehbarer Zeit diese wirtschaftliche Vermittlung, die von den Juden besorgt wird, sehr entbehrlich werden wird, und das bedeutet, dass das Judentum in der Bukowina wie im ganzen europäischen Osten vor einer Katastrophe steht. Es ist mir ganz zweifellos, dass sich jeder rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritt in der Bukowina seit mindestens 20 Jahren und von nun an ununterbrochen auf Kosten der Juden vollziehen wird. Sie können

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ihre althergebrachte Stellung nicht behaupten. Welchen Fortschritt man immer hierzulande einleitet, so geschieht er auf Kosten der Juden. Nehmen Sie beispielsweise die Wucherfrage. Der Wucherer ist in erster Linie ein Mann, der die Vermittlung des Kapitals besorgt und, historisch genommen, hat der Wucherer eine wichtige gesellschaftliche Arbeit vollzogen. Bei jedem Volke, sobald die Voraussetzungen dafür gegeben sind, ist daher immer der Wucherer auf dem Plane erschienen; und der Wucherer war nicht immer ein Jude. Nun kommt eine Zeit, wo der Wucherer nicht nur entbehrlich, sondern auch schädlich wird. Sobald der Bauer etwas gebildeter, gescheiter und menschenwürdiger gestellt sein wird, werden alle diese Wucherer, die heute in der Bukowina noch einigen Ellenbogenraum haben, verschwinden müssen, mit oder ohne Gewalt. Und diese notwendige Befreiung des Bauers vom Wucher wird sich, wie wir alle wissen, vor allem auf Kosten der Juden vollziehen. Und wie wird es mit der Befreiung des Bauern von der Alkoholpest sein? Auch die wird kommen, sobald der Bauer nur etwas gebildeter, gescheiter, menschenwürdiger gestellt sein wird. Und wer wird in der Bukowina durch den Antialkoholismus in erster Linie getroffen werden ? Wieder die Juden. Und glauben Sie, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Bukowina und die Bildung ein wenig fortgeschritten sein werden, dass man für die tausenden und abertausenden Geschäftsvermittler, Mäkler, Faktoren, Sensale Verwendung haben wird, die hier jetzt das Leben fristen? Sie verdanken ihren ganzen Erwerb heute noch nur der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit des Landes und der schrecklichen Unbeholfenheit der Bevölkerung, vor allem des lese- und schreibunkundigen Bauern. In einem Lande, das auf einer gewissen Höhe steht, schon im Westen Österreichs, gibt es solche Leute gar nicht, weil ein Mensch von einer gewissen Bildung eines Faktors oder Mäklers in der Regel nicht bedarf. Meine Damen und Herren! Ich spreche nicht etwa vom antisemitischen oder philosemitischen Standpunkte. Anti- und Philosemitismus sind mir vollständig gleichgültig. Ich will Ihnen nur die Wahrheit sagen, damit Sie wissen, dass die Juden vor einer Katastrophe stehen, die spätestens in zehn oder zwanzig Jahren zu erwarten ist. Von den 100000 Juden der Bukowina haben vielleicht 10000 Stellungen und Berufe, die ihre wirtschaftliche Grundlage und Berechtigung haben. 90 000 haben ihre Stellung der Zurückgebliebenheit des Landes zu verdanken. Wie sich nun das Land hebt, wird die wirtschaftliche Mündigkeit dieser ihrer Stellungen aufhören und sie müssen nach etwas anderem suchen. Im Zusammenhang damit steht die Flucht der Juden in die gelehrten Berufe. Sie werden staunen: An unserer Universität sind 50 % jüdische Studierende, obwohl sie in der gesamten Bevölkerung höchstens 10 % ausmachen. Warum ist das? Deswegen, weil die Juden es fühlen, dass es in den Berufen, die sie bisher gehabt haben, einfach nicht weitergeht. Und das ist ganz richtig. Ich möchte nicht, dass aus dem, was ich soeben gesagt habe, irgendwelche Folgerungen im Sinne des Antisemitismus gezogen werden. Zunächst muss ich nachdrücklichst hervorheben, dass die Wucherer, Schanker und Geschäftsvermittler im ganzen europäischen Osten zwar einen bedenklich großen, aber nirgends einen überwiegenden Teil der jüdischen Bevölkerung ausmachen. Die große Masse sind 10*

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II. Zur Sozialpolitik

Kaufleute, Handwerker. Arbeiter, Taglöhner und Angestellte, die zwar sehr unter der Ungunst der Verhältnisse leiden, sozusagen von der Hand in den Mund leben, aber zu Betrachtungen vom antisemitischen Standpunkte aus keinen Anlaß geben. Aber ganz abgesehen davon hat die besondere wirtschaftliche Stellung der Juden im Osten mit ihrer Rasse oder Abkunft nicht das Geringste zu tun, sie ergibt sich, wie ich dargelegt habe, aus der wirtschaftlichen Entwicklung, aus der rechtlichen Lage, in der sie sich in den vergangenen Jahrhunderten befunden haben, aus den Zurücksetzungen, die sie erlitten haben, und sogar den Privilegien, die ihnen zugestanden worden sind. Die Folgen davon dauern überall in Europa bis auf den heutigen Tag, am stärksten sind sie jedoch hier im Osten fühlbar. Und was den Wucher und Branntweinverschleiß betrifft, so sind sie nichts als besondere Formen der Kriminalität. Ich habe aber in den vielen Jahrzehnten, seit ich die Juden im Westen Österreichs und auch hier im Osten zu beobachten Gelegenheit hatte, bei ihnen keine besonderen Anlagen zur Kriminalität in irgendeiner Richtung zu bemerken Gelegenheit gehabt. Ich stimme ganz damit überein, was jüngst von Liszt in einer Abhandlung über die Kriminalität der Juden gesagt hat, dass sie nichts anderes sei, als ein Ausfluss der besonderen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Lage der Juden, und sich mit dieser wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Lage ändert. Irgendein Einfluss der Rasse oder Abkunft lässt sich nicht nachweisen. Ich habe keine Erfahrung mit Schnapsschänkersöhnen, aber ich kenne mehrere Wucherersöhne als nützliche, tüchtige und angesehene Mitglieder der menschlichen Gesellschaft: wo ist hier der Einfluss der Rasse und Abkunft? Einen ganz überzeugenden Beweis dagegen bietet gerade der europäische Osten, denn die Kriminalität der gerade hier so zahlreichen jüdischen Handwerker, Arbeiter und Taglöhner zeigt nicht den geringsten Zusammenhang mit den allgemeinen Zügen der jüdischen Kriminalität und unterscheidet sich von der Kriminalität ihrer christlichen Schicksalsgenossen am ehesten zu ihrem Vorteile. Und im Allgemeinen darf ich wohl sagen, dass sich unter den wenigen unbedingt zuverlässigen und anständigen Menschen, die mir auf meinem Lebenswege begegnet sind, unverhältnismäßig viele Juden befanden, zum Teil gerade aus den östlichen Gegenden. Und nun stehen wir vor der wichtigsten Frage: Was fangen wir mit den 90 % Juden an, denen heute eine Katastrophe droht? Das ist mir vollständig klar, dass sie nicht alle Advokaten, Ärzte, Beamte und Professoren werden können. Die Flucht in die gelehrten Berufe wird daher auch aufhören müssen, je früher, desto besser; denn auch hier ist eine Katastrophe im Anzüge. Nun, ich würde ebenfalls über mein Programm hinausgehen, wenn ich sagen wollte, wie ich mir die Rettung der Juden aus ihrer heutigen Stellung denke. Aber ich werde hier versuchen, wenigstens das, was bisher von Anderen gesagt worden ist, kurz zu besprechen. Einer der wichtigsten Versuche, diese Frage zu lösen, von den Juden selbst ausgehend, ist der Zionismus im Zusammenhange mit den Kolonisationsbestrebungen in Palästina, in Argentinien oder meinetwegen in Uganda. Der Zionismus kommt vor allem in Betracht als besondere Richtung in der jüdisch-nationalen Bewegung. Davon will ich hier absehen. Man kann es von mir

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nicht verlangen, dass ich der jüdisch-nationalen Bewegung viel Sympathie entgegenbringe, da ich doch soeben dargetan habe, dass dieser Riemen aus der Haut der deutschen Machtstellung in Österreich geschnitten wird. Der Zionismus hat aber auch Bedeutung als eine kolonisatorische Bewegung und ich kann sagen, dass ich dem Zionismus als einer rein kolonisatorischen Bewegung, wobei ich von seiner nationalen Bedeutung vollständig absehe, sympathisch gegenüberstehe. Ich halte ihn für einen vollständig berechtigten Versuch. Es ist nur zweifellos, dass eine derartige Kolonisationsbestrebung mit großen Schwierigkeiten und Hindernissen zu kämpfen hat, und dass sie selbstverständlich doch schließlich nur einen Teil der jüdischen Bevölkerung und nicht ihre Gesamtheit ergreift. Und endlich müssen wir uns sagen, dass jede Kolonisation dem Volke, von dem sie ausgeht, gerade die tüchtigsten, energischsten und wertvollsten Kräfte entzieht, Wenn der Zionismus tatsächlich einen Teil seines Programms ausführt, so werden die Juden zunächst weggehen, die unser Land am meisten braucht, und die werden uns bleiben, die wir nicht ungern ziehen lassen möchten. Und deswegen glaube ich, der Zionismus löst die Judenfrage vielleicht für einen Teil der Juden, nicht aber für die Länder, wo es eine Judenfrage gibt. Eine Lösung des Problems, die meinen Vorstellungen am besten entspräche, wäre es, wenn wir in der Bukowina imstande wären, nicht etwa bloß den Bauern zu heben, sondern auch eine Großindustrie zu schaffen. Das ist allerdings ungeheuer schwierig, denn eine Großindustrie lässt sich nicht plötzlich aus dem Boden stampfen. Aber das Land hat natürliche Schätze in Hülle und Fülle, die es schlecht oder gar nicht verwertet. Ich erinnere an den ungeheueren Waldreichtum der Bukowina, der dazu verwendet wird, fremde Papier- oder Zellulosefabriken zu füttern, anstatt im Lande verwertet zu werden. Ich erinnere an den großartigen Obstreichtum der Bukowina. Könnte er nicht für eine große Konfekt-, Kompott-und Marmeladeindustrie verwertet werden? In England, Frankreich, der Türkei und Südtirol leben ja ganze Landstriche von der Konfekt-, Kompott- und Marmeladeindustrie. Und wir? Wir führen unser Obst in rohem, wirtschaftlich möglichst unergiebigem Zustande nach dem Auslande aus. Und dabei verstehen unsere Damen aus Weichsein, Pfirsichen, Kirschen, Marillen, Erdbeeren, Stachelbeeren, Himbeeren, grünen Zwetschgen usw. ein Konfekt, Dultschetz genannt, zu machen, das nach meinen Erfahrungen zu den besten der Welt gehört, viel besser als alles, was England, Frankreich, Südtirol und die Türkei erzeugen und womit sie Millionen verdienen. Es ist zweifellos, dass unser Boden Mineralschätze birgt, die von ungeheurem Werte wären; haben wir auch keine Kohlen, so könnten wir doch Industrien begründen, die entweder keine Kohlen brauchten oder mit Naphthaabfällen betrieben werden könnten. Was ist denn mit der Konfektionsindustrie? Überall, wo die Juden hinkommen, betätigen sie sich in der Konfektionsindustrie, nur hier, in ihrem Stammlande nicht. Anstatt an das alles zu denken, an eine Holz- oder Konfektionsindustrie, an einen großartigen Bergbau, gehen unsere Juden ins Gymnasium, studieren dann Jus oder Philosophie und raufen sich um Konzipienten- und Supplentenstellen herum, die Juden, deren praktischer Sinn sonst bewundert wird. Wenn es aber gelänge, eine Industrie zu begründen, so fände sie in den Juden ein außer-

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ordentlich intelligentes, arbeitsames, nüchternes Arbeitermaterial, und deswegen glaube ich, dass eine der wichtigsten Aufgaben der Sozialpolitik in der Bukowina die Begründung einer Industrie ist, die eben in erster Linie bei den Juden ihr Arbeitermaterial finden könnte. Ich höre da wieder leise Zweifel und jetzt auch einige laute Zweifel, ob die Juden zur Arbeit in der Industrie fähig sind. Aber ich habe dafür Beweise in Händen. Zunächst ist es ja allgemein bekannt, dass viele Zweige des Handwerks ähnlich wie in Galizien, Südrussland, Rumänien und der Bukowina fast ausschließlich oder mindestens vorwiegend in jüdischen Händen sind. Bei der Schneiderei, Tischlerei, Klempnerei, Glaserei, Gelbgießerei und manchen anderen sind sowohl Meister als auch Gesellen Juden. Vom Handwerker zum Fabrikarbeiter ist nur ein Schritt: wer zum Handwerker taugt, taugt in der Regel auch zum Fabrikarbeiter. Aber auch andere Beobachtungen sprechen dafür. Der Bukowiner Jude ist ja in allen wesentlichen Richtungen dem russischen und polnischen Juden gleichgeartet. Und dieser Jude, dem man nach den hiesigen Erfahrungen höchstens einige Eignung zum kleinen Handwerker zuerkennen würde, ist nach England und Amerika ausgewandert und wurde dort in vielen Industriezweigen der gesuchteste und geschätzteste Arbeiter, ja, in gewissen Geschäftszweigen beherrscht er geradezu den Arbeitsmarkt. Sehen Sie sich einmal Whitechapel an, die bekannte Londoner Vorstadt. Noch vor 20 Jahren war sie die Zufluchtsstätte des allerärmsten Londoner Arbeiterproletariates, zum Teil sogar des verworfensten Gauner- und Verbrechergesindels; heute ist sie ein blühendes Industrieviertel. Und wer hat sie dazu gemacht? Die verachteten, verschrienen russischen und polnischen Juden. Die Engländer, die nach vielen Richtungen viel billiger denken, als man es auf dem Festlande zu finden gewohnt ist, erkennen es rückhaltlos an, dass viele Industrien, zumal in Whitechapel, aber auch in andern Gegenden Englands durch die polnischen und russischen Juden ermöglicht, zum Teile sogar begründet worden sind, sie erkennen auch rückhaltlos an, dass das Land ihnen ein Stück seines Wohlstandes verdankt. Kommt man nach Whitechapel, so glaubt man sich geradezu nach Herzls Judenstaat versetzt. Jüdische Aufschriften überall, jüdische Anschläge auf den Anschlagssäulen, jüdische Theater, jüdische Bibliotheken, Vortragshallen, jüdische Zeitungen, darunter, wie ich hörte, einige und zwanzig jüdische Sportzeitungen; alle Gemeindebeamten, alle Policemen sprechen Jargon, das sog. „Yiddisch"; andere werden in Whitechapel nicht angestellt. Und was sind alle diese Juden? In der großen Masse nicht Schänker, nicht Wucherer, nicht Geschäftsvermittler, nicht Kaufleute, obwohl es selbstverständlich auch daran nicht fehlt, sondern Fabrikarbeiter. Vor etwa 25 Jahren, als der Zufluss russischer Juden infolge der großen Judenverfolgungen noch sehr groß war, war das Elend unter ihnen schrecklich und sie arbeiteten für wahre Hungerlöhne. Das hat aber schon seit etwa 10 oder 15 Jahren allmählich aufgehört. Von Klagen englischer Arbeiter wegen Unterbietung des Arbeitsmarktes, die seinerzeit laut geworden sind, hört man jetzt nichts mehr. Sie sind nicht schlechter gestellt als andere englische Arbeiter. Ich zweifle daher nicht, dass auch aus unseren Juden tüchtige Industriearbeiter werden können. Warum sollten sie auch nicht? Sind sie nicht intelligent, geschickt, nüchtern, ebenso fleißig wie nur irgendein

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Arbeiter der Welt? Leisten sie nicht jetzt schon Hervorragendes in einigen Handwerken, die besondere Geschicklichkeit, Geschmack und Intelligenz erfordern: in der Gold- und. Edelsteinbearbeitung, Schneiderei, Buchbinderei, Uhrmacherei, Messinggießerei? Und so glaube ich, dass die Sozialpolitik auch hier eine andere Aufgabe hat als das öde Geschimpfe und sonstiges „Bekämpfen". Nicht bekämpfen, sondern die Kräfte erziehen und verwerten, das ist ihre Aufgabe. Und glauben Sie nicht, dass eine blühende Industrie nur den Juden Vorteile bringen wird. Auch die Rumänen und Ruthenen werden Anteil haben an dem Reichtum, den die Industrie ins Land bringen wird. Auch dem Bauer wird es besser gehen, wenn er seine jüngeren Söhne, für die er in seiner kleinen Wirtschaft keine Verwendung hätte, in der Fabrik als Arbeiter und Angestellte wird anbringen können, wenn wir all das intelligente Proletariat, das wir in unseren Mittelschulen und leider auch an der Universität so massenhaft zeugen, in den Fabriken als Direktoren, Ingenieure, Buchhalter oder Disponenten werden anbringen können. Es ist eine traurige Lehre, die noch auf die Zeiten zurückgeht, da der Mensch ein Raubtier war, dass es einem nur gut gehen könne, wenn es einem andern schlecht geht, dass jeder Reichtum nur durch Raub oder Diebstahl, Wucher oder Betrug begründet werde. Wirtschaftlich ist der Reichtum des Einzelnen ein Teil des Volksreichtums, und lohnende Arbeit für den Einzelnen bedeutet Wohlstand für Alle.

2. Karl Marx und die soziale Frage* Redaktionelle Anmerkung von Dimitrie Gusti Eugen Ehrlich, der uns zu früh für immer verlassen hat (zu früh, nicht nur wegen seines Alters, sondern vor allem wegen seiner geistigen Lebhaftigkeit und seines Wunsches zu arbeiten), war Professor an der Universität von Czernowitz. Die bloße Aufzählung nur einiger seiner Werke zeigt die Breite seines Forschungsbereichs, das Interesse, das seine Publikationen in der ganzen Welt geweckt haben, die Originalität und Tiefe seiner Anschauungen. Er wurde Ehrendoktor der Universität Groningen. Er war einer jener Wissenschaftler (und zwar ein in der Bukowina geborener), die ihrer Hochschule europäisches Ansehen verliehen, einer Universität, die zu anderen Zwecken, nämlich weit vom deutschen Herd und betont in dessen Namen gleichsam als kulturelle Grenzmark begründet wurde gegen den Ansturm der slawischen und rumänischen Wellen.

Unter anderem hat er geschrieben: Grundlegung der Soziologie des Rechts; Die juristische Logik; Die stillschweigende Willenserklärung; Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen; F Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft; Die Rechtsfähigkeit. Während der letzten Jahre, in Bukarest angelangt, plante er die Gründung einer Akademie für Sozial Wissenschaften1 und hat einige Vorträge am Süd-Osteuropäischen Institut gehalten, die dann im „Neamul Romänesc" veröffentlicht wurden, und zwar über „lebendes Recht2. Am besten aber geht die Vielfalt seiner Beschäftigungen aus dem „Arhiva pentru §tiin{a §i Reforma socialä" hervor, in dem seine letzten Veröffentlichungen erschienen sind. Wir denken an Sfär§itul unei mari impäräfii (Das Ende eines großen Reiches), fast so umfangreich wie ein Buch, das viele neue Ansichten vertritt und sicherlich verdient, in mehreren europäischen Sprachen zu erscheinen (Jg. in Nr. 1), ein schönes und würdiges Bekenntnis des Verfassers zu seiner neuen Heimat. Wir denken zweitens an Memoriomania generalibor (Die Memoirenmanie der Generäle), Zeugnis seines aufgeklärten und kämpferischen Pazifismus (Jg. m Nr. 2/3). Der nachfolgende, letzte posthume Beitrag in derselben klaren Dialektik macht uns mit seiner Beschäftigung mit Fragen der Ökonomie bekannt, und wir veröffentlichen ihn, um das Bild einer großen wissenschaftlichen Persönlichkeit zu vervollständigen: * Karl Marx §i chestia socialä, in: Arhiva pentru §tiinja §i Reforma socialä IV (1922), S. 651 -658. Übersetzung von Univ.-Doz. Dr. Rudolf Gräfvon der Universität Cluj (Klausenburg) und lic. iur. Emil Salagean (Zürich). Die folgenden Fußnoten sind Anmerkungen des Herausgebers (M. Rehbinder). 1 Ehrlich erstrebte als Gegenstück zur Massenuniversität eine Hochschule für Führungskräfte, siehe Eugen Ehrlich: Eine Hochschule für Gesellschaftswissenschaften (1916), in ders., Gesetz und lebendes Recht, hg. von M. Rehbinder, Berlin 1986, S. 8, 211-227. 2 Siehe: Despre „dreptul viu", in Fortsetzungen in Neamul Romänesc vom 29.-31. Dez. 1920 und 1.-6. Jan. 1921, Nachdruck in Rivista Romänä de Sociologie 1997, S. 599-607; unten S. 191-200; dazu Rehbinder, Aus den letzten Jahren im Leben und Schaffen von Eugen Ehrlich, FS Ernst Joachim Lampe, Berlin 2003, S. 199, 207 f.

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Wir finden hier in seiner vollen Vielfalt den Soziologen, den Rechtsgelehrten und den Philosophen, den alle wichtigen Fragen der Zeit beschäftigen. Durch seinen Beitrag hat er sich der rumänischen Kultur eingegliedert, die ihn wenigstens gelegentlich erwähnen sollte, so wie auch sein Tun und Wirken unter uns war. Es war nicht seine Schuld, dass er nicht länger einer von uns sein konnte. Das rumänische Volk hat ihn durch die Bukowiner Rumänen seit vielen Jahren interessiert3. Seit damals sprach er gebrochen Rumänisch und seine Teppichsammlung war einer der Kunstschätze von Czernowitz. Er ist für immer verschwunden, der lebhafte und diskursive Mann, mit seiner spiegelnden Glatze, mit dem rasierten Gesicht, der starken Nase und den Brillen mit großen, gewölbten Gläsern, die ununterbrochen auf den Gesprächspartner gerichtet waren. Er stöbert nicht mehr in den Regalen der Bibliothek herum, alles durcheinanderbringend. Er läuft nicht mehr von Raum zu Raum, um Dich plötzlich mit einem Problem zu behelligen, als man schon glaubte, er sei verbittert mit sich selbst beschäftigt. Eines Tages wurde er zu einem Treffen erwartet in einer Frage, die ihn unmittelbar betraf. Übrigens war er von einer kantischen Pünktlichkeit. Aber an jenem Tag war er stark verspätet. Als er endlich erschien, war seine Kleidung zerfetzt und er hielt sich kaum auf den Beinen. Die Deichsel einer Kutsche hatte ihn getroffen und niedergeschlagen. Nur wenig hätte gefehlt, und seine alten Knochen wären von den Rädern zerquetscht worden. Er hat das Geschehnis atemlos erzählt. Kaum sei er aus einer Apotheke herausgekommen; denn man habe ihm nahegelegt, sich auszuruhen und auf sein Treffen zu verzichten. Er dachte gar nicht daran! Und auf einmal, während der Beschreibung dieses Vorfalls auf einer Straße von Bukarest, dreht er sich um, richtet seine verbogene Brille und sagt unvermittelt: „Werter Kollege, schon immer habe ich gedacht, dass zwischen der „Substanz" von Spinoza und dem „Ding an sich" von Kant eine enge Verbindung besteht". Und es folgte eine unendliche und subtile Diskussion über den Kern der Lehre der beiden Philosophen. So war der Mensch und so der Denker Ehrlich. *

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Karl Marx war ein großer Wissenschaftler und ein leidenschaftlicher revolutionärer Politiker. Diese beiden Eigenschaften passen schwer zusammen. Wenn die Resultate der wissenschaftlichen Forschung nicht mit der leidenschaftlichen politischen Anschauung übereinstimmen, hat entweder die Wissenschaft oder die Politik das Nachsehen, und bei Marx hat nicht immer die Politik diesen Kampf verloren. Wahrscheinlich hat sich sein wissenschaftliches Denken unbewusst verbiegen müssen, wenn dieses zu unerwünschten politischen Schlussfolgerungen führte. Auch die Zusammenstellung seines Hauptwerkes Das Kapital hat politische Färbung. Dieses besteht aus drei Bänden, der dritte Band seinerseits aus zwei genügend konsistenten kleineren Bänden, so dass man eigentlich von vier Bänden sprechen kann. Dazu kommen noch die vier kleineren Bände über die Theorie des 3 Hier wird auf Ehrlichs Bemühen um die Erforschung des lebenden Rechts in der Bukowina angespielt (dazu Rehbinder, Eugen Ehrlichs Seminar für lebendes Recht: Eine Einrichtung für die Weiterbildung von Rechtspraktikern, in recht 2005, S. 135-138). Daraus entstand die Arbeit von Nico Cotlarciuc (dem späteren Metropoliten von Czernowitz): Beiträge zum lebenden Ehe- und Familienrecht der Rumänen, insbesondere jener im Süden der Bukowina, Wien 1913.

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Mehrwerts, die den fehlenden vierten Band ersetzen. Zu Lebzeiten von Marx ist nur der erste Band erschienen. Die anderen beiden wurden nach seinem Tode von seinem Freunde Friedrich Engels veröffentlicht. Die vier kleineren Bände über die Theorie des Mehrwertes, die ein jeder lesen müsste, der das Werk von Karl Marx verstehen will, wurden von einem Schüler und Freund von Karl Marx, Karl Kautsky, veröffentlicht, anhand eines sehr fehlerhaften Manuskriptes, das noch vor dem Kapital verfasst wurde. Über zwanzig Jahre waren die Lehren von Marx also nur aus seinem ersten Band bekannt, und dies hat einen so tiefen Eindruck gemacht, dass auch heute noch die meisten, die etwas über Marx wissen, nicht mehr kennen als das, was sich in diesem ersten Band befindet. Aber eben diesen ersten Band hat Marx eher aus der Position eines Agitators geschrieben. In diesem Band hat er alles zusammengefasst, was für die revolutionäre politische Bewegung Bedeutung gehabt hat, während er die rein wissenschaftlichen Beiträge, die die Lehren des ersten Bandes so sehr einschränken, dass sie diesem irgendwie ein ganz anderes Aussehen verleihen, in den zweiten und dritten Band gesetzt hat, die zwanzig Jahre lang nicht veröffentlicht wurden und die auch heute wenig gelesen werden, denn sie sind schwer verständlich und trocken geschrieben und bieten nahezu nichts an revolutionärer Propaganda. Diese Aufteilung des Werkes von Marx ist für die Menschheit fast zu einem Fluch geworden. Die Grundlage des Werkes von Marx sind die Dogmen der klassischen englischen Wirtschaftswissenschaftler. Diese beschäftigen sich eigentlich nur mit einer einzigen Frage: wie werden in der Gesellschaft die Erzeugnisse der menschlichen Wirtschaft unter dem Einfluss des Warenverkehrs verteilt? Darum befindet sich im Kern ihrer Überlegungen der Tauschwert der Produkte, während der Nutzwert komplett beiseite gelassen wird, weil er für den Warenverkehr keine Bedeutung hat. Der größte der englischen Klassiker, Ricardo, widmet als erster dem Tauschwert ein gründliches und das ausgedehnteste Kapitel seines Werkes und geht von diesem in allem aus, was er in den anderen Kapiteln zu sagen hat. Ebenso machen es die anderen Klassiker, von Adam Smith bis zu John Stuart Mill, der zu Recht als der letzte Klassiker betrachtet wird. Marx versucht, von den englischen Klassikern ausgehend, die soziale Frage zu behandeln, mit der diese sich wenig beschäftigt haben. Folglich befindet sich bei ihm, wie auch bei den Klassikern, der Tauschwert im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Thema wird schon auf der ersten Seite seines Werkes behandelt. Marx bezieht sich auf den Ausdruck „Wert" von Ricardo. Nach diesem stammt jeder Wert von der Arbeit. Alle Güter, die uns umgeben, kosten nichts anderes als Arbeit. Er wird nicht müde, uns dies zu sagen und immer wieder zu sagen. Folglich besteht der Wert einer Ware in der Zeit, die der Arbeiter benötigt, um diese zu erzeugen. Mit Sicherheit ist diese Rechnung nicht gerade einfach. In einem Stück Tuch befindet sich auch die gesamte Arbeit, die notwendig war, um die Wolle zu liefern, zusammen mit der Arbeit des Schafhirten, der irgendwo in Australien die Schafe gehütet hat, ferner die Arbeit, die von den Maschinen, den Gebäuden sowie von den Hilfsmaterialien benötigt wird, die zur Erzeugung des Tuchs benutzt

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werden. Wenn eine Spinnmaschine, bis sie außer Betrieb gesetzt wird, den Faden für 100000 Stück Tuch spinnt und eine Webmaschine 10000 Stück Tuch webt, dann enthält ein jedes Stück Tuch 1/100 000 der Arbeit der Spinnmaschine und 1 /10000 der Arbeit der Webmaschine. Auf dieselbe Weise müsste man auch die Arbeit berechnen, die in den Fabrikgebäuden geleistet wird, eingeschlossen die Beleuchtung, Heizung, den Wachdienst der Fabrik und die anderen Einrichtungen. Unsere heutige kapitalistische Gesellschaft kennzeichnet sich jedoch dadurch, dass die Arbeit vom Kapital getrennt ist. Die Kapitalisten und die Arbeiter bilden zwei Menschengruppen, die sich fremd gegenüberstehen. Unter Kapital versteht aber Marx nicht das Geld, sondern, wie auch die englischen Klassiker, vor allem die Produktionsmittel: Maschinen, Werkzeuge, Rohstoffe, Gebäude, mit denen oder in denen Waren erzeugt werden. Dies ist das konstante Kapital. Dazu kommt noch das variable Kapital, die Geldsummen, mit denen die Löhne der Arbeiter bezahlt werden. Weil der Kapitalbesitzer nicht mehr selbst auch Arbeiter ist, muss er, um sein Kapital zu verwerten, die Arbeit auf dem Markt kaufen. Dadurch wird die Arbeit zur Ware und der Kapitalist bezahlt für die Ware Arbeit, genauso wie für jede andere Ware, nicht den Nutzwert, sondern den Tauschwert; folglich nicht, wieviel die gekaufte Arbeit erzeugt, sondern nur das Entgelt für die Zeit, die notwendig ist für die Erzeugung der Ware Arbeit. Dies sind die Ausgaben für die Reproduktion der Arbeit, die notwendig sind für den Lebensunterhalt des Arbeiters. Nehmen wir an, der Arbeiter könnte in acht Stunden täglicher Arbeit alles verdienen, was er für sein Leben braucht. Wenn der Kapitalist den Arbeiter nur diese acht Stunden arbeiten lassen würde, ist es offensichtlich, dass er keinen Gewinn erzielen würde. Darum lässt er ihn mehr arbeiten: zehn, zwölf Stunden. Als Lohn für diese Arbeit gibt er ihm nie mehr als deren Wert, also deren Tauschwert, folglich nie mehr als soviel, womit die Ware Arbeit erzeugt und wieder erzeugt wird, den notwendigen Lebensunterhalt des Arbeiters. Was der Arbeiter darüber hinaus erzeugt, fällt also dem Kapitalisten zu. Dies ist der Mehrwert, der Anteil des Kapitalismus. Aber in der kapitalistischen Gesellschaft steigt das Einkommen der Arbeit ständig. Erstens, weil der Arbeiter immer disziplinierter ist. Dann, weil die Maschinen immer mehr verbessert werden und mehr erzeugen, und endlich, weil die Arbeitsmethode immer besser wird. Auf diese Art wächst aber nur der Mehrwert, der Anteil des Kapitalisten. Der Arbeiter kann nie mehr verdienen als das, was er für seinen Lebensunterhalt notwendig braucht. So dass, während der größte Teil der Bevölkerung in derselben Not lebt, die Kapitalisten ununterbrochen reicher werden. Dazu kommt noch die Tatsache, dass die Kapitalisten ununterbrochen unter sich Krieg führen. Durch Konkurrenz führen die Großen die Kleinen in den Abgrund. Während in den sich stets wiederholenden Krisen die kleinen Kapitalisten zu Grunde gehen, überleben nur die Übermächtigen. Aber nicht nur, dass die Kapitalisten immer reicher werden, auch ihre Zahl wird immer kleiner. Letztlich wird eine kleine Anzahl von extrem reichen Menschen dem Rest der Welt gegenüber stehen. Und dieser wird außerstande sein, seine Existenz zu verdienen. Dann wird der Augenblick gekommen sein, in dem das Volk, seine Masse in die Waage

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werfend, die politische Macht im Staate an sich reißen wird, die Enteignenden enteignen, die Produktionsmittel des Arbeiters sozialisieren und den Mehrwert abschaffen. Auf diese Art wird die soziale Frage verschwinden und das tausendjährige Reich wird auf die Erde kommen. Dies ist, wie man sieht, der erste Band des Kapitals, besonders laut aus agitatorischer Sicht, von dem jetzt auch der Bolschewismus ausgegangen ist. Der aufmerksame Leser wird sich aber die Frage stellen: was werden die Kapitalisten mit ihren immer größeren Vermögen machen, die sie letztlich nicht allein aufessen, vergraben oder ins Meer werfen können? Über diese Frage, deren Antwort viel von der Aussagekraft des ersten Bandes genommen hätte, schreibt Marx erst im zweiten und dritten Band. In diesen sieht man, wie der Kapitalist erstens aus dem Mehrwert seinen und seiner Familie Unterhalt bezahlen und zweitens die Kosten für die Weiterführung der Produktion sichern muss: um die Maschinen und Werkzeuge zu verbessern, die Gebäude in gutem Stand zu halten, die Rohstoffvorräte zu sichern. Mit dem, was ihm übrigbleibt, befriedigt er sein Bedürfnis nach Luxus oder erweitert seine Produktionsmittel. Letzteres bedeutet, dass er entweder seinen Betrieb vergrößert (Vergrößerung der Gebäude, Ausstattung mit neuen Maschinen, Anstellen von mehr Arbeitern) oder dass er sich an einem fremden Unternehmen beteiligt, indem er Aktien kauft oder Anleihen gibt. Oder er legt sein Geld auf die Bank und diese kreditiert andere Unternehmen. Daraus folgt die Tatsache, die auch von den Wirtschaftsstatistiken bestätigt wird, dass bei normaler wirtschaftspolitischer Entwicklung die Unternehmen ununterbrochen wachsen. Es hat keine Bedeutung, dass nach Marx nur das Volumen der Betriebe wächst, während die Anzahl der Kapitalisten schrittweise sinkt, was übrigens nicht der Statistik entspricht. Entscheidend ist, dass unter diesen Umständen, in normalen Zeiten, die Anzahl der erzeugten Waren immer größer werden muss, was auch aus den Statistiken hervorgeht. Aber dieses Wachsen des Anteils der Waren muss jemandem nützen. Wer ist das? Denn nach Marx kann der Arbeiter nie mehr bekommen als das für den Lebensunterhalt Notwendige. Das würde bedeuten, dass alles, was der Arbeiter über das für seinen Lebensunterhalt Notwendige erzeugt, ausschließlich dem Kapitalisten zukommt. Zu diesem Schluss kommt Marx aber nicht. In seinem Hauptwerk bespricht er gar nicht dieses Thema, sondern berührt es nur einmal in der Theorie über den Mehrwert. Die tägliche Erfahrung lehrt aber, dass in dem Maße, in dem mehr Waren erzeugt werden, diese auch billiger und damit in demselben Maße auch den ärmeren Bevölkerungsschichten zugänglich werden. Wenn die Fabriken zehnmal mehr Schuhe als früher erzeugen, so ziehen zehnmal mehr Menschen als früher Schuhe an, und es ist unmöglich, dass diese sämtlich Kapitalisten sind. Folglich kommt die Steigerung der Güterproduktion auch den Ärmeren zugute. Dies passt allerdings schlecht zu dem marxistischen Prinzip, dass der ganze Mehrwert vom Kapitalisten geschluckt wird. Dieser Widerspruch bringt den Bruch zum Vorschein in einer Logik, die zwingend schien. Dabei zeigt sich, dass Marx die klassische englische politische Ökonomie nicht verändert übernommen hat, sondern unverändert und mit ihrer ganzen

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Einseitigkeit. Ebenso wie diese sieht er nur den Werttausch. Aus diesem Gesichtspunkt ist es gleichgültig für die politische Ökonomie, ob Brot oder Mixed Pickles, Kleider oder Tennisschläger, Ölgemälde oder Koffer erzeugt werden, so lange die Waren nur Tauschwert haben und es niemanden interessiert, welche Waren in der Wirtschaft die Tauschwerte vertreten. Auf diese Art vergisst man aber total, dass die Waren in der Wirtschaft eine bestimmte Rolle haben, und zwar je nach ihrem Nutzwert. Im zweiten Band des Kapitals, im zweiten also und nicht im ersten, wo dieses Thema hingehört, macht Marx den besonders wichtigen Unterschied zwischen den Arbeitern, die Luxuswaren, und jenen, die unbedingt notwendige Waren erzeugen, und zeigt, dass die ersteren von den anderen unterhalten sind. Er vermeidet es aber, daraus weitere Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn Marx jedoch seinen bahnbrechenden Gedanken weitergeführt hätte, wäre er zur Überzeugung gelangt, dass alle Erzeugnisse der Volkswirtschaft letztlich zu jenen kommen müssen, für die sie durch ihre Nutzart bestimmt sind: folglich die Massenprodukte zu den Massen und die Luxusprodukte zur herrschenden Klasse. Und hier ist Marx nicht mehr klassisch ökonomisch, sondern vulgär ökonomisch, weil sich für ihn das Einkommen in der Wirtschaft nur in Form des Geldes äußert. Der Kapitalist nimmt aus dem Betrieb eine gewisse Summe Geld. Davon, sagen wir V4, benützt er als Lohn für den Arbeiter und den Rest von V4 hält er als Mehrwert zurück. Folglich kann der Lohn nur zum Nachteil des Mehrwertes steigen. Aber auch die Klassiker wussten, dass die Summe der Löhne die Gesamtsumme der Menge Ware bildet, die den Arbeitern zur Verfügung steht, und auf diese Schlussfolgerung hat John Stuart Mill seine berühmte Theorie des Lohnes aufgebaut. Wenn auf den Markt zweimal soviel Brot kommt wie früher, kann sich der Arbeiter zweimal soviel Brot kaufen wie früher, ohne dass sein Lohn auch nur um einen Pfennig gestiegen wäre. Folglich bekommt er einen in Wirklichkeit größeren Lohn, obwohl sein nomineller, in Geld ausgedrückter Lohn derselbe geblieben ist. Hingegen hat das einfache Ansteigen des Geldlohnes, so lange die Warenmenge dieselbe oder kleiner geblieben ist, auf die Entlohnung des Arbeiters keinen Einfluss. Zu unserem Schmerz haben wir es alle seit dem Kriegsende erfahren: obwohl die Löhne um das Zehnfache gestiegen sind, leben wir schlechter als früher, weil die Menge der Waren in demselben Verhältnis gefallen ist und die Preise im selben Verhältnis mit den Löhnen gestiegen sind. Wie stehen dann die Dinge mit dem Mehrwert, dem Marx eine so große Bedeutung zugeschrieben hat? Und diesmal geht es nicht um Geldsummen, sondern um Warenmengen. Der marxistische Mehrwert besteht aus vier sehr unterschiedlichen Punkten: 1. Das dem Unternehmer selbst absolut Notwendige; 2. der dem Unternehmer notwendig erscheinende Luxus; 3. die Maschinen, Werkzeuge, Gebäude und Rohstoffe, die der Unternehmer braucht, um den Betrieb in seinem aktuellen Zustand zu sichern; 4. die Maschinen, Werkzeuge, Gebäude und Rohstoffe, die der Unternehmer braucht, um den Betrieb zu entwickeln. Einen Zusammenhang gibt es nur zwischen den Punkten 2 und 4! Denn je mehr der Unternehmer für seinen eigenen Luxus ausgibt, desto weniger bleibt ihm für

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die Entwicklung des eigenen Betriebes. Jedoch die Bedeutung der Maschinen, Werkzeuge, Gebäude und Rohstoffe für den Unternehmer, also die Punkte 3 und 4 des Mehrwertes, wird allein vom Nutzwert der damit erzeugten Waren bestimmt: wenn es Massenprodukte sind, so werden sie von den Massen benützt, und wenn es Luxusprodukte sind, so sind sie für die herrschende Klasse bestimmt. Wenn die von Marx verkündete große Revolution den Übergang der Produktionsmittel auf die Gemeinschaft zur Folge hätte, also die Sozialisierung, würde dies auf keinen Fall eine Vergrößerung des Mehrwertes bedeuten. Die Punkte zwei und vier des Mehrwertes bleiben unverändert, denn auch die Gemeinschaft wie auch der individuelle Unternehmer müsste sich darum kümmern, dass die Maschinen, Werkzeuge und Rohstoffe in gutem Zustand gehalten und erweitert werden, damit die Betriebe sich entwickeln. Nur der zweite Punkt, der sich auf die Befriedigung der Luxusbedürfnisse des Unternehmers bezieht, würde wegfallen. Wenn dieser jährlich für seinen persönlichen Luxus 100000 Münzeinheiten ausgeben würde, so könnte ein jeder seiner 1000 Arbeiter 100 Münzeinheiten mehr verdienen. Und dies nur, wenn man davon ausgehen könnte, dass der Betrieb ebenso produktiv bleiben würde wie früher. Das ist aber sehr zu bezweifeln. Aus Ursachen, auf die wir hier nicht eingehen können, wird behauptet, dass ein kollektivierter Betrieb stets schlechter verwaltet ist, als ein privates Unternehmen. Die furchtbaren Erfahrungen des Bolschewismus scheinen dies zu bestätigen. Daraus folgt, dass der Zustand der Massen nicht vom Produktionstypus abhängt (privat oder kollektiviert, in kapitalistischen oder in sozialisierten Betrieben), sondern von dem, was erzeugt wird: Produkte für die große Masse oder Luxusobjekte für die herrschende Klasse. Alles beschränkt sich auf eine einfache Wahrheit: wenn der Arbeiter sich besser ernähren soll, müssen die Lebensmitteln vermehrt werden; wenn er besser wohnen soll, müssen Häuser mit billigen Wohnungen gebaut werden; wenn er sich besser anziehen soll, müssen Kleider- und Wäschefabriken gebaut werden. Die Tatsache, dass die Kohlenbergwerke sozialisiert werden, bringt nicht einmal ein Kilogramm Kohle mehr in den Ofen des Arbeiters. All dies ist trivial einfach zu verstehen. Aber eben darum ist die Volkswirtschaftslehre so schwer, weil sie die Wissenschaft des Selbstverständlichen ist. Schon immer hatte ich die größte Mühe, das Selbstverständliche den Menschen verständlich zu machen. Es ist eine kindliche Frage, von wo die Arbeiter das Geld nehmen werden, mit dem sie mehr Lebensmittel, Wohnungen und Kleider bezahlen können. Die Ware, die auf den Markt kommt, muss verkauft werden, oder anders gesagt: die Preise müssen so festgesetzt werden, dass sie vom Käufer bezahlt werden können - und in unserem Fall sind es die Arbeiter. Es darf nicht vergessen werden, dass die Preise immer dem Einkommen der Kundschaft angepasst werden, der sie berechnet werden. Der Kampf, den Marx gegen den Mehrwert führt, kann insoweit verstanden werden, als sich der Mehrwert in Luxus für die herrschende Klasse umwandelt. Aber der Luxus ist keine charakteristische Eigenschaft des Kapitalismus. Die geschichtliche Erforschung der Lebensweise hat gezeigt, dass der Luxus auf der höchsten

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II. Zur Sozialpolitik

Stufe des Kapitalismus, dem Ende des 19. und Anfang des 20 Jh., einen viel kleineren Teil des Nationalvermögens aufgezehrt hat als im Frankreich, England oder Polen des 18. Jh., als fast der ganze landwirtschaftliche Überschuss des miserablen bäuerlichen Lebens vom Luxus des Hofes und des Adels geschluckt wurde. Eben in den Ländern, in denen der Kapitalismus in unseren Zeiten am fortgeschrittensten ist, in England und den Vereinigten Staaten, verschlingt der Luxus der letzten Jahrzehnte einen so unbedeutenden Teil des Nationalvermögens, dass, auch wenn er komplett beseitigt wäre, das Nationaleinkommen sich nur in unbedeutendem Maße verändern würde. Es ist eine andere Frage, ob eine Beseitigung des Luxus wünschenswert wäre. Ein Teil des Luxus ist selbstverständlich eine verurteilungswürdige Verschwendung des Nationaleinkommens. Ein anderer Teil hingegen bedeutet Kunst, Wissenschaft, gesellschaftliches Leben, alles, was dem Leben einen Wert gibt. Wenn man den ersten beseitigen könnte, ohne den zweiten zu berühren, wäre nichts dagegen zu sagen; aber eben dies ist unmöglich, denn die beiden sind unzertrennlich. Es ist gleich wie mit der Zensur. Ohne Zweifel wäre es gut, wenn wir eine Autorität hätten, die alle schlechten Bücher beseitigt. Aber eine Jahrhunderte alte Tradition zeigt, dass jede Autorität dieser Art die guten Bücher viel mehr belästigt als die schlechten. Darum wird es jeder vernünftige Mensch vorziehen, ohne Zensur weiter zu machen, denn man will nicht das wenige Gute von der Zensur bekommen zusammen mit dem vielen Bösen. Jedoch das, was aus dem Mehrwert in Maschinen, Werkzeuge, Gebäude und Rohstoffe verwandelt wird, ist zweifelsohne dem sofortigen Nutzen entzogen. Der Arbeiter, der einen Dampfpflug herstellt, kann nicht gleichzeitig sein Feld bearbeiten, und der Arbeiter, der zum Bau einer Fabrik eingesetzt wird, kann nicht zur gleichen Zeit Wohnhäuser errichten. Man kann nicht mit demselben Stück Kohle einen Schmiedehammer erwärmen und die Suppe kochen. Folglich: je mehr der Mehrwert kapitalisiert wird, desto weniger kann in der Gegenwart verbraucht werden. Aber das, was in der Gegenwart kapitalisiert wird, ergibt in der Zukunft verbrauchbare Ware. Was der Unternehmer heute dem Arbeiter als Lohn bezahlt, ist die Ware, die dieser zur Zeit auf dem Markt bekommt. Was der Unternehmer als Mehrwert behält, wie Maschinen, Werkzeuge, Gebäude, wird morgen auf dem Markt als verbrauchbare Ware erscheinen. Vom Luxus abgesehen wird der Kontrast zwischen der Höhe des Lohnes und dem Mehrwert nie in einem Zusammenstoß zwischen heute und morgen nach der Art enden: müssen wir mehr dem Augenblick leben oder uns um die Zukunft kümmern? Die Antwort befindet sich mit Sicherheit irgendwo in der Mitte. Wir kümmern uns sicherlich schlecht um die Zukunft, wenn wir es zum Nachteil des Lebens, der Gesundheit, der Arbeitskraft der heutigen Generation tun. Andererseits würde jede Volkswirtschaft rasch zu Grunde gehen, wenn der Lohn in dem Maße steigen würde, dass nichts mehr für die Beschaffung der Arbeitsmittel bleiben würde. Diese Sorge für die Zukunft sollte gleichermaßen die Aufgabe der sozialistischen wie der kapitalistischen Gesellschaft sein. Sie müsste für die Erweiterung der Arbeitsmittel einen

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eben so großen Anteil des Arbeitsproduktes beiseite tun, wie die heutige Gesellschaft auch. In mehreren Schriften hat sich Karl Kautsky mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Er vertritt die Meinung, dass die sozialistische Gesellschaft der heutigen überlegen ist, weil sie fähig sei, alle unrentablen Betriebe, die zu klein oder zu alt sind, aufzugeben. Das aber ist eben ein anderer Gesichtspunkt. Er hat mit der marxistischen Theorie des Mehrwertes nichts zu tun. Im Gegenteil würde durch das Aufgeben der unrentablen Betriebe der Mehrwert nur größer werden. Übrigens findet dies fortwährend in unserer heutigen Gesellschaft statt: die Kartelle und Trusts haben als Hauptaufgabe, alle lebensunfähigen Betriebe aufzugeben. Folglich könnte man die Frage stellen, ob derartige Maßnahmen, die in der kapitalistischen Produktionsweise sehr willkommen und durchführbar sind, nicht vielleicht wie Enteignungen reglementiert werden müssten, z. B. ob man sie nicht den Kartellen und Trusts, die vor keinem Übergriff zurückschrecken, untersagen und sie Behörden übertragen sollte und ob es nicht gut wäre, sie auch auf solche Produktionsbereiche auszudehnen, die sich noch nicht in Kartellen und Trusts organisiert haben. Aber dies sind Fragen des Wirtschaftsverwaltungsrechts. Folglich gibt es keinen anderen Weg zur Lösung der sozialen Frage, als die Produktion von Gütern für den Verbrauch der Massen in dem Maße zu vergrößern, dass sich diese befriedigend damit versorgen können. Die letzten Jahrzehnte vor Kriegsausbruch haben bewiesen, dass dies möglich ist. Die Einfuhr von Getreide und in letzter Zeit auch von Gefrierfleisch aus Übersee nach Westeuropa und Deutschland sind derart gestiegen, dass alle Anstrengungen der Landwirte, die Bevölkerung in den Hunger zu treiben, ohne großen Erfolg geblieben sind. Die Wohnungspolitik einiger Großstädte und einiger bedeutender Industrieorte hat wenigstens die schwerste Wohnungsnot beseitigt. Die Industrie arbeitet so billig, dass nicht nur die Kleider und die wichtigsten Gebrauchsgegenstände, sondern auch ein bescheidener Luxus bereits allen erschwinglich war. Dadurch hat die soziale Frage in West- und Mitteleuropa an Schärfe verloren. Seit einem halben Jahrhundert hat man von Revolutionen oder Aufständen nichts mehr gehört. Die anarchistischen Unruhen sind fast gänzlich erloschen, die noch zahlreichen Arbeitskämpfe verliefen allmählich friedlicher, dauerten weniger lange und endeten gewöhnlich mit einer Versöhnung. Es war eine große und prächtige Epoche; es war eine Freude, während dieser Zeit zu leben. Wenn sie noch zwanzig oder dreißig Jahre gedauert hätte, hätten wir in Europa keine soziale Frage mehr gehabt. Selbstverständlich hat sich seitdem alles in besorgniserregender Weise verändert. Eine Reihe von furchtbaren Revolutionen hat die bedeutendsten europäischen Staaten erschüttert. Und auch in den verschont gebliebenen Ländern kocht es noch immer unter dem Deckel: die Arbeitskämpfe folgen einem nach dem anderen und enden oft mit schweren Zusammenstößen, die schwer zu befrieden sind. Überall mehren sich die Angriffe gegen das Leben und das Eigentum, die sich kaum von den früheren anarchistischen Mordanschlägen unterscheiden, obwohl sie teilweise von Parteien ausgehen, die sich als konservativ ausgeben. Die 11 Ehrlich

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II. Zur Sozialpolitik

fürchterliche Verwüstung Europas durch den viereinhalbjährigen Krieg hatte überall Lebensmittelnot, Wohnungsnot und einen großen Preisanstieg der Industrieerzeugnisse zur Folge. Die Bekämpfung dieser Erscheinungen mit Hilfe von sozial-politischen Maßnahmen, mit denen wir in der Vorkriegszeit den Forderungen der Arbeiterschaft geantwortet haben, wäre nutzlos. Bessere Entlöhnungsmethoden, Mindestlöhne, Arbeitnehmerschutz, Industrieinspektorate, Altersversorgung (Renten), Krankheits- und Unfallpensionen, alle waren gut, solange die Gesellschaft genügend reich war, um die entsprechend hohen Kosten zu tragen. Heute, bei einer erschöpften Volkswirtschaft, würden sie die Krise nur noch vertiefen. Hilfe kann nur von einer konzentrierten Güterproduktion erwartet werden: Unterstützung der Landwirtschaft, die uns alle Lebensmittel sichert, Erleichterungen für den Hausbau, Entwicklung der Industrie. Mit diesen Maßnahmen müsste die Beseitigung jeglicher Verschwendung Hand in Hand gehen: 1. Begrenzung des privaten Luxus. Dies macht allerdings nicht sehr viel aus. 2. Beseitigung aller dem Staate unnützlichen öffentlichen Ausgaben, besonders jene für den Militarismus. 3. Bekämpfung des Luxus der Armen. Wie unglaublich es auch scheinen mag, ein solcher existiert. Es ist der maßlose Genuss von Alkohol 4 . Vielleicht dass wir auf diese Weise, in einem halben Jahrhundert dort ankommen werden, wo wir uns im Jahre 1914 befanden. Alles andere, einschließlich der Sozialisierung, ist wirtschaftliche Alchemie5.

4 Ehrlich hat sich erfolglos im Jahre 1907 im Bukowiner Landtag für ein von ihm verfasstes Gesetz zur Bekämpfung des Alkoholismus durch Kontrolle des Alkoholausschanks und des Kleinhandels mit alkoholischen Getränken eingesetzt, siehe Rehbinder (FS Lampe, Fn. 3), S. 202 f. 5 Alchemie = vorgetäuschte Goldmacherkunst.

I I I . Zur Friedensbewegung

1. Die historischen Grundlagen der Friedensbewegung* Ein ehrlicher Gegner mit weitem Gesichtskreis und tiefen Einsichten leistet auch dann der Wahrheit einen Dienst, wenn er sie bekämpft. Die Friedensfreunde werden daher dem „Frieden", der sich zu ihrer Sache schon auf dem Titelblatt bekennt, Dank dafür wissen, dass er Raum gegeben hat dem gegen die Friedensbewegung gerichteten Aufsatz des Ungenannten**, der offenbar alle diese Eigenschaften vereinigt. Und deswegen will ich es mir nicht versagen, die Klinge mit einem Gegner zu kreuzen, gegen den selbst zu unterliegen eine Ehre wäre. Zunächst will ich jedoch, zwar nicht gegen den Verfasser des genannten Aufsatzes, der auf die eigentlichen Ziele der Friedensbewegung nicht eingegangen ist, wohl aber gegen die meisten, die den Pazifismus „widerlegen", bemerken, dass es sich keineswegs darum handelt, den Krieg einfach „abzuschaffen". „Solange Dummheit und Leidenschaft", wie Treitschke so treffend sagt, „Großmächte in der Weltgeschichte sind", wird der Krieg nicht aussterben, und „dass Weisheit und Besonnenheit je die unbestrittene Herrschaft erlangen, ist wohl nicht anzunehmen", schrieb erst jüngst einer der bedeutendsten Führer der Friedensbewegung. Der Krieg lässt sich ebenso wenig abschaffen wie das Verbrechen, denn beides hängt nicht vom Willen derer ab, die es anstreben. Das Ziel der Friedensbewegung ist bloß, die Staaten zu veranlassen, eine Reihe von Einrichtungen zu vereinbaren und zu schaffen, die den Krieg zu verhindern oder wenigstens vermeidbar zu machen geeignet sind; die wichtigsten sind die Ausgestaltung der Schiedsgerichte, die Beschränkung der Rüstungen, der Ausschluss des Landerwerbes (wenigstens außerhalb der Kolonialgebiete) ohne Zustimmung der Bevölkerung, die Freiheit der Meere, offenes Tor in den Kolonien, und endlich ein Staatenbund, der alle diese Dinge ins Werk setzt und deren Durchführung überwacht. Ob es mit Hilfe dieser Maßregeln den Krieg in jedem einzelnen Falle zu vermeiden möglich sein wird, ist selbstverständlich eine andere Frage; aber es ist nicht einzusehen, warum die Maßregeln selbst unmöglich sein sollten. Man kann nicht gut das als „unmöglich" bezeichnen, was ausschließlich von unserem Willen abhängt: tut man das, so missbraucht man das Wort „unmöglich" für das, was man eben nicht haben will. Die das nicht wollen, was den Krieg verhindern könnte, wollen den Krieg, und die Anhänger der Frie* Der Friede. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur, Bd. 1 (Wien 1918), S. 467-469. ** Kriegsphilosophische Betrachtungen, in: Der Friede Bd. I (1918), S. 421- 424. Über den Verf. des Aufsatzes wird in einem Vorwort des Herausgebers dieser in Wien erschienenen Wochenschrift, Benno Karpeles, mitgeteilt, dieser sei ein „hoher Offizier".

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III. Zur Friedensbewegung

densbewegung haben ihnen gegenüber keine andere Aufgabe, als sie zu diesem Bekenntnis zu zwingen und ihnen so die philosophische Maske, die sie sich heuchlerisch vors Gesicht hängen, herabzureißen. Daneben dürfen sie wohl noch auf die ungeheuren und nicht immer ganz reinlichen Interessen mächtiger gesellschaftlicher Klassen und großer, einflussreicher Industrien hinweisen, die am Kriegshandwerk hängen, um denen, die unter den Kriegen und Kriegsvorbereitungen so entsetzlich leiden, das Urteil über die Philosophie der vielen Kriegsgewinnler und der wenigen überzeugten Anhänger des Kriegstaumels wesentlich zu erleichtern. Leider widmet der ungenannte Verfasser des Aufsatzes über die Friedensbewegung ihren wirklichen Zielen, die ich soeben genannt habe, nicht ein einziges Wort. Er trägt vielmehr die alte Lehre, mit teilweise neuem und geistvoll zusammengestelltem Materiale belegt, vor, dass es immer Kriege gegeben habe und es daher auch immer Kriege geben werde. Die Folgerung ist nicht sehr schlüssig, denn es geschieht doch in der Welt jeden Augenblick etwas, was sich bis dahin noch nie ereignet hatte: warum soll nicht auf diesem Wege einmal auch der ewige Friede über die Menschheit kommen? Aber mit solchen Prophezeiungen sollte man sich doch vernünftigerweise nicht abgeben. Wenn man sich schon über die Aussichten der Friedensbewegung aus der Geschichte unterrichten will, so befrage man sie nicht danach, ob es schon je einen ewigen Frieden auf der Welt gegeben habe, denn die Frage leidet offenbar an einem Widerspruch, sondern man prüfe, ob je zuvor ein ähnliches Werk versucht worden ist und welchen Erfolg der Versuch hatte. Das, was die Friedensfreunde heute anstreben, ist aber bereits unzählige Male gelungen und hat sich stets so großartig bewährt, dass der Menschheit nie mehr der Gedanke gekommen ist, auf das Errungene zu verzichten. Das wurde schon oft genug ausgeführt, zuletzt in dem neuesten Buche von Lammasch. Die Geschichte lehrt uns, genau besehen, gar nicht, dass es Kriege geben müsse, sondern nur, dass es so lange Kriege gegeben habe, bis man es durch entsprechende Maßregeln möglich gemacht hat, Interessengegensätze ohne Waffen beizulegen. Man kann die Entwicklung bis in die Anfänge der Geschichte verfolgen. Die kleinen Verbände der Urzeit, die Sippen, befinden sich allerdings regelmäßig in kurzen Abständen im Kriege miteinander. Aber jede Sippe hat schon im Augenblicke ihrer Entstehung bei ihren Angehörigen den „Krieg aller gegen alle" beendigt, der zwischen ihnen so lange getobt hatte, bis sie sich nicht zur Sippe verbunden haben: die Sippe ist also bereits eine Einrichtung zur Vermeidung des Krieges und erreicht ihren Zweck vollkommen. Als sich dann die Sippen zu Sippenbündnissen zusammenschließen, ist der Krieg zwischen ihnen, wenigstens während des Bündnisses, jedenfalls ausgeschaltet. Dasselbe wiederholt sich, sobald sich den Sippenbündnissen der Staat überordnet. Auf sehr beschränktem Räume, in den antiken und mittelalterlichen Stadtstaaten und selbst in kleinen Gebietsstaaten werden die inneren Fehden schon sehr früh ausgerottet, in den großen Gebietsstaaten dauern dagegen die Fehden das ganze Mittelalter hindurch fort, denn der Staat ist zu schwach, um ihnen wirksam entgegenzutreten; er überlässt diese Aufgabe zunächst kleineren Verbänden (so in Deutschland den Friedensbündnissen der Städte

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und Territorialherren), die den Fehden, soweit ihre Macht reicht, schlecht und recht beizukommen suchen, und er selbst begnügt sich mit armseligen Auskünften, mit dem Gottesfrieden und dem für einige Jahre oder Jahrzehnte verkündeten Landfrieden. Erst am Ende des Mittelalters erscheint die Fehde in Europa durch den Staat im Großen und Ganzen beseitigt. Es ist also bisher die Fehde stets dadurch vermeidbar gemacht worden, dass die kleinen Verbände, zwischen denen sie vorkam, sich zu einem größeren Verbände vereinigend, ihre Heere abrüsteten und dem größeren Verbände den Schutz nach außen und die Bewahrung des Friedens im Innern überließen, der zu diesem Zwecke Gerichte einsetzte und die bestehenden in ihrer Amtsführung unterstützte. Es handelt sich daher bei der Friedensbewegung nur darum, dass die gesitteten Volker - denn nur auf diese kommt es selbstverständlich an - das, was sie schon oft in beschränktem Umfange mit gutem Erfolge unternommen hatten, noch einmal auf breiterer Grundlage beginnen. Die Bereitschaft zu einem Friedensbündnisse scheint jetzt schon bei vielen großen Staaten vorhanden zu sein, und wird es nur einmal zwischen einigen der wichtigsten zustande kommen, so werden ihm bald auch die übrigen beitreten, da sie doch nicht ewig, etwa in Gemeinschaft der Negerkönige, abseits werden bleiben wollen. Die Bündnisse werden anfangs wohl schlecht arbeiten und in vielen Fällen versagen, aber das wird den schließlichen Erfolg nicht verhindern. Zwischen dem ersten Reichslandfrieden im Jahre 1103, der bloß für vier Jahre abgeschlossen worden war, und dem Grumbachschen Handel, der als letzte Fehde in Deutschland gilt, sind mehr als vier Jahrhunderte verflossen, voll von Friedensbrüchen und verfehlten Befriedungen: aber heute zeugt doch jeder unbewaffnete, sorglose Wanderer auf der Landstraße davon, wie weit wir es seither im Landfrieden gebracht haben. Selbstverständlich beweisen derartige Zusammenstellungen geschichtlicher Tatsachen recht wenig: immerhin beweisen sie mindestens ebensoviel wie eine Zusammenstellung des ungenannten Verfassers, die das entgegengesetzte Ergebnis liefert. Jedenfalls kommt man dagegen mit der immer wiederholten Lehre nicht auf, dass „sich die menschliche Natur nicht ändere". Es ist eine öde Phrase, ausschließlich im Dienste der Reaktion erfunden, die allen Ergebnissen der biologischen und anthropologischen Forschung sowie der Geschichte einfach ins Gesicht schlägt. Wenn das richtig ist, was die Anthropologen lehren, dass die Natur unserer Ahnen der der Australneger oder Feuerländer ähnlich war, so hat sich die menschliche Natur seither doch einigermaßen geändert, und da den meisten gesitteten Menschen unserer Zeit Gottesgerichte, Religionskriege, Folter, Hexenprozesse und die Grausamkeiten der alten Strafrechtspflege einfach unverständlich erscheinen, so wird ein gewisser Wandel wohl auch schon in den letzten Jahrhunderten eingetreten sein. Aber es genügt wohl schon ein viel kürzerer Zeitraum dazu. Wo ist denn heute noch der „traumverlorene Deutsche" der Frau v. Stael aus den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zu finden? Wer sich mit der Politik, Literatur, Wissenschaft, mit dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert befasst, der wird bald bemerken müs-

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sen, welchen Schnitt mitten durch die deutsche Eigenart, nicht immer zum Besten, das Jahr 1870 allein bedeutet. Deswegen lege ich auch gar keinen Wert darauf, was der ungenannte Verfasser über die „Eigentümlichkeiten und Veranlagungen großer Völkerschichten" in den einzelnen Staaten sagt: über den „Handelsgeist, Nationalstolz und die Herrschsucht" des Engländers, den „Unternehmungsgeist und rücksichtslosen Wettbewerb" des Amerikaners, den „Kunstsinn und charakterlosen Egoismus" des Italieners, „Nationalstolz, Ruhmbegierde, kriegerischen, auf große Traditionen sich stützenden militärischen Instinkt" des Franzosen und dieselben Eigenschaften der Deutschen, die aber dabei - die Ehre dieser Entdeckung gebührt unbestreitbar dem Verfasser - , „der Welt zum Glück, nicht kriegerisch, sondern eher pazifistisch veranlagt sind". Als alter Globetrotter, der sich auch ein wenig in der Ethnologie und Geschichte umgesehen hat, weiß ich, dass alle diese Beiwörter, die gewöhnlich zur Schilderung ganzer Völker verwendet werden, zum Teile nichts anderes sind als ein Nachhall historischer Ereignisse in längst verflossenen Zeiten, wie die Sage vom „kriegerischen, auf große Traditionen sich stützenden militärischen Instinkt" des Franzosen, von dem schon im Jahre 1870/71 sehr wenig zu spüren war, zum andern Teile sich auf ganz kleine Bevölkerungsbruchstücke beziehen, mit denen der Reisende gewöhnlich am meisten in Berührung kommt: hätte sich der ungenannte Verfasser bei den ihm näherstehenden Völkern etwas mehr umgeschaut, so hätte er bei ihnen vom „charakterlosen Egoismus" vielleicht mindestens ebensoviel gefunden wie bei den Italienern. Zum größten Teile handelt es sich aber um eine ganz unzulässige Verallgemeinerung vereinzelter Beobachtungen, in der Art des legendären Engländers, der in der Bahnhofswirtschaft in Deutschland einen unhöflichen, rothaarigen Kellner getroffen hat und sofort in sein Tagebuch hineinschrieb: „In diesem Lande sind die Menschen grob und haben rotes Haar." In Wirklichkeit sind die einst traumverlorenen Deutschen der Frau v. Staël die geriebensten Kaufleute der Welt und an Handelsgeist den Engländern, die sie vor dem Kriege schon vielfach verdrängt haben, weit überlegen: die Engländer sind dagegen nichts weniger als herrschsüchtig, denn in keinem Lande wird so wenig geherrscht und beherrscht wie in England. Die Menschen mögen sich übrigens im Laufe der Jahrtausende geändert haben oder auch nicht, das wird doch wohl nicht bestritten werden, dass sie zu verschiedenen Zeiten deswegen verschieden gehandelt haben, weil die Bedingungen des Handelns verschieden waren. Wurde einem deutschen Großen des elften oder zwölften Jahrhunderts ein naher Verwandter ermordet, so hat er es für seine heilige Pflicht gehalten, die Lande des Mörders mit seinen Reisigen zu überziehen, dessen Burg dem Erdboden gleichzumachen und ihn selbst dem Tode zu überliefern, und er hätte die Zumutung, die Sache einfach den Gerichten zu übergeben, als eine ihm angetane Schmach empfunden: sein moderner Nachkomme begnügt sich dagegen ruhig mit dem gerichtlichen Urteile. Interessengegensätze, wie sie zwischen Österreich und Ungarn seit dem Ausgleich zahllose Male aufgekommen sind, hätten vor vier- oder fünfhundert Jahren unvermeidlich zum Kriege geführt; in den letzten fünfzig Jahren sind sie schließlich alle friedlich geschlichtet worden. Der Krieg war durch die bloße Tatsache aus-

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geschlossen, dass die beiden Staaten in einem Bündnis vereinigt waren und daher für einige, wohl unvollkommene, immerhin aber wirksame Einrichtungen zur Beilegung ihrer Streitigkeiten gesorgt haben. Der Krieg als Handlung der Menschen, die den Staat bilden, ist heute vor allem deswegen etwas anderes als er einst war, weil auch der Staat sich im Wesen vollständig gewandelt hat. Er ist, wie ich es an dieser Stelle schon einmal gesagt habe, aus einem militärischen Machtzentrum, das er ursprünglich gewesen ist, im Laufe der Jahrtausende allmählich überwiegend zu einem Körper für wirtschaftliche, kulturelle und nationale Verwaltung geworden. Reine Raubkriege, wie sie Assyrien und Babylonien, manche Griechenstaaten, der Mongolenstaat Dschingischans oder die Türkei des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts geführt haben, bloß um Land, Gut, Sklaven und Frauen zu erbeuten, waren doch nur so lange möglich, als der Staat ausschließlich ein militärisches Machtzentrum war. Schon die Römer in der Zeit des späteren Freistaates und der Kaiserzeit begannen ihre Kriege regelmäßig zur Abwehr eines drohenden Angriffs und setzten ihn fort, um in der eroberten Provinz ihre Gentry zu versorgen. Seit dem Dreißigjährigen Kriege, in dem sehr verschiedene Strebungen ineinanderlaufen, handelt es sich im Kriege meistens um das europäische Gleichgewicht, also im wesentlichen um die Abwehr eines Gegners, der leicht übermächtig werden könnte; außerdem führt England noch Kolonialkriege mit Holland und Frankreich. Abwehrkriege um des europäischen Gleichgewichts willen sind auch die Revolutionskriege, die napoleonischen Kriege (die im letzten Grunde Kriege großer Koalitionen gegen Napoleon I. waren) und vielfach auch die Kriege Napoleons m . Der gegenwärtige Weltkrieg ist wohl vor allem ein Gleichgewichtskrieg, in zweiter Linie ein Kolonialkrieg und schließlich ein Nationalkrieg (zur Vereinigung der Nationen in Nationalstaaten). Mit dem Ausdrucke Krieg werden daher zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Dinge bezeichnet. Der Sinn des Krieges wechselt auf jeder Entwicklungsstufe des Staates und der Gesellschaft. Je mehr aber der Staat aus einem militärischen Machtzentrum zu einem Verwaltungskörper wird, umso mehr nehmen die Interessengegensätze, die zwischen den Staaten noch bestehen oder neu aufkommen, eine Gestalt an, dass sie nicht mehr mit Waffengewalt ausgetragen werden müssen: sie werden zur rechtlichen Entscheidung reif. Obwohl die Untaten und die Leidenschaften, die einst die Fehden erzeugt haben, noch heute vorkommen, so führen sie doch keine Fehden herbei, weil die anderen Menschen in einer andern Gesellschaft sie anders aufnehmen und anders ihnen entgegenwirken. So werden wohl auch in der Zukunft, wenn der Staat in eine andere Gesellschaft eingebettet, selbst ein anderer geworden ist, die Kriege zwischen den Staaten mit der Zeit ebenso von selbst verschwinden, wie die Fehde im Staate längst schon ausgestorben ist. Die Machtfragen werden sich immer mehr in Rechtsfragen auflösen. Wird die vollständige Auflösung der Machtfragen in Rechtsfragen erreicht, so wird die Friedensbewegung damit am Ziele angelangt sein. Wie weit wir davon heute noch entfernt sein mögen, jedenfalls haben wir uns ihm im letzten Jahrhundert erheblich genähert. Im neunzehnten Jahrhundert gab es eigentlich in Europa,

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III. Zur Friedensbewegung

wenn man von dem damals dazu gewiss nur geographisch gehörenden Balkan absieht, nur zwei mit Kriegen erfüllte Zeiträume: die Zeit der napoleonischen Kriege bis 1815 und die Zeit der italienischen und deutschen Einheitskämpfe, 1848-1870. Vergleicht man sie mit den vorangegangenen Jahrhunderten, so bemerkt man leicht, dass die Kriege stetig an Häufigkeit abnehmen, wenn sie vielleicht auch an Wucht und an Dauer wachsen. Denn im Mittelalter gibt es kein Jahr ohne irgend welche Kämpfe; noch im sechzehnten Jahrhundert ist jedenfalls kein Jahrzehnt frei davon; im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert mehren sich die Zeiten der Ruhe, aber nie zuvor haben sie so lange gedauert wie im neunzehnten Jahrhundert. Die kriegslosen Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts beweisen, da auch Bedrohungen mit Krieg nur selten vorkamen, dass es gelungen ist, die meisten Interessengegensätze als Rechtsfragen aufzufassen und zu erledigen. Und diese Strebung währte bis zum Weltkrieg. Von den Fragen, die den gegenwärtigen Krieg entfacht haben, war die Kolonialfrage schon vor seinem Ausbruch nahe daran, eine Rechtsfrage zu werden, da sich der Grundsatz der Abgrenzung des Einflussgebietes und der offenen Tür unter den Kolonialmächten durchzusetzen begann; während des Krieges reift der Grundsatz der Freiheit der Meere der Anerkennung entgegen. Die Nationalitätenfrage wird Rechtsfrage durch Feststellung des Nationalitätenrechts. Dieses ist vor dem Kriege im wichtigsten Nationalitätenstaate, in Österreich (allerdings nicht in Ungarn) so weit gediehen, dass ein hervorragender Fachmann auf diesem Gebiete, Laun, allerdings sehr übertreibend, sagen durfte, es blieben nur noch Fragen zweiten Ranges übrig. Seit dem Kriege sind hier die Rennerschen Gedanken in den ersten Plan getreten; durch die Bemühungen des Nationalitätenkomitees der niederländischen Anti-Oorlag-Raad sind die Grundsätze, die das Nationalitätenrecht beherrschen sollen, so sehr geklärt worden, dass man wohl annehmen darf, die Nationalitätenfrage wird nach dem Kriege aufhören, Machtfrage zu sein, sie wird ganz Rechtsfrage werden. Die Gleichgewichtsfrage ist dagegen vor dem Kriegsausbruch nicht ernstlich angefasst worden. Umso mehr steht sie aber seither im Vordergrunde, wie die jetzt von allen Seiten aufgestellten Forderungen der Abrüstung und eines Volkerfriedensbündnisses genügend beweisen. Selbstverständlich können alle Machtfragen sich in Rechtsfragen verwandeln, nicht aber die eigentliche Machtfrage selbst: das Streben nach Unterwerfung immer weiterer Stücke unseres Planeten. Wer mit Bernhardi und anderen Imperialisten dieses Machtstreben für etwas dem Staate Wesentliches hält, wird sich kaum je mit dem Gedanken befreunden, dass andere als ganz untergeordnete Fragen des staatlichen Lebens zu Rechtsfragen werden könnten. Für mich genügt es jedoch, an dieser Stelle darauf zu verweisen, was ich über die Entwicklung des Staates aus einem militärischen Machtzentrum zu einem Körper für wirtschaftliche, kulturelle und nationale Verwaltung bereits gesagt habe. Das unbedingte Machtstreben ist nur so lange mit dem Staate selbst gegeben, als dieser ausschließlich ein militärisches Macht-Zentrum ist. Tiglath Pilesar von Assyrien und der Mongolenkhan Tamerlan hätten es allerdings vermutlich gar nicht verstanden, dass ein Staat auf Eroberungen zu verzichten imstande wäre. Aber die Schweiz, Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen beweisen, dass ein Staat, der ganz in Verwaltungsaufgaben

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aufgeht, sich sehr wohl dabei befinden kann, und wenn man durchaus einen Großstaat haben will, so glaube ich nicht, dass England nicht damals besser daran gewesen war, da es sich ganz der Pflege seiner Wirtschaft und Gesittung widmete, als jetzt, da es zur imperialistischen Politik verflossener Jahrhunderte zurückkehrte. Die Frage des Imperialismus ist aber so eng mit ethischen Fragen verknüpft, dass es an Raum mangeln würde, um sie hier zu behandeln: vielleicht wird mir gestattet sein, in einem weiteren Aufsatz darauf zurückzukommen.

2. Die sittlichen Voraussetzungen der Friedensbewegung* L Man kann den Gegensatz zwischen den kriegsbegeisterten Imperialisten und Nationalisten und den Anhängern der Friedensbewegung nicht tief genug fassen. Denn es handelt sich da nicht etwa um zwei politische Parteien, um wissenschaftliche Lehren oder philosophische Systeme, sondern um Weltanschauungen, die in zwei verschiedenen, durch Jahrtausende getrennten Entwicklungsstufen der Menschheit verankert sind. Es gibt keine logischen Gründe und Gegengründe, die den Abgrund zwischen ihnen zu überbrücken vermöchten, sie wurzeln beide im Gefühlsleben, an das die Logik nicht heran kann. Als mir am Anfang des Krieges eine Dame einige Freude an der „großen Zeit" beibringen wollte, lehnte ich es ruhig mit den Worten ab: „Wenn ich im vierundzwanzigsten Jahrhundert leben kann, warum soll ich mich ins vierzehnte zurückziehen?" Sie aber hätte mir darauf erwidern können: „Wenn ich auf alles verzichten sollte, was mir das Leben wertvoll erscheinen lässt, welchen Wert hätte für mich noch das Leben?" Die Kriegsbegeisterung und Friedensbewegung kommen von verschiedenen Menschenschlägen und wenden sich an verschieden geartete Menschen: Wer entschieden der einen oder der andern Art angehört, wird sich nicht hinüberziehen lassen. Die Möglichkeit einer Umstimmung ist nur bei denen gegeben, die wie die meisten Menschen, einer selbständigen Gedanken- oder Gefühlsregung unfähig, ausschließlich dem Antrieb nachgeben, für den der Boden in ihrem Gemüte in diesem Augenblicke am besten vorbereitet war, so unmittelbar vor dem Kriege dem Chauvinismus, jetzt wieder der Friedensbewegung: und bei denen, die aus beiden Elementen zusammengesetzt, je nach den Eindrücken, die sie von außen erhalten, das eine von ihnen entwickeln, das andere verkümmern lassen. Von welcher Art sind aber die Menschenarten, die hier in Frage kommen? Wir können uns die Dinge, die wir brauchen, so lange sie ein anderer besitzt, entweder so verschaffen, dass wir sie ihm heimlich, listig oder gewaltsam wegnehmen, oder so, dass wir sie von ihm gegen andere Sachen eintauschen: das letzte ist der wirtschaftliche, das erste der unwirtschaftliche Erwerb. Beide Arten des Erwerbes haben ihre Sittlichkeit, aber die des unwirtschaftlichen Erwerbs ist, so seltsam es scheinen mag, die ursprüngliche, die grundlegende und die mächtigere. Sie beherrscht fast unbeschränkt die Jäger- und Hirtenvölker, bei denen der Ackerbau * Der Friede. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur, Bd. 1 (Wien 1918), S. 515-517, 541-543.

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III. Zur Friedensbewegung

ganz fehlt oder von geringer Bedeutung ist, aber sie ist auch auf höherer Stufe nie ganz verschwunden. Am stärksten wirkt sie im sogenannten heroischen Zeitalter: auf jeder Seite der homerischen Gedichte und anderer auf ähnlicher Entwicklungsstufe entstandener Geisteswerke tritt sie sichtbar hervor. Das sittliche Ideal, das die alten Lieder preisen, von dem die ältesten Geschichtsurkunden berichten, für das sich die Jugend begeistert ist der Held, den vom Räuber und Dieb eigentlich nichts unterscheidet als das Bewußtsein ihrer eigenen Würde und des hohen Weites ihres ganzen Tuns. Denn der Held raubt, stiehlt und betrügt, nicht etwa, wie man meinen könnte, im staatlichen oder nationalen, sondern in seinem eigenen Interesse. Es wäre ein ganz unzulässiges Hineintragen moderner Gedanken in längst verflogene Zeiten, wollte man annehmen, dem göttlichen Achilleus oder dem edlen Gotenkönig Alarich sei es um den Ruhm oder die Größe ihres Volkes zu tun gewesen: ihnen handelte es sich eigentlich nur um die Beute, allerdings nicht bloß für sich selbst, sondern auch für die Kampfgenossen, was man also nur in einem sehr weiten Sinne noch als ihren Staat oder ihr Volk bezeichnen kann. Daher gilt als Feind, den man in allen Ehren ermorden, berauben oder versklaven darf, genau gesprochen nicht der, gegen den man einen Krieg führt, sondern jeder, bei dem Beute zu holen ist. Das ist vor allem, wer nicht selbst mit in den Kampfe zieht und nicht im Friedensbunde der Sippe vereinigt ist, also im Grunde genommen jeder Fremde, soweit ihn nicht das ganz formalistisch aufgefasste Gastrecht beschützt. Die Zugehörigkeit zum Staate ist dagegen belanglos, da der Staat noch nicht im Stande ist, Frieden zu stiften. Mit modernem Maßstabe gemessen ist also der Held, wie er am Anfange der Geschichte steht, ein Bandit. Darin liegt jedoch noch kein Werturteil, jedenfalls kein ungünstiges. Wenn die ursprüngliche Gesellschaft den Banditen als Helden verehrt, so hat sie immerhin gute Gründe dafür. Um Bandit zu sein, muss man schon etwas leisten können; seit die Welt besteht, ist noch niemand durch Protektion Bandit geworden. Wer eine bunte, aus gewalttätigen, beutegierigen, an keinerlei Selbstzucht gewöhnten Elementen zusammengesetzte Schar seinem Befehle unterwirft, sie in Zucht und Ordnung hält, bestimmten Zwecken dienstbar macht, der ist der geborene Organisator. Napoleon war seiner ganzen Geistes- und Gemütsanlage nach nichts anderes als ein korsischer Bandit; und gerade weil er alle Eigenschaften eines großen Banditen in idealer Vollkommenheit besaß, hat er, durch einen Zufall auf den Thron von Frankreich verschlagen, nicht bloß Feldzüge zu lenken, sondern auch die Revolution zu zügeln und seinem Lande eine vielbewunderte Verwaltung zu geben verstanden. Tapferkeit, Mut, Entschlossenheit, die Fähigkeit, jede menschliche Kraft richtig zu verwerten, zu befehlen und die Befehle ausführen zu lassen. Grausamkeit, List, Verschlagenheit gegen den Feind, das sind die Tugenden, denen sich die Männer des unwirtschaftlichen Erwerbes rühmen und um deren willen sie bewundert werden, so lange die Sittlichkeit des unwirtschaftlichen Erwerbes vorherrscht. In Ungarn und in Süditalien waren breite Volksmassen noch bis in die letzten Jahrzehnte dafür empfanglich, am Balkan sind sie es wohl noch jetzt. In den Anfängen der menschlichen Gesittung ist aber der unwirtschaftliche Erwerb und dessen Sittlichkeit bestimmend für die ganze gesell-

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schaftliche Ordnung. Da ist das Räuber- und bei seefahrenden Volkern das Piratenhandwerk der vornehmste Beruf. Den Adel bilden die Sippen, denen die tapfersten Männer angehören: sie sind die reichsten, denn der tapferste erhält den größten Teil an der Beute, die hauptsächlich in Vieh und etwaigen Kostbarkeiten, außerdem etwa noch in Weibern und Sklaven besteht. Noch der römische Jurist Gaius, nachdem er ausgeführt hat, dass die Beute zu den Erwerbsarten des quiritischen Eigentums gehört, fügt begründend hinzu: denn unseren Ahnen galt das als im besten Sinne ihr eigen, was sie dem Feinde abgenommen hatten. Unter dem Feind ist wieder nicht etwa der Gegner im Kriege, sondern ursprünglich jeder Fremde zu verstehen. Jäger und Hirtenvölker, die noch eine ganz einheitliche Gesellschaft haben, gehen über eine so geartete Sittlichkeit nicht hinaus. Bei der geringen wirtschaftlichen Arbeit, die sie leisten, kann sich eine Sittlichkeit des wirtschaftlichen Erwerbens noch nicht entwickeln. Aber mit dem Ackerbau, dem Handel und Gewerbe kommen neue gesellschaftliche Schichten auf, deren Leben von wirtschaftlicher Arbeit ausgefüllt ist. Die Schichten, die am unwirtschaftlichen Erwerbe festhalten, sind ihnen, vermöge ihrer militärischen Eigenschaften, im Kampfe überlegen, und wie sie dem Fremden, aus keinem anderen Grunde, als weil er sich ihrer nicht zu erwehren vermag, seine Habe ganz zu entreißen gewohnt sind, so fordern sie jetzt von den wirtschaftenden Volksgenossen einen Teil des Ertrages ihrer Arbeit, nur weil ihre Machtmittel genügen, um ihn mit Gewalt wegzunehmen. Damit ist die Sittlichkeit des unwirtschaftlichen Erwerbes auf das Verhältnis zu den im Friedensverbande lebenden Personen erweitert, die zum Teile zu Sklaven und Hörigen herabgedrückt werden. Aber diese schaffen sich bald eine eigene Sittlichkeit, die Sittlichkeit der wirtschaftlichen Arbeit. Positiv ein ruhiges Zusammenleben, Fleiß, Sparsamkeit und Ehrlichkeit in Handel und Wandel fordernd, stellt sie sich zur Sittlichkeit des unwirtschaftlichen Erwerbes in einen bewußten Gegensatz. Für sie ist Raub kein Erwerbstitel. Das Wesentliche an ihr aber ist, dass sie, zum Unterschiede von der Sittlichkeit der oberen Klassen, nicht durch einen inneren Gegensatz zerklüftet ist. Während nach dieser kameradschaftliche Gefühle und Gerechtigkeit für den Mitkämpfer geboten, dagegen Haß gegen die Außenstehenden geradezu Pflicht ist, verschwindet aus der Sittlichkeit des Arbeitenden der Begriff des Feindes, den man deswegen hassen müsse, weil er ein Fremder ist. Jeder sittliche Grundsatz, den sie predigt, gilt im vorhinein für alle Menschen. Gewiss sind die beiden Sittlichkeiten nie in dieser schematischen Reinheit einander gegenübergestanden. Vor allem deswegen, weil es zu keiner Zeit eine gesellschaftliche Klasse gegeben hat, die ausschließlich vom unwirtschaftlichen Erwerbe gelebt hätte: etwas wurde immer gearbeitet, und von dem, was man haben wollte, regelmäßig auch einiges friedlich eingetauscht. Und ebenso wenig war je eine gesellschaftliche Schicht vorhanden, die nur gedient und gefront hätte. Selbst die Sklaven waren zuweilen große Herren: ein Sklave des Kaisers Augustus besaß allein (tatsächlich, wenn auch nicht rechtlich) 20.000 Sklaven. So gab es bei jedem Volke, zu jeder Zeit, in den einzelnen Schichten verschiedene Sittlichkeiten, die

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sich aber in dem engen Zusammenleben fortwährend durchwirkten: die oberen Klassen zogen immer etwas von der Sittlichkeit der unteren an, die unteren nahmen von den oberen, zu denen sie bewundernd emporblickten, so manches auf. Wenn es aber auch nie eine einheitliche Sittlichkeit gegeben hat, so gewann doch die eine oder die andere stets so weit die Oberhand, dass man sie als die herrschende bezeichnen kann. Die Sittlichkeit der Antike ist fast ausschließlich unwirtschaftlich. Die Landwirtschaft, meist auf Sklaven- und Hörigenbetrieb aufgebaut und daher in Rentenbezug aufgehend, ist die einzige des angesehenen Mannes würdige Beschäftigung, Handel und Gewerbe sind verachtet, jede Arbeit zu Erwerbszwecken, auch die geistige, wird gering geschätzt. Die Griechen und die Römer bezeichnen die Tapferkeit als die erste unter den Tugenden und haben sogar für Tapferkeit und Tugend überhaupt nur ein Wort. Noch Sokrates sagt, wie Xenophon, der ihn gewiss am Neuesten überliefert hat, berichtet, als etwas ganz Selbstverständliches, es sei Pflicht, die Freunde zu lieben, die Feinde zu hassen. Die Sittlichkeit der älteren Teile des Alten Testaments ruht im Allgemeinen auf derselben Grundlage. Aber in dem nach dem Exil, inmitten einer gedrückten, verfolgten, ganz auf den Ertrag ihrer Arbeit angewiesenen Judenschaft entstandenen Teile des Alten Testaments wird bereits die Sittlichkeit des wirtschaftlichen Erwerbes vorgetragen, und diese Stücke des „Gesetzes" sind es wohl, die in den Evangelien nicht aufgehoben, sondern bestätigt werden. Hier wird, im bewussten Gegensatze zur römischen Gewaltherrschaft, in ergreifenden Worten eine Sittlichkeit der Mühseligen und Beladenen verkündet, wie das in solcher Feinheit und Vollkommenheit gewiss nie mehr geschehen ist. Die Volker, die im Mittelalter auf den ersten Plan der Geschichte treten, laufen allerdings dieselben Entwicklungsstufen wie die Völker der Antike durch und ihre bodenständige Sittlichkeit ist demgemäß zunächst die gewöhnliche heroische. Aber die Kirche übernimmt von den Evangelien die Sittlichkeit des wirtschaftlichen Erwerbes. Was die Kirche an Sittlichkeit lehrt und das meiste von dem, was sie schon im Mittelalter als Sittlichkeit übt, ist in der Hauptsache so wirtschaftlich angefasst, als es die Zeiten erlaubten, und es treibt einen mächtigen Keil in die durchwegs unwirtschaftliche Sittlichkeit der herrschenden mittelalterlichen Gesellschaftsschichten. Es handelt sich hier allerdings nicht etwa bloß um die Sittlichkeit, die sich unmittelbar an die Tatsachen des wirtschaftlichen oder unwirtschaftlichen Erwerbes ansetzt. Denn die Gesellschaft ist ein einziger großer Zusammenhang, und nichts kann auf einem Punkte geschehen, was sich nicht in den Wirkungen und Rückwirkungen über ihren ganzen Körper verbreiten würde. Die ganze Masse der gesellschaftlichen Sittlichkeit passt sich notwendigerweise den Tatsachen an, auf denen das Erwerbsleben beruht. Der antike Held, der mit so großartiger Geste sein Leben für das Vaterland opferte, dachte dabei gewiss nicht an unwirtschaftlichen Erwerb durch Beute: um sein Tun ganz zu begreifen, muss man aber bedenken, dass sein ganzes Gefühlsleben durch die Bilder der Grausamkeiten, des schmachvollen Todes, der Versklavung erfüllt war, die durch zahllose Geschlechterfolgen das

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Schicksal der Besiegten waren. Die christliche Sittlichkeit wiederum beschränkt sich keineswegs darauf, Ehrlichkeit in Handel und Wandel zu predigen. Sie fordert Liebe, Hingebung, werktätige Hilfe. Aber es ist doch eine Sittlichkeit, wie sie nur die gesellschaftlichen Schichten ausbilden können, die auf wirtschaftliche Arbeit angewiesen waren, und von den Klassen, die sich auf dem unwirtschaftlichen Erwerb gründeten, nichts erwarten konnten, als die Bedrückung: es waren die niedrig Geborenen, die Armen und die Sklaven, an die sich die christliche Lehre zuerst wandte und wo sie Aufnahme fand. So durchdringt die von den Tatsachen des Erwerbs ausgehende Sittlichkeit das ganze gesellschaftliche Leben.

n. Unsere heutigen Gedanken und Gefühle sind stets nur der vorläufige Abschluss unendlicher Entwicklungsreihen. Vor Jahrtausenden hat die Aussicht auf die Erbeutung einer Schafherde genügenden Anlass zu blutigen Kriegen gegeben, im 19. Jahrhundert gelang es dagegen den Staatsmännern mehrmals, sich über den Besitz von Weltteilen friedlich auseinanderzusetzen. Das Christentum - anfänglich das Bekenntnis der Armen und Elenden - ist zum Glauben der Herrschenden aller gesitteten Völker geworden. So groß aber der Abgrund zwischen dem Einst und Jetzt scheinen mag, wir haben auch in der Gegenwart nicht einen Gedanken, nicht ein einziges Gefühl, das nicht mit seiner Wurzel in die ältesten Urzustände zurückreichen würde. So ist auch die Sittlichkeit unserer Zeit aus zwei historisch ganz verschieden eingelagerten Bestandteilen zusammengesetzt. Aus der Sittlichkeit des unwirtschaftlichen Erwerbs ist das Heroische in unserer Sittlichkeit entsprungen; die hohe Wertung des Mutes, der Tapferkeit, der Entschlossenheit, des Ruhmes, der Gabe, andere Menschen nach seinem Willen zu lenken, sie als Mittel zum Zwecke zu gebrauchen, die Geringschätzung der Arbeit, zumal der Handarbeit; sie hat in den letzten Jahrzehnten bei einem - nicht von mir - hochgeschätzten Philosophen den beredtesten Ausdruck gefunden. Die wirtschaftliche Sittlichkeit strebt die nützliche Betätigung für andere an: sie führt vom Christentum zu den englischen Utilitariern, deren Ideal, nach dem Benthamschen Worte, das größte Glück für die größte Zahl ist. Werturteile lassen sich nicht beweisen, sie wurzeln in religiösen und metaphysischen Anschauungen, über deren Wahrheit die Wissenschaft nicht entscheiden kann. Von den metaphysischen Grundlagen der Sittlichkeit, von denen auch ich überzeugt bin, soll daher hier nicht die Rede sein. Wenn Nietzsche die unwirtschaftliche Sittlichkeit als Herrenmoral preist und die wirtschaftliche, zumal die christliche, als Sklavenmoral schmäht, so ist mit ihm darüber nicht zu rechten. Aber die Wissenschaft zeigt uns, dass von den beiden Sittlichkeiten die des wirtschaftlichen Erwerbes zweifellos die lebensfähigere ist, denn sie hat die andere wenigstens aus dem bürgerlichen Leben fast restlos verdrängt: Menschen, die sich ihrer Gewalttätigkeit oder eines Betruges nach Art der antiken Helden rühmen, kommen allerdings noch vor, aber doch nur ganz ausnahmsweise. Sie gelten als 12 Ehrlich

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verkommen, deklassiert und werden im Allgemeinen verachtet. Die Sitte des Zweikampfes, die milde Beurteilung der Verführung von Frauen, die übrigens nicht in allen Fällen eintritt, dürfen als bloße Überbleibsel betrachtet werden. Vielleicht darf man sogar die Behauptung wagen, dass Nietzsche selbst, solange er noch geistig gesund war, es nicht ruhig hingenommen hätte, wenn man ihn einer Handlung beschuldigte, die nach der Herrenmoral, zu der sich seine Helden ruhig bekannten, durchaus gerechtfertigt gewesen wäre. Nur im Verhältnis der Staaten untereinander hat die unwirtschaftliche Sittlichkeit bisher Oberhand behalten. Ein Verhalten, wie es im bürgerlichen Leben unbedingt verurteilt wäre, gilt hier oft genug als geradezu sittlich geboten, und ein an die bürgerliche Sittlichkeit sich anschließendes Vorgehen wird nicht selten als unverzeihliche Naivität gebrandmarkt; der Krieg aber, heute noch als Rechtseinrichtung anerkannt, dient nicht dazu, um Machtfragen in Rechtsfragen aufzulösen, sondern um Rechtsfragen durch die Macht entscheiden zu lassen. Soll das bedeuten, dass der Staat für alle Zeiten von der wirtschaftlichen Sittlichkeit unberührt bleiben wird? Oder zeugt es nur davon, dass die Entwicklung der bürgerlichen Sittlichkeit bis zu diesem Augenblicke dem Staat, als dem locus maximae resistentiae , ausgewichen ist, nach einer Gelegenheit suchend, um auch dahin sich auszubreiten? Die Imperialisten sowie die Kriegsbegeisterten aller Art sind selbstverständlich der ersten Ansicht: die wirtschaftliche Sittlichkeit sei den Menschen ausschließlich durch die Macht des Staates aufgezwungen, der Staat, der keine Macht über sich anerkenne, sei durch sie nicht gebunden. Aber es ist vor allem nicht richtig, dass die wirtschaftliche Sittlichkeit vom Staate festgesetzt ist: sie wurde, wenn man von ihren metaphysischen Grundlagen absieht, von der Gesellschaft erzeugt, wird zum größten Teil, wie ich in meiner Grundlegung der Soziologie des Rechts dargelegt habe, von der Gesellschaft mit rein gesellschaftlichen Mitteln aufrechterhalten und reicht viel weiter, als die staatlichen Zwangsmittel reichen. Die wirtschaftliche Sittlichkeit entsteht in der Gesellschaft, sobald die Menschen einsehen, dass es ihnen besser geht, wenn sie ein gewisses Maß davon beobachten, vor allem aus dem Grunde, weil beim wirtschaftlichen Erwerbe beide Teile nützliche Güter erzeugen müssen, um sie für den Austausch bereit zu halten, während beim Überwiegen des unwirtschaftlichen Erwerbes nur ein Teil Güter schafft, während der andere den Ertrag fremder Arbeit verprasst: beim ersten macht die allgemeine Arbeit die Gesellschaft reicher, beim zweiten bleibt sie stets in der ursprünglichen Armut stecken. Schon im Altertum sind die phönikischen und griechischen Seeräuber Kaufleute geworden, als sie bemerkten, dass ihnen der Handel mit Fremden mehr einträgt als der Raub: denn handeln kann man mit den Fremden zweimal, zehnmal, hundertmal, berauben kann man sie aber nur einmal. Dazu kommen die ungeheueren Opfer an Gut und Blut, die das Abjagen der Beute erfordert, die Kosten des Arbeitszwanges, der Aufsicht und der Eintreibung. Und schließlich beginnt man auch die Überlegenheit der freiwilligen Arbeit zu erkennen. So viel als der Mensch freiwillig leistet, kann man ihm unmöglich abpressen; so viel als er freiwillig auf den

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Markt bringt, kann man ihm mit allen Machtmitteln nicht abnehmen. Diese alte Weisheit wurde jetzt, während des Weltkrieges, aufs neue erprobt. Der unbefangene Betrachter des Ganges der Geschichte wird sich vor dem Pessimismus ebenso ängstlich hüten, wie vor unzeitigem Optimismus. An unserer Ungeduld gemessen, ist die Entwicklung der Menschheit unendlich langsam; aber es wäre ein Fehler, wollte man sie deswegen bestreiten. In bezug auf die Sittlichkeit geht die Entwicklung offenbar von der heroischen zur wirtschaftlichen, deren Wert immer besser erkannt wird. Das zeigt sich schon räumlich darin, dass das Gebiet des unwirtschaftlichen Erwerbes im Laufe der Zeiten immer mehr verengt wird. Im Altertum ist der Fremde, der keinerlei Anspruch auf Schonung des Lebens, der Freiheit und des Besitzes hat, jeder außerhalb der Sippe, des Sippenbündnisses und des Volkes Stehende, soweit ihn nicht die Sitte oder die ausdrückliche Vereinbarung der Gastfreundschaft schützt; noch Plato und Aristoteles verneinen die sittliche Verpflichtung im Verhältnis der Griechen zu den Barbaren, der erste allerdings bedauernd, der zweite als etwas Selbstverständliches. Im Mittelalter erweitert sich der Kreis der Rechtsgenossen unter dem Einflüsse der Kirche auf die ganze Christenheit und nach den Lehren Mohammeds auf alle Moslems, Christen und Juden. Heute umfasst er bei den gesitteten Völkern Europas theoretisch die ganze Menschheit und nur in den Randländern der europäischen Gesittung und einigen der Kolonien sind die Farbigen davon ausgeschlossen, was in Europa ziemlich allgemein missbilligt wird. Der Erkenntnis von dem Nutzen der wirtschaftlichen Sittlichkeit hat sich aber auch der Staat nicht ganz zu entziehen vermocht. Ebenso wie der Kreis der Rechtsgenossen immer weiter gezogen wird, so wächst auch der Raum, aus dem der Krieg durch den Staat ausgeschaltet wird. Im Altertum und im Mittelalter waren nur die kleinen Stadtstaaten einigermaßen befriedet: und auch hier waren blutige Kämpfe zwischen den Parteien, jahrelange mörderische Fehden zwischen den Sippen häufig genug. Aber in der Gegenwart stiftet der Staat wenigstens zwischen seinen Grenzen unbedingt Frieden. Oder hält jemand einen Krieg, wie den zwischen der Landgrafschaft von Thüringen und der Markgrafschaft von Meißen einerseits, den Grafschaften von Weimar und Schwarzburg (Grafenkrieg) heute noch für möglich? Aber auch das Verhältnis der Staaten untereinander passt sich zu Friedenszeiten der wirtschaftlichen Sittlichkeit in immer steigendem Maße an. Die Politik und insbesondere die Diplomatie arbeitet von Jahrhundert zu Jahrhundert mit milderen Mitteln, immer sichtbarer wird das Bestreben der Staatsmänner, den anderen Staaten die Vorteile nicht durch Gewaltmittel abzuringen, sondern gegen ihrerseits gewährte Vorteile einzutauschen. Und was den Krieg betrifft, so erinnere man sich nur der unaufhörlichen Bemühungen, die Schuld an dem jetzigen Weltkrieg auf den Gegner abzuwälzen. Es kommt darauf gar nicht an, was daran Wahrheit und was Heuchelei ist, denn auch die Heuchelei ist eine Verbeugung vor der Tugend. Ludwig XIV. und Friedrich II. haben es nicht für notwendig gehalten, zu beteuern, dass sie den Krieg nicht gewollt haben, denn zu ihrer Zeit hat es zweifellos noch nicht als sittlich verwerflich gegolten, einen Krieg zu veranlassen. Wenn es heute anders ist, so liegt darin der Beweis, dass die wirtschaftliche Sittlichkeit seither auch auf diesem Gebiete Boden ge12*

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winnt, allerdings viel später als im bürgerlichen Leben: aber schließlich ganz verdrängt hat die wirtschaftliche Sittlichkeit auch hier die unwirtschaftliche bis auf den heutigen Tag nicht. Es handelt sich hier und dort nur um eine Entwicklung, nicht um einen bereits erreichten Zustand. Der Jammer des gegenwärtigen Krieges ist ein so dankbarer Anlaß für Gefühlsausschüttungen, dass selbst Imperialisten und andere Kriegshetzer nur selten versäumen, darüber ihre Krokodilstränen zu vergießen. Ich werde mich dabei nicht aufhalten, denn ich würde fürchten, in schlechte Gesellschaft zu geraten. Deswegen werde ich nur eines hervorheben, was jedenfalls geeignet ist, die Überlegenheit der wirtschaftlichen Sittlichkeit darzutun. Es ist nämlich vor allem nicht wahr, dass die Volker aus Handelsneid miteinander Kriege führen mussten. Ein reicher Nachbar ist für jedes Land viel wertvoller als ein armer, denn er ist zweifellos ein besserer Abnehmer seiner Erzeugnisse und ein besserer Lieferer seiner Bedarfsgegenstände. Selbst wenn England von Deutschland aus einem Teile seiner Absatzgebiete verdrängt wäre - Justus hat übrigens nachgewiesen, dass das gar nicht der Fall war - , so hätte England noch immer Ersatz an dem gesteigerten Reichtum Deutschlands, das ihm vielleicht andere, aber gewiss nicht minder wichtige Waren abkauft oder verkauft als China. Wir überschätzen aber überhaupt seit jeher, rein kaufmännisch zu denken gewohnt, ungeheuer den Wert der Absatzgebiete. Die Volker werden reich - wenigstens darüber hätte der Krieg jedermann aufklären sollen - durch das, was sie einführen, nicht durch das, was sie ausführen: wenn die Mittelmächte schlechter daran sind als die Entente, so liegt es nicht daran, dass ihnen die Ausfuhr, sondern weil ihnen die Einfuhr fehlt. Gewiss müssen wir auch die Ausfuhr haben, aber doch nur, weil wir damit die Einfuhr bezahlen. So viel Geld - und Geld bedeutet im internationalen Verkehre Gold - hat kein Reich der Welt, um damit den Kaufpreis für die ganze Einfuhr zu berichtigen. Der Kaufmann, der seine Ware ins Ausland verkauft, bekommt dafür regelmäßig Devisen, in Gold zahlbare Wechsel, die er an der Börse verkauft, um dafür einheimisches Geld zu bekommen. Hat ein Kaufmann dagegen Ware im Ausland gekauft, so muss er gewöhnlich an der Börse Devisen kaufen, um sie anstatt Geld ins Ausland zu schicken: er zahlt also die Ware, die er im Ausland kauft, mit der Ware, die ein anderer im Ausland verkauft hat. Es handelt sich daher immer nur darum, unseren Bedarf an Waren im Ausland zu decken, und erst in zweiter Linie darum, Waren auszuführen, um den Kaufpreis dafür zu beschaffen. Vor dem Kriege waren die Warenvorräte der Welt so ungeheuer groß, dass die Einfuhr in der Regel gar keine Sorge machte, wenn nur die einheimischen Waren im Auslande Abnehmer fanden, so dass man sie mit dem dafür erhaltenen Kaufpreise bezahlen konnte. Daher war immer nur von der Ausfuhr die Rede. Jetzt sind alle Volker, wenigstens Europas, durch den bereits vierjährigen Krieg, den sie den Imperialisten der am Kriege beteiligten Völker verdanken, so verarmt, dass die Frage, woher die notwendigen Waren einzuführen, nunmehr im Vordergrund steht. Die stärkste Drohung der Entente gegen die Mittelmächte ist nicht der Verlust der Absatzgebiete, sondern das Abschneiden der Ein-

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fuhr der Rohstoffe und der Gegenstände des unmittelbaren Bedarfes nach dem Kriege: und wie leicht haben wir uns diese vor dem Kriege, ohne jede Ausdehnung des Reiches, im freien Handel verschaffen können. Allerdings trösten uns die Imperialisten durch Aussichten auf irgendwelche Erzbecken und Kohlenwerke, die wir im Friedensvertrage erhalten werden. Aber ich glaube, dass ein Millionstel dessen, was wir im Kriege an Gut eingebüßt haben - um von Blut gar nicht zu sprechen - , genügen würde, um im freien Verkehr den ganzen Ertrag der genannten Kohlenwerke und Erzbecken einzukaufen. So hätte sich auch hier die wirtschaftliche Sittlichkeit bewährt, wenn uns der Friede erhalten worden wäre. So hat die wirtschaftliche Sittlichkeit, ganz abgesehen von ihren etwaigen metaphysischen und religiösen Grundlagen, durch die, allerdings größtenteils unter der Bewusstseinsschwelle wachsende, Erkenntnis der ungeheuren Vorteile, die sie der Menschheit bietet, die heroische Sittlichkeit im bürgerlichen Leben fast ganz überwunden und ihr auch im Verkehre der Staaten untereinander viel Boden abgewonnen. Die Hoffnung ist berechtigt, dass die Entwicklung in dieser Richtung nach dem Weltkriege weiter fortschreiten wird, bis der Krieg bei den gesitteten Völkern zwar nicht abgeschafft, wohl aber ebenso erloschen sein wird, wie es heute schon die Blutrache und die Fehde ist. Das schöne Buch von Fried: Panamerika, zeigt, wie weit die Friedensbewahrung jetzt schon jenseits des Atlantischen Ozeans gediehen ist. Vielleicht findet diese Kunde manchen Ungläubigen, angesichts der Wilsonschen Kriegserklärung, über die kaum jemand unter uns ein unbefangenes Urteil hat. Demgegenüber sei aber darauf hingewiesen, dass die Vereinigten Staaten bisher trotz vieler Herausforderungen eine Kriegserklärung gegen Mexiko unterlassen haben: obwohl es sich um einen schwachen, armseligen, rückständigen Indianerstaat handelt, der sie durch die unermesslichen Bodenschätze, die er birgt, sehr wohl locken könnte. Amerika hat es allerdings besser als wir, denn es hat viel weniger tausendjährigen Schutt abzuräumen; aber die Entwicklung geht auch in unserem Weltteil in derselben Richtung: von der heroischen Sittlichkeit zur wirtschaftlichen.

3. Von der Zukunft des Volkerbundes* Es war eigentlich ein sehr wenig begründeter Optimismus, von den Pariser Verhandlungen zu erwarten, dass aus ihnen unmittelbar und mit einem Schlage der Völkerbund hervorgehen werde, der den großen Traum der modernen Menschheit verwirklicht. Die Männer, die jetzt in Paris daran herumbasteln, sind dieselben, die in den im Kriege befangenen Staaten meistens in der Zeit schlimmsten Kampfgewühles in leitende Stellungen berufen worden sind, und diese sind schon ihrer ursprünglichen Anlage nach kaum besonders dafür geeignet, um das Werk vorzubereiten, das uns an die Schwelle der neuen Gesittung bringen soll; in den viereinhalb Kriegsjahren, in denen sie alles Gift des Krieges eingesogen hatten, sind sie auch schwerlich in die richtige Stimmung für eine solche Arbeit gekommen. Glücklicherweise ist der Gang der Geschichte von den Absichten der Menschen, die Geschichte machen, ganz unabhängig: das Stück, das aus ihrer Werkstätte herauskommt, wird sofort von den großen elementaren Kräften der Gesellschaft ergriffen und nach ihrem Sinne gestaltet. Wer über die künftige Entwicklung des Völkerbundes Auskunft erhalten will, muss daher die gesellschaftlichen Kräfte ins Auge fassen, die ihn bestimmen werden: sie werden ihm gewiss mehr darüber zu sagen haben, als die Protokolle und Entwürfe der Friedenskonferenzen. Allerdings ist es auch notwendig, sich ganz von den Gedanken zu befreien, die die Pazifisten vor dem Kriege beherrschten und die von ihnen auch während des Krieges fortgesponnen worden sind. Die Menschheit, die aus dem Kriege herauskommt, ist gewiss nicht mehr in derselben Geistesverfassung, in der sie in den Krieg getreten war, und auch die Weltlage hat sich seither ein wenig verschoben. Die Verfechter des Völkerbundsgedankens werden jetzt ganz andere Elemente in ihre Rechnung einstellen müssen. Noch vor zwei Jahren durfte man immerhin voraussetzen, dass nach dem Kriege Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland, wenn auch besiegt, so doch ungebrochen dastehen würden. In dem Völkerbunde, in dem neben den jetzigen Siegern auch diese Staaten eine mächtige Stellung hätten, würden die kleinern und Kleinstaaten bedeutend ins Gewicht fallen, da sie jederzeit bei der einen oder der andern Mächtegruppe, wie sie, trotz des Sonderbündnisverbots, zweifellos mit der Zeit aufkommen würden, für ihre Ansprüche Unterstützung finden und ihrerseits Unterstützung gewähren könnten. Deswegen wurde auch der Gedanke einer vollständigen Ausschaltung künftiger Kriege bis vor kurzem nicht ernstlich erwogen. Bei dem Bestände so vieler militärisch einigermaßen gerüsteter und militärisch bündnisfähiger Staaten schien es unmöglich, den * Die Friedens-Warte. Blätter für zwischenstaatliche Organisation, Bd. XXI 1 (Zürich 1919), S. 89-93.

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Krieg, wenn er von den einen oder den andern gewollt wurde, zu verhindern: aller Scharfsinn war darauf gerichtet, wie man seinem Ausbruch vorbeugen könnte. Die vollständige Vernichtung der militärischen Machtmittel Deutschlands, Österreichs und Russlands hat vor allem zur Folge, dass die Stellung des britischen Weltreichs und der Vereinigten Staaten, schon vorher beherrschend, jetzt wohl für alle Zeiten militärisch und diplomatisch unangreifbar geworden ist. Es genügt nicht, darauf hinzuweisen, dass das britische Reich, das schon vor dem Kriege ein Viertel der aus dem Ozean herausragenden Erdoberfläche und ein Viertel der Menschheit umfasste, jetzt, infolge des Kriegs, zusammen mit den Vereinigten Staaten in beiden Richtungen auf über ein Drittel angewachsen sein dürfte. Man muss hinzufügen, dass in den Grenzen der beiden Reiche, mit Ausnahme von Südamerika, fast alle Erdstriche liegen, die noch für eine Besiedlung durch Weiße Raum haben und klimatisch dafür geeignet sind, und dass mit Ausnahme von China, Japan und Südamerika fast alle Gebiete, in denen nach Klima und Bodenbeschaffenheit eine höhere Gesittung möglich ist, dazu gehören. Die voraussichtlich sehr große künftige europäische Auswanderung wird sich daher ganz überwiegend nach diesen Gegenden richten, wird ihre Bevölkerung und ihren Reichtum mehren, und damit die Machtmittel des Staates steigern. Dazu kommt aber, dass sie durch den Krieg verhältnismäßig wenig gelitten, zum Teil wohl auch gewonnen haben: denn ihre Blutverluste waren geringer als die andrer Kriegbeteiligten, von allen Verwüstungen blieben sie verschont, ihre Landwirtschaft dürfte sich ausgedehnt haben, ihr Handel hat neue Beziehungen angeknüpft dort, wo der europäische die seinigen abbrechen oder unterbrechen musste, und ihr Kapital ist im wesentlichen unversehrt geblieben. Noch bedeutender fällt es ins Gewicht, dass sie jetzt in den Besitz der reichsten Rohstoffquellen der Welt gekommen sind und durch ihre Handelsflotten alle Meere beherrschen, wie auch die Frage der Freiheit des Meeres gelöst werden mag. Das alles wird aber an Bedeutung weitaus durch die Tatsache überragt, dass das britische Weltreich und die Vereinigten Staaten viel einheitlicher und gefestigter aus dem Kriege hervorgehen, als sie je zuvor gewesen sind. Denn der Krieg hat bewiesen - was man früher bezweifelt hat - , dass die britischen selbstverwaltenden Kolonien, obwohl staatsrechtlich nur sehr lose mit dem Mutterlande verbunden und nicht einmal zur militärischen Hilfeleistung verpflichtet, entschlossen sind, in allen Welthändeln einig mit dem Mutterlande vorzugehen, und dass die Vereinigten Staaten die seit der Unabhängigkeitserklärung gelösten Bande mit dem Mutterlande wieder enger zu knüpfen gesonnen sind. Wir werden es daher in Zukunft mit einer Bevölkerung zu tun haben, die nach vielen Richtungen national einheitlich fühlen wird, und werden mit den Folgen politisch zu rechnen haben. Das Volk der Vereinigten Staaten und der britischen Siedlungen ist zwar der Abkunft nach recht bunt gemischt, aber den kindischen Gedanken, dass die Rasse die Nation mache, wird man wohl in Zukunft aufgeben müssen: die Gemeinsamkeit der Sprache, Sitte, Literatur, Wissenschaft, des Rechts (common law), der ganzen Weltanschauung einer Reihe von staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen (,Klubwe-

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sen!') haben längst ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt, das jetzt schon als ein nationales bezeichnet werden kann, und dieser so geschaffnen Umwelt wird jede Einwanderung im zweiten oder spätestens dritten Geschlecht vollständig angeglichen. Wohl widerstreben noch die afrikanischen Holländer zum großen Teile der Vereinheitlichung, aber sie werden, angesichts der starken englischen oder anglisierten Einwanderung auf die Länge kaum Stand halten können, zumal sich auch die anderweiten Einwanderer durchwegs nicht ihnen, sondern den Engländern anschließen. Bei so vielen, zur nationalen Verschmelzung hindrängenden Strebungen würde schon ein starkes Maß von Ungeschicklichkeit dazu gehören, die nach dem bisherigen Gange ihrer Politik gewiss nicht zu vermuten ist, damit diese beiden Staaten sich über die Grundzüge ihrer Politik nicht einigen, ihre Ziele in Zukunft nicht miteinander, sondern gegeneinander verfolgten sollten. Wir dürfen daher wohl von der Annahme ausgehen, dass die beiden Staaten, zwischen denen keine Interessengegensätze bestehen, die nicht bei einigem guten Willen geschlichtet werden könnten, und die sich der nahen Verwandtschaft ihrer Gesittung sehr wohl bewusst sind, in allen entscheidenden Fragen der Weltpolitik gemeinsam vorgehen, einen einheitlichen politischen Körper bilden werden. Dieser mächtigen Staatenverbindung steht das Europa gegenüber, wie es aus dem Kriege hervorgegangen ist. Es nützt nichts, zwischen Siegern und Besiegten zu unterscheiden, da sie beide gleichmäßig in den Abgrund hineingerissen worden sind. Die alte Weltstellung Europas dürfte unwiederbringlich verloren sein. Gewiss wird in absehbarer Zeit kein einziger europäischer Staat und auch keine Staatenverbindung imstande sein, sich der zusammengeschlossenen Macht der beiden Weltreiche entgegenzusetzen, selbst nicht im Vereine mit Japan, dem letzten überlebenden Schreckgespenst unserer Militaristen. Es ist daher fast gleichgültig, wie die Verfassung des Völkerbundes für den Augenblick ausfallen wird. Wenn England und Amerika sich darauf einigen würden, könnten sie auf den Völkerbund überhaupt verzichten und, wie einst der römische Senat zur Zeit der höchsten Machtentfaltung des römischen Freistaates die Entscheidung der Händel, auch zwischen den dem Namen nach unabhängigen Staaten, in ihre eigene Hand nehmen. Das wären dann allerdings Entscheidungen politischer Körperschaften, daher ihrem Wesen nach Machtsprüche, nicht Entscheidungen nach den Grundsätzen des Rechts und der Billigkeit. Ein solches Vorgehen ist jedoch aus dem Grunde untunlich, weil es sich diesmal nicht, wie im Altertum, um einen Staat, sondern um zwei Staaten handelt, mit einigen bereits vorhandenen und vielen möglichen Interessengegensätzen, und weil Gegensätze auch zwischen England und seinen Kolonien bereits bestehen und andere aufkommen können: es wird daher den beiden Weltmächten in vielen Fällen durchaus willkommen sein, die Entscheidung auf eine von ihnen unabhängige Veranstaltung, wie den Völkerbund, abzuschieben. Aber unmöglich wird der Völkerbund mehr das werden können, was er nach den ursprünglichen Entwürfen hätte sein sollen: ein Verband gleichberechtigter und gleichwertiger Staaten. Das Übergewicht des britischen Reichs und der Vereinigten Staaten wird darin so groß sein, dass es unbedingt praktisch zur Geltung kommen muss. Der Völkerbund wird also in der Hauptsache ein Organ dieser beiden Mächte sein.

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Es kommt jetzt nur noch darauf an, in welchem Geiste England und Amerika ihren entscheidenden Einfluss im Völkerbunde ausüben werden. Wollte man nach dem, was sich seit dem Waffenstillstand mit Deutschland ereignet hat, urteilen, so könnte man leicht sehr Schlimmes voraussagen: aber das wäre ungerechtfertigt. Der Krieg, der immer ein Rückfall in der Urväter Barbarei ist, hat überall längst in die Tiefe versunkene Strömungen ans Oberwasser gebracht, und einige Zeit wird es zweifellos dabei bleiben, aber gewiss nicht in alle Ewigkeit: nicht das steht in Frage, was in den nächsten Monaten oder Jahren geschehen wird, sondern wie sich der Völkerbund als bleibende Veranstaltung in Zukunft entwickeln soll. Wird das britische Reich und werden die Vereinigten Staaten die Macht, die sie im Völkerbunde haben, benützen, um sie im Sinne der hergebrachten Machtpolitik zu missbrauchen? Oder werden sie darin eine Gemeinschaftspolitik treiben, eine Politik, die auf dem Bewusstsein der Gemeinschaft der Interessen aller gesitteten Volker beruht? Es handelt sich nicht darum, von England und Amerika Erbarmen für das gemarterte Europa zu erflehen, das sich lange genug, nicht bloß in den Mittelmächten, und schon vor dem Kriege, willenlos unter der Herrschaft toll gewordener Generäle wand. Aber man darf von ihnen wohl erwarten, dass sie dem Gesetz ihrer eignen Entwicklung folgen werden. Sie haben in allen ihren Erklärungen während des Krieges ihre Demokratie der Autokratie der Mittelmächte entgegengesetzt, und damit die Demokratie nicht bloß als Grundsatz der innern, sondern auch der äußern Politik anerkannt. Eine Demokratie, die fremde Völker als Autokratie beherrschen wollte, würde sich damit mit sich selbst in denselben Widerspruch setzen, an dem schon die antiken Demokratien zugrunde gegangen sind. Man hat die Demokratie als den Versuch bezeichnet, den Staat in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung zu regieren. Sie ist jedoch mehr als das. Sie ist das Bestreben, den Staat nicht zum Vorteil eines Standes oder einer Klasse mit Gewaltmaßregeln, sondern durch gesellschaftliche Kräfte für die Gesellschaft zu regieren. Nur zu oft haben es bisher die Staatsmänner und Politiker übersehen, dass es in der Gesellschaft außer gefügigen Staatsanwälten, gefälligen Richtern und dienstbeflissenen Gendarmen noch Kräfte gibt, denen schon bisher kein Staat auf die Länge widerstehen konnte. Der einstige Professor an der Princeton-Universität und jetzige Präsident der Vereinigten Staaten hat in seinem Buche über den Staat überzeugend ausgeführt, dass die Demokratie sich stets mächtiger erwiesen hat als die Autokratie. Das ist eine tiefe und einleuchtende Wahrheit: denn während die Autokratie ihre Kräfte größtenteils im Kampfe gegen die Gesellschaft vergeudet, werden in der Demokratie die Kräfte der Gesellschaft vom Staate verwertet. Das musste selbst der geschickteste aller Machtpolitiker, Bismarck, erfahren, der sein Leben lang an nichts anderes glaubte als an die großen Bataillone nach außen und nach innen, an staatliche Zwangsmaßregeln, und der schließlich überall an den Widerständen gesellschaftlicher Kräfte gescheitert ist: er nahm es im Kulturkampf mit den religiösen Kräften der Kirche auf und machte das Zentrum zur mächtigsten Partei des Reiches; er ging mit dem Sozialistengesetze gegen die sozialen Kräfte

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des Arbeiterstandes los und hat damit die deutsche Sozialdemokratie zur stärksten der Welt großgezogen; er versuchte in Elsass-Lothringen, in Nordschleswig, in Posen die nationalen Kräfte durch rücksichtslose Verfolgung zu brechen und streute damit die Saat der Feindschaften aus, an denen Deutschland im Weltkriege schließlich niedergebrochen ist. Die gewaltige Stoßkraft des Staates mag zeitweilig große augenblickliche Erfolge erringen, aber im beharrlichen Kampfe sind ihr die gesellschaftlichen Kräfte überlegen, denn sie sind elementare, stetig wirkende Kräfte. Diese gesellschaftlichen Kräfte sind moralische Kräfte: es sind die großen organisatorischen Kräfte der Religion, der Nationalität, der sozialen Gerechtigkeit, der Kunst, der Wissenschaft, die heutzutage tief in der öffentlichen Meinung verankert sind. Die Autokratie muss ihnen oft genug entgegentreten, weil sie die Kreise der im Staate herrschenden Klassen wirklich oder vermeintlich stören; die Demokratie kann sie in den Dienst des Staates stellen, weil in ihr, je mehr sie sich entwickelt, der Staat allmählich aus einem bloßen Werkzeug der herrschenden Klassen zu einem Organ der Gesellschaft wird. Diesen Sinn hat es, wenn man sagt, die Demokratie sei ein Versuch, den Staat im Einklang mit der öffentlichen Meinung zu regieren, denn die öffentliche Meinung ist ein sich immer vervollkommnender Ausdruck der Gesellschaft. Aber die Gesellschaft und die öffentliche Meinung, die sie ausspricht, ist heutzutage nicht auf einen Staat beschränkt: die moderne Gesellschaft, das hat sich schon vor dem Kriege mehrmals und noch eindringlicher während des Krieges gezeigt, das ist in immer steigendem Maße die gesittete Menschheit. Tausend unsichtbare Fäden verknüpfen die Religionen, die Nationalitäten, die arbeitenden Klassen, die Wirtschaft, die Kunst, die Wissenschaft, über die Staatsgrenzen hinweg zu einer Einheit. Wenn England und Amerika, genauer gesprochen: ihre Regierungen, die Leitung der Geschicke der ganzen gesitteten Menschheit zufällt, so werden sie der ganzen menschlichen Gesellschaft nicht anders gegenüberstehen wie sonst die Regierung eines einzelnen Staates der Gesellschaft ihres Volkes: entweder, an der hergebrachten Machtpolitik festhaltend, als Autokratie, die sich im Kampfe mit der Gesellschaft verblutet, oder als moderne Demokratie, die ihre Stütze in der öffentlichen Meinung der ganzen Menschheit sucht. Im ersten Falle werden sie auf ihrem Wege alle die Schwierigkeiten wiederfinden, denen bisher auch die stärksten und rücksichtslosesten Autokratien unterlegen sind, und wohl in erhöhtem Maße, denn es werden sich gegen sie nicht bloß die Gesellschaften der unterdrückten, wenn auch dem Namen nach unabhängigen Staaten aufbäumen, sondern es werden auch Widerstände entstehen in ihrem eigenen Schöße, da der moderne Mensch die Vergewaltigung eines fremden Volkes immer schlechter verträgt. Werden sie aber als eine vom Bewußtsein der Gemeinschaft der Interessen aller gesitteten Volker erfüllte Demokratie die Welt zu regieren suchen, dann werden ihnen dafür die moralischen Kräfte der ganzen Menschheit zur Verfügung stehen. Auf diesen zweiten Weg wird sie unaufhaltsam die Entwicklung drängen, vor allem schon deswegen, weil eine Fortsetzung der hergebrachten Machtpolitik für

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sie zwecklos wäre. Die äußeren Machtmittel, die sie jetzt schon, vermöge des Umfangs ihres Gebietes, ihrer Bevölkerungszahl, des Besitzes aller wichtigen Rohstoffquellen und der Herrschaft über die Meere haben, können sie unmöglich noch erheblich vermehren; aber es steht ihnen ein ungeheurer Machtzuwachs bevor, wenn sie die moralischen Kräfte der Welt in den Dienst einer Weltdemokratie stellen. Dass sie das tun werden, dürfen wir wohl von ihnen erwarten. Das Schicksal hat sie für absehbare Zeit vor die höchste Aufgabe gestellt, viel höher als sie je zuvor einem Volke zuteil geworden ist: vor die Aufgabe, die Ordnung der menschlichen Angelegenheiten auf dem ganzen Erdenrund durch ihren Willen zu bestimmen: Damit ist aber auch ihren Staatsmännern die größte Verantwortung auferlegt, viel größer als sie je zuvor ein Staatsmann zu tragen hatte. Ihre Völker können die Aufgabe nur erfüllen, wenn sich ihre Staatsmänner der ungeheuren Verantwortung für die ganze Zukunft der Menschheit bewusst bleiben, wenn sie ihre Macht, nach den Worten der Schrift, als ein anvertrautes Pfund betrachten, mit dem sie zum Heile aller Völker zu wuchern haben. Darauf beruht jedoch auch unsre ganze Hoffnung: denn ich wüsste nicht, worauf wir, nach dem Zusammenbruch Europas, noch zu hoffen hätten, als auf England und Amerika. Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, ist nicht mehr notwendig, als dass die Staatsmänner des britischen Reiches und der Vereinigten Staaten die anderen Staaten im Völkerbund als einen Staat betrachten, der nach denselben Grundsätzen zu regieren ist, nach denen die erleuchteten Staatsmänner der Demokratie ihren eigenen Staat regieren. Das steht allerdings im schroffsten Widerspruche mit allen Überlieferungen der hergebrachten Machtpolitik, denen zufolge ein Staat nur auf Kosten der andern Staaten groß werden kann, nur dadurch wächst, dass er andere Staaten zugrunde richtet. Aber diese Lehre hat vor den Errungenschaften des modernen Geistes keinen Bestand. Heute weiß jeder in Volkswirtschaft und Soziologie einigermaßen unterrichtete Mensch, dass der Wohlstand und die Gesittung der anderen Staaten ein Stück des Wohlstandes und der Gesittung der ganzen Welt ist, an denen sein eigner Staat gerade so teilnimmt, wie wenn sie sich in seinen eignen Grenzen entwickeln würden, dass ein reicher Nachbar seinen Staat viel besser mit den Bedarfsgegenständen versorgen kann, ein viel besserer Abnehmer aller von ihm für den Markt erzeugten Waren ist als ein Staat, der in Not und Elend verkommt, und dass nur ein Staat, der innerlich gedeiht, in Kunst, Wissenschaft, Technik und Sittlichkeit sein Scherflein zum Schatze der allgemeinen Gesittung beizutragen vermag. Die ganze Menschheit wird zusehends immer mehr zu einer Familie und wird auch immer mehr als eine Familie regiert werden müssen. Es handelt sich darum, dass England und Amerika im Weltbunde die Grundsätze ihrer inneren Politik befolgen. Wie das gemeint ist, darüber geben die Wandlungen der englischen Kolonialpolitik Auskunft. Seit England, durch den Abfall seiner amerikanischen Kolonien, über die Unergiebigkeit und Gefährlichkeit der dort im 18. Jahrhundert getriebenen Machtpolitik belehrt, den Vorschlägen des Lord Durham gemäß, zuerst Kanada, dann auch den andern Kolonien, schließlich, nach einem langen blutigen Kriege, auch den früheren Burenstaaten die Selbstverwal-

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tung gewährt hatte, sind diese selbständige Staaten geworden, von denen jeder eine selbstgewählte Volksvertretung, ein nur dieser verantwortliches Kabinett und besondere Gesetzgebung besitzt: ihr Zusammenhang mit dem Mutterlande besteht ausschließlich darin, dass der König den Gouverneur ernennt, dessen Einfluss nicht größer ist als der eines Monarchen in einem parlamentarisch regierten Staate. England übt die größte Zurückhaltung sogar in den Fällen, wo ihm die Kolonien, wie in den Einwanderungs- und Zollfragen, die größten Verlegenheiten bereiten; es kann selbst für seine eigenen Staatsangehörigen in Australien und Neuseeland nicht das Recht der freien Niederlassung durchsetzen. Es wird oft von Engländern bemerkt, dass die Lage Englands seinen Kolonien gegenüber ungünstiger ist als gegenüber unabhängigen Staaten, da ihm die Mittel der Kriegsdrohung und des diplomatischen Druckes selbstverständlich versagt sind. Das ist, an Stelle der veralteten Machtpolitik, eine auf dem Bewusstsein der Gemeinsamkeit der Interessen der Gesittung aufgebaute Politik. Und diese kann unmöglich bei den selbstverwaltenden Kolonien Halt machen. Schon in der nächsten Zeit muss überall die Erkenntnis reifen, dass die zufalligen Grenzen der Staaten den Zusammenhang der Menschheit nicht durchschneiden, und dass die Interessen der Gesittung über den ganzen Erdrund reichen. Bei der ungeheuren Weltverflechtung des britischen Reichs und der Vereinigten Staaten haben sie Interessen auf jedem Erdfleck, und es muss ihnen das Gedeihen und die ruhige Entwicklung jedes Landes erwünscht sein, ob es in ihrem Gebiete liegt oder außerhalb. Schon vor dem Kriege wurde es von den englischen Staatsmännern oft genug hervorgehoben, dass ein reiches Deutschland für England viel wertvoller ist als ein verarmtes, das ihm weder die Waren liefern könnte, die es braucht, noch ihm seine eigenen Waren abnehmen könnte. Das gilt aber nicht nur von Deutschland, sondern von der ganzen Welt, und nicht nur von wirtschaftlichen, sondern auch von geistigen und sittlichen Gütern. Es ist daher nicht bloß eine unbestimmte Hoffnung, sondern eine wohlbegründete Erwartung, dass England und die Vereinigten Staaten in Zukunft in wesentlichen Zügen vereint vorgehen und sich dabei durch den Willen ihrer einsichtsvollsten Staatsmänner, die Gefühle ihrer Völker und das bloße Gesetz ihrer innern Entwicklung auf die Bahnen einer Politik gedrängt sehen werden, die die allgemeinen Interessen der Menschheit wahrnimmt. Für eine solche Politik ist der Völkerbund das geeignete Organ. In dieser Vertretung der Interessen aller gesitteten Völker sind alle Interessen der Gesittung vertreten. Der Volkerbund wird das große Staatenparlament sein, in dem die Einrichtungen, die der Fortschritt der Menschheit fordert, beschlossen werden, und die beiden Weltmächte werden berufen sein, ihm ihren starken Arm zur Durchführung zu leihen. Das Schiedsgericht des Völkerbundes wird keine geringe Bedeutung haben, wie auch immer seine Zuständigkeit anfänglich beschränkt werden mag. Denn jede Rechtspflege hat die Aufgabe, Machtfragen in Rechtsfragen aufzulösen. Und dieser Gedanke hat eine ungeheure werbende Kraft. Wer die Entwicklung der Rechtspflege seit ihren Anfängen verfolgt hat - und ich glaube, es getan zu haben - , der weiß, dass die Gerichte, sobald

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sie einmal entstanden sind, unausgesetzt wachsen und um sich greifen. Die ältesten Gerichte haben überall nur über einige der schlimmsten Missetaten zu urteilen: Mord, Raub, Diebstahl, körperliche Beschädigung, Menschenraub und Vergewaltigung; und wie schüchtern und zaghaft gingen sie dabei gegen die Mächtigen vor. Vergleicht man damit die Tätigkeit der heutigen Zivil- und Strafgerichte, und fügt man noch die der Verwaltungs- und Verfassungsgerichte, der Staatsgerichtshöfe hinzu, so bemerkt man wohl, dass die Rechtspflege seither einen gewaltigen Schritt nach vorwärts getan hat.

Anhang: Über das „lebende Recht"* Wenn Sie sich aus Wissbegier an einen Juristen wenden würden, um das rumänische Rechtssystem kennen zu lernen, würde dieser Ihnen eine große Anzahl von schönen, in Leder gebundenen Büchern zeigen, die eine große Anzahl von Rechtsvorschriften enthalten. Bei deren Studium aber werden sie ungefähr dieselben Dinge finden, die auch in den Gesetzbüchern der anderen europäischen Völker enthalten sind. Noch wichtiger dabei ist, dass das rumänische Zivil- oder Privatrecht nichts anderes ist als das französische Zivilrecht, mit einigen Änderungen. Dies aber ist ein erstaunliches Phänomen, besonders für die Kenner der modernen Strömungen der Rechtswissenschaft. Denn wie die seit einem Jahrhundert vorherrschende historische Schule behauptet, ist das Rechtswesen das Werk der jeweiligen Nation, der Ausdruck ihres Volksgeistes. Wie wird dann aber die Tatsache erklärt, dass das rumänische und das französische Rechtssystem in allen wesentlichen Punkten identisch sind? Man könnte glauben, dass sich das nationale Leben Rumäniens von dem nationalen Leben Frankreichs nur in jenen Kleinigkeiten unterscheidet, die den Unterschied zwischen dem rumänischen und dem französischen Zivilrecht ausmachen. Wenn Sie aber Kunst, Literatur, Musik, Politik und Geschichte beider Länder studieren, dann werden Sie viele bedeutende Unterschiede finden. Das erwähnte Phänomen bringt die Anhänger der historischen Schule um so mehr durcheinander, als es sich hierbei nicht um einen Einzelfall handelt. Denn nicht nur Rumänien hat das französische Zivilrecht übernommen, sondern auch Belgien, Holland, Spanien, Italien und Lusitanien. Ähnlich die mittelamerikanischen Staaten. Und vor kurzem wurde es auch in einigen Kantonen der Schweiz und in einem großen Teil Deutschlands eingeführt. Außerdem wurde es auch von fremden Volkern übernommen: das römische Recht war in einem großen Teil Europas bis ins 19. Jahrhundert Grundlage von dessen Rechtswesen; die „Grundfesten" in den romanischen Ländern der vergangenen Jahrhunderte; das deutsche Zivilgesetzbuch wird noch heute in Japan angewendet. Angesichts dieser Tastsachen stellt sich die Frage, was dann aus der Lehre von der „Nationalität des Rechtes" wird? Kann sich diese noch aufrechterhalten? Daran * Vortrag von Eugen Ehrlich in französischer Sprache im Süd-Ost Institut (Bukarest) vom 12. und 19. Dezember 1920. Der von Eugenia Sachelarie, einer Mitarbeiterin Nicolai Jorgas, ins Rumänische übersetzte Text wurde in Fortsetzungen in der von Jorga herausgegebenen Tageszeitung „Neamul Romänesc" vom 29.-31. Dezember 1920 und 1.-6. Januar 1921 veröffentlicht. Nachdruck von I. Filipescu in Revista Romänä de Sociologie 1997, S. 599-607. Übersetzung aus dem Rumänischen: lic. iur. Emil Salagean.

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habe ich keine Zweifel. Doch ist vor deren Weiterverwendung eine Erklärung notwendig. Wie ich in meiner Soziologie des Rechts gezeigt habe, ist das Gesetzbuch nichts anderes als ein Buch, das jene Regel enthält, die der Gerichtsentscheidung zur Grundlage dient (.Entscheidungsnorm ). Es ist die sekundäre, abgeleitete und späte Form des Rechts und enthält nur einen kleinen Teil desselben, nämlich jenen, der den Juristen interessiert und darum von diesem als „das Recht" angesehen wird. Wenn Sie das Prinzip der „Nationalität des Rechtes" feststellen wollen, so dürfen Sie sich nicht nur auf jene Regel der Entscheidungsnorm beschränken; denn das Recht muss im Zusammenhang mit der Gesellschaft betrachtet werden, in der sich das nationale Leben abspielt. Es muss also dasjenige Prinzip untersucht werden, auf welches sich die Gesellschaft stützt. Folglich steht die Entscheidungsnorm, von der wir eben gesprochen haben, zwar in engem Zusammenhang mit der Gestaltung der Gesellschaft, ist aber so abstrakt und kompliziert, dass es unmöglich ist, mittels dieser auch die Gesellschaft zu erkennen. Im Gegenteil befindet sich das Prinzip, auf das sich die Gesellschaft stützt, in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage und dadurch mit dem nationalen Leben. Die Gestaltung der Gesellschaft setzt als Grundlage Eigentum voraus. Und die Regeln über das Eigentum gehen ihrerseits direkt aus der Art hervor, wie Grund und Boden genutzt wird. So werden Völker, die Jagd und Viehzucht betreiben, als ethnische Kategorien betrachtet. Mehr noch, sie sind auch wirtschaftliche und juridische Kategorien. Unter Jägervolk verstehen wir ein Volk, das keinen Privatbesitz kennt und nur im Besitz von einigen Kleidern, Waffen, Schmuckgegenständen und, in einigen Fällen, einer Hütte für die Familie ist. In diesem Fall gehört der Boden niemandem; er wird allerdings von allen gegen einen Angreifer verteidigt. Aber das Hirtenvolk? Man bemerkt in diesem Fall eine Änderung: der Besitz ist nicht mehr gemeinsam, sondern familiengebunden und besteht aus Herden, Zelten, Weideplätzen, die nach traditionellen Regeln bewirtschaftet, deren Einhaltung sehr genau überwacht wird und deren Verletzung die Ursache zahlreicher erbitterter Kriege ist. Bei den ältesten Völkern Europas wurde die Landwirtschaft aufgrund der Dreifelderwirtschaft (Feldwechselwirtschaft) betrieben. Diese wurde hierzulande, wo die Geräte primitiv und die Kenntnisse der Naturgesetze ungenügend waren, nicht beliebig, sondern deshalb gewählt, weil sie das nützlichste Mittel war, um die zahlenmäßig steigende Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Gleichwohl kann dieses System nicht nur als ein technisches Mittel angesehen werden, weil auch hier eine juridische und wirtschaftliche Erscheinung gegeben ist. Für die Rechtswissenschaft bedeutet dieses System folgendes: die Höfe der Bauern waren zu Dörfern zusammengefasst; jeder Hof bestand aus Häusern, Schafhürden, Ställen, Lagerräumen und den Gärten, die der Pächter im Alleineigentum hatte. Um das Dorf gelegen ist die Dorfflur, deren Gebiet in drei Teile geteilt war. Am Anfang eines jeden Jahres, nach der Ernte, wird für jeden Hof der Lohn für jeden der drei Sektoren bestimmt. Später werden die Pachtperioden von fünf auf

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zehn Jahre verlängert. Im Mittelalter verblieben die Dorfflure den Höfen, die sie bearbeitet haben, nach den letzten stattgefundenen Aufteilungen. Sie beginnen durch Erbschaft weitergegeben zu werden und können später auch veräußert werden; dies gilt selbstverständlich nur unter dem feudalen Recht, dem sie untergeordnet sind. Hinter der Dorfflur existieren noch: ein gemeinsames Weideland, ein gemeinsam bewirtschafteter Wald, ein Fischteich oder Bergwerke, auf die die Bauern ihren Besitz ausdehnten. Die drei Teile der Dorfflur wurden nacheinander, eine für die Herbstsaaten, eine für jene des Frühjahrs und die dritte als Weideland genutzt. Dasselbe geschah nach der Ernte mit den anderen beiden Teilen. Immer schon haben Behörden existiert, die Streitfälle entscheiden und die festgesetzte Nutzungsordnung kontrollieren. Wie gesehen, gehörten das Gehöft und die Gärten der Familie. Solange die periodischen Verteilungen stattfanden, waren die Dorfflure gemeinsames Gut. Nachdem auf den Wechsel verzichtet wurde, gingen sie in das Privateigentum des Bewirtschafters über. Aber die neuen Regeln bewahrten Spuren des alten gemeinsamen Rechts. Zum Schluss wurden die gemeinsam genutzten Weiden, Wälder, Fischteiche und Bergwerke der Gemeinde und ihren Regeln untergeordnet. Diesem System folgt jenes der aufeinanderfolgenden, wechselnden Bewirtschaftung. Es entspricht einer rationellen landwirtschaftlichen Technik, die naturwissenschaftlich zu begründen ist. Dieses rationelle und wissenschaftliche System vertrug sich nicht mit jenem der Dreifelderwirtschaft, mit dem nacheinanderfolgenden Wechsel der drei zwingend vorgeschriebenen Bewirtschaftungsweisen, deren Regelung, mit den Wegerechten und mit der Kontrolle durch Behörden. Deshalb verlangten die Agronomen, die das System Mitte des 18. Jh. begründeten, von Anfang an eine Agrarreform, nämlich die Abschaffung aller aus dem Regime der Dreifelderwirtschaft folgenden sowie anderer ebenfalls hinderlicher Einschränkungen, die aus dem Feudalrecht hervorgingen. Diese Reform, deren Zweck die Grundentlastung und die Befreiung aus der Leibeigenschaft war, wurde zuerst in Frankreich im Zuge der Revolution durchgeführt. Danach, in der ersten Hälfte des 19. Jh., in den Feudalstaaten Zentral- und Nordeuropas. Und in den sechziger Jahren des 19. Jh., in Russland und in Rumänien. Unglücklicherweise fehlte aber jetzt jener stillschweigende Zusammenhang, der sich früher im Unterbewusstsein gebildet hatte; denn diese Reform wurde infolge von Debatten bewusst angenommen, weshalb sie auch sehr unvollständig blieb und eine Landwirtschaftskrise nach sich zog, die sich noch heute auswirkt. Die Entwicklung der Großindustrie verursachte die Gründung des Grundbesitzes. Die Fabrik ist eine wirtschaftliche und zugleich eine juridische Kategorie. In dem Maß, in dem sich die Industrie entwickelt, müssen viele der Regeln, die das Eigentum bestimmen, verändert werden. Öfter geschieht dies nicht durch die Gesetzgebung, sondern durch das Vertragsrecht. Ich könnte vom Grundbesitz, von Bergwerken, Wäldern, von Gewässern oder vom Städtebau sprechen, aber dies wäre zuviel. Darum wende ich mich nun dem Familienrecht zu. 13 Ehrlich

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Nach den „Rumänischen Rechtsquellen" steht an der Spitze der Familie der „pater familias", der nicht der Vater, sondern der Chef der Familie war. Alles, was sich die Familie erwarb, gehörte ihm. Wenn die Tochter heiratete, konnte sie in seiner Familie verbleiben oder von der Familie des Ehemannes oder dessen Chef aufgenommen werden. Durch seine Geschicklichkeit eignete er sich das von seinen Untergeordneten erworbene Vermögen an, so dass dies sein Eigentum wurde. Als ich vor dreißig Jahren nach Czernowitz kam, fand ich eine Gegebenheit vor, die mich sehr erstaunt hat. Hier, bei den rumänischen Bauern, galt der Vater als der einzige Eigentümer des Familieneinkommens, und zwar nicht nur jenes, das geerbt oder geschenkt wurde, sondern auch jenes, das durch Arbeit erworben wurde. Wenn ein Kind in Czernowitz in Stellung ging, kam sein Vater monatlich, um dessen Lohn abzuholen. Die Arbeitgeber brachten das Geld gewöhnlich auf die Sparkasse, um nicht mehr von den Vätern belästigt zu werden, woraufhin diese jedoch das Sparbüchlein verlangten. Wenn der Sohn nicht einverstanden war, dem Vater den Lohn abzugeben, empörte sich dieser und fühlte sich um sein Recht betrogen. In den letzten Jahren jedoch nahmen die Fälle zu, in denen die Söhne Widerstand leisteten. Seitdem habe ich von dieser Gewohnheit nichts mehr gehört. Folglich waren noch vor kurzer Zeit bei dieser Generation des rumänischen Volkes die Spuren der alten Familienorganisation zu finden. Diese setzte eine entsprechende wirtschaftliche und juridische Verfassung voraus. In der alten Familienwirtschaft trug ein jedes Familienmitglied zum Familienvermögen bei, wovon es auch selbst lebte. Kein Familienmitglied kaufte oder verkaufte etwas, keines brauchte Geld, denn es fand alles in der Familie. Dieser Brauch konnte solange existieren, wie der Vater die Arbeit des Kindes jemandem in der Nachbarschaft verkaufte, so dass das Kind sich von seinem Elternhaus nicht entfernen musste, wo es alles Notwendige fand. Aber von dem Augenblick an, in dem das Kind in die Stadt zur Arbeit zog, brachen seine Beziehungen zu den Familienangehörigen ab und der alte Brauch, der nun keinen Sinn mehr hatte, überlebte ein Zeitlang nur noch aus Trägheit, um schließlich infolge des Zusammenbruchs der traditionellen Familienorganisation zu verschwinden. Dennoch blieb eine Spur ihrer charakteristischen Eigenschaft erhalten, dass die Familienmitglieder zusammen arbeiten und zusammen die Erzeugnisse ihrer Arbeit verbrauchen. Man kann sagen, dass in der Bauernfamilie noch immer eine Vermögensgemeinschaft besteht. Wir wenden uns nun der Familie eines modernen Arbeiters zu. Mann und Frau verdienen ihr Brot, indem sie in der Fabrik arbeiten. Ein Teil des Lohnes dient ihnen dazu, die Haushaltskosten zu decken, der Rest ist für ihren Eigengebrauch. Gewöhnlich arbeiten in Europa auch die 14 jährigen Kinder in den Fabriken. Von ihrem Lohn bezahlen sie den Eltern ihre Nahrung. Die Jungen, die älter als vierzehn Jahre sind, verbringen den größten Teil ihrer Zeit außerhalb des Elternhauses. Die Mädchen bleiben bis zu ihrer Hochzeit in der Familie. Bevor sie zur Fabrik gehen und bis zu ihrer Verheiratung, haben sie gemeinsam mit der Familie nur die Wohnung, die Möbel und die Arbeit der Hausfrau. Die Organisation der Familie

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des modernen Arbeiters unterscheidet sich also wesentlich von der Organisation der Bauernfamilie. In der Rechtswissenschaft und in der Volkswirtschaftlehre wird der Vertrag als jenes Mittel betrachtet, durch das der individuelle Wille der beiden Parteien zum Ausdruck kommt. Dies aber ist zu wenig. Im heutigen Sozialleben ist der Vertrag das stärkste Gestaltungsmittel. Wenn das Eigentumsrecht die Grundlage bildet, so ist der Vertrag die treibende Kraft, die die Maschine in Bewegung setzt. In der Vergangenheit bestanden neben dem Vertrag noch andere soziale Organisationsformen, die diese Rolle spielten. Heute spielt sich das wirtschaftliche Leben in drei Phasen ab: in Produktion, Tausch und Güterkonsum. Die Güter werden von der Landwirtschaft und von der Industrie erzeugt. In der Vergangenheit, insbesondere im Mittelalter, waren Produktion und Konsum nicht so deutlich getrennt wie heute. Die Hauswirtschaft erzeugte den größten Teil dessen, was der Mensch benötigte. In der Hauswirtschaft arbeiteten die Familienmitglieder, die Hörigen und die Sklaven. Diese primitive Organisation hat in der Bauernfamilie nur wenig Spuren hinterlassen, wo die Produktion nicht so sehr vom Konsum getrennt ist. Abgesehen von diesen Überbleibseln der alten Ordnung beruht die Organisation der Arbeit beim Großgrundbesitz, in der Industrie, in den Kaufhäusern, Kaffeehäusern nur auf dem Vertrag. Es gibt Verträge mit den Ingenieuren, den Aufsichtsbeamten, den Arbeitern, den Lehrlingen und den Dienern. Wenn der Grundbesitzer sein Gut nicht selbst verwalten kann oder will, schließt er einen Vertrag mit einem Pächter. Außerdem beruhen alle modernen Betriebe, wie die Kartelle oder Trusts, gleichermassen auf dem Vertrag. Es besteht ferner auch eine vertraglich begründete Organisation der Arbeit in den Gewerkschaften sowie beim Tarifvertrag. Der Warentausch wird durch eine Reihe von Kauf-und Verkaufverträgen vollzogen. Der Verkaufvertrag ist das bedeutendste Element der großen Organisationen der Völkswirtschaft, die Güter dort suchen, wo sie zu finden sind, und sie dorthin leiten, wo man sie braucht. Dieser Vertrag ist eng mit dem Kreditvertrag verbunden. Objekt des Kredits ist nicht das Geld, sondern sind die produktiven Güter: Maschinen, Instrumente, Rohstoffe. Die Gelder dienen als Vermittler, denn wenn diese nicht vorhanden sind, kann auch nichts gekauft werden. Keine Schraube der großen sozialen Maschine kann ohne Vertrag gekauft werden. Dies versteht man unter wirtschaftlichem und sozialem Gefüge. Wenn wir aber die heutigen Gesetzbücher untersuchen, finden wir davon nur wenige Spuren. Dies ist leicht zu verstehen, wenn wir uns erinnern, dass die Gesetzbücher den praktischen Zwecken der Jurisprudenz dienen und folglich nur das enthalten, was für einen Juristen von Interesse ist. Über den Vertrag wird im Gesetzbuch nur in zwei Artikeln gesprochen. Dabei sind die Regeln, die im Gesetzbuch enthalten sind, nicht immer im Einklang mit der Organisation der Gesellschaft. Sie entfernen sich davon absichtlich aus politischen und moralischen Gründen. Die Engländer haben in Indien die „Sutra" verboten, wie auch bei uns 13*

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die Duelle und die Glücksspiele verboten sind, obwohl sie immer noch praktiziert werden. Es gab aber auch weniger vernünftige Gründe. Napoleon, der ein Korse war und folglich über die Stellung der Frau nicht sehr französische Ideen gehabt hat, fügte in den Code einen Artikel ein, welcher der verheirateten Frau fast gänzlich die Fähigkeit nahm, selbst etwas zu unternehmen. Sie kann ohne die Zustimmung ihres Ehemannes nichts verkaufen, kaufen oder schenken. Die bei den Gesetzgebern so oft anzutreffende Tendenz zur Vereinheitlichung des Rechts hat viele Konflikte verursacht, weil die Gesetzgeber die realen Beziehungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens übersehen haben und dabei nicht einsahen, dass die Regeln des Lebens nicht vereinheitlicht werden können wie die Regeln des Rechtsspruches, nur damit ein einheitliches Gesetzbuch zu Stande kommt. Die Hauptursache dafür ist aber, dass das „lebende Recht", unter dem die Juristen als die Verfasser der Gesetzbücher leben, nicht bekannt ist. Diese begnügen sich nur mit all dem Geschriebenen, besonders mit dem römischen Recht, ohne sich um das zu kümmern, was im Leben geschieht. Wenn Sie den Code aus diesem Gesichtspunkt untersuchen, finden Sie Themen, die im römischen Recht vorhanden waren und sich noch heute in den Gesetzbüchern befinden, ohne eine Bedeutung zu haben. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem geschriebenen Recht und dem „lebenden Recht", welches die geltende soziale Organisation widerspiegelt. Das Gesetz kann eine Äußerung des „lebenden Rechts" verhindern oder bestrafen, aber es geschieht immer folgendes: das Duell existiert auch heute noch, obwohl es verboten ist. Selbstverständlich wird es nicht wie Diebstahl, Mord oder überhaupt als Delikt betrachtet, sondern als eine soziale Institution, die anerkannt oder geduldet wird. Im Allgemeinen wird ein Verhalten, das im Gegensatz zum geschriebenen Recht steht, nicht geschützt und als der Rechtsgrundlage ermangelnd erklärt. Wir sahen, dass in der Bukowina der rumänische Bauer für sich den Lohn seines Sohnes in Anspruch nimmt. Dies steht im Gegensatz zum österreichischen Privatrecht, nach dem alles, was das Kind verdient, auch diesem selbst gehört. Der Konflikt zwischen dem geschriebenen Recht und dem „lebenden Recht" ist offensichtlich. Obwohl der Code ihr es nicht erlaubt, kauft, verkauft und schenkt die französische Frau täglich ohne die Zustimmung des Ehemannes. Bei einem offiziellen Akt braucht sie aber die Zustimmung ihres Ehemannes. Diese ärgerlichen Widersprüche werden manchmal auch von den Richtern beseitigt. So dulden z. B. die französischen Gerichte das Verhalten der verheirateten Ehefrau, indem sie eine stillschweigende Zustimmung des Ehemannes unterstellen. Es geht aber nicht nur um diesen relativ seltenen Widerspruch. Der Hauptpunkt besteht darin, dass von alldem, was unser wirtschaftliches und soziales Leben gestaltet, nur ein kleiner Teil vom Gesetz erfasst werden kann. Das Leben ist zu vielfaltig und komplex, um schriftlich erfasst zu werden, wie auch der Fluss nicht in

Anhang: Über das „lebende Recht"

einen Teich eingesperrt werden kann, da das, was eindringt, nicht der lebendige Strom ist, sondern das tote Wasser, und nie in großen Mengen. Abgesehen von alldem werden Sie sehen, dass sich die Gestaltung der Gesellschaft täglich ändert, in jedem Augenblick, während die Schrift hingegen unverändert bleibt. Denken Sie nur an die neuen juridischen Beziehungen, die die Elektroindustrie geschaffen hat, und zwar mittels neuer Gesellschaftsformen oder Verträgen, die vorher unbekannt waren. Damit die Jurisprudenz den Einklang schafft zwischen dem geschriebenen Recht und dem lebenden Recht, müssen neue juridische Formen gefunden werden, andere Regelungen und Umgehungen, wenn sie es vorzieht. Dafür muss das lebende Recht studiert werden, aber nicht durch die Erforschung der Texte, denn dort ist nichts zu finden, sondern indem man es dort sucht, wo es zu finden ist: in den Dörfern, Städten, Feldern, Wäldern, Bergwerken, Fabriken, Werkstätten, Handelshäusern, Banken, und nur danach sollen die Dokumente studiert werden. Der Nutzen, den die Dokumente der Wissenschaft gebracht haben, ist bekannt, deswegen sollten die modernen Dokumente ebenso tiefsinnig erforscht werden wie die historischen Dokumente. Ich versuchte diese Theorie praktisch anzuwenden, indem ich vor 15 Jahren das Seminar „lebendes Recht" an der Universität Czernowitz begründet habe. Ich habe einen Fragebogen aufgestellt, gedruckt und einem jeden Studenten gegeben. Während der Ferien hatte ein jeder die Gelegenheit, auf die Fragen zu antworten. Diese betrafen: die Familiengründung auf dem Lande, das Bodenrecht, die Verträge, das Erbrecht. Danach habe ich Ausflüge organisiert, um die Weideländer der Dörfer zu besuchen. Die Resultate waren sehr interessant. Ein jedes Weidegebiet hatte sein reales und individuelles Recht. Aufgrund der Arbeiten der Studenten, von denen die wertvollste diejenige von Herrn Cotlarciuc war und welche auch gedruckt wurde, habe ich eine systematische Dokumentensammlung zusammengestellt, die unglücklicherweise während des Krieges vernichtet wurde. Vielleicht werden Sie mich fragen: wozu dient das lebende Recht? Ich antworte Ihnen, dass sein Nutzen unbestreitbar ist für die Rechtswissenschaft, für Gesetzgebung, Rechtsprechung und den Rechtsunterricht. Erstens, für die Wissenschaft. Denn ich glaube, dass wir unser Land kennen müssen. Aber das Land kennen heißt nicht, die Namen der Städte oder der Bergspitzen zu kennen, sondern den Zustand der Gesellschaft. Dafür ist das lebende Recht unerlässlich, denn dieses zeigt die wirkliche Gestaltung der Gesellschaft und die wirkliche Äußerung des nationalen Lebens. Ich werde Ihnen ein Beispiel geben: Sie wissen, dass das primitive Recht streng national war, was bedeutet, dass es eng an die Person gebunden war, die nur nach dem nationalen Recht beurteilt werden konnte. Das römische Recht war das Recht der römischen Bürger: ,jus proprium civicum Romanorum". Es gab aber auch römische Untertanen, die das Recht auf Staatsbürgerschaft nicht hatten. Auf diese wurde nicht das „jus civile" sondern das „jus gentium" angewendet. Im Reich

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Anhang: Über das „lebende Recht"

Karls des Großen wurde jeder Einzelne nach dem Recht seiner Nation beurteilt: nach dem fränkischen, burgundischen oder nach dem römischen Recht, wenn er Römer oder Priester war, denn die Kirche lebte nach dem römischen Recht: „ecclesia vivit lege Romana". Dies ist die Periode des persönlichen Rechts. Sie wurde von der Periode des territorialen Rechtes abgelöst, das auch heute noch existiert. Dem territorialen Recht liegt die Regel der Entscheidungsnorm zugrunde, von der wir gesprochen haben. Wenn wir die wahre Quelle des Rechts und des sozialen Gefüges untersuchen, erscheint das alte Prinzip der „Nationalität des Rechtes" in antikem Glanz. In der Bukowina, wo nicht weniger als acht Nationen leben, und zwar Rumänen, Ukrainer, Deutsche, Juden, Armenier, Ungarn, Slawen, Zigeuner, zeigen die Gestaltungen des Grundbesitzes auf dem Lande, die Verfassung der Familien, die Verträge und die Testamente bedeutende Unterschiede. Wir sehen, dass das persönliche Recht, so wie wir es am Anfang der Rechtsgeschichte finden, verloren ging und in der Folge vom territorialen Recht ersetzt ist. Wenn wir uns in der modernen Gesellschaft von der Oberfläche des Rechtes, verkörpert in der Entscheidungsnorm, dessen Realität zuwenden, die die soziale Organisation darstellt, dann können wir feststellen, warum in den vergangenen Jahrhunderten das Recht ein persönliches Recht war: die Entscheidungsnormen waren, wie wir in der Soziologie des Rechts gezeigt haben, das Werk der Gesetzgebung, der Jurisprudenz und der Wissenschaft. Sie existierten am Beginn der Zivilisation in einem geringeren Maße, weil diese drei Disziplinen erst in ihrem Anfangsstadium waren. Darum sahen sich die Gerichte gezwungen, die Entscheidungen aus der konkreten Lage des Menschen zu entnehmen, der ein Adliger, ein freier Mann, ein Sklave oder ein Höriger sein konnte; ebenso gilt dies für die konkrete Gründung der Familien aus der konkreten Lage der Vermögen, die durch Kauf- oder Schenkungsvertrag gebildet wurden. Dies sind die Aspekte, die wir in Betracht ziehen, wenn wir das „lebende Recht" erforschen. Sie sind persönlicher als die abstrakte und generalisierte Entscheidungsnorm, die formuliert werden kann, ohne die konkreten Verhältnisse in Betracht zu ziehen, oder von irgendwo übernommen werden kann. Man muss dieses Problem auch aus einem anderen Gesichtspunkt betrachten: es ist bekannt, dass Regierungen zur Zeit viel Geld ausgeben, um genaue Statistiken erstellen zu lassen, da dies die Basis der Verwaltung und der Gesetzgebung bildet und auch der Wissenschaft große Dienste leistet. Allerdings fragte ich mich oft, welchen Wert die statistischen Daten haben, wenn die juridischen Beziehungen, auf denen sie gründen, nicht in Betracht gezogen werden. Wenn ich erfahre, dass in einem Land der Grundbesitz mit 400 Milliarden belastet wurde, sagt mir dies nichts; denn die Art der Hypothek hängt vom Inhalt des Titels ab. Es wäre sowohl unmöglich wie auch unnützlich, alle Titel aufzuzählen. In jedem Land besteht eine beschränkte Anzahl von Titeln: fünf, sechs, höchstens zehn, die klassifiziert und geordnet werden können. Dasselbe kann man mit den anderen Teilen der Statistik

Anhang: Über das „lebende Recht"

machen. Es ist zu wenig, nur zu zeigen, wie viele Güter mit fünf oder zehn Hektaren existieren usw. oder dass so und so viele Hektare als Acker, Weideland oder Wälder genutzt werden. Denn die juridische Lage des Grundbesitzes muss bekannt sein, die Art, wie er erworben wurde: durch Kauf, Vertrag, Heirat oder Erbschaft, dann die Grundlasten, die sehr komplizierten Belastungen des Weidelandes, der Wälder usw. Das Studium des lebenden Rechtes ist für die Gesetzgebung unerlässlich. Heute schwebt diese im Raum, abstrakt, ohne die empirischen Fakten zu kennen: wenn einer wegen seiner zu engen Stiefel leidet, verlangt er ein Gesetz, das die zu engen Stiefel verbietet. Weil die Gesetzgebung die wichtigste Funktion in einem modernen Staat ist, muss sie auf wissenschaftlicher Erforschung des sozialen Lebens gegründet sein. Ich habe gezeigt, dass die statistischen Daten ungenügend sind, solange die Rechtstatsachen, auf denen sie gründen, nicht bekannt sind. Folglich muss das lebende Recht diese liefern. Die Justizverwaltung trifft auf dieselben Schwierigkeiten. In Europa hören die Klagen nicht auf, dass die Richter weltfremd seien und das Leben zu wenig verstehen. An dieser Stelle sollten wir uns fragen, welche Mittel ihnen dazu verhelfen könnten, das Leben besser zu verstehen. Vor 106 Jahren konnten sie es besser verstehen. Vor 106 Jahren war dies genügend leicht gemacht durch die Art der Berufsausübung. Damals waren die Beziehungen zwischen den Menschen klar, einfach und fast identisch im ganzen Land. Wenn ein Richter zehn Jahre im Amt blieb, wurde er ein Kenner der juridischen Angelegenheiten: das heißt nicht, dass er viel vom „lebendem Recht" kannte, genug aber um einen guten Eindruck zu vermitteln. Allerdings ist heute das Leben so kompliziert und vielfältig geworden, dass die Kenntnisse, die uns unbewusst aus dem Volk kommen, unter dem wir leben, ungenügend sind. Um in einem bestimmten Problem zu entscheiden, müssen wir alle Geheimnisse der Börse kennen, um ein anderes Problem zu enträtseln, brauchen wir Kenntnisse der Lebensmittelchemie, um ein drittes Problem zu lösen, brauchen wir Kenntnisse der Forstwirtschaft. Die Richter, die die Unmöglichkeit empfinden, alle Bereiche des Lebens zu kennen, mit denen sie durch ihren Beruf konfrontiert werden, wenden sich an Experten. Aber wenn der Richter den Experten nicht kontrollieren kann, so fällt nicht er, sondern der Experte das Urteil, und dem Richterspruch fehlen mithin alle Garantien des Rechts und der Verfassung. Hier sind wir an dem Punkt angelangt, der für mich der Ausgangspunkt war, als ich mein Seminar für die Erforschung des „lebenden Rechts" gründete. Mit diesem Seminar habe ich nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern auch einen pädagogischen Zweck verfolgt. Selbstverständlich ist es unmöglich, die Jugend so auszubilden, dass sie alle Wissenschaften kennen lernt, die bei juridischen Streitigkeiten in Frage kommen können. Es kann aber eine Lernmethode entwickelt werden, die bei ihnen die unerlässliche Fähigkeit entwickelt, in allen Schwierigkeiten des Lebens zurecht zu kommen. Wenn Sie mich fragen, welche die von mir geschätzten Eigenschaften eines Juristen sind, werde ich Ihnen antworten, dass dies nicht die Klugheit, auch nicht der

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Anhang: Über das „lebende Recht"

so oft gelobte Scharfsinn, auch nicht das Verständnis der Geschichte, die sehr notwendig sein wird bei der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen, aber in der juridischen Praxis vernachlässigt werden kann, und noch weniger der philologische Sinn, um jede Interpolation der Digesten Justinians zu erfühlen; was ich schätze, sind die Augen, die sehen, und die Ohren, die hören. Es ist sehr schlecht, dass wir uns nur des Papiers und der Bücher bedienen, um die Rechtwissenschaft zu studieren. Papier benützen wir bei den Vorlesungen, Papier bei den Seminaren, Papier bei den Prüfungen. Der Professor der Medizin zeigt dem Kandidaten etwas am Mikroskop und fragt ihn, was er sieht. Wenn der junge Mann nichts sieht, ist es sein Fehler, und er wird die Prüfung nicht bestehen. Oder wenn der Kandidat beim Abhören der Brust des Kranken nichts hört, ist es auch sein Fehler, und er wird die Prüfung nicht schaffen. Der Professor der Rechtswissenschaften ist aber nicht berechtigt, dem Kandidaten eine Frage zu stellen, die er nicht ohne die Hilfe der Bücher beantworten könnte. Dem Studenten wird Wissen abverlangt, nicht Wahrnehmung. Das Seminar für „lebendes Recht" soll diesen Nachteil beseitigen, und schon bald haben wir unser Ziel erreicht. Gleich nach der ersten Lektion hat sich die Mentalität meiner Schüler verändert. Niemand beschäftigte sich mehr mit den Texten und ihrer Auslegungen, sondern einer erzählte mir von einem kuriosen Brauch aus seinem Dorf, ein anderer über ein Abkommen, das seine Aufmerksamkeit geweckt hat, und ein Dritter von einer kuriosen Verpflichtung. Es verschwinden die leeren Abstraktionen und die nebeligen Verallgemeinerungen. Recht wird konkret, genau, sensibel und wahrnehmbar. Denn die Schüler lernen ihre Augen und Ohren zu gebrauchen.

Namensregister* Adler, Friedrich 27 Adler, Max 10 Adler, Victor 63 Aerenthal, Alois Lexa von 69, 70 Alexander III. 115 Andrässyi, Gyula 40,76 Apponyi, Albert Graf 56 Aristoteles 179 Armand, Abel Graf 95 Atz von Straussenberg, Arthur 84 Auersperg, Karl Wilhelm Philipp 45,49 Baden, Max von 83, 84,97 Bahr, Hermann 59 Balfour, Arthur Earl of 96 Bauer, Otto 10, 53 Benedek, Ludwig von 102 Bene§, Edvard 14 Bentham, Jeremy 177 Berchtold, Leopold Graf 69, 72, 73 Bemhardi, Friedrich 170 Bethmann-Hollweg, Theobald 84, 97 Bismarck, Otto von 22, 43, 73, 75, 76, 84, 105-119, 186 Bloch, Ivan de 91 Bryce, Viscount James 106 Buat, Edmont 81, 83, 86 Bülow, Bernhard von 84 Buriän-Rajecz, Stephan Graf 41 Busche, Erich von dem 99, 100 Cadorna, Luigi 81, 84 Carneri, Bartholomäus von 40 Clausewitz, Carl von 90, 103, 109 Clemenceau, Georges 90, 95, 98 Comenius, Johan Arnos 34 Cotlarciuc, Nico 154,197 Crispi, Francesco 111 Czernin, Ottokar Theobald Graf von 95 * Unter Mitarbeit von lic. iur. Sven Heller.

Dante Alighieri 42 Delbrück, Hans 14, 91 Dernburg, Friedrich 14 Dschingiskhan 169 Durham, John G. Lambton Earl of 188 Ebert, Karl Egon 59 Ebner-Eschenbach, Marie von 59 Eduard VII. 76 Ehrlich, Eugen 7-16,153, 154, 161, 191 En ver Pascha 104 Eötvös, Jószef 54 Erler, Eduard 7 Erzberger, Matthias 96, 100, 101 Eugen, Prinz E. von Savoyen 22,35, 37 Fejervary de Komlos-Keresztes, Geza 56 Ferdinand I. 8,9, 22,23, 24,28, 33, 74 Filipescu, Jancu 191 Foch, Ferdinand 83, 90, 100 Frantz, Constantin 105 Franz I. 22, 24 Franz Ferdinand, Erzherzog 56 Franz Joseph 22-27, 29, 38-40,41, 43,49, 56, 66, 68-70, 75, 76 French, John Dentón 84 Fried, Alfred 14,181 Friedjung, Heinrich 107 Friedrich IL (Hohenzollern) 21, 22, 42, 74, 84, 86, 106, 108, 116,179 Friedrich V., Kurfürst von Rheinland-Pfalz 33 Friedrich Barbarossa 42 Gaius 175 Geffken, Friedrich Heinrich von 118 Gladstone, William Ewart 108,116,119 Glombinski, Stanislaus 47 Goethe, Johann Wolfgang von 143

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Namensregister

Goluchowski, Agenor Graf 69 Gortschako w, Alexander 115 Gräf, Rudolf 11,19,153 Grey, Charles 15 Grigorovici, Gheorge 10 Grigorovici, Tatiana 10 Grundtvig, Nicolai Frederik 140 Gusti, Dimitrie 9, 11,15,16, 21, 153 Habsburg, Ottokar Rudolf von 33 Haig, Douglas 84 Hannibal 90 Hardenberg, Karl August von 22 Hauer, Adolf 50 Hausleitner, Mariana 15 Haymerle Baron 70 Hertling, Georg von 84, 87, 97 Herzl, Theodor 150 Hilferding, Rudolf 10 Hindenburg, Paul von 81-85, 89, 90, 9 3 95, 97-102, 104 Hinze, Paul von 82-84,93, 94 Hlinka, Andrej 54 Hoffmann, Max 82 Hohenlohe, Prinz von 98 Hötzendörfer, Conrad von 84 Humboldt, Wilhelm von 22 d' Israeli, Benjamin 110 Iswolski, Alexander Petrowitsch 71 Jassy (ungar. Politiker) 56 Jelacic von Buzim, Joseph 39 Joffre, Joseph 83 Jong van Beek en Done, B. de 14 Jorga, Nicolai 9, 11, 15, 19,191 Josef IL (Habsburg) 20, 23-26, 29, 34, 49 Justus (dt. Historiker) 180 Kacirovic, Timon 30 Kailay, Benjamin 41 Kanner, Heinrich 59 Kant, Immanuel 154 Karagheorgevici, Alexander 37 Karl III. 20 Karl VI. 23, 35 Karl Stephan, Erzherzog 46

Kautsky, Karl 155, 161 Klapka, Georg (György) 107 Kleinwächter, Friedrich 19, 20, 41, 47, 50, 59, 60, 64, 67, 69 Kühlmann, Richard von 82, 84, 96, 97 Lammasch, Heinrich 14, 22,166 Lasker, Eduard 118 Laun, Rudolf von 170 Lersner, Kurt von 94 Liszt, Franz von 14, 148 Ludendorff, Erich 60, 81 - 9 0 , 9 2 - 1 0 2 , 104 Ludwig XIV. 26,74, 118,179 Ludwig (Jagellone) 28 Lueger, Karl 32 Maczali, Henrik 30 Managetta-Lerchenau, Albert Edler von 14 Maria Theresia 21, 23-25,29,43,131 Marochesi 42 Marx, Karl 12,134, 153,154,155, 157, 158, 159 Masaryk, Tomás Garrigue 34, 35 Maximilian I. 23 Maximilian II. 21, 27 Medici 43 Meinl, Julius 14 Meissner, Alfred 59 Menger, Anton 12 Metternich, Klemens Wenzel von 24, 35 Michaelis, Georg 84,96,97, 103 Mill, John Stuart 155,158 Mohammed 179 Morariu, A. 9 Napoleon 74, 86,169, 174 Napoleon III. 107, 110,116,169 Nastasä, Lucian 9 Naumann, Friedrich 67 Nicolaus II. 91 Nicolo, Marian San 7 Nietzsche, Friedrich 177, 178 Nistor, Jon 8 Obrenovici, Milan 37 Ottokar von Böhmen 74

Namensregister Pacelli, Eugenio 96 Palacky, Frantisek 34 Palmerston, Henry John Temple 107 Pellico, Silvio 43 Pernerstorfer, Engelbert 63 Pershing, John J. 84 Philippovic, Eugen Freiherr v. Philippsberg 140 Pilesar,Tiglath 170 Plato 179 Podebrand (König von Böhmen) 34 Pristiner, Jacob 10 Prochaszka 72 Quidde, Ludwig 14 Rauch, Levin Baron 39 Rehbinder, Manfred 7, 8, 9,10, 12-14, 153, 154, 161 Rejtan, Tadeusz 21 Renan, Erneste 144 Rennenkampf, Paul von 86 Renner, Karl 10,53, 170 Reverterá, Nikolaus Graf 95 Reymont, Wladyslaw 132 Ricardo, David 155 Richelieu, Armand Kardinal 22 Rostás, Zoltán 10 Rudolf I. (Albert der Weise) 23 Sachelarie, Eugenia 191 Salagean, Emil 11,19, 81, 153, 191 Samsonow, Pavel von 86 Scheidemann, Philipp 96 Schiller, Friedrich 143 Schlieffen, Alfred Graf von 90 Schönerer, Georg Hans von 48, 63 Schumpeter, Josef 12,14

Schwerling (österr. Politiker) 27 Sefket Pascha 104 Seipel, Ignaz 14 Seton-Watson, Robert William 30,40, 49 Sforza 43 Singer, Isidor 59 Skuropdasky, Hatman 86 Smith, Adam 155 Spinoza, Baruch 153 Stael, Anne Louise von 167, 168 Stahl, Henry M. 10 Stein, Lorenz von 13, 22 Steinbach, Emil 27 Stürgkh, Karl Graf von 27, 63 Szczepanowski, Stanislaw 139, 140 Taaffe, Eduard 22, 25,49, 50, 57 Talaat Pascha 104 Tamerlan (Timur Lenk) 170 Tirpitz, Alfred von 84 Tisza, Istvän Graf 55, 64,73 Treitschke, Heinrich von 165 Ujejski, Kornel 45 Umberto von Italien 70 Vaida-Voevod, Alexandru 54 Voina, §erban 10 Vogl, Stefan 13,14 Wallenstein (Albrecht von Waldstein) 37 Washington, George 86,118 Wilhelm II. (Hohenzollern) 89, 96, 105, 115-117,119, 121 Wilson, Woodrow 19, 83, 93, 94, 97, 99,

181, 186 Wolf, Karl Hermann 48, 57, 58, 63, 64

Sachregister* Alkoholismus 162 Altersversicherung 137 Amnestie 125-128 Anerbenrecht 139 Antialkoholismus 147 Anti-Oorlag-Raad 170 Antisemitismus 133,142,147 - deutscher 143 Arbeiter 137, 150 - modemer 194 Arbeiterversicherung 116 Armenier 104 Aushungerungskrieg 103, 104 Austromarxisten 10 Bauern 138,139 - dänische 141 - rumänische 194, 196 - ruthenische 140 Belgien 87, 92, 95-97, 121, 122 Boeren 116 Boerenstaaten 188 Bolschewismus 157, 159 Bosnien-Herzegowina 40,41, 70, 71 Branntwein verschleiß 148 Bündnispolitik 75 - 77 Dänemark 110,113 - als „Paradies" der Bauern 140 Demokratie 79, 80, 187 - als Grundsatz der inneren und äußeren Politik 186 Deutsche 48, 59 - in Österreich 57,60, 61 Digesten 200 Dolchstoßlegende 99, 101 Dokumentensammlung 197 Dragonaden 26 * Unter Mitarbeit von lic. iur. Sven Heller.

Dreifelderwirtschaft 192,193 Dualismus (als Verf. der österr.-ungarischen Monarchie) 32 Duell 196 Einkreisung 115 Elsass-Lothringen 92, 95, 110, 113, 114 England 112, 115 Entlassung der deutschen Professoren von Czernowitz 7 Entscheidungsnorm 192 Europäischer Osten und die Judenfrage 144 Experten 199 Familienorganisation eines rumän. Bauern 194 Fehde 167,169 Feudalismus 78 Flottenpolitik 115 Forderungen zur Neuordnung ÖsterreichUngarns 65 Frankreich 110,111 Frau, Stellung der verheirateten 196 Friedensbewegung 13,14 - Ziele der Friedensbewegung 165 Galizien 44 Gemeinschaftsgefühl 77 Genossenschaftswesen, landwirtschaftliches 141 Germanisierungsmaßnahmen 57 Gesamtschuld 122 Gestaltungsmittel, siehe Vertrag Gewerbegericht 137 Gewerkschaften 137 Glücksspiele 196 Grenzen, Schließung der 71, 72 Großindustrie 149, 193

Sachregister Habsburgerreich 19 Herero-Aufstand 89 Historische Schule 191 Hussitismus 33 Imponderabilien 107, 109-111,112 Innsbruck 62 Italien 41,111,112 Italienische - Fakultät 62 - Frage 41 Juden - magyarische 32 - östliche 132, 142 - westliche 132 Judenfrage 142-151 Jugoslawen 36 Jura (schweiz. Kanton) 53 Kapital 156 Kartell 161 Katholiken, Verfolgung der 34 Katholizismus 26 Kind (eines rumän. Bauern) 194 Klerikalismus 136 Kolonialpolitik 188 f. Korruption in Ungarn 24 Krankenkasse 137 Krieg - als Aushungerungskrieg 103, 104 - als Kampfkrieg 92 - als Verteidigungskrieg 92 - verschieden Arten des 169 Kriegsziele 86-88,92 Kroaten 36, Kroatien und Slawonien 38, 37, 39,40, Kulturkampf 114 Landfrieden 167 Leben, geistiges 79 Lebendes Recht 15,196, 197 - Seminar für 197, 199, 200 Lohn (des Sohnes rumän. Bauern) 194, 196 Lombardei 42 Lüge 82,100,102 Lumpenproletariat 145 Lusitania 103, 121 Luxus 157-160,161,162

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Mehrwert 156,157,158, 159, 160,161 Meinung, öffentliche 187 Militarismus 67 Nation 20, 53,184 Nationalbewegung 20 Nationalidee, deutsche 24 Nationalitäten - Begründer der 78 - Bildung der 78 - Entstehung der N. 77 - Nationalitätenfrage 14 - Nationalitätenpolitik 54 - Recht der N. 50,51,53,170 Nationalregister 53 Nationalstaat 23 Natur, menschliche 167 Neapel 145 Nutzwert 158 Österreich, 110 - Außenpolitik 67 - Deutsche in Ö. 57, 60, 61 - Ursachen für den Zusammenbruch 19 - Verwaltung 24 Österreich-Ungarn, Neugestaltung von 65 pangermanische Partei 88 Pangermanisten 87 Pazifismus 68 Persönlichkeit Bismarcks 117, 118 Polen 44,45, 132 Polenpolitik Bismarcks 114 - Teilung 131 Politik, Einmischung in die 81 politische - Prozesse 125 - Verbrechen 126 Prag 59,60 Pressekampagne 7 - gegen Ehrlich 8 Preußen - Preußentum 116 - Vormachtstellung von P. 107 preußischer Geist 117 preußisches Wesen 106 Produktivgenossenschaften 141 Protestanten 34 - Vertreibung der Protestanten 26

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aregister

Recht - Lehre von der Nationalität des R. 191, 192, 197 - Persönliches R. 198 - territoriales R. 198 Rechtstatsachen 199 Rechtswissenschaft - klassische 12 - „sozialpolitische" 12 Religion 78 religiöse Gleichberechtigung, Prinzip der 34 Revolution 101,102 Rückversicherungsvertrag 112, 113 Rumänien 72 Russland 112 Schutzzoll 139 Schweiz 24, 59, 77 Serben 36, 37 Serbien 72 Sippenhaft 121 Sittlichkeit - des wirtschaftlichen u. des unwirtschaftlichen Erwerbes 173-177 - von der heroischen zur wirtschaftlichen S. 177-181 Slowenen 36 Sozialdemokratie - Verhältnis zu Bismarck 114 Soziale Frage 157, 161 soziale Organisationsform 195 Sozialisierung 159,162 Sozialismus 137 sozial-konservativ 13 Sozialpolitik, Begriff der 133-135 Sozialstaat 134 Sprache 79 - deutsche 25 - Gemeinsamkeiten der 184 - ungarische 55 Sprachenrecht 52 Staat - als Sozialstaat 134 - als Werk der Dynastien 74 - Funktionswandel des 169 Staatsidee 19

Staatsmann 22, 23 Stanczyki (poln. politische Partei) 45 Strategie - im Kampfkrieg und Erschöpfungskrieg 91 - im Weltkrieg 90 Südslawen 35 Südslawische Frage 40 Tauschwert 155,156, 158 Tschechen 33-35 Türkei 35, 70 Türken 59, 61 U-Boot-Krieg 89, 97, 121,122 Ungarn 29-32, 39,41,54,61 Ukrainer 47 Venetien 42 Verantwortlichkeit von - v. Hindenburg 85, 103 - Ludendoiff 86, 93 Vereinheitlichung des Rechts, Tendenz zur 196 Verelendungstheorie 12 Verfassung 105, 106 Verfassungsdualismus, siehe Dualismus Verfolgung der Katholiken 34 Verteidigungskrieg 92 Vertrag, als Gestaltungsmittel 195 Vertreibung der Protestanten 26 Völkerbund 183,185, 189 - Schiedsgericht des V. 189 Volksgeist 191 Volkshochschulen 140, 141 Wahlrecht 51,52 - allgemeines 27 Werturteile 177 Whitechapel (Stadtteil Londons) 150 Wirtschaftswachstum 12 Wucher 148 Wucherfrage 147 Zensur 14,160 Zionismus 148, 149