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German Pages 352 [356] Year 1981
Emmanuel Joseph Sieyes Politische Schriften 1788 -1790
Ancien Regime, Aufklärung und Revolution Herausgegeben von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt
Band 5
R. Oldenbourg Verlag München Wien 1981
Emmanuel Joseph Sieyes
Politische Schriften 1788 - 1 7 9 0 mit Glossar und kritischer Sieyes-Bibliographie Übersetzt und herausgegeben von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt 2., überarbeitete und erweiterte Auflage
R. Oldenbourg Verlag München Wien 1981
Die erste Auflage erschien 1975 als Band 43 der Reihe POLITICA beim Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Sieyes, Emmanuel Joseph: Politische Schriften : 1788 - 1790 ; mit Glossar u. krit. Sieyes-Bibliogr. / Emmanuel Joseph Sieyes. Übers, u. hrsg. von Eberhard Schmitt u. Rolf Reichardt. - 2., Überarb. u. erw. Aufl. - München ; Wien : Oldenbourg, 1981. (Ancien regime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 5) ISBN 3-486-50261-1 N E : Sieyes, Emmanuel Joseph: [Sammlung ]; GT
© 1981 R . Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh.G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Druck und Bindung: Hofmann-Druck KG, Augsburg ISBN 3-486-50261-1
Hans Maier zum 50. Geburtstag
Inhaltsverzeichnis
V O R W O R T zur zweiten Auflage
6
EINLEITUNG ι.
Zur Bedeutung der Sieyesschen theoretischen Schriften 2. Editorische Fragen
7 1χ
CHRONOLOGISCHE ÜBERSICHT
13
D I E POLITISCHEN SCHRIFTEN: Uberblick über die Ausführungsmittel, die den Repräsentanten Frankreichs 1789 zur Verfügung stehen ( U 1 : Reichardt) Versuch über die Privilegien (U: Reichardt)
17 91
Was ist der Dritte Stand? (U: Schmitt/Reichardt) Empfehlung Sr. Hoheit des Herzogs von Orleans an seine Vertreter in den Bailliagen, mit: Die Beratungen, die in den Versammlungen abzuhalten sind (U: Reichardt)
117
197
Antrag von Sieyes und Ultimatum der Communes vom 10. Juni 1789 Französische Fassung Deutsche Ubersetzung (U: Schmitt)
229 230 231
Erklärung der Communes zur Nationalversammlung vom 17. Juni 1789 (U: Schmitt)
235
Einleitung zur Verfassung. Anerkennung und erklärende Darstellung der Menschen- und Bürgerrechte (U: Reichardt)
239
Rede des Abbe Sieyes über die Frage des königlichen Vetos usw. (U: Reichardt)
259
Entwurf einer Neuordnung der Justiz- und Polizeiverwaltung in Frankreich (U: Reichardt)
277
GLOSSAR
30 j
SIEYES-BIBLIOGRAPHIE
323
REGISTER 1 U = Ubersetzer
342
Vorwort zur zweiten Auflage Die positive Aufnahme dieser Textedition durch die wissenschaftliche Kritik hat die Herausgeber zur vorliegenden zweiten Auflage ermutigt. Die Übersetzungen sind dabei unverändert geblieben: ihre Sprache ist ganz entsprechend den Textvorlagen uneinheitlich, sie nimmt sowohl den gelegentlich trockenen, ja gespreizten Kanzleistil des Autors auf - so in dem hier erstmals veröffentlichten, von Sieyes formulierten Ultimatum der Communes an die beiden privilegierten Stände auf den Generalständen in Versailles vom 10. Juni 1789 - wie das häufige rhetorische Pathos des großen Pamphletisten der Revolution von 1789. Verändert und auf den neuesten Stand gebracht sind dagegen die Anmerkungen sowohl zur Einleitung wie zu den Quellentexten. Aus Kostengründen mußte die Einleitung selbst unverändert bleiben, obwohl die Herausgeber es vorgezogen hätten, sie erheblich weiter zu fassen. Die Bibliographie, die sich in der ersten Auflage auf die moderne Sekundärliteratur beschränkt hatte, wurde auf den neuesten Stand gebracht und durch Hinzufügung eines Verzeichnisses der Schriften von Sieyes wie der revolutionären Publizistik über ihn wesentlich erweitert. Die Herausgeber
Einleitung
1. Zur Es
Bedeutung
gehört
zu
der
Sieyesschen
theoretischen
den M e r k w ü r d i g k e i t e n
Schriften
der Editionsgeschichte,
daß
die
W e r k e des A b b e E m m a n u e l J o s e p h S i e y e s 1 , des g r o ß e n politischen T h e o retikers u n d P r a k t i k e r s , in dessen W i r k e n sich A n f a n g u n d E n d e
der
F r a n z ö s i s c h e n R e v o l u t i o n v e r b i n d e n , bis heute in keiner kritischen A u s g a b e v o r l i e g e n . D i e bisher v o l l s t ä n d i g s t e S a m m l u n g seiner politischen S c h r i f t e n ist n o c h i m m e r die deutsche U b e r s e t z u n g des S c h w e i z e r s E b e l von
1794—17962 -
ein Z e u g n i s f ü r die A u s s t r a h l u n g s k r a f t w i e f ü r die
f r ü h e M y t h i f i z i e r u n g des A b b e 3 zu einem G e n i u s , der stets eine I d e a l v e r f a s s u n g bereithalte. 4 N a c h d e m sein u m f a n g r e i c h e r , lange Z e i t v e r s c h o l l e ner N a c h l a ß n e u e r d i n g s w i e d e r a u f g e t a u c h t u n d d u r c h das P a r i s e r N a t i o n a l a r c h i v erschlossen ist 5 , bestehen günstige V o r a u s s e t z u n g e n
f ü r eine
f r a n z ö s i s c h e G e s a m t e d i t i o n , die allerdings p h i l o l o g i s c h u n d historisch ein w e i t l ä u f i g e s u n d s c h w i e r i g e s U n t e r n e h m e n bedeuten w ü r d e . E r s t auf der Grundlage
einer
solchen
Originalausgabe
wäre
dann
eine
deutsche
Gesamtedition möglich. 1 Z u r Schreibweise »Sieyes« — und nicht Sieyes oder Sieyes — vgl. Albert Mathiez, Sieys ou Sieyes, in: Annales revolutionnaires t (1908), 346; derselbe, L'ortographe du nom de Sieyes, in: Annales historiques de la Revolution tran^aise 2 (1925), 487; zur Aussprache vgl. Camille Desmoulins, Correspondance inedite, publ. par Μ. Mat ton, Paris 1836, Brief v o m 3. 6. 1789: ·>. . . on prononce Syess.« 2 Sieyes, Politische Schriften. Vollständig gesammelt von dem deutschen Übersetzer nebst zwei Vorreden über Sieyes Lebensgeschichte, seine politische Rolle, seinen Charakter, seine Schriften etc. [von Konrad Engelbert Oelsner], Bd. 1 - 2 , o.O. [1796]. Die Ubersetzungen stammen von dem Schweizer Johann Gottfried Ebel, dem Fichte die Gabler'sche Buchhandlung in Leipzig als Verleger vermittelte, — die umfangreichen Vorreden in beiden Bänden von Κ. E. Oelsner; vgl. Ludwig Strauß, Aus dem Nachlaß J o h a n n Gottfried Ebels, in: Euphorion 32 (1931), 359—362; sowie Marcelle Adler-Bresse, Le manuscrit Lichtstrahlen d'Oelsner, document inconnu de la Revolution frangaise, in: Annales hist, de la Revol. ί ^ η ς . 38 (1968), 556-560. Viel unvollständiger ist die sogenannte Ausgabe letzter H a n d : Collection des ecrits d'Emmanuel Sieyes. Edition revue et augmentee par l'auteur. Paris [1797]. 3 D a z u trug sowohl ein an den Stefan-George-Kreis erinnernder Cercle u m Sieyes bei, dem auch Oelsner angehörte, als auch Sieyes selbst durch seine anonyme NOTICE SUR LA VIE DE SIEYES, Membre tie la premiere Assemblee nationale, et de la Convention. Ecrite •i l'.nii, ai Messidor 2c .inner Je l'ere republicaine [Juni/Juli 1794]. En Suisse 1795; deutsch: lieber Sieyes'ens Leben, von ihm selbst geschrieben. Aus dem Französischen übers, u. mit Anm. «. Beylagen begleitet. In der Schweiz 1795. 4 Antoine Boulay de La Meurthe, Theorie constitutionnelle de Sieyes, Paris 1836. 5 Vgl. die Berichte von Paul Bastid, Les papiers de Sieyes miraculeusement retrouves, in: Revue des travaux de l'Academie des sciences morales et politiques, 4. sör. 121 (1968), 207—215; Marcelle Adler-Bresse, Le fonds Sieyes aux Archives nationales, in: Annales hist, de la Revol. fran?. 42 (1970), 519-529. Ein sorgfältig zusammengestelltes Inventar s t a m m t von Robert M a r q u a n t , Les Archives Sieyes, Paris 1970.
8
Einleitung
Der vorliegende Band beschränkt sich daher bewußt auf eine Auswahl, indem er sich auf die theoretisch wichtigsten und zugleich historisch wirksamsten gedruckten Schriften der Jahre 1 7 8 8 bis 1790 konzentriert. Damit soll dem deutschen Benutzer nicht nur eine völlig neue Übertragung zur Verfügung gestellt werden, die modernen wissenschaftlichen Anforderungen entspricht6; die Aufnahme fast aller frühen Veröffentlichungen des Abbe soll auch helfen, das bisher weithin allein an dem Traktat über den Dritten Stand orientierte Verständnis von Sieyes zu vervollständigen und zu vertiefen. Die hier gesammelten politischen Schriften sind im ereignisreichen Zeitraum zwischen der Entstehung des Ständekonflikts von 1788 und dem Inkrafttreten der Verfassung von 1 7 9 1 erschienen. Ihre Vorformen entstanden 1 7 8 7 / 8 8 als Denkschriften für die ProvinzialVersammlung des Orleanais 7 , eine jener vom >Absolutismus< in einem letzten Reformversuch geschaffenen Repräsentativkörperschaften, der Sieyes als Vertreter der Geistlichkeit angehörte und die man als parlamentarische Schule für 1 7 8 9 noch kaum beachtet hat. 8 Die Veröffentlichungen von Sieyes setzten im Herbst 1788 ein, nachdem die französische Regierung die Diskussion über die Form der Generalstände freigegeben und damit praktisch die Pressezensur aufgehoben hatte (5. Juli 1788). Sie gehören zu einer Flut von wenigstens fünfzigtausend Reformbroschüren und Pamphleten, die trotz ihrer großen historischen und politischen Bedeutung bis heute nicht systematisch erforscht sind.9 Die erste Hälfte der folgenden Schriften vom Überblick
über
die
6 Dies kann f ü r die bisherigen Ubersetzungen nicht gelten. Diejenige von Ebel gibt zwar die Sieyesschen Vorstellungen fast durchweg mit bewundernswerter Treue wieder und wurde fur die vorliegende Neuübersetzung als Hilfe herangezogen, ist aber durch ihre Syntax und Begrifflichkeit heute für den wissenschaftlichen Benutzer in hohem Grade unbrauchbar geworden. Die Übersetzung des Tiers Etat von O t t o Brandt (1924) ist zu unpräzis und dessen vulgär-demokratisch ideologisiertem Vokabular verhaftet. Die letzte, von Rolf Hellmut Foerster besorgte deutsche Ausgabe (1968) legt die revidierte Fassung in der Oelsner-Edition von 1794/96 zugrunde, sie schließt sich zu eng an die dortige Ubersetzung an, u m als eigentliche Neuübertragung gelten zu können. 7 Zu den unedierten Manuskripten im Nachlaß vgl. Marquant, Archives Sieyes, a a O . S. 11 und 4 0 - 4 2 . 8 Z u r Bedeutung der Provinzialversammlungen zuletzt Rolf Reichardt, Die revolutionäre Wirkung der Reform der Provinzialverwaltung in Frankreich 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , in: Vom Ancien Regime zur Französischen Revolution, hrsg. v. E. Hinrichs, E. Schmitt, R. Vierhaus, G ö t tingen 1978, 6 6 - 1 2 4 . 9 Bisherige Forschungsansätze: Mitchell B. Garrett, The Estates General of 1789, New York 1935, mit einer ersten kritischen Bibliographie der Flugschritten, S. 2 2 5 - 2 6 3 ; Ralph W. Greenlaw, Pamphlet Literature during the Period of the Aristocratic Revolt, in: Journal of Modern History 29 (1957), 349-354; Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, München 1969 (Münchener Studien zur Politik 10), 14, 147-222. Die Arbeit von Gerhard Kupfer, Studien zur Broschürenliteratur der Französischen Revolution 1786-1792. Diss. phil. Tübinge η 1931, trägt zur analytischen Durchdringung der Problematik kaum etwas bei.
Einleitung
9
Ausfübrungsmittel bis zur Empfehlung des Herzogs von Orleans steht stark im Zeichen des Ständekampfes während der Inkubationsphase der Revolution. Der Dritte Stand, der bis Juli 1788 im Kielwasser der >Notabelnrevolte« geschwommen war und gemeinsam mit den alten konstitutionellen Körperschaften die verzweifelten Reformbemühungen von Calonne und Lomenie de Brienne erstickt hatte, erkennt nun, daß Parlamente und Notablenversammlung mit dem Ruf nach Generalständen und mit ihrer lautstarken Opposition gegen den ministeriellen Despotismus< nicht eine nationale Erneuerung Frankreichs, sondern vornehmlich die Befestigung ihrer ererbten Privilegien verfolgten; so bildet sich mit der Bewußtwerdung des Dritten Standes eine revolutionäre Mentalität. 10 Daraus erklärt sich die Hartnäckigkeit, mit der sie stets von neuem die eingewurzelten Denkgewohnheiten der oberen Stände und die Ungerechtigkeiten des alten Korporativstaates brandmarken. Da er selbst zu den Privilegierten zählte, wußte Sieyes sehr genau, wogegen er kämpfte. Doch bereits in diesen frühen Streitschriften ist Sieyes nicht nur der Agitator, sondern zugleich ein großer, allerdings unsystematischer politischer Theoretiker — zumal in seinem umfangreichen ersten Traktat, der fast alle seine Gedanken im Ansatz enthält und auf den er später immer wieder zurückgreift. Hier und besonders durchschlagend im Tiers £.tat unterzieht er das Gemeinwesen einer funktionalen, fast soziologischen Analyse 1 1 ; aus dem Nachweis, daß fast alle staatstragenden Funktionen — im privaten (Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Dienstleistungen) wie im öffentlichen Bereich (Kriegsdienst, Rechtspflege, Staatsverwaltung, Kirche) — ganz überwältigend von den nichtprivilegierten sechsundneunzig Prozent der französischen Bevölkerung wahrgenommen werden, folgt schlüssig die moderne Forderung nach Abschaffung der gesamten Ständeordnung, nach einer überständischen Nationalrepräsentation, nach einem egalitär organisierten Rechtsstaat. Auf dieser Grundlage entwickelt Sieyes Richtlinien und Programm für das praktische Handeln des Dritten Standes von den Wahlen für die Generalstände bis zur Nationalversammlung; ja, in außergewöhnlicher Voraussicht der inneren Probleme einer beratenden Versammlung entwirft er in diesen ersten Schriften bereits wichtige Grundregeln für die Geschäftsordnung des künftigen Parlaments. 12 10 Vgl. Robert R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution, Frankfurt a. M. 1970, bes. S. 467—505; nach Palmer ging den Revolutionen des 18. Jahrhunderts fast in ganz Europa eine Erstarkung der Aristokratie voraus. Speziell zu Frankreich erstmals und grundlegend Jean Egret, La Pre-Revolution franiaise (1787-1788), Paris 1962. 11 Diese steht in einer Reihe mit vergleichbaren Modi der soziologischen Analyse von Montesquieu, Diderot bzw. Holbach, Barnave bis Tocqueville und Marx. Vgl. Schmitt, Repräsentation und Revolution, aaO. S. 123 f., 127 f., 170-175. 12 Sieyes steht damit unter seinen zeitgenössischen Landsleuten ziemlich allein. In Frankreich gab es damals kein Pendant zu Jeremy Benthams Essay on Political Tactics, das in der englischen Fassung erst 1816 erschien, nachdem Mirabeau es bereits 1790 für die Nationalversammlung ins Französische übersetzt hatte.
10
Einleitung
Beides, vorrevolutionäre Agitation und politische Theorie, mündet in den ersten Hauptakt der Revolution: die epochemachende Erklärung des Dritten Standes zur Assemblee nationale am 17. Juni 1789, für die in erster Linie Sieyes verantwortlich war. 1 3 In der nun zeitlich folgenden zweiten Hälfte seiner im vorliegenden Band gesammelten Schriften - es handelt sich um gedruckte Reden, Gesetzesvorlagen und Ausschußberichte — tritt der Verfassungsschöpfer in den Vordergrund. Denn Sieyes war in der Tat einer der führenden Köpfe der frühen Nationalversammlung, wenn er auch weniger im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand als etwa Mirabeau oder Barnave. Losgelöst vom politischen Tagesgeschehen konnte er seine Vorstellungen im Verfassungsausschuß formulieren und verwirklichen. Indem er Gedanken der ständischen Tradition, Spinozas, Harringtons und Montesquieus 14 , Rousseaus ls und Mablys 1 6 mit eigenständigen Ideen zu einem neuen Programm verschmolz, wurde er für Europa zum Wegbereiter der Konzeption der Verfassungsgebenden Gewalt 1 7 und der antiplebiszitären repräsentativen Verfassung, zu dem neben Blackstone und Burke bis heute wichtigsten Theoretiker der Nationalrepräsentation und des freien Mandats. 18 Denn die französische Verfassung von 1791 war indirekt über die Wirkung seiner Schriften, direkt dank seiner Arbeit im Verfassungskomitee weitgehend das Ergebnis seiner Repräsentationstheorie. Sie wurde über die belgische Verfassung von 1 8 3 1 zum Vorbild der gesamten konstitutionellen Bewegung des politischen Liberalismus. 19 So ging die Sieyessche Konzeption auf dem Weg über die Paulskirchenverfassung in die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts ein, und Artikel }8 des Grundgesetzes ist nichts anderes als die Neuformulierung eines berühmten Artikels der Verfassung von 1791 (Titel 111 Kap. 1 Abschn. hi Art. 7). Dieser — im wesentlichen freilich posthume — Sieg des von Sieyes konzipierten Staatstypus wird in seiner vollen Bedeutung verständlich, wenn man ihn gleichzeitig einordnet in den umfassenderen Vorgang der industriellen Revolution in Europa, in den Prozeß des Ubergangs des Staatsführungsmonopols von den alten Aristokratien auf die neue selbstbewußt gewordene soziale Schicht des aufsteigenden Bürgertums. Das hat die bisherige Forschung zu Sieyes ebenfalls oft übersehen. Um so 13 Vgl. Schmitt, Repräsentation und Revolution, 277-284. 14 D a p h n e Trevor, Some Sources of the Constitutional T h o u g h t o f Abbe Sieyes, in: Politica 2 (1935), 326. 15 J o h n H a r o l d C l a p h a m , The Abbe Sieyes, London 1912, 32. 16 Alberic N e t o n , Sieyes d'apres des documents inedits, 3. ed., Paris 1901, 118. 17 Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, Tübingen 1909. 18 D a m i t war freilich eine Verengung des früheren, umfassenderen Verständnisses von politischer Repräsentation verbunden. Dazu Schmitt, Repräsentation und Revolution, 19-23, 30, 34 u. ö. 19 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre. Neudr. d. 3. Aufl. von 1914, Darmstadt 1960, 5 2 9 - 5 3 1 ; Palmer, D a s Zeitalter der demokratischen Revolution, a a O . 519-534.
Einleitung
11
beeindruckender erscheint es, daß sich der A u t o r dieser U m w a n d l u n g s u n d U b e r g a n g s p h ä n o m e n e b e w u ß t ist, wie zahllose E r l ä u t e r u n g e n u n d M a r g i n a l i e n in seinen Schriften anzeigen. D i e L e k t ü r e dieser Schriften ist insofern v o n g r o ß e m N u t z e n s o w o h l tür das V e r s t ä n d n i s der F r a n z ö s i schen R e v o l u t i o n w i e f ü r ihre E i n o r d n u n g in den umfassenderen historischen S t r u k t u r w a n d e l , der sich im 1 8 . und f r ü h e n 1 9 . J a h r h u n d e r t v o l l zog. 2.
Editorische
Die
Fragen
folgende N e u ü b e r t r a g u n g
sucht den
genannten
Gesichtspunkten
R e c h n u n g zu tragen. Sie w u r d e 1 9 6 5 / 6 6 v o n H e i n z R a u s c h und E b e r h a r d S c h m i t t konzipiert. Letzterer h a t in den folgenden J a h r e n die editionstechnischen
und
organisatorischen
Vorbereitungen
für
die
Ausgabe
getroffen, mit auf seinen A n s t o ß hin erfolgte die Einlieferung des SieyesNachlasses
ins N a t i o n a l a r c h i v
in Paris. D a ß
die vorliegende
Edition
v e r w i r k l i c h t werden konnte, ist d a n n auf die intensive Z u s a m m e n a r b e i t der beiden H e r a u s g e b e r in den J a h r e n
1972/73
z u r ü c k z u f ü h r e n . Beide
Bearbeiter haben das ausgehende A n c i e n R e g i m e und den B e g i n n der Französischen R e v o l u t i o n in eigener umfassender Quellenarbeit kennengelernt
und
hieraus
Anregungen
für
ihre
Beschäftigung
mit
dieser
Edition gewonnen. Entsprechend der hohen Bedeutung der Schriften des Sieyes für die E n t stehung der modernen Repräsentativverfassung auf dem Kontinent w u r d e als V o r l a g e der Ubersetzung in der Regel die zeitgenössische Fassung letzter H a n d gewählt; nur f ü r den Tiers Etat konnte die Ubersetzung auf die mustergültige kritische Edition durch
Roberto Zapperi
zurückgreifen.
Unter-
schiedliche Lesearten werden also nur in wenigen wichtigen Fällen berücksichtigt. Runde
Klammern
() verweisen
stets
auf
Originalergänzungen
des
A u t o r s . V o n Sieyes selbst s t a m m e n d e A n m e r k u n g e n sind mit Z i f f e r n gekennzeichnet. E r g ä n z u n g e n der Ubersetzer im T e x t b z w . der jeweiligen Ubersetzung Klammern
beigefügte O r i g i n a l a u s d r ü c k e [ ] . A u f Ubersetzeranmerkungen
stehen dagegen w i r d mit
in
eckigen
Kleinbuchstaben
verwiesen. D a s Schriftbild der französischen O r i g i n a l d r u c k e (ζ. B . G r o ß buchstaben, K u r s i v d r u c k ) ist nach M ö g l i c h k e i t übernommen. Erstmals veröffentlicht werden im folgenden der A n t r a g v o n
Sieyes
u n d das U l t i m a t u m der C o m m u n e s an die beiden privilegierten S t ä n d e v o m 1 0 . J u n i 1 7 8 9 , die das selbständige H a n d e l n des D r i t t e n Standes auf den G e n e r a l s t ä n d e n in Versailles auslösten u n d d a m i t die R e v o l u t i o n in G a n g setzten. 2 0 F ü r die Z u g ä n g l i c h m a c h u n g des Originaltextes aus dem 20 Die vor allem in den A rchives parlementaires de 1787 ä I860. Recueil des debats legislatifs et politiques des chambres francaises. lere serie: 1787 ä 1799. Paris 1867 f f . , Bd. 8, 85 zugängliche Fassung weist gegenüber dem Sieyesschen Originalkonzept eine Reihe von stilistischen Änderungen und von Kürzungen auf. Das gleiche gilt für die zeitgenössischen gedruckten Fassungen.
12
Einleitung
Sieyes-Nachlaß haben die Herausgeber Herrn Robert Marquant (Nationalarchiv Paris) zu danken. Bis vor kurzem nicht ins Deutsche übersetzt war der Text der restlos von Sieyes konzipierten Erklärung des Dritten Standes zur Nationalversammlung vom 17. Juni 1 7 8 9 . 2 1 Die Sprache von Sieyes ist im übrigen nicht leicht ins Deutsche zu übertragen. Sie ist angesiedelt in einer Ubergangsphase der europäischen Geschichte, in der die überkommenen Begriffe fragwürdig wurden und einem schleichenden Bedeutungswandel unterlagen. Daher die begriffliche Unsicherheit und das ständige Bemühen der Zeitgenossen um Definitionen. 2 2 Es kommt hinzu, daß Sieyes — zumal in seinen politischen Pamphleten — dauernd schwankt zwischen tagesaktueller Polemik und kühler theoretischer Beweisführung, daß er manches doppeldeutig und manches zwischen den Zeilen auszudrücken versteht und gleichzeitig bei der Verwendung zahlreicher Schlüsselbegriffe nicht konsequent den zuerst gebrauchten Bedeutungsinhalt beibehält. Jeder Leser der Originalschriften und nicht minder der Ubersetzer wird so unaufhörlich einem begrifflich-semantischen Wechselbad ausgesetzt. U m immerhin eine Reihe von Verständnisschwierigkeiten auszuräumen, die sich für den deutschen Leser aus dieser Situation ergeben können, haben die Herausgeber den Textübersetzungen ein Glossar beigefügt, das die wichtigsten dieser kaum gleichförmig und eindeutig übersetzbaren Termini enthält und in ihrem historischen Zusammenhang erläutert. Darauf wird im Text durch einen Stern * hinter dem jeweiligen Ausdruck verwiesen. Die Ubersetzerschaft der einzelnen Texte ergibt sich aus dem Inhaltsverzeichnis. Die Herausgeber
21 Er liegt neuerdings in einer nicht stets zutreffenden Ubersetzung v o r in dem v o n Walter Grab herausgegebenen Band: Die Französische Revolution. Eine D o k u m e n t a t i o n . München 1973, S. 30—31. Der Text selbst ist nicht als v o n Sieyes verfaßt erkannt. 22 Z u r neuerdings deutlicher erkannten Bedeutung der Begriffsgeschichte für das historische wie politisch-soziale Verständnis d e r »Sattel-Zeit« zwischen 1750 und 1850 vgl. Reinhart Koselleck, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit; in: Archiv f ü r Begriffsgeschichte 11 (1967), 81-99; davon inzwischen erschienen: Geschichtliche G r u n d begriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von O t t o Brunner, W e r n e r C o n z e , Reinhart Koselleck, Bd. 1 ff, Stuttgart 1972 ff; einige Fallstudien tür das Frankreich der späten Aufklärung bei Reichardt, Reform und Revolution bei C o n d o r c e t , Bonn 1973.
Chronologische Obersicht
3. Mai 1748 13. November 1765 24. November 1770 28. Juli 1772 I
775
1779 1780 1783 14. August 1786 1788. 1787-1788 Sommer 1788 (nach J.Juli) November 1788 6. N0V.-12. Dez. 1788 27. Dezember 1788 Januar 1789 Februar 1789 März 1789
j . Mai 1789 19. Mai 1789 10.Juni 1789
Geburt in Frejus Eintritt in das Seminar von Saint-Sulpice in Paris Ubertritt in das Seminar Saint-Firmin in Paris Verläßt als Priester das Seminar Sekretär des Bischofs von Treguier (Bretagne), de Lubersac. Etwas später Kanoniker im Kapitel von Treguier Kaplan von Madame Sophie, einer Tochter Ludwigs xv. Generalvikar des Bischofs von Chartres, MP de Lubersac Kanoniker im Kapitel von Chartres Von der Diözese Chartres benannter Kommissar an der Chambre souveraine des Klerus von Frankreich Kanzler des Kapitels von Chartres Vertritt den Klerus der Diözese Chartres auf der Provinzialversammlung des Orleanais, deren geschäftsführendem Ausschuß er angehört. Verfaßt: Vues sur les moyens d'execution dont les representants de la France pourront disposer en 1789 Essai sur les privileges Zweite Notabeinversammlung Entscheidung des Conseil d'Etat du Roi über die Einberufungsmodi und die Zusammensetzung der Generalstände Qu'est-ce que le Tiers-Etat? Deliberations a prendre dans les assemblies de bailliage Scheitern der Wahl Sieyes' als Abgeordneter des Klerus für die Generalstände in der Vogtei Montfort-l'Amaury Eröffnung der Generalstände in Versailles Wahl Sieyes' als Abgeordneter des Dritten Standes der Stadt Paris Ultimatum des Tiers-Etat an die privilegierten Stände, sich zur gemeinsamen Beglaubigung der Abgeordnetenvollmachten im Ständesaal einzufinden.
14
Chronologische Übersicht
17.Juni 1789 2. Juli 1789 I J. Juli 1789 Juli 1789
Juli 1789 August 1789 7. September 1789 2. Oktober 1789 März 1790 8.—2 i . J u n i 1790 Jan./Febr. 1 7 9 1 März 1791 8. September 1792 4. Oktober 1792 1 1 . Oktober 1792 13. Oktober 1792 1.Januar 1793 17.Januar 1793 23. Mai 1793 27. Juli 1794 5. März 1795 3. April 179 j 20. A p r i l - j . Mai 1795 Mai 1795 27. Mai 1795 14. Oktober 1795 1. November 1795 27. November 1795
Erklärung des Dritten Standes zur Nationalversammlung Sieyes Sekretär der Nationalversammlung Mitglied des ersten Verfassungsausschusso Preliminaire de la Constitution. Reconnaissance et exposition raisonnee des Droits de l'Homme & du Citoyen Verfaßt Quelques idees de Constitution applicables ä la ville de Paris Declaration des Droits de l'Homme en societe Dire de l'abbe Sieyes sur la question du veto royal in der Nationalversammlung Observation sur le Comite de Constitution Appergu d'une nouvelle organisation de la justice et de la police en France Präsident der Nationalversammlung Mitglied des Direktoriums des Departements Paris Lehnt eine Wahl zum Bischof von Paris ab Wahl als Abgeordneter des Departements Sarthe für den Konvent Wahl zum Sekretär des Konvents Mitglied des zweiten Verfassungsausschusses Mitglied des Ausschusses für öffentliches Schulwesen Mitglied des Allgemeinen Verteidigungsausschusses Stimmt für den Tod des Königs Präsident des Ausschusses für öffentliches Schulwesen Sturz Robespierres Mitglied des Wohlfahrtsausschusses Mitglied des neuen Verfassungsausschusses Präsident des Konvents Erzwingt mit dem Abgeordneten Reubell als Unterhändler im Haag einen Freundschaftsvertrag mit Holland Professor für das Fach economie politique an der Ecole centrale von Paris Wahl als Abgeordneter des Departements Sarthe für das Corps legislatif Wahl zum Mitglied des Direktoriums, lehnt Annahme des Amtes ab Wahl zum Mitglied des Institut
Chronologische Übersicht
2 i . November 1796 1. April 1 7 9 7 Mai 1798—Mai 1799 20. Mai 1799 18. Juni 1799 1 3 . August 1799 Okt.—Nov. 1799 9. November 1799 10. November 1799 1 3 . Dezember 1799 29. Juli 1802 3 . J u n i 1808 3. April 1 8 1 4 2. Juni 1 8 1 5 23.Januar 1816 2 1 . Mai 1 8 1 6 September 1 8 3 0 20. Juni 1 8 3 6
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Präsident des Rats der 500 Attentat auf Sieyes Französischer Sonderbotschafter in Berlin Mitglied des Direktoriums Präsident des Direktoriums Läßt den Jakobinerklub schließen Intensive Teilnahme an Vorbereitungen für einen Staatsstreich Staatsstreich Napoleon Bonapartes Sieyes zusammen mit Bonaparte und Ducos zum Konsul ernannt Präsident des Senats Großoffizier der Ehrenlegion Wird in den Grafenstand erhoben Unterzeichnet als Senator die Abdankungsurkunde Napoleon Bonapartes Wird von Napoleon Bonaparte auf die Liste der Pairs von Frankreich gesetzt Abreise ins E x i l nach Brüssel (als >Königsmörder< lebenslänglich verbannt) Aus der Academie des sciences morales et politiques ausgeschlossen Nach dem Sturz Karls x. Rückkehr nach Paris Tod im Alter von 88 Jahren in der rue du faubourg Saint-Honore in Paris
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AUFLAGE
M a n kann, ja man muß seine Wünsche auf die Stufe seiner Rechte heben; die Pläne aber muß m a n nach seinen Mitteln richten.
1789
[Originaltitel: VUES SUR LES MO YENS D ' E X E C U T I O N Dont les Representants de la France pourront disposer en 17S9. 1789. VIII, 168 S. - Die Schrift erschien anonym ohne Orts- und Verlagsangabe im November 1788 während der Zweiten Notabelnversammlung. Die Ubersetzung folgt der gleichfalls anonym erschienenen Ausgabe vom Januar 1789. Anm. d. Ubers.] 17
Vorbemerkung
Diese Schrift wurde während der letzten Tage eines Ministeriums verfaßt, das Verachtung und öffentlichen Haß im Ubermaß erregt hatte, [ a ] Man wundere sich deshalb nicht, hier Wahrheiten mit galliger Tinte geschrieben zu sehen, die zu jeder anderen Zeit in ruhigem Ton hätten vorgetragen werden können. Herr Necker hat, als er die Verwaltung der Finanzen wieder übernahm, für uns wenn nicht den Sinn, den man immer mit dem Wort Ministerium verbinden muß, so doch die Vorstellungen, die sich an das Wort Minister knüpfen, verändert. Seit diesem Augenblick, muß ich gestehen, tat es mir leid, dies Wort mit einer nicht länger angebrachten Schärfe von Ärger und Bitterkeit ausgesprochen zu haben. D a jedoch ansonsten der Hauptgegenstand dieser Arbeit, obgleich vom letzten Sommer, noch immer aktuell [tout neuf] ist, entschließe ich mich, sie der Öffentlichkeit nicht vorzuenthalten. Man wird darin nichts über die ärgerlichen Auseinandersetzungen finden, die seither zwischen den Ständen entstanden sind. Hier geht es ausschließlich um die Nation auf der einen Seite und die unumschränkte Macht auf der anderen. Ich bitte also noch einmal, bei der Lektüre nicht zu vergessen, um welche Minister es in dieser Denkschrift geht. Es würde meine Eigenliebe nur zu schwer treffen, wenn man diesen Hinweis vergäße. Schiene doch meine Sprache die eines Verrückten, und mit Recht; denn wer anders als ein Verrückter oder allenfalls noch ein durch Haß irregeleiteter Mensch könnte den von der Bevölkerung [Peuples] verehrten Administrator, der allein heute die Finanzen und das öffentliche Vertrauen aufrechterhält, mit den abgesetzten Ex-Ministern durcheinanderbringen! Ich kenne diesen mit Recht berühmten Mann nicht von Person, aber ich zolle seiner Tugend und seinen Fähigkeiten gern Beifall, und zwar um so aufrichtiger, als ich mich ebenso frei von jedem Parteigeist wie von jeder Schwärmerei weiß. Ich ehre und verehre ihn, ohne bis zur Anbetung zu gehen. Wenn ich auch seine Gesinnung aufs Höchste schätze, so gestehe ich doch, daß ich mich mit seinen politischen Grundsätzen nicht befreunden kann. Im Gesellschafts- und Geschäftsleben zeigt sich im Augenblick gewiß niemand, den man sich auf seinen Posten wünschen könnte. Aber — um meine Gedanken in einem Wort zusammenzufassen — ich sehe mit Schmerz, daß es keine Kraft gibt, uns eine Verfassung [constitution] zu
[a] Gemeint ist die Regierung Lomenie de Brienne, die am 25. August 1788 gestürzt wurde; sein Nachfolger war Necker. Sieyes hat die Schrift dann im Sommer als erstes seiner Pamphlete verfaßt, konnte sie aber erst Anfang 1789 nach dem Erfolg seines TiersEtat drucken lassen. [Anm. d. Ubers.]
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geben. 1 Hoffen wir, daß die nationalen Repräsentanten [Representans nationaux] nur sich selbst brauchen werden, um Frankreich eine Verfassung zu schaffen. Das ist ihr Recht, ja ihre Pflicht: es wird denn auch ihr Werk sein. Es ist Bedürfnis des Volkes zu glauben, daß Herr Necker sein Mann sei. Ein schönes Lob! Wehe dem, der versuchte, ein Vertrauen zu stören, das so rühmlich für den ist, der es einflößt, und so tröstlich, ja vielleicht notwendig für den, der es zollt. Allein, wenn man bedenkt, daß bei diesem Volk Liebe und Tadel immer maßlos sind, wenn man erlebt, wie aus allen Teilen des Königreichs ein nicht endender Strom von Zuschriften und Stellungnahmen Herrn Necker nicht etwa Danksagungen, sondern einen regelrechten Lobgesang darbringt — wie sollte man von solch zügelloser Stimmung nicht unabsehbare Folgen befürchten? Und wie sollten wir nicht in der besten Absicht wünschen, unsre Mitbürger gegen die gefährlichen Folgen dieser Schwärmerei* zu wappnen? Schwärmerei ist blind von Natur; außerdem verbündet sie sich nur zu gern mit der Trägheit, obgleich alles in ihr Bewegung scheint, denn Bewunderung erstickt die Tatkraft. Wenn die Nation durch den Zwang der Umstände aufgerufen ist, ihr künftiges Schicksal selbst zu ordnen, die Abgeordneten aber die öffentliche Anerkennung in Anbetung verkehren; wenn sie und mit ihnen die Nation sich einem Mann zu Füßen werfen, der letztlich nur ein Minister ist; wenn sie vergessen, daß ihre Aufgabe nicht darin besteht, alles von einem Einzelnen zu erwarten, sondern alles selbst zu erkennen und zu entscheiden; wenn sie sich in apathische Vertrauensseligkeit einlullen, weil ja ein Mann, ein Minister für sie wache: was können wir von einem so kopflosen und so jämmerlichen Verhalten eigentlich erhoffen? Wozu ist es nötig, die Elite [elite*·] Frankreichs zu versammeln, wenn man bei ihr unmöglich mehr Aufgeklärtheit, mehr Patriotismus* findet als bei einem Einzelnen, einem Minister, wer es auch sei? Gewiß ist es für die Generalstände wichtig, Erfahrungen und Fähigkeiten desjenigen zu nutzen, auf den sich aller Augen heften, weil er große Hoffnungen zu nähren vermag, der unter den Freunden des Vaterlands einen ausgezeichneten und verdienten Rang einnimmt; aber nochmals: wie greifbar und bedeutend dieser Vorzug auch sein mag, entbindet er die Repräsentanten der Nation etwa von ihrer Pflicht, selbst zu handeln? Sollen sie sich etwa in allem, was sechsundzwanzig Millionen Menschen betrifft, deren Vertrauen und
1 Vergleiche das Reglement, das die Einberufungsbriefe begleitet, usw., usw. [Gemeint ist das Reglement fait par le Rot pour I'execution des lettres de convocation du 24 janvier 1789. Veröffentlichungen des Textes in: A r m a n d Brette, Recueil de documents reladfs ä la convocation des Etats generau* de 1789,1, Paris 1894, S. 64 ff.; sowie in: Vom Ancien Regime zur Französischen Revolution, 2. durchges. Aufl. bearb. von Ernst Walder ( = Quellen zur Neueren Geschichte. H . I . ) , Bern 1952, S. 8 - 2 3 . - Anm. d. Übers.]
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Vollmacht [procuration] sie haben, auf jemand anderes verlassen? Seien wir nicht undankbar, bedenken wir aber, daß Dankbarkeit den Völkern mehr Schaden zugefügt hat als Unzufriedenheit.
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U b e r b l i c k über die Ausführungsmittel, die den F r a n k r e i c h s 1 7 8 9 zur V e r f ü g u n g stehen
Repräsentanten
Man kann, ja man muß seine Wünsche auf die Stufe seiner Rechte heben; die Pläne aber muß man nach seinen Mitteln richten.
Es gibt genug Leute, die glauben, daß man Gesetze für zivilisierte N a tionen im finsteren Mittelalter"" suchen müsse. W i r werden uns nicht in der ungewissen Suche nach altvaterischen Einrichtungen und Irrtümern verlieren. Die Vernunft taugt f ü r jede Zeit; sie ist für den Menschen gemacht; und er muß mit Achtung und Zutrauen auf sie hören, besonders wenn sie von seinen höchsten Interessen kündet. Wird man etwa, wenn es um die Befriedigung der Lebensbedürfnisse geht, die frischen Ergebnisse einer vervollkommneten Kunst verschmähen und Vorbilder in Otahiti oder bei den alten Germanen suchen? Bestellt doch eine Wanduhr beim Uhrmacher und seht, ob er sich etwa damit aufhält, aus der wahren oder falschen Geschichte der Uhrmacherkunst die verschiedenen Mittel zur Zeitmessung herauszusuchen, auf die das Handwerk [industrie] schon bei seiner Entstehung hat verfallen können. Er meint mit Recht, daß die langen tastenden Versuche des menschlichen Geistes in den Jahrhunderten der Unwissenheit weniger zur Leitung seiner Kunst taugen als jener Teil der Mechanik, in dem die Gesetze und Gedanken des modernen Genies niedergelegt sind. Nicht weniger ist in unsern Tagen die Mechanik der Gesellschaft [mecanique sociale] durch gesetzgeberische Erfindungen bereichert worden, die das Genie in nächtelanger Arbeit erdacht hat; warum sollten wir uns also weigern, diese Mechanik heranzuziehen, um die großen Bedürfnisse der politischen Gesellschaften zu befriedigen? Müssen wir denn — w o wir die geringsten Fortschritte, die wir bei den Künsten der Geselligkeit und des Luxus beobachten, immer gleich begierig zu unserm Genuß nutzen — stets von neuem in schändliche Gleichgültigkeit verfallen, sobald es um die Fortschritte des art social* geht, dieser vornehmsten aller Künste, deren gelehrte Berechnungen das Glück der Menschheit in sich schließen? Uber nichts darf man verzweifeln. Der Lauf der Ereignisse ist weiser als die Bemühungen der Menschheit und hat uns nun in eine Lage versetzt, die wohl geeignet ist, die Gemüter im Innersten zu erschüttern und unsre T a t k r a f t wachzurütteln. Gewiß wird aus dem Freiheitsstreben auch ein Streben nach Vernunft werden, und wir werden endlich dieser wahren Wohltäterin der Menschen gehorchen, von der alle Kenntnisse
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und Einrichtungen stammen, die das Schicksal der Menschheit nach und nach gebessert haben. Mit einiger Beschämung beginnt ein Teil der Öffentlichkeit zu begreifen, welche Merkmale eine als politisches Gemeinwesen [corps politique] organisierte N a t i o n von einer ungeheuren, über zwanzigtausend Q u a d r a t m e i l e n verstreuten Menschenherde wesentlich unterscheiden. Schon fordert man in verschiedenen Teilen des Königreichs mit N a c h druck, es sei höchste Zeit, nicht länger die feigen O p f e r einer überalterten U n o r d n u n g zu bleiben. D a z u beruft man sich auf die fundamentalen Grundsätze der wahren Gesellschaftsordnung* [ordre social] und merkt sehr wohl, daß eine gute Verfassung das vornehmste und für die Bevölkerung wichtigste von allen Gesetzen darstellt. D e n n nur eine gute Verfassung kann den Bürgern wieder ihre natürlichen und gesellschaftlichen Rechte verschaffen, deren Genuß gewährleisten, allem Guten, das geschieht, Beständigkeit verleihen, und bewirken, daß alles Schlechte, das man getan hat, allmählich ausgelöscht wird. Schon wagen die patriotischen und aufgeklärten Bürger, die all jene willkürlich und zwecklos zusammengepferchten Millionen von Menschen so lange voll Trauer und E m p ö r u n g betrachtet haben, einige H o f f n u n g zu fassen. Sie vertrauen auf die Macht der U m s t ä n d e ; sie sehen endlich für uns den Zeitpunkt gekommen, eine Nation zu werden. D i e Generalstände sind einberufen; sie werden unzweifelhaft stattfinden, weil sie sogar für jene notwendig geworden sind, die meinen, sie am meisten fürchten zu müssen. U m aber unsern D a n k nicht an die falsche Adresse zu richten, muß m a n es aussprechen und nach Kräften verbreiten: die Einberufung der Nationalversammlung ist mitnichten die Frucht auch nur einer guten Absicht seitens des Ministeriums. N u r dem U b e r m a ß der Mißstände haben wir sie zu verdanken. D a s U b e r m a ß der Mißstände wird schließlich alles vollbringen. D i e ausgewogene Darstellung des jüngsten Geschehens in dieser Hinsicht bleibt unsern N a c h k o m m e n vorbehalten. D o c h muß m a n ihnen klarmachen, daß die große, eigentlich zum Schutz bestimmte politische Maschinerie, die diesem Zweck aber immer wiedfer durch nicht rechenschaftspflichtige Administratoren entfremdet wird, das Vermögen der Bürger zugrunderichtete und sie selbst in den Schmutz trat; daß dies unmenschliche Spiel der normale G a n g der Dinge geworden w a r ; und daß wir das auch noch d u l d e t e n ! . . . [sie] U n d der Zustand hätte noch lange angedauert, hätten die Minister seine Grundlage in T a g e n der Sinnesverwirrung nicht selber untergraben und zerstört. Erschreckt von ihrem eigenen Werk und angstzitternd vor seinen Folgen haben sie nun versucht, denselben vorzubeugen, aber vergeblich, und so haben sie sich wohl oder übel entschließen müssen, ihre Verlegenheit und ihre Fehler bekanntzugeben. Doch man sollte es nicht glauben: dem Dünkel ihrer Stellung getreu und mit der ganzen Unverschämtheit
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langer Straflosigkeit besaßen die Minister die Stirn, in jenem selbstsicheren und edelmütigen Ton, in dem man eine Wohltat verkündet, auch noch Hilfe zu erbitten. Unterdessen aber lag der jämmerliche Zustand des Gemeinwesens* offen zutage. Alle Hilfsquellen erschienen unzureichend. Die Notabein* und die Parlamente* konnten nicht umhin, der Regierung den fast strafbar gewordenen Rat ins Gedächtnis zurückzurufen, bei der wahren Triebkraft aller Verwaltung Zuflucht zu suchen. So ist das Wort Generalstände dem französischen Großvesir [Visir] [a] endlich doch über die Lippen gekommen, ohne daß er aufgehört hätte, die Sache selbst im Innersten zu hassen. Insgeheim erhoffte er sich viel von seiner Heuchelei und von der Zeit. Seine Heuchelei aber hat man durchschaut und die Zeit hat ihn nur noch gebieterischer zu den vielgefürchteten Generalständen mit sich fortgerissen. Er sieht sie vor sich und verliert die Fassung; er vergißt das Gebot der Notwendigkeit; nur die eigene Gefahr vor Augen erschöpft er zu ihrer Beseitigung alle Maßnahmen, alle Machenschaften. Er wagt sich an bedenkliche Anschläge, so wie man einen Notbehelf ausprobiert. Zuguterletzt — und das ist sichere Tatsache — trieb die Regierung ihre strafbare Kühnheit so weit, den abscheulichen Plan eines Staatsbankrotts, ja den noch teuflischeren Plan eines Bürgerkriegs kaltherzig zu erwägen und in seinen Folgen zu berechnen; und wenn diese verabscheuungswürdigen Mittel schließlich verworfen worden sind, so hüte man sich wohl, das ihren Gewissensbissen zur Ehre anzurechnen: nach reiflicher Überlegung hat man sie vielmehr nur für unzureichend gehalten. So mußten sich Freunde und Feinde der Nation auf verschiedenen Wegen schließlich an ein und demselben Punkte treffen. Die guten Bürger werden auf dem Weg des Nationalinteresses dorthingeführt, die Regierung im Sog von Mißständen und Uberschreitungen der Amtsgewalt. Niemals konnte die Nationalversammlung* [Assemblee Nationale] die offene und ehrliche Absicht der Regierungsseite sein; sie ist lediglich zum unvermeidlichen Endpunkt ihrer Veruntreuungen geworden. Ach! Wie sollte man nicht in tiefe Bestürzung verfallen, wenn man bedenkt, daß die Generalstände noch immer in das Reich der Wunschträume gehörten, wären die Verbrechen der Regierung in ihren Folgen nicht wirkungsvoller und mächtiger gewesen als der gerechte, ja notwendige, jedoch ohnmächtige Wunsch von sechsundzwanzig Millionen Menschen ! Man wird also nicht umhin können, diese Nationalversammlung abzuhalten, die so viele sehnlich herbeigewünscht haben, die so viele Hoff[a] Abwertende Bezeichnung für Neckers Amtsvorgänger, den viele als orientalischen Despoten hinstellten. Vgl. Le Visiriat franfais, ou Journal historique de la revolution operee dans la constitution de la monarchic franfaise par M. de Calonne . . . par M. de Lamoignon . . . Londres 1790. [Anm. d. Ubers.]
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nungen begleiten und deren Ergebnisse um so wertvoller sein werden, je besser man es versteht, mit dem Zwang der Verhältnisse ein zugleich aufgeklärtes, mutiges und maßvolles Verhalten zu verbinden. Viele gute Patrioten"· werden sich eifrig bemühen, die reformbedürftigen Mißstände vor ihr anzuklagen, sie auf die notwendigen Wohltaten hinzuweisen, ihr Gesetzgebungssysteme voll nützlicher Gedanken zu unterbreiten. Wir aber, die wir überzeugt sind, daß die meisten Abgeordneten mit der Erfahrung der Gebrechen auch die Kenntnis der richtigen Heilmittel und das echte Verlangen nach Heilung vereinigen - wir setzen voraus, daß sie das Gute nicht nur tun wollen, sondern auch wissen, worin es besteht. Indessen, einen wie schönen und vollständigen Plan dessen, was man zum Besten der Bevölkerung zu erreichen wünscht, man auch erklügeln mag, so bleibt das alles doch nur das Werk des philosophe*, eben nur ein Plan. Der sichere Blick des Administrators sucht die Ausführungsmittel. Er vergewissert sich im voraus, ob es möglich ist, die guten Einsichten des philosophischen Denkers auch zu verwirklichen, und das sind zwei ganz verschiedene Überlegungen. Werden die Generalstände genügend Ausführungsmittel besitzen? Werden sie diese auf dauerhafte Art und Weise besitzen? Das ist gewissermaßen die praktische Frage, auf die ich mich beschränke. Wie man sieht, ist diese Schrift als Ergänzung zu betrachten zu der großen Menge theoretischer Werke, welche die Zeitumstände hervorbringen werden. Wir behaupten, daß die Generalstände nur insofern von umfassendem und dauerhaftem Nutzen sein werden, als sie mit dem Wissen und Willen, die man bei ihnen voraussetzen kann, auch die gesetzgebende und ausführende Gewalt vereinigen; werden sie sie haben? Drei Bedingungen machen diese Gewalt aus: erstens das Recht zu handeln; zweitens vollkommene Freiheit beim Handeln; drittens Dauerhaftigkeit der Handlungsergebnisse. Diese Einteilung ist klar. Um ihr zu folgen, werden wir in drei Abschnitten beweisen: 1. daß die Generalstände das Gesetzgebungsrecht haben; 2. daß es nur von den Generalständen abhängt, die gesetzgebende Gewalt auch frei auszuüben; 3. daß es die Generalstände vermögen, das Ergebnis ihrer Beratungen fest zu verankern und ihm Dauerhaftigkeit zu verleihen.
Erster Abschnitt Die Generalstände haben die gesetzgebende Gewalt Es ist gewiß, daß die Generalstände viel Gutes bewirken werden, sofern sie viel Gewalt besitzen. Um den Umfang der ihnen in dieser Hinsicht
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zukommenden Gewalt kennenzulernen, braucht man wohl weder jenen Haufen von Stellvertretern befragen, die bloß die Meinungen und das Gewissen ihres jeweiligen Standes haben und deren Stand an den jeweiligen Gang ihrer Geschäfte geknüpft ist, noch auch jene wichtigtuerische Vorzimmersippschaft [ces importans d'antichambre], die ein ehrenwertes Leben damit hinbringt zu betteln, zu intrigieren und eben das Volk zu hassen, das gezwungen wird, ihr aufgeblasenes Schmarotzertum zu bezahlen. Man braucht sie doch nur sagen hören: »Die Generalstände sind zum Geldgeben da; und wenn man ihnen zum Trost erlaubt, ein Beschwerdeheft* zusammenzustellen, so geschieht das nur der Form halber. Eigentlich ist es ein Abschiedsheft.« Wahrlich eine würdige Nation, die das Recht hat, Geld und Beschwerden anzubieten! Untersteht man sich denn zu glauben, nur die Generalstände hätten das Beschwerderecht? Oder will man uns einreden, die Klagen eines verstreuten Volkes verdienten kein Gehör? Oder vermag etwa die versammelte Nation keinen Deut mehr als jeder Einzelne? Treten wir in das Sachproblem ein und machen wir uns zunächst einen Begriff vom Zweck jeder Gesetzgebung und von den beiden Grundbestandteilen, die sie wesentlich ausmachen! Der alleinige Zweck aller Gesetze ist die FREIHEIT des Bürgers. 2 Auf sie müssen sie alle Bezug haben, entweder direkt, dann bilden sie die Zivilgesetzgebung, oder indirekt, dann betreffen sie die Regierung. Wir werden sehen, daß die Generalstände das Recht haben, unter diesen verschiedenen Gesichtspunkten Gesetze zu machen. Es wird allgemein anerkannt, daß der Nation allein das Steuerbewilligungsrecht zukommt. Was ist das aber letztlich, Steuern zu bewilligen? Doch die Verpflichtung jedes Bürgers, einen Teil seines Eigentums zur Aufrechterhaltung des Gemeinwesens abzugeben. Der allein macht das Gesetz, welcher in jenen, die es betrifft, auch die moralische Verpflichtung erzeugt, sich dem Gesetz zu unterwerfen. Wohl kann der Fiskus den Steuerschuldigen, den das Gesetz verpflichtet, verfolgen. Wohl kann die öffentliche Gewalt die Ausführung dieser Verfolgung sichern, das Gesetz aber ist weder das Werk des Fiskus noch der Staatsgewalt. Es ist einzig und allein der erklärte Wille desjenigen, der das Recht hat zu verpflichten. Wenn man also den Grundsatz zugibt, daß allein die Nation den Steuerzahler verpflichten kann, dann ist es eine unmittelbare Folgerung, die man gleichermaßen anerkennen muß, daß dieser Teil der gesetzgebenden Gewalt den Generalständen zukommt. Leugnet man aber, daß die Nation imstande gewesen sei, das Verfü2 Die folgende Analyse ist genauer als jene, an die man sich gewöhnlich hält. Man beschreibt Freiheit, Eigentum und Sicherheit als drei verschiedene Zwecke des gesellschaftlichen Gesetzes; aber diese drei Dinge hängen aufs engste zusammen.
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gungsrecht selbst über den geringsten Teil ihres Sacheigentums einem Herrn preiszugeben, wie kann man sich dann einbilden, sie hätte sich mit dem Verzicht auf das Eigentum ihrer Person — dieser vornehmsten aller Güter und aller Rechte — freiwillig das deutlichste und schändlichste Zeichen der Sklaverei aufbrennen können? Wer sich die volle Verfügungsgewalt über sein Sacheigentum [sa chose] vorbehalten hat, dem ist der Verzicht auf die Freiheit seiner Person weder zuzutrauen noch möglich; es wäre ein Akt der Verrücktheit. Diese beiden Überlegungen dürften hinreichend beweisen, daß die Gewalt der Generalstände sämtliche Gesetze umfaßt, die den Bürger mit seinen beiden Arten von Eigentum betreffen. Doch gehen wir weiter: Wir alle wissen, daß in den verrohtesten Zeiten der Monarchie die Gesetze ohne Unterschied durch das Volk oder mit Zustimmung des Volkes beschlossen wurden. D a jedoch die damaligen Administratoren weniger unwissend waren als das Volk, ist es begreiflich, daß ein größerer Einfluß von ihrer Seite wohl öfters mit dem Allgemeininteresse übereinstimmte. Heute gilt die Nation nicht nur mehr als früher, sie ist auch viel aufgeklärter als die Regierung. Sollte das etwa zu der Vermutung berechtigen, daß sie in der Ausübung ihrer Rechte auf noch viel engere Grenzen beschränkt sei? Wir gehen von dem Grundsatz aus, daß es in Frankreich keinen Sklaven gibt. Die sechsundzwanzig Millionen Menschen Bevölkerung des Königreichs sind frei; wie kann man sich da vorstellen, die Nation sei es nicht? Wenn die Sklaverei kein Haupt eines Einzelnen zu finden vermag, um sich niederzulassen, wie könnte sie dann die gesamte Nation gefangenhalten? Im allgemeinen würde man jeden Bürger als Hörigen betrachten, dem man das Recht nähme, seine Interessen zu Rate zu ziehen, Gesetze zu beraten und sich aufzuerlegen; folglich kommt der Nation notwendigerweise das Recht zu, ihre Interessen zu Rate zu ziehen, Gesetze zu beraten und sich aufzuerlegen. Dringen wir in dies wichtige Problem noch weiter ein. Wir wollen sehen, was die gesetzgebende Gewalt an sich eigentlich ist und worin sie bei einem mehr oder weniger großen Volk bestehen konnte. Jeder Mensch, sagten wir, hat das angeborene Recht, zu beratschlagen und für sich selber zu wollen, sich zu verpflichten und gegenüber andern zu binden, und folglich sich Gesetze aufzuerlegen. Betrachten wir diesen Menschen zunächst unabhängig von jeder Vergesellschaftung und in dem Augenblick, wo er eine solche mit anderen gleichartigen Individuen eingehen will. Lassen wir die inneren Beziehungen der Familien beiseite. Bei einem solchen Gegenstand muß man möglichst vereinfachen. Behauptet man, daß nicht die individuellen Köpfe, sondern die Familienhäupter die Grundelemente der Gesellschaft ausmachen, so will ich für den Augenblick alles zugeben, was man will. Denn es ist hier nicht der
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Ort, diese Frage zu erörtern. Ich spreche nur von den Gliedern der Vereinigung, die man als ihre integrierenden Bestandteile betrachten kann, von den Gliedern, die zum Vertragsschluß zugelassen sind; und ich sage, daß zwischen ihnen nur solche Beziehungen vereinbart werden können, die auf dem freien Willensakt eines jeden beruhen. Entweder will man freiwillig, oder man wird gezwungen; ein Mittelding gibt es nicht. Im ersteren Fall sehe ich eine echte Verpflichtung, die sich aus ihrem wahren Ursprung ableitet; denn, wie wir gesagt haben, ist es Sache jedes Einzelnen, für sich selbst zu wollen. Wille und Verstand sind die beiden Fähigkeiten, welche die Natur mit dem Wesen des Menschen verknüpft hat, damit er die ihm von ihr vorgezeichnete Bahn durchläuft. Diese beiden Fähigkeiten sind gleichermaßen unveräußerlich, die eine wie die andre. Es ist erforderlich, daß sich jeder Einzelne gegenüber den andern selbst bindet und verpflichtet. Sein Wille allein kann seiner Bindung die Eigenschaft einer moralischen Verpflichtung verleihen. Jenseits davon sehe ich nur Herrschaft der Gewalt und ihre verhaßten Folgen. Aber diese Herrschaft kann niemals eine moralische Macht werden. Sie ist, wenn man dies Bild gebrauchen darf, bloßer mechanischer Druck, der Wirkung, aber nicht Verpflichtung erzeugt, es sei denn eine Verpflichtung, welche dies gewaltsame Prinzip wenn nicht bewirken, so doch erwecken und in der Brust des Schwachen anstacheln muß, nämlich die natürliche und heilige Pflicht, unaufhörlich den Versuch zu unternehmen, die Unterdrückung zurückzuweisen und sich ihr mit allen verfügbaren Mitteln zu entziehen. Für eine gesellschaftliche Bindung, die mehrere Individuen vereinigt, dürfen wir also keinen anderen Ursprung annehmen als einen freien Willensakt. Ein Mensch kann Sache gegen Sache, Verpflichtung gegen Verpflichtung tauschen. Alles bei den Menschen ist Tausch; und jede Tauschhandlung beinhaltet notwendig beiderseits einen freien Willensakt; kein Mensch aber hat das Recht, einem andern dabei zu befehlen; der gegenteilige Grundsatz würde sämtlichen Greueln und der Vernichtung aller Rechte Tor und Tür öffnen. Damit wäre diese Wahrheit zur Genüge hervorgehoben; sie mußte betont werden, weil sie so wesentlich und grundlegend ist. Feststeht, daß der Einzelwille der einzig mögliche Grundbestandteil der Gesetze ist und daß eine rechtmäßige Gesellschaft keine andere Grundlage haben kann als den freien Willen der Gesellschafter*. Wenn wir eine Vereinigung annehmen, so gehört zu ihr zugleich auch die Freiheit zu wollen, sich zu verpflichten, sei es nun gegenüber anderen Vereinigungen, gegenüber ihren eigenen Mitgliedern oder gegenüber fremden Einzelpersonen. Zur Befriedigung der gemeinschaftlichen Bedürfnisse ist ein gemeinschaftlicher Wille* [volonte commune] nötig. Dieser Wille muß natürlich das allgemeine Erzeugnis aller Einzelwillen sein; und gewiß ist der erste gemeinschaftliche Wille einer Anzahl
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von Menschen, die sich nach unsrer Annahme zur politischen Gesellschaft vereinigen, genau die Summe aller Einzelwillen. In der Folgezeit aber hieße es, auf die Möglichkeit gemeinschaftlichen Wollens verzichten, ja den gesellschaftlichen Zusammenschluß auflösen, würde man verlangen, daß der gemeinschaftliche Wille immer und stets jene genaue Summe sei. Man muß sich also unbedingt entschließen, in einer vereinbarten Mehrheit alle Merkmale des gemeinschaftlichen Willens anzuerkennen. 3 Und man glaube nur nicht, daß die Gesellschaft bei einer solchen Ubereinkunft letztlich bloß von einem unvollkommenen Willen regiert werde. Jeder Bürger geht vielmehr durch den Vereinigungsakt die dauernde Verpflichtung ein, sich auch dann durch den Beschluß der Mehrheit als gebunden zu betrachten, wenn sein Einzelwille zur Minderheit gezählt haben sollte. E r unterwirft sich der Mehrheit, sagen wir, im voraus durch einen freien Akt seines Willens und behält sich lediglich das Recht vor, die Vereinigung zu verlassen und auszuwandern, wenn die dort gemachten Gesetze ihm nicht zusagen — so daß die fortwährende Dauer seines Aufenthalts zur freiwilligen Anerkennung der Mehrheit wird, eine stillschweigende, doch faktische Bestätigung jener ersten Bindung, durch die er im voraus die Verpflichtung übernommen hat, den gemeinschaftlichen Willen als seinen eigenen zu betrachten. Auf welche Weise aber ihr diesen gemeinschaftlichen Willen auch immer bildet, immer kann er nur aus den Einzelwillen der Bürger bestehen. Das ist der alleinige Grund dafür, weshalb er für alle eine echte Verpflichtung bewirkt und für die gesamte Gemeinschaft Gesetzeskraft hat. Doch gehen wir weiter, um die abermaligen Änderungen kennenzulernen, die das zahlenmäßige Anwachsen der Gesellschaft für die gesetzgebende Gewalt mit sich bringt. Im Maße, wie die Zahl der Bürger zunimmt, wird es für sie schwierig, ja unmöglich, sich zu versammeln, um die Einzelwillen einander gegenüberzustellen, sie auszugleichen und den Gemeinwillen* [voeu general] zu ermitteln. Somit wird es nötig, daß die Gemeinschaft sich nach mehreren Bezirken 4 aufgliedert und daß jede Teilgruppe einige ihrer Mitglieder damit beauftragt, ihre Stimme an einen gemeinsamen Sammelpunkt zu überbringen. Schon bald aber erkennt man, daß die Methode der Abordnung bloßer Stimmträger den entscheidenden Mangel hat, daß es oft unmöglich wird, aus der Gesamtheit der Stimmen einen gemeinschaftlichen Willen zu gewinnen, weil die Abgeordneten gehalten sind, sich peinlich genau an
3 Es gibt nicht nur eine einzige Mehrheit. Bei hundert Personen ist zum Beispiel deutlich zu sehen, daß es Mehrheit von 51 bis 99 gibt. Es gibt einfache, Zweidrittel-, Dreiviertelmehrheit usw. 4 Einteilung in Distrikte ist nicht Einteilung in Stände, Zünfte oder Innungen. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.
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die Meinung ihrer Auftraggeber zu halten, und untereinander keine Ubereinkunft treffen können; was man jedoch braucht, ist gerade der gemeinschaftliche Wille, und jedes Mittel, das ihn nicht verschafft, ist von Grund aus schlecht. Man muß doch einsehen, daß bei der Notwendigkeit, erneut die Meinung der Auftraggeber der verschiedenen Distrikte einzuholen, ihnen von dem Vorgefallenen zu berichten, ihre neuen Anordnungen zu erwarten und diese Prozedur so oft zu wiederholen, wie die Stimmen noch keinen gemeinschaftlichen Willen ausmachen — man muß doch sehen, daß die Geschäfte so nicht enden würden, daß das Gemeininteresse dabei Schaden nähme und daß die Allgemeinheit der Assoziierten vor lauter Bestreben, eine allzu unmittelbare Ausübung ihres Willens zu behalten, sich den Gebrauch desselben versagen würden. Jene Methode krankte noch an anderen Nachteilen. Auf alle kann man nicht hinweisen; es mag genügen, nur einen anzuführen, der geeignet ist, alle Beratungen hinfällig zu machen: wenn man nämlich bei einer scheinbaren Mehrheit nie sicher wäre, den wirklichen gemeinschaftlichen Willen zu haben, der allein Gesetzeskraft besitzt. Dies Übel ist mit dem Brauch verbunden, die Stimmen nach Abteilungen und nicht nach beschließenden Köpfen zu zählen. Wir führen diese Tatsache im zweiten Teil, wo sie sich besser einordnet, weiter aus. Die Gemeinschaft entschließt sich also, ihren Beauftragten mehr Vertrauen zu gewähren. Sie erteilt ihnen die Vollmacht*, sich mit voller Wirkung zu versammeln, zu beraten, untereinander auszugleichen und gemeinsam zu wollen: so hat sie nun statt bloßer Stimmträger echte Stellvertreter. Beachten wir aber wohl — denn solche Wahrheiten müssen einem stets bewußt bleiben —, daß der den Repräsentanten erteilte Auftrag niemals eine dauernde Entäußerung sein kann. Dieser Auftrag ist vielmehr seinem Wesen nach frei, stets widerrufbar und je nach Belieben der Auftraggeber sowohl zeitlich wie der Sache nach begrenzt.5 Sobald die Gemeinschaft nach Bezirken aufgegliedert ist, wird die Teilnahme jedes Einzelwillens an der gesetzgebenden Gewalt weniger unmittelbar. Nie aber hat dabei jene Vollmacht einen anderen Ursprung noch andre Grundbestandteile. Es ist hier nicht der Ort, all die Abänderungen darzulegen, die sich unter diesen neuen Verhältnissen ergeben. Eine Bemerkung aber ist nötig: wenn jeder Distrikt für sich seine Stell5 Da die Nation verschiedenen Repräsentativkörperschaften unterschiedliche Aufträge geben kann, steht fest, daß sie auch den Gegenstand einer Abordnung und folglich deren Vollmachten beschränken kann, indem sie die zu behandelnden Geschäfte mit diesem Wort bezeichnet. Die Vollmacht jedoch oder das Recht, Vorschläge zu machen, zu beraten und gemäß den Obliegenheiten, die den Abgeordneten anvertraut sind, zu beschließen, ist notwendigerweise unbegrenzt. Denn die Abgeordneten müssen die Freiheit haben, zu handeln und gut zu handeln, sofern sie nur nicht die Grenzen ihres Auftrags überschreiten. Außerdem kann keine Einschränkung die Beratung binden, die nicht von der Mehrheit verfugt worden ist. Die Mehrheit repräsentiert immer die gesamte Nation und hat Gesetzeskraft für jedermann.
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Vertreter bestellt und diejenigen der übrigen Teile nicht mitwählt, so scheint es, daß unsern Grundsätzen zufolge kein Distrikt ein anderes Gesetz anerkennen dürfte als das, welches gerade nicht die gesamte Stellvertretungskörperschaft, sondern nur die Mehrheit der besonderen Repräsentanten dieses Distriktes geschaffen hat; die Konsequenz wäre, daß jeder Teil das liberum veto [a] besäße; und bekanntlich würde ein so beschaffenes Recht der gesetzgebenden Körperschaft schließlich die Erfüllung ihrer Aufgaben unmöglich machen. Es ist nur allzu wahr: ein derartiges Recht wäre unpolitisch [antipolitique], Man darf es keinesfalls anerkennen, sondern muß im Gegenteil als Grundsatz festhalten, daß jeder Abgeordnete die Gesamtheit der Vereinigung repräsentiert. Niemandem würde es einfallen, diese Wahrheit zu leugnen, wenn sich die gesamte Gemeinschaft versammeln könnte, um die ganze Körperschaft der Repräsentanten zu bestimmen. Aber es ist doch dasselbe, wenn die Gesamtheit der Bürger sich nicht an ein und demselben Ort versammeln kann oder will, sich nach Bezirken aufteilt und übereinkommt, daß jeder Bezirk eine sich proportionale Zahl von Abgeordneten bestimmt. Alle Bezirke ermächtigen und beauftragen sich wechselseitig, diese Wahl abzuhalten, welche eben dadurch zum Werk der gesamten Gemeinschaft wird. Jede Schwierigkeit fällt also weg: die gesetzgebende Gewalt ist immer und stets Erzeugnis der Gesamtheit der Einzelwillen. Noch viel weniger kann ein großes Volk seinen gemeinschaftlichen Willen'"1" oder seine Gesetzgebung selbst direkt ausüben. Es wählt sich also Stellvertreter und beauftragt sie, statt seiner zu wollen, und man kann schwerlich sagen, daß der gemeinschaftliche Wille dieser Stellvertreter nicht das wahre Gesetz sei und nicht für jedermann Gesetzeskraft habe. Somit ist erwiesen, daß jede Nation, die mittels ihrer mit echter Vollmacht ausgestatteten Stellvertreter einen gemeinschaftlichen Willen bilden kann, die gesetzgebende Gewalt in ihrem vollen Umfang ausübt. Und man komme uns nur nicht mit einem angeblichen Vertrag zwischen Bevölkerung und Herr, wodurch erstere sich in einem ersten Willensakt auf immer des Rechtes zu wollen entäußert habe. Eine Ansammlung von Menschen kann ebensowenig wie ein Einzelner auf die Freiheit verzichten, zu ihrem Nutzen zu beratschlagen und zu wollen. Was sollte auch der Zweck oder Preis einer solchen Ubereinkunft sein? Etwa Schutz? Kann aber ein Einzelner eine Nation schützen? In dieser selbst und nirgendwo sonst liegt vielmehr die schützende Macht. Wenn eine Nation eines ihrer Glieder mit der Aufgabe betraut, diese Schutzmacht, zu der sie die Grundeinheiten, die Zusammensetzung, die Richt[ a ] Das Recht jedes einzelnen Abgeordneten im polnischen Reichstag, gegen jeden Beschluß der Reichsversammlung ohne Begründung wirksam Einspruch zu erheben: u. a. für Rousseau ein Musterbeispiel für die politisch zerstörerische Herrschaft der Einzelwillen. [Anm. d. Ubers.]
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linien und alles liefert, zu leiten, so übernimmt sie keine Verbindlichkeit, sondern erteilt einen Auftrag. Es handelt sich nicht um eine bindende Verpflichtung, sondern um eine freie Vollmacht. Doch wir tun Unrecht, auf derartige Einwände überhaupt zu antworten. Ist es doch heutzutage anerkannt, daß kein Mensch sich zum Sklaven eines anderen machen kann. Eine moralische Handlung, welche die gesamte Moral vernichtet, kann schwerlich verbindlich sein. Selbst angenommen, daß Notleidende sich diesem letzten G r a d der Niedrigkeit f ü r alle Augenblicke ihres Lebens unbedingt ergeben wollten, so wäre ihr Beispiel doch für ihre Nachkommen null und nichtig. Denn um wieviel weniger kann man etwas, das man f ü r sich selbst nicht wollen kann, für andere wollen. Man muß dabei immer wieder auf den wesenhaft freien Willen als auf den alleinigen Ursprung zurückgehen, von dem sich alle Gesetze, die dem Menschen eine wirkliche Verpflichtung auferlegen, mittel- oder unmittelbar ableiten. D a also der nationale Wille das Erzeugnis aller Einzelwillen ist, gehört notwendigerweise die gesetzgebende Gewalt in ihrem vollen U m f a n g der Nation. Uber ihr ist nur noch das Naturrecht vorstellbar, das ihr keineswegs widerspricht, sondern sie erleuchtet und zum großen Ziel des gesellschaftlichen Zusammenschlusses leitet. Die K r a f t dieser Wahrheit, die aus der Betrachtung des Wesens der Dinge folgt, wird unsern Gegnern nicht gefallen; sie werden uns an zehntausend Fälle, an zehntausend Gelegenheiten erinnern, in denen der gesellschaftliche Wille stumm gewesen ist. Sie werden sagen, daß es durchaus notwendig gewesen sei, ihn auf irgendeine andere Weise zu ersetzen. Doch was schert es uns zu wissen, wie man den Willen der Bevölkerung ersetzt, wenn sie außerstande ist, ihn durch Stellvertreter ihrer Wahl zu äußern! Uns genügt, daß die Nation imstande ist zu reden und daß man schwerlich leugnen kann, daß niemand anders als sie durch ihre Stellvertreter reden wird; und schon allein aufgrund dieser Tatsache müssen wir es als begrifflichen Widerspruch betrachten, wenn die von diesen Repräsentanten gefaßten Beschlüsse nicht auch echte, verpflichtende Gesetze für die Repräsentierten würden. Vielleicht wird die bald abtretende Generation gewohnheitsgemäß ausrufen," man suche mit diesen neuen Systemen nur alles umzustürzen. Wir erwidern ihr im Namen der kommenden Generationen und vor allem im Namen jener Menschen, die jetzt zwischen Kindheit und Alter stehen und die eigentliche Tageslast tragen: ι . daß uns alles, was die Gesetze und Dinge dieser Welt betrifft, ein bißchen mehr kümmert als sie; 2. daß nichts ehrwürdiger und älter ist als Gedanken, die zur Wahrheit zurückführen. Denn im Vergleich zur ewigen Ordnung der Dinge ist der Irrtum das Neue, und da ist es höchste Zeit, daß die Menschen endlich wieder bereit sind, die wahren Prinzipien der Gesellschaft zu erkennen.
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Oder es heißt auch, man müsse die Dinge so nehmen, wie sie sind; es käme nicht d a r a u f an, was man etwa sein könnte, was man etwa tun könnte, sondern darauf, was i s t . . . [sie!]. N u n gut, dann laßt uns davon sprechen, was ist! Sein werden sicherlich die Generalstände; und da sagen wir euch: entscheidet euch! Entweder repräsentieren sie die N a t i o n , oder sie repräsentieren sie nicht; im letzteren Fall können sie zu nichts verpflichten, zur Steuerzahlung ebensowenig wie zu allem übrigen; oder aber sie sprechen im N a m e n der N a t i o n , und dann vermögen sie alles. Wir glauben, unwiderlegbar bewiesen zu haben, daß eine allgemeine Versammlung der Repräsentanten die rechtmäßige Stimme des gemeinschaftlichen Willens ist; daß sie in dieser Eigenschaft berechtigt ist, zu allem, was die N a t i o n betrifft, Gesetze zu erlassen, und daß es nichts gibt, worüber sie solche nicht erlassen könnte. Warum also werden wir eine rätselhafte Vorahnung des Bedauerns nicht los, diese Grundsätze nicht angenommen zu sehen, obwohl sie doch so offensichtlich wahr sind? Warum gewährleistet und bestimmt die Evidenz nicht selbst den Eindruck, den die guten Grundsätze auf die Denkweise aller Menschen machen müßten? Der beklagenswerte L a u f der Ereignisse hat uns auf die D a u e r von jedem wichtigen Grundsatz abgebracht, der bloß von der Macht der Wahrheit abhängt. Diese betrachtet man als ein kraftloses Idealwesen und ihr Licht als gleichgültig für die Angelegenheiten der Bevölkerung. Mit Tatsachen allein, so ist die gängige Ansicht, könne man etwas bewirken; hat doch der Despotismus überall mit Tatsachen begonnen, muß er doch stets statt der Wahrheit, die unabhängig ist und ihn verurteilt, notwendig dies falsche Schaubild vorzeigen, über das er gebietet. Wir erleben alle Tage, wie eine beschränkte Pedanterie selbstsicher bemüht ist, den philosophe* in Verruf zu bringen, der auf die Grundprinzipien des art social"' zurückgeht. Obgleich nützlich, erscheint das befruchtende Denken dem schwerfälligen Gelehrten als bloßes Werk der Trägheit; und wo der überlegene K o p f das düstere Bild der Irrtümer unserer Väter sowohl aus Uberdruß als auch aus Einsicht fallen ließ, da wirft sich die Mittelmäßigkeit auf die plumpe Beschäftigung, sämtliche Seiten der Geschichte eifrig nachzuschreiben; schon in der bloßen Fähigkeit des Lesens und Abschreibens sieht sie recht eigentlich das Verdienst und die Antwort auf alle Fragen. Unglücklicherweise scheinen die Philosophes* selber, die der Wissenschaft der Physik im Laufe dieses Jahrhunderts so große Dienste geleistet haben, diese lächerliche Selbstsicherheit zu rechtfertigen und ihre Erfindungskraft für unkritisches Gerede herzugeben. Aus berechtigtem Uberdruß an der Systemsucht ihrer Vorgänger haben sie sich dem Studium der Tatsachen verschrieben und jede andre Methode verdammt — und soweit verdienen sie ausschließlich Anerkennung; als sie diese Methode aber
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über den materiellen Bereich hinaus sogar für den ethischen Bereich verwenden und empfehlen wollten, begingen sie einen Irrtum. Bevor man allen Wissenschaften dasselbe Vorgehen vorschrieb, hätte man ihre unterschiedlichen Gegenstände und Eigentümlichkeiten berücksichtigen müssen. Nichts ist vernünftiger, als daß der Naturwissenschaftler [Physicien] sich damit begnügt, die Fakten festzuhalten, zu sammeln und ihre Beziehungen zu ermitteln. Sein Ziel ist die Kenntnis der Natur; und da er nicht berufen ist, bei der Anlage des Weltsystems eigenhändig oder beratend mitzuwirken, weil das materielle Universum ja existiert und unabhängig von seinen Besserungsüberlegungen fortbesteht, so muß er sich auch durchaus auf die Tatsachenuntersuchung beschränken. Die Naturwissenschaft kann nur die Kenntnis dessen sein, was ist. Die von kühnerem Schwung getragene Kunst [art] setzt sich zum Ziel, die Phänomene [faits] für unsere Bedürfnisse und unsere Nutzung umzubilden und anzupassen; sie fragt, was zum Nutzen der Menschen sein soll. Die Kunst fordert uns, ebenso wie theoretische Überlegung, Berechnung und Ausführung unsere Aufgabe sind; und die erste unter allen Künsten ist wohl die, die sich damit befaßt, die Menschen untereinander in das für alle günstigste Verhältnis zu bringen. Und ich frage: muß man die Fakten hier so wie den Naturwissenschaftler befragen? Welche Wissenschaft soll die wahre sein, die der Fakten oder die der Grundprinzipien? N u r weil der Naturwissenschaftler gewiß ist, seine Wissenschaft beim Studium der Naturvorgänge auszubilden, soll darum auch der Gesetzgeber das Vorbild der Gesellschaftsordnung in der Sammlung der geschichtlichen Ereignisse suchen? Gewiß, der Weg des Experiments mag für den Naturwissenschaftler weit sein, doch lohnt er sich wenigstens; und indem der Wissenschaftler unaufhaltsam fortschreitet, ist er sicher, den Bereich seines Wissens ständig zu erweitern. Wieviel anders beim Gesetzgeber! Wie schwer müssen ihn die Ereignisse innerlich bedrücken, und wie sehr muß er sich angetrieben fühlen, endlich die schreckliche Erfahrung der Jahrhunderte hinter sich zu lassen!6 Einige Leser werden diese Überlegungen unpassend finden, und zwar jene, welche den Einwand nicht kennen und keinerlei Notwendigkeit zu seiner Erwiderung sehen. Was, werden sie sagen, schert es uns schon, welche Eigenschaften die einfachen Beobachtungswissenschaften von den kombinatorischen Wissenschaften [sciences de combinaison] unterschei6 D a s bedeutet nicht, d a ß die historische Darstellung der Völker nicht nützlichen Stoff zum N a c h d e n k e n bieten könnte. Was ich bekämpfe, ist lediglich jener Aberglaube, der immer n u r Tatsachen verlangt und darüber hinaus nichts begreift; jene schändliche Trägheit, die sich auch angesichts guten Stoffs nicht dazu aufschwingen kann, irgendetwas zu organisieren [combiner]; jener Nachahmungsgeist, der die Menschheit zu einem bloßen Affengeschlecht machen würde.
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den? Hier geht es doch um die Generalstände... [sie] Allerdings! Um Generalstände freilich, die bloß zur Verewigung eures Elends und zur Vorbereitung neuer Generalstände dienen werden, wenn sie dem Weg der Tatsachen folgen; die euch dagegen die Freiheit und alle Rechte, die sie ausmachen, verschaffen können, wenn sie der Vernunft gehorchen. Hütet euch vor der Wirkung, die der von euren Gelehrten bereits viel zu sehr verbreitete Gedanke, die Ethik ebenso wie die Physik auf der Erfahrung zu begründen, auf die Gesinnung eurer Stellvertreter ausüben kann! Die Menschen sind zwar in diesem Jahrhundert auf dem Wege der Naturwissenschaften zur Vernunft zurückgeführt worden. Doch hüten wir uns vor falscher Dankbarkeit, die uns in den engen Zirkel der Nachahmung zwingen oder uns auf dem Wege aufhalten und verbieten würde, an seinem Ende ein neues Gebäude errichten zu wollen. Gewiß, die wahre Politik verbindet Tatsachen und keine Hirngespinste, aber sie arbeitet kombinatorisch [eile combine]; dem Architekten vergleichbar, der den Bauplan in der Vorstellung verwirklicht, bevor er ihn ausführt, ersinnt und verwirklicht der Gesetzgeber das Ganze und die Einzelheiten der Gesellschaftsordnung"', die der Bevölkerung entsprechen, in seiner Vorstellung. Legt er uns dann das Ergebnis seiner Überlegungen vor, so laßt uns seine Brauchbarkeit beurteilen und die Gaben des Genies empfangen, ohne Tatsachenbeweise von ihm zu verlangen; denn, man gestatte mir diesen Ausdruck, wenn alles zu seiner Existenz Tatsachenbeweise brauchte, so wäre nichts. Nie zuvor war es dringender, der Vernunft ihre ganze Macht zu verleihen und den Tatsachen die Macht zu entwinden, die sie zum Unglück der Menschheit an sich gerissen haben. J a ! Diese Überlegung gebietet es mir, ich will meinen Klagen und meiner Empörung über jenen Haufen von Schriftstellern freien Lauf lassen, die sich abmartern, die Vergangenheit zu fragen, was wir in Zukunft sein sollen, und bei erbärmlichen, aus Unvernunft und Lügen gesponnenen Traditionen die Gesetze zur Erneuerung der öffentlichen Ordnung suchen; jene Schriftsteller, die sich eigensinnig darauf versteifen, in allen Archiven zu wühlen, zahllose Denkschriften durchzuhecheln und zusammenzustöppeln, selbst die geringsten Bruchstücke, wie verdächtig, dunkel und unverständlich sie auch sein mögen, aufzustöbern und andächtig zu betrachten, und das alles in der Hoffnung, sie entdeckten — ja was eigentlich? Nur alten Urkundenwust, als würden sie in ihrer rückständigen Schwärmerei danach trachten, die Nation sozusagen in den Stand zu setzen, ihren Adel urkundlich nachzuweisen. Ich wünschte, ein Wesen von reinem Empfinden, heller Vernunft, doch frei von unsern abwegigen Meinungen plötzlich unter uns versetzen zu können, ihm unser großes Interesse an der gegenwärtigen Lage zu erklären und es dann die Mittel beurteilen zu lassen, die wir wählen sollen, um einen großen Vorteil daraus zu ziehen: was würde es wohl sagen, wenn es sähe, mit welcher allgemeinen Geschäftigkeit man die
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alten Akten auf etwaige Erwähnungen unseres ehemaligen öffentlichen Rechtes durchstöbert, mit welcher Wichtigtuerei wir diese Art von Orakel befragen und schließlich, mit welcher maßlosen Vertrauensseligkeit man sich allseits anzuschicken scheint, seinen unbedingten Antworten zu lauschen? Würde es nicht meinen, die Vergangenheit müsse ganz sicher einen unerschöpflichen Schatz von Einsichten und Entscheidungen bergen, die alle Zweifel zu beheben und alle Ratlosigkeit zu zerstreuen vermöchten? Würde es nicht die Uberzeugung gewinnen, irgendwo auf Erden gäbe es außerhalb des Machtbereichs der Tyrannen und geschützt vor dem Zahn der Zeit offensichtlich einen hehren Hort, wo man andachtsvoll die beglaubigten Rechtstitel der Völker aufbewahrt, und man könne da gleichsam wie bei einem den Nationen immer zugänglichen Zufluchtsort bei Bedarf die ursprünglichen Verträge nachschlagen, welche Form und Rechte jeder menschlichen Gesellschaft bestimmen? Oder, wenn es sich das volle Ausmaß unserer Vertrauensseligkeit vollends erklären wollte, müßte es nicht geradezu glauben, dieser Born der menschlichen Freiheiten werde, erst einmal geöffnet, augenblicklich über alle Teile der bewohnten Erde Gesetze ausgießen, die schon für sich allein von solcher Wirkungskraft seien, daß sie den Herrschenden die sofortige Wiederherstellung usurpierter Rechte befehlen und sie zwingen würden, ebenso fügsam wie energisch zur allgemeinen Erneuerung der politischen Gesellschaften beizutragen? Es wäre im Irrtum. All diese Anwandlungen bei uns sind doch nur die unselige Folge jenes geistigen Schwindels, der den Sterblichen die besten Gelegenheiten zur Wiedererlangung ihrer Rechte verdirbt, indem er sie ständig in Sackgassen treibt. Nicht daß die Rechtstitel der Völker vernichtet wären, gewiß nicht! Nur ist ihr einzig sicherer und unantastbarer Aufbewahrungsort die Vernunft und nichts anderes. Wenn Ungerechtigkeit die Ereignisse bestimmt und die Gesellschaft in ein wirres Durcheinander von Unterdrückern und Unterdrückten verwandelt, so wacht die Vernunft über alle und wird nicht müde, ihnen für eine glücklichere Zukunft die getreue Darstellung ihrer Rechte und Pflichten zu geben. Außerdem würde man sich vergeblich darauf versteifen, die Trümmer früherer politischer Gebäude zu durchwühlen. Es würde so überhaupt nicht gelingen, sich eine richtige Vorstellung von ihrer Anlage zu machen. Besonders die europäischen Völker haben in einem Maße dauernd die Verfassung oder vielmehr die Regierungsformen [formes] gewechselt, daß sie sich selbst nicht zwei Menschenalter lang gleichgeblieben sind. Nein, all unsre Nachforschungen taugen doch nur dazu, die Schwierigkeiten zu vermehren. Die Zeugnisse des einen Jahrhunderts sind denen eines andern entgegengesetzt. Der Schriftsteller, der etwas noch so sicher behauptet, wird von seinem Vorgänger wie von seinem
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Nachfolger Lügen gestraft. Erkennt man denn nicht, daß dermaßen unsichere Zeugen nur dazu nütze sind, allen Parteiungen* [partis] und allen Anmaßungen Munition zu liefern? Derweilen verstreicht bei diesem endlosen Gezänk die Zeit und die Gelegenheit ist vertan. Lassen wir doch unseren angeblichen Ursprung in der undurchdringlichen Finsternis ruhen, wo er zum Glück für immer begraben liegt. Ersparen wir uns ein unmenschliches Bedauern. Denn selbst wenn jener Ursprung sich euern Blicken plötzlich offenbarte, was könntet ihr wohl davon erhoffen? Seid gewiß, es wäre für unsre derzeitige N o t l a g e ebenso unpassend wie Kindergezänk für die Beschäftigung des reifen Alters. Ich gehe noch weiter: selbst angenommen, unser nationaler U r s p r u n g böte das wirkliche, zuverlässige und anerkannte Verzeichnis unserer Rechte — und mehr kann man j a unmöglich verlangen —, nun, so wäre es doch nur allzu gewiß, daß die bewaffnete Macht unsere zuverlässigen Rechtstitel verhöhnen würde, wie sie gewöhnlich unsre natürlichen Rechte beleidigt. U n d dennoch klatscht man so vielen nichtssagenden und verkehrten Nachforschungen Beifall! Die Öffentlichkeit scheint sie zu rechtfertigen und von ihnen die Entscheidung ihres Schicksals zu erwarten. Welcher Fehler! Eure Rechte sind in euch selbst, allesamt sind sie d a , unantastbar, mit unvergänglichen Lettern hat eine allmächtige H a n d sie eingegraben; und da wollt ihr sie gefährden und so weit herabwürdigen, daß sie vom Zufall einer Entdeckung oder von gelehrter Spitzfindigkeit abhängen! J a , ihr scheut die Einwilligung nicht, daß man ihnen nur so viel Wirklichkeit beimißt, wie in einigen formlosen, von Sklavenhand geschriebenen Heften der Tyrannei der Jahrhunderte entronnen ist! . . . [sie] Könntet ihr eure Rechtstitel etwa wieder ebenso unbefleckt und leuchtend von Wahrheit aus diesem Papiermorast hervorziehen, wie die Vernunft selber sie euch bietet? Würden sie — wir werden es immer wieder betonen — die Willkürherrschaft etwa stärker beeindrucken, wären sie deswegen mehr geachtet, sicherer vor widerrechtlichen Ubergriffen? Laßt uns also lernen, selber den Weg zur wahren Gesellschaftsordnung"" zu beschreiten. U n d da m a n sich entschließen muß, vorwärts zu gehen, so hüten wir uns, dabei Leute zu Führern zu nehmen, die nur rückwärts blicken können. Was könnten wir von den Verehrern der alten Jahrbücher oder vielmehr der Mären des finsteren Mittelalters :: ", diesem sinnlosen Wust zeitgenössischer Sinnlosigkeiten, denn auch erhoffen? Wie denn, sollten wir es am Ende des achtzehnten Jahrhunderts dahin gebracht haben, die Aufgeklärtheit der vandalischen und teutonischen Gesetzgeber anzurufen? Sollten wir etwa die Unwissenheit selbst um die Offenbarung eines gesellschaftlichen Gesetzbuches bitten? Wie, wo wären wir heute, wenn die Menschen sich auf N a c h a h m u n g beschränkt und immer nur ihre Vorfahren zu Rate gezogen hätten?
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Vergeblich suchen wir es uns zu verhehlen: noch immer wird der Geist der meisten vom allerschändlichsten Aberglauben geblendet und entwürdigt. Umsonst sind wir in einer Art nationaler Scham über unsere lange politische Blöße errötet; umsonst hegten wir den Wunsch, sie angesichts der Beleidigungen des Despotismus schützend zu bedecken: wenn uns der Stachel der Bedürfnisse der wohltätigen Hand, die Kleidung bietet, entgegentreibt, so läßt uns im selben Augenblick eine unerklärliche Ängstlichkeit gleich törichten Kindern zurückweichen; oder irgend so ein wirres, beherrschendes Glaubensgefühl flößt uns ein Grausen ein vor den weltlichen Ratschlägen der Vernunft oder des gesunden Menschenverstandes in Sachen der Gesetzgebung und führt uns unaufhörlich zurück zur Anbetung der beschränkten V o r u r t e i l e * und rohesten Gewohnheiten, nur weil sie von unsern Vätern stammen! Fürwahr, eine herrliche Ergebenheit, eine großartige und nützliche Verfahrensweise, die die Bevölkerung dazu verdammt, ewig in den Kinderwindeln zu verrotten, und sie mit nichts anderem abzuspeisen weiß als mit dem widerwärtigen Schauspiel der unsinnigen Feudalität* oder mit der getreuen Nacherzählung von den unmenschlichen Einrichtungen des finsteren Mittelalters! Ach, beeilen wir uns doch lieber, einem Aberglauben von Sklaven abzuschwören! Wehren wir uns doch nicht mehr gegen die Aufklärung, die von allen Seiten herandrängt! Zeigen wir uns an dem großen Tag, der für uns anbricht, über unsere Rechte unterrichtet. Laßt uns nicht dulden, daß unsere Stellvertreter, denen die Bestimmung über das Schicksal von sechsundzwanzig Millionen Menschen aufgetragen ist, sich zu leerem Gezänk erniedrigen und der aufmerksamen Welt nichts weiter bieten als das lächerliche und beschämende Schauspiel einer Theologenmeute, die über Texte streitet, die Vernunft um die Wette mißhandelt und dies ganze Getöse schließlich mit der vollständigsten Bedeutungslosigkeit abschließt.
Zweiter Abschnitt Nur von den Generalständen hängt es ab, ihre gesetzgebende Gewalt frei auszuüben. Wenn wir nicht vergessen, daß die Wiedererstehung der Generalstände allein von der Notwendigkeit bewirkt worden ist, die Finanzen wiederherzustellen, so beginnen wir bereits zu ahnen, daß eine Ursache, die mächtig genug war, die Generalstände wieder ins Leben zu rufen, ihnen wohl auch ihre Freiheit sichern kann. Zuvor aber ist es angebracht, sich einen Begriff von den Hauptgegenständen zu machen, deretwegen die Generalstände bei der Ausübung ihrer Gewalt Unabhängigkeit benötigen. Denn man kann sich ja wohl denken, daß mit Freiheit und Macht wenig anzufangen wäre, wenn wir uns an die ministeriellen Vorstellungen
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halten müßten; Unterwerfung und Gehorsam bedürfen ja keiner so festen Grundregel. N a c h Ansicht des Ministers sind die Generalstände einberufen worden, um einer neuen Steuer zuzustimmen, weil es nicht möglich war, sie sich auf andere Weise zu verschaffen. Die Lage des Staates ist nicht anders als die eines großen Grundherrn*, der, nachdem er seine Geschäfte zerrüttet und seinen Kredit aufgebraucht hat, den lästigen und äußersten Entschluß faßt, seine Pächter und Verwalter herbeizurufen. Sein Haushofmeister ist gerade dabei, sie zu empfangen und folgende Worte an sie zu richten: »Der gnädige H e r r benötigen Geld; er geruht, sich zu euch herabzulassen, um euch darum zu bitten. Ihr werdet die Ehre haben, ihn zu sehen: erweist euch seiner Güte würdig, indem ihr bereitwilligen Eifer bei der Bezahlung seiner Schulden an den Tag legt und ihn in den Stand setzt, alle seine Vorgänger durch Ausgaben in den Schatten zu stellen; und seid versichert, daß wir unsererseits zu allen Abmachungen bereit sind, die euch frommen.« Es versteht sich, d a ß der Minister eines Königs mit seinen Versprechungen leichteres Spiel hat als der Haushofmeister eines Grundherrn, gegen den man wenigstens gerichtlich vorgehen kann. Mitnichten dürfen die nationalen Abgeordneten die Lage der öffentlichen Angelegenheiten aus derselben Sicht betrachten. Sie wissen wohl, d a ß das Eigentum keineswegs dem Fiskus gehört und die Bürger weder die Pächter noch die Verwalter jenes angeblichen Herrn sind. Es gibt keinen Mann von Ehre, der sich nicht sagen würde, wenn er die bedeutende Vollmacht von der Bevölkerung annimmt: ich werde der Mann der Nation und will die daraus folgenden Pflichten erfüllen. Diese Pflichten beschränken sich nicht darauf, die erbärmliche Rolle eines Steuerpflichtigen zu spielen, der angewiesen ist, dem räuberischen Fiskus zu Hilfe zu eilen. Die Stellvertreter einer N a t i o n werden sich doch nicht so weit erniedrigen, ein bloßer Lieferantenverein der Staatskasse zu werden, bloße Befehlsempfänger jener Verwalter, von denen sie geplündert worden sind. Die Mitglieder der Generalstände haben einen viel erhabeneren und ehrenvolleren Auftrag; sie haben ihn von der Bevölkerung erhalten, und er erstreckt sich auf alles, was das Gemeininteresse ihrer Auftraggeber ausmacht. Niemand verkennt, daß jede politische Gesellschaft gemeinschaftliche Bedürfnisse hat und daß man zu ihrer Befriedigung von der Masse der Bürger verschiedene Gruppen* [classes] von Vertretern abordnen muß, deren Personen und Tätigkeit in ihrer Gesamtheit das bilden, was wir die öffentliche Gewalt* [l'etablissement public] nennen. Dessen Unkosten gehen zu Lasten all derer, die an seinen Vorteilen teilhaben; und das ist der Ursprung der Steuer. O h n e eine öffentliche Gewalt, die unterhalten werden muß, gäbe es keine Steuer. Doch dieses Staatswesen selber wäre eine lächerliche Nebensächlichkeit, würde es nicht einem erhabeneren Zwecke dienen. Es
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hat seinen Rechtfertigungs- und Existenzgrund allein in den gemeinschaftlichen Bedürfnissen und nur in dem Maße, wie die gemeinschaftlichen Bedürfnisse der Nation es erfordern. Also sind die öffentlichen Angelegenheiten der Begriffsordnung wie der Bedeutung nach der alleinige Zweck. Die öffentliche Gewalt ist das unmittelbare Mittel und der Fiskus nur das mittelbare und zweitrangige Mittel, welches nur das umfaßt, was die öffentlichen Bedürfnisse fordern. Ich kann nicht umhin, hier an einen allzu selbstverständlichen, aber dennoch fundamentalen Grundsatz zu erinnern, der in allen Lebensdingen als Richtschnur dient: man darf den Zweck niemals den Mitteln opfern, sondern muß die Mittel nach dem Zweck richten. Gelänge es, diese sogleich einsichtigen Grundbegriffe umzustoßen — das sieht man deutlich —, so würden die Generalstände nicht auf zweckdienliche und dem Willen der Auftraggeber entsprechende Weise für das Gemeinwesen"" [chose publique] arbeiten. Doch hat niemand mehr Neigung als wir, sich auf ihre Einsicht zu verlassen bei der Entscheidung darüber, was die Umstände erfordern und gegebenenfalls erlauben. Welchen G a n g ihre Arbeiten auch nehmen werden, wir glauben, daß das tiefe Gefühl ihrer Pflichten und die Berücksichtigung der Sachlage ihre Schritte leiten, daß sie die natürliche und wesentliche Ordnung [l'ordre naturel et essentiel] der gesellschaftlichen Grundsätze nicht aus dem Auge verlieren werden. Diese Ordnung — man muß es wiederholen — erfordert: i. die Kenntnis aller gemeinschaftlichen Bedürfnisse der Gesellschaft; 2. die Beseitigung alles dessen, was nicht dazu gehört und überflüssig ist; 3. die anschließende Prüfung der hierzu vorgesehenen Mittel und ihre Abstimmung nach belebender und ökonomischer Wirkung, je nach dem Zweck ihrer Einrichtung. Denn es ist ein fundamentaler Grundsatz der Freiheit, daß die öffentliche Gewalt zur Erfüllung ihrer Aufgabe allmächtig, beim Abweichen davon aber vollkommen ohnmächtig sein muß, geschehe das Abweichen nun zum Schlimmen oder sogar zu etwas Gutem, wozu kein A u f t r a g besteht. Ferner wird man 4. darauf bedacht sein, eine Nationalkasse zu schaffen, die jenen großen Aufgaben entspricht; und 5. muß diese Kasse unwiderruflich denen unterstellt werden, die Interesse an Einnahmen haben, und darf nie denen zur Verfügung stehen, die an Ausgaben interessiert sind. Man begreift die Notwendigkeit dieses neuen Grundsatzes für die Erhaltung aller übrigen. Hätten die Generalstände auch nur diese letzte Aufgabe zu erfüllen, so ist doch mehr erforderlich als bloße Fingerzeige, will man sicher gehen, daß sie bei der Ausübung ihrer Geschäfte nicht weiterhin schutzlos den Ubergriffen eines Ministeriums ausgeliefert sind, das über die Wendung, welche ihre Beratungen nehmen könnten, ungehalten ist. Wenden wir uns nun den Mitteln zu, die jede Furcht der Nationalversammlung in dieser Hinsicht beruhigen. Unterstellen wir ihr zunächst den besten Willen und nehmen wir an, daß sie sich ohne Zögern in den
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Besitz einer Gewalt setzen wird, die ihr durch die Vernunft und die Vollmacht der Bevölkerung übertragen worden ist. Nicht von dieser Vollmacht haben wir uns zu hüten, sondern vor Machtsprüchen oder anderen ministeriellen Anschlägen. Tausend Stimmen scheinen ihr bereits um die Wette zu versichern, daß sie in ihrem Gang weder aufgehalten noch gestört werden könne, wenn sie nur darauf achte, keine Steuern zu bewilligen, bevor sie nicht die Abstellung ihrer Beschwerden erlangt habe. Hat es doch den Anschein, als sei man auf diesen Umweg beschränkt, wenn man von den Rechten der Nation reden will, und als dürfe man dies nur in Ausdrücken tun, die das Kennzeichen der Sklaverei tragen. Wir geben durchaus zu, daß das Zurückhalten der Steuer die beste Maßregel ist. Aber selbst angenommen, diese neue Steuer wäre zu bewilligen, so wird jene Maßregel hier doch in schlechter Ausrüstung, schlechtem Begleitschutz und falscher Ausdrucksweise vorgeschlagen. 1. Warum soll man die Abgabenbewilligung von der sogenannten Abstellung der Beschwerden abhängig machen? Bedeutet das nicht, die Nation und den ganzen Vorteil der gegenwärtigen Lage einem willkürlichen Versprechen preisgeben? Und selbst wenn euer Erfolg sogar so groß wäre, daß man euch im voraus alle Formalitäten eines verkündeten und von euch selbst bestimmten Gesetzes gewährte, wer gewährleistet euch denn, daß die Sorge um seine Verwirklichung nach euerm Auseinandergehen auch anhält? Spricht die einheitliche Erfahrung der Jahrhunderte denn nicht deutlich genug? 2. Was bedeutet eigentlich der Ausdruck: die Steuer bewilligen [octroyer]? Bewilligung für wen? Die Nation muß aufgrund ihrer Kenntnis der öffentlichen Bedürfnisse ein öffentliches Einkommen festsetzen; einer Forderung aber muß sie sich dabei keineswegs fügen, und wer könnte überhaupt das Recht haben, diese Forderung zu erheben? Von wem soll die Nation sie denn erwarten? Braucht sie etwa eine andere Meinung als die eigene, um zu wissen, daß sie gemeinschaftliche Ausgaben tätigen muß und daß diese nur vermöge eines nach Dauer und Höhe festgelegten Beitrages bezahlt werden können? Was bedeutet denn bewilligen? Es bedeutet zuteilen [accorder]. Sagt man von einem Menschen, der für seine Kosten aufkommt, daß er den verschiedenen Personen, deren Warenlieferungen und Dienste er bezahlt, sein jährliches Einkommen bewilligt oder zuteilt? Hier handelt es sich nicht um ein Geschenk oder eine Bewilligung aus Gnade; es handelt sich um eine gerechte Entlohnung. Die Einzelpersonen, die ihren Beitrag zur öffentlichen Umlage leisten, erfüllen eine Verpflichtung, die sie selber oder durch Bevollmächtigte übernommen haben. Die Nation, die ihre Ausgaben bezahlt, handelt nur recht und billig. Die Nation, die sich Abgaben auferlegt, gehorcht der Notwendigkeit; die Festsetzung des zu erhebenden Betrages darf sie
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niemand anderem überlassen. Das Wort bewilligen und alle seine Ableitungen müssen also für immer aus der politischen Wissenschaft verbannt werden. M a n komme mir nur nicht mit dem Vorwurf, ein Wort breitzutreten; dies Wort kann wirksamen Einfluß ausüben, und oft kommt es darauf an, zunächst den Kampf mit den mißbräuchlichen Ausdrücken aufzunehmen, um dann desto leichter mit den Mißbräuchen selber fertig zu werden. 3. Mit keineswegs größerem Vergnügen hören wir schließlich, wie man eine Bitte um Abstellung der Beschwerden vorbringt, was doch voraussetzt, daß die Generalstände unfähig seien, selbst die Beschwerden abzustellen, die der Bevölkerung Anlaß zu Klagen geben. Dieses ganz und gar unpolitische Vorgehen wäre Zeichen einer Schwäche oder eines Ausmaßes von Unwissenheit, die einer modernen N a t i o n nicht mehr angemessen sein können. Nein, die Generalstände werden nicht den großen Fehler begehen, ihre Rechte zu verleugnen, auch dann nicht, wenn es noch nicht in ihrer Macht stünde, sie zu gewährleisten. Keineswegs werden sie einen so vielversprechenden A n f a n g durch eine dermaßen verderbliche Nachlässigkeit verraten. Sie werden im Gegenteil darauf achten, keinen der Vorteile zu verlieren, welche die Rückkehr zur guten O r d n u n g begünstigen können, und werden die ganze Kraft, die sie bereits besitzen, unter Beweis stellen, ohne zu vergessen, daß vielleicht die höchste Kraft in guten Grundsätzen und einer unerschütterlichen Logik liegt. U n t e r diesem Gesichtspunkt könnten sie eine ungefähr so abgefaßte erste Erklärung abgeben: »Da die N a t i o n allein das Recht besitzt, über die Steuern zu entscheiden, und da es keine Steuer gibt, die nach Ursprung und U m f a n g nicht gesetzeswidrig wäre, erklären die Generalstände sie allesamt für rechtsgültig autgehoben; in Anbetracht der Zeit, die die Versammlung benötigt, um in diesem nationalen Geschäftsbereich eine neue Ordnung zu schaffen, sowie zur Vermeidung der Nachteile, die f ü r die künftige Steuer aus einer völligen Aufhebung aller Beziehungen zwischen Steuerpflichtigen und Staatskasse folgen würden, ordnen die Generalstände indessen vorläufig an, d a ß alle derzeitigen Steuern für den Augenblick genehmigt und weiterhin zu bezahlen sind, doch nur für die Dauer der gegenwärtigen Sitzungsperiode und nicht nachher; denn sie wollen, d a ß es dann nur noch solche Abgaben gibt, die die jetzige Versammlung vor ihrer ersten Auflösung beschlossen hat.« D a s ist eine klare, vollständige und guten Grundsätzen folgende Erklärung, die die Vollmacht der Generalstände keineswegs überschreitet, sogar nicht nach Ansicht der einigermaßen vernünftigen Leute aus dem entgegengesetzten Lager [parti contraire ]. Unbestreitbar treten die Generalstände durch dieses Vorgehen in den Schutz einer Kraft, die über jeden Angriff erhaben ist; unbestreitbar können sie von diesem Augen-
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blick an fest bestehen, beraten und gemäß dem so lange vernachlässigten Nationalinteresse beschließen, ohne auch vom kühnsten -Minister das mindeste fürchten zu müssen. Müßte er in seiner Ubellaunigkeit nicht schon wirklich mit Blindheit geschlagen sein, dieser Minister, wenn er gegen die gesamte Körperschaft der Repräsentanten oder eines ihrer Glieder (was sich vor der öffentlichen Meinung schwerlich auseinanderhalten ließe) Machtstreiche [ coups d'autorite] versuchen würde, wo er sich doch wohl nicht verhehlen kann, daß er Gefahr liefe, alles umzustürzen? Die geringste Gewalttat, schon ihr geringster Versuch, der imstande wäre", die Freiheit der Versammlung zu verletzen, würde heftige Gegenreaktionen hervorrufen, deren Folgen er nur noch durch Auseinander)agen der Versammlung eindämmen könnte; und wenn er zu diesem äußersten Mittel griffe, würde er sofort und überall die gesetzmäßige Einstellung aller Steuerzahlungen bewirken und eine Welle von Wirren auslösen, deren erstes Opfer unweigerlich er selber sein würde. Damit ist hinlänglich bewiesen, daß die Generalstände im Schutz der unbedingtesten Notlage die Festsetzung der Steuern so lange hinauszögern können, bis sie alles, was sie für die Nationalverfassung [constitution nationale] tun zu müssen glauben, abgeschlossen und gesichert haben. Keinerlei Abhängigkeit kann sich bemerkbar machen. Sie haben es selbst in der Hand, erst in dem Augenblick und für so lange auseinanderzugehen, wie sie es für angebracht halten. Mit einem Wort, sie sind frei, weil man sie weder zur Untätigkeit verdammen noch auseinanderjagen kann; sie sind frei, weil ihre Freiheit für das Ministerium weniger gefährlich und weniger zu fürchten ist als ihre Auflösung. Vielleicht bildet man sich ein, die Generalstände hätten es gar nicht nötig, mit fester Hand die Gesamtheit der Steuern an sich zu ziehen, sondern ihre Freiheit sei schon durch das bloße Bedürfnis nach dem Ausgleich eines ungeheuren Defizits hinlänglich gegen jede Gefahr geschützt. Dazu stellen wir zunächst fest, daß diese Ansicht, wie gut oder schlecht sie auch begründet ist, hier keine Schwierigkeit macht, weil jene Bedrängnis, die den Schutz der Versammlung ausmacht, durch das von uns empfohlene Vorgehen ja nur wachsen muß und letzteres außerdem ein Schritt in Richtung der guten Grundsätze ist. Ein weiterer Gesichtspunkt zwingt uns jedoch zu einer noch tiefergreifenden Überlegung. Bisher haben wir die Generalstände immer nur unter der einzigen Voraussetzung der gegenwärtigen Lage der Dinge betrachtet. Aber ist man denn sicher, daß sich die Lage nicht ändern kann? — Wenn man das Defizit nun verringerte, wenn man es beseitigte? — Diese Wendung ist keineswegs unmöglich. Sie hätte längst mit rechtmäßigen und ehrlichen Mitteln erreicht werden können, wie sie jeder verschuldete Privatmann ergreift, wenn er Ehrgefühl und gesunden Verstand besitzt. Wenn dagegen das Ministerium aus Mangel an Tatkraft und Rechtsemp-
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finden das fürchterliche Mittel eines Staatsbankrotts versuchte, um sich mit einem Schlag aus seiner Lage zu befreien? Wenn es nun aus der Tendenz der allgemeinen Stimmung erkennen würde, daß die Generalstände ehrlichen Mitteln den Vorzug geben würden vor dem erdrükkenden Notbehelf einer Überlastung des Volkes, das bereits viel zu viel bezahlt, und wenn es daher in der Erkenntnis, nichts mehr verlieren zu können, die nationalen Abgeordneten plötzlich auseinander- und nach Hause jagte, — was würde dann aus den Aussichten der Nation? Wie wäre der ganze Schrecken eines Staatsbankrotts zu vermeiden? Dieser Gegenstand ist nach den Umständen zu wichtig und zu eng mit dem Thema dieser Schrift verbunden, um nicht mit der ganzen Ausführlichkeit behandelt zu werden, die ihm zukommt. Über den Staatsbankrott Man wäre überglücklich, ließe sich die wirkliche Unmöglichkeit einer menschlichen Handlung schon mit dem Beweis belegen, daß sie nicht weniger ist als ein Anschlag, der sämtliche Verbrechen auf einmal in sich vereinigt oder nach sich zieht; dann wäre es leicht, die Nation über den Plan eines Staatsoberhauptes zu beruhigen. Aber wie man erlebt, daß es schwache Menschen gibt, die gerne kleine Unregelmäßigkeiten begehen, und Stärkere, die von großen Ungerechtigkeiten leben, ebenso kann sich auch der Stärkste von allen, der Großvesir [ a ] , der die Macht eines ganzen Volkes in seinen verderbten Händen hält, sein jeder Moral widersprechendes Eigeninteresse bilden. Dies Eigeninteresse wird zur öffentlichen Geißel, zum allgemeinen Elend. Es gibt keine Privatperson, keine Körperschaft, die nicht so ihr Eigeninteresse vom Gemeininteresse absondern und infolgedessen Unrecht tun, ja sich strafbar machen könnte. Dessen ist allein die Nation unfähig, denn ihr Eigentinteresse ist das Gemeininteresse selbst. Die Nation kann sich also in keinem Fall des Bankrotts schuldig machen. Wohl aber der Minister! . . . Ihn gelüstete danach, er hat ihn geplant und unter dem Deckmantel einer Zwangsanleihe gerade eingeleitet. Wie, wenn er hellsichtiger und kühner würde und das Defizit schließlich völlig tilgte?... Diese Frage muß aus der Situation zu zwei verschiedenen Zeitpunkten betrachtet werden. Vor der Versammlung der Generalstände hätte der Bankrott den Zweck, sie auf immer zu verschieben. Dann würden unsere Überlegungen zu den Vorteilen, welche die Nation aus dieser Versammlung gewinnen kann, allerdings gleichgültig; es sei denn, mitten aus dem Wirrwarr und den zahllosen Widerständen, die sich von allen Seiten erhöben, ginge eine Nationalversammlung hervor, die sicher rechtmäßig [ a ] Vgl. oben S. 24 A n m . a. [Anm. d. Ubers. ]
Ü b e r b l i c k ü b e r die A u s f ü h r u n g s m i t t e l der R e p r ä s e n t a n t e n
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wäre, denn nicht die Einberufung, sondern nur die Vollmacht der Bevölkerung kann ihr diesen Charakter verleihen . . , Wenn die Generalstände dagegen ohne Krise und Erschütterung von den gegenwärtigen Verhältnissen aufgrund des Versprechens ihrer Einberufung herbeigeführt werden, so scheint es uns, wie wir dargelegt haben, sehr wichtig, daß sie keinen Augenblick versäumen, ihr Schicksal an die Gesamtheit der öffentlichen Einkünfte zu ketten. Denn, wie gesagt, der Minister könnte, von einer Menge unvorhergesehener Widersprüche behindert, erschöpft und verärgert, den Plan zum Bankrott kühn wieder aufgreifen und ausführen, um seine Unabhängigkeit durch eben die Tat wiederzuerlangen, die euch die Freiheit raubte, wenn ihr nicht zuvor verstanden hättet, sie auf einer festeren Grundlage als dem Bedürfnis nach Deckung eines nicht mehr bestehenden Defizits zu errichten. Unter unserer Voraussetzung aber stehen die Generalstände felsenfest; sie überdauern den Bankrott, was bedeutet, daß sie sich ihm widersetzen; oder vielmehr die Unmöglichkeit ihrer Auflösung ist im voraus eine sichere Gewähr dafür, daß der Bankrott nicht stattfindet, denn kein Minister würde ihn mehr zu versuchen wagen, weil er in der aufgebrachten Bevölkerung einen unabhängigen Schützer zu gewärtigen hätte. Ich weiß nicht, welche dumpfe Unruhe so viele Gemüter erfaßt hat. Wir wollen beweisen, daß der König weder das Recht noch die Macht besitzt, Bankrott zu machen, und daß zweitens die Generalstände in die heimtückischste Falle gingen, würden sie darin einwilligen oder sich dem nicht widersetzen. Der König kann nicht Bankrott machen Nicht der König ist der Schuldner, nicht er bringt die Gelder zur Schuldentilgung auf, sondern die Nation. Die jährlichen Beiträge, die zur Abgeltung der Dienstleistungen und Schuldscheine dienen, sind von den Bürgern erarbeitet, und es ist nur eine natürliche Folgerung, daß die Bürger auch jährlich über das Geld für jene Verbindlichkeiten bestimmen. Allein die Nation kann etwas zahlen, und wenn sie nicht die Absicht hat, ihre Zahlungen einzustellen, und ihre Gläubiger zu betrügen, so liegt es auf der Hand, daß niemand das Recht hat, ihr einen entgegengesetzten Willen unterzuschieben. Gewiß, wir können uns schon vorstellen, wie vermittelnde Hände, die beauftragt sind, die Zinsen für die Schulden entgegenzunehmen und ihrer Bestimmung zuzuführen, sich der Veruntreuung schuldig machen können. Der Schuldner oder der Gläubiger wird bestohlen werden; es wird ein wirkliches Verbrechen vorliegen; aber es wird nicht den Charakter eines echten Bankrotts haben. Bleibt denn nicht immer noch ein Schuldner übrig, der fähig und willens ist, seine Verpflichtung zu
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erfüllen, und ein Gläubiger, der bereit ist, das ihm Zustehende entgegenzunehmen? Solange das Verhältnis dieser beiden Begriffe erhalten bleibt, ist ein nationaler Bankrott nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich eine Unmöglichkeit. Wie es mir nicht zukommt, die Verpflichtungen eines anderen zu versäumen, ebensowenig kann der König die nationale Verbindlichkeit ableugnen. Es wäre doch sonderbar, ihm ein Recht zum Staatsbankrott zuzuerkennen, während man ihm das Recht, Anleihen aufzunehmen und Steuern zu erheben, verweigert! Vielleicht wendet ihr ein, es bleibe deshalb nicht weniger wahr, daß die öffentlichen Gelder unterwegs verlorengingen. Nun, ihr braucht sie nur einen anderen Weg nehmen zu lassen. Bestiehlt euch euer Kassierer, so laßt ihn bestrafen. Wenn es um die öffentlichen Gelder geht, erkennt man deutlich, daß der Treuhänder der Staatskasse diese keineswegs einfach mitnehmen und verschwinden kann, und daß sorgfältig geführte Ermittlungen immer einen Teil der vergeudeten Gelder in die Kasse zurückfließen lassen und den Schuldigen eine exemplarische Bestrafung gewährleisten. Die Generalstände und mit ihnen die Nation würden zugrundegehen, wenn sie in den Bankrott einwilligten oder sich ihm nicht widersetzten Ich gebe zu, es ist schon fast ein Verbrechen, auch nur einen einzigen Augenblick anzunehmen, die Stellvertreter der Nation seien imstande, einem Plan Gehör zu schenken, dessen Bestandteile nur ein entartetes Hirn im Zusammenhang auszubrüten vermag. Doch gibt es denn überhaupt eine Geißel, zu der die wohlüberlegten Umtriebe des Despotismus nicht fähig wären? Wenn jene Gefahr zu befürchten wäre, dann im jetzigen Anfangsstadium, wo die Eigenschaften einer wahren Repräsentation noch zu wenig bekannt sind, wo die Bevölkerung vielleicht noch nicht ganz begreift, wie wichtig es für sie ist, sich in der Wahl ihrer Stellvertreter nicht lenken zu lassen, und wo die in den Provinzen verteilten Beamten [Mandataires] den vorherrschenden Einfluß auf die Wahl ausüben können. Auf diese Weise gewählte Abgeordnete wären sicherlich weniger geeignet, den zahlreichen Verführungskünsten zu widerstehen, mit denen man sie in Versuchung führte. Und könnte man wohl in dieser Hinsicht völlig unbesorgt sein, wenn man in der Generalversammlung eher das schändliche Erzeugnis der Allmacht des Ministers als den natürlichen und freien Träger des vollen Vertrauens der Bevölkerung erblicken müßte? Aus dieser Annahme folgt notwendig die weitere, daß die Generalstände dann zu einer Schwäche verurteilt wären, die ihr gesamtes Verhalten beeinträchtigen würde. Schwerlich würde es ihnen einfallen, sich prinzipiell aus der Notwendigkeit der Steuern eine Waffe zu schmieden, um sich die Macht zu sichern, ihren Auftraggebern gründlichen Nutzen zu bringen. Nein, unter jener unseligen Voraussetzung wäre jede
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Anstrengung, die alte Abhängigkeit abzuschütteln, jeder gute Vorsatz bereits eine mutige Tat, die man nicht erwarten kann. Wollt ihr nun die Absichten des Ministers kennenlernen und einen Vorgeschmack seiner Winkelzüge hinsichtlich des Staatsbankrotts bekommen? Versetzt euch doch in seinen Interessenstandpunkt; da braucht man nicht viel zu überlegen, um zu erkennen, daß die Regierung nichts anderes möchte, als alle Gruppen'"' von Bürgern, die von der Zerrüttung so vieler Vermögen vernichtet oder weniger unmittelbar betroffen werden, zu überreden, daß es ein verabscheuungswürdiger Einfall war, die Generalstände einzuberufen, daß diese großen Versammlungen von jeher nur Schlechtes zuwege gebracht haben und daß die Repräsentanten einer Nation recht eigentlich deren Geißel sind. Eine vortreffliche Lehre für Despoten, wie man sieht! Durch eben dies Vorgehen setzt sich der Minister in den Stand, seine Ausgaben zu bestreiten. Er kann seine Allmacht wieder ausüben; und wenn er den ihm gefälligen Abgeordneten gestattet, noch einige Zeit versammelt zu bleiben, so geschieht das lediglich zu dem Zweck, aus ihrer Gegenwart und ihrer von vornherein sicheren Zustimmung zu all seinen Launen einen größeren Vorteil zu ziehen. In der Tat, was fehlt ihm denn auch, um den Verrat zu unterstützen und zu belohnen? Nach Belieben gebietet er über die wichtige Triebfeder der Angst und die andere des Geldes, das er wieder verschwenderisch austeilen kann. Trifft es jedoch zu, daß der Minister vom Plan einer Nichtigkeitserklärung der Staatsschuld alles zu hoffen hat, so ist unbestreitbar, daß die Generalstände und die Nation alles zu fürchten haben. Schande, Elend, Zusammenbruch jeder Hoffnung, Willkür des schrankenlosesten Despotismus, kurz sämtliche Übel werden ihr zuteil. Wir wollen diese verschiedenen Gesichtspunkte durchgehen, ohne uns an eine allzu strenge Ordnung zu binden. Bevor man eine Repräsentativkörperschaft annimmt, die imstande ist, durch ihre Zustimmung zum finsteren Plan eines Staatsbankrotts das Vertrauen der Bevölkerung zu verraten, fragt man sich, was wohl der Preis für diese Treulosigkeit sein würde. Um sich zum Werkzeug der Habgier und Ränke seines Feindes zu machen, um freiwillig das einzige oder wenigstens friedlichste Mittel in Verruf zu bringen, das den Nationen zur Wiedererlangung ihrer Rechte bleibt, um unserer letzten Hoffnung, wieder zur Freiheit zu erstehen, gleichsam eigenhändig das Grab zu schaufeln —, dazu muß man sich doch wohl besondere Ansichten gebildet haben, die dem Interesse aller durchaus widersprechen. Was für Ansichten können das sein? Eine Körperschaft, sagt man, neigt immer dazu, ihre Macht zu erweitern. Sollten dagegen die Generalstände die Hoffnung hegen, während sie sechsundzwanzig Millionen Menschen der Unterdrückung preisgeben, dieser für ihren Teil zu entgehen? Fürwahr ein vortreffliches Mittel
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zur K r a f t - und Machterweiterung, sich auf G n a d e und U n g n a d e dem Feinde auszuliefern! Liegt es denn nicht offen zutage, daß die Abgeordneten sich der Gefahr aussetzen, wie ein Schilfrohr zerbrochen zu werden, wenn sie sich auch nur einen Augenblick nicht als sklavische Diener des ministeriellen Despotismus erweisen? Welch ein Erfolg für diese Ehrgeizlinge, wenn sie beladen mit dem H a ß der Nation nach H a u s e zurückkehren, verzweifelt darüber, für so viel Unterwürfigkeit nichts als verdiente Demütigung und Schande geerntet zu haben, die sie und ihren N a m e n für immer brandmarken! D o c h wenden wir uns einer weiteren Überlegung zu. Es ist nur zu gewiß, daß uns die Generalstände mit der Zustimmung zum Bankrott für immer die günstigste und die geringsten Opfer fordernde Gelegenheit rauben würden, die sich je einem Volk zur Erlangung einer freien Verfassung geboten hat; und diese Aussicht, die das politische Schicksal der gesamten N a t i o n betrifft, ist für die guten Bürger das Bedrückendste. D a s ist von den zahllosen verderblichen Folgen des Bankrotts die unseligste. Tritt sie ein, sind unsere patriotischen H o f f nungen für immer dahin. Ihr alle, die ihr an der bürgerlichen Freiheit, der Lage der Bevölkerung und der nationalen Verfassung ein so lebhaftes Interesse habt, die ihr euch schmeichelt, bald in jeder Hinsicht zur guten O r d n u n g fortzuschreiten, gebt euern Glauben an das Entstehen eines Vaterlandes a u f ; es gibt kein Vaterland, es gibt keine Freiheit mehr. Der Schlund des Despotismus hat alles verschlungen. D o c h nicht genug damit, daß die N a t i o n jede H o f f n u n g auf Besserung verloren hat, daß sie gezwungen ist, sich mit dem Schicksal, an das sie sich gewöhnt hatte, abzufinden —, sie erlebt einen schrecklichen Zusammenbruch. Neues Elend, erneute Schande stehen ihr bevor. Eine bankrotte N a t i o n ! Mit diesem Ehrentitel könnte die ganze Welt mit F u g und Recht ein Volk beschimpfen, das sich frei und edelmütig nannte und nach der Freiheit zu streben wagte. Welch ein Ergebnis des ersten Gebrauchs der Freiheit, den man ihr erlaubte! Wie eine H o r d e entarteter und bösartiger Sklaven, deren Fesseln der Zufall zerbrochen hat, unberechenbar, räuberisch und der ihnen vom Schicksal gebotenen Freiheit unwürdig, wissen diese Elenden nichts besseres zu tun, als ihre ersten Schritte mit Raub, Gewalttätigkeiten und Wirren zu besudeln und den N a c k e n unter der Peitsche der Befehlshaber zu beugen, die sie bald wieder an die gewohnte Kette legen werden. Die Völker, die unsere Gläubiger sind, würden sich nicht damit begnügen, uns zu verachten. England läßt keine Gelegenheit vorübergehen, Feinde gegen uns aufzubringen. Es würde allen heimlichen Groll anheizen und organisieren, und es dauerte nicht lange, so wären wir den Schrecken eines Krieges ausgeliefert, den wir ohne Kredit, das heißt mit zu überhöhtem Zins aufgenommenen Geldern bezahlen müßten. N a c h Menschenverlusten, aus denen man sich wenig macht, und der Zerrüt-
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tung eines Teils jener Vermögen, die der Bankrott verschont zu haben schien, wäre Frankreich dann gezwungen, einen schimpflichen Frieden zu erbitten und fände sich in erneuter U n o r d n u n g mit einer erneuten Schuldenlast wieder, die der Wucherzins auf das doppelte der erzwungenen Ausgaben getrieben haben würde. Neue Schulden verursachten neue Steuern — das aber schwebt jenen, die geneigt sind, dem Bankrott zuzustimmen, gewiß nicht vor. Sie wollen lediglich neue Auflagen vermeiden. Es mag also von Nutzen sein, die wahrscheinlichen Folgen des Bankrotts im Hinblick auf die Steuern zu überdenken. U m uns ein Ergebnis zu bringen, das sich von dem erwarteten sehr unterscheidet, ist nicht einmal die Voraussetzung eines Krieges nötig. Was meint man wohl, welche Beweggründe den H o f bestimmen können, die Staatsschuld für ungültig zu erklären oder erklären zu lassen? Etwa Sparsamkeitsüberlegungen oder die Absicht, seine Macht und seine Vergnügungen zu vermehren? Machen wir uns doch nichts vor! Kann man denn wirklich glauben, daß sich der Minister, wenn er sich schon in einer schwierigen L a g e zu keiner wirklichen Reform, die aus so vielen gebieterischen Gründen dringend zu wünschen war, bereit finden konnte, dann zu ordentlichem Betragen herbeiließe, wenn er die unumschränkteste Autorität in ihrem vollen U m f a n g wiedererlangt hätte und ihn kein Hindernis mehr davon abhalten könnte, sich seiner Leidenschaft für die ausschweifendsten Ausgaben hinzugeben? H ä t t e er es dann etwa eiliger, alle Hintertüren zu schließen, durch welche die öffentlichen Einkünfte aus der königlichen Kasse abfließen? Erkennt doch, welche natürlichen Auswirkungen der Bankrott auf die zwei Quellen hat, durch die der Fiskus gespeist wird. Es ist klar, daß in allen Bereichen des Verbrauchs augenblicklich eine ungeheure Einschränkung erfolgen wird. Andererseits wird die Verringerung des Absatzes verbunden mit dem Verlust einer Menge Gelder, welche die Werkstätten in G a n g hielten, bei allen Arten von Erzeugnissen binnen kurzem eine gewaltige Abnahme herbeiführen. Die Folge ist eine nicht abzuschätzende Verminderung der öffentlichen Einkünfte in sämtlichen Bereichen. Könnte man uns bei dieser neuen L a g e der Dinge gewährleisten, daß die Abgabenverweigerung auf jene beschränkt bliebe, die aus Elend zur Zahlungsunfähigkeit verurteilt sind? Genügten denn nicht schon die allgemeine Unzufriedenheit und die Leichtigkeit, mit der man sich hinter dem Anschein eines in seinen Grenzen undeutlichen Elends verbergen könnte, um den größten Teil der normalen Steuern versiegen zu lassen? U n d was für einen Entschluß wird das Ministerium dann fassen? Es wird Gewalt anwenden, das Militär vermehren und noch gewaltigere Summen ausgeben. Eine notwendige Verminderung der Einnahmen also, eine erzwungene
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Vermehrung der Ausgaben und schließlich eine alte Gewohnheit der Verschwendung, die man solange als unheilbar ansehen kann, wie die Staatskasse nicht der Nation gehört — das alles wird neue Bedürfnisse erzeugen, die neue Zuschüsse fordern; und ich frage nun: wenn man auf der einen Seite die kraftlose Nation und auf der anderen das allmächtige Ministerium sieht, geht man da zu weit mit der Vorhersage, daß neue Steuern nicht auf sich warten lassen werden? Doch ich will mich gern mit denjenigen, die unfähig sind, ein Ereignis in seinen wahrscheinlichen Auswirkungen zu betrachten, sobald diese sich ein bißchen von dem unterscheiden, was sie um sich herum zu sehen gewöhnt sind —, ich will mich mit ihnen gern in die am Ende eines Bankrotts günstigste Lage versetzen. Der geringste Schaden, den man erlitte, wäre immer noch größer als die Nachteile einer neuen Auflage. Nicht daß ich an die Notwendigkeit einer neuen Steuer glaube, um den Bankrott zu vermeiden, damit werde ich mich bald auseinandersetzen; sondern ich sage, daß die Nation, müßte sie zwischen den Nachteilen einer neuen Steuer und des Bankrotts wählen, sich ohne Zögern für die Steuer entscheiden würde. Und das entspricht nicht allein dem Interesse der Gläubiger und aller derer, die mit ihnen in Verbindung stehen, sondern es entspricht auch dem Interesse der Gesamtheit der Bürger. Ein vernichteter Kredit, eine Lähmung von Gewerbe und Künsten für fünfzig Jahre und dreihunderttausend Menschen auf den Heerstraßen — diese Rückwirkungen eines so gewaltsamen Schrittes entscheiden für alle hinlänglich, welches von beiden Übeln man am meisten meiden muß; sie zeigen nur zu deutlich, daß von allen Mitteln zum Ausgleich des Defizits der Bankrott das kostspieligste und für die Nation verderblichste wäre. Doch wir haben den Staatsbankrott noch nicht in bezug auf die Rechte derjenigen Bürger betrachtet, die Gläubiger sind. Wen brauchte man wohl darüber aufzuklären, daß der Bankrott das Merkmal der äußersten Ungerechtigkeit hat? Der soll verdammt sein, der nicht jeden, der sich einbildet, ihm beweisen zu müssen, daß man seine Verpflichtungen nicht verletzen darf, empört von sich weisen oder der kaltherzig eine Diskussion über die Frage anfangen würde, ob das öffentliche Vertrauen derselben Moral unterliegt wie das Vertrauen der Einzelnen. Auch eine eingehende Schilderung der Unruhen, des Leids, der Verzweiflung, des Jammers und der Verbrechen jeder Art, zu denen Elend und Wut einen treiben könnten, wäre sehr dazu geeignet, schon den bloßen Gedanken eines Plans, der so viele Übel erzeugen könnte, mit einem zusätzlichen Makel des Schreckens zu behaften. Doch wir haben in dieser Schrift die Absicht, den Bankrott eher in seinen politischen Auswirkungen auf das Schicksal der Nation in ihrer ganzen Masse zu betrachten. Eigentlich müßte man jetzt auf Einwände antworten, denn es wäre vergeblich, sich zu verheimlichen, daß Einwände erhoben werden. Der
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Bankrott hat Anhänger. Die einen behaupten, daß die Nation gar nichts schulde, weil sie nicht aufgefordert worden sei, den Anleihen zuzustimmen usw. Andere betrachten die Schuld als wucherisch und raten, eine Verpflichtung rückgängig zu machen, deren Unbilligkeit offenkundig sei. Wieder andere sind bestrebt, die N a c h - und Vorteile eines Bankrotts gegeneinander aufzurechnen und entscheiden sich kaltherzig für die Vorteile. Die meisten schließlich sind von der dem Volk drohenden übergroßen Belastung bestürzt, wollen überhaupt keine Erwägungen anstellen und eine neue Steuer um jeden Preis abwenden. Unsere obigen Uberlegungen — das muß man klar erkennen — dürften all jenen unbefriedigend erscheinen, die sich für das eine oder andere dieser Bedenken haben einnehmen lassen. Eine Erwiderung d a r a u f ist also notwendig; und man wird hinlänglich auf alles erwidern, wenn man den Stand des Problems aufhellt und seine wahren Beziehungen zu den guten Grundsätzen und zur gegenwärtigen Lage des Staates aufzeigt. Wir müßten jedoch befürchten, die Entwicklung des Hauptgegenstandes dieser Schrift über Gebühr aufzuhalten, wenn wir diese Ausführungen hier vorbrächten; wir verweisen sie besser an das Ende des Werkes, wo der Leser sie in vier Fragen gegliedert vorfindet. Wir schließen unsere Überlegungen zum Bankrott mit der Bemerkung, daß alles, was die Eigenschaft des Eigentums hat, vor dem Gesetz gleichermaßen heilig ist. Meine Außenstände gehören mir, die Zinsen sind mein Einkommen ebenso wie mein L a n d und die Bodenrente, die ich jährlich daraus erhalte. Hier gibt es keinen Unterschied. N i e m a n d kann das Recht haben, mir das zu nehmen, weder das eine noch das andere. Sogar die N a t i o n , obgleich oberster Gesetzgeber, kann mir weder mein H a u s noch meine Außenstände nehmen. Geht man auf die Grundprinzipien zurück, so trifft man die Garantie des Eigentums als den Zweck jeder Gesetzgebung; wie sollte man sich da vorstellen, der Gesetzgeber könne es mir rauben? Ist er doch nur zu seinem Schutze d a ! Wir hätten daher, als wir das Vermögen zum Beschluß des Bankrotts mit dem Vermögen zur Steuerbewilligung verglichen haben, die Gerechtigkeit und den Zweck der Gesellschaft verletzt, wenn wir zu dem Schluß gekommen wären, daß die Generalstände das Recht hätten, das Miteigentumsrecht der Staatsgläubiger an sämtlichem Besitz des Königreiches für null und nichtig zu erklären. U n d fügen wir noch hinzu, daß der Gesetzgeber den gemeinschaftlichen Willen der N a t i o n vertritt und durch allgemeine Gesetze, niemals aber durch einzelne Machtakte wirkt. Er kann nicht die Einen zum Vorteil der Anderen berauben, und wie umfassend seine Vollmacht auch sein m a g , so berechtigt sie ihn doch schwerlich dazu, eine G r u p p e * von Bürgern zugrunde zu richten, um andere zu unterstützen. Es ist nun Zeit, eine so peinliche Unterstellung fallen zu lassen. D e n n niemals können die Generalstände etwas dulden, das mit dem abscheuli-
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chen Meineid der öffentlichen Treue auch nur die geringste Beziehung oder Ähnlichkeit hat. Sie werden vielmehr fühlen, daß es gerade hier gilt, ihrer Freiheit und ihrer Macht die letzte Vollendung zu geben und in der öffentlichen Meinung jenes unwiderstehliche Ubergewicht zu erlangen, das sie anstreben müssen. In dieser Hinsicht wäre es wünschenswert, daß sie eine ungefähr folgendermaßen lautende Erklärung beschlössen: »Es steht fest, daß jede öffentliche Anleihe seitens der Nation zwei Verpflichtungen voraussetzt: i . die jährlichen Zinsen zu entrichten und 2. die Summe schrittweise nach und nach abzuzahlen; daß beide Maßnahmen sich nur durch eines der drei folgenden Mittel verwirklichen lassen: entweder 1. durch Einführung einer neuen Steuer, oder 2. durch andere Verwendung eines Teils der bestehenden Steuer, oder schließlich 3. durch Verwendung von Steuerzuwachs, der natürlich nur,von einem Erzeugnis kommen kann, das zuwachsfähig ist. Aus all diesen Überlegungen folgt unbestreitbar, daß das Recht zur Aufnahme von Anleihen im Namen der Nation allein dieser Nation zukommen kann. Die Generalstände stellen aber fest, daß alle Bestandteile der Staatsschuld und besonders alle bis auf den heutigen Tag im Namen des Königs aufgenommenen Anleihen in solche Mischformen sämtlicher damals bestehender Gesetze gekleidet worden sind, daß es den Gläubigern unmöglich war, deren wesentlichen Mangel zu erkennen; die Generalstände sind ferner der Ansicht, daß die Zerrüttung der Vermögensverhältnisse und die zahllosen Wirren, welche die Aufhebung der Staatsschuld nach sich zöge, mit dem Bedürfnis und dem Plan einer nationalen Erneuerung schwerlich zu vereinbaren sind. In Anbetracht zweier so schwerwiegender Gründe erklären die Generalstände im Namen der Nation, daß sie die Staatsschuld annehmen, und bestimmen, daß nach ihren Anweisungen sowohl f ü r die Bezahlung der jährlichen Zinsen als auch f ü r die stets mit einer Anleihe verbundene allmähliche Rückzahlung Sorge getragen wird.« Ja, so muß man die Bevölkerung beruhigen und sich als ihr Stellvertreter würdig erweisen, so muß man die guten Grundsätze festigen und die Bürger aufklären, damit sie ihre Rechte und die Macht der Einigkeit erkennen, so muß man auf dem Wege der Rechtlichkeit und der Ehre seinem Ziele zuschreiten! Eine solche Erklärung würde, so scheint uns, der Nationalversammlung in jeder Hinsicht den Namen der Retterin des Gemeinwesens einbringen. Anteilnahme, Einsatzbereitschaft, Zuneigung und Hingabe — alle Kräfte, die jetzt nichts als ein Vaterland suchen, würden ganz natürlich den Generalständen zuströmen, die so zum Sammlungspunkt der Meinungen, der Gefühle und bald auch alles dessen würden, was zur Schaffung der wahren Macht beiträgt. Doch beenden wir diesen langen Exkurs, wenn man so einen Gegen-
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stand bezeichnen darf, der mit dem Thema dieser Schrift und besonders mit der Frage der Freiheit der Generalstände ganz wesentlich zusammenhängt. Innere Freiheit Die Frage der Freiheit der Generalstände umfaßt außer ihrer äußeren Unabhängigkeit auch jene vollständige und einfache innere Ordnung, die jede Körperschaft zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt. Ohne dies Thema von Grund auf abzuhandeln, wollen wir seine Hauptzüge darlegen und zum Schluß dieses Abschnitts noch ein Wort zu den vorgefaßten Meinungen gegen die angeblichen Nachteile großer beratender Versammlungen sagen, denn — wenn möglich — möchten wir die Freiheit der Versammlung sogar gegen die Ungerechtigkeiten der Öffentlichkeit verteidigen. Es wäre überflüssig, die Notwendigkeit einer eigenen Rechtsordnung [police] in einer Versammlung von tausend bis zwölfhundert Personen zu beweisen, würde man vor allem beachten, daß den Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaft wesentlich das Recht zukommt, von außen nicht zur Verantwortung gezogen zu werden, und daß dies Vorrecht keinen Bestand haben kann, wenn nicht in ihr selbst zur Rechtsprechung eine Art Gericht eingesetzt ist. Als Darstellungsform wählen wir, wie man sieht, die einer Entschließung oder eines Statuts, obwohl dieser Rahmen für den Verfasser dort recht mühsam ist, wo er ihn zwingt, seine Ansichten mit größerer Deutlichkeit und Bestimmtheit darzulegen. Statuten zur persönlichen Rechtsstellung [police personnelle] » ι . Kein Abgeordneter kann für irgendetwas, das er in der Versammlung gesagt oder getan hat, außerhalb derselben zur Verantwortung gezogen werden. 2. Die Versammlung bestellt aus ihrer Mitte drei Geschäftsordnungsbeauftragte [procureurs de police] und einen aus zwölf Personen bestehenden Gm'cAfsausschuß. 3. Die drei Geschäftsordnungsbeauftragten haben die Aufgabe, 1) jene zur Ordnung zu rufen, die sich davon entfernen, 2) demjenigen, der sich nicht an die Ordnung hält, vorläufig das Wort zu entziehen. 3) Jedes Mitglied, das sich dem vorläufigen Wortentzug widersetzt oder ihn zu befolgen zögert, laden sie vor den Gerichtsausschuß, der auf ihren Antrag unverzüglich zusammentritt; ebenso jedes Mitglied, das in der Versammlung ein schweres Vergehen oder Delikt begeht. 4. Von den zwölf Mitgliedern, die den Gerichtsausschuß bilden, genügen sieben, um ein Mehrheitsurteil zu fällen. 5. Die Aufgaben des Gerichtsausschusses bestehen darin, 1) die Weigerung, dem von einem Geschäftsordnungsbeauftragten angeordneten vorläufigen Wortentzug nachzukommen, in letzter Instanz zu bestrafen; die
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Strafe besteht in längerem Wortentzug oder sogar in der Aussetzung der Teilnahme an der Versammlung für einen mehr oder weniger großen Zeitraum. 2) Entscheidet er in letzter Instanz auch über die anderen Vergehen, deren Bestrafung jedoch nie bis zur völligen Ausstoßung aus der Versammlung reicht. Was 3) jene Mitglieder betrifft, die vielleicht die völlige Ausstoßung zu gewärtigen haben oder es verdienen, den ordentlichen Gerichten übergeben zu werden, damit ihnen wie allen anderen Bürgern der Prozeß gemacht wird, so entscheidet der Ausschuß unter Berufungsvorbehalt. 6. Für die Berufungsverhandlung ist die Generalversammlung zuständig, die in letzter Instanz die völlige Ausstoßung und gegebenenfalls die Uberweisung an die ordentlichen Richter ausspricht. 7. D a jedes ausgestoßene Mitglied nicht länger als Teil der Versammlung gilt, sind seine Auftraggeber unter Beifügung des Urteilsprotokolls schriftlich aufzufordern, zur Wahl eines neuen Abgeordneten zu schreiten; das ausgestoßene Mitglied kann nicht wieder gewählt werden.« Man begreift wohl, daß es nötig war, die Grenzen der inneren Gerichtsbarkeit, die den Mitgliedern zukommt, abzustecken und auf den Verbindungspunkt zwischen ihr und der äußeren, allen Bürgern gemeinsamen Gerichtsbarkeit deutlich hinzuweisen. Viele werden es für richtig halten, und ich bin durchaus ihrer Ansicht, daß in der ersten Zeit und solange, bis eine gute Verfassung vor jedem gewaltsamen Ubergriff seitens der Verwaltung sicher ist, das Vorrecht der Abgeordneten auf alle ihre Äußerungen und alle ihre äußeren Schritte ausgedehnt wird, die sich auf die öffentlichen Angelegenheiten beziehen. Einzelheiten zur inneren Ordnung [formes] der Versammlung Nicht minder wichtig ist, daß die Versammlung ihre ersten Sitzungen darauf verwendet, sich eine Ordnung und Geschäftsformen zu geben, die den Aufgaben entsprechen, zu deren Ausübung sie berufen ist. Nicht daß eine gewöhnliche gesetzgebende Versammlung eigentlich den Auftrag hätte, sich selbst eine Verfassung zu geben. Die verfassunggebende und von der Verfassung gegebene Gewalt sollten keinesfalls vermengt werden. D a die Nation aber für das große Werk der Verfassungsgebung durch kein besonders Mandat [deputation] Vorsorge getragen hat, muß man wohl annehmen, daß die bevorstehenden Generalstände beide Gewalten vereinigen. Übrigens würde uns dies interessante Problem, das eine besondere Abhandlung verdient, zu weit führen. Begnügen wir uns hier mit dem Hinweis, daß die Generalversammlung notwendigerweise die vollkommenste Unabhängigkeit von der Exekutivgewalt besitzen muß und daher sowohl gegenüber der Nation wie gegenüber der Vernunft schuldig würde, wenn sie sich durch eine fremde Macht eine andere Form aufzwingen ließe. Sie darf nur ihre eigene Ordnung aner-
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kennen und muß sie ungeachtet aller Gewohnheiten, Staatsratsbeschlüsse oder entgegengesetzten Entscheidungen befolgen. Eine Repräsentativkörperschaft kann niemanden zu ihren Beratungen zulassen, der nicht ein von der Bevölkerung frei gewählter Abgeordneter ist. Die Kronbeamten, Herzöge, Pairs und Prinzen von Geblüt können in keiner dieser Eigenschaften an den Sitzungen teilnehmen. Jeder Einfluß, der von einer den Abgeordneten fremden Eigenschaft herrührt, ist als Widerspruch zu den Gesetzen einer echten Stellvertretung zu betrachten. Die Vorschläge von Seiten des Königs dürfen der Versammlung nur durch akkreditierte Bevollmächtigte [commissaires] überbracht werden. Sollte ein Mitglied dieser Versammlung sich nicht scheuen, ein Beauftragter des Königs zu werden, so würde es damit offensichtlich gegen seinen Stellvertretungsauftrag verstoßen. Denn die Bevölkerung erwartete seine Meinung als Teil der Legislative; es hat aber die Rolle gewechselt, indem es sich zum Sprecher der Exekutivgewalt machte, und muß also von den Beratungen ausgeschlossen werden. D a ß die Versammlung in Gegenwart des Königs oder seiner Bevollmächtigten nicht ihre Beratungen erledigen kann, bedarf wohl keiner näheren Darlegung. Da keine Provinz"' das Recht hat, eine andere zu beherrschen, wäre es lächerlich, wenn eine der Provinzen das Vorrecht verlangte, bei den Generalständen einen Präsidenten zu stellen. Uber die Wichtigkeit eines Versammlungspräsidenten herrschen in Frankreich seltsame Vorurteile. Man betrachtet ihn als H a u p t der Geschäfte, als zu ihrer Leitung bestimmt. Ein so gefährlicher Irrtum rührt daher, daß der Minister ein Interesse daran hatte, daß alle Versammlungen des Königreichs allein im Schatten seiner Macht tagten. So veranlaßt der Minister eine Bekanntmachung des Königs, daß er seine Stände von der Bretagne, seine Stände von Artois, seine Versammlung der Geistlichkeit, seine Generalstände abhalten will, als wären dies alles lediglich Hervorbringungen seiner Macht oder seines Staatsrats oder bloße Verwaltungskammern im Amtsbereich eines der Staatssekretäre. Es ist begreiflich, daß die Regierung aus derartigen Vorstellungen heraus die Präsidenten dieser verschiedenen Körperschaften als Beauftragte ansehen mußte, die dazu bestimmt seien, ihr über alle dortigen Ereignisse Rechenschaft zu geben. Schon bald wurden alle Versammlungspräsidenten mittelbar oder unmittelbar von ihrer Ernennung abhängig, ja sie wurden ihre natürlichen Berichterstatter [correspondans]. Durch tausend verschiedene Mittel haben ihr Einfluß, ihre Macht zugenommen. Alles haben sie in ihre Gewalt gebracht; Anträge, Leitung und Regierung lagen in ihrer H a n d . Die öffentlichen Angelegenheiten waren ihre Privatangelegenheit und im voraus mit dem Minister abgesprochen, dessen Vertraute zu sein sie sich zur Ehre anrechneten. Es ist zu erwarten, daß die Generalstände der Nation niemals ein
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derartiges System übernehmen. Der Präsident oder die Präsidenten, die sie ebenso wie alle übrigen inneren Beamten aus der Mitte allein der Mitglieder der Versammlung in freier Wahl bestellen, werden ebensowenig wie die anderen Beamten die ihnen übertragenen Befugnisse überschreiten. Die Aufgaben des Präsidenten bestehen darin, nach vorgeschriebenem Verfahren die Stimmen auszuzählen, bei den gewöhnlichen Anlässen sowie jedesmal, wenn zum Beispiel für eine Abordnung oder eine wichtige Angelegenheit nicht eigens [ad hoc] ein Redner benannt worden ist, im Namen der Versammlung zu sprechen. Schließlich obliegt es dem Präsidenten, denjenigen, die nicht folgen zu können scheinen, den Stand der Debatte zu erläutern. Wenn er diese Grenze überschreitet — wenn ihr euerm Präsidenten oder jedem beliebigen anderen Mitglied gestattet, sich mehr oder weniger deutlich zum Fürsprecher einer fremden Macht aufzuwerfen, ein Zwischenträger von Versprechungen des Ministers zu werden oder euch zu verstehen zu geben, daß er in gewisser Hinsicht besser unterrichtet sei als die Versammlung — wenn ihr ferner duldet, daß man auf irgendeine Weise die Debatte zu beeinflussen sucht, wie die Engländer sagen: dann werden bei euch Mißbräuche von allergefährlichsten Folgen einreißen. Ebensowenig dürft ihr dulden, daß euer Präsident diejenigen Mitglieder ernennt, welche die Ausschüsse bilden sollen, an die von der Versammlung die Vorbereitung wichtiger oder schwieriger Geschäfte überwiesen wird, oder daß er jene Ausschüsse nach seinem Willen zusammensetzt. Man gesteht ihm ziemlich allgemein das Recht zu, bei Abstimmungen den Ausschlag oder die ausschlaggebende Stimme zu geben, falls Stimmengleichheit besteht. Dies Vorrecht ist zu groß, als daß man es zum festen Besitz einer Stelle machen dürfte. Nur zu offensichtlich wäre die Abstimmung dann von einem Einzelwillen abhängig. Man muß jene ausschlaggebende Stimme vielmehr so weit wie möglich dem Gemeinwillen"' übertragen, der, wenn schon nicht unmittelbar, so doch wenigstens mittelbar entscheidet. Es entspricht also guten Grundsätzen, daß die Versammlung die Person wählt, die das Recht erhält, bei Abstimmungen den Ausschlag zu geben, und es entspricht guter Politik daß diese Funktion nicht immer von derselben Person ausgeübt wird. Ich schlage vor, alle vierzehn Tage drei als tüchtig bekannte Mitglieder zu wählen, und bei Stimmengleichheit soll dann unter diesen gewählten Mitgliedern das Los entscheiden, wer die ausschlaggebende Stimme erhält. Doch ich sehe, daß ich vom Thema abkomme. Ist der Präsident so auf seine eigentlichen Aufgaben festgelegt, wird man weniger Schwierigkeiten haben, dem Grundsatz der Gleichheit und Vorsicht nahezukommen, wonach ein Präsident der Generalstände nur vierzehn Tage amtieren soll, und ich meine, das gleiche gilt für den jeweiligen Präsidenten, den jede Kammer, jeder Ausschuß aus seiner Mitte
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wählen muß; da man übrigens unter den Provinzen"" wie auch unter den Bezirken keinerlei Vorrang dulden darf, so bleibt den Generalständen nach der von uns empfohlenen Regelung die vorteilhafte Möglichkeit, den Präsidenten aus jeder Provinz und jedem Bezirk reihum zu wählen. U n d man sage bloß nicht, die beiden ersten Stände würden niemals unter dem Vorsitz eines Mitglieds des dritten Standes tagen, denn schwerlich dürfte man besser und ehrenvoller präsidiert werden als von einem Vorsitzenden, den man selbst wählt. Ein von vornherein festgesetzter Ausschluß wäre für die betroffenen Personen eine willkürliche Beleidigung und ein Widersinn in der Sache. In den Augen der philosophes* und der vernünftigen Leute erscheint das Gezänk um Rang und Vorsitz verächtlich. Gleichwohl kann man leicht vorhersagen, daß eine vielköpfige Versammlung von Leuten, denen der große Grundsatz der Freiheit durchaus fremd ist und die noch keinerlei ihrer Schwäche entsprechenden, untereinander vereinbarten Regeln besitzen, darauf gefaßt sein muß, durch eitle Streitereien beträchtliche Zeit zu verlieren. D a s Mittel, dies erste Hindernis des Geschäftsgangs zu vermeiden, ist, durch eine rasche Vereinbarung einen Ausschuß einzusetzen mit der Aufgabe, alle Anträge jeder Art entgegenzunehmen, zu untersuchen und zusammen der Generalversammlung zur Entscheidung vorzulegen. Desgleichen ist es notwendig, in einer ersten allgemeinen Sitzung den noch viel wichtigeren Ausschuß zu bestellen, der den Entwurf einer Geschäftsordnung [organisation interieure] f ü r die Versammlung vorbereiten soll; bis diese beschlossen ist, sind die Sitzungen nur vorläufig. D a s soll nicht heißen, man habe dort überhaupt kein Recht, provisorische Regelungen zu beschließen: wie immer die Stimmen auch abgegeben werden, es genügen ihre Auszählung und die Kenntnis der Mehrheit, um daraus auf den gemeinschaftlichen Willen zu schließen, der immer Gesetzeskraft haben muß. D a man den Gemeinwillen 7 nur durch die Mehrheit erkennen kann, muß jede Anordnung, jedes beliebige Gesetz durch die Mehrheit beschlossen werden; diese kann je nach A r t des Gegenstandes mehr oder weniger groß sein, eine Mehrheit aber muß es immer bleiben, und es wäre doch sehr sonderbar, wenn m a n auch nur das Geringste nach der Minder7 Ich gehe d a v o n aus, d a ß jeder A b g e o r d n e t e ohne Standesrücksichten die g e s a m t e N a t i o n vertritt; eine Voraussetzung, ohne die es nur noch dann einen Gemeinwillen geben kann, wenn man unterstellt, d a ß die K a m m e r des Dritten S t a n d e s g a n z allein bereits die N a t i o n a l v e r s a m m l u n g bildet und für die g e s a m t e N a t i o n berät. Wo der gemeinschaftliche Wille ist, d a ist d a s Gesetz. Wo die Mehrheit ist, da ist der gemeinschaftliche Wille. Was ist nun erforderlich, um die wahre nationale Mehrheit zu erhalten, wenn man bloß die K a m m e r n des Dritten Standes berücksichtigt? M a n muß v o n vornherein davon ausgehen, d a ß die Beschlüsse hier nur eine Mehrheit von fünf bis sechs Stimmen brauchen. Denn f ü n f bis sechs A b g e o r d n e t e des Dritten S t a n d e s repräsentieren mehr B ü r g e r als beide privilegierte Kammern zusammen.
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heit entscheiden wollte. Was also ist von denjenigen Mitteln zu halten, mit denen man bisher die Stimmen ausgezählt hat? Sie sind so beschaffen, daß die Mehrheit nur äußere Täuschung sein, die Minderheit aber das Gesetz machen kann. Das ist der Nachteil des Abstimmungsverfahrens nach Gruppen. Ich habe sagen hören, daß H e r r von Calonne bei der Einberufung der Notabein von dieser schwachen Stelle des Verfahrens viel erhoffte, um sich eine scheinbare Mehrheit zu sichern. Die 144 oder 147 Stimmen verteilte er auf 7 Kammern von je 21 Mitgliedern. Bei der Gesamtzahl hätte die Mehrheit mindestens 74 Stimmen aufbringen müssen; wenn man die Stimmabgabe aber nach Kammern entgegennahm, bildeten 4 von 7 Kammern die Mehrheit, und da hier je 1 1 Stimmen zur Durchsetzung der Meinung genügten, waren bei einer Zahl von 147 Abstimmenden nur 44 Stimmen nötig, um eine scheinbare Mehrheit zu erhalten. Dieser Mangel wäre unerträglich. Keine Überlegung von Bequemlichkeit, Einfachheit und Zeitersparnis vermag die G e f a h r aufzuwiegen, daß ein Gesetz nach der Meinung der Minderheit gemacht wird. Das alte Verfahren, nach Gouvernements und innerhalb der Gouvernements"" nach Bailliagen* abzustimmen, war also verabscheuungswürdig. Dieser Mangel, der größte von allen, muß unbedingt behoben werden, weil man sagen kann, daß er sämtliche Beratungen von vornherein null und nichtig macht. Andererseits wäre es unmöglich, die Stimmen von tausend bis zwölfhundert Personen aufzurufen, und die Kammern haben große Vorteile, deren man sich nicht berauben soll. Es ist also nötig, beide Verfahren zu vereinen. Ich stelle mir das so vor, daß jeder wichtige Gegenstand zunächst in der Generalversammlung erörtert, untersucht und auf seinen Kern zurückgeführt wird und daß dann die Stimmen nach Kammern abgegeben oder ausgezählt werden. So wird jedermann aus der Einsicht eines jeden Nutzen ziehen, und diejenigen, die es in einer Versammlung von tausend bis zwölfhundert Personen nicht wagten, ihre Stimme zu erheben, werden dies vor etwa dreißig Abstimmenden leicht vermögen. Kein guter Gedanke wird verlorengehen, und man wird den Beschlüssen nicht vorwerfen können, sie seien durch eine unerwartete Wendung oder durch ränkehafte Gerissenheit durchgesetzt worden. Unbestreitbar ist dasjenige das beste Verfahren, welches die ganze Einsicht und Weisheit der Abgeordneten bewahrt. Die Abteilungen [sections] sollen jedoch nicht zusammentreten, um die Meinungen zu vereinheitlichen [fondre] und der Versammlung nur je eine Meinung vorzutragen. Wenn der Präsident der Abteilung Α die Stimmen ausgezählt hat, soll er zum Beispiel sagen: 18 Stimmen waren für den Antrag und 12 dagegen. Die übrigen Abteilungen sollen ebenso verfahren, und auf diese Weise wird man die wirkliche Mehrheit ermit-
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teln, als habe man den allgemeinen Versammlungssaal überhaupt nicht verlassen und als sei die Gesamtheit der Stimmen von ein und derselben Person ausgezählt worden. Beachtet bitte wohl, daß man zur nutzbringenden Anwendung dieses Verfahrens bloß ein Mittel zu finden braucht, welches verhindert, daß die Stimmen nicht in ebensoviele Meinungen auseinanderfallen, wie es Abteilungen gibt. Deshalb haben wir auch gesagt, daß die Fragen von einiger Wichtigkeit in Gegenwart aller Abgeordneter vorgelegt, diskutiert und analysiert werden müssen, bis sie fast auf ein J a oder Nein zurückgeführt worden sind. Dies wird dann der geeignete Augenblick sein, sich auf die Abteilungen zu verteilen. Wenn nun eine Abteilung durch irgendein neues Interesse, irgendeinen neuen Gesichtspunkt bewogen würde, die Vorlage [l'etat de la question] zu ändern, so versteht es sich, d a ß sie die anderen Abteilungen durch Beauftragte davon unterrichten kann. Eine von drei Möglichkeiten würde eintreten: entweder einigte sich eine gewisse Anzahl von Abteilungen auf den gemeinsamen Antrag, den Gegenstand von neuem in der Generalversammlung zu verhandeln; oder man schlösse sich der Ansicht der Abteilung, die zu den anderen Abordnungen geschickt hat, nicht an; oder aber es würde erlaubt, nicht die Vorlage zu ändern, sondern einen dritten Antrag des Inhalts einzubringen, daß keine Zeit zur Beratung sei. Bei gewöhnlichen Fragen wäre es unnütz, den Sitzungssaal der Generalversammlung zu verlassen. Es genügt, sich im Saale selbst nach Gruppen zu ordnen. Es ist übrigens bekannt, daß es bei den allermeisten Abstimmungen nicht nötig ist, die Stimmen zu zählen. M a n weiß aber auch, daß über keinen Antrag an O r t und Stelle abgestimmt werden kann, wenn auch nur ein Einziger Widerspruch einlegt. Bei allen wichtigen Fragen soll derjenige, der einen Antrag einbringt, ihn schriftlich einreichen und einen T a g zur Beratung beantragen.
Erwiderung auf einige Bedenken die Redefreiheit.
gegen die großen
Versammlungen
und
Es reicht in diesen Dingen nicht aus, die Versammlung gegen ministerielle Machenschaften und gegen eine fehlerhafte innere Ordnung zu wappnen. Auch die Öffentlichkeit ist ungerecht, und an sie sind unsere folgenden Überlegungen gerichtet. Zunächst mißbilligt man die Umständlichkeit und Langsamkeit, mit der die Verhandlungen bei den großen beratenden Versammlungen allem Anschein nach abgewickelt werden. Der G r u n d ist der, daß man in Frankreich jene willkürlichen Entscheidungen gewöhnt ist, die geräuschlos im Innern der ministeriellen Büros gefällt werden. Wenn eine Frage öffentlich von einer großen Anzahl von Abgeordneten verhandelt wird, die alle vom Recht zu mehr oder weniger weitschweifiger Erörterung Gebrauch machen können und sich von ihren Gedanken oft zu einem
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Eifer u n d einer Lautstärke hinreißen lassen, die dem Gesellschaftston ungewohnt sind, so macht das einen Eindruck, der unsere guten Mitbürger natürlich ähnlich erschrecken muß, wie ein Konzert von lärmenden Instrumenten unfehlbar das schwache O h r der Kranken eines Hospitals belästigt. Man kann sich einfach nicht vorstellen, daß aus einer so freien und aufgeregten Debatte eine vernünftige Meinung entstehen k a n n ; ja man wird vielleicht zu dem Wunsch verlockt, irgendjemand, der diesem großen Haufen überlegen sei, solle gerufen werden, um die Leute in Einklang zu bringen, die sonst ihre ganze Zeit mit Streitereien zubringen würden. Soll aber bei der Behandlung öffentlicher Angelegenheiten das weniger geräuschvolle oder versteckte Verfahren dem anderen vorgezogen werden, das sich ganz offen vollzieht und alle zu einer Entscheidung im Gemeininteresse geeigneten Eigenschaften am besten vereinigt? H a t man auch bedacht, was für einen Mißgriff es im allgemeinen bedeutet, die Verwaltung mehr zur Bequemlichkeit der Regierenden als zum Nutzen der Regierten einzurichten? Was würde man wohl von einem Mechaniker sagen, der vor lauter Sorge um die Vereinfachung einer Maschine deren wesentliche Wirkung opfert? Bei all diesen Diskussionen, sagt ihr, geht viel Zeit verloren. Doch was bedeutet schon Zeit, wenn man nur der Öffentlichkeit dient und sie durch gute Gesetze aufklärt? Was ist schon ein angeblicher Zeitverlust angesichts der allergrößten Wahrscheinlichkeit für den Menschen, das Gesuchte zu finden, wenn das, was er sucht, wesentlich eine Nation betrifft? Bei allen Beratungen ist gleichsam immer nur ein einziges Problem zu lösen, nämlich dasjenige, in einem gegebenen Fall zu erkennen, was das Gemeininteresse gebietet. Bei Beginn der Debatte k a n n man nicht beurteilen, welche Richtung sie einschlagen muß, um diese Erkenntnis mit Sicherheit zu erreichen. Natürlich ist das Gemeininteresse unerheblich, wenn es nicht dem Interesse von irgendjemandem entspricht; es ist eben dasjenige Interesse, das die meisten Abstimmenden gemeinsam haben. D a h e r auch die Notwendigkeit des Meinungswettstreits. Was euch als Durcheinander, als alles verschleiernde Verwirrung erscheint, ist eigentlich eine notwendige Vorbereitung der Aufklärung"". Man m u ß es also anerkennen, daß alle diese Einzelinteressen sich untereinander reiben und stoßen, sich um die Wette der Frage bemächtigen, um sie, jedes nach seinen Kräften, zum gesetzten Ziel zu lenken. In diesem Wettkampf scheiden sich die nützlichen von den schädlichen Meinungen; diese unterliegen, die anderen tummeln sich weiter und gleichen sich aus, bis sie sich gewandelt und durch ihre wechselseitigen Bemühungen geläutert schließlich versöhnen und zu einer einzigen Meinung verschmelzen; so wie sich im physischen Universum eine einzige und viel mächtigere Bewegung aus einer Vielzahl gegensätzlicher Kräfte bildet.
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N u n räume ich freilich ein, daß ihr in der Fülle der Meinungen mit Sicherheit diejenigen vermerkt, auf deren Äußerung man hätte verzichten können. Könnt ihr aber auch nur eine einzige im voraus von dem Forum [lieu] ausschließen, wo alle das Rederecht haben, wo alle sich auf ihren Bund mit dem Gemeininteresse berufen, wo alle beanspruchen, mit der noch unbekannten angestrebten Entscheidung übereinzustimmen? Würdet ihr nicht durch willkürlichen Ausschluß der einen oder anderen Meinung Gefahr laufen, von der endgültigen Richtung abzulenken, die die Versammlung schließlich zum wahren Ziele führt? Ich übergehe eine Fülle von Einwänden, die nur zu deutlich die französische Leichtsinnigkeit und Unüberlegtheit verraten. Gewiß, die N a c h teile sind nicht aufzuzählen, wenn man unterstellt, daß den großen Versammlungen jegliche O r d n u n g und Regelung fremd sei. Wie verfehlt wäre jedoch die Vermutung, die Generalstände seien außerstande, die Geschäftsordnung zu schaffen, die einem geregelten Ablauf ihrer Sitzungen angemessen ist! Im übrigen liegt es uns fern, allen Kritikern zu antworten. Es gibt Vorwürfe, es gibt Feindschaften, die zu verdienen eine Ehre ist. Ist es denn zum Beispiel verwunderlich, daß eine Versammlung, in der jeder Abgeordnete das Recht und zugleich die Pflicht hat, ungehindert Mängel der Verwaltung aufzudecken, bei all jenen Beamten, die ein Interesse an den alten Mißständen haben, sowie besonders bei vielen Schuldigen Schrecken erregt, die oft nur einen Oberen, der kleinen Vorteilen zugeneigt ist, zu bestechen brauchten, um ihren K o p f vor dem Galgen zu retten? Ihre heuchlerische Beunruhigung über das Verhalten der bevorstehenden Generalstände besteht nur aus Böswilligkeit. Sie wollen nichts als Mutlosigkeit verbreiten; verliert eure Zeit nicht damit, euch mit dieser Art von Leuten auch nur auf die geringste Diskussion einzulassen, denn man überzeugt sie nie; überlaßt sie anstelle einer Antwort vielmehr der Peitsche der Ereignisse. Mit Freuden müssen die guten Patrioten * erkennen, daß sich die Anteilnahme am Gemeinwesen bei allen Ständen der Bürger verbreitet hat und bereits eine eindrucksvolle Summe ausmacht. Jawohl, wir können die inneren Feinde der N a t i o n heutzutage in aller Offenheit hassen. Diese patriotische Gesinnung greift rasch um sich und wird gleichsam zur ersten H a n d l u n g der öffentlichen Gerechtigkeit. Was jene kleinmütigen, der Feigheit so nahen Menschen betrifft, die sich mit dem Titel eines Weisen, eines Gemäßigten brüsten, weil es ihrer ohnmächtigen Seele an T a t k r a f t mangelt — warum sollte m a n sie aus ihrer moralischen Schlaffheit aufstören, die sie gerne wie eine Bedingung der Staatsruhe geehrt sähen? Uberlassen wir doch jene niedrigen Wesen sich selbst, die alle Schläge lieber erdulden, als einen einzigen abzuwehren. Es ist nur natürlich, daß gelähmte Gemüter vor jeder freien Bewegung zurückscheuen, ja daß schon das bloße Schauspiel der Ehre und der Frei-
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heit bei anderen sie gewissermaßen erschöpft. Ubergehen wir solche entarteten und wertlosen Geschöpfe, die eigentlich schon Leichen sind: ihnen gebührt das Grab. Die Freunde der Nation brauchten nur wenigen Schwierigkeiten vorzubeugen, wenn jener Haufen von übelwollenden Schwätzern — die kühn auftreten, weil sie zu den Schichten der Gesellschaft gehören, denen das Unglück der Ereignisse das Recht verschafft zu haben scheint, alles auszusprechen — nicht jegliche Scham abgelegt hätte. Bliebe vielleicht nur noch der ängstliche und ewige Tadel der Greise, vor dem keine Voraussetzung, keine Macht uns schützen kann. Wenn die Natur die Greise auch bis in die Gegenwart fortleben ließ, so hat sie sie nichtsdestoweniger dazu verdammt, nie etwas anderes zu sein als Menschen der Vergangenheit. Denn deren Anschauungen und Irrtümer werden sie nie ablegen. Die Begriffe Patriotismus und Freiheit gehören eben nicht zu ihrer Sprache. Sie ihnen erklären zu wollen, ist müßig, weil ihr auf taube Ohren stoßen würdet. Die Vorurteile unserer Zeitgenossen sind noch heilbar, ihre Vernunft ist noch aufzuklären. Gegen eine sechzig Jahre alte Vernunft aber ist kein Kraut gewachsen. Wo es gilt, Tatkraft und Fähigkeiten zu beweisen, da wissen die altersschwachen Menschen wie der lächerliche Bailly im Lustspiel immer nur Mäßigung zu predigen. Mit ihren tausend Bedenken hinsichtlich Sache und Person, ihren ewigen Rücksichten auf alles, was Rang und Stellung besitzt, ersticken sie schließlich jede nutzbringende Unternehmung und machen jede Hoffnung auf Besserung zunichte. Kann man für die Menschen denn wirklich nie etwas anderes tun, als ihnen Mäßigung und noch einmal Mäßigung zu predigen? Heißt das vielleicht unsere Leiden heilen? Leider nein! Seit so vielen Jahrhunderten sind wir gemäßigt und unglücklich! — Nicht daß wir alle betagten Menschen als unempfindlich gegenüber der öffentlichen Unordnung hinstellen wollen. Die meisten von ihnen vertragen es sogar, von Reform reden zu hören. Doch sie wollen und wollen wieder nicht, sie würden die öffentlichen Feinde nur zu gern verdammen und wagen es doch nicht. Seid ihr im Begriff, die Mißstände mutig anzugreifen, so raten sie euch zitternd, doch wenigstens nur abgenutzte Werkzeuge zu verwenden, die nicht greifen. Aus Gewohnheit verehren sie die Urheber ihrer Leiden und gestatten sich ihnen gegenüber auch die geringste Beschwerde nur mit den feigsten Schmeicheleien und schmählichsten Erniedrigungen. Bietet ihnen doch einmal ihre Befreiung an: wenn sie überhaupt zustimmen, dann nur unter der Bedingung, ihre Livree, die sie schon so lange entehrt, nicht ablegen zu müssen; sie haben sich daran gewöhnt und haben das Bedürfnis, ihren Ketten bis zum Sterben treu zu bleiben. Wir aber, die wir wenigstens im Denken und Wollen frei sind und die ursprüngliche Spannkraft bewahrt haben, sollen wir etwa Haltung und
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Sprache von Sklaven übernehmen? Es ist zu hoffen, daß diese schändliche Gesinnung, diese unerheblichen Bedenken, diese erbärmlichen Klagen die öffentliche Meinung"" nicht länger besudeln. Von solch verderblichen Fesseln werden die Stellvertreter der Bevölkerung befreit werden. Und ich sage es zu Ehren der Nation: öfters werden wir in ihrer Versammlung das Schauspiel erleben, wie jene Aufwallungen tugendhafter Empörung bei der Verfolgung großer Mißstande furchtlos die Schwelle überschreiten, welche weniger eine angebliche Weisheit als vielmehr bare Schwäche gegen den Mut zu errichten wagte. Diese Großtaten der öffentlichen Ehre und des Gemeingeistes * werden allgemein werden — trotz Mißbilligung der Wirrköpfe, trotz Gegnerschaft der moralisch Entarteten, trotz gefährlicher Gegenwart der Denunzianten, die den Worten des Tüchtigen doch nur aus Hoffnung auf eine Anzeige ihr Ohr öffnen; feige Ehrgeizlinge, die sie sind, stets bereit und zur Stelle, wo durch schändliches Handlangertum ein neuer Anspruch auf Ämter, Würden und Pensionen zu erschleichen ist, die um so verschwenderischer über diese Niederträchtigen ausgegossen werden, je mehr diese sich strafbar machen. Doch kehren wir zur Öffentlichkeit zurück, die bisweilen alle Vorstellungen durcheinanderbringt und aus Blindheit im Verein mit ungerechter Beurteilung sogar so weit gegangen ist, die Urheber der von ihr als tollkühn bezeichneten Meinungen zu tadeln und — oh Schande! — die diesen Urhebern drohende Gefahr, die vom Despotismus über sie verhängte Strafe anscheinend gutheißen. Denken wir doch mit kühlem Kopfe nach! Warum erkennt man denn nicht, daß es sich mit den Einzelmeinungen, so hitzig und aufdringlich sie auch scheinen mögen, ebenso verhält wie mit allen anderen Vorstellungen, mit allen anderen mehr oder weniger flüchtigen Willensregungen auch, die beim Einzelnen seiner Entscheidung über eine wichtige Angelegenheit vorausgehen? Was würde denn aus dem weisesten Mann — vom Brausekopf gar nicht erst zu reden —, wollte man ihm alle Übertretungen, alle beleidigenden Einfälle oder besser alle heilsamen Ungerechtigkeiten zur Last legen, die ihm bisweilen durch den Kopf gehen, bevor er zu einem Entschluß kommt, der eines vernünftigen Geistes und eines edlen Herzens würdig ist? Nun, die Einzelmeinungen in einer beratenden Versammlung sind das genaue Abbild dieser Fülle ebenso vielfältiger wie verschwommener Regungen, die die Gehirnwindungen eines einzelnen Individuums in jeder Richtung durchlaufen. Beide, die einen wie die anderen, bilden sie Rohstoff und Grundelemente der Beratung, die Vorbereitung der Entscheidung; sie liefern die Beweggründe, deren Zusammenwirken jene letzte Verbindung von Verstand und Willen hervorbringt, die man Entschlußfassung nennt.
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Ohne die Einzelmeinungen, die ihn vorbereiten und ihm zugrundeliegen, würde eine Versammlung niemals einen gemeinschaftlichen Willen bilden; ist der Entschluß aber einmal gefaßt, so muß alles Nutzlose und Gefährliche der vorangehenden Meinungen mit diesen fallen. Die Versammlung kennt und verantwortet nur ihr eigenes Werk, ihr Werk ist aber allein die gemeinschaftliche Entscheidung. Wenn die Gedanken des Einzelnen, die seinem Entschluß dienten, nach Belieben im undurchdringlichen Geheimnis des Gehirns bleiben, während in einer körperschaftlichen Versammlung die Meinungen, die ihre Entscheidung angeregt und vorbereitet haben, notwendigerweise für die Öffentlichkeit bestimmt sind, so sehe ich in diesem Unterschied nur einen zusätzlichen G r u n d für die Ansicht, daß die Meinungen innerhalb einer Versammlung ihren Urheber nicht belasten können. In Verbindung mit dem Ort, wo sie einen notwendigen Augenblick existieren, muß es für alle Meinungen ein heiliges und unverletzliches Asylrecht geben. Außerdem verursacht diese so schlecht beurteilte Öffentlichkeit selten auch nur ein geringes Übel, sondern ist fast immer eine Quelle unendlich vieler Güter — eine Wahrheit, die leicht sinnfällig zu machen wäre, wenn wir nur alles sagen könnten, was uns vorschwebt. Doch selbst wenn einige gewagte Meinungen etwas unbequem sein sollten, braucht die Öffentlichkeit sie darum doch keineswegs mit soviel Strenge zu behandeln. Aus wohlverstandenem Eigeninteresse wird sie vielmehr eine Redefreiheit schützen und im Gegenteil fördern, die sonst aus so vielen Gründen nur ängstlich ausgeübt wird. Denn darunter leidet das Gemeinwesen*, während seine Feinde allein Nutzen daraus ziehen. Es ist Barbarei, wenn man so weit geht, jemanden zu bestrafen, der für seine Meinung eintritt, wie sie auch sein m a g . D a s wäre ein sinnloser Widerspruch des Gesetzes; das ist ein schrecklicher Gewaltakt der bewaffneten Macht. Denn die vollkommene Freiheit ist das angeborene, unangreifbare und heilige Recht eines jeden Mitglieds, das in einer gesetzgebenden Versammlung mitberät und abstimmt. Zügel- und Maßlosigkeit beginnen erst in dem Augenblick, in dem die innere O r d n u n g der Versammlung darunter leiden könnte, und wir haben gesehen, daß ihr Ordnungsrecht für alle Fälle dieser A r t ausreichen kann und soll. Zusammenfassend ist entsprechend der Uberschrift dieses Abschnitts zu sagen, daß die Generalstände, wenn sie sich nur zuallererst unter den Schutz der Gesamtheit der Steuern begeben, hernach, wenn sie wollen, mit der vollkommensten Freiheit alles beraten und beschließen können, was sie für die N a t i o n als nützlich erachten. D a wir uns nicht vorgenommen haben, zu untersuchen, worin diese der N a t i o n bei den derzeitigen Verhältnissen so nützlichen Gesetze bestehen, müssen wir unseren Weg weiter verfolgen. Untersuchen wir also Im folgenden Abschnitt, ob die Völker dazu verdammt sind, aus den besten Gelegenheiten nie mehr als einen vorübergehenden Vorteil zu ziehen, oder ob es nicht diesmal
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möglich ist, daß Frankreich durch die Generalstände in den Genuß handfester und dauerhafter Errungenschaften kommt.
Dritter Abschnitt Die Generalstände können dem Ergebnis ihrer Beratungen Dauerhaftigkeit und Unabhängigkeit verleihen Gesetzt, die Ordnung der Finanzen ist wiederhergestellt; der Minister ist vom Druck der Notwendigkeit befreit und braucht sich nicht länger zu beherrschen; die Nationalversammlung ist auseinandergegangen. Was wird dann das Los all jener Beschlüsse sein, die der ausführenden Gewalt mißfallen haben? Haben die Stellvertreter der Bevölkerung vorbeugend dafür gesorgt, daß sie nicht erleben müssen, wie die Frucht ihrer Anstrengungen und die Hoffnung der Nation nach ihrem Auseinandergehen zerrinnen? In einer wohlgeordneten Gesellschaft wäre diese Furcht eitel. Der Gesetzgeber braucht den Vollzug der Gesetze nur der öffentlichen Gewalt"' anzuvertrauen, um ihnen alle Dauerhaftigkeit und das notwendige Ansehen zu geben; denn in einer wohlgeordneten Gesellschaft ist die öffentliche Gewalt so gestaltet, daß sie notwendigerweise ihre Pflicht erfüllt und ihre Macht unmöglich gegen das Interesse ihrer Auftraggeber kehren kann. Wir sind leider nicht in dieser glücklichen Lage; und da wir in einer politischen Ordnung leben, in der nichts seinen rechten Platz hat und in der wir zu unserm tiefsten Bedauern die großen Mittel der öffentlichen Gewalt nicht ihrem eigentlichen Zweck zuführen können, müssen wir wohl oder übel ein anderes Mittel suchen, um die Bestimmungen der wahren Gesetzgebung zu befestigen. Ich darf hier also voraussetzen, daß es die Generalstände, während sie unter dem Schutz der Notwendigkeit beraten und sowohl furcht- wie gefahrlos alle Gesetze beschließen, die sie im Interesse der Bevölkerung für notwendig erachten, keineswegs versäumen, Frankreich eine Verfassung zu geben. Es wäre in der Tat unbegreiflich, wenn sie nicht begriffen, daß man eben damit beginnen muß und daß eine Verfassung die einzige Grundlage jeder Reform, jeder Ordnung und alles Guten ist. Meine erste Antwort wird also lauten, daß die eingeführte Verfassung während der Zeit zwischen den Nationalversammlungen über die von ihnen beschlossenen Gesetze wacht, daß sie durch ihre bloße Existenz die Gesetze aufrechterhält und der Nation sogar die periodische Versammlung ihrer Repräsentanten gewährleistet. Wer aber gewährleistet diese Verfassung selbst, die wir zum Bürgen der Beschlüsse der Nation machen? Es ist Zeit zu antworten: das neue Steuergesetz, Damit meinen wir nicht bloß das Gesetz, das die Steuerbewilligung auf kleine Zeiträume beschränken soll. Wir werden bald sehen,
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d a ß dies Mittel in der jetzigen Lage der Dinge keine ausreichende Gewähr bietet. Wir meinen vielmehr ein Steuergesetz, das selbst Verfassungscharakter hat; und um davon vor den folgenden Darlegungen schon eine allgemeine Vorstellung zu geben, sagen wir, daß es gilt, alle H a u p t bestandteile der Verfassung wohl zu unterscheiden und einem jeden eine Funktion in bezug auf die Steuer zu geben, so daß Verfassung und Steuer in allen Punkten eng verknüpft und nie getrennt werden können. D a n n ist es gewiß, daß alle Teile unserer Verfassung festesten Bestand und wirksamstes Ansehen genießen. Denn wenn die einzige Macht, die dann noch zu fürchten wäre, die Steuer nicht entbehren kann, wird sie das ihre Erhebung begründende Verfassungsgesetz durchaus beachten müssen. Zur Klärung dieser Frage müssen wir die Arbeit der Versammlung, die die Steuern betrifft, getrennt von derjenigen behandeln, die die Verfassung betrifft, ohne zu vergessen, daß es nicht unsere Aufgabe sein kann, diese Gegenstände gründlich abzuhandeln, sondern lediglich diejenigen Arbeiten der Generalstände in ihrem Verlauf zu verfolgen, die ihr erstes Zusammentreten zum Inbegriff eines großen und dauerhaften Nutzens machen und ihm das Verdienst verleihen, die unerschütterlichen Grundlagen der Freiheit und der Wiedergeburt Frankreichs geschaffen zu haben. Arbeitsgang hinsichtlich der Finanzen Es ist klar, d a ß diese Arbeit erst in der letzten Sitzung der Versammlung ihren sicheren Abschluß erhalten muß. Der Beschluß über die Abgaben k a n n nur die letzte Handlung sein. Die vorbereitende Unterrichtung aber u n d die Fülle von Einzelheiten einer in diesem Bereich festzusetzenden O r d n u n g setzen voraus, daß die Generalstände mit ihrer Behandlung sogleich in den ersten Tagen beginnen. Die Art und Weise, wie diese Arbeit entworfen und ausgeführt wird, ist nicht so wichtig, wenn man nur rechtzeitig von der doppelten Notwendigkeit durchdrungen ist, die Ausgaben zu ordnen u n d sich der Einnahmen zu bemächtigen. U m unseren Vorstellungen eine feste Form zu geben, gehen wir davon aus, daß die Generalstände drei wohl unterschiedene und deutlich getrennte Ausschüsse bestellen werden. Der erste wird beauftragt werden, alle Rechnungen zu prüfen und eine zuverlässige Aufstellung der ^Einnahmen und Ausgaben vom jetzigen Stand vorzulegen. Die Arbeit des zweiten Ausschusses wird darin bestehen, ohne Rücksicht auf die bisherige Praxis einen theoretischen, aber vollständigen Etat der Ausgaben aufzustellen, die in einem Land wie Frankreich notwendig sind. In diesem Entwurf sollen die Bereiche der Staatsverwaltung auf ihre wesentliche Zahl und jeder Bereich auf seinen richtigen U m f a n g beschränkt werden; schließlich sollen die Kosten sparsam geschätzt werden. In der H a u p t s t a d t werden sich genug aufgeklärte Männer finden,
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um dies dreifache Ziel zu erreichen, und man begreift wohl, daß der Ausschuß befugt sein muß, alle Verwaltungsabteilungen und die einfachen Bürger nach Gutdünken um Auskunft und Rat zu fragen. D e r dritte Ausschuß hat die Aufgabe, aufgrund der Methode, die gegenüber den Steuerpflichtigen am gerechtesten und für den Wohlstand der Nation am unschädlichsten ist, einen Plan der Steuer zu entwerfen. Wenn es auch richtig ist, daß die Generalstände die Sorge um die Vorbereitung ihrer Beratungsgegenstände ruhig Ausschüssen aus ihrer Mitte überlassen können, so steht doch ebenso fest, daß dies Verfahren unveränderlichen und wohlbekannten Regeln gehorchen muß. Man darf deswegen nicht aus den Augen verlieren, daß sich die Arbeit der Ausschüsse und ihrer Mitglieder darauf beschränkt, den Gegenstand zu prüfen und zu klären, einen Entscheidungsvorschlag zu entwerfen und das Ganze möglichst informativ der Versammlung vorzutragen, der allein Beurteilung und Entscheidung zukommen. Wie achtungsgebietend das Urteil einzelner Ausschußmitglieder auch sein mag, so darf doch ihr Wort allein für die anderen Abgeordneten noch kein Entscheidungsgrund sein. Denn die Bevölkerung hat ihr Vertrauen den Generalständen als Körperschaft gegeben, nicht aber bloß einigen Mitgliedern. Die Versammlung kann ihre Pflicht zu beschließen, zu beraten und sich zu unterrichten nicht übertragen. Auf gar keinen Fall darf die beratende Stimme von der allgemeinen Vertretungskörperschaft getrennt werden. Alle Abgeordneten haben also das Recht und die Pflicht, sich persönlich über jeden Beratungsgegenstand zu unterrichten, so daß sie ihre Stimme mit voller Sachkenntnis abgeben können. Die Ausschüsse sind dazu da, die Einzelarbeit zu erleichtern, nicht aber von ihr zu befreien. U n d man glaube nur nicht, diese Überlegungen seien viel zu banal, als daß sie der Erwähnung bedürften. Mehr als einmal wird es nötig werden, der Versammlung den so fruchtbaren Grundsatz ins Gedächtnis zu rufen, daß die gesetzgebende Gewalt durchaus unübertragbar ist, daß sie unwiderruflich und unveräußerlich der Körperschaft der Repräsentanten zusteht. Bei normalem Verlauf der Beratungen genügt zur Unterrichtung der Allgemeinheit der Stimmberechtigten der Bericht eines Ausschusses, der die aufgetragene Arbeit mit Eifer behandelt hat. Anders verhält es sich bei einigen verwickeiteren Angelegenheiten wie zum Beispiel dem jetzigen Stand der Finanzen, dessen Nachweis eine große Menge Belege voraussetzt. Der Bericht des Rechnungsausschusses, des ersten der drei eben von uns erwähnten Ausschüsse, mag noch so vollkommen sein, so muß man doch außerdem die Belege vor Augen haben. Deshalb stellen wir fest, daß dieser Ausschuß den besonderen A u f t r a g haben muß, seine Arbeit in so viele Teile aufzugliedern, wie er getrennt und vollständig untersuchen und beglaubigen kann, und alle Belegstücke zur besonderen
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Unterrichtung der Mitglieder, die sie gründlicher prüfen wollen, vor jedem Teilbericht an die Versammlung in der Kanzlei auszulegen. Die große Bedeutung eines solchen Verfahrens ist zu offensichtlich, als daß es nötig wäre, hier alle Gründe für seine Annahme darzulegen. Die Versammlung wird jedoch zunächst die verschiedenen Teile des Rechnungsberichts anhören und sich keine erschöpfende Beratung des Gegenstands gestatten, bevor sie nicht alles über ihn erfahren hat. Nach denselben Bestimmungen soll sie auch den Bericht der beiden anderen Finanzausschüsse anhören. Bevor man dann fortfährt, scheint es uns nützlich, einen vierten Ausschuß zu bestellen mit dem Auftrag, alle drei Berichte über Rechnungsstand, Ausgaben und Steuern zu untersuchen. Ist es doch begreiflich, daß das Studium, die Gegenüberstellung und der Vergleich dieser drei Pläne erhellende und überaus nützliche Ergebnisse bringen müssen. Indem dieser vierte Ausschuß Tatsachen und Recht aufeinander abstimmt, wird er ferner eine vollständige Ordnung der Einnahmen und Ausgaben zusammenstellen können, die den schlimmen Zeitumständen angemessen und geeignet sind, der Generalversammlung zur Beratung vorgelegt zu werden. Es ist mir wohlbekannt, daß das Ministerium seinerseits schon einen neuen Finanzplan hat ausarbeiten lassen; ich weiß, daß es ihn den Generalständen selbst vorschlagen, ihre Aufmerksamkeit und Einwilligung erlangen will. Wahrlich, das wird ein ergötzendes Schauspiel sein, wie die Regierung [administration], die sich bis jetzt nur auf Verderben und Zerstören verstanden und sich nach Zerrüttung des politischen Räderwerks [machine] derart darin verwickelt hat, daß sie völlig wider Willen, versteht sich, die Stellvertreter der Nation als einzige Macht, die der Unordnung abhelfen kann, zu Hilfe rufen mußte — es wird, sage ich, ein wunderliches Schauspiel sein, wie diese Regierung mit der dreisten Anmaßung auftritt, die Generalstände mit ihrer Einsicht zu schützen, ihnen als Führer und Lehrer zu dienen und sie väterlich die Kunst der Gerechtigkeit und der guten Ordnung zu lehren. Es ist zu hoffen, daß die Elite* der Nation diese lächerliche Anmaßung so behandelt, wie sie es verdient, daß sie ihrerseits nur um so fester und aufmerksamer ihre Pflicht tut und nur die eigenen Ausschüsse mit der vorläufigen Aufgabe betraut, die Unterlagen auszuwerten und aufzubereiten. Denn wie müßte es die Bevölkerung befremden und entrüsten, wenn ihre Repräsentanten sich der ihnen anvertrauten Aufgabe entzögen, um diese dem Wohlwollen und der Einsicht der Minister preiszugeben! Doch eine solche Unterstellung ist j a wohl abwegig. Haben sich die Generalstände — bereits informiert durch die Berichte der drei ersten Finanzausschüsse — nun durch den Bericht des Vereinigungsausschusses von neuem mit diesem wichtigen Gegenstand befaßt und haben sie im übrigen alle ihre Pläne hinsichtlich der Verfassung usw.
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ausgeführt, so werden sie die Ordnung aller Teilbereiche der öffentlichen Ausgaben in sämtlichen Einzelheiten in Angriff nehmen und jedem dieser Bereiche die ihm zustehende Summe der Einkünfte zuweisen; auf diese Weise wird schließlich die Gesamtsumme ermittelt, die für die Steuern festzusetzen ist. Dies ganz einfache und allein angemessene Verfahren zur Bestimmung der allgemeinen Abgabenhöhe kann diese unmöglich höher treiben als die ungeheuren Auflagen, welche die Bevölkerung jetzt zahlt. Ist die Höhe des Staatshaushalts einmal bekannt, gilt es, die Summe nach Maßgabe der gerechten Verteilung und der nationalen Wohlfahrt umzulegen. Man wird jedoch begreifen, daß das auf schlechten Grundlagen beruhende Steuerwesen von den Generalständen weder an einem Tage noch in einer ersten Sitzungsperiode sogleich auf seine wahren Grundlagen zurückgeführt werden kann. Hier muß die öffentliche Meinung"' sonst allzu großen Veränderungen den Weg bahnen. Und dies ist, nebenbei gesagt, nur ein weiterer Grund dafür, jedes Hindernis gegen die Verbreitung der Aufklärung aus dem Wege zu räumen. Was indessen auch die Quellen sein mögen, aus denen man vor oder nach Errichtung einer besseren Ordnung die verschiedenen Teile der nationalen Einkünfte schöpft, so können die Summen, die sie ausmachen, doch immer nur in einer langen Folge von Arbeitsgängen umgelegt, erhoben und zu ihrem endgültigen Zweck verteilt werden. Wir schlagen vor, diese ineinandergreifende Arbeitsfolge aufs engste mit dem Stufenbau der Verfassung zu verknüpfen. Bevor wir jedoch eine Darstellung dieser innigen Verbindung geben, wollen wir sehen, wie die Generalstände vermutlich verfahren werden, um Frankreich eine Verfassung zu geben. Zu den Beratungen der Versammlung über die Verfassung Zunächst: was ist das eigentlich, eine Verfassung? Denn wenn die Behandlung dieses Gegenstands auch nicht zu meinem Thema gehört, so muß man sich doch wenigstens über die wahre Bedeutung der Ausdrücke [termes] zu verständigen suchen. Wie wir weiter oben gesagt haben, braucht jede menschliche Gesellschaft einen gemeinschaftlichen Zweck und öffentliche Ämter; und um diese Ämter zu bekleiden, muß aus der großen Masse der Bürger eine gewisse Zahl von Gesellschaftern* ausgewählt werden. Je mehr eine Gesellschaft in Industrie'"· [production] und Handel fortschreitet, desto klarer erkennt man, daß die das Gemeinwesen"" betreffenden genauso wie die Privatarbeiten billiger und wirksamer von Leuten verrichtet werden, die das als ihren ausschließlichen Beruf ausüben. Diese Regel ist bekannt. Das Gehalt dieser Beamten oder Staatsverwalter und überhaupt die gesamten Ausgaben des Staates werden aus dem jährlichen Steuerauf-
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kommen bestritten. Die Steuer zahlenden Bürger müssen also als Aktionäre [actionnaires] des großen Unternehmens Gesellschaft angesehen werden: von den Bürgern erhält es das Betriebskapital, ihnen untersteht es, für sie existiert und arbeitet es, ihnen gehören auch alle seine Erträge. Bleiben nun die beauftragten Beamten sich selbst überlassen, sind sie nicht rechenschaftspflichtig und können sie sich der Abhängigkeit von der Aktionärskörperschaft entziehen, so werden sie unfehlbar ein Sonderinteresse entwickeln, das auf Kosten des Gemeininteresses geht; kurz, sie werden die Herren sein. Dann wird man erleben, was fast überall eingerissen ist: man betrachtet die öffentlichen Ämter nicht länger als eine Pflicht, sondern als ein Recht; man sieht in der den Verwaltungsbeamten anvertrauten Gewalt und Autorität nicht mehr einen Auftrag, sondern ein Vorrecht, ein Eigentum. Das ist dann die Zerrüttung des politischen Körpers, ja sein Tod. Es gibt keine Vereinigung [association] mehr und keine Gesellschaft; Begriffe, die gerade durch die ihnen innewohnende Bedeutung — societas quia inter socios — die tatsächlichen Zustände nicht mehr beschreiben. Denn sobald die Bürger nicht mehr Gesellschafter* sind, hören sie auf, Staatsbürger zu sein; man muß sich einer anderen Sprache bedienen; und da es unmöglich ist, zwischen einigen wenigen Herren und einer Menge Sklaven, die jenen dienen und ihre eigenen Fesseln schmieden, irgendeinen Gesellschaftsbezug [rien de social] zu erkennen, da sich vielmehr nur noch Herrschaft und Knechtschaft schroff gegenüberstehen, muß man solchen menschlichen Vereinigungen die Bezeichnung Gesellschaft verweigern und sie als politische Sklaverei bezeichnen. Daraus folgt, daß jede Gesellschaftsvereinigung bei der Bildung ihrer öffentlichen Gewalt"' zuerst darauf achten muß, diese so zu organisieren, daß sie für ihre Aufgaben immer handlungsfähig ist, sich aber nicht von ihnen befreien und vor allem nie von ihnen abweichen kann, um die allein zum Nutzen ihrer Auftraggeber anvertrauten Waffen gegen dieselben zu kehren. Dies ist bereits ein Teil der Gesellschaftsverfassung, nämlich die Organisation der handelnden Gewalt; bleibt noch auf diejenige der gesetzgebenden Gewalt hinzuweisen. Beim politischen Körper dürfen Regierung und Gesetzgeber ebensowenig miteinander verwechselt werden wie beim Körper des einzelnen der Kopf und die Hände. Könnte derjenige, der über die Ausführung des Gesetzes wacht, auch das Gesetz selber machen, so würde er es nach seinem Eigeninteresse gestalten. Dann blieben die Bürger schutzlos, und die Gesellschaft entartete zur Sklaverei. Ebenso, wenn derjenige, der das Gesetz macht, sich ein vom Gemeininteresse der Bürgerschaft verschiedenes Eigeninteresse bilden kann, obgleich er mit der ausführenden Gewalt nichts gemein hat: auch hier wird die Gesellschaftsordnung zerrüttet, wird es binnen kurzem nur noch
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Despoten und Sklaven geben. Auch die Gesetzgebung m u ß folglich so eingerichtet werden, daß sie niemals Absichten hegen kann, die dem Gemeininteresse der Gesellschafter* widersprechen, und eben diese Organisation bildet den anderen und wichtigsten Teil der politischen Verfassung, nämlich die gesetzgebende Verfassung* [la constitution legislative]. N u r wenigen, die imstande sind, über das Gefüge der Gesellschaft nachzudenken, dürfte es unbekannt sein, d a ß die Gesetzgebung in einer sehr kleinen Gesellschaft von der Aktionärskörperschaft des Gemeinwesens"' selbst ausgeübt werden muß, in einer großen N a t i o n aber von einer Körperschaft von Bevollmächtigten oder für kurze Zeit frei gewählten Stellvertretern, deren Vollmachten nach Belieben der Auftraggeber jederzeit widerrufbar sind. Doch wir werden weiter unten Gelegenheit finden, auf diese Frage zurückzukommen. N a c h unseren Voraussetzungen dürfen wir stets davon ausgehen, daß die Generalstände sich nicht von den Grundsätzen der wahren Gesellschaftsordnung'"' entfernen. Sie vertreten die Nation, und alles, was diese vermag, das vermögen auch sie, um ihren Auftrag zu erfüllen; es ist also die Pflicht der Generalstände, den höchsten Zweck jeder Gesellschaft als Maßstab zu nehmen und die beiden Hauptteile der allgemeinen Verfassung gemäß diesem alleinigen Ziel einzurichten. Täuschen wir uns jedoch nicht darüber, daß nicht alle Bereiche der ausführenden Verfassung"' [constitution active] gleich leicht in den Griff zu bekommen sind! Nicht alle dulden sie den Versuch, ihnen eine nationale Organisation und Wirkung zu geben. Aber wenn die Verfassungsordnung schon nicht in ihrer Gesamtheit eingeführt werden kann, so darf m a n wenigstens nichts versäumen und muß sie je nach der Gelegenheit vorantreiben. Wenn ich nicht irre, so wünschen die Kollegien der richterlichen Gewalt nichts mehr, als zu einer gesetzmäßigen Einrichtung zu werden und aus der H a n d der N a t i o n selbst den wahren Auftrag zu ihrem wichtigen Amte zu erhalten. Das liegt sowohl in ihrem wie in unserem Interesse. Als die N a t i o n ihrer Rechte beraubt war, würde der Despotismus alles an sich gerissen haben, wenn sich nicht irgendwo Widerspruch geregt hätte. Worauf aber konnte er sich gründen? Etwa auf eine Körperschaft, die eigens als Gegengewicht der willkürlichen Macht geschaffen war? Sieht man denn nicht, daß eine bloß zum Widerstand geschaffene Gewalt schon bald beseitigt worden wäre? Denn das schon an sich mangelhafte System des Gleichgewichts der Gewalten [le systeme des contreforces] nähert sich vollends dem Lächerlichen, wenn man nicht jeder Gewalt auch noch eine andere dauerhafte Aufgabe verleiht als die des Gegengewichts, und zwar so, daß ihre völlige Beseitigung unmöglich ist. Genau dies war die Lage der richterlichen Gewalt in Frankreich, und in Erman-
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gelung einer Verfassung sind wir überaus glücklich, d a ß die Parlamente"' gegen den verheerenden Lauf einer unbeschränkten Exekutivgewalt einen letzten D a m m errichtet haben. K ü n f t i g w i r d die N a t i o n selbst alle ihre Rechte ausüben, Rechte, die sie ihren Stellvertretern a n v e r t r a u t u n d die djese ihrerseits niemandem anders a n v e r t r a u e n können. D a s hindert jedoch nicht, d a ß bei ihrer Abwesenheit jeder Bürger, jede Körperschaft u n d jeder Mensch die Pflicht hat, jeden Ü b e r g r i f f zu verhindern, soweit er es vermag. Die Parlamente"' werden gewiß sehr f r o h sein, t a t k r ä f t i g zur S c h a f f u n g einer politischen Lage beigetragen zu haben, in der das Vaterland"" n u r noch ihres gewöhnlichen Eifers bedarf u n d sie wieder ihr Richteramt ausüben k ö n n e n . Sie werden das werden, was sie sein sollen: v o n der N a t i o n gegründete u n d von jeder anderen G e w a l t u n a b h ä n g i g e Kollegien, d e n n es ist ja w o h l klar, d a ß die Richter, die f ü r die Bürger Recht sprechen sollen, allein zum Gesetzgeber in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. M i t voller Aufklärung"' werden die Generalstände im Laufe der Zeit die Rechtsprechung durch Standesgleiche [jugement p a r les Pairs] e i n f ü h r e n , g a n z Frankreich ein neues Zivil- und Strafrecht geben, u n d die hohen Gerichte werden endlich mit der Vollstreckungsgewalt auch Gesetze erhalten, die eines gesitteten Volkes würdiger sind als die alten. Aber obgleich die obersten Gerichtshöfe ihr richterliches A m t jetzt nicht m e h r zu überschreiten brauchen, bleibt es doch Tatsache u n d einer B e m e r k u n g wert, d a ß eben durch jene A m t s a u s ü b u n g zwischen ihnen u n d der nationalen Gesetzgebung ein besonderes Verhältnis fortbesteht; diese Rechtsprechungsgewalt ist politisch gesehen noch immer die G e w a l t wenigstens zum mittelbaren W i d e r s t a n d gegen jeden Ubergriff v o n Beamten der übrigen Bereiche der vollziehenden Gewalt. D e n n ich frage, k o m m t es nicht durchaus einem indirekten Widerstand gleich, wenn m a n d a u e r n d d a r a u f achtet, den ersten Beamten hängen zu lassen, der sich unterstünde, einen willkürlichen Befehl a u s z u f ü h r e n oder einen gesetzwidrigen Steuergroschen zu erheben? N u n ist eine H a n d l u n g bereits gesetzwidrig oder willkürlich und ein strafbares Vergehen, wenn sie einen Bürger ohne gesetzliche Erlaubnis in seinem persönlichen oder sachlichen E i g e n t u m verletzt. Aus dieser Sicht wird deutlich, d a ß es die N a t i o n a l v e r s a m m l u n g außerordentlich viel angeht, mit welchem Eifer Richter mutig ihre Pflicht erfüllen. M a n wird das Richteramt nicht eher v o l l k o m m e n einrichten k ö n n e n , ehe nicht die Beziehungen der Bürger untereinander u n d die Gesetze vereinfacht u n d die P r o z e ß o r d n u n g verbessert w o r d e n sind. Erst d a n n ist es an der Zeit, f ü r die Rechtspflege auch die angemessene F o r m zu w ä h l e n . Einstweilen ist es schon ein guter Schritt vorwärts, wenn die G e n e r a l s t ä n d e feierlich den w a h r e n U r s p r u n g der richterlichen G e w a l t bestätigen u n d das Recht w a h r n e h m e n , selber diese Gewalt allen oberen
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Gerichtshöfen des Königreichs anzuvertrauen. Schließlich wird dann auch der Zweig der öffentlichen Gewalt, der die Beschlüsse und Urteile auszuführen hat, unverzüglich eine gesetzmäßige Verfassung erhalten können. Dieser letzte Punkt ist sehr wichtig. U b e r diesen großen Komplex hinaus, der sich wohl von selbst anbietet, wird man jedoch im System einer vollständigen und wohlgeordneten Regierungsgewalt auch noch andere Zweige vorfinden, die in Frankreich bisher nicht eingeführt sind oder deren verstreute Einzelteile keinerlei Zusammenhang bilden. D a s gilt zunächst für das öffentliche Schulwesen, diesen mächtigen und entscheidenden Hebel für Wohlstand, Freiheit, Vervollkommnung und Glück : : ' [bonheur]. D i e große nationale Bedarfslücke im Bereich des öffentlichen Schulwesens ist zu deutlich, als daß die Generalstände sich nicht beeilen sollten, diese Frage in einer ihrer ersten Sitzungen wirksam zu behandeln. Mein Vorschlag wäre hier, diesen Teil der handelnden Gewalt bewußt aus der Verfassung zu entwickeln. Wenn der wahre Gesetzgeber diesem wichtigsten Zweig der Staatsverwaltung, den das Ministerium kaum eines gleichgültigen Blicks würdigt, Existenz und Verfassung verliehe, so genügte schon ein kurzer Zeitraum, um Menschen heranzubilden und zum Glück der uns unmittelbar folgenden Generationen einen Gesellschaftszustand zu schaffen, der nach so vielen Jahrhunderten heute erst in flüchtigen Umrissen entworfen ist und den sogar der philosophische K o p f bei tiefem Nachdenken erst in unendlicher Ferne erkennt. Unter den übrigen Zweigen der Staatsverwaltung [etablissement actif] gibt es einige, die trotz äußerer Betriebsamkeit ihrer eigentlichen A u f g a b e nicht genügen oder sie verfehlen. Landpolizei, außergerichtliche Zivilrechtspflege, Landesplanung und verschiedene andere Einrichtungen einer wohlfahrtsfördernden Obrigkeit !: " [autorite] müssen überhaupt erst noch geschaffen werden oder haben noch keineswegs den Vollkommenheitsgrad erreicht, den sie bei einem gesitteten Volk haben müßten. D a s Ministerium hat sich nie ernsthaft mit dem eigentlichen Gefüge des Gemeinwesens beschäftigt. Von Steuern, Hofleben und Krieg wurde seine Aufmerksamkeit dauernd völlig in Anspruch genommen. Es ist wahrhaftig an der Zeit, einmal zu untersuchen, in welchem Verhältnis die Staatsangelegenheiten zum Interesse der Bevölkerung stehen. Hier haben die Generalstände die Aufgabe, eine neue Verwaltung einzurichten, damit die ministerielle Amtsgewalt zunehmend von den Belangen der N a t i o n ausgeschlossen wird, die ihr der Beachtung und Anteilnahme so unwürdig schienen. So werden vor unserem Auge auf nationaler Grundlage nach und nach die verschiedenen Teile der Verfassung entstehen, einzig und allein abhängig von der Gewalt, die unsere Freiheit beschränken kann. Diese Gewalt bleibt nicht immer außerhalb der Verfassungsordnung. Vielmehr
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wird auch sie über kurz oder lang vervollkommnet und mit dem erhabenen Zweck der gesellschaftlichen Gemeinschaft [union sociale] verknüpft werden. Ach, wenn doch nur diejenigen, die diese Gewalt als Eigentum zurückerhalten, fähig wären, ihr wahres Interesse zu erkennen - mit welchem Eifer würden sie dann nicht selber eine verfassungsmäßige Existenz verlangen! Doch beschäftigen wir uns mit dem, was uns in diesem Augenblick vor allem wichtig sein muß. Wie wir sagten, ist der zweite Teil der Gesamtverfassung die gesetzgebende Verfassung [constitution legislative]; sie nimmt bei jeder Gesellschaft in der Rangfolge ihrer Bedürfnisse und Rechte den ersten und wichtigsten Platz ein und ist besonders für Frankreich, zumal unter den gegenwärtigen Umständen, die einzige Quelle und die einzige Gewähr seiner Erneuerung. Es ist bewiesen, daß die nationale Gesetzgebung nur durch eine Repräsentativkörperschaft ausgeübt werden kann. Es kommt also nur darauf an, eine gute nationale Repräsentation zu errichten, dann bekommt man auch eine gute gesetzgebende Verfassung. Was zunächst die Grundlage der Repräsentation betrifft, so werden die Generalstände begreifen, daß sie nirgendwo anders als in der Gesamtheit der Gemeinden [paroisses] zu finden ist. Nun höre ich, wie um mich herum eine gefährliche Meinung über die ländlichen Gemeinderatsversammlungen entsteht. Man neigt zu der Ansicht, daß sie zu der Arbeit, die von ihnen verlangt wird, unfähig seien, und wäre anscheinend sehr froh, Gründe für ihre Abschaffung zu finden. Wenn jedoch jene Arbeit ihre Kräfte übersteigt, so ist das die Schuld der Auftraggeber und besonders der fehlerhaften Pläne derer, die diese Gemeinderäte"" [municipalites] geschaffen haben. Man muß sie eben reformieren und vervollkommnen, nicht aber abschaffen; denn wie wollt ihr das Gebäude noch abstützen, wenn ihr seine Grundmauern zerstört? Mögt ihr eure Provinzialversammlungen oder pays d'Etats* und alle ihre Untergliederungen noch so sehr vermehren, mögt ihr sie auch immer mehr einer guten Repräsentation annähern — solange das Ganze nicht auf freien Gemeindewahlen beruht, sondern lediglich eine Kette ministerieller Ernennungen [emanations] bildet, die vom Willen eines Einzelnen abhängen, solange werdet ihr keine Bevollmächtigung der Bevölkerung erhalten. Ich gehe also davon aus, daß die Generalstände allen Gemeinden die einfachste Form für ihre Urversammlung [assemblee fondamentale], wie wir sie nennen wollen, geben werden; sie werden die Bedingungen bestimmen, unter denen man wahlberechtigt und wählbar ist, und darauf achten, daß ein Bürger keinen Anteil an der gesetzgebenden Versammlung haben darf, solange er der ausführenden Gewalt angehört. Zuletzt werden sie dann der für die besondere Verwaltung der inneren Gemeindeangelegenheiten gewählten Gemeindekammer [bureau municipal]
Ü b e r b l i c k ü b e r die A u s f ü h r u n g s m i t t e l d e r R e p r ä s e n t a n t e n
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Umfang und Grenzen ihrer Amtsaufgaben mitteilen. Wie man weiß, sind je nach dem, ob die N a t i o n größer oder kleiner ist, mehr oder weniger Stufen [degres] der Repräsentation nötig. Bei einer Völkerschaft, die aus wenigen Bürgern besteht, können diese selbst die gesetzgebende Versammlung bilden. Hier gibt es keine Stellvertretung, die Bürgerschaft ist selber da. Nehmen wir einen Bund von fünfzig bis hundert Gemeinden an, so kann ihre gemeinschaftliche gesetzgebende Körperschaft eine Repräsentation ersten Grades sein, denn schon die Gemeinden benennen die Abgeordneten, deren Vereinigung die gesetzgebende Versammlung des Landes bildet. Nehmen wir jedoch statt hundert zweitausend Gemeinden, so kann ihre gesetzgebende Körperschaft nur eine Repräsentation zweiten Grades sein; das heißt, die Gemeindeabgeordneten vereinigen sich nicht zur unmittelbaren Entscheidung der Staatsgeschäfte, sondern sind lediglich bevollmächtigt, die gesetzgebenden Stellvertreter zu benennen und ihnen die nötigen Weisungen zu erteilen. So können sich die Gemeindeabgeordneten von jeweils ungefähr vierzig Gemeinden bezirksweise versammeln, so daß fünfzig solcher Bezirke [arrondissements], die insgesamt alle Gemeinden umfassen, die gesetzgebenden Abgeordneten wählen. Wenn wir die Zahl der Gemeinden bis auf vierzigtausend erhöhen, so entfernt sich die gesetzgebende Stellvertretung von den ursprünglichen Auftraggebern nur um eine Stufe. In diesem Fall ist anzunehmen, daß sich die Gemeindeabgeordneten nach Bezirken von je zwanzig Gemeinden versammeln, daß vierzig Bezirke dieser Größe eine Provinz bilden und daß fünfzig die Gesamtheit der Gemeinden umfassende Provinzen die gesetzgebende Versammlung wählen, die somit eine Repräsentation dritten Grades ist. Wir warnen, diese Stufen jemals noch weiter zu vermehren. Denn jede Gesetzgebungskörperschaft bedarf der Belebung durch den demokratischen* Geist [esprit democratique] und darf daher ihren ursprünglichen Auftraggebern nicht zu sehr entrückt werden. Da die Repräsentation für die Repräsentierten da ist, muß man verhüten, daß der Gemeinwille·"" beim Weg über eine große Zahl von Zwischengewalten verlorengeht und sich in einen Privilegiengeist [aristocratisme] verkehrt. Bei unseren Bemerkungen über die Grade der Repräsentation haben wir eben die Gliederung des Staatsgebietes 8 erwähnt. Uber die notwen8 T a u s e n d u n d a b e r t a u s e n d G r u n d e lassen es n o t w e n d i g erscheinen, das Staatsgebiet [ s u p e r f i c i e ] F r a n k r e i c h s einer N e u g l i e d e r u n g zu u n t e r w e r f e n , o h n e auf die G r e n z e n der alten P r o v i n z e n * u n d Bailliagen* R ü c k s i c h t zu n e h m e n . — W e r sollte das v e r h i n d e r n ? E t w a die Privilegien d e r P r o v i n z e n ? D a s w ä r e n u r ein G r u n d m e h r , ihren M i ß b r a u c h v o r aller Ö f f e n t l i c h k e i t zu ä c h t e n . M a n k a n n j e d o c h g e m ä ß i g t e r a n t w o r t e n , wenn m a n e r k e n n t , d a ß die lokalen Privilegien bald keinerlei H i n d e r n i s m e h r sein w e r d e n . Wenn
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dige Abhängigkeit der Abgeordneten von ihren Auftraggebern haben wir bereits ein W o r t gesagt. W a s nun die Dauer der Abordnung betrifft, so entspricht es einer guten Politik, sie auf drei Jahre zu begrenzen und zu bestimmen, daß man das zweite Mal nur nach einem Zeitraum von drei Jahren, danach von je sechs Jahren wieder wählbar ist; dann nämlich wird die Zahl der aufgeklärten Bürger gewachsen sein, denn wie wir die öffentlichen Angelegenheiten verstehen, sollen so viele Menschen wie möglich an ihnen teilnehmen, und man muß vor allem verhindern, daß sich einige wenige Familien sowohl der Abgeordnetenwahl als auch des Einflusses auf die Gesetzgebung bemächtigen. N a c h unserer Regelung wird jeweils ein Drittel der Versammlung erneuert. Die ältesten Dreijahresabgeordneten sind also immer schon zwei, die jüngeren ein Jahr in der Versammlung, während die neuen die Erfahrung ihrer älteren Kollegen nutzen können und diesen ihrerseits dadurch nützen, daß sie sie besser mit dem neuesten Willen der Bevölkerung vertraut machen. Ich würde mein Thema verfehlen, würde ich mir zu all diesen Fragen weitere Darlegungen erlauben. Ich beschränke mich daher auf einfache, aber genaue Hinweise. Erwähnen wir noch die letzten Hauptpunkte, die zum großen Werk der Repräsentativverfassung gehören. Es wird sehr schwer werden, das Verhältnis [proportion] zu bestimmen, nach dem in Größe, Fruchtbarkeit, Bevölkerungszahl, Vermögen sämtliche Provinzen erst einmal höhere Rechte als alle ihre jeweiligen Privilegien wiedererlangt haben, was für ein Interesse sollten sie dann haben, diese sinnlosen Unterschiede beizubehalten? Der angebliche Nutzen bei Beibehaltung der alten Gerichtsbezirke oder der Herrschaftsbereiche der Intendanten* oder endlich der Grenzen derjenigen Provinzen 8 , die der Wirtschaftsverwaltung und dem Schutz der Provinzialstände (Pays d'Etats") unterstehen — das alles stellt für unsere Vorschläge kein ernsthaftes Hindernis dar: denn wir fordern ja gar keine Veränderung; man braucht die alten Grenzen überhaupt nicht zu verrücken. Wir beschäftigen uns lediglich damit, welche neue Verteilung eine erst gerade entstehende Einrichtung natürlicherweise erfordert. Entscheidend ist nur das eine: die Gemüter mit der Wahrheit zu durchdringen, daß es einen völlig neuartigen Vorgang darstellt, wenn Frankreich eine Verfassung erhält. Und was zwingt einen denn dazu, daß ihre territorialen Grundlagen der Abklatsch von Gebietsgliederungen sind, die so verschiedene Ursprünge haben und untereinander so seltsam unausgewogen sind? Es ist ebenso unsinnig, die Stellvertretungsbezirke [bases representatives] nach Verwaltung oder Gerichtsbezirken abzumessen, wie wenn man mit aller Gewalt eine Generalität'' mit einer Diözese oder einen Militärbezirk mit dem Geltungsbereich eines Gewohnheitsrechts zur Deckung bringen wollte. Was liegt schon an diesen Einteilungen! Es ist überflüssig, daß sich die Bevölkerung bei der Bevollmächtigung ihrer Gesetzgebungskörperschaft nach speziellen Verwaltungseigenheiten richtet. Wozu ist es auch nötig, eine neu zu schaffende Einrichtung alten fremden Formen anzupassen, die ihrem Zweck geradewegs widersprechen? Steht man dem Bestreben, die verschiedenen Völker Frankreichs zu einem einzigen Volk und die verschiedenen Provinzen zu einem einzigen Reich zu verschmelzen, etwa gleichgültig gegenüber? Kann man sich außerdem vorstellen, daß zwischen der verstreuten Nation und der versammelten gesetzgebenden Gewalt, die beide von demselben Wunsch beseelt werden, überhaupt berechtigte Gegensätze aufkämen? Und wenn sie sich erhöben, glaubt man vielleicht, daß man sie dann berücksichtigen dürfte?
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und Steueraufkommen verschiedene Gemeinden ihre Abgeordneten zur Bezirksversammlung delegieren sollen, denn dieses Verhältnis muß nach allgemeinen und leicht nachprüfbaren Kriterien festgesetzt werden, Kriterien, die je nach Veränderung der Beziehungen eine Neufestsetzung ermöglichen, ohne immer wieder eine Einzelentscheidung der gesetzgebenden Versammlung einzuholen. D a die nationale Abgeordnetenversammlung im großen Körper des Gemeinwesens dasselbe darstellt, was bei jedem Einzelwesen der besondere Wille ist, ist es zugegebenermaßen eine ziemlich tolle Frage, in welchen mehr oder weniger großen Abständen die Generalstände einberufen werden müssen. Wie leicht wird man doch ein Opfer des Irrtums, wenn man irgendeinen Gegenstand nicht so, wie er ist, sondern mit alten Vorurteilen"' untersucht. Lassen wir einmal die französische Geschwätzigkeit und den angeblichen englischen Tiefsinn beiseite; welchem Kopf mit gesundem Menschenverstand würde es wohl einfallen, es sei eine tiefe Weisheit, den Menschen nur in Zeitabständen den Gebrauch ihres Willens und ihres Verstandes zu gestatten, gerade so als ob ihnen von Zeit zu Zeit der Kopf fehlte? Oder maßt man sich sogar die Behauptung an, daß ein Einzelner trotz dringendster Notwendigkeit auf seine moralischen Fähigkeiten verzichten müsse, bloß weil irgendein anderer, der vielleicht durchaus seine Gründe hat, es nicht erlauben will? Die gesetzgebende Körperschaft muß eben genauso permanent sein wie die regierenden Körperschaften auch. D e r Gesetzgeber ist dazu da, allem, was das Gemeinwesen betrifft, Leben, Bewegung und Richtung zu verleihen. Seine Aufgabe ist es, unablässig für die gemeinschaftlichen Bedürfnisse der Gesellschaft sowie ihre getreuliche, dauernde und vollkommene Befriedigung zu sorgen. E r allein hat zu beurteilen, was die Staatsgeschäfte erfordern und wann er Parlamentsferien [vacances] machen kann. Ihm allein kommt es zu, den jährlichen Wiederbeginn der Sitzungen zu vertagen, die Voraussetzungen eines etwa notwendigen vorzeitigen Beginns der Sitzungsperiode festzulegen und im voraus zu bestimmen, wie die Abgeordneten dann zu benachrichtigen sind. Bei einer so einfachen Regelung wird eure gesetzgebende Versammlung nicht mehr das seltsame Schauspiel eines Körpers bieten, der regelmäßig stirbt, um nur dann aufzuerstehen, wenn es einem fremden Interesse beliebt, ihm das Leben zurückzugeben. Die Unkosten der Generalversammlung sind durchaus kein Hindernis für ihre beständige Dauer [permanence]. Damit diese Kosten sich auf einen geringen Betrag beschränken, genügt die Bestimmung, daß die Abgeordneten weder Gehalt noch Entschädigung erhalten dürfen. Im übrigen braucht man nur jeder Provinz die Kosten ihrer Abgeordneten zu überlassen; die Auftraggeber selbst sollen mit ihren Bevollmächtigten eine Abmachung nach ihrem Belieben treffen. Jedes andere Prinzip als das einer permanenten gesetzgebenden Kör-
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perschaft verursachte Verwirrungen und Gefahren ohne Ende. Würdet ihr euch zum Beispiel mit einem Zwischenausschuß [commission intermediate] von wenigen Mitglieder begnügen, die von den Generalständen selbst gewählt werden, und der nächsten Generalversammlung Rechenschaft geben sollen? Dann frage ich euch, ob es nicht sein könnte, ι . daß die wenigen Ausschußmitglieder bald von der vollziehenden Gewalt gekauft sind und 2. daß euch dieser Ausschuß nicht entfernt die baldige Rückkehr der Generalstände gewährleistet, sondern ganz im Gegenteil dem Minister das allerbeste Mittel liefert, sie für immer loszuwerden. Warum aber, wird man auch sagen, ist denn zu fürchten, daß die Generalstände nicht zu festen Zeiten einberufen werden? Muß man sie denn nicht wieder einberufen, wenn sie den Steuern nur für begrenzte Zeit zugestimmt haben? Ich gebe durchaus zu, daß es nach fünf oder sechs Sitzungsperioden so sein könnte. Wie in England könnte dann die Repräsentativversammlung in Frankreich derartig mit dem gewohnten und notwendigen Lauf der Dinge verwachsen sein und einen solchen Schutz durch Lebensgewohnheiten und öffentliche Meinung genießen, daß das Ministerium ihre Einberufung nicht länger vermeiden könnte, wenn die Steuerregelung abgelaufen ist. Jedoch möge man mir gestatten, daß ich einstweilen noch an der Gewißheit dieser periodischen Rückkehr zweifle. Denn noch immer ist das Vertrauen in die unbeschränkte Obrigkeit"" in Frankreich allgemein verbreiteter Glaube [croyance sociale], und außer in Zeiten eines großen Finanzchaos wird die erste Sitzungsperiode der Generalstände noch nicht ausreichen, um die Vorstellung von der Notwendigkeit einer Nationalversammlung fest zu verankern. Der Minister braucht also nur die Vergeudungen, die unseren jetzigen Tiefstand herbeigeführt haben, künftig zu vermeiden, um alle Befürchtungen los zu sein. Und wenn er — zu eurer großen Genugtuung — die Einrichtung einer Zwischenkommission zugelassen hat, so wird er, wie wir gerade bemerkt haben, eben dies Instrument zur Auferlegung vorläufiger Steuern benutzen. Gewiß wird er es nicht an wohltönenden Eingeständnissen und Erklärungen fehlen lassen, daß die Steuern lediglich vorläufig seien, daß es sich letztlich doch bloß um eine Verlängerung der früheren Steuern handele, daß die dringenden Umstände — und man kann solche künstlich herbeiführen — keine Befragung der Nation erlaubten. Auf die förmlichste Art und Weise wird man ihre frühestmögliche Einberufung versprechen; doch Vorläufigkeit und Erfüllung des Versprechens werden, wenn nötig, gut und gern hundert Jahre dauern. Währenddessen wird man tausend und abertausend Mittel anwenden, um die Richtung der öffentlichen Meinung·'1" zu ändern. Schriftsteller und Journalisten, Kanzel und Theater, Begünstigungen, Vorrechte und exemplarische Strenge — alles wird aufgeboten und auch ausreichen, um eine schon lange gefügig
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gemachte Nation auch weiterhin zu unterjochen. Ober nehmen wir den anderen, sehr wahrscheinlichen Fall an, daß die öffentlichen Gelder nach wie vor als königliche Steuern erhoben, von königlichen Beamten eingezogen und von königlichen Bevollmächtigten dem königlichen Schatz zugeleitet werden: was für Widerstand ist denn eigentlich vom Steuerzahler zu erwarten, der nach Ablauf der von den Generalständen festgesetzten Zeit keinerlei Änderung im gewohnten Lauf der Dinge wahrnimmt und immer nur dieselben Steuereinzieher, dieselben Formen der Staatsverwaltung, dieselben Zwangsmaßnahmen erlebt wie vorher? Er wird eben weiter zahlen, und die Nation wird bleiben oder wieder werden, was sie war. Diese Gedanken führen uns ganz selbstverständlich zu dem Plan zurück, Steuern und Verfassung wechselseitig aneinanderzuketten. Das Steuergesetz mit Verfassungsrang Unter der Voraussetzung, daß alle Teile der Nationalrepräsentation errichtet und arbeitsfähig sind 9 , schlagen wir einen Steuerbeschluß mit folgenden Bedingungen und in der folgenden Form vor: 1. Die Steuer wird nur für ein Jahr festgesetzt. 2. Ihre große anteilmäßige Umlegung auf die Provinzen in jedem Jahr können allein die Generalstände vornehmen. 3. Die weitere Aufteilung zwischen den Bezirken und Distrikten wird von den Provinzialversammlungen vorgenommen. 4. Die dritte Aufteilung unter die Gemeinden wird von den Gemeindevertretern in der Bezirksversammlung vorgenommen. j. Die letzte Aufteilung unter die Besitzungen und die Bürger ist von der Gemeindeversammlung vorzunehmen. 6. Alle Steuern, die nicht auf diese Weise umgelegt werden können, dürfen nur entweder, wenn ihre getrennte Verwaltung unmöglich ist, von den Generalständen selbst, oder aber von den untergeordneten Versammlungen verwaltet oder verpachtet werden, sofern die Generalstände ihnen die örtliche Steuerverwaltung anvertrauen können. 7. Die Erhebung der Staatsgelder, die darauf bezüglichen Bestimmungen und überhaupt alles, was sie betrifft, ist allein Aufgabe der Repräsentativversammlungen. 8. Die in den Gemeinden erhobenen Gelder werden gemäß einem Gesetz über die allgemeine Steueraufteilung jeweils in einen der 9 Wenn wir die Zeit hätten, diese Schrift ganz neu aufzubauen, dürften wir uns vielleicht nicht auf eine Betrachtung der Ausführungsmittel beschränken; wir würden z w a r nicht die hauptsächlichen Beratungsgegenstände im allgemeinen, aber doch wenigstens den Gegenstand behandeln, den wir als den wahren Grundstein für jegliches Gute in einer politischen Gesellschaft betrachten. Wir wagen jedoch die H o f f n u n g , daß ein aufmerksamer Leser diese grundlegende Sache, nämlich die gesetzgebende Verfassungaus den vorausgehenden und folgenden Betrachtungen recht deutlich erkennen wird.
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G e m e i n d e z u r V e r f ü g u n g s t e h e n d e n E i g e n b e t r a g u n d in e i n e n
National-
b e t r a g a u f g e t e i l t , d e r s t u f e n w e i s e in d i e B e z i r k s k a s s e n , d i e P r o v i n z i a l k a s sen u n d s c h l i e ß l i c h in d i e g r o ß e N a t i o n a l k a s s e ü b e r w i e s e n w i r d . 9 . Z u v o r j e d o c h m ü s s e n a l l e in d e n u n t e r e n G l i e d e r u n g e n
erforderli-
chen G e l d a n l a g e n u n d Z a h l u n g e n unter L e i t u n g der dortigen
Versamm-
lung
und
nach
Entscheidung
der
Generalstände
als
oberstem
Anwei-
sungsberechtigten beglichen werden. 10. Alle v o n
den Generalständen
bestimmten allgemeinen
Ausgaben
w e r d e n v o n der N a t i o n a l k a s s e oder auf ihre R e c h n u n g v o n den unteren Kassen
e n t r i c h t e t , u n d z w a r stets n u r a u f A n w e i s u n g
der
Nationalver-
sammlung. 1 1 . D a die S t a a t s g e l d e r nichts a n d e r e s als d i e G e l d e r d e r N a t i o n s i n d , müssen
sie
ihr
Auszahlung Aufsicht und
auch
gehören;
in
allen
b i s zu
Umlaufbereichen
diesem
letzten
bis
zur
Augenblick
L e i t u n g der R e p r ä s e n t a t i v v e r s a m m l u n g e n
schließlichen
d ü r f e n sie auf gar
der
keinen
Fall entzogen werden. 1 2 . S c h l i e ß l i c h unterstehen alle B e a u f t r a g t e n u n d B e a m t e n d e r F i n a n z v e r w a l t u n g ohne Unterschied der W a h l u n d den A n o r d n u n g e n
derselben
Versammlungen, usw. usw.10
10 Natürlich können die Generalstände nicht schon bei der ersten Sitzungsperiode alle Bereiche des Steuerwesens reformieren. Und bei der maßlosen geistigen Gärung, die große Veränderungen verursachen können, wird die Nationalversammlung übrigens klug daran tun, ihre ersten Handlungen auf die allerdringendsten Dinge und solche Gegenstände zu beschränken, an denen alle Schichten [classes] der Bürger gleichermaßen interessiert sind. Dies sind die Grundlegung einer guten Verfassung, die individuelle Freiheit, die Gleichheit der Steuern und der Strafen, die Abschaffung des Systems von Sonderrechten auf Stellen, Ämter, Belohnungen usw., schließlich die Wiedereinsetzung der Nation in die Leitung der Staatsfinanzen. Im übrigen müssen alle Beschwerden und Anträge entgegengenommen werden. Die Generalstände müssen feierlich ihre Absicht bekunden, sich im Verlauf der folgenden Sitzungsperioden mit allem zu befassen, was für die Nation wichtig ist; und um dies mit größtmöglichem Nutzen zu tun, sollen sie alle Fragen, deren Entscheidung aufschiebbar ist, an die nächsten Repräsentativversammlungen weiterleiten und deren Ermittlungsergebnisse, Stellungnahmen und schließlich die ortsbezogenen Kenntnisse einholen. Dies Verfahren besitzt fünf Hauptvorteile: 1. Es befreit die Nationalversammlung von der Gefahr, sich über nichts einig zu werden, Frankreich in einen gesetzmäßigen Despotismus zu stürzen (sofern diese beiden Worte sich vertragen) und zum Spielball und zum Gespött ganz Europas zu machen. 2. Es setzt alle grundlegenden Teile der Verfassung sogleich in Betrieb. 3. Es beruhigt und befriedigt die Bevölkerung viel mehr als die allerschönsten Beschlüsse; denn in den Provinzen wird man entzückt darüber sein, die Fragen, an denen einem so viel gelegen war, erneut vorgelegt zu bekommen und seine Vorschläge machen zu können: es ist zu hoffen, daß die so durch den Wunsch und die Kenntnisse der Bevölkerung vorbereiteten Entscheidungen sehr viel besser sein werden, was auch völlig richtig ist. 4. Bei den neuen vorbereitenden Verhandlungen würde begreiflicherweise eine Menge unüberlegter oder unbilliger Forderungen und Beschwerden nicht wieder in die Beschwerdehefte'' aufgenommen. 5. Dies Verfahren wird der Bevölkerung eine weitere Gelegenheit bieten, sich immer mehr aufzuklären; die öffentliche Meinung wird zunehmend erstarken und auf die Generalstände einen mächtigeren und erfolgreicheren Druck ausüben; ja, sie wird
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Worauf es uns in diesem Entwurf am meisten ankommt, ist nicht der vorteilhafte Verzicht auf Financiers*. Unsere Beweggründe sind viel wichtiger. Geht es doch darum, ob man Frankreich eine freiheitliche Verfassung verbürgt oder nicht. Bloße Urkunden und Zugeständnisse garantieren der Bevölkerung noch nicht den sicheren Genuß ihrer Rechte. Sicherheit ist nur da, wo tatsächliche Stärke [force] ist. Hat man die Macht [pouvoir], braucht man keine Urkunden, mit den ausführlichsten und authentischsten Urkunden aber besitzt man nichts, wenn man nicht die Macht hat. So wie der Despotismus nicht eigentlich im schlechten Regieren, sondern in der Macht zum schlechten Regieren besteht, ebenso gehört einem Volke die öffentliche Freiheit nicht eigentlich deswegen, weil es nach dem Versprechen eines anderen im Genuß all seiner Rechte ist, sondern weil es die Macht haben muß, ihren Verlust zu verhindern. Ich begreife die Nationen einfach nicht, die sich nach so viel bitteren Erfahrungen immer noch leichtgläubig auf das Versprechen ihrer Regierenden verlassen, stolz darauf sind, ein unterzeichnetes Zugeständnis oder einen lächerlichen Eid zu erhalten, und ihren Herren seelenruhig die Macht überlassen, den Eid zu brechen, sobald es ihnen gefällt. Die Bevölkerung braucht nichts anderes als den Genuß ihrer Rechte. Davon, daß sie sich die Befugnisse ihrer Bevollmächtigten anmaßen wollte, kann gar keine Rede sein, denn diese Befugnisse sind ja selbst ein Teil ihrer Rechte, und die Bevölkerung überträgt sie nur, um sie zu genießen. Die Bevollmächtigten dagegen können sehr wohl ein Sonderinteresse entwickeln und neigen dann immer dazu, die Rechte der Bürger zu usurpieren. Es ist also völlig unpolitisch, den Bevollmächtigten die Macht zu geben, anstatt sie dauernd der Nation vorzubehalten. Bei den neuzeitlichen Völkern gibt es nur zwei beständige Mächte — sie schon in einer zweiten oder dritten Sitzungsperiode dazu bringen, wozu sie von sich aus erst nach jahrelangem Warten fähig gewesen wäre. Das alles wird also keine verlorene Zeit sein usw. Doch kommen wir auf die erste Aussage dieser Anmerkung zurück, daß eine völlige Steuerneuordnung noch verfrüht ist. Folgt daraus, daß man auf das Steuergesetz von Verfassungsrang verzichten muß? Sicher nicht! Denn was die direkten Steuern betrifft, ist unser Vorschlag bis in alle Einzelheiten unmittelbar praktikabel. Was aber die übrigen Steuern und Gebühren anlangt, so geht hin und zerschneidet die Bindungen ihrer verschiedenen Verwaltungen — der Menschen wie der Sachen — an die Häupter der vollziehenden Gewalt und verknüpft sie einstweilen, wie wir es gesagt haben, mit dem Stufenbau der Repräsentation, bis man auch ihre innere Organisation gemäß den gewandelten und von der Zeit gebilligten Ansichten reformieren kann. In der Tat hat die vollziehende Gewalt mit den Angelegenheiten der Staatsfinanzen eigentlich überhaupt nichts zu tun. Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben braucht sie nichts anderes als die genaue Angabe über die Höhe ihrer Gehälter sowie den Ersatz ihrer Auslagen. Ist es denn nicht klar, daß ihre Zahlungen an Sicherheit gewinnen und daß sie überhaupt ihre Aufgaben besser erfüllen kann, wenn sie von allen Sorgen um die Steuereinziehung entlastet ist und ihren Haushaltsbetrag auf Anweisung der gesetzgebenden Gewalt ungeschmälert und unverzüglich von der Nationalkasse ausgezahlt bekommt?
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das Geld und das Heer. Wie man gerade gesehen hat, muß die erstere dieser Mächte so eng mit der Nation verschmolzen werden, ja sozusagen in ihr aufgehen, daß sie gar nicht anders kann als immer nur dem Gemeininteresse dienen. Das Steuergesetz von Verfassungsrang — daran ist kaum zu zweifeln — gibt der Repräsentation Festigkeit und Dauer, wenn die Repräsentation planmäßig so eingerichtet wird, daß keine Körperschaft, keine Gewalt sie auch nur im mindesten angreifen kann, ohne daß das Ganze augenblicklich über ihr zusammenstürzte. Desgleichen kann man auch die Militärgewalt so einrichten, daß sie der Bürgerschaft nie gefährlich zu werden vermag — eine aus der Natur der Dinge selbstverständliche Maßnahme, ohne die man den Zweck der politischen Vereinigung aufgeben müßte, weil die Gesellschaftsordnung dann nur noch ein Luftschloß wäre. Doch bleiben wir bei unserem Thema. Wir haben hinreichend bewiesen, daß die bevorstehenden Generalstände uns eine Nationalvertretung geben können, die alle Kennzeichen einer echten Bevollmächtigung durch die Bevölkerung besitzt, sowie eine gesetzgebende Versammlung, die immer dem Gemeinwillen Ausdruck verleiht, und daß es nur bei ihnen liegt, diesem großen Werk eine Festigkeit zu geben, die alle Wechselfälle überdauert. Man wird sehen, wie auf dieser unerschütterlichen Grundlage nach und nach das Gebäude einer menschlichen Gesellschaft emporwächst, die endlich einmal auf den Nutzen und das Glück* ihrer Mitglieder hin angelegt ist. Damit haben wir die zu Beginn dieses Werkes oder besser dieser Abhandlung gestellte Aufgabe abgeschlossen. Wie so viele andere wegen ihres Freiheitsstrebens achtbare Bürger haben wir über die Generalstände, den Zwang der Verhältnisse und die anerkannte Notwendigkeit nachgedacht, der Nation eine sichere Gewähr zu verschaffen, daß die Unordnung, deren Opfer sie heute ist, nicht wiederkehrt. Mit jedermann haben wir die Ansicht geäußert, daß die Nationalversammlung viel Gutes bewirken kann, jedoch mit den Wenigen gemeint, daß es gegen die Hälfte oder ein Viertel der öffentlichen Unordnung keine dauerhafte Sicherheit gibt, weil das unreformierbare Übel ein Gegengewicht gegen das Gute bildet, das man tun will; wir haben unsere Meinung dargelegt, daß es weder gute Gesetze noch gute Institutionen gäbe, sofern sie vom Wohlwollen einer unbeschränkten, von der Nation verschiedenen Gewalt abhängig blieben. Indem wir uns dann den Möglichkeiten zuwandten, einiges Gute zu schaffen, haben wir uns gefragt, ob aus den zerstreuten Plänen, aus denen man nichts Ganzes zusammenfügen kann, ein wirklicher Nutzen zu ziehen sei. Man hegt die unserer Meinung nach unbegründete Vorstellung, wir näherten uns auf die Dauer der guten Gesellschaftsordnung [l'etablissement du bon ordre], wenn wir heute ein bißchen, morgen ein bißchen und bei der nächsten günstigen Gelegenheit wieder ein bißchen Gutes erlangten. Man erreicht jedoch nichts, wenn man von einem
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System bloß einen Teil berücksichtigt. Baut ihr es auf der einen Seite auf, zerstört man es auf der andern; kommt ihr heute ein oder zwei Schritte vorwärts zu einem guten Ziel, müßt ihr morgen in anderer Richtung von neuem beginnen. Auf diese Weise häufen sich die Gesetze, Verordnungen usw. Am Ende hat man eine tausendmal größere Strecke zurückgelegt, als zur Erreichung des Zieles notwendig gewesen wäre, und zahlreiche Anstrengungen waren umsonst, weil von wechselnden Ministerien unmöglich folgerichtige Pläne und Ansichten zu erwarten sind. Man muß also die Gesetzgebungsvorhaben auf einmal in Angriff nehmen. Man kann zwar kaum alles auf einmal reformieren und wiederherstellen, muß aber im Gesamtsystem der guten Gesellschaftsordnung"' das Kernstück herausfinden und mit ihm beginnen. Auf dem Weg zum Guten sind im voraus gleichsam Ruhepunkte zu erkennen; man darf hier nun nicht jeweils nur einige ängstliche Schritte vorwärts tun und ihnen bald darauf andere völlig entgegengesetzte folgen lassen, sondern muß jedesmal die ganze Etappe von einem Punkt zum nächsten zurücklegen, damit einem die mißliche Notwendigkeit erspart bleibt, wegen erst halbfertiger Vorhaben oder Fehlens eines abgestimmten Gesamtplans Rückschritte machen zu müssen. Ausgehend von diesen Vorstellungen haben wir dann untersucht, wie die bevorstehenden Generalstände vorgehen sollten, um der Nation gründlichen und dauerhaften Nutzen zu bringen: zuerst sollen sie das in Angriff nehmen, was die Bevölkerung am meisten bedrängt und beschäftigt. Und da eine Verfassung gleichsam der Feldruf ist, zu dem sich die sechsundzwanzig Millionen des Königreichs vereinigen, ist eine Verfassung nötig. Ebenso drängt sich die Notwendigkeit auf zu verhindern, daß nie wieder eine Unordnung einreißt, wie man sie bei den Finanzen erlebt hat; man muß sich daher auf den einfachen, natürlichen und wirksamen Grundsatz stellen, daß die Staatskasse in den Händen dessen sein muß, der das Geld einzahlt, und nicht dessen, der es ausgibt. Wir sind davon ausgegangen, daß die Generalstände in dieser Hinsicht gewiß so handeln würden, wie es das Nationalinteresse und der Gemeinwille der Auftraggeber befehlen. Dann haben wir uns besonders damit beschäftigt, die Ausführungsmittel zu ermitteln. Und im Maße wie vor unserem inneren Auge die Möglichkeit Gestalt gewann, Frankreich allein mit Mitteln, über die die kommenden Generalstände frei verfügen können, dauerhaft zu erneuern, haben wir unser Herz einer großen Hoffnung geöffnet und schon die Freude gekostet, die Wiedergeburt unseres Vaterlandes zur Freiheit zu erleben.
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Weitere Ausführungen über den Staatsbankrott, zu Seite 51 Erste Frage Ist die Nation Schuldnerf Wir wollen hier vor allem denjenigen antworten, die die eben vorgebrachten Grundsätze über die Steuern und Anleihen zu dem Schluß benutzen, daß die Nation ihren Gläubigern nicht habe verpflichtet werden können, weil man - sagen sie — zu keiner der vom König ausgegebenen Anleihen ihre Einwilligung verlangt habe. N u n steht gewiß fest, daß weder Steuern und Anleihen noch bürgerliche und politische Gesetze und überhaupt nichts, was in den Bereich der gesetzgebenden Gewalt gehört, von einem Teil der vollziehenden Gewalt ausgehen darf. Man möge mir jedoch sagen, wie die Nation in Abwesenheit der Generalstände die von den Staatsbedürfnissen geforderten Steuern denn sonst hätte erheben und alle Art von Gesetzen machen sollen, welche die Verhältnisse verlangten! Und welchen anderen Stellvertreter für die Ausübung ihrer gesetzgebenden Gewalt hat die Nation eigentlich gehabt als nur den König selbst, der bloß dem Registrierungsverfahren* unterworfen war? Wir wissen, daß dies keineswegs eine echte Repräsentation ist, weil dieser Begriff notwendig das Merkmal der freien Wahl durch die Repräsentierten enthält; doch wer hat sich denn schon, von der letzten Zeit abgesehen, auf die ewige Wahrheit dieser Grundsätze berufen? Haben etwa die Generalstände selbst, sowohl die von 1 6 1 4 wie alle vorhergehenden, bewiesen, daß sie ihre Rechte kannten? Haben sie sie vielleicht der Bevölkerung verkündet und ihre freie Ausübung erkämpft? Mitnichten: bis auf den heutigen T a g scheint der König der einzige Stellvertreter der Nation zu sein; er hat alles getan, was eigentlich durch eine Körperschaft wahrer Stellvertreter hätte geschehen müssen; fast alle Gesetze, die Eigentumserwerb, Vererbung und überhaupt alle Verhältnisse von Sachen und Personen regeln, gehen auf Könige zurück, die gewiß nicht immer die Einwilligung der Nation eingeholt haben; wenn ihr daher die Gegenwart rückgängig machen und die im Namen des Staates übernommenen Verpflichtungen unbedingt brechen wollt, wenn ihr allen zwischen Privatpersonen abgeschlossenen Verträgen die gesetzliche Grundlage nehmen und alles, was nicht vom wahren Gesetzgeber stammt, reformieren, j a vernichten wollt — dann müßt ihr euch zum völligen Umsturz [ ä tout bouleverser] entschließen und für Frankreich das Chaos heraufbeschwören, das der Erschaffung der Welt vorausgegangen ist. Jeder der sechsundzwanzig Millionen Einwohner des Königreichs wird dann eine vereinzelte Person sein, die um das Recht auf ihr Eigentum bangt und fast auf das Naturrecht zurückgeworfen ist. U n d da auch alle Steuern bisher ohne Rechts-
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titel gezahlt worden sind, werden alle Steuerzahler das Recht haben, alles, was man ihnen nur mit Gewalt entreißen konnte, zurückzufordern oder wieder an sich zu bringen. Doch ihr wollt alle diese Folgen nicht in Kauf nehmen. Daher muß man zwischen der Vergangenheit und der Zukunft einen Trennungsstrich ziehen. Man muß alles bestätigen, was der scheinbar einzige Stellvertreter der Nation bis jetzt angeordnet hat, unter dem Vorbehalt, künftig anders zu verfahren. Denn worauf es uns ankommt, das ist die Grundlegung der wahren Prinzipien für die Zukunft. Für die Vergangenheit gilt der Satz: communis error facit ius. Heute aber ist der Irrtum beseitigt. Man wird also erklären, daß die Nation von diesem Wendepunkt an ihre Gesetzgebung selbst ausübt und daß nur noch solche Verpflichtungen in ihrem Namen gelten, die sie selbst eingegangen ist. 11 Hätte es zu der Zeit, als die Nation in Bedrängnis war und man von den Geldverleihern finanzielle Hilfe verlangte, zwei verschiedene Arten von Anleihen gegeben, hätten auf der einen Seite die Nation und auf der anderen der König um die Wette die nationale Glaubwürdigkeit feilgeboten, so hätte man sicherlich keinen Augenblick zwischen diesen beiden Darlehensnehmern gezögert. In Abwesenheit der wahren Stellvertreter jedoch gab es nur den König, man sah nur ihn und seinen vergoldeten Titel. Wenn seine Aufforderung zur Zeichnung von Anleihen eine Falle war, welches Gesetz hätte die Bürger denn davor schützen und sichern können? Die Beamtenschaft der Gerichtshöfe, die es gewohnt ist, im Namen der Bevölkerung und der Gesetze zu reden, hätte die Anleihenzeichner vor der Gefahr, in die sie sich unter dem Anschein der Gesetzmäßigkeit stürzten, warnen müssen, um sich nicht des strafbaren Einverständnisses schuldig zu machen. Da man das aber nicht unterstellen darf, stellen wir zusammenfassend fest, daß man für die Zukunft eine bessere Ordnung planen kann, ohne Rücksicht auf die abwegige Vorstellung, man müsse zum Entstehungsstadium der Monarchie zurückkehren, um alles abzuschaffen, alles umzustürzen und uns in den fiktiven Zustand der Gesetzlosigkeit zurückzuversetzen; man darf eben private und öffentliche Verträge nicht trennen; für beide gilt dieselbe Garantie. Wer zum Beispiel bei einer Versteigerung im Chätelet :; " ein Stück Land erwirbt, hat nicht mehr Recht auf die Erhaltung seines Besitzes als derjenige, der unter dem Rechtsschutz eines beim Parlament registrierten Erlasses einen Schuldschein kauft.
11 Man erkennt heute an, daß die Versammlungen der Pays-d'Etats* keineswegs repräsentativ waren, und fordert mit Recht, sie auf einer neuen Grundlage zu errichten. Folgt daraus, daß die Anleihen dieser Provinzen für ungültig erklärt werden müssen, weil jene, die sie ausgegeben haben, keine wahre Vertretungskörperschaft bildeten?
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Ü b e r b l i c k ü b e r die A u s f ü h r u n g s m i t t e l der Repräsentanten
Zweite Frage Kann man die Staatsschuld als wucherisch betrachten? D a die G e s e t z m ä ß i g k e i t der Staatsschuld ihrem Ursprung nach nicht zu leugnen ist, sucht man sie wenigstens aufgrund der Machenschaften, die o f t mit ihr einhergegangen sind, als wucherisch hinzustellen. U n d nun sei es ja immer erlaubt, fügt man hinzu, eine wucherische Verpflichtung r ü c k g ä n g i g zu machen. Ich w e i ß nicht, w o r a u f man mit diesem Gerede hinaus will. Soll der G l ä u b i g e r etwa sein Kapital zurückerhalten? Aber, wendet man ein, das geliehene K a p i t a l sei nicht das, was es scheine; seien die Staatspapiere denn nicht zuletzt um 30 Prozent gefallen, und hätten ihre Käufer nicht einen wucherischen Gewinn gemacht? N e i n , die Staatspapiere sind anderen Gütern gleichgestellt, die Einnahmen bringen und je nach den U m s t ä n d e n teurer oder billiger v e r k a u f t werden. Wer sie über dem N e n n w e r t [ p a i r ] erwirbt, kann von der Regierung keinen Schadensersatz verlangen, ebenso wie er der Regierung nichts schuldet, wenn er sie unter dem N e n n w e r t kauft. Sollte der G e w i n n des Käufers ungeheuer sein und er billigerweise früher oder später einen Zusatzbetrag zahlen müssen, würde das Ministerium kein Anrecht darauf haben, weil es ja nichts verloren hat. Schadensersatz müßte vielmehr der unglückliche V e r k ä u f e r erhalten. D e n n der Verlust, den er durch den V e r k a u f seiner Wertpapiere dreißig Prozent unter dem N e n n w e r t erlitten hat, ist vom Minister verursacht worden. U n d es wäre widersinnig, wollte man diesem für die U n o r d n u n g , die er in die Finanzen gebracht hat, auch noch einen Rechtsanspruch zuerkennen und selber eine Vergütung zusprechen, die doch vielmehr er den beklagenswerten O p f e r n seiner Machenschaften schuldig wäre. G u t , wird man sagen, lassen wir eben die Beziehungen von Privatleuten, die an der Börse handeln, beiseite. A b e r hat es denn nicht zwischen dem K ö n i g und denen, die diese oder jene Anleihe gezeichnet haben, wucherisch zugehen können? Nein, in keinem einzigen Fall. D e n n jede rechtmäßige Anleihe ist durch ein beim Parlament* registriertes Gesetz erfolgt, das den Z i n s f u ß festsetzte. U n d wenn das Gesetz selbst den Z i n s f u ß bestimmt, kann dieser schwerlich wucherisch sein. Wenn es Uberschreitungen der gesetzlichen Anleihenhöhe gegeben hat, so ist das ein A m t s m i ß b r a u c h , wie er nicht strafbarer sein kann; der Darlehensgeber [les souscripteurs] aber hat nie zwischen der gesetzlichen Anleihe selbst und ihrer Überschreitung unterscheiden können. N i c h t in das öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen Darlehensnehmer und Gläubiger hat sich jener Mißbrauch, den ihr als Wucher betrachtet, eingeschlichen, sondern in die faulen Anstalten des Ministers, der den F i n a n z m a k l e r n [courtiers] zur Stützung seiner Anleihe ansehnliche Schmiergelder zugeschoben hat. Verwechseln w i r also nicht den Z i n s f u ß
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mit dem überhöhten Kurs oder besser der Provision, die man den Financiers"" gewährt hat, um die Anleihe zu einem Erfolg zu machen. Diese kostspieligen und eigenartigen Praktiken sind den Veruntreuungen und törichten Verschwendungen zuzurechnen; der Minister macht dann im eigentlichen Sinn schlechte Geschäfte. Wollt ihr nun der königlichen Kasse zurückverschaffen, was alle diese Vergeudungen den Staat gekostet haben? Ich möchte es wohl. Aber an wen sollt ihr euch wenden? D o c h wohl an alle diejenigen, die die Staatskasse auf hunderterlei Weise zerrüttet haben, doch wohl an die Makler der Anleihen, die von den letzten und eigentlichen Darlehensgebern, welche bloß eine Rente kaufen wollten, durchaus zu unterscheiden sind. Worin findet ihr aber die letzteren strafbar? U n d wenn einige von ihnen strafbar wären, mit welchem Mittel wolltet ihr es schaffen, sie in der unermeßlichen Menge der unschuldigen Rentenbesitzer"" [rentiers] zu erkennen? Gewiß, ihr seid empört über die Räuberei der Börsenspekulanten [agioteurs], und wir nicht weniger. Bedenkt aber, d a ß das nur die Mittelsmänner zwischen dem König und den Rentenbesitzern sind. D i e Börsenspekulanten kaufen, um zu verkaufen, und verkaufen, um zu kaufen, sie sind gar nicht die Verbraucher dieser Art von Waren, das heißt, sie erwerben sie nicht, um sie zu behalten und zu nutzen. Sie spekulieren auf den je nach der schlechten oder guten Finanzlage wechselnden Börsenkurs. Sie ziehen Gewinn aus der Notlage derer, die verkaufen müssen; hierzu haben wir gerade festgestellt, daß der Gewinn in diesem Fall keine Schädigung der Regierung, sondern ein Unrecht der Regierung gegenüber den Eigentümern königlicher Anleihen ist, die diese zur Bestreitung ihrer laufenden Ausgaben zu G e l d machen müssen. Mit der gegenwärtigen Frage haben die unmoralischen Praktiken der Börsenspekulanten nichts zu tun. U m die Börsenspekulation abzustellen oder vielmehr in den Grenzen des allgemeinen Handels zu halten, braucht man keineswegs der N a t i o n Schande zu machen und jene Gläubiger zu ruinieren, die gar nicht spekulieren; man m u ß nur die Finanzen in Ordnung halten und dauernd den Blick der Öffentlichkeit offenhalten. Dritte Frage
Wer muß die Schuldenlast
tragen?
Man wird sich wohl nicht wundern, d a ß ein blinder und in unbilligen Reden immer erfinderischer Egoismus behauptet hat, es handele sich hier im Grunde doch nur um einen Streit zwischen Eigentümern und Kapitalisten"' [capitalistes]; und, fügt man hinzu, angesichts der unangenehmen W a h l , entweder die einen oder die anderen zu treffen, sei nicht der B a n k r o t t einiger weniger einer Steuerüberlastung des gemeinen Bürgers vorzuziehen? D a r a u f ist zu erwidern:
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1. Daß die Rentenbesitzer" heute viel zahlreicher sind als vor zwanzig Jahren. 2. Daß sich eine ungeheure Menge von Bürgern der arbeitenden Schichten* [classes] daran gewöhnt hat, ihren Unterhalt, den Lohn für ihre Arbeit aus der Hand der Kapitalisten zu erhalten und daß man diese Beziehungen schwerlich ohne die schrecklichen Folgen plötzlich zerreißen kann. 3. Daß eine unberechenbare Kettenreaktion von Einzelbankrotten Schrecken und Elend selbst über solche Familien bringen würde, die sich vor dem gemeinschaftlichen Unglück und seinen Folgen sicher wähnen. 4. Daß der Kapitalschwund bei den Rentenbesitzern einer Menge von Handelsvorhaben die finanziellen Quellen entzöge und die meisten Manufakturen und anderen Herstellungsbetriebe, die den Handel beleben, zur Unfruchtbarkeit verdammte. 5. D a ß schon eine seltsame Gedankenverwirrung dazu gehört, die Staatsschuld kühn in einen Streit zwischen Eigentümern und Kapitalisten zu verdrehen, als ob ein Schuldner, um eine solche Last loszuwerden, nur seinen Gläubiger als Feind zu behandeln brauchte, usw. usw. Ihr sagt nun, es sei besser, hunderttausend Menschen zugrundezurichten als sechsundzwanzig Millionen. Wie dieses Verhältnis auch wirklich sein mag, so erwidere ich doch zunächst, daß ein Gewicht, das hunderttausend Menschen erdrücken könnte, leichter von sechsundzwanzig Millionen getragen würde. Vor allem aber erwidere ich, daß es in der Natur der Sache liegt, die Schuld dem Schuldner und nicht dem Gläubiger anzulasten. H a t doch der Verleiher sein Geld weggegeben und eure Bedürfnisse befriedigt, indem er es euch gegen Zins verkaufte; ihr, die Entleiher, seid eurem Ruin entgangen und habt euch beim Kauf des Kapitals zur Zahlung einer jährlichen Rente verpflichtet. Habt ihr dabei etwa gedacht, ihr brauchtet diese Last, um sie loszuwerden, eines schönen Tages nur zwischen eurem Gläubiger und euch aufzuteilen? Man redet vom Ruin der Staatsgläubiger, als ob gerade sie der Nation für die angeblich drohenden neuen Steuern herhalten müßten. Sollte man nicht besser gegen die unerhörten Veruntreuungen und Mißstände aller Art vorgehen, die die Ausgaben aufgebläht haben und sicher nicht das Werk derer sind, welche ihr Geld in die königliche Kasse eingezahlt, sondern durchaus derer, die sie geplündert haben? Um es zu wiederholen: wenn die Staatsschuld jemanden belasten soll, so eher den Schuldner als seinen Gläubiger. Wenn ich so bewiesen habe, daß der Bankrott selbst dem Schuldner zum Verderben würde, was ist daraus zu schließen? Es ist wirklich ein seltsames Schauspiel, das sehr nachdenklich stimmt, wenn wir bei der betrüblichen Lage des Gemeinwesens"" erleben, wie einerseits die Staatsgläubiger um Vermögen und Existenz bangen, und andererseits die Masse der Steuerpflichtigen eine erdrückende Uberlast fürchtet — wie beide Seiten wie Verbrecher zittern, denen die Todesstrafe
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droht — wie schließlich das Ministerium, obwohl einziger Schuldiger der ganzen Unordnung, die Auseinandersetzungen als ruhiger Zuschauer verfolgt und ohne den geringsten Zweifel kalt abwartet, bis man ihm entweder neue Steuern bewilligt oder dem Staatsbankrott zustimmt! Kann man sich etwas Empörenderes vorstellen? Vierte Frage Ist die Alternative zwischen neuen Steuern oder Bankrott richtig? Man behauptet, es sei eine Notwendigkeit, sich für eine dieser beiden Möglichkeiten zu entscheiden, verwechselt dabei jedoch das gebietende Gesetz der Notwendigkeit mit einem Mangel an Mut, einem Verlust jeglicher Tatkraft, was die Abschaffung tausend kostspieliger Gewohnheiten verhindert, einem Mangel an Verstand und Moral, der für die einfachsten Regeln der natürlichen Vernunft blind macht. Wie anders kann man sich erlauben zu sagen, daß ein Volk, das schon sechshundert Millionen zahlt, noch mehr zahlen solle? U n d sollte die Hälfte dieser Summe, so gewaltig sie auch ist, gänzlich f ü r die Schulden und einen neuen Plan zu ihrer Tilgung vorgesehen sein, tfürde man selbst mit drei Millionen verfügbarer Steuern nicht davor zurückschrecken, zusätzliche Unterstützung zu verlangen? Kennt man vielleicht Staaten mit einem ebenso beträchtlichen Steueraufkommen? Oder vernachlässigt man anderswo den Unterhalt sämtlicher Zweige der öffentlichen Gewalt? Der Kaiser gebietet über viel ausgedehntere Länder, die aus Mangel an Gemeinsamkeit schwerer zu regieren sind; sein Militär ist dem eurigen unendlich überlegen, und doch verfügt er mit Einschluß der Schulden über kein Steuervermögen, das eurem frei verfügbaren Reichtum gleichkommt. Unwissende oder kleinmütige Berater der französischen Regierung, tretet zurück von Ämtern, denen ihr nicht gewachsen seid! So, ihr sagt, ihr könntet nicht alle eure Ausgaben bestreiten? Was scheren uns eure Ausgaben, wenn sie den notwendigen Bedarf des Staates übersteigen, verfehlen oder sogar schädigen? Es ist nur zu wahr, sie sind überhaupt endlos. Welche Kasse könnte denn auch ausreichen für so viele Veruntreuungen, so viel nachlässige Vergeudung, eine solche Menge lächerlicher Ämter ohne Amtsaufgaben [fonctions], ich wiederhole: ohne Amtsaufgaben! Euch war es vorbehalten, derartige Ämter zu schaffen. Welche Kasse vermag auch schon das vornehme Bettlertum zu befriedigen, das den Thron belagert und sich zugleich rühmt, ihn zu ehren? Und da redet ihr von der Erhebung neuer Steuern! Nein, diese haben ihren höchsten Stand erreicht. Die N a t i o n kann und darf nicht noch größere O p f e r bringen. Wenn man N a t u r und Gesetze einer weisen Haushaltsführung beachtet, lassen sich die Bedürfnisse eines Reiches wie die eines Einzelnen auf
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eine nur geringe Summe beschränken. U n d unsere Stellvertreter werden die nützlichen Lehren dieser Gesetze beachten. Sie werden lernen, daß es bei der Wiederherstellung der O r d n u n g in den Finanzen nicht darum geht, die Bevölkerung mit Steuern zu erdrücken, sondern uns von den Mißständen zu befreien; und ist die Wahl angesichts einer solchen Alternative vielleicht schwer? Sie werden den ganzen Wert dieser Wahrheit ermessen und einen tiefen Eindruck erhalten, ein wie großes Interesse die Bevölkerung daran hat, daß die Generalstände die öffentlichen Ausgaben allein nach den tatsächlichen Bedürfnissen richten und in allen Verwendungsbereichen genau festsetzen. Der H o f kann so künftig für den Unterhalt der Werkzeuge seiner Vergnügungen, seiner Macht und unserer Knechtschaft weder auf einen Uberschuß zurückgreifen, der nicht in seiner Gewalt ist, noch sich notwendiger Gelder bedienen, die ihrem Bestimmungszweck nicht mehr zu entfremden sind. M a n redet ständig davon, die öffentlichen Einnahmen auf Forderung des Ministers hin zu erhöhen, sieht aber nicht, daß seine Schwierigkeiten uns die Tür zu einer Verfassung geöffnet haben und daß gerade die Schranken, die man ihm setzen muß, die Bedingung unserer Freiheit sind. Wenn aber das Steueraufkommen der Bevölkerung einen Uberschuß ergäbe, wäre es zweifellos immer noch besser, ihn ohne weiteren Grund über die nutzlosesten Bürger auszustreuen, als ihn einem zügellosen Minister zur Verfügung zu überlassen. U n d gesetzt den Fall, daß sich ihm ein fremder Schatz zur Befriedigung seiner Launen darböte, selbst dann wäre es noch die Pflicht der Generalstände, dies zu verhindern, weil jeder Mißstand so oder so seine O p f e r kostet und jede Unordnung schließlich der N a t i o n schadet.
Versuch über die Privilegien ZWEITE AUFLAGE
1789
[Originaltitel: ESSAI SUR LES PRIVILEGES. NOUVELLE EDITION. 1789. 54 S. - Die Schrift erschien anonym ohne Orts- und Verlegerangabe. — Anm. d. Ubers.]
Versuch über die Privilegien 1
Man hat einmal gesagt, ein Privileg sei für den, der es erhalte, Entpflichtung [dispense], für die anderen aber Entmutigung. Wenn dem so ist, werdet ihr euch darüber einig sein, was für eine erbärmliche Erfindung Privilegien sind. Stellen wir uns doch nur eine Gesellschaft vor, die die beste Verfassung und alles nur mögliche Glück"" besitzt; ist es denn nicht offensichtlich, daß man zu ihrem .Umsturz lediglich die einen zu entpflichten und die anderen zu entmutigen braucht? Gern hätte ich die Privilegien nach ihrem Ursprung, ihrem Wesen und ihren Auswirkungen untersucht. Doch diese Gliederung, so methodisch sie ist, hätte mich gezwungen, allzuoft dieselben Grundgedanken zu wiederholen. Was den Ursprung betrifft, hätte sie mich übrigens in eine mühselige und endlose Tatsachenerörterung verwickelt; denn was findet man nicht alles in den Tatsachen, wenn man so sucht, wie man eben sucht! Da will ich doch lieber, wenn man durchaus darauf besteht, den reinsten Ursprung der Privilegien unterstellen. Mehr können ihre Verfechter, das heißt alle, die einen Nutzen von ihnen haben, schwerlich verlangen. Alle Privilegien ohne Unterschied können keinen anderen Zweck haben, als entweder vom Gesetz zu entpflichten oder ein Sonderrecht für etwas zu erteilen, was nicht gesetzlich verboten ist. Das Wesen des Privilegs besteht darin, daß es außerhalb des gemeinen Rechts steht, das man nur auf die eine oder die andere der genannten Weisen umgehen kann. Betrachtet man die Sache also unter diesem doppelten Gesichtspunkt, so muß das Ergebnis dieser Untersuchung selbstverständlich für sämtliche Privilegien gelten. Fragen wir zunächst, welchen Zweck das Gesetz eigentlich hat. Doch wohl den zu verhindern, daß jemand in seiner Freiheit oder seinem Eigentum verletzt wird. Man macht keine Gesetze zum bloßen Vergnügen. Gesetze, die nur darauf hinausliefen, die Freiheit der Bürger grundlos zu beeinträchtigen, widersprächen dem Zweck jeden gesellschaftlichen Zusammenschlusses und gehörten schleunigst abgeschafft. Es gibt ein Urgesetz [loi-mere], auf das alle anderen zurückgehen müssen: tu dem anderen kein Unrecht. Dies ist das große Naturgesetz, das der Gesetzgeber gleichsam stückweise austeilt, indem er es zur rechten O r d n u n g der Gesellschaft im einzelnen anwendet; so entstehen alle positiven Gesetze. Diejenigen, die verhindern, daß den anderen Unrecht geschieht, sind gut; diejenigen, die diesem Zweck weder mittelbar noch unmittelbar dienen, sind schlecht, auch ohne offene böse 1 Die erste Ausgabe dieser kleinen Schrift erschien im November 1788.
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Versuch über die Privilegien
Absicht. Denn einmal beeinträchtigen sie die Freiheit, und dann nehmen sie entweder die Stelle der wirklich guten Gesetze ein oder verdrängen sie wenigstens, so gut sie können. Außerhalb des vom Gesetz umgrenzten Bereiches ist alles frei; außer dem aber, was jemandem vom Gesetz zugesichert ist, gehört alles allen. Die lange Geistessklaverei hat jedoch eine so verheerende Wirkung gehabt, daß die Bevölkerung — weit entfernt, ihre eigentliche Stellung in der Gesellschaft zu erkennen und zu begreifen, daß sie selbst das Recht hat, die schlechten Gesetze zu widerrufen — nun sogar die Vorstellung hat, ihr gehöre nur das, was das Gesetz, so gut oder schlecht es sei, ihr gnädig zugestehe. Sie weiß offenbar nicht, daß Freiheit und Eigentum v o r allem dagewesen sind; daß die Menschen beim gesellschaftlichen Zusammenschluß nichts anderes beabsichtigen konnten, als ihre Rechte gegen die Angriffe der Bösen zu sichern und zugleich im Schutz dieser Sicherheit ihre moralischen und physischen Fähigkeiten tatkräftiger und glückbringender zu entfalten, daß also ihr Eigentum — im Gesellschaftszustand* um alle Errungenschaften eines neuen Gewerbefleißes bereichert — ganz allein ihr gehört und niemals als Geschenk einer fremden Macht zu betrachten ist; daß nur sie schützende Obrigkeit geschaffen hat, und zwar nicht zur Bewilligung dessen, was ihr ohnehin gehört, sondern zum Schutz; und daß schließlich jeder Bürger ohne Unterschied ein unangreifbares Recht besitzt, nicht etwa darauf, was das Gesetz erlaubt, weil dies gar nichts zu erlauben hat, sondern auf alles, was es nicht verbietet. Mit Hilfe dieser einfachen Grundprinzipien können wir bereits ein Urteil über die Privilegien abgeben: die, welche eine Befreiung vom Gesetz bezwecken, sind schlechterdings unhaltbar; denn, wie wir gesehen haben, besagt jedes Gesetz mittelbar oder unmittelbar das eine: tu dem anderen kein Unrecht; den Privilegierten aber sagte man: ihr dürft den anderen Unrecht tun. Doch keine Macht der Welt ist zu einer solchen Begünstigung befugt. Ist das Gesetz gut, muß es jedermann verpflichten; ist es schlecht, muß man es abschaffen, denn es ist ein Anschlag auf die Freiheit. Ebensowenig kann man jemandem ein Sonderrecht auf etwas geben, was das Gesetz nicht verbietet; das hieße die Bürger eines Teils ihrer Freiheit berauben. Alles, was. das Gesetz nicht verbietet, haben wir festgestellt, zählt zur bürgerlichen Freiheit und gehört jedermann. Und es hieße allen um eines Einzelnen willen Unrecht tun, würde man jemandem ein Sonderrecht auf etwas zubilligen, was allen gehört. Dies wäre eine große Ungerechtigkeit und zugleich die widersinnigste Unvernunft. Alle Privilegien sind also nach der Natur der Dinge ungerecht und verabscheuungswürdig und laufen dem höchsten Zweck jeder politischen Gesellschaft zuwider.
Versuch über die Privilegien
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A u c h die Ehrenvorrechte [privileges h o n o r i f i q u e s ] k ö n n e n d e r allgemeinen V e r u r t e i l u n g nicht entgehen, weil sie eines der eben g e n a n n t e n M e r k m a l e besitzen, i n d e m sie n ä m l i c h ein Sonderrecht a u f etwas geben, w a s d a s G e s e t z nicht verbietet; g a n z zu schweigen d a v o n , d a ß es fast keinen G e l d v o r t e i l g i b t , dessen sie sich nicht unter dem heuchlerischen Titel v o n Ehrenvorrechten zu b e m ä c h t i g e n suchen. A b e r d a es s o g a r unter den guten K ö p f e n L e u t e gibt, die sich f ü r diese A r t v o n Privilegien erklären o d e r z u m i n d e s t N a c h s i c h t für sie erbitten, ist es a n g e b r a c h t , a u f m e r k s a m zu p r ü f e n , ob sie wirklich entschuldbarer s i n d als die anderen. Ich für meinen Teil, d a s s a g e ich o f f e n , sehe in ihnen n o c h einen weiteren M a n g e l , und der scheint mir schwer. Sie l a u f e n n ä m l i c h a u f eine E n t w ü r d i g u n g d e r g a n z e n B ü r g e r s c h a f t hinaus, u n d m a n f ü g t den Menschen doch wohl kein geringes Unrecht z u , wenn m a n sie e n t w ü r d i g t . Wer w i r d j e m a l s begreifen, wie m a n so in die E r n i e d r i g u n g v o n f ü n f u n d z w a n z i g Millionen a c h t h u n d e r t t a u s e n d Menschen einwilligen konnte, nur u m z w e i h u n d e r t t a u s e n d a u f lächerliche Weise zu e h r e n ! K ö n n t e uns wohl der wendigste S o p h i s t beweisen, w a s an einer so gesellschaftsfeindlichen [ a n t i - s o c i a l e ] E i n r i c h t u n g noch dem allgemeinen Interesse entspricht? D e r noch begründetste A n s p r u c h a u f B e w i l l i g u n g eines E h r e n v o r rechts bestünde d a r i n , d e m V a t e r l a n d — das heißt aber der N a t i o n , die nur a u s der G e s a m t h e i t der B ü r g e r bestehen k a n n — einen großen D i e n s t geleistet zu h a b e n . G u t , s o belohnt d a s G l i e d , d a s sich u m d a s G a n z e verdient g e m a c h t h a t ! B e g e h t aber nie die widersinnige T o r h e i t , die B ü r g e r s c h a f t gegenüber d e m Mitglied herabzusetzen. D i e B ü r g e r s c h a f t als G a n z e s ist i m m e r die H a u p t s a c h e , die S a c h e , der gedient w i r d . Soll sie e t w a irgendwie d e m D i e n e r g e o p f e r t w e r d e n , dem nur d e s w e g e n Belohn u n g g e b ü h r t , weil er ihr gedient hat? E i n e n so schreienden W i d e r s p r u c h hätte m a n allgemein bemerken m ü s s e n , u n d dennoch w i r d unser E r g e b n i s vielleicht neu o d e r doch wenigstens sehr b e f r e m d e n d erscheinen. D e n n in dieser H i n s i c h t herrscht bei uns eingewurzelter A b e r g l a u b e , der die V e r n u n f t e m p ö r t v o n sich weist und schon a m bloßen Zweifel A n s t o ß n i m m t . E i n i g e w i l d e V ö l k e r h a b e n ihren G e f a l l e n a n lächerlichen Entstellungen u n d erweisen ihnen die H u l d i g u n g , die den R e i z e n der N a t u r gebührt. Bei den N a t i o n e n des N o r d e n s verschwendet m a n diese törichten H u l d i g u n g e n an politische A u s w ü c h s e , die n o c h viel u n g e s t a l t e r u n d a u f a n d e r e Weise s c h ä d l i c h s i n d , weil sie den G e s e l l s c h a f t s k ö r p e r [corps s o c i a l ] zerfressen u n d z u g r u n d e richten. D o c h der A b e r g l a u b e geht v o r ü b e r u n d der v o n ihm entstellte K ö r p e r erscheint wieder in seiner g a n z e n K r a f t u n d natürlichen Schönheit. Wie denn, w i r d m a n s a g e n , wollt ihr e t w a die d e m S t a a t geleisteten D i e n s t e nicht anerkennen? E n t s c h u l d i g t bitte, aber ich will nicht, d a ß die
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V e r s u c h ü b e r die Privilegien
Belohnungen des Staates in irgend etwas bestehen, das ungerecht oder erniedrigend ist; man darf jemanden nicht auf Kosten eines anderen belohnen und vor allem nicht auf Kosten fast aller übrigen. Verwechseln wir doch nie so grundverschiedene Dinge wie Privilegien und Belohnungen. Meint ihr vielleicht gewöhnliche Verdienste? Zu ihrer Abgeltung gibt es übliche Löhne und ähnliche Vergütungen. Oder handelt es sich um einen bedeutenden Verdienst, eine aufsehenerregende Tat? N u n , so bietet d a f ü r eine schnelle Beförderung oder ein hohes Amt, das den Fähigkeiten des zu Belohnenden angemessen ist. Schließlich könnt ihr, wenn nötig, noch zum Mittel einer Pension greifen, doch nur in sehr seltenen Fällen und lediglich dann, wenn wegen Umständen, Alter, Verletzungen usw. keine andere Belohnung genügt. Das ist zu wenig, werdet ihr sagen; wir brauchen außerdem sinnfällige Auszeichnungen; wir wollen uns die Beachtung und das Ansehen der Öffentlichkeit sichern . . . D a kann ich meinerseits nur antworten, d a ß die wahre Auszeichnung in dem Dienst liegt, den ihr dem Vaterland'1", der Menschheit geleistet habt, und d a ß Beachtung und Ansehen sich unfehlbar einstellen, wo diese Art von Verdienst es verlangt. Laßt die Öffentlichkeit, laßt sie doch die Bekundungen ihrer Achtung frei austeilen! Wenn ihr diese Achtung nach euren philosophischen Vorstellungen als eine durch ihre Wirkung mächtige moralische Münze betrachtet, so habt ihr Recht; wollt ihr aber, daß der Fürst sich ihre Verteilung anmaßt, so irrt ihr sehr; die N a t u r ist philosophischer"' als ihr und hat die wahre Quelle des Ansehens in das Empfinden des Volkes gelegt. Denn die eigentlichen Bedürfnisse hat allein das Volk; im Volke besteht das Vaterland"', das die hervorragendsten Menschen aufruft, ihm ihre Fähigkeiten zu weihen; das Volk sollte folglich auch über den Schatz von Belohnungen verfügen, den jene Menschen erstreben können. Der blinde Zufall und die noch viel blinderen Gesetze haben sich gegen die Masse des Volkes [multitude] verschworen. Man hat sie völlig enterbt und ihr alles geraubt. Nichts bleibt ihr als das Vermögen, diejenigen, die ihr dienen, mit ihrer Achtung zu ehren; nur dies Mittel hat sie noch, um für ihren Dienst würdige Menschen anzuspornen. Wollt ihr sie denn ihres letzten Gutes, ihres letzten Rückhalts berauben und bewirken, daß selbst ihr ureigenstes Eigentum ihrem Glück nichts nützt? H a b e n die gewöhnlichen Verwaltungsbeamten die Bürgerschaft* als Ganzes einmal zugrundegerichtet und entwürdigt, so gewöhnen sie sich leicht daran, sie zu vernachlässigen. Sie mißachten, sie schmähen fast guten Gewissens ein Volk, das doch erst durch ihr Verbrechen verächtlich werden konnte. Wenn sie sich noch um es kümmern, so nur, um seine Fehler zu bestrafen. Ihr Zorn gilt der Beaufsichtigung des Volkes, ihre Milde gehört allein den Privilegierten. Doch selbst dann bleiben Tugend
Versuch über die Privilegien
u n d T a l e n t n o c h bestrebt, die B e s t i m m u n g
der N a t u r
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zu erfüllen.
Im
Innern der starken u n d reinen Seelen spricht eine geheime S t i m m e u n a b lässig zugunsten werden
ewig
der S c h w a c h e n . J a , die heiligen A n l i e g e n des
der
verehrte
Betrachtungsgegenstand
des
Volkes
unabhängigen
p h i l o s o p h e * bleiben u n d g e h e i m o d e r ö f f e n t l i c h der Z w e c k aller und
Opfer
des
tugendhaften
Bürgers
sein.
Freilich,
der
Sorgen
Arme
dankt
s e i n e n W o h l t ä t e r n n u r m i t S e g n u n g e n ; a b e r w i e s e h r ist d o c h d i e s e r L o h n über alle G u n s t b e z e u g u n g e n der politischen M a c h t erhaben! A c h ,
möge
der L o h n der öffentlichen A c h t u n g doch frei a u s d e m Schöße der N a t i o n h e r v o r g e h e n , u m ihre S c h u l d g e g e n ü b e r T a l e n t u n d T u g e n d
abzugelten!
H ü t e n wir uns, die edlen Beziehungen der Menschlichkeit zu zerstören, die die N a t u r in den G r u n d unserer Seele e i n g e g r a b e n h a t ! B e g r ü ß e n w i r d o c h v i e l m e h r diesen w u n d e r b a r e n u n d f ü r die Welt so tröstlichen T a u s c h v o n W o h l t a t e n u n d H u l d i g u n g e n , w i e er z w i s c h e n d e n B e d ü r f n i s s e n d e r Bevölkerung
und
Dienste
mit
einem
den
belohnt
sind. Dieser
großen
Menschen
einfachen Tausch
Zeugnis hat
stattfindet,
der
keinerlei
die für alle
Dankbarkeit Makel;
ihre
überreichlich
e r ist f r u c h t b a r
an
T u g e n d u n d reich an G l ü c k , s o l a n g e sein n a t ü r l i c h e r u n d freier A b l a u f nicht gestört wird. R e i ß t d a s j e d o c h d e r H o f a n s i c h , d a n n b e t r a c h t e ich d i e ö f f e n t l i c h e A c h t u n g n u r n o c h als eine d u r c h die S p e k u l a t i o n e n eines Monopols
unwürdigen
[ m o n o p o l e ] verfälschte M ü n z e . Ihr M i ß b r a u c h hat unweiger-
lich d i e u n v e r s c h ä m t e s t e n V e r s t ö ß e g e g e n die g u t e n Sitten z u r F o l g e u n d zieht bald
alle Schichten der B ü r g e r
in M i t l e i d e n s c h a f t .
Die
üblichen
äußeren Kennzeichen, die A n s e h e n wecken sollen, sind schlecht u n d leiten d a s G e f ü h l gewaltsame
verteilt
[ s e n t i m e n t ] irre. I n d e m m a n dies G e f ü h l in eine
Verbindung
zwingt,
verdirbt
man
es s c h l i e ß l i c h
bei
den
m e i s t e n M e n s c h e n ; d e n n w i e s o l l t e es d e m G i f t d e r L a s t e r
widerstehen,
an
aufgeklärten
deren
Menschen
Gegenwart jedoch
es
sich
verschließen
gewöhnt? die
Die
Achtung
wenigen
aus
Empörung
über
die
s c h ä n d l i c h e R o l l e , z u d e r m a n s i e e r n i e d r i g e n w i l l , t i e f in i h r e r B r u s t ; es gibt also keine wirkliche A c h t u n g m e h r — u n d d o c h leben ihre S p r a c h e , ihre ä u ß e r e n F o r m e n in der G e s e l l s c h a f t weiter, u m f a l s c h e ö f f e n t l i c h e E h r e n b e z e u g u n g e n a n R ä n k e s c h m i e d e , G ü n s t l i n g e u n d o f t die s t r a f b a r sten M e n s c h e n zu verschachern. Bei
einer solchen
Sittenverwilderung
wird
das
Talent
verfolgt;
die
T u g e n d w i r d lächerlich g e m a c h t ; u n d statt dessen fordert eine U n m e n g e von
Zeichen
Beachtung
und
buntscheckigen
für die Mittelmäßigkeit,
Orden
gebieterisch
die N i e d e r t r a c h t
Ansehen
und
das
und
Verbre-
chen. Wie sollten auch die E h r e n b e z e u g u n g e n nicht d a s E h r g e f ü h l erstikken, die öffentliche M e i n u n g v ö l l i g verderben u n d aller Gewissen erniedrigen ! Vergebens
w ü r d e t ihr b e h a u p t e n ,
daß
ihr s e l b s t
uigcndhait
bleiben
und niemals den wendigen Schwindler oder kriecherischen H ö f l i n g mit
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Versuch über die Privilegien
dem rechtschaffenen Staatsdiener verwechseln würdet, der gerechte Ansprüche auf öffentliche Belohnungen vorweist; die Erfahrung bezeugt eure zahlreichen Irrtümer in dieser Hinsicht. Und müßt ihr am Ende nicht wenigstens eingestehen, daß die Gesinnungen und Handlungen derjenigen, denen ihr eure seltsamen Ehrenurkunden ausgefertigt habt,, hernach ausarten können? Und trotzdem werden sie weiterhin die Verehrung der Menge [multitude] fordern und auf sich ziehen. Einen Teil des öFtentlichen Ansehens habt ihr also unwiederbringlich an unwürdige Bürger veräußert, an Menschen, die vielleicht unsere gerechte Verachtung trifft. G a n z anders verhält es sich mit der Achtung, die von der Bevölkerung"' selbst kommt. D a sie notwendigerweise frei ist, wird sie dem entzogen, der sie nicht mehr verdient. Sie ist nicht nur ihrem Ursprung nach reiner und in ihren Wandlungen natürlicher, sondern auch sicherer in ihrer Handlungsweise und nutzbringender in ihren Wirkungen. Sie ist der einzige Lohn, der dem Wesen des tugendhaften Bürgers immer angemessen ist; der einzige Lohn, der zu guten Taten anfeuert und nicht den Durst der Eitelkeit und des Dünkels reizt; der einzige, den man ohne Ränke und Niedertracht erstreben und erhalten kann. Also noch einmal: laßt die Bürger ihre Ehrenbezeugungen nach eigenem Empfinden erteilen und sich von selbst dieser so schmeichelhaften, so ermutigenden Bekundung hingeben, mit der sie ihrem Gefühl gleichsam spontan Ausdruck zu verleihen wissen! Dann werdet ihr aus dem freien Wettbewerb der tüchtigen Persönlichkeiten, aus den verdoppelten Anstrengungen zum Guten jeder Art erkennen, was das öffentliche Ansehen als treibende Kraft für den gesellschaftlichen Fortschritt vermag. 2 Eure Trägheit und euer Dünkel freilich sind bei den Privilegien besser aufgehoben. Ich sehe es wohl: euch liegt weniger daran, durch eure Mitbürger ausgezeichnet zu werden [distingue par] als vielmehr daran, euch von ihnen zu unterscheiden [distingue de]. 3 Ja, das ist sie doch 2 Ich rede übrigens von einer Nation, die frei ist oder es bald werden wird. Es ist wohl klar, d a ß ein Sklavenvolk über die Verteilung der öffentlichen Ehren überhaupt nicht verfügen k a n n . Bei einem Sklavenvolk ist die moralische Münze immer falsch, welche H a n d sie auch verteilen mag. 3 Sollte man dieser Anmerkung vorwerfen, etwas metaphysisch zu sein, obwohl man die Bedeutung dieses Wortes, das für die oberflächlichen K ö p f e heute so viel Schrecken besitzt, nicht kennt, - so sage ich, daß d a s Sich-Unterscheiden [la distinction de] nichts anderes als Verschiedenheit [difference] ist: in beiden Ausdrücken handelt es sich um dasselbe; denn wenn sich Α von Β unterscheidet, so unterscheidet sich natürlich aus demselben Grunde Β von Α. Α und Β stehen also in einem Wechselverhältnis, wie man sagt. Natürlich sind alle Individuen, alle Wesen untereinander verschieden. Es besteht aber kein G r u n d , sich auf d a s etwas einzubilden, worauf alle andern dasselbe Recht haben. V o r r a n g oder niedriger R a n g sind in der N a t u r nicht Frage des Rechts, sondern der Tatsachen : derjenige erlangt Überlegenheit [ superiorite], der über den andern den Sieg davonträgt. Diese tatsächliche Überlegenheit setzt wirklich auf der einen Seite mehr Stärke
Versuch über die Privilegien
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offenbar, eure geheime Gesinnung, eure unmenschliche, dünkelhafte und doch so schändliche Begier, die ihr mit dem Schein des öffentlichen Interesses zu bemänteln sucht. Nicht Achtung und Liebe eurer Mitmenschen ist es, was ihr erstrebt, sondern vom Kitzel der Eitelkeit getrieben richtet ihr diese gegen Menschen, deren Gleichheit mit euch euch kränkt. Im Grunde eures Herzens macht ihr es der Natur zum Vorwurf, daß sie eure Mitbürger nicht in tieferstehende Gattungen eingestuft hat, deren alleinige Bestimmung es ist, euch zu dienen. Ach, würde doch jeder von derselben Abscheu aufgerüttelt wie ich! Aber natürlich, ihr dachtet nicht im entferntesten daran, an der Frage, die uns beschäftigt, irgendein persönliches Interesse zu haben. Handelte es sich doch bloß um Belohnungen für Verdienste und nicht um Strafen, die man in jedem geordneten Staat über die tückischsten Feinde der gesellschaftlichen Wohlfahrt"' [felicite] verhängen müßte. Nach diesen allgemeinen Betrachtungen über die Ehrenvorrechte wollen wir nun zu ihren Auswirkungen übergehen, in bezug sowohl auf das öffentliche Interesse als auch auf das Interesse der Privilegierten selbst. In dem Augenblick, in dem die Regierung einen Bürger als Privilegierten kennzeichnet, verschließt dieser sich mehr oder weniger der Stimme des Gemeininteresses!;" und wird für das Eigeninteresse empfänglich. Beim Privilegierten verengt sich die Vorstellung vom Vaterland*; sie beschränkt sich auf die Kaste, zu der er gehört. Alle seine Kräfte, die er vorher mit Erfolg zum Wohl der nationalen Sache angespannt hat, kehren sich nun gegen sie. Eigentlich hatte man ihn zu noch besseren Leistungen anspornen wollen; nun hat man nichts anderes erreicht, als ihn zu verderben. In seinem Innern entsteht das Bedürfnis, den Vorrang zu haben, eine unersättliche Herrschsucht. Diese Sucht, die unglücklicherweise nur allzusehr im menschlichen Charakter angelegt ist, ist geradezu eine gesellschaftsfeindliche Krankheit; und wenn sie schon allein für sich immer schaden muß, so möge man sich ihre Verwüstungen vorstellen, wenn die öffentliche Meinung"' und das Gesetz ihr erst einen mächtigen Rückhalt verleihen.
voraus als auf der anderen. Wenn man aber auf diesen ersten Rechtfertigungsgrund zurückgeht — auf welcher Seite wird wohl die Überlegenheit sein? Wem würde sie wohl eurer Meinung nach gebühren, der Bürgerschaft oder den Privilegierten? Das Ausgezeichnet-Werden [distinction par] dagegen ist dasjenige gesellschaftliche Prinzip, das am meisten Gesittung [bonnes moeurs] und gute Handlungen usw. erzeugt. Wenn es jedoch in der Brust derer ruht, die auszeichnen, und nicht in der Hand dessen, der sich die Verteilung der Auszeichnung anmaßt, wenn es ein Gefühl des Volkes ist und nichts anderes sein kann, ohne seine Echtheit zu verlieren - dann muß man auch zugeben, daß dies Gefühl seinem Wesen nach frei ist und daß schon die äußerste Torheit dazu gehört, gegen meinen Willen über meine Achtung und Verehrung verfügen zu wollen, für wen es auch sein mag.
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Versuch über die Privilegien
Versetzt euch doch für einen Augenblick in die neuartigsten Empfindungen eines Privilegierten. Er meint, mit seinen Kameraden einen besonderen Stand, eine auserwählte N a t i o n in der N a t i o n zu bilden. Er glaubt sich vor allem denen von seiner Kaste verpflichtet, und wenn er sich weiterhin um die andern kümmert, so sind es eben tatsächlich nur die andern; die Seinen sind es nicht mehr. Sie sind nicht mehr der Körper, von dem er ein Glied war. Sie sind bloß noch das Volk — das Volk, das wie in seinem Denken so auch bald in seinem Sprachgebrauch nur noch ein H a u f e n von Habenichtsen [gens de rien] ist, eine eigens zu seinem Dienst bestimmte Menschenklasse, während er seinerseits zum Befehlen und zum Genießen geschaffen ist. Ja, schließlich versteigen sich die Privilegierten wirklich zu der Vorstellung, sie seien eine besondere Art von Menschen. 4 Diese scheinbar so übersteigerte Vorstellung, die im Begriff des Privilegs gar nicht enthalten zu sein scheint, wird dennoch unmerklich gleichsam zu einer natürlichen Folge davon und setzt sich zuletzt in allen Köpfen fest. Ich frage alle freimütigen und anständigen Privilegierten, die es wohl auch noch gibt, ob sie nicht, wenn ein Mann aus dem Volke zu ihnen kommt, der nicht gerade um Schutz nachsucht — ob sie dann nicht meistens eine unwillkürliche Regung des Widerwillens empfinden, der sich bei dem geringsten Vorwand, bei irgendeinem harten Wort oder irgendeiner kränkenden Gebärde sofort entlädt. D a s falsche Gefühl der persönlichen Überlegenheit bedeutet den Privilegierten so viel, daß sie es auf alle ihre Beziehungen zu den übrigen Bürgern übertragen wollen. Sie sind eben nicht dazu gemacht, den anderen gleichgestellt zu sein, beiseitezustehen, mit den anderen in Wettbewerb zu treten oder zusammen mit ihnen angetroffen zu werden, usw. usw. Es ist eben schon entwürdigend, sich mit den andern in einen Wortwechsel einzulassen und den Anschein zu wecken, man sei im Unrecht, wenn man auch wirklich Unrecht hat; ja, man setzt seinen Ruf aufs Spiel, wenn man sich nur mit ihnen verständigt usw. usw. . . . Nichts aber ist lehrreicher in dieser Hinsicht als das Schauspiel, das sich einem fern der Hauptstadt auf dem Lande darbietet. Unbehelligt von der Vernunft u n d den Leidenschaften der Städte kann das adelige Gefühl der eigenen Überlegenheit hier so richtig gedeihen und sich aufplustern. In den alten Schlössern hat der Privilegierte mehr Selbstachtung, vor den Bildnissen seiner Ahnen kann er sich länger in Verzückung versetzen und sich bequemer an der Ehre berauschen, von Leuten abzustammen, die im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert lebten; denn es k o m m t ihm gar nicht in den Sinn, daß alle Familien denselben Vorzug 4 D a ich nicht der Übertreibung bezichtigt werden will, entnehme ich dem Sitzungsprotokoll des Adels bei den Generalständen von 1614 ein authentisches Stück, das man am Ende dieser Schrift lesen möge.
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haben könnten. In seiner Einbildung ist dies eine besondere Eigenschaft bestimmter Geschlechter. Oft — in aller Bescheidenheit — führt er dem ehrerbietigen Blick der Fremden diese Ahnengalerie vor, deren Betrachtung in ihm so häufig die süßesten Träume geweckt hat. Doch beim Vater oder beim Großvater hält er sich nur wenig auf (diese Wörter haben für die Würde einer privilegierten Sprache sogar irgend etwas Beleidigendes). Seine besten Vorfahren sind vielmehr die entferntesten, sie kommen seiner Liebe sowie seinem Dünkel am meisten entgegen. Ich habe lange Galerien von Ahnenbildnissen gesehen. Sie haben keinen besonderen Wert, weder durch die Kunst ihrer Malerei noch — das muß man eingestehen — aufgrund verwandtschaftlicher Empfindungen 5 ; doch welche Erhabenheit verleiht ihnen das Andenken der Zeiten und Sitten des ach so guten Mittelalters! Mit Begeisterung, wie die Betrachtung der Kunst sie erfordert, verspürt man hier in den Schlössern die volle Wirkung eines Stammbaums mit dichtem Geäst und von hohem Wuchs. Hier nur erfährt man vollständig und bis in die letzten Feinheiten, was ein Mann von Stande [homme comme il faut] gilt6 und welcher Rang jedermann zukommt.
5 Wer hat bei solcher Gelegenheit nicht gehört, wie der Führer liebenswürdige Überlegungen anstellte über diesen hier, der zwölfhundert und soundsoviel noch ein roher Christ war, dessen Vasallen nichts zu lachen hatten, usw. . . . über jenen dort (man spricht dabei natürlich seinen alten Namen aus), der sich ungeschickterweise auf einen Verrat einließ und mit seinem Kopf dafür bezahlte, usw. . . . aber immer noch zwölfhundert. . . Ich will hier noch von der Äußerung einer D a m e berichten, welche erst kürzlich in einem großen und würdig zusammengesetzten Kreise das in der T a t strafbare Verhalten eines der größten Häupter des Königreichs aufs äußerste tadelte. A u f einmal hielt sie inne und sagte mit schwer zu beschreibender Miene: »Doch ich weiß gar nicht, warum ich so viel Schlechtes davon rede, denn ich habe j a die Ehre, mit ihm verwandt zu sein.« 6 Ich verzichte darauf, alle Feinheiten, alle Spitzfindigkeiten im Sprachgebrauch der Privilegierter zu erfassen. Wir benötigten für diese Sprache ein besonderes Wörterbuch, das in mehr als einer Hinsicht ganz neuartig sein müßte; denn anstatt die konkrete oder übertragene Bedeutung der Wörter anzugeben, käme es im Gegenteil darauf an, die Wörter ihrer eigentlichen Bedeutung zu entkleiden, so daß nur eine leere Hülse übrigbleibt, die der Vernunft nichts, dem Vorurteil aber wunderbare Tiefen bietet. In einem solchen Wörterbuch könnten wir dann nachlesen, was es heißt mit einem Privileg privilegiert zu sein, das keinen bestimmten Beginn hat. Diejenigen, welche so etwas haben, sind die Guten [des bons], Sie sind von Gottes Gnaden, wohl unterschieden von jener Menge neuer Privilegierter von Königs Gnaden. Man übergeht die Bürger, die nicht von Gnaden sein wollen, sondern darauf angewiesen sind, sich durch ihre persönlichen Fähigkeiten auszuzeichnen: die sind ja gar nichts; das ist ja nur die Nation. Aus jenem neuen Wörterbuch würden wir lernen, daß nur die von Geburt sind, die überhaupt keinen Ursprung haben. Sogar die Privilegierten des Fürsten wagen nicht zu denken, sie seien mehr als von halber Geburt, und die Nation hat überhaupt keine Geburt. Es wäre überflüssig zu bemerken, daß es sich hier nicht um die Geburt handelt, die auf Vater und Mutter zurückgeht, sondern um jene, die der Fürst durch eine Urkunde mit seiner Unterschrift verleiht, oder die noch besser irgendwo herkommt: diese letzte achtet man am allerhöchsten. Wenn ihr zum Beispiel bisher gemeint habt, jeder Mensch habe notwendigerweise einen Vater, einen Großvater,
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Versuch über die Privilegien
W i e armselig u n d v e r ä c h t l i c h erscheinen d o c h die B e s c h ä f t i g u n g e n der Stadtleute
[ g e n s d e l a ville] g e g e n ü b e r diesen e r h a b e n e n B e t r a c h t u n g e n !
D ü r f t e m a n die D i n g e b e i m N a m e n n e n n e n , k ö n n t e m a n f r a g e n , w a s d e r U n t e r s c h i e d zwischen einem B ü r g e r * Privilegierten Vergangenheit; seinen gemeine
ist.
Nun,
dieser
blickt
[Bourgeois] unablässig
und einem
richtigen
zurück
die
in
edle
d o r t sieht e r seine E h r e n t i t e l u n d seine S t ä r k e , e r lebt
Vorfahren. Gegenwart
Der
Bürger
dagegen
u n d die g l e i c h g ü l t i g e
blickt
unverwandt
Zukunft,
auf
mit seinem
die Fleiß
e r n ä h r t e r j e n e u n d bereitet d i e a n d r e v o r . E r ist, s t a t t g e w e s e n z u s e i n ; i h n t r i f f t die S t r a f e u n d , was n o c h s c h l i m m e r ist, d i e S c h a n d e , all s e i n e n V e r s t a n d , all seine K r a f t für u n s e r n j e t z i g e n D i e n s t e i n z u s e t z e n u n d v o n s e i n e r A r b e i t zu l e b e n , a u f d i e alle a n g e w i e s e n s i n d . A c h , w a r u m d e n n d e r P r i v i l e g i e r t e n i c h t i n die Vergangenheit,
geht
g e n i e ß t d a seine T i t e l
u n d W ü r d e n u n d ü b e r l ä ß t d e r d u m m e n N a t i o n die G e g e n w a r t m i t i h r e r Unfeinheit! E i n r e c h t e r P r i v i l e g i e r t e r ist e b e n s o s e l b s t g e f ä l l i g , w i e e r d i e v e r a c h t e t . E r h ä t s c h e l t und b e w e i h r ä u c h e r t
allen E r n s t e s seine
andern persön-
liche W ü r d e ; u n d o b w o h l alle A n s t r e n g u n g e n eines s o l c h e n A b e r g l a u b e n s Urgroßeltern usw., so habt ihr euch getäuscht. Die natürliche Gewißheit reicht in dieser Hinsicht nicht aus, hier gilt nur die Bescheinigung von Herrn Cherin. [a] Um alt ru sein, muß man, wie gesagt, zu den Guten gehören. Die neuen Privilegierten sind Leute von gestern; und was die nichtprivilegierten Bürger betrifft, so kann ich euch nichts sagen, als daß sie anscheinend noch gar nicht geboren sind. Ich muß gestehen, daß ich es bewundere, mit welcher Erfindungsgabe die Privilegierten diese erhabenen Erörterungen ununterbrochen bis ins Unendliche fortspinnen, ohne jemals den Faden zu verlieren. Ihre wißbegierigsten Zuhörer sind meiner Ansicht nach diejenigen, welche vor ihrer eigenen Ehre, vor ihren eigenen Ansprüchen ständig auf den Knien liegen, dieselben Ansprüche bei anderen aber so gern verspotten. Ich bleibe dabei, daß die politischen Ansichten der Privilegierten genau ihren Gefühlen entsprechen; und um dies erneut zu beweisen, will ich das wahre Bild einer politischen Gesellschaft entwerfen, wie sie es sich vorstellen. Die Gesellschaft setzt sich aus sechs bis sieben einander jeweils untergeordneten Klassen4 [classes] zusammen. In der ersten sind die großen Grundherren, das heißt jener Teil der Hofleute, welche Geburt, hohe Stellung und großer Reichtum verbindet. Die zweite Klasse umfaßt die bekannten bei Hofe Vorgestellten [Presentes s. b], jene, die Eindruck machen, nämlich die Leute von Stand. An dritter Stelle kommen die unbekannten Vorgestellten, die nur nach der Ehre trachteten, im Staatsanzeiger [gazette] zu stehen; das sind die Leute von einiger Bedeutung. 4. In der Klasse der nicht Vorgestellten, die jedoch gut sein können, vereinigt man alle Krautjunker [Gentillitres] der Provinz, wie sie sich selbst nennen. In die fünfte Klasse kommen die einigermaßen alt Geadelten oder Leute ohne Bedeutung. In die sechste werden aufgenommen oder vielmehr abgeschoben alle neuerdings Geadelten oder Leute von weniger als nichts. Um auch nichts zu vergessen, kann man schließlich die siebte Klasse für die restlichen Bürger bereithalten, die man nicht anders als nur noch mit Schimpfworten kennzeichnen kann. So sieht die Gesellschaftsordnung nach dem herrschenden Vorurteil aus, und damit sage ich nur denen etwas Neues, die nicht von dieser Welt sind. [a] Gemeint ist der letzte Königliche Genealoge Louis Nicolas Henri Cherin. [Anm. d. Ubers.] [b] Anspielung auf die Zeremonie, bei der die zum Verkehr bei Hofe neu zugelassenen Persönlichkeiten dem König offiziell vorgestellt wurden. [Anm. d. Ubers.]
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derart lächerlichen Wahnvorstellungen auch nicht einen Anflug von Wirklichkeit verleihen können, füllen sie ihn nichtsdestoweniger restlos aus; ihnen gibt sich der Privilegierte mit ebensoviel Ernst und Liebe hin, wie der Narr von Piräus seinem Hirngespinst. Der Dünkel, der sich gewöhnlich in Eigenart und Absonderung gefällt, wird hier sogleich zum unbeugsamen Korpsgeist* [esprit de corps]. Erfährt ein Privilegierter von Seinen der verachteten Klasse* auch nur die geringste Schwierigkeit, so wird er zunächst gereizt und fühlt sich in seinem Vorrang, seinem Vermögen, seinem Eigentum verletzt; dann stachelt er bald alle Mitprivilegierten auf, feuert sie an und bringt schließlich einen schrecklichen Bund zustande, der bereit ist, für die Wahrung und dann für die Vergrößerung seines hassenswerten Privilegs alles zu opfern. Von der so zerstörten politischen Ordnung bleibt nichts übrig als ein verabscheuungswürdiger Aristokratismus [aristocratisme]. Aber, wird man sagen, wir sind doch in Gesellschaft mit den Nichtprivilegierten genauso höflich wie mit unseresgleichen. Nun, ich bin keineswegs der erste, der dies Kennzeichen der französischen Höflichkeit [politesse] bemerkt. Doch der französische Privilegierte ist nicht etwa höflich, weil er es den andern zu schulden glaubt, sondern weil er meint, es sich selbst zu schulden. Was er achtet, sind nicht die Rechte des andern, sondern seine Würde. Auf keinen Fall will er durch ordinäre Umgangsformen etwas mit sogenannter gewöhnlicher Gesellschaft gemein haben. J a mehr noch: er müßte sonst fürchten, daß ihn der, zu dem er unhöflich wäre, für einen Nichtprivilegierten seinesgleichen hielte! Oh, hütet euch vor den Verführungen eines heuchlerischen und trügerischen Scheins! Habt doch so viel gesunden Menschenverstand, ihn als das zu erkennen, was er ist: eine dünkelhafte Eigenheit genau derselben Privilegierten, die wir so verabscheuen. Um diese Gier nach Vorrechten zu erklären, wird man vielleicht denken, daß durch den berauschenden Zauber jenes Vorrangs auf Kosten der öffentlichen Wohlfahrt wenigstens zum Vorteil der Privilegierten eine besondere Art von Glückseligkeit entstanden sei, die einige wenige genießen, nach der viele streben und für die sich die anderen nur durch Neid oder Haß rächen können. Aber hat man denn vergessen, daß die Gesetze der Natur nie ohnmächtig oder bedeutungslos sjnd? Hat man denn vergessen, daß sie das menschliche Glück an die Freiheit knüpfen und daß die Eitelkeit nur einen trügerischen Gegenwert bietet gegen jenen Reichtum natürlicher Gefühle, woraus die wirkliche Glückseligkeit* besteht? Befragen wir doch unsere eigene Erfahrung 7 , verschließen wir doch 7 F ü r alle, die das S c h i c k s a l nicht zu u n a u f h ö r l i c h e r A r b e i t v e r d a m m t hat, ist die G e s e l l s c h a f t eine reine und ergiebige Q u e l l e a n g e n e h m e r G e n ü s s e ; das fühlt m a n , u n d das V o l k , welches die h ö c h s t e K u l t u r zu h a b e n scheint, r ü h m t sich auch, die beste G e s e l l s c h a f t zu
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nicht die Augen vor der Erfahrung aller Privilegierten, aller großen Beauftragten, deren Stand es mit sich bringt, d a ß sie in der Provinz die angeblichen Reize ihres Vorrangs genießen. Dieser Vorrang verschafft ihnen alles; trotzdem sind sie einsam, Langeweile drückt sie nieder und rächt so die Rechte der Natur. An der brennenden Ungeduld, mit der sie zur H a u p t s t a d t zurückeilen, um ihresgleichen aufzusuchen, könnt ihr sehen, wie unsinnig es ist, immer nur den Acker der Eitelkeit zu bestellen und doch nichts zu ernten als die Dornen des Dünkels oder Mohnkörner der Langeweile. Diesen widersinnigen und trügerischen Vorrang, der das Werk der Privilegierten ist, verwechseln wir jedoch keineswegs mit jenem andern V o r r a n g , der nur Regierende und Regierte voraussetzt. Letzterer ist echt; er ist notwendig. Weder macht er die einen dünkelhaft, noch demütigt er die andern; es ist ein Vorrang des Amtes und nicht der Person; da nun aber selbst dieser Vorrang das Glück der Gleichheit nicht aufzuwiegen vermag, was ist überhaupt noch von den Illusionen zu halten, denen sich die einfältigen Privilegierten hingeben? Ach, würden die Menschen doch ihr wahres Interesse erkennen, was könnten sie nicht für ihr Glück tun! Würden sie doch endlich nicht länger die Augen vor der grausamen Fahrlässigkeit verschließen, aus der sie um eitler Privilegien der Knechtschaft willen die Rechte freier Bürger so lange verschmäht haben: wie schnell würden sie den Eitelkeiten abschwören, zu denen man sie von Kindheit an abgerichtet hat! Wie sehr würden sie einer O r d n u n g mißtrauen, die sich so gut mit dem Despotismus verträgt! Die Bürgerrechte sind allumfassend; die Privilegien aber verderben alles und sind nur für Sklaven eine Entschädigung. Bisher habe ich keinen Unterschied gemacht zwischen erblichen und selbsterworbenen Privilegien; das heißt jedoch nicht, daß sie im Gesellschaftszustand alle gleich schädlich und gleich gefährlich sind. Wenn es in der Reihe der Übel und Unsinnigkeiten eine Rangfolge gibt, so gebührt gewiß den erblichen Privilegien der erste Platz, und ich werde besitzen. Aber wo ist die beste Gesellschaft? D o c h wohl d a , wo diejenigen Menschen, die am besten zusammenpassen, sich einander frei nähern und diejenigen, die nicht zusammenpassen, sich ungehindert trennen k ö n n e n ; doch wohl da, wo von einer bestimmten A n z a h l von Menschen die meisten Fähigkeiten und Gemeinschaftssinn besitzen und wo eine W a h l durch keinen Beweggrund behindert wird, der dem Zweck des gesellschaftlichen Zusammenschlusses widerspricht. M a n sage mir nun, ob die Standesprivilegien diesen so einfachen Regeln nicht in jeder Hinsicht zuwiderlaufen. W i e so manche Hauswirtin wird gezwungen, aus Rücksicht auf hohe Privilegierte, die sie langweilen, gerade diejenigen Menschen zu entfernen, an denen ihr am meisten liegt! Vergebens ä f f t ihr in euren so hochgepriesenen und doch so öden Gesellschaften jene Gleichheit nach, deren unbedingte N o t w e n d i g k e i t ihr trotzdem gezwungenermaßen fühlt. Bloße flüchtige Augenblicke vermögen die Menschen nun einmal nicht innerlich so zu wandeln, d a ß sie einander das w ä r e n , was sie gewiß sein würden, wenn die Gleichheit nicht das Spiel einiger Augenblicke, sondern volle Lebenswirklichkeit wäre. D o c h dies T h e m a ist unerschöpflich; ich kann hier nur a u f einige Gesichtspunkte hinweisen.
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meine Vernunft nicht zum Beweis einer so offensichtlichen Wahrheit erniedrigen. Wer aus einem Privileg übertragbares Eigentum macht, der begibt sich sogar der schwachen Vorwände, mit denen man die Erteilung der Privilegien zu rechtfertigen sucht; das stellt alle Grundsätze, alle Vernunft auf den Kopf. Weitere Betrachtungen sollen die verderblichen Auswirkungen der Privilegien noch in anderer Hinsicht aufdecken. Doch stellen wir zuvor eine allgemeine Wahrheit fest: eine falsche Vorstellung braucht nur vom persönlichen Interesse befruchtet und vom Beispiel einiger Jahrhunderte genährt zu werden, um am Ende jeden Verstand zu verderben. Von einem Vorurteil"' zum andern gerät man unmerklich in ein Lehrgebäude, das die äußerste Unvernunft darstellt, ohne deswegen — was das Empörendste ist — die abergläubige Einfalt der Bevölkerung im geringsten zu erschüttern. So erleben wir, wie sich vor unsern Augen — ohne daß die Nation auch nur daran denkt, ihre Rechte geltend zu machen — ganze Schwärme von Privilegierten erheben in der festen, fast religiösen Überzeugung, aufgrund ihrer Geburt ein wohlerworbenes Recht auf Ehrentitel zu besitzen und schon allein deswegen, weil sie weiterleben, einen Teil der Steuern der Bevölkerung beanspruchen zu können. Das ist für sie ein ausreichender Rechtsgrund. J a mehr noch: nicht genug damit, daß sich die Privilegierten als eine besondere Menschengattung ansahen, in aller Bescheidenheit und fast gutgläubig mußten sie sich und ihre Nachkommen auch noch als eine für die Bevölkerung unentbehrliche Einrichtung betrachten; nicht aber als Beamte des Gemeinwesens, denn mit diesem Titel würden sie der Gesamtheit der öffentlichen Beauftragten gleichen, aus welcher Klasse sie auch kämen. Sie bilden sich tatsächlich ein, jede Gesellschaft, die unter einer monarchischen Regierung lebe, brauche sie als privilegierte Körperschaft. Wenden sie sich an die Minister oder an den Monarchen selbst, geben sie sich als Stütze des Throns und dessen natürliche Verteidiger gegen das Volk; wenden sie sich jedoch an die Nation, werden sie auf einmal die wahren Verteidiger eines Volkes, das ohne sie bald vom Königtum vernichtet sein würde. Wäre die Regierung etwas aufgeklärter, würde sie einsehen, daß eine Gesellschaft nichts weiter braucht als Bürger, die im Schutz des Gesetzes leben und wirken, sowie eine Obrigkeit, die für Schutz und Wachsamkeit sorgt. Die einzig notwendige Hierarchie besteht, wie gesagt, unter den Vollstreckern der Souveränität; nur da ist eine Rangordnung der Vollmachten, nur da gibt es Beziehungen von Unter- und Ubergeordneten, weil die Staatsmaschine nur durch dieses Zusammenwirken funktioniert. Davon abgesehen sind alle Bürger vor dem Gesetz gleich und nicht abhängig untereinander, was unnütze Knechtschaft wäre, sondern abhängig allein von der Obrigkeit"', die sie beschützt, für sie Recht
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spricht, sie verteidigt usw. Wer im Genuß des größten Reichtums lebt, ist nicht mehr als derjenige, welcher von seinem Tageslohn lebt. Wenn der Reiche mehr Steuern zahlt, so verlangen seine Besitzungen auch mehr Schutz. Aber ist der Groschen des Armen darum etwa weniger wert, sein Recht weniger beachtenswürdig? Muß seine Person nicht mindestens denselben Schutz genießen? D a nun die Privilegierten diese einfachen Grundbegriffe verwirren, reden sie unaufhörlich von der Notwendigkeit einer Unterordnung, die mit derjenigen, die uns der Regierung und dem Gesetz unterwirft, nichts zu tun hat. Wenn der Militärgeist [esprit militaire] bürgerliche Verhältnisse beurteilen will, sieht er eine Nation eben nur als große Kaserne. Hat man doch kürzlich in einer Broschüre einen Vergleich anzustellen gewagt zwischen Soldaten und Offizieren einerseits und Privilegierten und Nichtprivilegierten andererseits! Würdet ihr den Mönchsgeist um Rat fragen, der so viel Gemeinsames mit dem Militärgeist hat, so würde auch er behaupten, daß es in einer Nation erst dann Ordnung gebe, wenn man sie jener Menge von Einzelbestimmungen unterworfen habe, mit denen er selbst seine zahlreichen Opfer beherrscht. Unter einem weniger entwerteten Namen besitzt der Mönchsgeist bei uns noch mehr Gunst, als man meint. Sagen wir es frei heraus: dergleichen engstirnige und erbärmliche Ansichten kann es nur bei Leuten geben, die von den wahren Beziehungen und Bindungen der Menschen im Gesellschaftszustand* keine Ahnung haben. Jeder beliebige Bürger, der nicht Beauftragter der Obrigkeit* ist, kann sich hier völlig frei der Verbesserung seines Schicksals und dem Genuß seiner Rechte widmen, ohne die Rechte des andern zu verletzen, das heißt gegen Gesetze zu verstoßen. Alle Beziehungen von Bürger zu Bürger sind frei. Der eine gibt seine Zeit oder seine Ware, der andre gibt dafür sein Geld; hier gibt es keine Unterordnung, sondern nur dauernden Tausch . . ,8 Wenn dagegen ihr mit eurer beschränkten Politik 8 Zum besseren Verständnis halte ich es für wichtig, die beiden Rangordnungen, von denen wir eben sprachen, durch die Bezeichnungen wahre und falsche Rangordnung zu unterscheiden. Der Stufenunterschied zwischen den Regierenden und dem Gehorsam der Regierten gegenüber den verschiedenen gesetzlichen Gewalten bildet die wahre Rangordnung, die in jeder Gesellschaft nötig ist. Diejenige der Regierten untereinander aber ist eine falsche Rangordnung, ein unnützer, verhaßter und unförmiger Uberrest mittelalterlicher Sitten. D e r Vorrang eines Teils der Regierten wäre nur denkbar, wenn man annähme, daß bewaffnetes Kriegsvolk ein Land besetzt, sich zu seinem Eigentümer gemacht und zur gemeinschaftlichen Verteidigung die gewohnten Verhältnisse der militärischen Disziplin beibehalten hätte. In diesem Fall wäre die Zivilregierung verschwunden: es gäbe kein Volk mehr, sondern eine Armee. Bei uns dagegen sind die verschiedenen Teile der öffentlichen Gewalt· 1 selbständig und einschließlich ihrer gewaltigen Streitkraft so eingerichtet, daß sie vom einfachen Bürger nichts verlangen als eine Abgabe zur Bestreitung der Staatsausgaben. Man täusche sich doch nicht darüber, daß die Privilegierten bei allem Gerede von Unterordnung, Abhängigkeit usw., die sie so lautstark für sich in Anspruch nehmen, keineswegs vom Interesse der wahren Unterordnung geleitet werden, sondern nur die
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eine Gruppe* von Bürgern auszeichnet und zwischen Regierung und Bevölkerung schiebt, so wird diese Gruppe entweder an den Geschäften der Regierung beteiligt — und dann ist sie nicht die privilegierte Klasse*, von der wir reden — oder aber sie erhält keinen Anteil an den wesentlichen Aufgaben der öffentlichen Gewalt* — und dann sage man mir einmal, was eine solche Zwischenkörperschaft anderes sein kann als ein schädlicher Fremdkörper, der die unmittelbaren Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten unterbricht, die treibende Kraft der Staatsmaschine lähmt oder zu dem wird, was ihn vor allem vor der großen Bürgerschaft* auszeichnet: eine zusätzliche Last für die Gemeinschaft. Jede Gruppe von Bürgern hat ihre Aufgaben, ihre besondere Art von Arbeit, und das alles macht die allgemeine Tätigkeit der Gesellschaft aus. Sucht eine Gruppe sich diesem allgemeinen Gesetz zu entziehen, so gibt sie sich begreiflicherweise nicht damit zufrieden, daß sie nutzlos ist, sondern muß den anderen auch noch unbedingt zur Last fallen. Was sind die beiden großen Schwungräder der Gesellschaft? Geld und Ehre. Weil man das eine wie das andre braucht, hat die Gesellschaft Bestand, und in einer Nation, wo man die Bedeutung der guten Sitten kennt, darf sich keins dieser Bedürfnisse allein bemerkbar machen. Denn das Streben nach verdientem öffentlichem Ansehen — und das gibt es für jeden Beruf — ist eine notwendige Bremse der Sucht nach Reichtum. Wir wollen nun sehen, wie sich diese beiden Gefühlskräfte bei der Privilegiertenklasse verändern. Zunächst die Ehre; sie ist ihr zugesichert, sie ist ihr festes Erbteil. Daß die Ehre für die übrigen Bürger die Belohnung für ihr Betragen ist, das ist einem recht. Für die Privilegierten aber genügt es schon, nur geboren zu sein. Ein Verlangen, Ehre zu erwerben, haben sie nicht nötig, und so können sie im voraus auf alles verzichten, was ihren Erwerb rechtfertigen könnte. 9 falsche Rangordnung betreiben, die sie auf den Trümmern der wahren Rangordnung errichten möchten! Hört doch, in welchem Ton sie von den gewöhnlichen Beamten der Regierung reden; seht doch, mit welcher Verachtung ein guter Privilegierter sie behandeln zu müssen glaubt. Was anderes sehen sie denn in einem Lieutenant-de-Police' : als einen Mann von geringer oder keiner Bedeutung, der dazu da ist, dem Volke Angst zu machen, nicht aber sich in alles einzumischen, was die Leute von Stande angeht? Dies Beispiel ist jedermann vertraut. Man sage einmal ehrlich, ob es einen einzigen Privilegierten gibt, der meint, dem Lieutenant-de-Police untergeordnet zu sein! Und wie betrachten sie erst die anderen Beauftragten der einzelnen Bereiche der öffentlichen Gewalt, die militärischen Befehlshaber allein ausgenommen! ist es denn so selten, daß man sie sagen hört: »Ich bin nicht dazu gemacht, mich dem Minister unterzuordnen; ja, wenn der König mir die Ehre einiger Befehle gewährte . . .« Doch ich überlasse diesen Gegenstand der Vorstellungskraft oder besser der Erfahrung des Lesers. Indessen war der Hinweis angebracht, daß die eigentlichen Feinde der Unterordnung und der wahren Rangordnung gerade diejenigen sind, die so inbrunstig die Unterwerfung unter die falsche Rangordnung predigen. 9 Man muß beachten, daß wir die Ehre hier nicht mit der Ehrensache [point d'honneur] verwechseln, durch welche man sie zu ersetzen meint.
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Was freilich das Geld betrifft, so müssen die Privilegierten seine Notwendigkeit sehr lebhaft spüren. Ja, sie laufen um so mehr Gefahr, sich den Einflüsterungen dieser leidenschaftlichen Sucht hinzugeben, als das Vorurteil ihres Vorrangs sie ständig zur Ubersteigerung ihrer Ausgaben reizt, und sie nicht wie die andern den Verlust aller Ehre und allen Ansehens zu befürchten haben, wenn sie sich dieser Sucht überlassen. Doch welch paradoxer Widerspruch: während das Standesvorurteil den Privilegierten einerseits dazu treibt, sein Vermögen zu zerrütten, verbietet es ihm zugleich andrerseits fast alle ehrenhaften Wege, es wiederherzustellen. Welches Mittel bleibt also den Privilegierten, diese Geldsucht zu befriedigen, die sie notwendig mehr beherrscht als die andern? Nur Hinterlist und Bettelei. Hinterlist und Bettelei werden geradezu das SpeziaX-Gewerbe dieser Gruppe von Bürgern; ja, es scheint, als würden sie durch diese beiden Gewerbe gewissermaßen ihren Beitrag zur Gesamtleistung der Gesellschaft leisten. D a sie sich nur diesem Beruf widmen, leisten sie hier Hervorragendes; so könnt ihr euch darauf verlassen, daß sie sich überall, wo ihre Doppelbegabung mit Erfolg anwendbar ist, dermaßen festsetzen, daß sie jede Konkurrenz seitens der Nichtprivilegierten verdrängen. Sie werden sich bei Hofe einnisten, sie werden die Minister umlagern, sie werden sich aller Begünstigungen, aller Pensionen, aller Pfründen bemächtigen. Ihre Hinterlist wirft begehrliche Besitzerblicke auf Kirche, Talaradel* [Robe] und Schwertadel"" [Epee] zugleich. Kaum erspäht sie ein ansehnliches Einkommen oder eine Amtsgewalt, die zu ihm führt und mit einer Unmasse von Stellen verknüpft ist, so erreicht sie auch schon, daß man diese Ämter als bloße Geldpfründen betrachtet, die nicht dazu da sind, daß fähige Leute bestimmte Aufgaben erfüllen, sondern daß privilegierten Familien ein standesgemäßes Auskommen gesichert ist. Doch diese wendigen Menschen verlassen sich nicht auf ihre Überlegenheit in der Kunst zu intrigieren; da sie fürchten, daß das Ministerium in Augenblicken ihrer Abwesenheit doch einmal von der Liebe zum Gemeinwohl verführt werden könnte, werden sie gelegentlich die Dummheit und den Verrat einiger Verwaltungsbeamter ausnützen; schließlich werden sie sich ihr Monopol durch förmliche Gesetze oder durch eine Verwaltungsorganisation bestätigen lassen, die einem ausschließenden Gesetz gleichkommt. So liefert man den Staat gerade den Kräften aus, die jede Volkswirtschaft am meisten zerstören. Mag diese noch so sehr vorschreiben, in jedem Fall den geeignetsten und billigsten Dienern den Vorzug zu geben; das Monopol wird dennoch darauf bestehen, die teuersten und notwendigerweise ungeeignetsten zu wählen, denn das Monopol hat ja immer eine Lähmung des Schwungs derer zur Folge, die im freien Wettbewerb ihre Fähigkeiten hätten beweisen können.
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Die privilegierte Bettelei hat für das Gemeinwesen"" weniger üble Folgen. Sie ist ein gefräßiges Schmarotzerglied, das möglichst viel Lebenssaft in sich hineinschlingt, aber sie erhebt wenigstens nicht den Anspruch, an die Stelle der nützlichen Glieder zu treten. Wie jede andere Bettelei besteht sie darin, mitleiderregend die offene Hand hinzustrecken und umsonst etwas zu erhalten; nur ist ihre Haltung weniger demütig, und wenn es sein muß, scheint sie weniger eine Hilfe zu erflehen als eine Pflicht vorzuschreiben. Der öffentlichen Meinung"' genügte es übrigens bereits, daß die Hinterlist und Bettelei, um die es sich hier handelt, ein besonderes Kennzeichen der Privilegiertenklasse sind, um sie ehrenwert zu finden und zu verehren. Hat sich doch ein jeder lautstark des Erfolgs in diesen Künsten gerühmt, die Neid und Nacheifern, aber niemals Verachtung wecken. Diese Art von Bettelei betreibt man hauptsächlich bei Hofe, wo die Mächtigsten und Reichsten den größten Vorteil daraus ziehen. Dies Beispiel wirkt von hier bis in den hintersten Winkel der Provinzen und reizt überall den ehrenwerten Anspruch, müßig auf Kosten der Öffentlichkeit zu leben. Es ist zwar durchaus so, daß der Privilegiertenstand längst schon der unvergleichlich reichste Stand des Königreichs ist, und daß fast alle Ländereien und großen Vermögen allein den Mitgliedern dieser Gruppe gehören; aber ihrer Verschwendungssucht und ihrer Neigung zum Ruin ist kein Reichtum gewachsen, und so muß es schließlich arme Privilegierte geben. Kaum hört man jedoch, wie sich das Wort arm mit dem Wort Privilegierter verbindet, so erhebt sich von allen Seiten ein Aufschrei der Empörung. Denn ein Privilegierter, der außerstande ist, seinen Namen und seinen Rang zu wahren, das ist eine Schande für die Nation! Dieser Unordnung im Staate ist schleunigst abzuhelfen; und wenn man deswegen auch nicht ausdrücklich eine Abgabenerhöhung fordert, so ist es doch klar, daß hier der eigentliche Grund für die Verwendung der öffentlichen Gelder zu suchen ist. Nicht umsonst besteht die Staatsverwaltung aus Privilegierten. Mit väterlicher Fürsorge wacht sie über ihrer aller Interesse. Da gibt es prunkvolle und, wie man meint, in ganz Europa gerühmte Einrichtungen zur Erziehung der armen Privilegierten beiderlei Geschlechts. Vergeblich würde der Zufall mehr Einsicht beweisen als eure Institutionen und versuchen, die, welche es nötig haben, zu dem gemeinsamen Gesetz zurückzuführen, daß man für seinen Unterhalt arbeiten muß: ihr würdet diese Rückkehr zur guten Ordnung ja doch nur als ein Verbrechen des Schicksals betrachten; und ihr hütet euch wohl, eure Zöglinge zu einem arbeitsamen Beruf zu erziehen, der seinen Mann ernährt. Ja, eure vortreffliche Absicht geht so weit, ihnen sogar eine Art Stolz darauf einzublasen, daß sie der Öffentlichkeit schon in so jungen Jahren
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auf der Tasche gelegen haben — gerade so, als könne es jemals rühmlicher sein, Almosen zu empfangen, als sie nicht nötig zu haben. Und nur weil sie jenen ersten Beweis eurer Fürsorge erfahren haben, belohnt ihr sie auch noch mit finanziellen Hilfen, Pensionen und Ordensbändern. Kaum der Kindheit entwachsen besitzen die jungen Privilegierten bereits Rang und Einkünfte — und doch wagt man noch deren geringe Höhe zu beklagen! Aber seht doch, wie die gleichaltrigen Nichtprivilegierten einen Beruf ergreifen, der Begabung und Ausbildung erfordert; überzeugt euch doch, ob von diesen auch nur ein einziger trotz wirklich mühsamer Arbeit seinen Eltern nicht noch lange große Kosten verursacht, bevor er die ungewisse Möglichkeit erhält, dank langer Anstrengungen seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Den Privilegierten stehen auf Wunsch alle Türen offen. Sie brauchen sich nur zu zeigen, und schon setzt jedermann seine Ehre darein, für ihr Fortkommen zu sorgen. Mit Eifer nimmt man sich ihrer Angelegenheiten, ihres Glücks an. Selbst der Staat, j a die Stimme des Gemeinwesens* hat sich schon tausendmal heimlich an ihren Familienabmachungen beteiligt. Auch in private Heiratsverhandlungen hat man den Staat hineingezogen. Die öffentliche Verwaltung bot ihre Hand zur Schaffung neuer Stellen, zu höchst nachteiligen Tauschgeschäften oder sogar zu Erwerbungen, deren Kosten die Staatskasse tragen mußte, usw. usw. Diejenigen Privilegierten, denen die hohen Gunstbezeugungen nicht zugänglich sind, finden woanders reichliche Einnahmequellen. Eine Unmenge von Domkapiteln für Männer oder Frauen, zwecklose oder einem ungerechten und gefährlichen Zweck dienende Militärorden bieten ihnen jederzeit Pfründen, Komtureien, Pensionen und Auszeichnungen. Und als reichte die Verirrung unserer Väter noch nicht aus, ist man seit einigen Jahren [a] mit neuem Eifer beschäftigt, die Zahl dieser glän[a] Sieyes spielt hier an auf den berühmten Erlaß des Kriegsministers Segur vom 22. Mai 1781, der von allen Bewerbern um Offiziersstellen den Nachweis von vier Generationen adeliger Abstammung väterlicherseits verlangte, ein Nachweis, den der Hofgenealoge Cherin zu prüfen hatte. Vgl. Reglement portant que nul tie pourra etre propose α des sous-lieutenances s'il ne fait preuve de quatre generations de noblesse; ergänzt durch Memoire sur la forme des prenves necessaires pour etre re(u sous-lieutenant dans les regiments d'infanterie franfaise, de cavalerie, de chevaux-legers, de dragons et des chasseurs ä cheval; beides abgedr. in: Recueil general des anciennes lois franchises de 420 ä 1789 . . . par MM. Jourdan, Decrusy et Francois Isambert, Nr. 1500 u. 1501, Bd. 27 (Paris 1 827), S. 2 9 - 3 1 . Die Interpretation dieser Texte war lange umstritten. Hatte man in dem Erlaß zunächst — wie Sieyes — eine Abwehrreaktion des Militäradels gegen den sozialen Aufstieg des Bürgertums gesehen, so haben neuere Forschungen ergeben, daß schon seit Mitte des 18. Jh. kaum noch Offizicrsstellen an Bürgerliche fielen. Der Erlaß thematisierte vielmehr einen Konflikt innerhalb des Adels selbst: er richtete sich vor allem gegen den Neuadel, der den oft verarmten alten Adel aus den letzten ihm verbliebenen Berufsposi-
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zenden Besoldungen des Müßiggangs weiter zu vermehren. 1 0 Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß die privilegierte Bettelei die kleinen Gelegenheiten oder kleinen Einnahmequellen verschmähte. Werden doch die für die königlichen Almosen bestimmten Gelder zum großen Teil von ihr aufgesaugt; und um sich im Stand der Privilegierten arm nennen zu können, ist kein Mangel an Lebensunterhalt nötig, sondern es genügt bereits, wenn die Eitelkeit leidet. Und zur Befriedigung dieser Eitelkeit gibt man alle Bürgerklassen der wirklichen Armut preis. Man braucht nur etwas in die Geschichte zurückzugehen, um zu sehen, daß die Privilegierten es von jeher gewohnt sind, alles zu rauben und sich anzueignen, was ihnen behagt. Da sie bei Raub und Gewalttätigkeiten der Straflosigkeit gewiß waren, konnten sie allerdings zunächst auf Betteln verzichten; die privilegierte Bettelei konnte so erst mit den ersten Anfängen gesellschaftlicher O r d n u n g beginnen, was ihren großen Unterschied zum Betteln des Volkes beweist. Letzteres verbreitet sich in dem Maße, wie die Regierung schlechter wird, ersteres tritt in dem Maße auf, wie die Regierung besser wird. Bei einigen weiteren Fortschritten wird sie diese beiden Krankheiten der Gesellschaft heilen, doch sicherlich nicht dadurch, daß sie ihnen N a h r u n g gibt, und schon gar nicht durch Ehrungen für die unverzeihlichste von beiden. Man muß schon zugeben, daß eine ungewöhnliche Geschicklichkeit dazu gehört, sich durch Erregung von Mitleid zu erschleichen, was man den Armen nicht mehr durch Gewalt entreißen kann, und so bald die Kühnheit des Unterdrückers, bald die Empfindsamkeit des Unterdrückten auszunützen. Die Privilegiertenklasse hat es verstanden, sich in dieser Hinsicht auf beiderlei Weise auszuzeichnen. Von dem Augenblick an, in dem die gewaltsame Aneignung nicht mehr gelang, ließ sie keine Gelegenheit vorbeigehen, sich der Freigebigkeit des Königs und der Nation zu empfehlen.
tionen zu verdrängen drohte. — Vgl. William Doyle, Was there an Aristocratic Reaction in Pre-Revolutionary France?, in: Past and Present N r . 5 7 ( 1 9 7 2 ) , S. 9 7 - 1 2 2 , hier S. H i l l 3; vor allem aber David D. Bien, La Reaction aristocratique avant 1789: l'exemple de l'armee, in: Annales E.S.C. 29 (1974) S. 2 3 - 4 8 und 505-534. [Anm. d. Übers.] 10 Im Verhalten der Regierung zeigt sich ein seltsamer Widerspruch. Auf dereinen Seite zieht sie mit äußerster Heftigkeit gegen die Kirchengüter zu Felde, die dem Gottesdienst gewidmet sind und der Staatskasse zumindest die Bezahlung dieser öffentlichen Amter ersparen, auf der anderen Seite sucht sie möglichst viele dieser und noch andere Güter der Privilegiertenklasse zuzuschanzen, die gar keine öffentlichen Aufgaben wahrnimmt. Ist es schon aufschlußreich, die Liste der Domkapitel zu lesen, die neu geschaffen oder zum Vorteil der Privilegierten zweckentfremdet worden sind, so ist es noch viel aufschlußreicher, die geheimen Beweggründe zu kennen, die sie veranlaßt haben, so schamlos gegen den wahren Geist der kirchlichen Stiftungen zu verstoßen, welche — wenn überhaupt — allein für einen w a h r h a f t nationalen Zweck und allein durch die N a t i o n selbst eine andere Bestimmung erhalten dürfen.
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Versuch über die Privilegien
Die Beschwerdehefte* der alten Generalstände und die der alten Notabelnversammlungen* sind voll von Bitten zugunsten der armen Privilegiertenklasse,11 Die Pays-d'Etats :; ' befassen sich seit langem und immer wieder mit neuem Eifer mit allem, was die Zahl der Pensionen, die sie der armen Privilegiertenklasse zugeteilt haben, noch vermehren kann. Die Provinzialverwaltungen eifern diesem edlen Vorbild bereits nach; und da die drei Stände immer noch nur aus Privilegierten bestehen, so nehmen auch sie alle Vorschläge zur Unterstützung der armen Privilegiertenklasse mit ehrerbietiger Zustimmung auf. Die Intendanten* haben sich zu diesem Zweck besondere Fonds zugelegt; es ist für sie ein Mittel zum Erfolg, wenn sie am traurigen Los der armen Privilegiertenklasse lebhaften Anteil nehmen. Sogar in Büchern, von der Kanzel, in Akademiereden, im geselligen Gespräch, kurz überall wollt ihr sogleich alle eure Zuhörer für euch einnehmen, und so redet man von nichts anderem mehr als nur von der armen Privilegiertenklasse. Und wenn ich diese allgemeine Gesinnungsrichtung betrachte, wenn ich bedenke, welche Unzahl von Mitteln sich der Aberglaube, dem nichts unmöglich ist, schon zunutze gemacht hat, um den armen Privilegierten zu helfen, dann kann ich mir wirklich nicht erklären, warum man nicht an den Kirchentüren — sofern es das nicht schon gibt — auch noch einen Opferstock für die arme Privilegiertenklasse aufgestellt hat. 1 2 Man muß hier noch eine Art von Handel erwähnen, die für die Privilegierten eine unerschöpfliche Quelle des Reichtums ist. Sie beruht einerseits auf der abergläubischen Verehrung für Namen, andererseits auf einer Geldgier, die noch mächtiger ist als der Dünkel. Ich meine das, was man Mißheiraten [Mesalliances] 13 zu nennen wagt, ohne daß dieser Ausdruck die törichten Bürger davon abhielte, für ihre Beschimpfung teuer zu bezahlen. Sobald jemand vom Stand der gewöhnlichen Leute* [ordre commun] durch Arbeit und Fleiß ein beneidenswertes Vermögen erworben hat, sobald die Beamten des Fiskus durch einfache Mittel erreicht haben, Rücklagen anzusammeln, so trachten die Privilegierten auch schon nach all diesen Reichtümern. Man hat den Eindruck, als sei unsere Nation
11 Jetzt, da die Grundsätze der allgemeinen Gerechtigkeit verbreiteter sind und die Bailliage -Versammlungen so wichtige Dinge zu verhandeln haben, kann man wohl hoffen, daß diese Versammlungen ihre Beschwerdehefte nicht mit etwas besudeln werden, was früher ein Bettlerlied heißen konnte. 12 Ich bin durchaus darauf gefaßt, d a ß man finden wird, diese Stelle sei geschmacklos [de mauvais ton]! Das muß so sein, denn die Verbannung zutreffender, oft sogar kraftvoller Ausdrücke unter diesem Vorwand ist ein weiteres Vorrecht der Privilegierten. 13 Man sollte, sei es auch n u r wegen der Klarheit des Sprachgebrauchs, durchaus ein anderes Wort verwenden, um zu bezeichnen, wie jemand bei den reichen Gaben der Torheit die offene H a n d hinhält; man brauchte nämlich ein Wort, das zugleich deutlich machte, auf welcher Seite die Mißheirat zu suchen ist.
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dazu verurteilt, unaufhörlich für die Privilegiertenklasse zu arbeiten und sich für sie ins Elend zu stürzen. Landwirtschaft, Handwerksbetriebe' 1 " [fabriques], Handel, Künste, sie alle fordern einen Teil des durch sie selbst gebildeten ungeheuren K a p i tals, um ihre Ausgaben zu bestreiten, um sich zu erweitern, und für die öffentliche W o h l f a h r t - vergeblich: die Privilegierten verschlingen sowohl das K a p i t a l als auch die Personen; alles ist unwiderbringlich dem sterilen Privilegienwesen [sterilite privilegiee] preisgegeben. 1 4 Das T h e m a der Privilegien ist ebenso unerschöpflich wie die Vorurteile"", die sich zu ihrer Aufrechterhaltung verschworen haben. Doch beschäftigen wir uns nicht länger mit diesem Gegenstand und ersparen wir uns weitere naheliegende Überlegungen. Es wird eine Zeit k o m m e n , in der unsere Enkel beim Lesen unserer Geschichte betroffen und empört innehalten und den gar nicht mehr vorstellbaren Wahnsinn so bezeichnen werden, wie er es verdient. In unserer Jugend haben wir erlebt, wie sich Schriftsteller [hommes de Lettres] beim K a m p f gegen ebenso mächtige und für die Menschheit verderbliche Vorurteile durch Mut ausgezeichnet haben. Heute fällt ihren Nachfolgern nichts anderes ein, als in ihren Reden und Schriften veraltete Beweisführungen gegen Vorurteile zu wiederholen, die es gar nicht mehr gibt. D a s Vorurteil aber, welches die Privilegierten unterstützt, ist das verderblichste, das die Erde jemals heimgesucht hat: es hat sich aufs engste mit dem Gesellschaftsgefüge verflochten und es zutiefst korrumpiert; viele Interessen widmen sich seiner Verteidigung. W a h r l i c h Gründe genug, den Eifer der wahren Patrioten"' zu entflammen, den unserer zeitgenössischen Schriftsteller aber abzukühlen.
14 Wenn, wie man gesagt hat, die Ehre das Prinzip der Monarchie ist, so muß man wenigstens zugeben, daß Frankreich lange Zeit hindurch schreckliche Opfer gebracht hat, um sich im Prinzip zu stärken. [Anspielung auf Montesquieu, De ΐEsprit des lots (1748), Buch in, Kap. 7. Sieyes steht mit dieser revolutionären Kritik an Montesquieus konservativem Standpunkt nicht allein; vgl. Philippe Antoine Grouvelle, De l'autorite de Montesquieu dans la revolution presente, ο. Ο . 1789 - Anm. d. Ubers.]
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A n m e r k u n g zu Seite 1 6
A u s z u g aus den Verhandlungsprotokollen des Adels bei den Ständen v o n 1 6 1 4 , Seite 1 1 3 [ a ]
Dienstag, den 25. November: »und nach der Audienz wandte sich Herr von Senecey 1 mit folgenden Worten an den König: SIRE! Die Güte unserer Könige hat dem Adel von jeher die Freiheit zugestanden, sich bei allen Gelegenheiten an sie zu wenden, denn da er ihrer Person durch seinen vortrefflichen Rang nahesteht, ist er stets der vornehmste Vollstrecker des königlichen Willens gewesen. Niemals könnte ich Ε. M. alles anführen, was uns das Altertum über den diesem Stande durch Geburt verliehenen Vorrang berichtet, der den Adel so sehr vom ganzen übrigen Volke unterscheidet, daß er nie irgendeinen Vergleich mit diesem geduldet hat. Hierüber, SIRE, könnte ich mich in dieser Rede verbreiten; doch eine so offensichtliche Wahrheit bedarf keiner zuverlässigeren Bestätigung, als daß jedermann weiß . . .; und dann rede ich ja vor dem König; wir hoffen, daß er ebenso eifersüchtig darüber wacht, uns in dem zu erhalten, worin wir an seinem Glänze teilhaben, wie wir darauf bedacht sein werden, dies von ihm zu fordern und zu erflehen, obwohl wir betrübt darüber sind, daß wir unseren Mund hier wegen einer außerordentlichen Neuerung eher zu Beschwerden als zu untertänigsten Bitten — wozu man uns eigentlich versammelt hat — auftun müssen. S I R E , Eurer Majestät hat es gefallen, die Generalstände der drei Stände des Königreiches einzuberufen, Stände, die sich nach Aufgaben und Rang deutlich voneinander unterscheiden. Die Geistlichkeit, die sich dem Dienste Gottes und dem Seelenbereich widmet, nimmt den ersten Rang ein; und so ehren wir die Prälaten und Pfarrer als unsere Väter und als Mittler unsrer Versöhnung mit Gott. Der Adel, S I R E , nimmt den zweiten Rang ein. Er ist der rechte Arm Ihrer Gerechtigkeit, die Stütze Ihrer Krone, die unbezwingliche Stärke des Staates. Mit dem Opfer seines Blutes und mit Hilfe seiner siegreichen Waffen [ a ] Zur Authentizität des folgenden Auszugs vgl. ausfuhrliche Zitate und Interpretation bei Georges Picot, Histoire des Etats generaux, 2. ed., Paris 1888, T. 4, S. 193 f. [Anm. d. Ubers.] 1 H e r r [Henri de Beaufremont] Baron von Senecey war Präsident des Adels.
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hat er unter glücklichem Schirm und tapferer Führung der Könige die öffentliche Ruhe hergestellt, dank seiner Mühe und Anstrengungen genießt nun der Dritte Stand alle Annehmlichkeiten, die der Friede bringt. Dieser Dritte Stand, SIRE, der in dieser Versammlung den dritten Rang einnimmt, besteht aus dem Volk [Peuple] der Städte wie des Landes, welches letztere zumeist der Lehenshoheit und Gerichtsbarkeit der beiden ersten Stände untersteht; in den Städten handelt es sich um Bürgen' [Bourgeois], Kaufleute, Handwerker und einige Beamte. Diese sind es, die ihren Stand verkennen und sich allen gleichstellen wollen, indem sie ohne Zustimmung derer, die sie vertreten, jegliche Pflicht vergessen. SIRE, ich schäme mich, Ihnen die Ausdrücke zu nennen, mit denen sie uns wieder beleidigt haben. Sie vergleichen Ihren Staat mit einer Familie von drei Brüdern, [ a ] Die Geistlichkeit, sagen sie, sei der Älteste, unser Stand der Zweitgeborene, und sie seien die Jüngsten.2 Zu welch erbärmlichem Zustand sind wir herabgesunken, wenn diese Äußerung zutrifft! Wozu hätte der Adel dann seit unvordenklichen Zeiten so viele Dienste geleistet, wozu hätte er sich durch Mühen und Treue so viele erbliche Ehren und Würden erworben, wenn diese ihn angeblich nicht erheben, sondern so erniedrigen, daß er sich mit dem gemeinen Volke [le vulgaire] in der engsten Gemeinschaft befindet, die es zwischen den Menschen gibt, nämlich der Brüderschaft? Und nicht genug damit, daß sie sich Brüder nennen — sie maßen sich sogar die Wiederherstellung des Staates an, zu dem sie doch, wie Frankreich zur Genüge weiß, in keinerlei Weise beigetragen haben, zumal jedermann weiß, daß sie sich mit uns überhaupt nicht vergleichen können und daß ein so unbegründetes Unterfangen ganz unerträglich wäre. Entscheiden Sie, SIRE, und veranlassen Sie durch eine Erklärung voll Gerechtigkeit, daß sie zu ihren Pflichten angehalten werden und anerkennen, was wir sind und welcher Unterschied zwischen ihnen und uns besteht. Darum bitten wir Eure Majestät untertänigst im Namen des ganzen Adels von Frankreich, denn dieser hat uns hierher abgeordnet, [ a ] So der Präsident de Mesmes im Namen des Dritten Standes am 2 4 . November 1614. [Anm. d. Ubers.] 2 Für diese Beleidigung fordert der Adel Rache. Den Tag zuvor hatte der Stellvertreter des Oberrichters von Paris [de Mesmes, Anm. d. Übers.] an der Spitze einer Abordnung des Dritten Standes sich unterfangen zu sagen: »Behandelt uns wie eure jüngsten Brüder, und wir werden euch ehren und lieben.« Man muß diese ganzen Schikanen im Protokoll selbst nachlesen, angefangen mit der Rede des Präsidenten Savaron, die den Vorwand dazu lieferte. [Gemeint it die berühmte Rede über das Volkselend, die der Sprecher des Dritten Standes am 17. November im Louvre an den König richtete. Vgl. Picot, a a O . , I V 189 f. - Anm. d. Ubers.] In der Erwiderung des Barons von Senecey an die Abordnung des Dritten Standes vom 2 4 . November wird man noch beleidigendere Ausdrücke finden als die, mit denen die Rede an den König gespickt ist.
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damit ihm sein Vorrang erhalten bleibt und er wie von jeher so auch weiterhin seine Ehre und sein Leben im Dienste Eurer Majestät darbringen kann.« »Ecquid sentitis in quanto contemptu vivatis? Lucis vobis hujus partem, si liceat, adimant. Quod spiratis, quod vocem mittitis, quod formas hominum habetis indignantur.« Liv. lib. 4, c. j 6. ENDE
Was ist der dritte Stand? (i)
( 1 ) Dieses W e r k , w ä h r e n d der N o t a b e l n v e r s a m m lung von 1 7 8 8 verfaßt, ist in den ersten T a g e n des J a n u a r 1 7 8 9 veröffentlicht worden. Es kann als Fortsetzung des Versuchs über die Privilegien dienen.
[Originaltitel: QU'EST-CE Q U E LE TIERS ETAT? - Die Übertragung folgt der dritten Auflage von 1789, die ihrerseits der kritischen Edition durch Roberto Zapperi zugrunde liegt {Qu'est-ce que le Tiers etat? Edition critique avec une introduction et des notes par Roberto Zapperi. Geneve 1970). Der kritische Apparat ist nicht übernommen worden. - Anm. d. Übers.]
»Solange der philosophe* die Grenzen der Wahrheit nicht überschreitet, klagt ihn nicht an, daß er zu weit gehe. Seine Aufgabe ist es, das Ziel zu bezeichnen; er muß also selbst dort angelangt sein. Wenn er unterwegs stehen bliebe und wagte, seine Markierung aufzurichten, könnte sie in die Irre führen. Die Pflicht des Administrators ist dagegen, seinen Gang nach der Natur der Schwierigkeiten einzurichten und abzustufen . .. Wenn der Philosoph nicht am Ziel ist, weiß er nicht, wo er ist; wenn der Administrator das Ziel nicht sieht, weiß er nicht, wohin er geht.«
Der Plan dieser Schrift ist ganz einfach. Wir haben uns drei Fragen vorzulegen. ι. Was ist der Dritte Stand ? A L L E S . 2. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? N I C H T S . 3. Was verlangt er? ETWAS Z U SEIN. Man wird sehen, ob die Antworten richtig sind. Bis dahin wäre es unrecht, wollte man Wahrheiten für übertrieben halten, für die man die Beweise noch nicht gesehen hat. Anschließend werden wir die Mittel prüfen, die man eingesetzt hat, und diejenigen, die man ergreifen muß, damit der Dritte Stand tatsächlich etwas werde. 4. Was zu seinen Gunsten die Minister versucht haben, und was ihrerseits die Privilegierten vorschlagen. 5. Was man hätte tun sollen. 6. Endlich, was dem Dritten Stand zu tun bleibt, um den Platz einzunehmen, der ihm gebührt.
Erstes Kapitel
Der Dritte Stand ist eine vollständige
Nation.
W a s ist für das Bestehen und Gedeihen einer N a t i o n erforderlich? Am Eigeninteresse ausgerichtete Arbeiten und öffentliche Funktionen. M a n kann alle am Eigeninteresse ausgerichteten Arbeiten in vier Klassen erfassen: 1. D i e Erde und das Wasser liefern das Roherzeugnis für die Bedürfnisse des Menschen: die erste Klasse in der Ideenordnung ist deshalb die, der alle Familien angehören, welche Feldarbeiten verrichten. 2. V o m ersten Verkauf der Roherzeugnisse bis zu ihrem Gebrauch oder Verbrauch verleiht neue Handarbeit, mehr oder weniger vervielfacht, diesen Roherzeugnissen einen weiteren Wert, der mehr oder weniger zusammengesetzt ist. So gelingt es dem menschlichen Fleiß, die schönen Erzeugnisse der N a t u r zu vervollkommnen und den Wert des Rohprodukts auf das Doppelte, Zehnfache, Hundertfache zu steigern. D e r a r t sind die Arbeiten der zweiten Klasse. 3. Zwischen der Erzeugung und dem Verbrauch wie auch zwischen den verschiedenen Stufen der Erzeugung haben eine Menge von Vermittlern ihren Platz, die ebenso für die Erzeuger wie für die Verbraucher von N u t z e n sind. D a s sind die H ä n d l e r und die Kaufleute: die Kaufleute, die unablässig die Bedürfnisse der verschiedenen Orte und Zeiten vergleichen und auf den G e w i n n aus A u f b e w a h r u n g und Transport spekulieren; die H ä n d l e r , die letzten Endes den Vertrieb, sei es im großen, sei es im kleinen, übernehmen. Diese A r t nützlicher Tätigkeit charakterisiert die dritte Klasse. 4. A u ß e r diesen drei Klassen arbeitsamer und nützlicher Bürger, die sich mit dem eigentlichen Gegenstand des Gebrauchs oder Verbrauchs beschäftigen, bedarf es in einer Gesellschaft noch einer Menge von am Eigeninteresse ausgerichteten Arbeiten und Besorgungen, die der Person unmittelbar nützlich oder angenehm sind. Diese vierte Klasse umfaßt die geachtetsten wissenschaftlichen und freien Berufe bis hinunter zu den am wenigsten geschätzten häuslichen Dienstleistungen. D e r a r t sind die Arbeiten, die die Gesellschaft aufrechterhalten. Wer trägt diese Arbeiten? D e r Dritte Stand. D i e öffentlichen Funktionen lassen sich bei den gegenwärtigen Verhältnissen in gleicher Weise allesamt unter vier bekannte Bezeichnungen staffeln: der Degen, die Robe, die Kirche und die Administration. Es wäre überflüssig, sie im einzelnen durchzugehen, um zu zeigen, daß der Dritte Stand hier überall neunzehn Zwanzigstel ausmacht, mit dem einen Unterschied, d a ß er mit allem, was wirklich mühsam ist, belastet ist, mit
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Was ist der Dritte Stand?
allen Diensten, die der privilegierte Stand sich weigert zu leisten. Die Mitglieder des privilegierten Standes nehmen nur die Stellen ein, die Gewinn und Ehre bringen. Sollen wir ihm dies als ein Verdienst anrechnen? In dem Fall müßte entweder der Dritte Stand sich weigern, diese Stellen zu besetzen, oder er müßte weniger imstande sein, die entsprechenden Obliegenheiten wahrzunehmen. Man weiß, wie es damit steht. Dennoch hat man gewagt, den Dritten Stand durch einen Vorbehalt vor den Kopf zu stoßen. Man hat ihm gesagt: »Einerlei, was deine Dienste, deine Begabungen sind, du gehst nur bis hierher und keinen Schritt weiter. Es ist nicht gut, daß du geehrt werdest.« Einige seltene Ausnahmen, die so empfunden werden, wie sie empfunden werden müssen, sind nur ein Spott, und die Sprache, die man sich bei diesen Gelegenheiten erlaubt, ist eine zusätzliche Beschimpfung. Wenn dieser Ausschluß ein gesellschaftliches Verbrechen gegen den Dritten Stand ist, wenn er eine offene Feindseligkeit darstellt, kann man dann wenigstens sagen, er sei für die öffentliche Sache von Nutzen? N u n ! Kennt man denn nicht die Wirkungen des Monopols? Weiß man nicht, daß es die einen, die es beiseite schiebt, entmutigt, und die anderen, die es begünstigt, untüchtig macht? Weiß man nicht, daß jede Arbeit, die man vom freien Wettbewerb abschirmt, nur teurer und schlechter ausgeführt wird? Wenn man irgendeine Funktion dazu bestimmt, einem besonderen Stand unter den Bürgern als Apanage* zu dienen, hat man da beachtet, daß man nicht nur den Mann, der arbeitet, besolden muß, sondern auch alle Angehörigen derselben Kaste, die nicht angestellt sind, ja auch die ganzen Familien derer, die angestellt sind und die es nicht sind? H a t man bemerkt, daß, sobald die Regierung zur erblichen Beute einer besonderen Klasse"' wird, sie sich bald über alle Maßen aufbläht, und daß dabei Stellen geschaffen werden nicht f ü r das Bedürfnis der Regierten, sondern f ü r das der Regierenden usw. usw.? H a t man beachtet, daß uns diese O r d n u n g der Dinge, vor der man bei uns einen kriechenden und ich wage zu sagen, viehdummen Respekt hat, verächtlich, abscheulich, aller handwerklichen Regsamkeit abträglich, den gesellschaftlichen Fortschritten völlig zuwider, besonders erniedrigend f ü r das menschliche Geschlecht im allgemeinen und unerträglich für Europäer im besonderen vorkommt, wenn wir etwa in der Geschichte des alten Ägypten und in den Reiseberichten über die beiden Indien davon lesen usw. usw.? 2 Aber wir müssen Betrachtungen beiseite lassen, die vielleicht die Frage ausweiten und neues Licht auf sie werfen könnten, doch unseren Gang hemmen würden. 3 2 Vgl. über die indischen Kasten die Histoire philosophique et politique des deux Indes, Buch I [Es handelt sich um das W e r k des Abbe Raynal. Hier ist Bezug genommen auf Bd. I, Buch I, Kap. 4, S. 37 der H a a g e r Ausgabe 1774. Anm. d. Ubers.]. 3 Man erlaube uns nur, darauf hinzuweisen, wie vollkommen unsinnig es ist, wenn man einerseits großartig erklärt, die N a t i o n sei nicht f ü r ihr O b e r h a u p t gemacht, und andererseits will, sie solle f ü r die Aristokraten* gemacht sein.
1. Der Dritte Stand ist eine vollständige Nation
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Es genügt hier der Hinweis, daß der angebliche Nutzen eines privilegierten Standes für den öffentlichen Dienst nichts anderes als ein Hirngespinst ist; daß alles Mühsame, das es in diesem Dienst gibt, durch den Dritten Stand erledigt wird, und zwar ohne den privilegierten Stand; daß die höheren Stellen unendlich viel besser besetzt wären ohne ihn; daß sie naturgemäß die Bestimmung und die Belohnung der anerkannten Begabungen und Dienste sein müßten; und daß, wenn es den Privilegierten gelungen ist, alle Stellen, die Gewinn und Ehre bringen, an sich zu reißen, dies zugleich eine hassenswerte Ungerechtigkeit gegen die Allgemeinheit der Bürger und ein Verrat an der öffentlichen Sache ist. Wer wagte es also zu sagen, daß der Dritte Stand nicht alles in sich besitzt, was nötig ist, um eine vollständige Nation zu bilden? Er ist der starke und kraftvolle Mann, der an einem Arm noch angekettet ist. Wenn man den privilegierten Stand wegnähme, wäre die Nation nicht etwas weniger, sondern etwas mehr. Also, was ist der Dritte Stand? Alles, aber ein gefesseltes und unterdrücktes Alles. Was wäre er ohne den privilegierten Stand? Alles, aber ein freies und blühendes Alles. Nichts kann ohne ihn gehen; alles ginge unendlich besser ohne die anderen. Aber es genügt nicht, gezeigt zu haben, daß die Privilegierten, weit entfernt, ein Nutzen für die Nation zu sein, nur eine Schwächung und ein Schaden für sie sein können; vielmehr muß noch bewiesen werden, daß der adlige Stand4 sich nicht in die Gesellschaftsorganisation einfügt; daß er wohl eine Last für die Nation sein kann, nicht aber einen Teil von ihr zu bilden vermag. Zunächst ist es nicht möglich, die Kaste5 der Adligen unter den Grund4 Ich spreche nicht von der Geistlichkeit. Wenn ihr sie als eine mit einem öffentlichen Dienst beauftragte Körperschaft anseht, gehört sie zur Gesellschaftsorganisation, da jeder öffentliche Dienst ein Teil der Regierung ist. Wenn man freilich sagt, daß die Geistlichkeit eher ein Beruf als ein Stand sei, beklagen sich jene Geistlichen, die eigentlich ins 11. Jahrhundert gehören oder jene, die mit Berechnung ihnen gleichen wollen, daß man sie entwürdige; sie haben indessen unrecht. Gerade weil die Geistlichkeit ein Beruf ist, stellt sie etwas unter uns dar. Wenn sie nur ein Stand wäre, wäre sie nichts Wirkliches. J e mehr Fortschritte man in der moralischen und politischen Wissenschaft machen wird, desto mehr wird man sich überzeugen, daß es in einer Gesellschaft nichts als private Berufe und öffentliche Berufe gibt. Was nicht dazu gehört, sind entweder ungereimte Albernheiten oder gefährliche Hirngespinste oder schädliche Einrichtungen. Also, wenn ich die Meinung vertrete, daß die Geistlichkeit kein Stand sein darf, so heißt das nicht, daß ich sie wieder unterhalb des Adels einstufen will. Sie darf vielmehr deshalb keinen Stand bilden, weil es in einer Nation keine Unterscheidung nach Ständen geben darf. Wenn man in ihr dennoch welche zuließe, wäre es ohne Zweifel besser, dieses Privileg Männern zuzubilligen, die den Nachweis einer geistlichen Wahl erbrächten, als Leuten, die als Beleg für ihre Ansprüche nichts weiter anzubieten haben als einen Auszug aus ihren Taufpapieren. Schließlich kann man einen Mann ohne Begabung und Redlichkeit recht gut hindern, in die Geistlichkeit einzutreten; aber könnt ihr jemanden hindern, daß er geboren wird? 5 Das ist das richtige Wort. Es bezeichnet eine Klasse Menschen, die, ohne Funktion wie ohne Nutzen, bloß deswegen, weil sie existieren, die an ihre Person geknüpften Privilegien genießen. Unter diesem Gesichtspunkt, der der wahre ist, gibt es nur eine privilegierte Kaste, nämlich die des Adels. Er bildet wahrhaftig ein Volk für sich, aber kein echtes Volk,
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Was ist der Dritte Stand?
elementen der Nation irgendeine Stelle einzuräumen. Ich weiß, daß es viel zu viele Individuen gibt, die wegen Gebrechlichkeit, Unfähigkeit, unheilbarer Trägheit oder der Flut schlechter Sitten keinen Anteil an den Arbeiten der Gesellschaft haben. Die Ausnahme und der Mißbrauch stehen überall, und besonders in einem ausgedehnten Reich, neben der Regel. Aber man wird zugeben, daß der Staat um so eher als geordnet gilt, je weniger solcher Mißbräuche es gibt. Am schlechtesten von allen wäre derjenige Staat geordnet, in dem nicht nur vereinzelte Privatleute, sondern eine ganze Klasse* von Bürgern ihren Ruhm darin sähe, inmitten der allgemeinen Bewegung unbeweglich zu bleiben, indem sie es verstünde, den besten Teil der Erzeugnisse zu verzehren, ohne irgend etwas zu ihrer Entstehung beigetragen zu haben. Eine solche Klasse ist ohne Frage der Nation fremd durch ihre totale Untätigkeit. N i c h t weniger fremd ist in unserer Mitte der Adelsstand durch seine bürgerlichen und politischen Vorrechte. Was ist eine Nation? Eine Körperschaft von Gesellschaftern'1", die unter einem gemeinschaftlichen Gesetz leben und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung repräsentiert werden usw. Ist es nicht nur zu gewiß, d a ß der adlige Stand Vorrechte und Befreiungen genießt, die er sogar sein Recht zu nennen wagt und die von den Rechten der großen Körperschaft der Bürger gesondert sind? Dadurch stellt er sich außerhalb der gemeinschaftlichen Ordnung und des gemeinschaftlichen Gesetzes. Also schon seine bürgerlichen Rechte machen aus ihm ein eigenes Volk in der großen Nation. Das ist wahrhaftig imperium in imperio. Was seine politischen Rechte betrifft, so übt er sie gleichfalls abgesondert aus. Er hat seine eigenen Repräsentanten, die in keiner Weise mit der Vollmacht der Bevölkerung betraut sind. Die Körperschaft seiner Abgeordneten hält ihre Sitzungen abgesondert; und sollte sie sich einmal in demselben Saal mit den Abgeordneten der einfachen Bürger versammeln, dann wäre ebenso gewiß seine Vertretung dem Wesen nach von ihnen geschieden und getrennt; sie ist der Nation fremd, zum einen durch ihr Prinzip, da ja ihr Auftrag nicht vom Volk ausgeht; und zum anderen durch ihr Ziel, das ja darin besteht, nicht das Gemeininteresse, sondern das Eigeninteresse zu verteidigen. D e r Dritte Stand umfaßt also alles, was zur Nation gehört; und alles, da er aus Mangel an nützlichen Organen nicht durch sich selbst existieren kann, sich vielmehr einer wirklichen N a t i o n wie jene Schmarotzerpflanzen anhängt, welche nur vom Saft der Bäume leben können, die sie k r a n k machen und austrocknen. Der Klerus, die Robe, der Degen und die Administration bilden vier Klassen von öffentlichen Beauftragten, die überall erforderlich sind. W a r u m aber beschuldigt man sie in Frankreich des Aristokratismus? Weil die adlige Kaste alle guten Stellen in ihnen an sich gerissen hat; sie hat sich daraus ein Erbgut gemacht; das nutzt sie aus, aber nicht im Geist des Gesellschaftsgesetzes, sondern zu ihrem ganz besonderen P r o f i t :
1. Der Dritte Stand ist eine vollständige Nation
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was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation ansehen. Was also ist der Dritte Stand? A L L E S . 6
6 Ein schätzenswerter Schriftsteller hat genauer sein wollen. Er hat gesagt: »Der Dritte Stand ist die Nation weniger Geistlichkeit und Adel.« Ich gestehe, daß ich niemals die Kraft gehabt hätte, diese große Wahrheit zu verkünden. D a kann einer kommen und sagen: »Der Adel ist die Nation, weniger Geistlichkeit und Drittem Stand; die Geistlichkeit ist die Nation, weniger Drittem Stand und Adel.« Das sind sicher mathematisch einwandfreie Sätze. Ich muß Sie um Verzeihung bitten; aber wenn Sie nicht die Absicht gehabt haben, eine lediglich alberne Wahrheit zu artikulieren, wenn Sie vorher begriffen haben, was eine Nation ist, welches ihre integrierenden Bestandteile sind, warum es nur öffentliche und am Eigeninteresse ausgerichtete Arbeiten gibt und daß der Dritte Stand genügt, um alle diese Arbeiten zu leisten; wenn Sie beobachtet haben, daß alle Unterstützung, die der Staat in dieser Hinsicht von einer privilegierten Kaste erhält, extrem ruinös ist; wenn Sie gesehen haben, daß von diesen traurigen Privilegien alle Irrtümer und Mißstände herkommen, die die französische Nation quälen und noch lange quälen werden; wenn Sie wissen, daß es in einer Monarchie wie in allen politischen Systemen, gleich welcher Art, nur Regierende und Regierte geben darf, und daß eine Kaste, der nur das dümmste Vorurteil erlaubt, alle Stellen an sich zu reißen und von Privilegien zu leben, es dahin bringt, daß es bald nur noch despotische Regierende und aufsässige Regierte gibt, daß sie damit die schlimmste Last ist, die der Himmel in seinem Zorn einem Volk auferlegen konnte, und daß sie ein fast unüberwindliches Hindernis für jeden Versuch, zur Gerechtigkeit zurückzukehren, für jeden Fortschritt auf die gesellschaftliche Ordnung hin werden wird; wenn Ihr Verstand, sage ich, alle diese Wahrheiten und tausend andere, die in gleicher Weise zu unserem Gegenstand gehören, rasch erfassen konnte, warum da nicht frei heraussagen, daß der Dritte Stand alles ist? Wie konnten Sie eine solche Reihe von Erwägungen mit der kalten Folgerung beschließen: »Der Dritte Stand ist die Nation, weniger Geistlichkeit und Adel«?
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Was ist der Dritte Stand?
Zweites Kapitel
Was ist der Dritte Stand bis jetzt gewesen?
Nichts.
Wir wollen hier nicht den Zustand der Knechtschaft, in dem das Volk so lange geseufzt hat, untersuchen und ebensowenig den des Zwanges und der Erniedrigung, in dem es noch festgehalten ist. Seine rechtliche Lage hat sich geändert; sie muß sich noch weiter ändern. Es ist ganz unmöglich, daß die Nation als Körperschaft oder selbst irgendein einzelner Stand frei wird, wenn der Dritte Stand es nicht ist. Man ist nicht frei durch Privilegien, sondern durch die Bürgerrechte, Rechte, die allen zustehen. Falls nun die Aristok raten * es unternehmen, das Volk sogar um den Preis dieser Freiheit, deren sie sich selbst unwert zeigen, in der Unterdrückung zu halten, dann wird es sich die Frage erlauben: kraft welchen Rechtstitels? Wenn man antwortet: nach dem Recht der Eroberung, so muß man zugeben, daß dies ein wenig weit zurückgehen heißt. Aber der Dritte Stand braucht nicht zu fürchten, in vergangene Zeiten zurückzugehen; er wird sich in das Jahr zurückversetzen, das der Eroberung voranging; und weil er heute stark genug ist, um sich nicht erobern zu lassen, wird ohne Zweifel sein Widerstand wirksamer sein. Warum sollte er nicht alle diese Familien in die fränkischen Wälder zurückschicken, die den tollköpfigen Anspruch weiterpflegen, sie seien dem Stamm der Eroberer entsprossen und hätten Eroberungsrechte geerbt? Wenn die Nation auf diese Weise gereinigt ist, wird sie sich, glaube ich, darüber trösten, daß sie sich nur noch als eine Zusammensetzung von Nachkommen der Gallier und der Römer zu betrachten hat. Wahrhaftig, wenn man daran festhalten will, Abkunft und Abkunft zu unterscheiden, könnte man unseren armen Mitbürgern nicht den Umstand entschleiern, daß die Abkunft von Galliern und Römern mindestens ebenso viel wert ist wie die von Sigambrern, Welschen und anderen Wilden, die aus den Wäldern und Sümpfen des alten Germanien hervorgekommen sind? Ja, wird man sagen, aber die Eroberung hat alle Verhältnisse verwirrt, und der Geburtsadel ist auf die Seite der Eroberer übergegangen. Nun gut! Dann muß man ihn nötigen, wieder auf die andere Seite zurückzukehren; der Dritte Stand wird dann wieder Adel werden, indem er seinerseits Eroberer wird. Aber wenn die Rassen ganz vermischt sind, wenn das Blut der Franken, das für sich allein nicht besser wäre, mit dem der Gallier sich in den Adern mischt, wenn die Vorfahren des Dritten Standes die Väter der ganzen Nation sind, darf man da nicht hoffen, eines Tages das Ende dieses langen Vatermordes zu erleben, den eine Klasse* tagtäglich an allen
2. W a s ist der D r i t t e Stand bisher gewesen?
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anderen begeht und sich noch zur Ehre anrechnet? Warum sollten nicht eines Tages die Vernunft und die Gerechtigkeit ebenso stark sein wie die törichte Eitelkeit und die Privilegierten drängen, aus einem neuen Interesse heraus, das aber wahrhafter und gesellschaftsnäher wäre, von sich aus um Wiederaufnahme im Dritten Stand nachzusuchen? Verfolgen wir unseren Gegenstand weiter. Unter dem Dritten Stand muß man die Gesamtheit der Bürger verstehen, die dem Stand der gewöhnlichen Leute::" [l'ordre communj angehören. Alles, was durch das Gesetz privilegiert ist, einerlei auf welche Weise, tritt aus der gemeinschaftlichen Ordnung heraus, macht eine Ausnahme für das gemeinschaftliche Gesetz und gehört folglich nicht zum Dritten Stand. Wir haben gesagt: ein gemeinschaftliches Gesetz und eine gemeinschaftliche Repräsentation, das ist es, was eine Nation ausmacht. Ohne Zweifel ist es nur zu wahr, daß man in Frankreich nichts ist, wenn man lediglich den Schutz des gemeinschaftlichen Gesetzes für sich hat. Wenn man sich nicht an irgendein Privileg halten kann, muß man gefaßt sein, Verachtung, Beleidigung, Quälereien jeder Art über sich ergehen zu lassen. Um also nicht völlig zertreten zu werden, was bleibt dem unglücklichen Nichtprivilegierten? Die Zuflucht, sich mittels aller denkbaren Erniedrigungen an einen großen Herrn zu hängen; er erkauft um den Preis seiner politischen Moral [moeurs] und seiner Menschenwürde die Möglichkeit, sich gegebenenfalls auf jemanden zu berufen. Aber wir haben hier den Dritten Stand weniger nach seiner zivilrechtlichen Lage als nach seiner Beziehung zur Verfassung zu betrachten. Sehen wir, was er auf den Generalständen darstellt. Wer sind seine angeblichen Vertreter gewesen? Anoblierte oder zeitweilige Privilegierte. Diese falschen Abgeordneten sind sogar nicht einmal immer aus der freien Wahl der Bevölkerung hervorgegangen; die Vertretung des Volkes ist auf den Generalständen einige Male und in den Provinzialständen* fast durchweg als Recht gewisser Dienste oder Ämter betrachtet worden. Der alte Adel kann die neuen Adligen nicht leiden; er erlaubt ihnen nicht, an gemeinsamen Sitzungen teilzunehmen, außer wenn sie, wie man sagt, vier Generationen und hundert Jahre nachweisen können. Er stößt sie also in die Reihen des Dritten Standes zurück, dem sie jedoch offensichtlich nicht mehr angehören. 7 7 Die seit alters gepflegte eitle T o r h e i t hat in diesem P u n k t soeben einem besser verstandenen Interesse nachgegeben. In den pays d'elections* hat der Adel der bailliages* gemerkt, d a ß es nicht geschickt war, die neuen Adligen zu reizen und sie zu zwingen, aus T r o t z die Partei des D r i t t e n Standes zu unterstützen. D i e pays d'etats* hatten diese ungeschickte H a l t u n g zu der ihrigen gemacht. D i e E r f a h r u n g hat gezeigt, d a ß es ein Fehler w a r ; man entfernt sich j e t z t davon und l ä ß t alle zu, deren Adel übertragbar ist, so d a ß manche Leute, die in den pays d'etats und auf den Provinzialversammlungen nur in den Reihen des D r i t t e n Standes hatten sitzen k ö n n e n , schon j e t z t in den bailliages und später auf den Generalständen ohne Schwierigkeiten in den S t a n d des Adels aufgenommen werden. A b e r
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Was ist der Dritte Stand?
In den Augen des Gesetzes jedoch sind alle Adligen gleich, der von gestern wie der, dem es mehr oder weniger gelingt, seine H e r k u n f t oder die Usurpation seines Titels ins Dunkle zu rücken. Alle haben die gleichen Privilegien. N u r die Meinung unterscheidet sie. Aber wenn der Dritte Stand schon gezwungen ist, ein durch ein Gesetz geheiligtes Vorurteil zu ertragen, so gibt es keinesfalls einen Grund, sich auch einem Vorurteil entgegen dem Wortlaut des Gesetzes zu unterwerfen. Man mag neue Adlige schaffen, so viel man will; sicher ist, daß von dem Augenblick an, wo ein Bürger Vorrechte erwirbt, die dem gemeinschaftlichen Recht widersprechen, er nicht mehr zum Stand der gewöhnlichen Leute"" gehört; sein neues Interesse ist dem allgemeinen Interesse entgegengesetzt; er ist unfähig, für das Volk zu stimmen. Dieses unbestreitbare Prinzip schließt in gleicher Weise die persönlich Privilegierten von der Vertretung des Dritten Standes aus. Auch ihr Interesse ist mehr oder weniger dem gemeinschaftlichen Interesse entgegengesetzt; und obgleich die Meinung sie in den Dritten Stand einreiht und das Gesetz in bezug auf sie stumm bleibt, weist ihnen die N a t u r der Dinge, die stärker ist als Meinung und Gesetz, unwiderleglich ihre Stelle außerhalb des Standes der gewöhnlichen Leute an. Wird man nun aber sagen, wer nicht nur die erblich Privilegierten, sondern auch die nur persönlich Privilegierten vom Dritten Stand lostrennen will, wolle mutwillig diesen Stand dadurch schwächen, d a ß er ihn seiner aufgeklärtesten, mutigsten und geachtetsten Mitglieder beraube? Ich bin weit davon entfernt, die Stärke oder die Würde des Dritten Standes zu verringern, fließt er doch in meinem Denken immer mit der Vorstellung einer Nation zusammen. Aber ganz abgesehen davon, welcher Beweggrund uns leitet, können wir etwa bewirken, daß Wahrheit nicht Wahrheit sei? Weil ein Heer das Unglück gehabt hat, seine besten Truppen desertieren zu sehen, muß es ihnen darum noch die Verteidigung seines Lagers anvertrauen? Jedes Privileg, man kann es nicht oft genug wiederholen, widerspricht dem gemeinschaftlichen Recht; also bilden alle Privilegierten, ohne Unterschied, eine vom Dritten Stand verschiedene und ihm entgegengesetzte Klasse'"". Zugleich bemerke ich, daß diese Wahrheit f ü r die Freunde des Volkes nichts Beunruhigendes haben kann. Im Gegenteil, sie führt zum großen nationalen Interesse zurück, da sie die Notwendigkeit kräftig zum Bewußtsein bringt, alle zeitweiligen dennoch, was soll diese Unterscheidung zwischen Adligen, die den Adel übertragen können und solchen, die ihn, wie m a n sagt, nicht übertragen können? N u n gut! D a ß sie ihn nicht übertragen, das betrifft n u r ihre Kinder; es handelt sich aber nicht d a r u m , in unseren Versammlungen jene Kinder mitberaten zu lassen, auf die ihre Väter den Adel noch nicht übertragen haben; es geht vielmehr d a r u m , die Väter zuzulassen, die jedenfalls für sich mit Sicherheit durch eine U r k u n d e erlangt haben, was, wie ihr sagt, sie f ü r ihre N a c h k o m m e n s c h a f t noch nicht erlangen konnten: persönlich sind sie adlig; laßt also ihre Person auf der Adelsbank zu.
2. Was ist der Dritte Stand bisher gewesen?
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Privilegien 8 unverzüglich zu unterdrücken, die den Dritten Stand spalten und ihn offensichtlich dazu verurteilen würden, seine Geschicke in die H ä n d e seiner Feinde zu legen. Außerdem darf man diese Bemerkung von der folgenden nicht trennen: die Abschaffung der Privilegien innerhalb des Dritten Standes ist nicht der Verlust von Befreiungen, die einige seiner Mitglieder genießen. Diese Befreiungen sind ja nichts anderes als das gemeinschaftliche Recht. Es war eine unüberbietbare Ungerechtigkeit, es der Gesamtheit des Volkes zu rauben. Daher verlange ich nicht den Verlust eines Rechtes, sondern seine Wiederherstellung 9 ; und falls man mir entgegenhält, wenn man einige dieser Privilegien zum Gemeingut mache, wie beispielsweise die Befreiung von der Auslosung zur Miliz 10 , dann werde man sich Mittel versagen, ein gesellschaftliches Bedürfnis zu befriedigen, so antworte ich: jedes öffentliche Bedürfnis muß von allen getragen werden und nicht von einer besonderen Klasse* von Bürgern, und man müßte ebenso jeder Überlegung wie jeden Rechtsgefühls bar sein, wenn man nicht ein nationaleres Mittel ausfindig machte, um den Heeresbestand so, wie man ihn haben will, zu ergänzen und aufrecht zu erhalten. Auf diese Weise hatten also die angeblichen Abgeordneten des Dritten Standes, die bisher auf den Generalständen erschienen sind, nicht die echte Vollmacht des Volkes, weil entweder jede Wahl völlig fehlte, oder weil sie nicht von der Allgemeinheit der Mitglieder des Dritten Standes in Stadt und Land, die das Recht hatten, sich vertreten zu lassen, gewählt worden waren, oder weil sie in ihrer Eigenschaft als Privilegierte überhaupt nicht wählbar waren. Man scheint bisweilen erstaunt zu sein, daß man Klagen über eine dreifache Aristokratie'·' der Kirche, des Degens und der Robe hört. Man will dies nur als eine Redensart gelten lassen; aber der Ausdruck muß in aller Strenge genommen werden. Wenn die Generalstände der Interpret des Gemeinwillens"' [volonte generale] sind und kraft dieses Rechtstitels die gesetzgebende Gewalt inne haben, ist es dann nicht Tatsache, daß da eine wirkliche Aristokratie ist, wo die Generalstände nichts sind als eine geistlich-adlig-richterliche Versammlung? 8 Einige Munizipalbeamte, die Anwälte beim Präsidialgericht von Rennes usw., haben bereits das schöne Beispiel des Verzichts auf alle Befreiungen und Privilegien gegeben, die sie v o m Volk unterschieden. 9 Es ist sicher, d a ß die Gemeinsamkeit der Privilegien das beste Mittel ist, die Stände einander nahe zu bringen und das wichtigste der Gesetze vorzubereiten, das die Stände in eine N a t i o n umwandeln wird. 10 Ich kann mich nicht enthalten, meiner Verwunderung darüber Ausdruck zu geben, daß die Edelleute von der Auslosung zur Miliz befreit sind! Das heißt recht massiv den einzigen Vorwand mißachten, an den man so viele überlebte Ansprüche zu knüpfen sucht. W o f ü r verlangt man einen Preis, wenn nicht f ü r das Blut, das man für den König vergossen hat? H e r r C. . . hat diesem ewig wiederkehrenden Refrain durch sein Zitat den Stempel untilgbarer Lächerlichkeit aufgedrückt: »War also das Blut des Volkes Wasser!«
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Was ist der Dritte Stand ?
Zu dieser erschreckenden Wahrheit nehme man hinzu, daß alle. Zweige der vollziehenden Gewalt auf die eine oder andere Art gleichfalls der Kaste zugefallen sind, aus der sich die Kirche, die Robe und der Degen rekrutieren. Ein gewisser Geist der Brüderschaft oder Gevatterschaft bewirkt, daß die Adligen sich gegenseitig und in allen Stücken vor der übrigen Nation bevorzugen. Die Usurpation ist vollständig; sie sind die wirklichen Herrscher. Man befrage die Geschichte, ob die Tatsachen dieser Behauptung entsprechen oder widersprechen, und man wird sich überzeugen — ich habe selber die Erfahrung gemacht —, daß es ein großer Irrtum ist, zu glauben, Frankreich stehe unter einer monarchischen Regierung. Nehmt aus unseren Annalen einige Jahre Ludwigs xi., Richelieus und einige Augenblicke Ludwigs xiv. heraus, in denen man nichts als reinen Despotismus sieht, und ihr werdet glauben, die Geschichte einer Hofaristokratie zu lesen. Der Hof war der Herrscher und nicht der Monarch. Der Hof setzt ein und setzt ab, beruft und entläßt die Minister, schafft und verteilt die Stellen usw. Und was ist der Hof anderes als der Kopf dieser ungeheuren Aristokratie*, die alle Teile Frankreichs bedeckt, die durch ihre Glieder an alles heranreicht und überall auf allen Gebieten des Gemeinwesens in den wichtigsten Dingen schaltet und waltet? Übrigens hat sich auch das Volk daran gewöhnt, bei seinem Murren den Monarchen von den Hintermännern der Machtausübung zu trennen. Es hat immer den König als einen Mann betrachtet, der so ohne Gefahr betrogen wird und der inmitten eines rührigen und allmächtigen Hofes so ohne alle Verteidigung ist, daß es niemals daran gedacht hat, ihm das ganze Übel anzulasten, das in seinem Namen geschieht. Muß man nicht endlich die Augen öffnen und das, was um uns herum geschieht, zur Kenntnis nehmen? Was sieht man? Einzig und allein die Aristokratie, wie sie gleichzeitig die Vernunft, die Gerechtigkeit, das Volk, den Minister und den König bekämpft. Der Ausgang dieses schrecklichen Kampfes ist noch ungewiß; man sage nun, ob die Aristokratie ein Hirngespinst ist! Fassen wir zusammen: der Dritte Stand hat bis zur Stunde keine wahren Vertreter auf den Generalständen gehabt. Er hat also keinerlei politische Rechte.
Drittes K a p i t e l
Was verlangt der Dritte Standf Etwas zu
werden.
Man darf seine Forderungen [a] keineswegs nach den vereinzelten Bemerkungen beurteilen, welche einige mehr oder weniger über die Menschenrechte unterrichtete Schriftsteller gemacht haben. Der Dritte Stand ist in diesem Punkt noch weit zurück, ich sage: nicht nur, was die Einsicht derjenigen angeht, welche die Gesellschaftsordnung"' studiert haben, sondern besonders hinsichtlich dieser Fülle gemeinsamer Vorstellungen, welche die öffentliche Meinung"' ausmachen. Man kann die wirklichen Forderungen des Dritten Standes nur nach den authentischen Beschwerden beurteilen, welche die großen Stadtgemeinden * [municipalites] des Königreichs an die Regierung gerichtet haben. Was sieht man da? D a ß das Volk etwas sein will, und zwar nur das Wenigste, was es sein kann. Es will haben i. echte Vertreter auf den Generalständen, das heißt Abgeordnete, die aus seinem Stand kommen und die fähig sind, die Interpreten seines Willens und die Verteidiger seiner Interessen zu sein. Was nützte es ihm, an den Generalständen teilzunehmen, wenn das dem seinen entgegengesetzte Interesse dort dominierte? Es würde durch seine Anwesenheit die Unterdrückung, deren ewiges Opfer es wäre, nur bestätigen. So ist es ziemlich sicher, daß es an Abstimmungen auf den Generalständen nur teilnehmen kann, wenn es dort einen Einfluß erhält, der dem der Privilegierten wenigstens gleich ist. Es verlangt weiter 2. eine Zahl von Vertretern, die derjenigen ebenbürtig ist, welche die beiden anderen Stände zusammen besitzen. Diese Gleichheit der Vertretung wäre indessen völlig illusorisch, wenn jede Kammer eine eigene Stimme besäße. Der Dritte Stand verlangt deshalb 3. daß die Stimmen nach Köpfen und nicht nach Ständen gezählt werden. 1 1 Darauf redu[a] Im Text »ses demandes«: dies bezieht sich wohl auf den Dritten Stand [Anm. d. Ubers.]. 11 D a n k des resultat du Conseil[b] vom 27. Dezember ist ihm eben die zweite Forderung bewilligt worden. Uber die dritte hat man sich nicht ausgelassen, und die erste hat man ganz klar abgeschlagen. Aber ist es nicht klar, d a ß die eine ohne die andere keinen Wert hat? Sie bilden zusammen ein Ganzes. Indem man eine abschlägt, weist man alle zurück. Wir werden weiter unten zeigen, wem es zukommt, über alles, was die Verfassung anlangt, zu entscheiden. [b] Am 27. Dezember 1788 hatte der Conseil d ' E t a t du Roi nach einem ausführlichen Bericht Neckers beschlossen, daß die f ü r April 1789 einzuberufenden Generalstände wenigstens 1000 Abgeordnete umfassen sollten, und d a ß die Anzahl der Vertreter des Dritten Standes derjenigen des Ersten und Zweiten Standes zusammen gleich sein solle. Die Frage der Abstimmung nach Köpfen oder nach Ständen war in der Schwebe geblieben. Die Frage, ob die einzelnen Abgeordneten aus beliebigen Ständen gewählt werden könnten, wurde in den Lettres de convocation vom 24. J a n u a r 1789 dann entgegen den Vorstellungen Sieyes' entschieden. Dies hatte aber nicht die von ihm befürchteten Folgen. Im
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Was ist der Dritte Stand ?
zieren sich also diese Forderungen, die offenbar unter den Privilegierten Alarm ausgelöst haben; sie haben geglaubt, daß allein schon dadurch die unerläßliche Reform der Mißstände ausgelöst werde. Die bescheidene Absicht des Dritten Standes ist es, auf den Generalständen einen Einfluß zu haben, der dem der Privilegierten gleich ist. Ich wiederhole: kann er weniger verlangen? Und wenn sein Einfluß weniger als gleich ist, ist es dann nicht klar, daß keine Hoffnung besteht, daß er seine politische Bedeutungslosigkeit abstreife und etwas werde? Aber ein wirkliches Unglück ist es, daß diese drei Punkte, welche die Forderungen des Dritten Standes ausmachen, nicht ausreichen, um ihm zu dieser Gleichheit zu verhelfen, die er tatsächlich braucht. Er wird ganz umsonst eine gleich starke Zahl von Vertretern erreichen, die aus seinem Stand kommen; der Einfluß der Privilegierten wird stets selbst im Innersten des Dritten Standes herrschen. Denn wo sind die Posten, Stellen, Pfründen zu vergeben? Auf welcher Seite besteht das Bedürfnis nach Schutz; und auf welcher Seite liegt die Macht, Schutz zu geben? Allein diese Betrachtung reicht aus, um alle Freunde des Volkes zittern zu machen. Sind nicht diejenigen unter den Nichtprivilegierten, die dank ihrer Begabungen als die geeignetsten Interessenvertreter ihres Standes erscheinen sollten, in einem abergläubischen oder erzwungenen Respekt vor dem Adel erzogen? Man weiß ja, wie leicht sich die Menschen im allgemeinen den Gewohnheiten beugen, so lange sie ihnen nützlich werden können. Sie sind ständig damit beschäftigt, ihr Schicksal zu verbessern, und wenn der persönliche Fleiß auf ehrlichem Weg nicht weiterkommen kann, dann nimmt er den ungeraden. Wir lesen, daß man bei den alten Völkern die Kinder daran gewöhnte, nicht eher ihre Nahrung zu erhalten, als bis sie entweder harte oder geschickte Leibesübungen durchgeführt hatten. Mit Hilfe dieser Mittel gelangten sie darin zu großer Geschicklichkeit. Bei uns ist die geschickteste Klasse* des Dritten Standes gezwungen, sich in Speichelleckerei zu üben und sich ganz in den Dienst der Mächtigen zu stellen, um das zu erreichen, was sie braucht. Dieser unglückliche Teil der Nation ist dahin gelangt, eine große Ansammlung von Bittstellern [une grande anti-chambre] zu bilden. Dort ist er unaufhörlich mit dem beschäftigt, was seine Herren sagen oder tun, er ist ständig bereit, alles für die Früchte zu opfern, die er sich von dem Glück verspricht, Gefallen zu erregen. Wie soll man bei solchen Gegenteil, seine eigene Wahl bzw. die Mirabeaus als Angehörige des Ersten bzw. des Zweiten Standes zu Deputierten des Dritten Standes wurde durch diese Regelung überhaupt erst ermöglicht. Vgl. das Resultat du Conseil d'Etat du Roi, tenu ä Versailles le 27 decembre 1788. In: Archives parlementaires de 1787 ä 1860. Recueil complet des debats legislatifs et politiques des Chambres fra^aises. lere serie: 1787 ä 1799. Paris 1867 ff. Bd. 1, S. 611, sowie die Lettre du Roi pour la convocation des Etats generaux ä Versailles, de 27 Avril 1789. Ebda. S. 543 [Anm. d. Übers.].
3. Was verlangt der Dritte Stand?
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Gebräuchen nicht fürchten, daß jene Q u a l i t ä t e n , die zur Verteidigung des Nationalinteresses am geeignetsten wären, sich infolge der Verteidigung von Vorurteilen prostituieren? Die dreistesten Anwälte der Aristokratie werden sich im Dritten Stand und unter den Menschen finden, die ebenso begierig nach Karriere, Macht und Gunstbezeugungen der G r o ßen wie unfähig sind, den Wert der Freiheit zu fühlen, da sie zwar über viel Geist, aber über wenig H e r z verfügen. Neben der Herrschaft der Aristokratie"", die in Frankreich über alles schalte.t und waltet, und neben diesem feudalen Aberglauben, der immer noch die meisten Geister anhält, sich zu ducken, gibt es den Einfluß des Eigentums. Er ist ganz natürlich und ich verdamme ihn nicht. Aber man muß zugeben, daß er eben auch völlig zum Vorteil der Privilegierten arbeitet, und daß man mit Recht befürchten kann, daß er für diese eine mächtige Stütze gegen den Dritten Stand sein wird. Die Städtevertreter [municipalites] haben sich dem leichten Glauben hingegeben, es würde reichen, die Person des Privilegierten von der Wahrnehmung der Vertretung des Volkes fernzuhalten, um vor der Einflußnahme des Privilegienwesens sicher zu sein. Aber welcher G r u n d h e r r * [seigneur], der nur über etwas Popularität verfügt, hat nicht auf dem L a n d und überall, wo er will, eine unendliche Zahl von Menschen aus dem Volk zu seiner Verfügung? Rechnet euch die Folgen und die Wirkungen dieser ersten Einflußnahme aus und behaltet eure Ruhe, wenn ihr es könnt, angesichts der Ergebnisse einer Versammlung, die zwar bei weitem das noch nicht alles ist, was die ersten Komitien [ a ] waren, die aber dennoch aus diesen ersten Elementen zusammengesetzt ist. Je mehr man diesen Gegenstand betrachtet, desto mehr wird man gewahr, wie unzureichend die drei Forderungen des Dritten Standes sind. Aber trotz allem: so, wie sie sind, hat man sie heftig angegriffen. Untersuchen wir die Vorwände für eine so hassenswerte Feindseligkeit.
[ a ] In der historischen Theorie von 1 7 8 8 / 8 9 , in der die G e n e r a l s t ä n d e als die einzig legitime Vertretung der französischen N a t i o n erscheinen, werden allgemein die frühmittelalterlichen M ä r z - und Maifelder der F r a n k e n , die sog. » c o m i t i a « , als unmittelbare V o r l ä u f e r der 1 3 0 2 erstmals einberufenen G e n e r a l s t ä n d e gedeutet. V g l . Martin G ö h r i n g : Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich ( V o m Mittelalter zu 1789). Tübingen 1 9 4 7 [ A n m . d. Ü b e r s . ] .
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Was ist der Dritte Stand ?
§ I· Erste Forderung Daß die Vertreter des Dritten Standes nur unter den Bürgern, die lich zum Dritten Stand gehören, gewählt werden.
wirk-
Wir haben bereits auseinandergesetzt: U m wirklich zum Dritten Stand zu gehören, darf man in keiner Weise mit irgendeiner Art von Privileg ausgestattet sein oder man muß sich auf der Stelle und vollständig davon freimachen. Die. Leute der Robe::" [les gens de Robe] sind durch eine Tür zum Adel gelangt, die sie, man weiß nicht warum, mit aller Gewalt hinter sich zuzumachen beschlossen haben. 12 Sie wollen unter allen Umständen an den Generalständen teilnehmen. Sie haben sich gesagt: der Adel will von uns nichts wissen; und wir wollen vom Dritten Stand nichts wissen; wenn es ginge, würden wir einen eigenen Stand bilden, das wäre großartig; aber wir können nicht. Was tun? Es bleibt uns nur, den alten Mißstand beizubehalten, dank dessen der Dritte Stand Adlige zu Abgeordneten machte. Hierdurch befriedigen wir unsere Wünsche, ohne unsere Ansprüche aufzugeben. Alle Neuadligen, ihr Ursprung sei, welcher er wolle, haben in diesem Sinn eilfertig wiederholt, der Dritte Stand müsse Edelleute abordnen können. Der alte Adel, der sich den guten Adel nennt, hat nicht das gleiche Interesse, diesen Mißstand beizubehalten; aber er versteht zu rechnen. Er hat gesagt: wir werden unsere Söhne in der Kammer der Gemeinen"" [communes] Platz nehmen lassen, und alles in allem, das ist eine ausgezeichnete Idee, uns mit der Vertretung des Dritten Standes zu betrauen. Ist der Wille einmal fest, so fehlen, wie man weiß, die Gründe niemals. Man hat gesagt, den alten Brauch, den muß man beibehalten . . . ein ausgezeichneter Brauch, der bis zur Stunde den Dritten Stand, damit er repräsentiert sei, tatsächlich von jeder Repräsentation ausgeschlossen hat! D e r Dritte Stand besitzt aber seine politischen Rechte ebenso, wie er seine bürgerlichen Rechte hat; er m u ß die einen wie die anderen selber ausüben. 1 3 Was für eine absonderliche Idee, die Stände einmal zum Nutzen der beiden ersten und zum Nachteil f ü r den dritten auseinanderzuhalten und dann dort zusammenzuwerfen, wo es f ü r die beiden ersten Stände gut ist, der Nation aber Schaden zufügt! Was ist das f ü r ein Brauch, 12 Sie sagen, d a ß sie von jetzt an gut zusammengesetzt sein wollen. Diese Absicht führt von H o c h m u t zur Demut, denn sie heißt voraussetzen, d a ß sie alle bis jetzt eine schlechte Gesellschaft gebildet haben. In dieser Absicht haben sie sich einen Maßstab zu eigen gemacht, vermöge dessen fast alle Stellen der Robe n u r noch den Familien zukommen können, die sie schon bisher besaßen. Man wird sich erinnern, was wir oben vom Aristokratismus gesagt haben, der alle Gewalten an sich reißen will. 13 Dieser Grundsatz ist von allergrößter Wichtigkeit. Er wird weiter unten entwickelt werden.
3. Was verlangt der Dritte Stand?
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d a n k dem sich die Kleriker und die Adligen der K a m m e r des D r i t t e n Standes b e m ä c h t i g e n k ö n n t e n ! W a h r h a f t i g , würden sie sich f ü r repräsentiert halten, wenn der D r i t t e S t a n d die A b o r d n u n g ihrer Stände hätte erobern können? U m den Fehler in einem P r i n z i p aufzuzeigen, d a r f man es bis zu seinen letzten K o n s e q u e n z e n entwickeln. Ich bediene mich dieses Mittels und sage: W e n n die Angehörigen der drei Stände ihre V o l l m a c h t jedem Beliebigen zu übertragen sich erlauben, k a n n es dazu k o m m e n , d a ß a u f der V o l l v e r s a m m l u n g [assemblee] nur Mitglieder eines einzigen Standes anwesend sind. Ließe sich beispielsweise ein Einverständnis darüber vorstellen, d a ß der Klerus allein die ganze N a t i o n repräsentieren k ö n n e ? A b e r ich gehe noch weiter: nachdem wir einem Stand das V e r t r a u e n der drei S t ä n d e übertragen haben, laßt uns die V o l l m a c h t aller Bürger 1 " [ c i t o y e n s ] a u f ein Individuum k o n z e n t r i e r e n . W i r d m a n b e h a u p t e n w o l l e n , ein einziges Individuum könne die Generalstände ersetzen? W e n n ein P r i n z i p zu absurden K o n s e q u e n z e n führt, d a n n zeigt dies, d a ß es nichts taugt. Es ist d a v o n die Rede, m a n tue der Freiheit der V o l l m a c h t g e b e r A b b r u c h , wenn m a n diese in ihrer W a h l beschränke. Dieser angeblichen Schwierigkeit begegne ich mit zwei A n t w o r t e n . D i e erste ist: sie ist unredlich, was ich beweisen will. D i e H e r r s c h a f t der Grundherren ! ; " [seigneurs] über die B a u e r n und die übrigen L a n d b e w o h n e r ist b e k a n n t ; b e k a n n t sind auch die üblichen und möglichen M a c h e n s c h a f t e n [ m a n o e u v r e s ] ihrer M i t t e l s m ä n n e r , ihre G e r i c h t s b e a m t e n Inbegriffen. J e d e r G r u n d herr, der aur die W a h l e n a u f unterster E b e n e E i n f l u ß nehmen wollte, d a r f also im allgemeinen sicher sein, A b g e o r d n e t e r a u f V o g t e i e b e n e * zu werden. D o r t wird m a n nur noch unter den G r u n d h e r r e n selbst zu wählen h a b e n oder unter denen, die ihr tiefstes Vertrauen besitzen. Geschieht das nun für die Freiheit des V o l k e s , d a ß ihr euch die M a c h t verschafft h a b t , sein V e r t r a u e n durch einen überraschenden Taschenspielertrick in die H a n d zu b e k o m m e n ? Es ist abscheulich, d a ß der heilige N a m e der Freiheit m i ß b r a u c h t wird, um die Absichten zu verbergen, die ihr absolut entgegengesetzt sind. Es besteht ü b e r h a u p t kein Zweifel, d a ß m a n den A u f t r a g g e b e r n ihre ganze Freiheit lassen m u ß . U n d dazu ist es n o t w e n d i g , v o n ihren A b o r d n u n g e n alle Privilegierten auszuschließen, die nur zu sehr die G e w o h n h e i t haben, das V o l k in der H a n d zu haben und zu dirigieren. Meine zweite A n t w o r t ist direkt. Es k a n n in keiner Angelegenheit eine Freiheit oder ein R e c h t ohne C r e n z e n geben. In allen L ä n d e r n h a t das G e s e t z bestimmte E i g e n s c h a f t e n festgelegt, o h n e die m a n weder W ä h l e r n o c h w ä h l b a r sein k a n n . So m u ß zum Beispiel das Gesetz die Altersgrenze bestimmen, u n t e r h a l b derer m a n nicht fähig ist, die Stellvertret u n g seiner M i t b ü r g e r zu übernehmen. S o sind überall — wohl oder übel — die F r a u e n von dieser F o r m der B e v o l l m ä c h t i g u n g ausgeschlossen. Es
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Was ist der Dritte Stand?
gilt als ausgemacht, daß ein Landstreicher, ein Bettler nicht mit dem politischen Vertrauen der Bevölkerung ausgestattet werden kann. Dienstboten, alle, die sich in der Abhängigkeit eines Handwerksmeisters befinden, ein Fremder, der nicht die französische Staatsangehörigkeit besitzt — sollten sie vielleicht als Vertreter der N a t i o n zugelassen werden? Die politische Freiheit hat also ihre Grenzen ebenso wie die bürgerliche Freiheit. Es handelt sich nur darum, ob die Bedingung der Nichtwählbarkeit, die der D r i t t e Stand fordert, nicht genauso wichtig ist wie alle anderen Bedingungen, die ich eben genannt habe. D i e Vergleiche sind übrigens ganz zum Vorteil dieses Standes ausgefallen: denn ein Bettler, ein Fremder können kein dem Dritten Stand entgegengesetztes Interesse haben; hingegen sind der Adlige wie der Kleriker wegen ihrer Standeszugehörigkeit Anhänger der Privilegien, die sie genießen. D i e Bedingung, die der D r i t t e Stand fordert, ist also für ihn die wichtigste von allen, die das Gesetz, in Ubereinstimmung mit der Billigkeit und der N a t u r der Dinge, für die W a h l der Repräsentanten regeln muß. U m diesen Punkt noch deutlicher zu machen, stelle ich eine Hypothese auf. Ich nehme an, daß Frankreich mit E n g l a n d im Krieg sei, und daß alles, was mit den Feindseligkeiten zusammenhängt, bei uns von einem aus Repräsentanten zusammengesetzten Direktorium behandelt und geregelt wird. Ich frage, würde man in diesem Fall den Provinzen unter dem V o r w a n d , ihre Freiheit keiner schweren Verletzung aussetzen zu wollen, gestatten, zu ihren Abgeordneten im Direktorium Mitglieder des englischen Kabinetts zu wählen? In der T a t erweisen sich die Privilegierten ebenso als Feinde einer gemeinsamen Ordnung wie die Engländer gegen die Franzosen in Kriegszeiten es sind. U n t e r den Bildern, die sich in meinem K o p f mehren und sich gegenseitig bedrängen, wähle ich noch eines aus. Wenn es darurn ginge, einen allgemeinen Kongreß der Seevölker abzuhalten, um die Freiheit und Sicherheit der Schiffahrt zu regeln, glaubt ihr, Genua, Livorno, Venedig usw. wählten ihre bevollmächtigten Gesandten unter den Barbaresken aus, oder jenes Gesetz wäre gut, welches reichen Seeräubern erlaubte, die Stimmen Genuas usw. zu kaufen oder massiv zu beeinflussen? Ich weiß nicht, o b dieser Vergleich übertrieben ist, aber er beleuchtet meiner Meinung nach das, was ich zu sagen hatte. Darüber hinaus hoffe ich, wie jeder andere auch, daß die Aristokraten eines Tages aufhören werden, sich als die Algerier von Frankreich auszuweisen; denn die Aufklärung kann nicht lange ohne W i r k u n g bleiben. Diesen Prinzipien zufolge d a r f man keinesfalls gestatten, daß die Leute aus dem Dritten Stand, die allzu ausschließlich den Mitgliedern der beiden ersten Stände verhaftet sind, mit dem Vertrauen der Gemeinen"" [communes] ausgestattet werden. Man begreift, daß sie infolge ihrer Abhängigkeit dazu ungeeignet sind; wenn indessen diese Leute nicht förmlich [von der Wählbarkeit. - D . U b e r s . ] ausgeschlossen werden,
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würde der Einfluß der Grundherren*, der jetzt für sie selber nutzlos geworden ist, sich unfehlbar zugunsten der Leute auszuwirken, die ihnen zu Gebot stehen. Ich bitte besonders, daß man den zahlreichen Handlangern der Feudalität* Aufmerksamkeit widme. 1 4 Den verhaßten Resten dieses barbarischen Regimes verdanken wir die zum Unglück Frankreichs noch immer bestehende Einteilung in drei Stände, deren jeder des anderen Feind ist. Alles wäre verloren, wenn die Beauftragten der Feudalität sich der Abordnung des Dritten Standes bemächtigen könnten. Wer wüßte nicht, daß sich die Diener im Hinblick auf das Interesse ihrer Herren als viel gieriger und dreister erweisen als die Herren selbst. Ich weiß, daß diese Ächtung viele Leute einbezieht, da sie besonders alle Beamten der grundherrlichen Gerichtsbarkeit betrifft 1 5 , usw.; aber das erfordert die Macht der Umstände. 14 Ubergriffe ohne Zahl seitens dieser Handlanger bedrücken noch immer das flache Land. Man kann sagen, daß der privilegierte Stand einen Schwanz hinter sich herschleppt, der ebenso lästig ist wie er selbst. Der Fiskus mit seinen hundert Armen ist für die Bevölkerung nicht bedrückender. Ist es dann aber nicht unbegreiflich, daß die Aristokraten sich unterstehen, aus so vielen Mißständen einen Beweis abzuleiten, mit dessen Hilfe sie dem Volk beizubringen suchen, daß seine wahren Feinde im Dritten Stand seien. Gerade als wenn die Anhänger der Feudalität, als wenn die Leute mit sämtlichen Livreen und sämtlichen Titulaturen, die in Abhängigkeit von der Aristokratie leben, tatsächlich zum Dritten Stand gehörten! Es ist nur zu wahr, die gefährlichsten Gegner des Volkes befinden sich in diesen vom nationalen Interesse losgelösten Klassen, obgleich die Privilegierten sie nicht unter dem Namen Stände in ihrem Dienst und Sold halten. In Frankreich, in Holland und überall gibt es schreckliche Beispiele der natürlichen Koalition zwischen der letzten Klasse der Gesellschaft und den privilegierten Ständen. Sagen wir doch die Wahrheit, in allen Ländern der Welt gehört die C . . . [a] zur Aristokratie' 1 . [a] C . . . steht vermutlich für »Canaille« [Anm. d. Ubers.]. 15 Patrimonialgerichtsbarkeiten! Es ist schwer, sich etwas vorzustellen, das der gesunden Politik [la saine politique] so entgegengesetzt wäre. Den Rechtsgelehrten verdanken wir es, daß die Ruinen der Feudalanarchie so weit wie möglich wieder aufgerichtet wurden; daß dieses dunkle Gerüst mit dem Anschein einer legalen Form umkleidet und daß vielleicht neue Schlingen hineingelegt wurden. Man muß eine äußerst sonderbare Idee vom Eigentum haben, wenn man es mit öffentlichen Funktionen zusammenwirft, und wenn man in einem Land, das man als so monarchisch bezeichnet, ohne Erstaunen das Zepter in tausend Stücke zerbrochen und die Räuber in gesetzmäßige Eigentümer verwandelt sieht. Sollte man sich nicht dessen bewußt werden, daß sich unter dem unbestimmten Wort Eigentum das, was wirklichem Eigentum am meisten entgegengesetzt ist, hat einschleichen können, zum Beispiel das Recht, anderen zu schaden? Gibt es einen Besitz, er sei so alt wie er will, der eine solche Mißordnung legitimieren könnte? Reden wir nicht mehr von öffentlichen Funktionen, die zweifellos niemals das Eigentum einer Privatperson werden noch überhaupt von der Pflicht des Souveräns getrennt werden können; ich rede von offensichtlichen Usurpationen der Freiheit oder des gemeinschaftlichen Eigentums. Ich bitte, mir erklären zu wollen, was das ist: ein Lehnsherr [seigneur], und woher es kommt, daß man Gefolgsleute [vassaux] braucht? Gehören diese metaphysischen Beziehungen (denn ich . rede nicht von Geld- oder Sachverpflichtungen) zu einer gut geordneten politischen Vereinigung? Es ist ohne weiteres möglich, daß der schützende Ausdruck Eigentum tatsächlichen Raub deckt, Raub, der keineswegs verjährt. Ich vermute, daß sich Cartouche [Louis Cartouche, populärer Bandenführer, der lange Zeit die Pariser Umgebung unsicher machte; er wurde 1721 auf der Place de Greve in Paris gehängt. - Anm. d. Ubers.], hätte es keine Polizei gegeben, recht solide auf einer der großen Hauptverkehrsstraßen
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Was ist der Dritte Stand ?
D a s D a u p h i n e h a t in diesem P u n k t ein g r o ß e s B e i s p i e l g e g e b e n
[a]. Es
ist — w i e diese P r o v i n z es g e t a n h a t — e r f o r d e r l i c h , v o n d e r W ä h l b a r k e i t i m D r i t t e n S t a n d j e n e P e r s o n e n a u s z u s c h l i e ß e n , die m i t d e r S t e u e r e r h e bung und den d a m i t verbundenen Bürgschaften Verwaltungsbeamte
u s w . W a s die P ä c h t e r
zu tun haben,
der G ü t e r
angeht,
weiter
die
den
b e i d e n e r s t e n S t ä n d e n a n g e h ö r e n , s o m e i n e i c h , d a ß a u c h sie in i h r e r j e t z i g e n L a g e z u a b h ä n g i g sind, u m frei z u m V o r t e i l des D r i t t e n S t a n d e s z u s t i m m e n . W a r u m sollte i c h a b e r n i c h t h o f f e n d ü r f e n , d a ß e i n e Z e i t k o m m t , w o d e r G e s e t z g e b e r sich ein r e c h t e s B i l d m a c h t v o n d e n I n t e r essen d e r L a n d w i r t s c h a f t , v o n d e n B e d ü r f n i s s e n des Bürgersinns
[civis-
m e ] sowie d e r öffentlichen W o h l f a h r t ; w o er a u f h ö r t , steuerliche H ä r t e m i t R e g i e r u n g s t ä t i g k e i t z u v e r w e c h s e l n ? A l s d a n n w i r d m a n die gen ben,
auf
Lebenszeit
sondern
sogar
Pachtun-
[les b a u x a v i e ] seitens d e r P ä c h t e r n i c h t n u r e r l a u begünstigen,
und
wir
werden
diese s o
P ä c h t e r e b e n s o h o c h e i n s c h ä t z e n wie freie G r u n d h o l d e n
achtbaren
[ t e n a n c i e r s ] , als
w i r k l i c h f ä h i g , die Interessen d e r N a t i o n zu u n t e r s t ü t z e n . 1 6 festgesetzt hätte; hätte er deshalb ein echtes Zollrecht erworben? Wenn er Zeit gehabt hätte, diese Art von Monopol, die seinerzeit ziemlich normal war, einem redlichen Nachfolger zu verkaufen, wäre dann sein Recht in den Händen des Erwerbes respektabler? Warum sieht man stets die Rückerstattung als eine Handlung an, die weniger billig und undurchführbarer als Raub ist? Es gibt drittens auch Besitz legalen Ursprungs, der trotzdem als für das Gemeinwesen [chose publique] schädlich beurteilt werden kann; diese Art von Besitz hat zu Recht Anspruch auf Entschädigung, man muß ihn aber doch aufheben. Diese politische Differenzierung ist durchaus richtig und notwendig; nachdem sie erfolgt ist, seid überzeugt, daß wir alle vor dem heiligen Namen Eigentum auf die Knie fallen werden, und glaubt nicht, daß der, welcher am wenigsten besitzt, davon weniger berührt sei als der, welcher am meisten besitzt; glaubt vor allen Dingen nicht, es sei ein Angriff auf das wahre Eigentum, wenn man das falsche anprangert, [a] In den vorbereitenden Sitzungen der Ständeversammlung zu Romans im Dauphine (5.-10. Sept. 1788) beschloß der Dritte Stand, Unternehmer öffentlicher Arbeiten, Bedienstete des Fiskus sowie alle, die mit grundherrlichen Rechten und der Steuerpacht zu tun hatten, von der Wählbarkeit auszuschließen, weil sie von Gruppeninteressen abhängig seien. Vgl. dazu Jean Egret, Les derniers Etats de Dauphine: Romans (Sept. 1 7 8 8 - J a n v . 1789), Grenoble 1942, 35 f. [Anm. d. Ubers.] 16 Ein Aristokrat, der sich über das, was er die Ansprüche des Dritten Standes nennt, lustig machen will, bemüht sich hartnäckig, diesen Stand mit seinem Sattler, Schuster usw. zu verwechseln; er wählt dann die Sprache, die seiner Meinung nach am ehesten Verachtung gegen die Leute einflößt, von denen er spricht. Doch warum sollten die am wenigsten vornehmen Berufe den Dritten Stand [hier: ordre du Tiers] entehren, wenn sie eine Nation nicht entehren? . . . Andererseits, wenn man im Dritten Stand Zwietracht säen will, weiß man sehr wohl die verschiedenen Klassen zu unterscheiden; man reizt die einen gegen die anderen auf, man bringt die Städter gegen die Landbewohner in Harnisch. Man versucht, die Armen gegen die Reichen aufzubringen. Wenn man alles sagen dürfte, von wieviel belustigenden Streichen einer ausgekochten Heuchelei könnte ich erzählen! Aber das ist alles umsonst; es ist weder der Unterschied im Beruf, noch der an persönlichem Wohlstand, noch der in der Aufgeklärtheit, der die Menschen trennt: es ist der Unterschied zwischen den verschiedenen Interessen. Bei der Frage, die uns beschäftigt, gibt es nur zwei Interessen, das der Privilegierten und das der Nichtprivilegierten; sämtliche Klassen des Dritten Standes sind durch ein gemeinsames Interesse gegen die Bedrückung der Privilegierten verbunden.
3. Was verlangt der Dritte Stand?
139
Man hat geglaubt, die soeben von uns ausgeräumte Schwierigkeit durch die Behauptung vergrößern zu können, der Dritte Stand habe nicht genug Mitglieder, die ausreichend aufgeklärt, mutig usw. seien, um ihn zu vertreten. Man müsse deshalb zu der Aufgeklärtheit des Adels seine Zuflucht nehmen . . . Diese alberne Behauptung verdient keine Antwort. Betrachtet doch die disponiblen Klasseri* des Dritten Standes; und ich nenne mit aller Welt disponible Klassen diejenigen, in denen eine gewisse Wohlhabenheit den Menschen erlaubt, eine liberale Erziehung [education liberale] zu erhalten, ihre Vernunft zu gebrauchen, kurz: sich für die öffentlichen Angelegenheiten zu interessieren. Diese Klassen haben kein anderes Interesse als das der übrigen Bevölkerung. Beurteilt doch selbst, ob es unter ihnen nicht genug gebildete, rechtschaffene Bürger gibt, die in jeder Hinsicht geeignet sind, gute Repräsentanten der Nation zu sein. Wenn aber nun, so sagt man, ein Bailliage::" darauf besteht, im Dritten Stand seine Vollmacht einem Adeligen oder einem Kleriker zu übertragen, wenn er ausschließlich in ihn Vertrauen setzt? . . . Ich habe schon gesagt, d a ß es keine unbegrenzte Freiheit geben könne, und daß unter allen Bedingungen für das passive Wahlrecht [eligibilite] diejenige, die der Dritte Stand fordert, die allernötigste wäre. Wir wollen direkter antworten. Ich gehe einmal davon aus, daß ein Bailliage sich unbedingt schaden will; darf er deshalb das Recht haben, anderen zu schaden? Wenn ich als einziger durch das Verhalten meines Bevollmächtigten betroffen würde, könnte man sich damit begnügen, mir zu sagen: um so schlimmer für euch; warum habt ihr schlecht gewählt? Aber in unserem Fall sind die Abgeordneten eines Distrikts nicht nur die Repräsentanten des Bailliage, der sie benannt hat, sie sind außerdem dazu berufen, die Allgemeinheit der Bürger zu vertreten und für das gesamte Königreich ihre Stimme abzugeben. Es sind also eine gemeinsame Regelung und Bedingungen erforderlich, die — sollten sie auch gewissen Auftraggebern [commettans] mißfallen — doch die Gesamtheit der Nation gegen die Laune einiger weniger Wähler [electeurs] absichern.
§11. Zweite Forderung des Dritten Standes. Daß seine Abgeordneten gleich sind.
denen der beiden privilegierten
Stände an Zahl
Ich kann mich dieser Wiederholung nicht enthalten; die furchtsame Unzulänglichkeit dieser Forderung riecht noch nach den alten Zeiten. Die Städte des Königreiches haben die Fortschritte der Aufklärung und selbst der öffentlichen Meinung"" noch nicht genügend zu Rat gezogen. Sie
140
Was ist der Dritte Stand ?
hätten keine größeren Schwierigkeiten vorgefunden, wenn sie zwei Stimmen gegen eine gefordert hätten, und vielleicht hätte man sich dann beeilt, ihnen diese Gleichheit anzubieten, gegen die man heute mit so viel A u f w a n d kämpft. Im übrigen, wenn man eine Frage wie diese hier entscheiden will, kann man sich nicht damit begnügen, wie man es viel zu oft tut, seinen Wunsch, seinen Willen oder eine Gewohnheit als Begründung anzuführen; man muß auf die Prinzipien zurückgehen. Die politischen wie die bürgerlichen Rechte müssen an die Eigenschaft des Staatsbürgers"" geknüpft sein. Dieses gesetzmäßige Eigentum ist für alle das gleiche, ohne Rücksicht auf das Mehr oder Weniger an tatsächlichem Besitz [propriete reelle], woraus das Sachvermögen oder die Nutznießung eines jeden Individuums bestehen kann. Jeder Bürger, der die festgesetzten Bedingungen erfüllt, um Wähler zu sein, hat das Recht, sich vertreten zu lassen, und seine Vertretung kann nicht ein Bruchstück der Vertretung eines anderen sein. Dieses Recht ist eins; alle üben es gleichermaßen aus, genau wie alle gleichermaßen von dem Gesetz beschützt werden, bei dessen Ausarbeitung sie zusammengewirkt haben. Wie kann man einerseits die A u f f a s sung vertreten, das Gesetz sei der Ausdruck des Gemeinwillens"', das heißt, der Mehrheit, und zur selben Zeit behaupten, daß zehn Einzelwillen tausend andere Willen aufwiegen könnten? Setzt man sich dadurch nicht der Gefahr aus, das Gesetz von der Minderheit machen zu lassen? Was sichtlich gegen die Natur der Dinge wäre. Falls diese Prinzipien, so zutreffend sie sind, von den geläufigen Vorstellungen ein wenig zu stark abweichen, mache ich den Leser auf einen Vergleich aufmerksam, der ins Auge fällt. Ist es nicht so, daß es jedermann richtig findet, wenn der riesige Bailliage Poitou mehr Repräsentanten auf den Generalständen hat als der kleine Bailliage Gex? Aber warum? Weil die Bevölkerung und die Steuern von Poitou weit höher sind als die von Gex. Man führt also Prinzipien ein, nach denen man das Verhältnis der Repräsentanten bestimmen kann. Wollt ihr, daß die Steuern der entsprechende Maßstab seien? Obwohl wir keine genaue Kenntnis der jweiligen Abgaben der Stände haben, so springt doch ins Auge, daß der Dritte Stand mehr als die Hälfte davon trägt. Was die Bevölkerung angeht, so weiß man, was für eine ungeheure Überlegenheit der Dritte Stand über die beiden ersten Stände besitzt. Ich kenne, wie alle Welt, die wahren Größenverhältnisse nicht; aber wie alle Welt werde ich mir erlauben, meine eigene Berechnung anzustellen. Für die Geistlichkeit zuerst. Wir wollen vierzigtausend Pfarreien ansetzen, die Filialen dabei Inbegriffen. Das ergibt sofort die Anzahl der Pfarrer, eingerechnet die Vikare [desservans] der Filialen, also 40 000 Man kann ohne weiteres auf vier Pfarreien einen Vikar [vicaire] rechnen, also 10000
3. Was verlangt der Dritte Stand?
141
Die Anzahl der Kathedralkirchen entspricht der der Bistümer; jede mit zwanzig Chorherren, die einhundertvierzig Bischöfe oder Erzbischöfe Inbegriffen, also Man kann annehmen, daß die Chorherren der Kollegialkirchen im Landesdurchschnitt die doppelte Zahl ausmachen, also Es wäre falsch zu glauben, daß es daneben noch ebenso viele geistliche Personen gäbe wie es einfache Pfründen, Abteien, Priorate und Kapellen gibt. Übrigens ist die Mehrzahl der Pfründen in Frankreich nicht ganz unbekannt; das ist kein Geheimnis. Die Bischöfe und Chorherren sind gleichzeitig Abte, Prioren und Kapläne. Um nicht doppelt zu zählen, schätze ich die Zahl derer, die in den oben genannten Berechnungen nicht enthalten sind, auf dreitausend Pfründeninhaber, also Schließlich nehme ich — und zwar in den Orden — ungefähr dreitausend Geistliche an, die überhaupt keinerlei Pfründe innehaben Es bleiben nun noch die Mönche und Nonnen, deren Zahl sich seit dreißig Jahren zunehmend vermindert hat. Ich glaube nicht, daß es heute noch mehr als siebzehntausend gibt, also
17 000
Die Gesamtzahl der Geistlichen
81 400
Adel. Ich kenne nur ein Mittel, die Zahl der Einzelmitglieder dieses Standes annähernd zu bestimmen: nämlich die Provinz zu nehmen, in der ihre Zahl am besten bekannt ist, und sie mit dem übrigen Frankreich zu vergleichen. Diese Provinz ist die Bretagne; und ich schicke voraus, daß sie an Adel fruchtbarer ist als die anderen, sei es, weil man den Adel dort in keiner Weise aberkennt, sei es auf Grund der Privilegien, die dort die Familien behalten haben, usw. Man zählt in der Bretagne achtzehnhundert adlige Familien. Ich nehme zweitausend an, weil es welche gibt, die keinen Zugang zu den Provinzialständen* haben. Wenn man jede Familie zu fünf Personen rechnet, dann gibt es in der Bretagne zehntausend Adlige jeden Alters und jeden Geschlechts. Die dortige Gesamtbevölkerung beträgt zwei Millionen dreihunderttausend Personen. Diese Zahl verhält sich zur Bevölkerung ganz Frankreichs wie 1 zu 1 1 . Man muß also zehntausend mit elf multiplizieren, und man erhält maximal hundertzehntausend Adlige auf die Gesamtheit des Königreichs, also
2 800 5 600
3 000
3 000
1 1 ο ooo
Im ganzen gibt es also keine zweihunderttausend Privilegierte der beiden ersten Stände. 1 7 Vergleicht diese Zahl mit fünfundzwanzig bis 17 Ich merke dazu an: wenn man die Mönche und N o n n e n , aber nicht die Klöster, von der Gesamtzahl der Geistlichen abzieht, kann man annehmen, d a ß kaum 70 000 bleiben, die
142
Was ist der Dritte Stand ?
sechsundzwanzig Millionen Menschen, und beurteilt dann das Problem. Wenn man jetzt denselben Aufschluß erhalten will, indem man andere, ebenso unbestreitbare Prinzipien zu R a t zieht, dann wollen wir bedenken, daß Privilegien für die große Körperschaft"" der Bürger das sind, was die Ausnahmen für das Gesetz darstellen. Jede Gesellschaft wirklich Bürger, Steuerzahler sind, und die die Berechtigung, Wähler zu sein, besitzen. Wenn ihr beim Adel die Frauen und die Kinder abrechnet, die nicht Steuerzahler, nicht Wähler sind, bleiben kaum dreißig- bis vierzigtausend Bürger, welche die gleiche Berechtigung haben; es folgt daraus, daß der Klerus in bezug auf die Nationalrepräsentation eine viel beträchtlichere Masse darstellt als der Adel. Wenn ich diese Beobachtung anstelle, so gerade deshalb, weil sie der Flut der gegenwärtigen Vorurteile zuwiderläuft. Ich werde vor einem Götzen nicht das Knie beugen; und wenn der D r i t t e Stand, fortgerissen von einer blinden Erbitterung, zu einer Verfügung Beifall klatscht, durch die der Adel zweimal mehr Vertreter erhält als der Klerus, dann sage ich dem Dritten Stand, daß er weder die Vernunft, noch die Gerechtigkeit, noch sein Interesse zu Rate zieht. Wird denn die Öffentlichkeit niemals anders als durch die Vorurteile des Augenblicks sehen können? Was ist eigentlich der Klerus? Eine Körperschaft von Leuten, die mit der Wahrnehmung der öffentlichen Funktionen Unterricht und Kultus beauftragt sind. Ändert seine innere Verwaltung, reformiert ihn mehr oder weniger; er bleibt doch in der einen oder anderen Form notwendig. Diese Körperschaft* ist keineswegs eine exklusive Kaste, sie steht allen Bürgern offen; diese Körperschaft ist so angelegt, daß sie dem Staat nichts kostet. Berechnet bloß, was es die königliche Schatulle kosten würde, allein die Pfarrer zu besolden, und ihr wurdet entsetzt sein über die Steuererhöhung, die die Verschleuderung der Kirchengüter nach sich zöge. Diese Körperschaft kann letztlich nicht darauf verzichten, eine Körperschaft zu sein; sie ist ein Teil der Regierungshierarchie. Im Gegensatz dazu ist der Adel eine exklusive Kaste, getrennt vom Dritten Stand, den er verachtet. Er ist alles andere als eine Körperschaft öffentlicher Funktionsträger; seine Privilegien sind an die Person gebunden, unabhängig von jeder beruflichen Tätigkeit; nichts außerdem Recht des Stärkeren vermag seine Existenz zu rechtfertigen. Während der Klerus Tag für Tag seine Privilegien verliert, bewahrt der Adel die seinen; was sage ich? Er vermehrt sie noch. Ist nicht in unseren Tagen die Ordonnanz herausgekommen, die für den Eintritt ins Militär Nachweise nicht etwa der Befähigung oder vorzüglicher Veranlagungen verlangt, sondern Nachweise aus Pergament, dank derer sich der Dritte Stand vom Militärdienst ausgeschlossen sah! [Vgl. oben S. 110 Anm. a. - Anm. d. Übers.] Die Parlamente" schienen ausdrücklich dafür geschaffen zu sein, dem Volk ein bißehen gegen die Tyrannei der Grundherren beizustehen und es stärker zu machen; die Parlamente haben aber geglaubt, ihre Rolle ändern zu müssen. Ganz kürzlich erst haben sie ohne weitere Umstände alle Rats- und Präsidentenstellen usw. dem Adel für immer zum Geschenk gemacht. Hat der Adel nicht eben auf der Notabelnversammlung von 1787 erreicht, daß der Vorsitz auf den Provinzialversammlungen und sonst überall künftighin zwischen ihm und dem Klerus wechseln soll; und indem er die Teilung dieses Vorsitzes verlangte, hat er es nicht derart einzurichten gewußt, daß der Dritte Stand ganz davon ausgeschlossen wurde, obwohl dieser vom Minister gleichermaßen einberufen worden war? Wenn man dem Dritten Stand zur Entschädigung wenigstens das Recht gelassen hätte, allein den Präsidenten zu wählen, und sei es aus den beiden ersten Ständen! . . . Kurz, welcher Stand ist vom Dritten Stand am meisten zu fürchten, der, welcher täglich schwächer wird und von dem er ohnehin neunzehn Zwanzigstel ausmacht, oder der, welcher es dagegen versteht, sich mehr und mehr abzusondern, in einer Zeit, wo sich offensichtlich im Gegenteil die Privilegierten dem Stand der gewöhnlichen Leute nähern sollten? Wenn die Pfarrer im Klerus die Rolle spielen, zu der sie kraft des Stands der Dinge aufgerufen sind, dann wird der Dritte Stand einsehen, wieviel zuträglicher es für ihn gewesen wäre, eher den Einfluß des Adels als des Klerus vermindert zu haben.
3. W a s verlangt der Dritte Stand?
143
muß durch gemeinschaftliche Gesetze organisiert sein; sie muß einer gemeinsamen Ordnung unterstehen. Wenn ihr dabei Ausnahmen macht, so müssen sie wenigstens selten sein; und in keinem Fall können sie f ü r das Gemeinwesen dasselbe Gewicht, denselben Einfluß wie die gemeinschaftliche Regelung haben. Es ist wirklich unsinnig, angesichts des großen Interesses der Masse der Nation [masse nationale] das Interesse der Begünstigten in Betracht zu ziehen, als sei es gemacht, um in irgendeiner Weise ein Gegengewicht zu bilden. Im übrigen werden wir darüber im sechsten Kapitel mehr sagen. Wenn man sich in einigen Jahren all der Schwierigkeiten erinnern wird, die man heute der allzu bescheidenen Forderung des Dritten Standes in den Weg legt, wird man in Staunen geraten über die geringe Stichhaltigkeit der vorgebrachten Einwände, die man entgegenhält, und mehr noch über die beharrliche Unredlichkeit, die gewagt hat, diese Vorwände an den Haaren herbeizuziehen. Selbst diejenigen, die gegen den Dritten Stand die Autorität der Tatsachen anrufen, könnten dort, wenn sie ehrlich wären, eine Regel für ihr Verhalten finden. Unter Philipp dem Schönen hat die Existenz einer kleinen Zahl von Königsstädten* [bonnes villes] genügt, um die Kammer der Gemeinen* [communes] auf den Generalständen zu bilden. Seit dieser Zeit ist die Feudalknechtschaft verschwunden und das flache Land hat eine zahlreiche Bevölkerung neuer Staatsbürger hervorgebracht. Die Städte haben sich vervielfacht und vergrößert. Handel, Handwerk und Gewerbe haben sozusagen eine Vielzahl neuer Klassen* geschaffen, in denen es eine große Zahl wohlhabender Familien gibt, w o viele sorgfältig erzogene und dem Gemeinwesen* ergebene Männer zu finden sind. Dieses doppelte Wachstum hat weit über das hinausgeführt, was ehedem die Königsstädte* [bonnes villes] in der Waagschale der Nation waren. Warum hat dies dieselbe Obrigkeit nicht bewogen, zwei neue Kammern zugunsten des Dritten Standes zu schaffen? Redlichkeit und gute Politik zusammen fordern das. Man wagt nun aber nicht, sich im Hinblick auf eine andere Art v o n Wachstum, das in Frankreich vor sich gegangen ist, ebenso unvernünftig zu zeigen; ich meine die neuen Provinzen, die seit den letzten Generalständen erworben worden sind. Kein Mensch wagt zu sagen, diese neuen Provinzen sollten außer den Repräsentanten, die sie auf den Generalständen von 1 6 1 4 hatten, keine Repräsentanten haben. Doch haben nicht die Fabriken* und die Wissenschaften genau wie das Territorium neue Reichtümer, neue Steuern und eine neue Bevölkerung erbracht; warum also — wenn es sich um eine Vermehrung handelt, die so einfach mit der des Territoriums zu vergleichen ist —, warum, sage ich, weigert man sich, dem Dritten Stand mehr Repräsentanten zu geben, als an den Generalständen von 1 6 1 4 teilnahmen? Doch ich predige Leuten Vernunft, die nur auf ihr Interesse zu hören wissen. Wir wollen ihnen Betrachtungen vorlegen, die so beschaffen sind,
144
Was ist der Dritte Stand ?
daß sie stärker berührt werden könnten. Ist es richtig, daß der Adel unserer Tage die Sprache und das Verhalten bewahrt, wie er sie im finsteren Mittdalter" besaß? Und ist es richtig, daß der Dritte Stand zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts in den niederdrückenden und feigen Gewohnheiten der Knechtschaft dahinsiecht? Wenn der Dritte Stand sich selbst zu kennen und zu achten weiß, dann werden ihn mit Sicherheit auch die anderen achten! Man bedenke doch, daß sich das alte Verhältnis zwischen den Ständen auf beiden Seiten gleichzeitig verändert hat. Der Dritte Stand war ehedem zu einem Nichts geworden, aber er hat durch seinen Gewerbefleiß::' einen Teil dessen wiedererworben, was ihm dank der Ausplünderung durch den Stärkeren geraubt worden war. Aber anstatt seine Rechte zurückzufordern, hat er darin eingewilligt, sie abzuzahlen; man hat sie ihm nicht wiedererstattet, man hat sie ihm verkauft; und er hat es sich gefallen lassen, sie zu kaufen. Aber er kann sich doch nun auf die eine oder die andere Art in ihren Besitz setzen. Er darf nicht verkennen, daß er jetzt die nationale Wirklichkeit darstellt, von der er früher lediglich der Schatten war; daß während dieses allmählichen Wandels der Adel aufgehört hat, jene gräßliche feudale Wirklichkeit zu sein, die ungestraft unterdrücken konnte; daß er jetzt nur noch ihr Schatten ist, und daß dieser Schatten sich vergeblich bemüht, eine ganze Nation mit Schrecken zu erfüllen, zumindest, wenn diese Nation nicht als die schäbigste des ganzen Erdballs angesehen werden will.
§
III.
Dritte und letzte Forderung des Dritten Standes Daß die Generalstände abstimmen.
nicht
nach
Ständen,
sondern
nach
Köpfen
Man kann diese Frage auf dreierlei Art angehen: in der Denkweise des Dritten Standes, entsprechend dem Interesse der Privilegierten, und schließlich nach den guten Prinzipien. Unter dem ersten Gesichtspunkt wäre es nutzlos, dem, was wir bereits gesagt haben, noch etwas anzufügen; es ist klar, daß diese Forderung für den Dritten Stand eine notwendige Folge der beiden ersten ist. Die Privilegierten befürchten, daß der Dritte Stand den gleichen Einfluß hat wie sie, und sie erklären diese Gleichheit für verfassungswidrig; dieses Verhalten ist um so auffallender, als sie bis zur Stunde zwei gegen einen waren, ohne bei dieser ungerechten Überlegenheit etwas Verfassungswidriges zu finden. Sie fühlen außerordentlich tief das Bedürfnis, ihr Veto gegen alles, was ihrem Interesse entgegen sein könnte, aufrechtzuerhalten. Ich will die logischen Ausführungen nicht wiederholen, mit deren Hilfe zwanzig Schriftsteller diesen Anspruch und
3. Was verlangt der Dritte Stand?
145
das Argument der Beachtung der alten Formen völlig widerlegt haben. Ich habe nur eine Beobachtung zu machen. Es gibt doch mit Sicherheit Mißstände in Frankreich; von diesen Mißständen profitiert irgend jemand; es ist wohl schwerlich der Dritte Stand, f ü r den sie vorteilhaft sind, sondern er ist es gerade, dem sie besonders schaden. N u n frage ich, ob es beim gegenwärtigen Stand der Dinge möglich ist, irgendeinen Mißstand abzuschaffen, solange man das Veto denen läßt, die davon profitieren. Jederlei Recht verlöre an K r a f t ; man müßte dann alles von der reinen Großmut der Privilegierten erwarten. Wäre das etwa die Vorstellung, die man sich von der wahren Gesellschaftsordnung"" macht? Wir wollen jetzt den gleichen Gegenstand betrachten, unabhängig von jedem Sonderinteresse und entsprechend den Prinzipien, die dazu da sind, ihn in ein helleres Licht zu setzen, das heißt: nach den Prinzipien, die die Wissenschaft von der Gesellschaftsordnung ausmachen. Auf diese Weise werden wir sehen, d a ß diese Frage eine neue Gestalt erhält. Ich behaupte, daß man weder die Forderung des Dritten Standes noch die Verweigerung der Privilegierten befürworten kann, ohne die selbstverständlichsten Begriffe umzustoßen. Ich beschuldige die Königsstädte* [les bonnes villes] des Reichs keineswegs, diese Absicht gehabt zu haben. Sie haben dadurch näher an ihre Rechte herankommen wollen, indem sie zumindest den gleichen Einfluß forderten wie die beiden ersten Stände; sie haben übrigens ausgezeichnete Wahrheiten vertreten, denn es ist bekannt, d a ß das Veto eines Standes gegen die anderen ein Recht wäre, das in einem Land mit so entgegengesetzten Interessen alles zu lahmen in der Lage wäre; wenn man nicht nach Köpfen abstimmt, dann ist sicher, daß m a n sich der Gefahr aussetzt, die echte Mehrheit zu verkennen; das zöge den allergrößten Nachteil nach sich, weil dann das Gesetz von Grund auf nichtig wäre. Das sind unbestreitbare Wahrheiten. Aber können sich die drei Stände, so wie sie konstituiert sind, vereinigen, um nach Köpfen abzustimmen? Das ist die Kernfrage. Nein. Wenn man nach den wahren Prinzipien geht, können sie in keiner Weise gemeinschaftlich abstimmen, sie können es weder nach Ständen noch nach Köpfen. Welches Verhältnis ihr auch immer unter ihnen einführt, es k a n n den beabsichtigten Zweck nicht erfüllen und der darin besteht, die Gesamtheit der Repräsentanten durch einen einzigen Willen zu binden. Diese Behauptung bedarf zweifellos einer ausführlichen Darlegung und Begründung. Man erlaube mir, sie ins sechste Kapitel zu verweisen. Ich will nicht jenen maßvollen Leuten mißfallen, die ständig Angst haben, die Wahrheit könne sich bei Unrechter Gelegenheit zeigen. M a n muß ihnen zuvor das Geständnis entreißen, d a ß der jetzige Stand der Dinge einzig auf das Verschulden der Privilegierten zurückgeht, so d a ß es an der Zeit ist, Partei zu ergreifen und alles, was wahr und gerecht ist, deutlich beim N a m e n zu nennen.
146
Was ist der Dritte Stand?
Viertes Kapitel
Was die Regierung versucht hat und was die Privilegierten Dritten Standes vorschlagen.
zugunsten
des
Nicht etwa aus dankenswerten Beweggründen, sondern weil sie sich überzeugen mußte, daß sie die eigenen Fehler ohne freiwillige Mitwirkung der Nation nicht wieder gutmachen konnte, hat die Regierung geglaubt, sich durch das Angebot, etwas für die Nation zu tun, ihrerseits deren blindes Einverständnis zu all ihren Vorhaben zu sichern. Unter diesem Gesichtspunkt hat Herr von Calonne den Plan für die Provinzialversammlungen* vorgelegt.
S1· . Provinzialversammlungen Es war unmöglich, sich auch nur einen Augenblick mit dem Interesse der Nation zu beschäftigen, ohne von der politischen Bedeutungslosigkeit des Dritten Standes betroffen zu sein. J a der Minister spürte sogar, daß die Standesunterschiede jeder Hoffnung zum Besseren entgegenstanden, und hatte wohl die Absicht, sie nach und nach zu beseitigen. Wenigstens scheint der erste Plan für die Provinzialversammlungen in diesem Geiste entworfen und ausgearbeitet worden zu sein. Man braucht ihn nur einigermaßen aufmerksam zu lesen, um zu merken, daß er auf den persönlichen Stand der Bürger keine Rücksicht nahm. Nur von ihren Vermögensverhältnissen oder ihrem tatsächlichen Vermögenszustand war da die Rede. Nicht als Geistlicher, Adliger oder Bürgerlicher, sondern als Eigentümer sollte man zu diesen Versammlungen bestellt werden, deren Bedeutung weniger in ihrem Zweck als in der Art ihres Zustandekommens lag, weil durch sie eine echte Nationalrepräsentation entstand. Man unterschied vier Arten von Eigentum: i . die Grundherrschaften"". Die Grundherren, seien es Adlige oder Bürgerliche, Geistliche oder Laien, sollten die erste Gruppe bilden. Das im Gegensatz zu den Grundherrschaften gewöhnliche oder einfache Eigentum unterteilte man in drei weitere Gruppen. Eine natürlichere Einteilung hätte zwar nur zwei Gruppen ergeben, wie die Art der Arbeiten und der Ausgleich der Interessen es nahelegen, nämlich ländliches und städtisches Eigentum; zu letzterem hätte man außer den Häusern alle Handwerks-, Manufaktur-, Gewerbebetriebe usw. gerechnet. Aber man war wohl der Ansicht, daß die Zeit noch nicht gekommen war, um die gewöhnlichen Kirchengüter in diese beiden Gruppen einzureihen. Man glaubte also, die einfachen, das
4. Was die Regierung versucht hat
147
heißt die nichtherrschaftlichen Güter der Geistlichkeit in einer besonderen Gruppe lassen zu müssen. Und zwar in der zweiten. Die dritte Gruppe umfaßte die Güter auf dem Lande und die vierte das städtische Eigentum. Bemerkenswerterweise hätten sich drei dieser Gruppen ohne Unterschied von Adligen, Bürgerlichen oder Geistlichen zusammensetzen können, weil sich drei jener Eigentumsarten unterschiedslos im Besitz von Bürgern aller drei Stände befinden. J a selbst zu der vierten Gruppe hätten als Vertretung der Spitäler, der Pfarrgebäude usw. Maltheserritter und sogar Laien gezählt. D a ist es eine naheliegende Vorstellung, daß in diesen Versammlungen die öffentlichen Angelegenheiten ohne Ansehen des persönlichen Standes behandelt worden wären und daß so mit der Zeit zwischen den drei Ständen eine Interessengemeinschaft entstanden wäre, die nichts anderes gewesen wäre als das allgemeine Interesse; so wäre die Nation am Ende gewesen, was alle Nationen eigentlich von Anfang an sein sollten, nämlich eins [a]. Aber derartige gute Gedanken überstiegen die vielgepriesene Vorstellungskraft des Prinzipalministers. Nicht etwa, daß er die Interessenlage desjenigen, dem er dienen wollte, nicht sehr gut erkannt hätte; sondern er verkannte völlig den Wert dessen, was er verdarb. Er hat die unpolitische Trennung der persönlichen Stände wiederhergestellt; und obwohl schon allein diese Änderung notwendig einen neuen Plan verlangte, hat er sich für alles, was seine Absichten nicht zu stören schien, mit dem alten Plan begnügt; und dann wunderte er sich über tausend Schwierigkeiten, die täglich aus dieser fehlenden Abstimmung entstanden. Vor allem der Adel konnte sich nicht vorstellen, wie er sich in Versammlungen erneuern sollte, in denen man die Genealogen vergessen hatte. Seine diesbezüglichen Befürchtungen sind für den Beobachter erheiternd gewesen.18 Der größte von allen Fehlern, die beim Bau dieses Gebäudes gemacht worden sind, bestand darin, d a ß man mit dem Dachstuhl begonnen hat, anstatt das Ganze auf seiner natürlichen Grundlage, der freien Wahl der Bevölkerung, zu errichten. U m aber den Rechten des Dritten Standes doch irgendwie zu huldigen, hat ihm der Minister wenigstens eine Zahl von Stellvertretern zuerkannt, die genauso groß ist wie die von Geistlichkeit und Adel zusammen. In diesem Punkt ist die Regelung erfreulich klar. Doch was war die Folge? Man hat eben Abgeordnete für den 18 Siehe die Protokolle der Provinzialversammlungen. [Sie sind alle 1787/88 gedruckt worden, ihre Titel unterscheiden sich nur durch den N a m e n der Generalität; ζ. B. Procesverbal des seances de l'Assemblee provinciale de l'Orleanais . . ., vol. 1—2, Orleans 1787. Anm. d. Ubers.] [a] So der Plan, den Calonne der ersten Notabelnversammlung im Februar 1787 vorlegte. Sein Nachfolger Brienne gab den Grundsatz der überständischen Repräsentation auf. [Anm. d. Übers.]
148
Was ist der Dritte Stand ?
Dritten Stand aus der Reihe der Privilegierten bestellt. Ich kenne eine dieser Versammlungen: von zweiundfünfzig Mitgliedern gehört nur ein einziges nicht zu den Privilegierten. So also dient man der Sache des Dritten Standes, und das, nachdem man öffentlich verkündet hat, ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen zu wollen.
S«. Notabein Die Notabein* haben die Hoffnung des einen wie des anderen Ministers [a] enttäuscht. Dazu gibt es kein treffenderes Urteil als die ausgezeichneten Worte von Herrn C.: »Zweimal hat der König sie um sich versammelt, um sie über das Interesse der Krone zu Rate zu ziehen. Doch was haben die Notabein 1787 getan? Sie haben ihre Privilegien gegen die Krone verteidigt. Und was haben die Notabein 1788 getan? Sie haben ihre Privilegien gegen die Nation verteidigt.« [b] Man hätte die Notabein eben nicht in Fragen der Privilegien, sondern in Fragen der Aufklärung zu Rate ziehen sollen. Einen solchen Fehler begehen selbst die kleinsten Privatleute nicht, wenn sie jemanden in ihren oder anderer Leute Angelegenheiten, die sie wirklich interessieren, um Rat fragen. Herr Necker hat sich geirrt. Konnte er aber ahnen, daß dieselben Leute, die für die zahlenmäßige Gleichheit des Dritten Standes in den Provinzialversammlungen gestimmt hatten, dieselbe Gleichheit für die Generalstände ablehnen würden? Wie dem auch sei, die Öffentlichkeit hat sich darüber nicht getäuscht. Hat sie doch stets deutlich eine Maßnahme getadelt, deren Folgen sie vorausgesehen und von denen sie bestenfalls für die Nation nachteilige Verzögerungen erwartet hat. Es wäre hier der rechte Ort, einige von jenen Beweggründen darzulegen, welche für die Mehrheit der letzten Notabeinversammlung bestimmend gewesen sind. Doch wir wollen dem Urteil der Geschichte nicht vorgreifen; sie wird nur zu bald sprechen für Leute, die es trotz der allergünstigsten Umstände und trotz ihrer Macht, einer großen Nation alles Gerechte, Schöne und Gute vorzuschreiben, vorgezogen haben, diese einmalige Gelegenheit einem erbärmlichen Gruppeninteresse zu opfern und der Nachwelt ein weiteres Beispiel dafür zu liefern, welche Macht die Vorurteile* über den Gemeingeist haben. Wie man sieht, haben die Versuche des Ministeriums für den Dritten Stand keine glücklichen Ergebnisse gebracht.
[ a ] Calonne und Lomenie de Brienne. [Anm. d. Übers.] [ b ] Zitiert aus: Joseph Cerutti, Memoire pour le peuple franfais, 1788, S. 26. [Anm. d. Übers.]
2e ed. corr. et augm., o. O .
4. Was die Regierung versucht hat
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§ ιπPatriotische Schriftsteller der beiden ersten Stände. Es ist bemerkenswert, daß geistliche und adlige Schriftsteller die Sache des Dritten Standes mit mehr Eifer und Kraft verfechten als die Nichtprivilegierten selbst. Ich habe diese Trägheit des Dritten Standes stets nur als eine Folge der Gewohnheit des Schweigens und der Angst des Unterdrückten betrachtet, als einen weiteren Beweis für die Wirklichkeit der Unterdrückung. Ist es denn möglich, ernsthaft über die Grundsätze und den Zweck des Gesellschaftszustandes"" nachzudenken, ohne sich bis ins Innerste über die ungeheuerliche Parteilichkeit der menschlichen Einrichtungen zu empören? Ich wundere mich keineswegs, daß die ersten Verfechter von Gerechtigkeit und Menschlichkeit aus den Reihen der beiden ersten Stände gekommen sind; denn wenn unsere Fähigkeiten [talens] vom ausschließlichen Gebrauch des Verstandes und von langer Übung abhängen und wenn sich die Mitglieder des Dritten Standes in dieser Laufbahn aus tausend Gründen am meisten bewähren müssen, so findet man die Aufklärung der politischen Moral mehr bei Leuten, deren höhere Stellung viel besser geeignet ist, die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erfassen, und deren ursprüngliche Kraft nicht so allgemein gebrochen ist; man muß nämlich zugeben, d a ß es Wissenschaften gibt, die ebensoviel H e r z wie Geist erfordern. Die Nation wird nicht die Freiheit erlangen, wenn sie sich nicht mit Dankbarkeit dieser patriotischen Autoren der beiden ersten Stände entsinnt, die den alten Irrtümern als erste abgeschworen und den verruchten Machenschaften des Gruppeninteresses die Grundsätze der allgemeinen Gerechtigkeit vorgezogen haben. Mögen sie solange, bis ihnen die verdienten öffentlichen Ehrungen zuteil werden, nicht die Huldigung eines Bürgers verschmähen, dessen Herz für sein Vaterland schlägt und der alle Bemühungen vergöttert, die darauf abzielen, es vom Schutt der Feudalität* zu befreien! Es liegt zweifellos im Interesse der beiden ersten Stände, den Dritten Stand wieder in seine Rechte einzusetzen. Denn über eins darf man sich nicht täuschen: die Gewähr für die öffentliche Freiheit kann nur da sein, wo die tatsächliche Stärke liegt. N u r mit dem Volke und durch das Volk können wir frei sein. Wenn auch die meisten Franzosen mit ihrem Leichtsinn und beschränkten Egoismus eine so wichtige Überlegung nicht begreifen, so werden sie doch unfehlbar betroffen sein, wie sehr sich die öffentliche Meinung"" gewandelt hat. Das Reich der Vernunft dehnt sich von Tag zu Tag weiter aus; die Rückerstattung der angemaßten Rechte wird mehr und mehr zu einer Notwendigkeit. Uber kurz oder lang werden sich alle Gruppen in die vom Gesellschaftsvertrag* bestimmten Regeln fügen müssen, jenes Vertrages, der alle Gesellschafter"' wechselseitig betrifft und
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Was ist der Dritte Stand?
verpflichtet. 1 9 Wird dies nun geschehen, um dadurch ungezählte Vorteile zu erlangen oder um sie dem Despotismus zu opfern? D a s ist die eigentliche Frage. In der langen Nacht des finsteren Mittelalters* ist es möglich gewesen, die wahren Beziehungen der Menschen untereinander zu zerstören, alle Begriffe zu verkehren und jede Gerechtigkeit zu korrumpieren; aber beim Anbruch der Aufklärung müssen die mittelalterlichen Absonderlichkeiten sich auflösen, die Uberreste der alten G r a u samkeit in sich zusammenfallen und verschwinden. D a s ist gewiß. Werden wir nur das alte Elend mit einem neuen vertauschen, oder wird die Gesellschaftsordnung"' in ihrer ganzen Schönheit an die Stelle der alten Unordnung treten? Werden die uns bevorstehenden Veränderungen die bittere Frucht eines inneren Krieges sein, der für alle drei Stände in jeder Hinsicht verderblich ist und nur der ministeriellen M a c h t nützt, oder werden sie das natürliche, beabsichtigte und gut herbeigeführte Ergebnis eines einfachen und gerechten Planes, eines glücklichen Zusammenwirkens sein, das mächtige Umstände begünstigen und alle interessierten Gruppen freimütig unterstützen?
§ IV.
Versprechen einer gleichen Steuerverteilung. Die N o t a b e i n haben sich förmlich dafür ausgesprochen, daß alle Stände dieselben Steuern zahlen sollten. D o c h wegen dieser Frage hatte man sie gar nicht zu R a t e gezogen. Es ging um die Art und Weise, wie die Generalstände einberufen werden sollten, und nicht um die Beratungsgegenstände dieser Versammlung. M a n kann jene Erklärung daher nur als eine Äußerung der Pairs"', des Parlaments"' und schließlich all jener besonderer Vereinigungen und Einzelpersonen betrachten, die heute eilig zugeben, daß der Reiche ebensoviel zahlen müsse wie der Arme. W i r können nicht verhehlen, daß das Zusammentreffen so neuartiger Umstände einen Teil der Öffentlichkeit erschreckt hat. Gewiß, hat man gesagt, es ist gut und lobenswert, im voraus seine Bereitschaft zu zeigen, daß man sich gutwillig einer gerechten Steuerverteilung unterwerfen wird, wenn sie beschlossen ist. Doch woher kommen beim zweiten Stand ein so neuartiger Eifer, so viel Eintracht und eilige Bereitschaft? H o f f t man etwa, einen gesetzlichen Akt der Gerechtigkeit überflüssig machen zu k ö n n e n , indem man freiwillig ein Zugeständnis anbietet? Könnte der Ubereifer, der Arbeit der Generalstände zuvorzukommen, nicht dazu führen, daß man auf sie verzichtet? D o c h ich beschuldige den Adel nicht, 19 D e r Sozialvertrag ist nur so zu verstehen, daß er die Gesellschafter untereinander bindet. Eine falsche und gefährliche Vorstellung ist es, einen Vertrag zwischen dem Volk und seiner Regierung anzunehmen. D i e Nation schließt mit ihren Beauftragten keinen Vertrag, sie überträgt [commet] nur die Ausübung ihrer Gewalten.
4. Was die Regierung versucht hat
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er habe zum König gesagt: »Sire, Ihr braucht die Generalstände zur Wiederherstellung Eurer Finanzen. Nun gut! Wir bieten Euch an, wie der Dritte Stand zu zahlen; erwägt, ob Euch diese Zulage nicht von einer Versammlung befreien könnte, die uns noch mehr beunruhigt als Euch.« Nein, diesen Standpunkt kann man unmöglich unterstellen. Eher könnte man den Adel verdächtigen, er wolle den Dritten Stand täuschen, er wolle ihn durch eine Art Vorwegnahme der Gerechtigkeit von seinen jetzigen Forderungen ablenken und ihm die Notwendigkeit vernebeln, auf den Generalständen etwas zu sein. Es ist, als sage der Adel zum Dritten Stand: »Was verlangt ihr? Daß wir euch bezahlen? Das ist nur recht und billig; wir werden bezahlen. Laßt also den Gang der Dinge, wie er ist — jene Verhältnisse, unter denen ihr nichts wart und wir alles, unter denen es uns so leicht gewesen ist, nur so viel zu zahlen, wie uns beliebte.« Welch ein Nutzen wäre es doch für die privilegierten Klassen [classes privilegiaires], für einen unvermeidlichen Verzicht die Beibehaltung aller übrigen Mißbräuche, ja die Aussicht auf ihre Ausweitung zu erkaufen! Wenn zum Abschluß dieses ausgezeichneten Geschäfts nicht mehr erforderlich ist als ein bißchen Begeisterung beim Volke, so dürfte es kaum sehr schwer fallen, es in Bewegung, ja sogar in Rührung zu versetzen, indem man von Erleichterungen redet und ihm mit Wörtern wie Gleichheit, Ehre, Brüderlichkeit usw. usw. in den Ohren liegt. Darauf kann der Dritte Stand erwidern: »Es ist ganz sicher Zeit, daß ihr ebenso wie wir die Last einer Abgabe tragt, die euch viel mehr nützt als uns. Ihr erkennt sehr klar, daß diese ungeheuerliche Ungerechtigkeit nicht länger dauern konnte. Wenn wir in unseren Abgaben frei sind, so liegt es doch auf der Hand, daß wir weder mehr als ihr zahlen können noch wollen. Schon allein dieser unser Beschluß macht uns ziemlich gleichgültig gegenüber euren Verzichterklärungen, die ihr unaufhörlich als Beweis dafür anpreist, welch erlesene Taten Großmut und Ehre von französischen Rittern verlangen können. 20 Sicher, ihr werdet zahlen, 2 0 Ich gestehe, es ist mir unmöglich zu billigen, daß man so großen Wert darauf legt, von den Privilegierten den Verzicht auf ihre finanziellen Vergünstigungen zu erlangen. Der Dritte Stand scheint zu verkennen, daß die Zustimmung zu den Steuern für ihn mindestens ebenso wie für die andern Stände eine Frage der Verfassung ist und daß somit seine Erklärung genügt, daß er nicht gewillt sei, irgendeine Last zu tragen, die nicht allen drei Ständen gleichermaßen auferlegt würde. Ebensowenig bin ich mit der Art und Weise zufrieden, mit der jener allzu sehr erbetene Verzicht in den meisten Bailliagen* vor sich ging — trotz aller weitschweifigen Danksagungen in den Zeitschriften und Zeitungen. D a ist zu lesen, der Adel behalte sich die geheiligten Rechte des Eigentums vor . . . den ihm gebührenden Vorrang . . . und die Auszeichnungen, die zu einer Monarchie gehören. Es ist erstaunlich, daß der Dritte Stand nicht zunächst auf den Vorbehalt der geheiligten Rechte des Eigentums geantwortet hat: daß die gesamte Nation an diesem Vorbehalt gleichermaßen interessiert sei, daß er aber nicht sehe, gegen wen man ihn richten könne; daß, wenn die Stände sich schon getrennt betrachten wollten, die Geschichte sie wohl lehren würde, welcher von den dreien am meisten Ursache habe, den andern nicht zu trauen; kurz, daß er das Ganze als eine will-
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Was ist der Dritte Stand?
aber nicht aus Großmut, sondern um der Gerechtigkeit willen; nicht, weil ihr so freundlich seid, es zu tun, sondern weil ihr es tun müßt. Wir erwarten von euch weniger die Bezeugung eines beleidigenden Mitleids für einen Stand, den ihr so lange ohne Nachsicht behandelt habt, als vielmehr Gehorsam gegenüber dem allgemeinen Gesetz. Aber diese Angelegenheit muß auf den Generalständen verhandelt werden; heute geht es darum, ihnen eine gute Ordnung zu geben. Wenn der Dritte Stand auf ihnen nicht vertreten ist, wird die Nation stumm sein. Dann kann dort nichts Wirksames geschehen. Selbst wenn ihr ein Mittel finden würdet, die gute Ordnung überall ohne unsere Mitwirkung zu errichten, so können wir doch nicht dulden, daß man ohne uns über uns verfügt. Unsere lange schmerzhafte Erfahrung hindert uns sogar daran, an die Dauerhaftigkeit auch nur eines guten Gesetzes zu glauben, das das Geschenk des Stärkeren ist.« Die Privilegierten behaupten unermüdlich, daß zwischen den Ständen alles gleich sein werde, sobald sie auf die finanziellen Vergünstigungen verzichteten. Wenn alles gleich sein wird, was fürchten sie dann von den Forderungen des Dritten Standes? Bildet man sich vielleicht ein, er wolle sich durch einen Angriff auf das Gemeininteresse selbst verletzen? Wenn alles gleich sein wird, wozu dann all diese Bemühungen, um zu verhindern, daß der Dritte Stand seine politische Bedeutungslosigkeit verliert? Doch ich frage, wo ist die wundertätige Macht, die allein aufgrund dessen, daß der Adel seinen Steueranteil zahlt, schon gewährleisten kann, daß jederlei Mißbrauch in Frankreich unmöglich wird? Und wenn noch Mißbräuche und Mißstände fortbestehen, so möge man mir erklären, wie zwischen demjenigen, der die Mißstände genießt, und demjenigen, der unter ihnen zu leiden hat, alles gleich sein kann. Alles ist gleich! Also Wohl nur aus Gleichheitsgesinnung hat man über den Dritten Stand den schändlichsten Ausschluß von allen Ämtern und allen auch nur ein bißchen herausgehobenen Stellen verhängt? Nur aus Gleichheitsgesinnung hat man ihm ein Ubermaß an Steuern abgepreßt, um jene ungeheure Menge von Pfründen aller Art zu schaffen, die ausschließlich für das bestimmt sind, was man so den armen Adel nennt? Bei allen Schwierigkeiten, die zwischen einem Privilegierten und einem Mann aus dem Volke entstehen, ist da letzterer nicht unfehlbar kürliche Beleidigung ansehe, die sich mit dem Wort vergleichen könne: >Wir wollen die Steuer gerne zahlen, aber unter der Bedingung, daß ihr uns nicht bestehlt.< Und weiter, was ist überhaupt der einem Teil der Nation gebührende Vorrang, ohne daß die Nation ihn jemals bewilligt hat? Was ist das für ein Vorrang, den man auch dann nicht mehr schätzt, wenn man erkennt, daß er einen anderen Ursprung hat als das Recht des Degens! Noch weniger schließlich begreift man, worin eigentlich jene der Monarchie wesentlichen Auszeichnungen bestehen, ohne welche eine Monarchie also nicht existieren kann. Keine der uns bekannten Auszeichnungen, nicht einmal jene, in die Karosse des Königs zu steigen, scheint uns so wesentlich, daß sie uns zu dem Ausspruch berechtigte, ohne sie gäbe es keine Monarchie.
4 . W a s die R e g i e r u n g versucht hat
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immer der straflos Unterdrückte, gerade weil er sich an Privilegierte wenden muß, wenn er es wagen sollte, Gerechtigkeit zu fordern? Verfügen nicht die Privilegierten allein über alle Macht und ist ihre erste Reaktion nicht immer die, die Beschwerde eines Bürgerlichen als einen Mangel an Unterwürfigkeit anzusehen? Warum üben die Vollziehungsbeamten von Polizei und Justiz ihr Amt selbst gegenüber dem Privilegierten, den sie auf frischer Tat ertappt haben, nur furchtzitternd aus, während sie den Armen, der erst angeklagt ist, so brutal behandeln? Für wen gibt es eigentlich alle diese Privilegien in Gerichtssachen wie besondere Gerichtsstände, Abberufungen vom ordentlichen Richter, unbefristeter Aufschub des Urteils usw., wodurch man die Gegenseite entmutigt oder zugrunderichtet? Dienen sie etwa dem nichtprivilegierten Dritten Stand? Welche Bürger sind eigentlich den persönlichen Schikanen der Steuereintreiber und Subalternen in allen Zweigen der Staatsverwaltung am meisten ausgesetzt? Doch wohl die Mitglieder des Dritten Standes; darunter verstehe ich immer den eigentlichen Dritten Stand, der keinerlei Vergünstigungen genießt. Weshalb wohl entgehen die Privilegierten auch nach den entsetzlichsten Verbrechen fast immer der Strafe und weshalb wohl bringt man die öffentliche Ordnung auf diese Weise um die abschreckendsten Beispiele? Welcher widersinnige und unmenschliche Dünkel gibt euch überhaupt den Mut, einen privilegierten Verbrecher in den Stand der gewöhnlichen Leute"' zu versetzen, um ihn, wie ihr sagt, zu degradieren und in solcher Gesellschaft offenbar erst fähig zu machen, die Strafe zu erleiden? Was würdet ihr denn sagen, wenn der Gesetzgeber vor Bestrafung eines Bösewichts aus dem Dritten Stand erst einmal dafür sorgen würde, ihn von seinem Stand zu reinigen, indem er ihm den Adelsbrief verliehe? Das Gesetz schreibt für den Privilegierten und den Nichtprivilegierten unterschiedliche Strafen vor. Es scheint den adeligen Verbrecher mit zartfühlendem Verständnis zu begleiten und ihn sogar auf dem Schafott noch ehren zu wollen. Die Kehrseite dieser verabscheuungswürdigen Ungleichheit, die letztlich nur denen bewahrenswert erscheinen kann, die irgendein Verbrechen planen, besteht bekanntlich bei dem unprivilegierten Verurteilten in der Verhängung der Ehrlosigkeit über seine gesamte Familie. Die Schuld an dieser Ungeheuerlichkeit trägt das Gesetz; und da weigert man sich noch, es zu reformieren? Ist doch die Verpflichtung für alle dieselbe und der Verstoß der gleiche; warum sollte dann die Strafe verschieden sein? Seid euch doch bewußt, daß ihr unter den gegenwärtigen Verhältnissen einen Privilegierten nie bestraft, ohne ihn zu ehren und zugleich die Nation zu bestrafen, die unter seinen Verbrechen schon genug gelitten hat. Ich frage also: darf man auch nur beim oberflächlichsten Blick auf die
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Gesellschaft immer noch behaupten, alles werde gleich sein, sobald der Adel auf seine finanziellen Freiheiten verzichte? Es gibt eben Leute, die nur für Geld Gefühl haben; völlig abgestumpft für alles, was mit Freiheit, Ehre, Gleichheit vor dem Gesetz, kurz mit allen gesellschaftlichen Rechten außer dem Geld zusammenhängt, begreifen sie nicht, wie man sich um etwas anderes Sorgen machen kann als darum, ob man einen Pfennig mehr oder weniger zahlt. Doch für niederträchtige Leute schreibe ich ja auch nicht. Was ist von dem ausschließlichen Vorrecht zu halten, selbst in Friedenszeiten und ohne militärische Amtsaufgaben sowie ohne entsprechende Uniform einfach bewaffnet zu erscheinen? Wenn der Privilegierte Waffen trägt, um sein Leben, seinen Besitz, sein» Ehre zu verteidigen, liegt da dem Mann vom Dritten Stand etwa weniger daran, sein Leben, sein Gut zu bewahren, und ist er für seine Ehre nicht ebenso empfindlich? Oder wagt man vielleicht zu behaupten, er brauche sich zu seiner Verteidigung nicht so zu bewaffnen wie der Privilegierte, weil das Gesetz für ihn aufmerksamer wache? Wenn alles gleich ist, wozu dann diese dickbändigen Gesetzessammlungen zugunsten des Adels? Solltet ihr das Geheimrezept entdeckt haben, wie man einen Stand ohne einen Nachteil für die übrigen begünstigt? Wenn ihr aber genau wißt, daß jene Sondergesetzgebung den Adel gleichsam zu einer besonderen Menschenart macht, die angeblich zum Befehlen geboren ist, die übrigen Bürger dagegen zu einer Art Helotenvolk, dessen Bestimmung es ist zu dienen — dann belügt ihr eure Gewissen und versucht die Nation mit dem Geschrei, alles sei gleich, zu betäuben! 2 1 Schließlich sind sogar die Gesetze, die ihr für die allgemeinsten und unparteilichsten haltet, an den Privilegien mitschuldig. Ihr braucht nur ihren Geist zu untersuchen und ihre Wirkung zu beobachten; für wen .sind sie offensichtlich gemacht? Für die Privilegierten. Und gegen' wen? Gegen das Volk usw. usw. Und da verlangt man noch, das Volk solle zufrieden sein und an nichts mehr denken, weil ja der Adel einwillige, genauso zu zahlen wie es! Man verlangt, daß die junge Generation vor der Aufklärung ihrer Zeit die Augen verschließt und sich in aller Ruhe an eine Unterdrückungsordnung gewöhnt, welche die ältere Generation nicht länger ertragen konnte! Doch verlassen wir einen unerschöpflichen Gegenstand, der nur 21 Ein Aristokrat hat einmal gesagt, man möge ihm doch die vielen Privilegien zeigen, die er genieße und über die man sich beklage. Ein Volksfreund antwortete: Sagt ihr uns besser, wo keine Privilegien sind. Beim Privilegierten riecht doch alles nach Privileg, selbst die Miene, mit der er fragt und die man bei einem einfachen Bürger sehr seltsam finden würde, j a sogar der dreiste Ton seiner Fragen, die er bei sich längst entschieden hat. Selbst wenn alle Privilegien auf ein einziges beschränkt würden, fände ich dieses immer noch unerträglich. J a begreift man denn nicht, d a ß es sich mit den Privilegierten vermehren würde?
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erneut Gefühle der Empörung weckt. 22 Alle besonderen Besteuerungen des Dritten Standes werden abgeschafft; daran ist nicht zu zweifeln. Das wäre doch wohl ein seltsames Land, wo diejenigen Bürger, welche den meisten Nutzen vom Gemeinwesen haben, am wenigsten zu ihm beisteuern! Ein Land, in dem es Steuern gäbe, deren Zahlung ehrenrührig wäre und die selbst der Gesetzgeber als erniedrigend achtete! Fragt doch einmal euren gesunden Menschenverstand, was das eigentlich für eine Gesellschaft ist, in der Arbeit den Verlust des Adels nach sich zieht, in der es ehrenvoll ist, Waren zu verbrauchen, aber erniedrigend, sie zu erzeugen, in der alle anstrengenden Berufe als niedrig gelten; als ob nicht das Laster niedrig wäre und als ob die meiste und einzig wirkliche Niedertracht ausgerechnet bei der arbeitenden Bevölkerung [les classes laborieuses] anzutreffen wäre! Kurz, alle Wörter wie Taille* 2 3 , Freilehen [franc-fief], Einquartierungsrechte [ustensiles] usw. werden für immer aus der politischen Sprache getilgt werden und der Gesetzgeber wird sich nicht länger das törichte Vergnügen machen, Ausländer abzuschrecken, die diese schänd22 Dennoch ist hier nur von der Ungleichheit der bürgerlichen Rechte die Rede gewesen; richtige Begriffe über die ungeheuerliche Ungleichheit der politischen Rechte gebe ich in den beiden letzten Kapiteln. 23 H i e r ist die Bemerkung angebracht, daß die Abschaffung der Taille* für die Privilegierten finanziell vorteilhaft sein wird, wenn man sich, wie es scheint, damit begnügt, sie durch eine allgemeine Abgabe zu ersetzen. 1. Es ist bekannt, daß in den Gegenden, wo die Taille an die Person gebunden ist, letztlich nur der Eigentümer die Steuer zahlt. D e r Pächter, dem ihr sagen würdet, daß ihr seine Steuer tragt, würde nur den Pachtzins um denselben Betrag erhöhen. Wenn ihr die Taille also durch eine Steuer ersetzt, die sich gleichermaßen auf alle Güter erstreckt, so liegt auf der Hand, daß ihr zugleich die Masse jener Güter, die heute die Taille bezahlen, von dem ganzen Teil jener Ersatzsteuer entlastet, welche die von der Taille befreiten Besitzungen zur Zeit entrichten. D a die verpachteten Güter den beträchtlichsten Teil dieser Steuer zahlen, ist es gewiß, daß der größte Teil der Entlastung zum Vorteil der Gesamtheit der Güter sein wird. Diese gehören nun aber vor allem den Privilegierten, ich habe also zu Recht gesagt, daß die Privilegierten weniger zahlen würden. 2. In Gegenden, wo die Taille an den Boden gebunden ist [taille reelle], werden die Landgüter um den ganzen Teil der Steuer entlastet, der auf die adeligen Besitzungen übertragen wird. Diese Umwandlung wird auf den persönlichen Status der Eigentümer keine Rücksicht nehmen. D a wir nicht wissen, welchem Stande der Staatsbürger die meisten adeligen G ü t e r und der meiste Landbesitz gehören, darf man auch nicht ausschließlich dem Adel die besonderen Vor- und Nachteile zuschreiben, die aus der Abschaffung der Taille entstehen. Die reichen Grundherren' 1 haben sich sehr genau ausgerechnet, daß die Abschaffung der Taille, des Freilehens usw. den Wechsel ihrer Vasallen begünstigt, den Wert von Grund und Boden erhöht und ihnen folglich neuen Geldgewinn verspricht. Es ist sicher schlecht, die Taille den Pächtern aufzuerlegen; würde man sie jedoch unter einem anderen Namen von den Eigentümern selbst erheben für alle Güter, die sie verpachten, dann wäre das eine politisch ausgezeichnete Steuer, weil sie die kleinen Grundeigentümer davon abbringen würde, die Bewirtschaftung ihrer Güter aufzugeben, und weil sie praktisch eine Verbotssteuer oder Strafgebühr für den Müßiggang der Großgrundbesitzer wäre.
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liehen Unterschiede hindern, ihr Kapital und ihre Arbeitskraft bei uns einzuführen. Aber trotz dieser guten Aussicht und tausend weiterer Vorteile, die eine wohlgeordnete Versammlung der Bevölkerung verschaffen kann, erkenne ich immer noch nicht, was dem Dritten Stand eine gute Verfassung verspricht. Darin ist er bei seinen Forderungen nicht weiter gekommen. Die Privilegierten verteidigen hartnäckig alle ihre Vergünstigungen. Wie der verhältnismäßige Anteil ihrer Abgeordneten auch sein mag, sie wollen zwei getrennte Kammern bilden; sie wollen zwei von drei Stimmen und behaupten, jeder von ihnen stehe das Weigerungsrecht [la negative] zu. Wahrlich ein vortreffliches Mittel, jede Reform unmöglich zu machen! Diese Starrheit wäre so recht nach dem Geschmack der beiden ersten Stände. Aber kann das auch dem Dritten Stand gefallen? Man sieht wohl, daß es nicht seine Sache sein kann, das nette Wort eines Generalsteuerpächters zu wiederholen: »Warum verändern? Es geht uns doch so gut!«
§V· Kompromißvorschlag der gemeinsamen Freunde der Privilegierten und der Regierung. Die Regierung fürchtet vor allem eine Beratungsform, die alle Geschäfte unterbricht und damit zugleich die erhofften Geldbewilligungen verzögert. Wenn man sich nur erst einmal über die Deckung des Defizits einigen könnte, würde das übrige überhaupt nicht mehr interessieren; die Stände könnten sich streiten, so viel und so lange sie wollten. Ganz im Gegenteil: je weniger sie vorankämen, desto mehr Hoffnung hätte das Ministerium, seine willkürliche Macht zu befestigen. Hier liegen die Beweggründe für einen Kompromißvorschlag, mit dem man neuerdings überall hausieren geht und der für Ministerium und Privilegierte ebenso vorteilhaft ist, wie er für den Dritten Stand tödlich sein würde. Man schlägt vor, über die Abgaben und alles, was die Steuern betrifft, nach Köpfen abzustimmen. Danach könnten die Stände gerne nach Kammern getrennt weitertagen, gleichsam uneinnehmbare Festungen, in denen die Gemeinen"" [les communes] erfolglos beraten und die Privilegierten furchtlos genießen würden, während der Minister [a] Herr der Lage bliebe. Aber glaubt man denn im Ernst, der Dritte Stand würde in eine so plumpe Falle gehen? Da die Beschließung der Abgaben die letzte [ a ] Sieyes wendet sich hier gegen eine Stellungnahme Neckers, die abgedruckt ist in: Resultat du Conseil d'Etat du Rot tenu ä Versailles, le 27 decembre 1788. Suivi du rapport fait au Roi, dans son Conseil, par le Ministre de ses Finances. Paris 1788, 26 S. Der kurze Staatsratsbeschluß ist auch abgedruckt in: Archives parlementäires de 1787 a 1860. lere ser.: 1787 ä 1799. Paris 1867 ff., Bd. 1, S. 611. [Anm. d. Ubers.]
4. Was die Regierung versucht hat
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Maßnahme der Generalstände zu sein hat, muß man sich eben zuvor über eine allgemeine Form für alle Beratungen geeinigt haben; und dann wird man schwerlich sehr weit von der Form entfernt sein, die gewährleistet, daß die Versammlung von all ihren Kenntnissen und all ihrer Weisheit Gebrauch machen kann. 24
§ vi.
Man schlägt vor, die englische Verfassung nachzuahmen. Im Stand des Adels sind mit der Zeit unterschiedliche Interessen entstanden. Er ist nahe daran, sich in zwei Parteien"' zu spalten. Alle, die zu den drei- oder vierhundert vornehmsten Familien zählen, schmachten nach der Einführung eines Oberhauses wie in England. Ihr Dünkel gefällt sich in der Aussicht darauf, nicht mehr mit dem großen Haufen der gewöhnlichen Edelleute zusammengeworfen zu werden. Der Hochadel würde also liebend gern einwilligen, die übrigen Edelleute mit der Allgemeinheit der Bürger in die Kammer der Gemeinen zu verweisen. Der Dritte Stand wird sich wohlweislich vor einem System hüten, das auf nicht weniger hinausläuft als darauf, seine Kammer mit Leuten vollzustopfen, deren Interesse dem Gemeininteresse so völlig entgegengesetzt ist; ein System, das ihn bald in die Bedeutungslosigkeit und Unterdrückung zurückwerfen würde. In dieser Beziehung besteht zwischen England und Frankreich ein wirklicher Unterschied. In England sind nur diejenigen Adeligen privilegiert, denen die Verfassung einen Teil der verfassungsgebenden Gewalt überträgt. 2 5 Alle übrigen Bürger gehen in ein und demselben Interesse auf; es gibt keine Privilegien, die aus ihnen unterschiedliche Stände machten. Wenn man aber in Frankreich die drei Stände zu einem Stand vereinigen will, so muß man zuvor jede Art von Privileg abschaffen. Der Adelige und der Priester dürfen kein anderes Interesse kennen als das Gemeininteresse :; " und kraft Gesetzes nicht mehr als die Rechte eines einfachen Bürgers besitzen. Andernfalls werdet ihr 24 Siehe Überblick Uber die Ausführungsmittel . . ., S. 87 bis 91. [Sieyes verweist auf die 2. Aufl. von 1789. Vgl. die Ubersetzung oben S. 65 ff. - Anm. d. Ubers. ] 25 N i c h t einmal die Lords des Oberhauses bilden einen besonderen Stand. Es gibt in England nur einen Stand, die Nation. Das Mitglied der Kammer der Pairs ist n u r ein hoher Beamter, den das Gesetz zur Ausübung eines Teils der Gesetzgebung und großer richterlicher Aufgaben bestellt hat. Dieser Mann ist durch kein Kastenrecht privilegiert, das in keiner Beziehung zu den öffentlichen Aufgaben steht, denn die jüngeren Bruder eines Pairs haben an dessen Privilegien keinen Anteil. Allerdings sind diese hohen Ämter an die Geburt oder vielmehr an die Erstgeburt geknüpft; das ist eine Huldigung an die vor hundert Jahren noch vorherrschende Feuda!ität' : ; das ist eine zugleich barbarische und lächerliche Einrichtung, denn wie die Könige erblich geworden sind, um innere Unruhen zu vermeiden, die womöglich bei ihrer Wahl entstehen könnten, so besteht doch kein Grund, bei der Bestellung eines bloßen Lords etwas ähnliches zu befürchten.
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die Stände vergeblich unter einer selben Bezeichnung zusammenfassen; sie werden stets drei verschiedene Grundstoffe bilden, die man nicht zusammenschmelzen kann. Man werfe mir nun nicht vor, ich würde die ständischen Unterschiede verteidigen; ich betrachte sie im Gegenteil als die jeder gesellschaftlichen Wohlfahrt schädlichste Erfindung. Aber noch schlimmer als dies Elend erscheint es mir, die Stände nur dem Namen nach aufzulösen, sie aber in Wirklichkeit durch die Beibehaltung der Privilegien weiterhin getrennt zu halten. Das hieße doch, ihren Sieg über die N a t i o n f ü r immer besiegeln. Das öffentliche Wohl verlangt, daß sich das Gemeininteresse irgendwo rein und unvermischt erhält. Aus dieser guten und allein nationalen Uberzeugung heraus wird sich der Dritte Stand niemals dazu bereit finden, daß mehrere Stände in eine sogenannte Kammer der Gemeinen* einziehen, denn eine Commune [a], die aus verschiedenen Ständen besteht, ist doch wohl ein absonderlicher Gedanke. M a n kann sagen, daß sich schon allein die Begriffe widersprechen. In diesem Widerstand wird den Dritten Stand der niedere Adel unterstützen, der seine Privilegien niemals gegen eine Auszeichnung eintauschen wird, die ihm nicht nützt. Seht doch, wie er sich im Languedoc gegen die Aristokratie* der Barone erhebt [b]. Die Menschen lieben es im allgemeinen sehr, alles, was größer ist als sie, gleich zu machen; dann aber geben sie sich besonnen [philosophes]. Dies Wort wird ihnen erst in dem Augenblick verhaßt, in dem sie dieselben Grundsätze bei den Leuten unter ihnen bemerken. Der Vorschlag eines Zweikammersystems gewinnt bei uns jedoch so viele Anhänger, d a ß man wirklich erschrecken muß. [c]. Die eben von uns genannten Unterschiede bestehen wirklich; niemals wird eine in [ a ] D i e U b e r s e t z u n g ü b e r n i m m t hier d e n A n g l i z i s m u s des O r i g i n a l s . [ A n m . d. U b e r s . ] [ b ] N a c h v e r b r i e f t e m alten Recht, d a s ein S t a a t s r a t s b e s c h l u ß v o m 28. Juli 1769 bestätigte, s e t z t e n sich die S t ä n d e d e r P r o v i n z L a n g u e d o c z u s a m m e n aus 2 3 P r ä l a t e n ( 2 0 Bischöfe, 3 E r z b i s c h ö f e ) , 2 3 B a r o n e n , die i h r R e c h t m i t i h r e n B e s i t z u n g e n v e r e r b t e n , u n d 68 A b g e o r d n e t e n der S t ä d t e u n d Diözesen. G e g e n diese Z u s a m m e n s e t z u n g e r h o b sich b e s o n d e r s seit E n d e 1 7 8 8 W i d e r s p r u c h v o n verschiedenen Seiten. So p r o t e s t i e r t e n die neu gew ä h l t e n M u n i z i p a l i t ä t e n v o n Toulouse, M o n t p e l l i e r , Beziers, P e z e n a s u n d S a i n t - H y p p o lite, die v o m Kleinadel u n t e r s t ü t z t w u r d e n , v o r allem d a g e g e n , d a ß die h o c h a d e l i g e n B a r o n e allein keineswegs den Adel insgesamt r e p r ä s e n t i e r t e n ; u n d Edelleute von T o u louse richteten ein G e s u c h ΛΠ d e n König, ihnen eigene Stellvertreter f ü r die G e n e r a l s t ä n d e zu g e w ä h r e n , weil die B a r o n e n i c h t v o n i h n e n g e w ä h l t seien. Vgl. d a z u besond e r s C l a u d e J o s e p h T r o u v e , E t a t s de L a n g u e d o c et d e p a r t e m e n t de l'Aude, Paris 1818, n a c h e i n a n d e r S. 3 0 8 - 3 1 1 , 3 1 6 - 3 2 7 , 2 8 8 f., 2 9 8 f. S. a. Emile A p p o l i s , Les e t a t s de L a n g u e d o c au X V I I I e siecle, in: Etudes presentees ä la C o m m i s s i o n I n t e r n a t i o n a l e p o u r l ' H i s t o i r e des Assemblees d ' E t a t s 3 ( 1 9 3 9 ) , 1 3 5 ; J. Sentou, i n : H i s t o i r e d u L a n g u e d o c , p u b l . sous la dir. de Philippe W o l f f , T o u l o u s e 1967, 4 3 8 . [ A n m . d. U b e r s . ] [c] D i e f o l g e n d e n P a s s a g e n h a t Sieyes erst in die d r i t t e A u f l a g e e i n g e f ü g t . Er b e z i e h t hier Stell u n g gegen die V o r - R e v o l u t i o n im D a u p h i n e mit ihren S t ä n d e v e r s a m m l u n g e n zu Vizille u n d R o m a n s u n d gegen ihren f ü h r e n d e n Kopf J e a n J o s e p h M o u n i e r u n d dessen Schrift Nouvelles observations sur les Etats generaux de France v o m F e b r u a r 1789. [ A n m . d. Ubers.]
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Stände gespaltene Nation irgend etwas gemein haben mit einer Nation, die eins ist. Wie wollt ihr mit so unterschiedlichen Materialien in Frankreich dasselbe politische Gebäude errichten wie in England? Gedenkt ihr etwa, zu eurem Unterhaus einen Teil von euren beiden ersten Ständen zuzulassen? Dann klärt uns bitte vorher darüber auf, wie man aus mehreren Ständen eine Commune bilden kann! Wie wir soeben bewiesen haben, kann eine Commune nur eine Gemeinschaft von Bürgern sein, welche dieselben bürgerlichen und politischen Rechte haben. Es ist blanker Hohn, wenn man das Wort anders versteht und meint, dadurch eine Commune zu bilden, daß man Bürger mit ungleichen bürgerlichen und politischen Rechten in einen Saal zusammensetzt. In England werdet ihr ein so seltsames Gebilde bestimmt nicht finden. Ich füge hinzu, daß jener Teil des Adels, den ihr zu eurer sogenannten Kammer der Gemeinen zulaßt, nur kurze Zeit benötigen wird, um die meisten Abgeordnetensitze an sich zu reißen. Der Dritte Stand würde seine wahren Stellvertreter verlieren und wir würden zu den alten Verhältnissen zurückkehren, unter denen der Adel alles war und die Nation nichts. Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, schlagt ihr vielleicht vor, die zweite Kammer ausschließlich dem Dritten Stand vorzubehalten. Dann bleibt eure jetzige Lage unverändert. J a die Vereinigung der beiden privilegierten Stände ist sogar ein zusätzliches Übel; ihr macht die Privilegierten durch diese Verbindung nur stärker gegen den Stand der gewöhnlichen Leute::" und alle zusammen schwächer gegenüber der Regierungsmacht, die sehr wohl erkennt, daß zwischen zwei zerstrittenen Hälften der Bevölkerung das Gesetz des Handelns ihr zufällt; übrigens sehe ich auch nicht, wie ihr mit dieser neuen Regelung der englischen Verfassung folgt. Ihr legitimiert und besiegelt doch nur die Sonderstellung des privilegierten Standes; ihr spaltet die Interessen der Nation für immer davon ab und verewigt den Haß oder besser eine Art Bürgerkrieg, der jedes Volk heimsucht, das in Privilegierte und Nichtprivilegierte gespalten ist. Bei unseren Nachbarn dagegen sind alle Interessen der Nation in der Kammer der Gemeinden vereinigt. Selbst die Pairs"' würden sich hüten, sich dem Gemeininteresse entgegenzustellen; ist es doch ihr eigenes und besonders das Interesse ihrer Brüder, ihrer Kinder und ihrer ganzen Familie, die alle von rechtswegen zur Commune gehören. Und da wagt man das englische Oberhaus mit einer Kammer zu vergleichen, welche in Frankreich die Geistlichkeit und den Adel vereinigen würde! Welche Form ihr unserer Kammer auch gebt, ihr werdet nie eine Menge von Übeln vermeiden, die wesentlich mit ihr verknüpft sind. Bildet ihr sie aus echten Stellvertretern der Geistlichkeit und des Adels aus dem ganzen Königreich, so ist das, wie gesagt, die endgültige Spaltung der beiden Interessen und der Verzicht auf die Hoffnung, eine Nation zu werden. Bildet ihr aber eine Pairskammer, so könnt ihr sie entweder mit
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Was ist d e r D r i t t e Stand ?
Abgeordneten besetzen, die eine bestimmte Zahl der angesehensten Familien gewählt hat, oder wenn ihr euch noch weniger von eurem englischen Vorbild entfernen wollt, könnt ihr einfach aus der Pairseigenschaft ein erbliches öder wenigstens ein lebenslängliches Vorrecht machen. Unter all diesen Voraussetzungen würden die Schwierigkeiten nur größer; alle setzen sie eine gemischte Kammer der Gemeinen und folglich eine Mißgeburt voraus usw. Wenh es dem König von England übrigens gefällt, jemanden zum Pair zu ernennen, so ist er nicht verpflichtet, ihn nur aus einer Bürgerklasse zu nehmen — ein zusätzlicher Unterschied, der unsere Vorstellungen über den Adel vollends verwirrt. Ich füge eine letzte Bemerkung an; sie ergibt sich ganz selbstverständlich aus der Voraussetzung eines Oberhauses, das aus erblichen Mitgliedern oder aus Mitgliedern auf Lebenszeit besteht. Obwohl solche Leute bestimmt keineswegs die Stellvertreter der Nation wären, würden sie doch deren Vollmacht ausüben. Wäre es da etwa — ehrlich gesagt — so ganz abwegig, sich Umstände vorzustellen, unter denen die Einberufung der Gemeinen sehr störend wäre? Zunächst könnte man sie aus tausend naheliegenden Gründen von einem Termin zum andern vertagen. Schließlich würde dann die Zeit so sehr drängen, daß man das Oberhaus in aller Form ersuchen würde, im voraus dieser Anleihe, jenem Gesetz usw. zuzustimmen. Die weitere Entwicklung überlasse ich dem Vorstellungsvermögen des Lesers. Es wäre doch recht lustig, wenn wir am Ende wieder genau bei dem Obergerichtshof [Cour pleniere] [a] landen würden, dem wir vor kurzem einen so bösen Empfang bereitet haben! Es muß doch, so scheint es mir, erlaubt sein, einem Plan unser Wohlgefallen zu versagen, der uns in den Abgrund stürzen könnte, dem wir gerade für immer entkommen zu sein glaubten. Wir brauchen wahrlich weder eine königliche noch eine Feudalkammer. Doch ich will, bevor ich diesen Abschnitt beende, noch bemerken, daß ich die Trennung nach Kammern nur insofern angegriffen habe, als sie eine Trennung nach Ständen bedeutet. Haltet beides streng auseinander, und ich werde der erste sein, der drei in jeder Hinsicht gleiche Kammern fordert, deren jede aus einem Drittel der Abordnung der Nation besteht. Zur Ergänzung dieses neuen Plans brauchte man dann nur noch das Mittel einzusetzen, das im Überblick über die Ausführungsmittel. . ., Seite 89 bis 90 beschrieben ist [b], um in allen Fragen, in denen die drei Kammern als ganze nicht miteinander übereinstimmen, durch die Mehrheit der Einzelstimmen einen gemeinschaftlichen Bcschluß herbeizuführen.
[a] Ein im Mai 1 7 8 8 e r r i c h t e t e r neuer Obergerichtshof, der den W i d e r s t a n d der P a r l a m e n t e * gegen Briennes Reformvorlagen brechen sollte. Alle g a n z Frankreich betreffenden Gesetze sollten u.inach n u r noch seiner zentralen Registrierung b e d ü r f e n . D a g e g e n solidarisierten sich a u f g e k l ä r t e s Bürgertum und Privilegierte mit Erfolg. [ A n m . d. Ubers.] [b] Siehe oben die U b e r s e t z u n g S. 66—69. [Anm. d. U b e r s . ]
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§ VII.
Die Nachahmungssucht ist uns kein guter Wegweiser. Wir hätten nicht so viel Vertrauen zu den englischen Einrichtungen, wenn bei uns die politischen Kenntnisse älter und verbreiteter wären. In dieser Hinsicht sind die Leute in Frankreich zu jung oder zu alt. Beide Alter, die auch sonst vieles gemeinsam haben, ähneln sich außerdem darin, d a ß das eine wie das andere nur dem Beispiel folgt. D i e Jungen suchen die N a c h a h m u n g , die Alten können nur wiederholen. Diese bleiben ihren eigenen Gewohnheiten treu. J e n e äffen deren Gewohnheiten nach. D a r a u f aber beschränkt sich ihr Eifer auch. Man wundere sich also nicht, daß eine N a t i o n , deren Augen sich noch kaum an die Aufklärung gewöhnt haben, sich zur englischen Verfassung hinwendet und sie sich in jeder Hinsicht zum Vorbild nehmen will. Es wäre sehr wünschenswert, wenn sich in diesem Augenblick irgendein guter Schriftsteller der Aufgabe unterziehen würde, uns über die beiden folgenden Fragen aufzuklären: Ist die britische Verfassung als solche gut? Wenn j a , ist sie für Frankreich geeignet? 2 6 Ich fürchte, dies vielgepriesene Meisterwerk kann einer unparteiischen Prüfung a n h a n d der Grundsätze der wahren politischen Ordnung schwerlich standhalten. Vielleicht würden wir erkennen, daß es weniger das Werk der Aufklärung, als vielmehr ein Ergebnis des Zufalls und der Umstände ist. Sein Oberhaus zeigt offensichtlich Spuren der Zeit der Revolution [ R e v o l u t i o n ] , Dies kann man, wie gesagt, nicht anders denn als D e n k m a l des mittelalterlichen Aberglaubens betrachten. Seht doch nur, wie schlecht jene Nationalvertretung in ihren Grundelementen ist, und zwar nach dem Eingeständnis der Engländer selbst! U n d dabei sind die Merkmale einer guten Repräsentation für die Bildung einer guten Gesetzgebungskörperschaft das Allerwesentlichste. H a t m a n etwa aus den wahren Grundprinzipien den Gedanken abgeleitet, die gesetzgebende Gewalt in drei Teile zu trennen, von denen lediglich einer im N a m e n der N a t i o n sprechen soll? Wenn die Grundherren * und der K ö n i g keine Stellvertreter der Nation sind, dann haben sie bei der gesetzgebenden Gewalt nichts zu suchen; denn die N a t i o n kann ihren Willen selbst äußern und kann sich folglich allein gute Gesetze geben. W e r immer Mitglied der Gesetzgebungskörperschaft ist, er ist nur in so weit befugt, für die Bevölkerung abzustimmen, als diese 26 Seit der ersten Auflage dieser Schrift ist ein ausgezeichnetes Werk erschienen, das mit geringen Einschränkungen meinem hier geäußerten Wunsch entspricht. Der Titel lautet: Examen du Gouvernement d'Angleterre, compare aux Constitutions des Etats-Unis, eine Broschüre von 2 0 0 Seiten. [Es handelt sich um eine meist fälschlich Livingston zugeschriebene Apologie der amerikanischen Verfassung von John Steven, deren französische Ubersetzung ausführliche Anmerkungen von Condorcet, Dupont und Gallois enthält. — Anm. d. Ubers.]
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Was ist der Dritte Stand?
ihm ihre Vollmacht erteilt hat. Wo aber ist die Vollmacht zu suchen, wenn es keine freie und gleiche Wahl gibt? Ich leugne nicht, daß die englische Verfassung für die Zeit ihrer Entstehung ein staunenswürdiges Werk ist. Doch obgleich man bereitwillig über den Franzosen spottet, der nicht vor ihr auf die Knie fällt, wage ich zu sagen, daß ich in ihr nicht die Einfachheit der guten Ordnung, sondern eher ein Gerüst von Vorkehrungen gegen die Unordnung erblicke. 27 Und da bei den politischen Einrichtungen alles zusammenhängt, da jede Handlung ihrerseits aus einer Kette von Ursachen und Wirkungen folgt, denen man um so weiter nachspüren kann, je mehr man, die Fähigkeit besitzt, sich in die Sache zu vertiefen, so ist es durchaus nicht zu verwundern, daß große Köpfe darin viel Tiefe erkennen. Übrigens liegt es ganz im gewöhnlichen Gang der Dinge, daß die komplizierten Maschinen die eigentlichen Fortschritte des art social"" wie überhaupt aller anderen Künste vorbereiten; ihnen gebührt so zugleich der Ruhm, mit einfachen Mitteln die größten Wirkungen zu erzielen. Es wäre falsch, sich allein deswegen für die britische Verfassung zu entscheiden, weil sie seit hundert Jahren Bestand hat und sich offenbar noch einige Jahrhunderte halten wird. Welche menschliche Einrichtung, so schlecht sie auch sein mag, ist eigentlich nicht von langer Dauer? Dauert denn nicht auch der Despotismus lange, ja scheint er im größten Teil der Welt nicht ewig? Ein besserer Prüfstein sind die Wirkungen. Vergleicht man unter diesem Gesichtspunkt das englische Volk mit seinen Nachbarn auf dem Festland, so kann man schwerlich verkennen, daß es besser daran ist. In der T a t hat es eine Verfassung, so unvollständig sie auch ist, wir aber haben nichts. Der Unterschied ist groß. Und es ist keineswegs verwunderlich, wenn man das an den Folgen merkt. Aber es ist bestimmt ein Irrtum, alles Gute in England allein der Macht der Verfassung zuzuschreiben. Es gibt offensichtlich dies oder jenes Gesetz, das besser ist als die Verfassung selbst. Ich meine das Gerichtsurteil durch Geschworene, den wahren Bürgen der persönlichen Freiheit in allen Ländern der Erde, wo man nach Freiheit strebt. Dies Verfahren der Rechtsprechung schützt als einziges vor dem Mißbrauch der richterlichen Gewalt, der so häufig und überall da zu fürchten ist, wo man nicht durch Seinesgleichen 27 In England führen das Ministerium und die Aristokratie der Opposition einen ständigen Kampf um die Regierung. Die Nation und der König erscheinen dabei beinahe als einfache Zuschauer. Die Politik des Königs besteht darin, immer der stärksten Seite [parti] zu folgen. Die Nation fürchtet beide Parteien 5 gleichermaßen. Ihr Wohl hängt von der Fortdauer des Kampfes ab; sie unterstützt also den Schwächeren, um seine völlige Vernichtung zu verhindern. Wenn aber das Volk seine Geschäfte, statt sie dem Sieger in diesem Gladiatorenkampf als Preis zu überlassen, durch echte Stellvertreter selbst in die Hand nehmen wollte, kann man da allen Ernstes zweifeln, daß mit der ganzen Ordnung auch jenes Gleichgewicht der Gewalten in sich zusammenfallen würde, das allein durch die Verhältnisse nötig ist und dem man so große Bedeutung beimißt?
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gerichtet w i r d . Ist dies V e r f a h r e n einmal eingeführt, so erfordert die Freiheit nur noch Vorsichtsmaßnahmen gegenüber etwaigen ungesetzlichen Befehlen der Regierungsgewalt; dazu aber braucht m a n entweder eine gute V e r f a s s u n g , die E n g l a n d keineswegs besitzt, oder solche Verhältnisse, daß das O b e r h a u p t der ausführenden G e w a l t seinen willkürlichen Willen nicht mit o f f e n e r G e w a l t durchsetzen kann. J e d e r m a n n sieht w o h l , daß es sich die englische N a t i o n als einzige erlauben k a n n , kein furchterregendes L a n d h e e r zu halten. Sie ist also die einzige N a t i o n , die ohne eine gute V e r f a s s u n g frei sein kann. Dieser G e d a n k e allein müßte genügen, um uns von der Sucht zu heilen, unsere N a c h b a r n nachzuahm e n : richten w i r uns doch lieber nach unseren eigenen Bedürfnissen; die sind uns näher; sie werden uns auch viel besser leiten. Solltet ihr versuchen, die englische V e r f a s s u n g bei euch einzubürgern, so werdet ihr ihre M ä n g e l ohne jeden Z w e i f e l mit Leichtigkeit übernehmen, denn sie nützen allein der G e w a l t , von der ihr Widerstand zu fürchten hättet. Werdet ihr aber auch ihre Vorteile erlangen? Diese F r a g e ist zweifelhafter, weil euch dann eine G e w a l t gegenübersteht, die ein Interesse daran h a t , euch an der E r f ü l l u n g eurer Wünsche zu hindern. W a r u m streben wir überhaupt so leidenschaftlich nach dieser Verfassung? O f f e n b a r deshalb, weil sie den guten G r u n d s ä t z e n des Gesellschaftszustandes nahekommt. W e n n es nun aber in jeder Sache ein V o r b i l d des G u t e n und Schönen gibt, an dem man die Fortschritte zum Guten messen k a n n , und wenn man nicht sagen k a n n , hinsichtlich des art social"' sei uns dies V o r b i l d heute weniger bekannt als den E n g l ä n d e r n 1 6 8 8 , w a r u m sollten wir d a n n die w a h r e G r u n d f o r m des G u t e n verschmähen, um uns mit der N a c h a h m u n g einer Kopie zu begnügen? Schwingen wir uns doch mit raschem Entschluß zu dem E h r g e i z a u f , unsererseits den N a t i o n e n ein Beispiel zu sein. M a n sagt auch, kein V o l k habe es besser gemacht als die E n g l ä n d e r ; selbst wenn dem so w ä r e , sollten dann vielleicht die Erzeugnisse der Politik [l'art politique] am Ende des achtzehnten J a h r h u n d e r t s die gleichen sein wie im siebzehnten? D i e E n g l ä n d e r sind damals hinter dem Wissen ihrer Zeit nicht zurückgeblieben; bleiben also auch wir nicht hinter der A u f k l ä r u n g unserer Zeit zurück. V o r allem d a r f es uns nicht entmutigen, d a ß wir in der Geschichte nichts sehen, was unserer L a g e entspräche. D i e wahre Wissenschaft v o m Gesellschaftszustand ist j a noch nicht alt. H a b e n doch die Menschen lange Zeit H ü t t e n gebaut, bevor sie imstande waren, Paläste zu errichten. Wer sähe da nicht ein, d a ß die Fortschritte der gesellschaftlichen Baukunst [l'architecture sociale] noch langsamer sein mußten, weil diese K u n s t z w a r die allerwichtigste ist, aber, w i e m a n sich w o h l denken k a n n , v o n den Despoten und A r i s t o k r a ten keinerlei Unterstützung erhalten hat.
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W a s ist d e r D r i t t e Stand?
Fünftes Kapitel
Was man hätte tun sollen. Grundsätze
dazu.
»In der politischen Ethik [la morale] ist das einfache und natürliche Mittel durch nichts zu ersetzen. Doch je mehr Zeit der Mensch mit nutzlosen Versuchen verliert, desto mehr fürchtet er den Gedanken, neu zu beginnen; als ob es nicht immer besser wäre, noch einmal von vorn zu beginnen und die Sache zu vollenden, als von den Ereignissen und künstlichen Hilfsmitteln abhängig zu bleiben, mit denen man unaufhörlich wieder von vorne anfängt, ohne jemals weiterzukommen.« In jeder freien Nation — und jede Nation sollte frei sein — gibt es nur eine Art und Weise, Streitigkeiten über die Verfassung beizulegen. Nicht bei den Notabein soll die Nation Hilfe suchen, sondern bei sich selbst. Wenn uns eine Verfassung fehlt, dann muß man eben eine machen; das Recht dazu hat allein die Nation. Haben wir aber, wie einige Leute hartnäckig behaupten, schon eine Verfassung, welche die Nationalversammlung, wie sie meinen, in drei verschiedene Abordnungen von drei Ständen von Bürgern trennt, dann darf man sich wenigstens nicht verhehlen, daß einer dieser Stände so starke Einwände erhebt, daß man nicht einen Schritt weiterkommt, wenn man nicht darüber entscheidet. Wem aber kommt die Entscheidung über solche Einwände zu? Eine derartige Frage kann nur denen gleichgültig scheinen, die in Dingen der Gesellschaft die natürlichen und gerechten Mittel gering achten und nur solche künstlichen, mehr oder weniger raffinierten Mittel schätzen, auf denen das Ansehen der sogenannten Staatsmänner, der großen Politiker beruht. Was uns betrifft, so werden wir uns durchaus an die politische Moral halten; sie muß alle Beziehungen der Menschen untereinander, zu ihrem Eigeninteresse und zu ihrem Gemein- oder Gesellschaftsinteresse regeln. Sie ist es, die uns zu sagen hat, was man hätte tun sollen; und letzten Endes kann auch nur sie das sagen. So muß m a n immer wieder von den einfachen Grundprinzipien ausgehen, die m e h r vermögen als alle Anstrengungen des Genies. Man wird den Mechanismus der Gesellschaft niemals begreifen, wenn man sich nicht dazu entschließt, eine Gesellschaft wie eine gewöhnliche Maschine zu analysieren, jeden ihrer Teile getrennt zu betrachten und die Teile dann vor seinem geistigen Auge einen nach dem andern zusammenzufügen, um ihr Zusammenspiel zu erfassen und den allgemeinen
5. W a s man hätte tun sollen
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Einklang, der daraus entsteht, zu spüren. Wir brauchen uns hier nicht in ein so weitläufiges Unternehmen einzulassen. Da man sich jedoch stets klar äußern soll, aber unklar bleibt, wenn man ohne Grundsätze daherredet, so bitten wir den Leser zu beachten, daß es bei der Bildung einer politischen Gesellschaft drei Epochen gibt; ihre Unterscheidung wird ihn auf die notwendigen Erläuterungen vorbereiten. Für die erste Epoche ist eine mehr oder weniger beträchtliche Anzahl von Individuen anzunehmen, die sich vereinigen möchten. Schon allein durch diese Tatsache bilden sie eine Nation: sie haben alle Rechte einer solchen; es geht nur noch darum, sie auszuüben. Diese erste Epoche ist gekennzeichnet durch das Spiel der Einzelwillen. Sie erst schaffen die gesellschaftliche Vereinigung; sie sind der Ursprung aller öffentlichen Gewalt"". Die zweite Epoche ist gekennzeichnet durch das Handeln des gemeinschaftlichen Willens*. Die Gesellschafter* wollen ihrer Vereinigung Beständigkeit verleihen; sie wollen den Zweck der Vereinigung erfüllen. Sie beraten sich also untereinander und einigen sich auf die Erfordernisse der Öffentlichkeit und auf die Mittel zu ihrer Verwirklichung. Die Gewalt liegt hier, wie man sieht, bei der Öffentlichkeit. Gewiß bilden die Einzelwillen nach wie vor Ursprung und Grundbestandteile der öffentlichen Gewalt; aber jeder einzeln für sich genommen ist in seiner Macht gleich null. Diese Macht liegt nur im Ganzen. Die Gemeinschaft bedarf eines gemeinschaftlichen Willens; ohne Einheit des Willens würde sie es nie dahin bringen, als wollendes und handelndes Ganzes aufzutreten. Sicher besitzt dies Ganze kein Recht, das nicht auch dem gemeinschaftlichen Willen zustünde. Doch überspringen wir die Zwischenzeiten. Die Gesellschafter* sind zu zahlreich und über ein zu weites Gebiet verstreut, als daß sie ihren gemeinschaftlichen Willen einfach selbst ausüben könnten. Was tun sie nun? Sie fassen gesondert alle Befugnisse zusammen, die erforderlich sind, um für die Bedürfnisse der Gesellschaft zu sorgen; und die Ausübung dieses Teils des Nationalwillens und somit der Nationalgewalt vertrauen sie einigen aus ihrer Mitte an. Damit beginnt die dritte Epoche, das Zeitalter einer Regierung durch Vollmacht [gouvernement exerce par procuration], ι. Die Gemeinschaft begibt sich durchaus nicht ihres Rechtes zu wollen; das ist ihr unveräußerliches Eigentum, sie kann lediglich die Ausübung dieses Rechtes übertragen, i . Die Körperschaft der Abgeordneten kann selbst nicht die volle Ausübungsbefugnis dieses Rechtes besitzen. Die Gemeinschaft hat dieser Körperschaft natürlich nur so viel von ihrer umfassenden Gewalt anvertraut, wie zur Aufrechterhaltung der guten Ordnung notwendig ist. Denn in solchen Dingen gibt man nicht mehr als nötig, j . Es kommt der Körperschaft der Abgeordneten also nicht zu, die Grenzen der ihr anvertrauten Gewalt zu verrükken. Es versteht sich, daß eine solche Befugnis ein Widerspruch in sich selbst wäre.
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Was ist der Dritte Stand?
Die dritte Epoche unterscheidet sich dadurch von der zweiten, daß nun nicht mehr der wirkliche gemeinschaftliche Wille handelt, sondern ein stellvertretender gemeinschaftlicher Wille. Dieser hat — um es zu wiederholen — zwei unauslöschliche Kennzeichen, i.die Körperschaft der Repräsentanten vertritt diesen Willen nicht unbegrenzt und in seinem vollen Umfang, sie vertritt nur einen Teil des großen gemeinschaftlichen Willens der Nation. 2. Die Abgeordneten üben diesen Willen nicht kraft eigenen Rechtes aus, sondern als das Recht anderer; der gemeinschaftliche Wille existiert nur als Auftrag [commission]. Ich übergehe jetzt eine ganze Reihe von Überlegungen, die hier ziemlich nahe lägen, und wende mich meinem eigentlichen Gegenstande zu; nämlich der Frage, was unter der politischen Verfassung einer Gesellschaft zu verstehen ist und was ihre richtigen Beziehungen zur Nation selbst sind. Man kann unmöglich eine Körperschaft zu einem bestimmten Zweck schaffen, ohne ihr eine Organisation, Verfahrensregeln und Gesetze zu geben, die es ihr ermöglichen, die ihr gesetzten Aufgaben zu erfüllen. Das nennt man die Verfassung der Körperschaft. Es liegt auf der Hand, daß sie ohne Verfassung nicht bestehen kann. Daraus folgt ebenso offensichtlich, daß jede übertragene Regierung ihre Verfassung haben muß; und was für die Regierung im allgemeinen gilt, das gilt auch für alle ihre Teile. So existiert die Körperschaft der Stellvertreter, der die gesetzgebende Gewalt oder die Ausübung des gemeinschaftlichen Willens anvertraut ist, nur in der Art und Weise, wie die Nation es bestimmt hat. Ohne solche Verfassungsbestimmungen ist sie nichts; nur durch sie kann sie handeln, lenken und befehlen. Doch es bleibt nicht bei dieser Notwendigkeit, dem Regierungskörper eine Organisation zu geben; wenn er existieren und handeln soll, muß man auch berücksichtigen, daß die Nation ein Interesse daran hat, daß die übertragene öffentliche Gewalt ihren Auftraggebern niemals schaden kann. Daraus erklärt sich eine Menge von politischen Vorkehrungen, die man der Verfassung beigegeben hat; alles wesentliche Regeln der Regierung, ohne die die Ausübung der öffentlichen Gewalt gesetzeswidrig wäre. 28 Man begreift also die doppelte Notwendigkeit, der Regierung im Innern wie nach außen feste Formen vorzuschreiben, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben befähigen und die Gewähr dafür bieten, daß sie sich nicht davon entfernt. Die Nation selbst aber - kann man uns sagen, nach welchen Gesichts28 Bei einer einfachen und gut gemachten Verfassung gibt es wenig Vorkehrungen; in Ländern mit einer komplizierten und — offen gestanden — ungekonnten Verfassung nehmen die Vorkehrungen kein Ende. Man muß sie studieren. Die Verfassung wird eine Wissenschaft f ü r sich, ihr wesentlicher Kern aber, nämlich die innere Organisation, geht verloren und wird unter dem wissenschaftlichen Gerüst des bloßen Beiwerks erstickt.
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punkten, aufgrund welchen Interesses man i h r eine Verfassung geben soll? Ist die Nation doch zuerst da, ist sie doch der Ursprung von allem. Ihr Wille ist immer gesetzlich, denn er ist das Gesetz selbst. Vor und unter ihr gibt es nur das Naturreckt. Wenn wir uns eine zutreffende Vorstellung von der Folge positiver Gesetze bilden, die sich allein aus ihrem Willen ableiten können, so betrachten wir zunächst die Verfassungsgesetze, die sich in zwei Gruppen gliedern: die einen regeln Organisation und Aufgaben der gesetzgebenden Körperschaft; die anderen bestimmen Organisation und Aufgaben der ausführenden Körperschaften. Das nennt man die Grundgesetze, doch nicht in dem Sinne, d a ß sie sich vom Nationalwillen unabhängig machen können, sondern weil sie für die Körperschaften, die durch sie bestehen und handeln, unantastbar sind. Beide Teile der Verfassung sind das Werk der verfassungsgebenden Gewalt, nicht aber der von der Verfassung gesetzten Gewalt. Keine übertragene Gewalt, welcher Art sie auch sei, kann an den Bedingungen ihrer Übertragung irgend etwas ändern. N u r so verstanden und nicht anders sind die Verfassungsgesetze Grundgesetze. Die einen - diejenigen Gesetze, welche die Gesetzgebungskörperschaft errichten — beruhen auf dem Nationalwillen, der jeder Verfassung vorgegeben ist; sie bilden die erste Stufe der Verfassung. Die anderen Gesetze bedürfen ebenso der Beschließung durch einen besonderen stellvertretenden Willen. Letzten Endes bürgen also alle Teile der Regierung für die N a t i o n und hängen von ihr ab. Wir können das hier nur flüchtig skizzieren, es ist aber zutreffend. Man wird nun leicht begreifen, daß die eigentlichen Gesetze, welche die Bürger schützen und über das gemeinschaftliche Interesse entscheiden, das Werk einer zuvor gebildeten Gesetzgebungskörperschaft sind, die nach verfassungsmäßigen Regeln handelt. Obwohl wir diese Gesetze erst an zweiter Stelle erwähnen, sind sie doch die wichtigsten, denn sie bezeichnen den Zweck, zu dem die Verfassung nur das Mittel ist. Man kann sie in zwei Gruppen einteilen: die unmittelbaren oder schützenden Gesetze und die mittelbaren oder Rahmengesetze [loix directrices]. Doch es ist hier nicht der O r t , diese Analyse weiter auszuführen. 2 9 Wir haben gesehen, d a ß die Verfassung in der zweiten Epoche entsteht. Es versteht sich, d a ß sie nur die Regierung bindet. Es wäre lächerlich anzunehmen, die Nation binde sich selbst durch die Regeln oder die Verfassung, die sie ihren Beauftragten gibt. Hätte sie, um eine N a t i o n zu werden, eine positive Existenzform abwarten müssen, wäre sie nie eine geworden. Allein nach natürlichem Recht bildet sich die Nation. Die Regierung dagegen gehört notwendig in den Bereich des positiven Rechts. Schon durch ihre bloße Existenz ist die Nation alles, was sie sein kann. Es steht nicht in ihrem Belieben, sich mehr oder weniger Rechte zu 29 Es sei lediglich bemerkt, daß der eigentliche Weg, sich mißzuverstehen, darin besteht, sämtliche Teile der Gesellschaftsordnung im Begriff der Verfassung zusammenzuwerfen.
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Was ist der Dritte Stand?
nehmen als sie hat. In der ersten Epoche erhält sie alle Rechte einer Nation. In der zweiten Epoche übt sie sie aus; in der dritten Epoche überträgt sie die Ausübung alles dessen, was zur Aufrechterhaltung der guten Ordnung der Gemeinschaft erforderlich ist, ihren Vertretern. Wenn man sich nicht an diese einfachen Wahrheiten hält, fällt man notwendig von einem Widersinn in den anderen. Die Regierung übt nur insofern eine wirkliche Gewalt aus, als sie verfassungsmäßig ist; sie handelt nur insofern gesetzlich, als sie die ihr vorgeschriebenen Gesetze befolgt. Der Nationalwille dagegen braucht, um immer gesetzlich zu sein, nur seine bloße Existenz, denn er ist der Ursprung aller Gesetzlichkeit. Nicht nur d a ß die Nation keiner Verfassung unterworfen ist, sie kann und darf es auch nicht sein, was soviel bedeutet, als daß sie es eben nicht ist. Sie kann es nicht sein. Wer in der Tat hätte ihr eine positive Form geben sollen? Gibt es vielleicht eine ursprünglichere Gewalt, die zu einer Masse von Einzelpersonen hätte sagen können: »ich unterstelle euch gemeinsam diesen Gesetzen; ihr werdet nach den Bedingungen, die ich euch vorschreibe, eine Nation bilden?« Wir reden hier weder von Räubereien noch von Gewaltherrschaft, sondern von rechtmäßiger, das heißt freiwilliger und freier Vereinbarung. Ist es nun richtig, daß sich eine Nation durch einen ersten Akt ihres ja an keine Form gebundenen Willens verpflichten kann, künftig nur noch auf bestimmte Art und Weise zu wollen? Zunächst kann eine Nation das Recht zu wollen weder veräußern noch kann sie es sich verbieten; und was ihr Wille auch sein mag, niemals kann sie das Recht verlieren, ihn zu ändern, sobald es ihr Interesse verlangt. Zweitens, wem gegenüber sollte sich diese Nation überhaupt verpflichten? Ich begreife wohl, wie sie ihre eigenen Mitglieder, ihre Beauftragten und alles, was ihr gehört, verpflichtet·, kann sie sich aber irgendwie selbst Pflichten auferlegen? Was ist denn ein Vertrag mit sich selbst? D a es sich auf beiden Seiten um denselben Willen handelt, kann sich dieser, wie man sieht, jederzeit von der angeblichen Verpflichtung entbinden. Doch selbst wenn sie es könnte, eine Nation darf sich auch nicht die Fesseln einer bestimmten Verfassungsform anlegen. Dadurch würde sie sich der Gefahr aussetzen, ihre Freiheit unwiederbringlich zu verlieren, denn die Tyrannei bedürfte nur eines Augenblicks des Erfolgs, um die Bevölkerung unter dem Vorwand einer Verfassung einer solchen Form zu unterwerfen, daß sie ihren Willen nicht mehr frei äußern und so die Ketten des Despotismus nicht mehr abschütteln könnte. Man muß sich die Nationen auf der Erde als Individuen ohne gesellschaftliche Bindung oder, wie man sagt, als im Naturzustand befindlich vorstellen. Die Ausübung ihres Willens ist frei und unabhängig von allen gesetzlichen Formen. D a er sich im Naturzustand befindet, braucht ihr Wille zu seiner
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vollen Wirkung nur die natürlichen Merkmale eines Willens. Auf welche Art und Weise eine Nation auch will, allein die Tatsache, daß sie will, ist ausreichend; dazu sind alle Formen gut, und ihr Wille ist immer das höchste Gesetz. Da wir bei unserer Theorie einer rechtmäßigen Gesellschaft davon ausgegangen sind, daß die bloß natürlichen Einzelwillen die moralische Macht besitzen, eine Vereinigung zu bilden, wie könnten wir da einem gleichermaßen natürlichen gemeinschaftlichen Willen eine ähnliche Fähigkeit verweigern? Eine Nation verläßt den Naturzustand nie, und inmitten so vieler Gefahren kann sie gar nicht über zu viele Möglichkeiten verfügen, ihren Willen auszudrücken. Scheuen wir uns nicht, es noch einmal zu wiederholen: Eine Nation ist von jeder Form unabhängig; und auf welche Art und Weise sie auch will, die bloße Äußerung ihres Willens genügt, um gleichsam angesichts der Quelle und des obersten Herrn jedes positiven Rechts alles positive Recht außer Kraft zu setzen. Es gibt aber einen noch durchschlagenderen Beweis für die Wahrheit unserer Grundsätze, die freilich keiner weiteren Beweise bedürften. Eine Nation darf und kann sich nicht an bestimmte Verfassungsformen binden; denn beim ersten Konflikt zwischen den verschiedenen Teilen dieser Verfassung, was würde da aus einer Nation, die so eingerichtet und geordnet wäre, daß sie nur nach der umstrittenen Verfassung handeln könnte? Beachten wir doch, wie wesentlich es in einer bürgerlichen Ordnung [ordre civil] ist, daß die Staatsbürger in einem Zweige der handelnden Gewalt eine Autorität finden, die ihre Streitigkeiten rasch beendet. Ebenso müssen bei einem freien Volke auch die verschiedenen Zweige der handelnden Gewalt die Freiheit besitzen, bei allen unvorhergesehenen Streitigkeiten die Entscheidung der gesetzgebenden Gewalt anzurufen. Wenn aber eure Gesetzgebungskörperschaft selber zerstritten ist, wenn die verschiedenen Teile jener ersten Verfassung nicht miteinander harmonieren, wer ist dann der oberste Richter? Denn einen solchen muß es immer geben, oder die Ordnung weicht der Anarchie. Wie kann man sich einbilden, eine durch die Verfassung begründete Körperschaft könne über ihre Verfassung entscheiden? Ein Teil oder mehrere notwendige Teile einer Willensgemeinschaft [corps moral] sind einzeln nichts. Nur dem Ganzen gehört die Gewalt. Sobald ein Teil Einspruch erhebt, gibt es das Ganze nicht mehr; wenn es aber nicht mehr existiert, wie könnte es da urteilen? 30 Man muß sich also bewußt sein, daß es in einem Lande schon bei dem geringsten Zusammenstoß zwischen 3 0 Man sagt in England, die Kammer der Gemeinen repräsentiere die Nation. Das ist ungenau. Falls ich es nicht bereits bemerkt habe, wiederhole ich hier, daß die Gemeinen, wenn sie allein den ganzen Nationalwillen vertreten, auch allein die gesamte Gesetzgebungskörperschaft stellen müßten. D a die Verfassung aber bestimmt hat, daß sie nur ein Teil von dreien sind, muß man auch den König und die Lords durchaus als Stellvertreter der Nation betrachten.
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seinen Verfassungsgewalten keine Verfassung mehr geben würde, wenn die Nation nicht unabhängig von jeder Regel und Verfassungsform existierte. Mit Hilfe dieser Erläuterungen können wir nun auf die Frage antworten, die wir uns gestellt haben. Es steht fest, daß die Teilstücke, welche ihr für die französische Verfassung haltet, nicht miteinander harmonieren. Wem also kommt die Entscheidung zu? Eben der Nation, weil sie notwendigerweise an keine bestimmte Form gebunden ist. Selbst wenn die Nation ihre regelmäßigen Generalstände hätte, stünde es dieser durch die Verfassung begründeten Körperschaft nicht zu, eine Streitigkeit über ihre eigene Verfassung zu entscheiden. Sonst geriete man in einen Teufelskreis, in eine Folge von Behauptungen, die das zu Beweisende voraussetzen. Die gewöhnlichen Stellvertreter eines Volkes haben die Aufgabe, den ganzen Teil des gemeinschaftlichen Willens, der zur Aufrechterhaltung der guten Verwaltung der Gesellschaft nötig ist, nach den Verfassungsregeln auszuüben. Ihre Gewalt beschränkt sich auf die Regierungsgeschäfte. Die außerordentlichen Stellvertreter erhalten jede neue Gewalt, welche die Nation ihnen zu geben beliebt. Da sich eine große Nation nicht jedesmal, wenn außerordentliche Umstände es vielleicht erfordern, wirklich selbst versammeln kann, muß sie die in solchen Fällen notwendigen Vollmachten außerordentlichen Stellvertretern anvertrauen. Wenn die Nation sich vor euch hier versammeln und ihren Willen äußern könnte, würdet ihr dann vielleicht wagen, Widerspruch zu erheben, nur weil sie ihren Willen in einer bestimmten Form äußert und nicht anders? Hier ist doch die Wirklichkeit alles, die Form ist gleichgültig. An die Stelle der Versammlung dieser Nation tritt nun die Körperschaft der außerordentlichen Stellvertreter. Sie bedarf zwar nicht einer umfassenden Vollmacht des Nationalwillens, sondern nur einer besonderen Vollmacht, und auch dies nur in seltenen Fällen; aber sie vertritt die Nation in ihrer Unabhängigkeit von allen Verfassungsformen. Hier sind nicht so viele Vorkehrungen nötig, um Machtmißbrauch zu verhindern; denn jene Stellvertreter sind nur für eine einzige Angelegenheit und für eine begrenzte Zeit abgeordnet. Ich sage nun, daß sie nicht durch die Verfassungsformen gebunden sind, über die sie zu entscheiden haben, i. Sonst wäre dies ein Widerspruch, denn jene Formen sind unbestimmt; die außerordentlichen Stellvertreter sollen sie ja erst festlegen. 2. In solchen Angelegenheiten, für die man schon feste Formen bestimmt hat, haben sie nichts zu sagen. 3. Sie vertreten die Stelle der Nation, die selbst über die Verfassung bestimmt. Sie brauchen nur zu wollen wie die Individuen im Naturzustand; auf welche Weise sie auch bestellt worden sind, wie sie sich auch versammeln und beraten, ihr gemeinschaftlicher Wille wird immer als der Wille der Nation gelten, sofern nur unverkennbar feststeht (und wie sollte die Nation, die sie beauftragt, das verkennen?),
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daß sie aufgrund eines außerordentlichen Auftrags der Bevölkerung handeln. Ich will nun nicht sagen, daß eine Nation einen solchen zusätzlichen Auftrag nicht auch ihren gewöhnlichen Stellvertretern erteilen könnte. Ein und dieselben Personen können sicherlich verschiedene Körperschaften bilden und aufgrund besonderer Vollmachten nacheinander verschiedene Teile der öffentlichen Gewalt ausüben, die von Natur aus nicht vermischt werden dürfen. Aber das ändert nichts daran, daß eine außerordentliche Stellvertretung sich durchaus von der gewöhnlichen Gesetzgebungskörperschaft unterscheidet. Es sind eben verschiedene Gewalten. Die eine kann nur im Rahmen der Regeln und Bedingungen handeln, die man ihr vorgeschrieben hat. Die andere unterliegt keiner besonderen Form: sie versammelt sich und berät, so wie die Nation selbst es täte, wenn sie nur aus einer kleinen Anzahl von Individuen bestünde und ihrer Regierung eine Verfassung geben wollte. Das sind keine nutzlosen Unterscheidungen. Alle eben genannten Grundsätze sind für die gesellschaftliche Ordnung" 1 sehr wesentlich; diese Ordnung wäre unvollständig, wenn auch nur ein einziger Fall denkbar wäre, für den sie nicht voll wirksame Verhaltensregeln an die Hand gäbe. 31 Es ist Zeit, sich auf die Uberschrift dieses Kapitels zu besinnen. Was hätte man tun sollen inmitten der Verwirrung und des Streits über die bevorstehenden Generalstände? Notabein einberufen? Nein. Die Nation und die öffentlichen Angelegenheiten dahinsiechen lassen? Nein. Bei den Interessengruppen vorstellig werden und lavieren, um sie zu bewegen, jede ihrerseits ein Stück nachzugeben? Nein. Man hätte zum großen Mittel einer außerordentlichen Stellvertretung greifen müssen. An die Nation hätte man sich wenden müssen. Und hier verlangen noch zwei Fragen eine Antwort. Wo ist die Nation zu suchen? Wem kommt es zu, sie zu befragen? 31 Diese Grundsätze entscheiden klar die Frage, die zur Zeit in England zwischen Herrn Pitt und Herrn Fox diskutiert wird. [Das Problem der Regentschaft, das durch die Geisteskrankheit Georgs m. akut geworden war. — Anm. d. Ubers.] Herr Fox hat Unrecht, wenn er es der Nation streitig macht, die Regentschaft zu übertragen, wem und wie sie will. Wo das Gesetz nichts bestimmt, kann allein die Nation bestimmen. Herr Pitt irrt sich, wenn er die Frage vom Parlament entscheiden lassen will. Das Parlament ist unvollständig, es besitzt keine rechtmäßige Gewalt, weil der König, der seinen dritten Teil bildet, unfähig ist zu wollen. Die beiden Kammern können wohl eine Entscheidung vorbereiten, aber sie können ihr keineswegs Gesetzeskraft verleihen [sanctionnerj. Ich verwende dies Wort in der Bedeutung, die es im heutigen Sprachgebrauch hat. Man muß also eigentlich von der Nation außerordentliche Stellvertreter fordern —. Dies wird nicht geschehen. Es wäre ja der Anfang einer guten Verfassung. Dazu haben weder die Opposition noch das Ministerium Lust. Man hält eben an den Formen fest, denen man seine Existenz verdankt; wie mangelhaft sie auch sind, man zieht sie der schönsten gesellschaftlichen Ordnung allemal vor. Habt ihr jemals gesehen, daß sich ein gebrechlicher Greis mit dem Sterben abgefunden hat, wie frisch und kraftvoll der junge Mann, der sich anschickte, an seine Stelle zu treten, auch sein mochte? Es liegt eben in der Natur, daß sich die politischen Körper genauso wie alle belebten Körper mit allen Kräften gegen den letzten Augenblick sträuben.
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W a s ist der D r i t t e Stand?
ι. Wo ist die Nation zu suchen? Nun, da, wo sie sich befindet, nämlich in den vierzigtausend Gemeinden, die das ganze Staatsgebiet, alle Einwohner und alle Steuerzahler des Gemeinwesens"" umfassen; hier ist es doch wohl, wo man die Nation findet. Man hätte eine Gebietsgliederung einrichten sollen, damit je zwanzig bis dreißig Gemeinden durch Abgeordnete leichter einen Kreis gebildet hätten. In ähnlicher Weise hätten dann die Kreise Provinzen gebildet und diese hätten echte außerordentliche Stellvertreter mit besonderer Entscheidungsvollmacht über die Verfassung der Generalstände in die Hauptstadt entsandt. Wollt ihr vielleicht einwenden, daß dieser Weg zu viele Verzögerungen zur Folge gehabt hätte? Aber doch gewiß nicht mehr als diese Kette von Verlegenheitsmaßnahmen, welche die Angelegenheiten nur verwirrt haben! Übrigens kam es nicht darauf an, mit der Zeit zu handeln, sondern die richtigen Maßnahmen zum rechten Zweck zu ergreifen. Hätte man die Bereitschaft und die Fähigkeit besessen, den guten Grundsätzen zu huldigen, würde man in vier Monaten mehr für die Nation getan haben, als der Fortschritt von Aufklärung und öffentlicher Meinung^', den ich dennoch für sehr mächtig halte, in einem halben Jahrhundert hätte bewirken können. Wenn aber, sagt ihr, die Mehrheit der Staatsbürger außerordentliche Stellvertreter bestellt hätte, was wäre dann aus dem Unterschied der drei Stände geworden, was aus den Privilegien? Eben das, was sie verdient haben. Die von mir dargelegten Grundprinzipien sind zweifelsfrei richtig. Man muß sie entweder anerkennen oder auf jede gesellschaftliche Ordnung"" verzichten. Es steht der Nation jederzeit frei, ihre Verfassung zu reformieren. Besonders wenn diese umstritten ist, kann sie nicht darauf verzichten, sich eine einwandfreie Verfassung zu geben. Das gibt heute jedermann zu; und seht ihr denn nicht ein, daß keiner, der bloß Partei in einem Streite ist, die Verfassung antasten darf? Eine an Verfassungsregeln gebundene Körperschaft kann nur nach ihrer Verfassung entscheiden. Eine andere Verfassung kann sie sich nicht geben. Sie hört auf zu bestehen, sobald sie anders als nach den vorgeschriebenen Formen spricht und handelt. Selbst die Generalstände wären, wenn sie tagen würden, nicht berechtigt, irgend etwas über die Verfassung zu entscheiden. Dies Recht gehört allein der Nation, die — wir wiederholen es immer wieder — an keinerlei Formen und Bedingungen gebunden ist. Wie man sieht, haben die Privilegierten ihre guten Gründe, in dieser Sache Vorstellungen und Grundprinzipien zu vermengen. Unverfroren behaupten sie heute das Gegenteil von dem, was sie vor sechs Monaten gesagt haben. Damals gab es in Frankreich nur einen Kampfruf: wir haben keine Verfassung, wir verlangen, daß eine Verfassung gemacht wird. Heute haben wir auf einmal nicht nur eine Verfassung, sondern diese enthält, wenn man den Privilegierten glauben will, auch noch zwei ausgezeichnete und unangreifbare Bestimmungen. Die eine ist die Tren-
5. W a s man hätte tun sollen
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nung nach Ständen; die andere ist der gleiche Einflu-ß eines jeden Standes auf die Bildung des Nationalwillens. Wir haben bereits hinreichend bewiesen, daß selbst dann, wenn unsere Verfassung alle diese Bestimmungen enthielte, es der Nation jederzeit freistünde, sie zu ändern. Doch haben wir noch näher zu prüfen, was es mit jener Gleichheit des Einflusses auf sich hat, welchen man jedem Stand auf die Bildung des Nationalwillens zuschreiben möchte. Wir werden sehen, daß es keine widersinnigere Vorstellung gibt als diese und daß es keine Nation gibt, die etwas Ähnliches in ihre Verfassung aufgenommen hat. Eine politische Gesellschaft kann nichts anderes sein als das Ganze ihrer Gesellschafter"'. Eine Nation kann nicht beschließen, keine Nation mehr zu sein oder dies nur auf eine bestimmte Art und Weise zu sein. Ebensowenig kann eine Nation beschließen, daß ihr gemeinschaftlicher Wille"' nicht mehr ihr gemeinschaftlicher Wille ist. Es ist traurig, diese Sätze aussprechen zu müssen, die in ihrer Schlichtheit einfältig scheinen könnten, würde man nicht bedenken, welcher Schluß aus ihnen zu ziehen ist. Eine Nation kann also niemals bestimmen, daß die dem gemeinschaftlichen Willen, das heißt die der Mehrheit innewohnenden Rechte, an die Minderheit übergehen. Sie kann nicht die Natur der Dinge umkehren und bewirken, daß die Meinung der Minderheit zur Meinung der Mehrheit wird. Man sieht doch wohl, daß ein solcher Beschluß nicht eine gesetzliche und moralische, sondern eine irrsinnige Handlung wäre. Wenn man also behauptet, es gehöre zur französischen Verfassung, daß von zwanzig Millionen Staatsbürgern nur zweihunderttausend Einzelpersonen zwei Drittel des gemeinschaftlichen Willens bestimmen, so kann man nur erwidern, ob denn zwei mal zwei fünf ist. Die alleinigen Grundbestandteile des gemeinschaftlichen Willens sind die Einzelwillen. Man kann weder der Mehrzahl der Bürger das Recht nehmen, daran mitzuwirken, noch kann man bestimmen, daß zehn Willen bei den einen nur eins, bei den andern aber dreißig zählen. Das sind Widersprüche in sich selbst, regelrechte Absurditäten. Verläßt man auch nur einen Augenblick dies höchst offensichtliche Grundprinzip, daß der gemeinschaftliche Wille der Wille der Mehrheit und nicht der Minderheit ist, so ist alles vernünftige Reden nutzlos. Ebensogut kann man bestimmen, daß der Wille eines Einzelnen Mehrheit heiße und daß man weder Generalstände noch einen Nationalwillen usw. brauche — denn wenn der Wille eines Adligen soviel gilt wie zehn andere Stimmen, warum sollte dann der Wille eines Ministers nicht soviel wie hundert, eine Million, ja sechsundzwanzig Millionen gelten? Derartige Scheingründe sind so recht geeignet, alle Abgeordneten der Nation nach Hause zu schicken und alle Forderungen der Bevölkerung zu ersticken. Doch wozu halten wir uns noch länger bei der natürlichen Folgerung aus diesen Grundprinzipien auf? Es steht doch fest", daß er Einfluß in einer Nationalrepräsentation, ob diese nun ordentlich oder außerordent-
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Was ist der Dritte Stand?
lieh ist, nur der Zahl der Köpfe entsprechen kann, die das Recht besitzen, sich vertreten zu lassen. Für das, was sie zu tun hat, vertritt die Repräsentantenkörperschaft immer die Stelle der Nation selbst. Die Natur, die Verhältnisse und die Regeln ihres Einflusses müssen dieselben bleiben. Zusammenfassend stimmen also alle Grundprinzipien völlig darin überein, i) daß allein eine außerordentliche Stellvertretung die Verfassung antasten oder uns eine Verfassung geben kann, 2) daß die verfassungsgebende Stellvertretung sich ohne Rücksicht auf die Standesunterschiede bilden muß. 2. Wem kommt es zu, die Nation zu befragen? Wenn wir eine gesetzgebende Verfassung"' hätten, besäße jeder ihrer Teile das Recht dazu, weil sich nämlich die streitenden Parteien stets an den Richter wenden können oder besser weil die Interpreten eines Willens verpflichtet sind, sich an ihre Auftraggeber zu wenden, um sich deren Vollmacht näher auslegen zu lassen oder ihnen von den Umständen zu berichten, die neue Vollmachten verlangen. Aber seit fast zwei Jahrhunderten haben wir keine Stellvertreter, sofern es vorher überhaupt welche gegeben hat. D a wir nun keine haben, wer soll bei der Nation an ihre Stelle treten? Wer soll die Bevölkerung von der Notwendigkeit unterrichten, außerordentliche Stellvertreter zu entsenden? Die Antwort auf diese Frage kann nur jene Leute in Verlegenheit bringen, die mit dem Wort Einberufung [convocation] den Wust der englischen Vorstellungen verbinden. Es handelt sich hier nicht um ein königliches Vorrecht, sondern um eine Einberufung in der einfachen und natürlichen Bedeutung des Wortes. Dieser Ausdruck umfaßt eine Mitteilung über ein nationales Ereignis und die Anzeige einer gemeinsamen Zusammenkunft. Und wenn nun das Wohl des Vaterlandes allen Bürgern am Herzen liegt, wird man da die Zeit mit Nachforschungen darüber verlieren, wer das Recht zur Einberufung hat? Man müßte vielmehr fragen: Wer hat kein Recht dazu? Denn es ist die heilige Pflicht aller derer, die etwas vermögen. Um wieviel mehr kann die ausführende Gewalt den Ort der Versammlung bestimmen und allen Widerstand des Gruppeninteresses beiseiteräumen, wo sie doch viel besser als einfache Privatpersonen in der Lage ist, die Allgemeinheit der Bürger zu benachrichtigen! Sicher hat der Fürst in seiner Eigenschaft als erster Bürger des Staates ein größeres Interesse an der Einberufung des Volkes als jeder andere. Wenn er auch nicht befugt ist, über die Verfassung zu entscheiden, so kann man das doch von jener Einberufungsentscheidung nicht sagen. Die Frage, was man hätte tun sollen, ist also unschwer zu beantworten. Man hätte die Nation einberufen müssen, damit sie außerordentliche Stellvertreter zur Hauptstadt abgeordnet hätte mit einer besonderen Vollmacht, die Verfassung der gewöhnlichen Nationalversammlung zu ordnen. Ich hätte aber nicht gewollt, daß diese Stellvertreter außerdem noch die Vollmacht erhalten hätten, entsprechend der Verfassung, die sie
5. Was man hätte t u n sollen
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selbst erarbeitet haben, in anderer Eigenschaft anschließend als gewöhnliche Versammlung zusammenzutreten; ich hätte befürchtet, daß sie, statt allein für das Nationalinteresse zu arbeiten, ihrem Gruppeninteresse zu viel Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Immer wieder machen in der Politik die Vermischung, das Durcheinander der Gewalten die Errichtung der wahren gesellschaftlichen Ordnung"" auf Erden unmöglich; wenn man daher bereit ist, so wird man die große Aufgabe einer menschlichen Gesellschaft, die zum allgemeinen Vorteil ihrer Glieder eingerichtet ist, bald lösen. Man wird mich fragen, warum ich mich so ausführlich darüber verbreitet habe, was man hätte tun sollen. Die Vergangenheit ist vergangen, wird man sagen. Darauf erwidere ich erstens, daß die Kenntnis dessen, was man hätte tun sollen, zur Kenntnis dessen führen kann, was zu tun sein wird. Zweitens ist es immer gut, die wahren Grundprinzipien darzulegen, zumal in einer Sache, die für die meisten Köpfe so neu ist. Schließlich können die Wahrheiten dieses Kapitels helfen, die Wahrheiten des folgenden Kapitels besser verständlich zu machen.
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Was ist der Dritte Stand?
Sechstes Kapitel
Was zu tun bleibt. Entwicklung
einiger
Grundsätze.
Die Zeit ist vorbei, in der die drei Stände nur an die Verteidigung gegen den ministeriellen Despotismus dachten und bereit waren, sich gegen den gemeinsamen Feind zu vereinigen, [ a ] Obwohl die Nation aus der gegenwärtigen Lage keinen Vorteil ziehen und keinen einzigen Schritt in Richtung der wahren Gesellschaftsordnung"' tun kann, ohne daß auch der Dritte Stand einen Gewinn davon hat, so hat es doch den Stolz der beiden ersten Stände verletzt, daß die großen Städte des Königreiches nur den geringsten Teil jener Rechte gefordert haben, die dem Volke gehören. [ b ] Was wollten diese Privilegierten eigentlich, die so leidenschaftlich ihren Uberfluß verteidigten und den Dritten Stand so bereitwillig hinderten, auch nur das Allernotwendigste zu erlangen? Dachten sie etwa, die Erneuerung, der man sich schmeichelt, wäre nur für sie, und wollten sie sich etwa des immer elenderen Volkes nur als eines blinden Werkzeugs zur Ausdehnung und Befestigung ihrer Aristokratie"' bedienen? Was werden die kommenden Generationen sagen, wenn sie erfahren, mit welcher Wut der zweite Stand des Staates und der erste Stand der Geistlichkeit alle Forderungen der Städte verfolgt haben? Werden sie an all die geheimen und öffentlichen Bündnisse, an die vorgetäuschten Unruhen 3 2 und die heimtückischen Machenschaften, in die man die
[ a ] Vgl. die Einleitung oben S. 9. [Anm. d. Übers.] [ b ] Anspielung auf die Forderungen einiger städtischer Vertreter während der Notabelnversammlung. [Anm. d. Ubers.] 32 Es ist wirklich zu lustig, wie sich die meisten Adligen bemühen, Maßnahmen, die sie im Grunde ihres Herzens als eine Stärkung des Despotismus fürchten, als Aufstand gegen die königliche Obrigkeit hinzustellen. Sie scheuen sich, denselben Dritten Stand, dem sie jede T a t k r a f t absprechen und dessen Mut sie sich nur durch die sogenannten Machenschaften der Regierung selbst zu erklären wissen, als einen Haufen von Empörern [revoltes] gegen den König darzustellen. Unter sich sagen die Adligen: Nichts ist für die Freiheit gefährlicher als die Sprache des Dritten Standes, gleicht sie doch etwas zu sehr der Bitte »Sire, machen Sie mit uns, was Sie wollen, aber lassen Sie nicht zu, daß die Aristokraten* uns verschlingen.« Gleichzeitig aber sagen sie zum König: »Das Volk trachtet nach Eurem T h r o n ; seid auf der Hut, es will die Monarchie umstürzen.« Warum stachelt man bei einer solchen Gesinnung den Pöbel eigentlich nicht selbst auf, da er doch blind ist und alle Anstöße, welche die Aristokratie ihm gnädigerweise gibt, mit abergläubischer Folgsamkeit ausführt? Man würde so den willkommenen Vorwand erhalten um zu sagen: Seht, das ist euer Dritter Stand! Aber alle rechtschaffenen Leute werden antworten: Seht, das sind die Aristokraten! Ach wenn es nur keine Aristokraten gäbe! Mit welcher Leichtigkeit würden wir dann augenblicklich die erste, das heißt die freieste und glücklichste Nation der Erde werden!
6. Was zu tun bleibt
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Verteidiger des Volkes verwickelt hat, glauben können? Die patriotischen Schriftsteller werden in den getreuen Berichten, die sie für die Nachwelt vorbereiten, jedenfalls nichts verschweigen. Man wird es verbreiten, wie edel sich die Großen Frankreichs in einer Lage verhalten haben, die wahrlich geeignet war, selbst in solchen Menschen, die zutiefst in ihrer Selbstsucht versunken sind, einige patriotische Regungen zu wecken. Wie konnten sich die Fürsten des regierenden Hauses nur entschließen, in einem Streit zwischen den Ständen des Landes Partei zu ergreifen? Wie konnten sie es zulassen, d a ß armselige Schreiberlinge ebenso abscheuliche wie lächerliche Verleumdungen ausspien, wie sie die unter ihrem Namen veröffentlichte Denkschrift enthält, [a] Man beklagt sich über die Heftigkeit einiger Schriftsteller des Dritten Standes. Doch was bedeutet es schon, wie ein Einzelner für sich denkt? Nichts. Die eigentlichen und authentischsten Vorstöße des Dritten Standes beschränken sich auf Eingaben der Städte und eines Teils der pays d'etats*. Man vergleicht sie einmal mit der ebenso authentischen Eingabe der Fürsten gegen das Volk, das sich sehr wohl gehütet hat, sie anzugreifen. Welche Bescheidenheit, welche Mäßigung auf der einen Seite! Welche Heftigkeit, welche krasse Ungerechtigkeit auf der anderen Seite! Vergeblich würde der Dritte Stand vom Zusammentritt der Stände die Wiedererlangung seiner politischen und die volle Rückerstattung seiner bürgerlichen Rechte erwarten; die Furcht vor einer Reformierung der Mißstände erregt bei den Aristokraten"' eher Beunruhigung als das Verlangen nach Freiheit. Bei der Wahl zwischen der Freiheit und einigen verhaßten Privilegien haben sie sich f ü r letztere entschieden. Die Seele der Privilegierten ist eins mit den Gunstbezeigungen der Knechtschaft. Heute fürchten sie jene Generalstände, die sie noch vor kurzem so lebhaft verlangten. Auf einmal finden sie alles gut und beschweren sich nur noch über den Neuerungsgeist; nichts fehlt ihnen mehr; vor lauter Angst haben sie jetzt eine Verfassung. Aus der Bewegung der Gemüter und aus dem Gang der Dinge m u ß der Dritte Stand erkennen, daß er nur noch von seiner eigenen Aufklärung und von seinem eigenen Mut etwas zu erhoffen hat. Die Vernunft und die Gerechtigkeit sind für ihn; wenigstens muß er sich ihrer ganzen Kraft versichern. Nein, die Zeit zur Versöhnung zwischen den Parteien"" ist vorbei. Welche Einigung kann man auch zwischen der T a t k r a f t des Unterdrückten und der Wut der Unterdrücker erhoffen? Haben sie doch das Wort Spaltung [scission] ausgesprochen! Haben sie doch dem König und dem Volk gedroht! Bei Gott, wie glücklich wäre es für die Nation, [a] Gemeint ist das Memoire presente au roi vom Dezember 1788, in dem die Fürsten Conde und Conti, die Herzöge von Bourbon und von Enghien sowie der Graf von Artois die Gefahr eines Umsturzes beschworen und erklärten, der Adel sei bereit, auf seine Steuerprivilegien zu verzichten. [Anm. d. Ubers.]
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Was ist der Dritte Stand?
wenn diese so wünschenswerte Spaltung für ewig wäre! Wie leicht könnte man die Privilegierten entbehren! Wie schwer aber wird es sein, sie so weit zu bringen, daß sie gute Bürger* sind! Als die Aristokraten den Angriff eröffneten, haben sie nicht bedacht, daß es höchst ungeschickt war, die Diskussion bestimmter Fragen anzuregen. Bei einem Volk, das an die Knechtschaft gewöhnt ist, kann man die Wahrheiten ruhen lassen; wenn ihr also die Aufmerksamkeit weckt und verkündet, man solle zwischen den Wahrheiten und dem Irrtum wählen, dann heftet sich der Geist an die Wahrheit, wie gesunde Augen sich natürlicherweise dem Licht zuwenden. Doch in der politischen Moral kann sich die Aufklärung nicht bis zu einem bestimmten Punkt verbreiten, ohne freiwillig oder mit Gewalt zur Billigkeit [equite] zu führen; denn in der politischen Moral sind die Wahrheiten an die Rechte gebunden; die Kenntnis der Rechte weckt das Rechtsempfinden; und das Gefühl unserer Rechte stärkt in unserm Innern die Spannkraft des Freiheitsdranges, die bei den Europäern noch nie völlig gebrochen worden ist. Man müßte blind sein, um zu verkennen, daß sich unsere Nation glücklicherweise einige dieser fruchtbaren Grundsätze, die zum Guten, Gerechten und Nützlichen führen, zueigen gemacht hat. Es ist unmöglich, sie zu vergessen noch mit fruchtloser Gleichgültigkeit zu betrachten. In dieser neuen Lage ist es nur natürlich, daß die unterdrückten Klassen* verstärkt den Drang spüren, zur guten Ordnung zurückzukehren; es wächst ihr Interesse daran, daß die Gerechtigkeit, diese vornehmste aller Tugenden, die so lange von der Erde verbannt war, wieder unter die Menschen zurückkehrt. Es liegt also beim Dritten Stand, die größten Anstrengungen zu machen und fast alle Vorleistungen für die nationale Erneuerung zu erbringen. Außerdem muß man ihm klarmachen, daß es für ihn nicht darum geht, wenigstens in seiner früheren Lage zu bleiben, wenn er nichts Besseres erreicht. Eine so feige Rechnung ist bei den jetzigen Umständen völlig unzulässig. Es geht vielmehr darum, voranzukommen oder zurückzuweichen. Wenn ihr diesen Haufen von unbilligen und gesellschaftswidrigen [antisociaux] Vorrechten nicht verbannen wollt, müßt ihr euch entschließen, sie anzuerkennen und für rechtmäßig zu erklären. Doch das Blut schießt einem siedendheiß zu Kopfe bei dem bloßen Gedanken, daß es möglich wäre, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die abscheulichen- Auswüchse der abscheulichen Feudalität* gesetzlich zu bestätigen. Es hat eine leider recht lange Zeit gegeben, in der der Dritte Stand so ohnmächtig war, daß er das Bedauern und die Tränen der Patrioten* über seine traurige Lage verdiente. Wenn er aber jetzt, wo er etwas vermag, selbst sein Unglück schmiedet, und sich freiwillig der Erniedrigung und der Schande weiht, welche Gefühle, welche Schimpfworte würde er dann verdienen? Den Schwachen hat man beklagt, den Feigling aber müßte man verachten. Doch schieben wir dies Bild des tiefsten und gewiß unmöglichen Unglücks beiseite, denn es
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würde bei fünfundzwanzig Millionen Menschen die äußerste Erbärmlichkeit voraussetzen. Während die Aristokraten von ihrer Ehre reden und über ihr Interesse wachen, wird der Dritte Stand, das heißt die Nation, seine Tugend entfalten, denn wenn das ständische Interesse Selbstsucht ist, so ist der Nationalwille Tugend. Sollen die Adligen ruhig ihrem zum Sterben verurteilten Dünkel frönen und sich damit begnügen, den Dritten Stand mit den beleidigendsten Ausdrücken der Feudalsprache zu schmähen. Sie werden immer wieder die Worte Bürgerliche* [roturiers], Bauernlümmel [manans] und gemeine Leute [vilains] ausstoßen, ohne zu bedenken, daß diese Ausdrücke, welche Bedeutung man ihnen auch gibt, heute entweder nicht auf den Dritten Stand zutreffen oder für alle drei Stände gemeinsam gelten und daß, wenn sie zutreffen würden, neun Zehntel der Adligen unbestreitbar Bürgerliche, Bauernlümmel und gemeine Leute und die übrigen notwendigerweise Räuber wären. Vergebens verschlossen die Privilegierten ihre Augen vor dem tiefen Wandel [la revolution], den die Zeit und die Macht der Dinge herbeigeführt haben; er bleibt dennoch eine Tatsache. Früher war der Dritte Stand in der Leibeigenschaft, der adlige Stand war alles. Heute ist der Dritte Stand alles, Adel ist nur ein Wort; aber unter dem Deckmantel dieses Wortes und durch den bloßen Eintluß einer falschen Meinung hat sich bei uns eine neue und unerträgliche Aristokratie"" eingeschlichen; und das Volk hat allen Grund, keine Aristokraten zu wollen. 33 Welche Möglichkeiten bleiben dem Dritten Stand unter diesen Umständen, wenn er seine politischen Rechte auf eine Art und Weise
33 KEINE ARISTOKRATIE» müßte gleichsam der Sammelruf aller Freunde der Nation und der guten Ordnung sein; die Aristokraten werden meinen, es sei eine Antwort, wenn sie sagen: K E I N E DEMOKRATIE* [democratic]. Aber das kann man ruhig mit ihnen und gegen sie wiederholen. Denn diese Herren verkennen, daß Repräsentanten keineswegs Demokraten sind und daß es unsinnig ist, an die wahre Demokratie zu glauben oder sie zu fürchten, weil sie bei einem großen Volk nicht möglich ist; sie erkennen nicht, daß dagegen die falsche Demokratie leider nur zu möglich ist und daß diese in einer Kaste besteht, die kraft Geburtsrecht oder aufgrund irgendeines anderen ebenso lächerlichen Rechtstitels, der mit der Vollmacht der Bevölkerung genauso wenig zu tun hat, Gewalten beansprucht, welche in einer wahren Demokratie die Bürgerschaft ausüben würde. Diese falsche Demokratie mit all ihren Übeln herrscht in einem Lande, von dem man sagt und meint, es sei eine Monarchie, in dem aber in Wirklichkeit eine Privilegiertenkaste sich das Monopol der Regierung, der Gewalten und aller Ämter angeeignet hat. Diese Feudaldemokratie [democratie feodale] ist es, die ihr zu fürchten habt; sie verbirgt ihre Nutzlosigkeit für das Gute unter dem Namen einer Zwischengewalt und verschleiert ihre Macht, Schlechtes zu tun, hinter der beeindruckenden Autorität des Aristokraten Montesquieu. [Anspielung auf De l'Esprit des lois (1748), liv. π, chap. 1; zur zeitgenössischen Montesquieu-Kritik s. o. S. 113. — Anm. d. Ubers.] Für jeden, der zum Nachdenken bereit ist, liegt es doch auf der Hand, daß eine Aristokratenkaste, mag das dümmste Vorurteil sie auch auszeichnen, der Amtsgewalt des Monarchen genauso widerspricht wie den Interessen des Volkes.
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wiedererlangen will, die der Nation nützt? Zu diesem Ziel bieten sich zwei Wege an. Wenn er den ersten Weg beschreitet, muß sich der Dritte Stand gesondert versammeln; er darf nicht mit dem Adel und der Geistlichkeit zusammenarbeiten, er darf nicht gemeinsam mit ihnen abstimmen, weder nach Ständen noch nach Köpfen. Ich bitte zu beachten, welch gewaltiger Unterschied zwischen der Versammlung des Dritten Standes und den Versammlungen der beiden anderen Stände besteht. Ersterer vertritt fünfundzwanzig Millionen Menschen und berät über die Interessen der Nation. Die beiden letzteren haben, sollten sie zusammentreten, nur die Vollmacht von ungefähr zweihunderttausend Einzelpersonen und denken nur an ihre Vorrechte. Man wird sagen, der Dritte Stand allein könne keine Generalstände bilden. Nun, um so besser, dann wird er eben eine Nationalversammlung bilden!34 Ein so wichtiger Vorschlag bedarf jedoch der klarsten und zuverlässigsten Rechtfertigung, welche die guten Grundsätze bieten. Ich behaupte, daß die Abgeordneten der Geistlichkeit und des Adels mit der Nationalrepräsentation nichts zu tun haben, daß auf den Generalständen keinerlei Bündnis zwischen den drei Ständen möglich ist und daß diese nicht gemeinsam abstimmen können, also weder nach Ständen noch nach Köpfen. Am Schluß des dritten Kapitels haben wir versprochen, diese Wahrheit, welche alle Rechtdenkenden schleunigst in der Öffentlichkeit verbreiten müssen, hier zu beweisen. Ein Grundsatz des allgemeinen Rechts lautet: es gibt keinen größeren Fehler als das Fehlen von Vollmacht. Wie man weiß, wird der Adel nicht von der Geistlichkeit und dem Dritten Stand abgeordnet. Die Geistlichkeit ist keineswegs mit der Vollmacht der Adligen und der Gemeinen'"' ausgestattet. Jeder Stand bildet also eine Nation für sich, die ebensowenig befugt ist, sich in die Angelegenheiten der anderen Stände einzumischen, 34 Es hat große Vorteile, wenn die gesetzgebende Gewalt nicht von einer einzigen Kammer, sondern von drei Körperschaften oder Kammern ausgeübt wird. Doch es ist äußerst unvernünftig, diese drei Kammern aus drei Ständen zu bilden, von denen jeder der Feind des anderen ist. D e r wahre Mittelweg besteht also darin, die Stellvertreter des Dritten Standes in drei gleiche Gruppen zu teilen. Bei diesem Verfahren hat jeder Teil den gleichen Auftrag, dasselbe Interesse und dasselbe Ziel. Mit dieser Bemerkung wende ich mich an diejenigen, welche in ihrer Begeisterung für den Gedanken des Gleichgewichts der Teile der gesetzgehenden Gewalt meinen, es gäbe in dieser Hinsicht nichts Besseres als die englische Verfassung. Kann man denn nicht das Gute übernehmen und sich das Übel ersparen? Übrigens haben wir weiter oben gesagt, daß die Engländer nur einen oder vielmehr keinen Stand haben, so daß unsere gesetzgebende Gewalt, wenn wir sie auf dem Gleichgewicht verschiedener Stände aufbauen würden, noch unendlich viel schlechter wäre als die unserer Nachbarn — das kann man gar nicht oft genug wiederholen. Es ist eine wichtige Aufgabe zu erforschen, nach welchen Prinzipien man die gesetzgebenden Kammern bilden soll, damit das gemeinschaftliche Interesse nicht verfehlt, sondern im Gegenteil durch ein richtiges Gleichgewicht zwischen seinen großen Aufgaben gewährleistet wird. Diese Fragen werden wir an anderer Stelle behandeln.
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wie etwa die Generalstaaten von Holland oder der Rat von Venedig bei den Beratungen des Englischen Parlaments mitabstimmen dürfen. Ein Bevollmächtigter kann nur seine eigenen Auftraggeber binden, ein Stellvertreter darf nur für diejenigen reden, die er vertritt. 35 Wenn man diese Wahrheit leugnet, sind alle Grundprinzipien hinfällig und jede vernünftige Überlegung unmöglich. Man muß demnach einsehen, d a ß es in der Regel völlig unnütz ist, die Beziehung und das Verhältnis zu suchen, wonach jeder Stand zur Bildung des Gemeinwillens* beitragen soll. Solange ihr drei Stände und drei Stellvertretungen habt, kann dieser Wille nicht ungeteilt sein. Höchstens daß sich diese drei Versammlungen auf einen Willen einigen, so wie drei verbündete Nationen denselben Wunsch hegen können. Aber eine Nation, eine Repräsentation und ein gemeinschaftlicher Wille wird daraus niemals werden. Ich begreife wohl, daß diese Wahrheiten, so unbezweifelbar sie auch sind, in einem Staate, der nicht im Zeichen der Vernunft und der politischen Billigkeit entstanden ist, hinderlich werden. Aber was wollt ihr sonst? Wird doch euer Haus nur noch künstlich aufrecht erhalten durch einen Wald unförmiger Stützen, die ohne Geschmack und Plan angebracht sind, es sei denn mit der Absicht, diejenigen Teile am meisten zu stützen, die am meisten vom Einsturz bedroht sind; ihr müßt das Haus entweder neu bauen oder euch d a f ü r entscheiden, sozusagen in den Tag hinein zu leben — unter ständiger Gefahr und Angst, schließlich unter den Trümmern des Gebäudes begraben zu werden. In der gesellschaftlichen Ordnung* hängt alles zusammen. Wenn ihr einen Teil vernachlässigt, so bleibt das für die anderen Teile nicht ohne Folgen. Wenn ihr mit der U n o r d n u n g beginnt, werdet ihr das notwendigerweise an den Folgen sehen. Dieser Zusammenhang ist eben notwendig. Denn wenn man von der Ungerechtigkeit und dem Widersinn dieselben Früchte ernten könnte wie von der Vernunft und der Billigkeit, wo lägen dann die Vorteile der letzteren? Ihr werdet nun sagen, der Dritte Stand habe, wenn er nicht mit den zwei anderen Ständen die sogenannten Generalstände bilde, sondern als Nationalversammlung zusammentrete, ebensowenig ein Recht, für die Geistlichkeit und den Adel mit abzustimmen, wie diese beiden Stände für das Volk entscheiden dürften. Ich bitte euch aber, zunächst zu bedenken, 35 H ü t e n wir uns indessen zu fordern, d a ß sich die drei Stände in jedem Bailliage* vereinigen, um gemeinsam alle Abgeordneten zu wählen. Dieser Vorschlag scheint zwar unser Problem zu lösen; andererseits aber betrachte ich ihn als äußerst gefährlich, solange man nicht zuerst die Gleichheit der politischen Rechte herstellt. Der Dritte Stand darf sich niemals zu einem Schritt verleiten lassen, durch den er den Unterschied der Stände und den widersinnigen Sieg der Minderheit über die überwältigende Mehrheit anerkennen und besiegeln würde. Dieses unbedachte Vorgehen würde sowohl seinen Interessen und denen der N a t i o n schaden als auch den einfachen Regeln der guten Politik und der Arithmetik widersprechen.
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daß — wie gesagt — die Stellvertreter des Dritten Standes unzweifelhaft die Vollmacht der fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Millionen Individuen besitzen, aus denen die Nation besteht, abgesehen von ungefähr zweihunderttausend Adligen und Geistlichen. Das berechtigt sie zur Genüge, den Titel Nationalversammlung zu führen. Sie können also ohne jede Schwierigkeit für die Nation insgesamt beraten, bloße zweihunderttausend Köpfe ausgenommen. Gehen wir einmal einen Augenblick von dieser Voraussetzung aus, so könnte die Geistlichkeit weiterhin ihre Versammlungen für die freiwillige Abgabe [don gratuit] abhalten und der Adel könnte irgendeinen Weg vorschlagen, um dem König seine Abgaben zu entrichten; und damit die besonderen Regelungen für diese beiden Stände dem Dritten Stand niemals zur Last würden, könnte dieser zuallererst laut und deutlich erklären, daß er nicht bereit sei, irgendeine Steuer zu zahlen, die nicht auch von den beiden anderen Ständen getragen würde. Nur unter dieser Bedingung werde er Abgaben bewilligen; und selbst wenn die Steuern schon festgesetzt wären, würden sie vom Volke nicht erhoben werden, wenn sich herausstelle, daß Geistlichkeit und Adel sich unter irgendeinem Vorwand von ihnen befreit hätten. Dies Vorgehen wäre trotz gegenteiligen Anscheins vielleicht genauso gut wie jedes andere geeignet, die Nation nach und nach zur gesellschaftlichen Einheit zurückzuführen. Wenigstens würde es sogleich die Gefahr beseitigen, die diesem Lande droht. Denn wie sollte das Volk nicht von Bestürzung ergriffen werden, wenn es sieht, wie zwei privilegierte Körperschaften sich anschicken, als sogenannte Generalstände über sein Schicksal zu entscheiden und ihm ein ebenso unentrinnbares wie elendes Los aufzuerlegen! Da ist es nur recht und billig, die Befürchtungen von fünfundzwanzig Millionen Menschen zu zerstreuen; und wenn man schon einmal von Verfassung spricht, muß man auch durch seine Grundsätze und sein Verhalten beweisen, daß man ihre Grundelemente kennt und achtet. Es steht fest, daß die Abgeordneten der Geistlichkeit und des Adels keine Stellvertreter der Nation sind; sie sind also auch nicht befugt, für die Nation irgend etwas zu beschließen. Denn welche Folgen wird es haben, wenn ihr zulaßt, daß sie über Sachen von allgemeinem Interesse beraten? i. Wenn nach Ständen abgestimmt wird, können fünfundzwanzig Millionen Bürger keinen Beschluß im Sinne des Gemeininteresses fassen, weil es hundert- bis zweihunderttausend privilegierten Einzelpersonen nicht gefällt; oder anders ausgedrückt: jeweils mehr als hundert Personen werden durch den Willen eines Einzelnen entmündigt und in ihrem Willen zunichte gemacht. 2. Wenn zwischen einer gleichen Anzahl von Privilegierten und Nichtprivilegierten nach Köpfen abgestimmt wird, so folgt daraus immer noch, daß die Willen von zweihunderttausend Personen diejenigen von fünf-
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undzwanzig Millionen aufwiegen können, weil sie die gleiche Anzahl von Stellvertretern haben. Ist es nun aber nicht ungeheuerlich, eine Versammlung so zusammenzusetzen, daß sie für das Interesse der Minderheit stimmen kann? Ist das nicht geradezu die Verkehrung einer Versammlung? Wir haben im vorigen Kapitel dargelegt, daß der gemeinschaftliche Wille notwendigerweise nur in der Meinung der Mehrheit zu suchen ist. Dieser Grundsatz ist unanfechtbar. Daraus folgt, daß in Frankreich die Vertreter des Dritten Standes die wahren Treuhänder [depositaires] des Nationalwillens sind. Sie können also, ohne einen Fehler zu begehen, im Namen der gesamten Nation sprechen. Denn selbst wenn alle Privilegierten zusammen immer einhellig gegen den Dritten Stand stimmen würden, so blieben sie doch außerstande, der Mehrheit bei den Beratungen dieses Standes ein ebenbürtiges Gewicht entgegenzusetzen. Stimmt doch jeder Abgeordnete des Dritten Standes gemäß einer festen Relation an der Stelle von etwa fünftausend Menschen ab; man brauchte also nur zu bestimmen, daß in der Kammer der Gemeinen"" eine absolute Mehrheit von fünf Stimmen erforderlich ist, um die gesamten Stimmen von zweihunderttausend Adligen und Geistlichen aufzuwiegen und als unerheblich zu betrachten; und dabei lasse ich es im Augenblick unberücksichtigt, daß die Abgeordneten der beiden ersten Stände gar keine Stellvertreter der Nation sind, ja ich räume sogar ein, daß sie in der wahren Nationalversammlung sitzen und — freilich nur mit dem ihnen zustehenden Einfluß — unablässig gegen den Willen der Mehrheit stimmen. Aber selbst unter dieser Voraussetzung wird deutlich, daß ihre Meinung in der Minderheit untergehen würde. Das dürfte zur Genüge beweisen, daß der Dritte Stand verpflichtet ist, für sich allein eine Nationalversammlung zu bilden, und daß er nach Vernunft und Billigkeit den berechtigten Anspruch erheben kann, uneingeschränkt für die gesamte Nation zu beraten und zu beschließen. Ich weiß, daß solche Grundsätze nicht einmal den Mitgliedern des Dritten Standes schmecken, die seine Interessen am geschicktesten verteidigen. Meinetwegen! Nur soll man zugeben, daß ich von den wahren Grundprinzipien ausgegangen bin und auf eine gute Logik gestützt voranschreite. Fügen wir noch hinzu, daß der Dritte Stand nicht der Spaltung [scission] bezichtigt werden kann, wenn er sich von den beiden ersten Ständen trennt; überlassen wir diesen törichten Ausdruck und seine Bedeutung doch jenen, die ihn zuerst gebraucht haben. In der Tat kann sich die Mehrheit überhaupt nicht vom Ganzen trennen; das wäre ein Widerspruch in sich selbst, denn dann müßte sie sich ja von sich selbst trennen. Es ist vielmehr nur die Minderheit, die sich dem Willen der großen Mehrheit nicht unterwerfen will und folglich eine Spaltung vollzieht. Wenn wir dem Dritten Stand jedoch den ganzen Umfang seiner Hilfs-
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mittel oder besser seiner Rechte zeigen, so wollen wir ihn doch keineswegs veranlassen, sie mit aller Härte anzuwenden. Ich habe oben von zwei Wegen gesprochen, auf denen der Dritte Stand wieder den Platz einnehmen kann, der ihm in der politischen Ordnung zukommt. Wenn nun der erste Weg, den ich eben beschrieben habe, zu schroff erscheint, wenn man glaubt, der Öffentlichkeit Zeit lassen zu müssen, um sich an die Freiheit zu gewöhnen, und wenn man weiter meint, die nationalen Rechte, so selbstverständlich sie auch sind, bedürften, sobald auch nur die kleinste Minderheit sie bestreite, einer Art gesetzlichen Urteils, das sie sozusagen festlege und ihnen die letzte Bestätigung verleihe, so will ich das alles zugeben; dann rufen wir eben das Tribunal der Nation an, den einzigen Richter, der für alle die Verfassung betreffenden Streitfragen zuständig ist. Dies ist der zweite Weg, der sich dem Dritten Stand bietet. Wir müssen uns hier alles dessen erinnern, was wir im vorigen Kapitel gesagt haben sowohl über die Notwendigkeit, der Körperschaft der gewöhnlichen Stellvertreter eine Verfassung zu geben, als auch über die Notwendigkeit, diese große Aufgabe nur einer außerordentlichen Abordnung anzuvertrauen, die dazu eine besondere Vollmacht hat. Man wird nicht leugnen, daß die Kammer des Dritten Standes bei den kommenden Generalständen nicht sonderlich befugt ist, eine außerordentliche Stellvertretung des Königreichs einzuberufen. So besteht ihre Aufgabe vor allem darin, die Allgemeinheit der Bürger über die falsche Verfassung Frankreichs zu unterrichten. Sie muß laut und deutlich darüber Klage führen, daß die aus mehreren Ständen bestehenden Generalstände nur eine schlecht geordnete Körperschaft bilden können, die unfähig ist, ihre nationalen Aufgaben zu erfüllen; sie muß zugleich zeigen, daß es notwendig ist, einer außerordentlichen Abordnung eine besondere Vollmacht zu erteilen, um die verfassungsmäßigen Grundregeln der gesetzgebenden Gewalt durch unmißverständliche Gesetze festzulegen. Bis dahin soll der Dritte Stand zwar nicht mit seinen vorbereitenden Arbeiten, aber doch mit der Ausübung seiner Gewalt warten; er soll nichts endgültig beschließen; er soll warten, bis die Nation den großen Prozeß, der die drei Stände trennt, entschieden hat. Das ist, wie ich gestehe, der klarere und großzügigere Weg, der somit der Würde des Dritten Standes am angemessensten ist. Der Dritte Stand kann sich also unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachten; unter dem einen begreift er sich als einen Stand·, in diesem Fall ist es nicht geraten, alle Vorurteile des finsteren Mittelalters"" auf einmal abzuschütteln; der Dritte Stand anerkennt vielmehr noch zwei andere Stände im Staat, ohne ihnen freilich mehr Einfluß zuzubilligen, als die Natur der Dinge erlaubt; und er nimmt auf sie jede erdenkliche Rücksicht, wenn er ihnen bis zur Entscheidung des obersten Richters
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zugesteht, seine Rechte in Zweifel zu ziehen. Unter dem anderen Gesichtspunkt ist er die Nation. Als solche machen allein seine Stellvertreter die ganze Nationalversammlung aus; sie haben alle Vollmachten derselben. D a sie allein die Treuhänder des Gemeinwillens!;" sind, brauchen sie nicht über eine Meinungsverschiedenheit, die es nicht gibt, die Meinung ihrer Auftraggeber einzuholen. Wenn sie eine Verfassung fordern, so geschieht das in gemeinsamer Ubereinstimmung; sie unterwerfen sich jederzeit bereitwillig den Gesetzen, welche die Nation ihnen gibt; aber sie dürfen sie in keiner Frage anrufen, die aus der Existenz mehrerer Stände herrührt. Denn für sie gibt es nur einen Stand, das heißt überhaupt keinen, weil es für die Nation nur die Nation geben kann. Die Bestellung einer außerordentlichen Abordnung oder — wie oben beschrieben — wenigstens die Erteilung einer neuen besonderen Vollmacht, um vor allem die große Frage der Verfassung zu regeln, ist also das wahre Mittel, um dem gegenwärtigen Streit ein Ende zu bereiten und möglichen Unruhen der Nation vorzubeugen. Wenn von diesen Unruhen auch nichts zu fürchten wäre, so könnten sie doch eine notwendige Maßnahme werden, weil wir, ob wir nun ruhig sind oder nicht, nicht darauf verzichten können, unsere politischen Rechte kennenzulernen und uns in ihren Besitz zu setzen. Diese Notwendigkeit dürfte uns noch viel dringender erscheinen, wenn wir bedenken, daß die politischen Rechte die einzige Gewähr für die bürgerlichen Rechte und für die persönliche Freiheit sind. Ich bitte den Leser, einmal darüber nachzudenken. Hier würde ich meine Abhandlung über den Dritten Stand schließen, wenn ich mir vorgenommen hätte, nur Verhaltensregeln zu geben — aber ich habe mir außerdem vorgenommen, Grundprinzipien zu entwickeln. Man gestatte mir daher, noch zu untersuchen, was in der öffentlichen Diskussion, die sich über die wahre Zusammensetzung einer Nationalversammlung erheben kann, die Interessen des Dritten Standes sind. Sollen die außerordentlichen Stellvertreter bei der Festlegung der Verfassung der Gesetzgebungskörperschaft nun die verhaßte und unpolitische Trennung der Stände berücksichtigen? Ich meine weder die Aufgaben noch die Vollmacht der gesetzgebenden Gewalt, sondern die Gesetze, die die personale Zusammensetzung der Abordnungen regeln. Soll man zu ihnen neben den Staatsbürgern auch Geistliche und Adlige aufgrund einer anderen Eigenschaft als der des Staatsbürgers zulassen? Und wird man ihnen vor allem in dieser Hinsicht besondere und höhere Rechte geben? Das sind schwerwiegende Fragen, zu denen man wenigstens die wahren Grundprinzipien darlegen muß. Suchen wir zunächst deutlich zu begreifen, was der Zweck und der Beratungsgegenstand [objet] der stellvertretenden Versammlung einer Nation ist; dieser Gegenstand kann sich nicht von dem unterscheiden,
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den die Nation selbst sich vornehmen würde, wenn sie an ein und demselben Ort zusammenkommen und beraten könnte. Was ist eigentlich der "Wille einer Nation? Er ist das Ergebnis der Einzelwillen, wie die Nation eine Vereinigung von Einzelpersonen ist. Es ist unmöglich, sich eine rechtmäßige gesellschaftliche Vereinigung vorzustellen, deren Zweck nicht in der gemeinschaftlichen Sicherheit, in der gemeinschaftlichen Freiheit, kurz im Gemeinwesen* besteht. Freilich hat jeder Einzelne außerdem noch besondere Ziele; er sagt sich etwa: im Schutz der gemeinschaftlichen Sicherheit werde ich in Ruhe meinen persönlichen Vorhaben nachgehen, ich werde meinem Glück* leben, so wie ich es verstehe, in der Gewißheit, daß meinen Wünschen nur die Grenzen gesetzt sind, die mir die Gesellschaft im Namen des Gemeininteresses vorschreibt, eines Interesses, an dem ich teilhabe und mit dem mein persönliches Interesse eine so nützliche Verbindung eingegangen ist. Aber man kann sich wohl kaum vorstellen, daß ein Mitglied der allgemeinen Versammlung so wahnsinnig wäre, etwa folgendermaßen zu reden: »Da seid ihr nun versammelt, aber nicht deswegen, um über unsere gemeinschaftlichen Angelegenheiten zu beraten, sondern um euch insbesondere meiner Angelegenheiten anzunehmen sowie der Angelegenheiten einer kleinen Clique, die ich mit einigen von euch gebildet habe.« Wenn man sagt, daß die Gesellschafter* sich versammeln, um die sie gemeinsam betreffenden Dinge zu regeln, so nennt man damit den alleinigen Grund, der die Mitglieder veranlaßt haben kann, der Vereinigung beizutreten, das heißt, man nennt eine jener so einfachen Grundwahrheiten, die durch die Versuche, sie zu beweisen, nur verlieren. Das also ist der Beratungsgegenstand: die gemeinschaftlichen Angelegenheiten. Nun ist es wichtig zu verstehen, wie alle Mitglieder einer Nationalversammlung durch das Zusammenwirken ihrer Einzelwillen jenen gemeinschaftlichen Willen* bilden, der nur auf das Gemeininteresse gerichtet ist. Betrachten wir dies Spiel oder diesen politischen Mechanismus zunächst unter der günstigsten Voraussetzung, nämlich der, daß der Gemeingeist [l'esprit public] in seiner vollen Kraft steht und die Versammlung dazu bringt, nur für das Gemeininteresse zu arbeiten. Solche Wunder sind auf Erden dünn gesät und keins war von langer Dauer. Es hieße die Menschen schlecht kennen, wollte man das Schicksal der Gesellschafter an die Anstrengungen der Tugend knüpfen. Selbst beim Verfall der öffentlichen Gesittung*, wenn die Selbstsucht alle Herzen zu regieren scheint, selbst in diesen langen Zwischenzeiten muß die Versammlung einer Nation so eingerichtet sein, daß die Einzelinteressen in ihr isoliert bleiben und daß der Wille der Mehrheit immer dem
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Gemeinwohl entspricht. Eine erträgliche Verfassung hat sicherlich dies Ergebnis. Man kann bei den Menschen drei Arten von Interesse feststellen: i. das Interesse, das bei allen Staatsbürgern das gleiche ist; es gibt den rechten Umfang des Gemeininteresses an. 2. Das Interesse, durch welches sich eine Einzelperson nur mit einigen anderen verbindet; das ist das Gruppeninteresse; und 3. schließlich das Interesse, durch welches sich jeder isoliert, weil er dabei nur an sich denkt; das ist das Einzelinteresse. Das Interesse, in dem jemand mit allen seinen Mitgesellschaftern [coassocies] übereinstimmt, ist offensichtlich der Gegenstand des Willens aller und der gemeinschaftlichen Versammlung. Zugegeben, jeder Abstimmungsberechtigte kann seine beiden anderen Interessen mit in die Versammlung bringen. Aber erstens ist das Eigeninteresse nicht zu fürchten; denn es ist isoliert. Jeder hat sein eigenes. Es schwächt sich selbst durch seine Verschiedenheit. Die große Schwierigkeit entsteht also zweitens durch jenes Interesse, das ein Bürger nur mit einigen anderen gemeinsam hat. Dies Interesse erlaubt es, sich abzustimmen und zu verbinden; mit seiner Hilfe schmiedet man die für die Gemeinschaft gefährlichen Pläne; seinetwegen entstehen der Öffentlichkeit die fürchterlichsten Feinde. Die Geschichte ist voll von dieser traurigen Wahrheit. Man wundere sich also nicht, wenn die gute Gesellschaftsordnung"' so streng fordert, daß die einfachen Bürger sich nicht in Zünften [corporations] zusammentun dürfen, und wenn sie sogar verlangt, daß die mit der öffentlichen Gewalt Beauftragten, die als einzige notwendigerweise nützliche Körperschaften bilden müssen, für die Dauer ihres Amtes darauf verzichten, für die gesetzgebende Versammlung zu kandidieren. So und nicht anders kann das Gemeininteresse sicher sein, die Eigeninteressen zu beherrschen. Schon allein aufgrund dieser Voraussetzungen können wir uns klar machen, daß es möglich ist, die menschlichen Gesellschaften auf dem allgemeinen Vorteil der Gesellschafter"' aufzubauen, und uns somit die Rechtmäßigkeit der politischen Gesellschaften zu erklären. So und nicht anders kommt man zur Lösung unseres Problems und man versteht nun, wieso in einer Nationalversammlung die Eigeninteressen immer isoliert bleiben müssen und der Wille der Mehrheit immer dem Gemeinwohl entsprechen muß. Wenn man über diese Grundprinzipien nachdenkt, drängt sich einem die Notwendigkeit auf, die Versammlung nach einem Plan einzurichten, der es den Stellvertretern unmöglich macht, einen Korpsgeist"' zu bilden oder zu einer Aristokratie* zu entarten. Daher die an anderer Stelle ausreichend erläuterten Grundsätze 36 , daß jährlich ein Drittel der Stell36 Siehe Uberblick
über die Ausführungsmittel,
Abschnitt in. [oben S. 76. — Anm. d. Ubers.]
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Vertretungskörperschaft erneuert werden muß und daß diejenigen Abgeordneten, deren Zeit abläuft, erst wieder nach einem Zeitraum gewählt werden dürfen, der einer größtmöglichen Zahl anderer Bürger genug Möglichkeiten läßt, sich ihrerseits am Gemeinwesen zu beteiligen; denn dieses würde aufhören zu existieren, wenn man es als Privatsache einer bestimmten Anzahl von Familien betrachten könnte usw. usw. Wenn der Gesetzgeber aber, anstatt diesen Grundbegriffen, diesen so klaren und zweifelsfreien Grundprinzipien zu huldigen, dagegen selber Zünfte im Staate bildet, wenn er alle Körperschaften, die sich bilden, anerkennt und kraft seiner Amtsgewalt bestätigt, wenn er es schließlich wagt, die größten, am meisten privilegierten und somit verderblichsten Körperschaften unter dem N a m e n von Ständen als Teil der Nationalrepräsentation zu berufen, dann sieht man gleichsam, wie das schlechte Gegenprinzip bestrebt ist, alles unter den Menschen zu verderben, zugrundezurichten und umzustürzen. Man müßte, um die gesellschaftliche Unordnung voll zu machen und zu befestigen, nur jenen fürchterlichen Zunftkammern [jurandes] ein wirkliches Ubergewicht über die große Körperschaft der Nation geben; und genau dies in Frankreich getan zu haben, könnte man dem Gesetzgeber vorwerfen, wenn es nicht viel naheliegender wäre, die meisten Übel, welche dies prächtige Königreich bedrücken, dem blinden Lauf der Ereignisse und der Wildheit unserer Vorfahren zuzuschreiben. Wir kennen also den wahren Zweck einer Nationalversammlung; sie ist nicht dazu da, sich mit den besonderen Angelegenheiten der einzelnen Bürger zu befassen, sondern sie betrachtet diese nur insgesamt unter dem Gesichtspunkt des gemeinschaftlichen Interesses. Unsere selbstverständliche Schlußfolgerung daraus ist die, daß die Staatsbürger nur aufgrund der Eigenschaften, die sie gemeinsam haben, das Recht besitzen, sich vertreten zu lassen, nicht aber aufgrund jener Eigenschaften, durch die sie sich unterscheiden. Der unterschiedliche Besitz von Vorteilen ist kein Kennzeichen der Staatsbürger; die Ungleichheiten in Eigentum und Fleiß sind wie die Ungleichheiten in Alter, Geschlecht, Körpergröße, Hautfarbe usw. Sie berühren die Gleichheit als Staatsbürger [l'egalite du civisme] in keiner Weise; die staatsbürgerlichen Rechte können nicht von diesen Unterschieden abhängen. Gewiß stehen jene besonderen Vorteile unter dem Schutz des Gesetzes; es ist aber nicht Aufgabe des Gesetzgebers, derartige Vorteile selber zu schaffen, den einen Vorteil zu gewähren und sie den andern zu verweigern. Das Gesetz gewährt nichts, es schützt nur das Bestehende, solange es dem Gemeininteresse nicht schadet. D o r t erst beginnen die Grenzen der persönlichen Freiheit. Ich stelle mir das Gesetz als Mittelpunkt einer gewaltigen Kugel vor; zu ihm befinden sich alle Bürger auf der Kugeloberfläche ausnahmslos in derselben Entfernung und nehmen dort gleiche Plätze ein; alle sind sie gleichermaßen vom
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Gesetz abhängig, alle übertragen sie ihm den Schutz ihrer Freiheit und ihres Eigentums; und diese bei allen gleichen Rechte sind es, was ich die gemeinsamen Bürgerrechte nenne. Die Beziehungen der Einzelpersonen untereinander, ihre gegenseitigen Verhandlungen und Verpflichtungen stehen dauernd unter dem gemeinschaftlichen Schutz des Gesetzes. Wenn dabei jemand seinen N a c h b a r n beherrschen oder dessen Eigentum widerrechtlich an sich bringen will, so bestraft das gemeinschaftliche Gesetz eine solche Handlung; es verhindert aber nicht, daß jeder entsprechend seinen angeborenen und erworbenen Fähigkeiten, entsprechend den mehr oder weniger günstigen Umständen sein Eigentum vermehrt, so gut seine Arbeitskraft es vermag und das Schicksal es erlaubt, und d a ß er — solange er den ihm gesetzlich zugewiesenen Platz nicht verläßt— für sich allein an dem Glück* baut, das seinem Geschmack am meisten entspricht und ihm am begehrenswürdigsten erscheint. Indem das Gesetz die gemeinschaftlichen Rechte jedes Bürgers schützt, schützt es auch seine Fähigkeiten und Möglichkeiten bis zu dem Augenblick, in dem seine Handlungen die Rechte des Mitbürgers verletzen. 37 Vielleicht wiederhole ich etwas zu oft immer dieselben Gedanken; doch mir fehlt die Zeit, sie auf ihre vollkommenste Einfachheit zurückzuführen; und außerdem ist Kürze nicht angebracht, wenn man noch so wenig bekannte Grundbegriffe erläutert. Allein die bei allen Bürgern ähnlichen Interessen sind es also, über die sie gemeinsam verhandeln und in deren Namen sie politische Rechte, das heißt eine tätige Mitwirkung am Zustandekommen des gesellschaftlichen Gesetzes fordern können; sie allein verleihen somit dem Staatsbürger die Eigenschaft der Repräsentationsfähigkeit [la qualite representable]. Also nicht, weil man ein Privilegierter ist, sondern weil man Staatsbürger ist, hat man das Recht, Abgeordnete zu wählen und gewählt zu werden. Ich wiederhole: alles, was den Bürgern gehört, hat Anspruch auf Schutz — gemeinsame Vorteile sowie besondere Vorteile, sofern sie nicht gegen das Gesetz verstoßen; da aber die gesellschaftliche Vereinigung allein auf dem Gemeininteresse beruht, hat nur die gemeinsame Eigenschaft Anspruch auf gesetzliche Regelung. Daraus folgt, daß das G r u p peninteresse nicht nur keinen Einfluß auf die Gesetzgebung haben darf, sondern daß es sie auch mißtrauisch machen muß; es wird immer dem Beratungsgegenstand der Versammlung ebenso widersprechen wie der Aufgabe einer Stellvertretungskörperschaft. 37 Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, hier auf das armselige und manchmal durch seine Sinnlosigkeit recht lustige, wegen seiner bösen Absicht aber verachtungswürdige Gerede einzugehen, das Kleingeister beiderlei Geschlechts auf lächerliche Weise über das schreckliche Wort Gleichheit in Umlauf bringen. Die Zeit dieser bösartigen Kindereien ist begrenzt, und wenn diese Zeit vorbei ist, müßte sich ein Schriftsteller schämen, seine Zeit mit der Widerlegung von so armseligem Geschwätz verschwendet zu haben, das dann selbst diejenigen, welche sich heute damit brüsten, in Erstaunen setzen und empört ausrufen lassen würde: Dieser Schriftsteller hält uns wohl für Schwächköpfe!
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Diese Grundsätze sind wohl noch strenger anzuwenden, wenn es sich um privilegierte Stände handelt. Unter einem Privilegierten verstehe ich jeden, der sich außerhalb des gemeinschaftlichen Rechtes stellt, weil er entweder den Anspruch erhebt, dem gemeinsamen Gesetz nicht in jeder Hinsicht zu unterstehen oder weil er besondere Rechte für sich beansprucht. Wir haben an anderer Stelle hinlänglich bewiesen, daß jedes Vorrecht seinem Wesen nach ungerecht, hassenswert und dem Gesellschaftsvertrag*" entgegengesetzt ist. Eine Privilegiertenklasse verhält sich zur Nation wie die Sondervorteile zum Staatsbürger; wie diese besitzt sie keine Repräsentationsfähigkeit. Mehr noch: eine Privilegiertenklasse schadet der Nation genauso wie die Sondervorteile den Bürgern, und der Gesetzgeber erfüllt nur seine Pflicht, wenn er sie beseitigt. Doch dieser Vergleich ist in einem Punkte schief, denn ein Sondervorteil, der anderen schadet, nützt wenigstens demjenigen, der ihn besitzt, während eine Privilegiertenklasse für die ganze Nation, die sie duldet, eine Geisel ist; um zu einem genauen Vergleich zu kommen, muß man also die Privilegiertenklasse in einer Nation als eine schreckliche Krankheit betrachten, die den Körper eines Unglücklichen bei lebendigem Leibe verzehrt. Uberhäuft also diese Klasse"" nur mit allen ehrenden Auszeichnungen, die ihr nur erdenken könnt — ihr habt es wahrlich nötig! Eine Privilegiertenklasse ist also nicht allein wegen ihres Korpsgeistes"", sondern schon durch ihr bloßes Vorhandensein schädlich. Je mehr Vergünstigungen sie erhalten hat, die der gemeinschaftlichen Freiheit notwendig widersprechen, desto entscheidender ist es, sie von der Nationalversammlung fernzuhalten. Nur in seiner Eigenschaft als Staatsbürger wäre der Privilegierte repräsentationsfähig·, aber er hat diese seine Eigenschaft selbst verwirkt, er steht außerhalb der Bürgerschaft [civisme], er ist ein Feind der gemeinschaftlichen Rechte. 38 Ihm ein Recht auf Stellvertretung zuzugestehen, wäre ein innerer Widerspruch des Gesetzes; nur durch einen Schritt in die Knechtschaft hätte sich die Nation einem solchen Gesetz unterwerfen können; und das kann man schlechterdings nicht unterstellen. Wenn wir bewiesen haben, daß derjenige, der mit der Regierungsgewalt beauftragt ist, weder die gesetzgebende Stellvertretungskörperschaft wählen noch für sie wählbar sein darf, so betrachten wir ihn dennoch weiterhin als einen wahren Staatsbürger; denn aufgrund seiner persönlichen Rechte ist er Staatsbürger wie alle anderen auch, ja seine notwendigen und ehrenvollen Aufgaben, die ihn vor seinen Mitbürgern auszeichnen, zerstören keineswegs seine Eigenschaft als Staatsbürger und verletzen sie auch nicht bei seinem Mitbürger, sondern haben im Gegenteil das Ziel, den Bürgerrechten zu dienen. Wenn es also in solchen Fällen nötig ist, die Ausübung der politischen Rechte zeitweilig zu unterbre38 Siehe Versuch über die Privilegien
[oben S. 93 f. — A n m . d. Ubers.]
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chen, um wieviel mehr muß dies dann für jene Leute gelten, welche die gemeinschaftlichen Rechte verachten, und sich dafür eigene Rechte gezimmert haben, die ein Fremdkörper in der Nation sind — kurz Leute, deren bloße Existenz einen dauernden Kampf gegen die große Gemeinschaft des Volkes [le grand corps du peuple] bedeutet! Es kann kein Zweifel bestehen, daß solche Leute auch die Eigenschaft des Staatsbürgers verwirkt haben und noch viel eher von dem Recht, zu wählen oder gewählt zu werden, ausgeschlossen werden müssen als ein Ausländer, dessen offen bekundetes Interesse dem eurigen wenigstens nicht unbedingt widerspricht. Fassen wir zusammen. Alles, was nicht zu der gemeinsamen Eigenschaft des Staatsbürgers gehört, sollte grundsätzlich von der Teilnahme an den politischen Rechten ausgeschlossen sein. Die gesetzgebende Versammlung eines Volkes kann nur die Aufgabe haben, für das Gemeininteresse zu sorgen. Wenn es aber nicht nur einfache Unterschiede gibt, die das Gesetz kaum berühren, sondern darüber hinaus Privilegierte, deren Status mit der gemeinschaftlichen Ordnung unvereinbar ist, so müssen sie von dieser Ordnung ausgeschlossen werden. Solange ihre verhaßten Vorrechte fortbestehen, können sie weder wählen noch sich wählen lassen. Ich bin mir bewußt, daß solche Grundsätze den meisten Lesern übertrieben erscheinen werden. Doch die Wahrheit muß dem Vorurteil ebenso fremd vorkommen, wie umgekehrt das Vorurteil* der Wahrheit fremd sein muß. Alles ist relativ. Es genügt mir, wenn meine Grundprinzipien zweifelsfrei erwiesen sind und wenn ich daraus die richtigen Schlußfolgerungen gezogen habe. Wenn man das auch anerkennt, so wird man doch zumindest einwenden, daß solche Dinge in der jetzigen Zeit völlig undurchführbar seien. Aber es ist auch gar nicht meine Sache, sie durchzuführen. Meine Aufgabe ist vielmehr die aller patriotischer Schriftsteller, nämlich die Veröffentlichung der Wahrheit. Andre werden sich je nach ihren Kräften und nach den Umständen der Wahrheit mehr oder weniger nähern oder sich böswillig von ihr entfernen, und dann müssen wir eben dulden, was wir nicht verhindern können. Wenn aber jedermann nur entsprechend der Wahrheit denken würde, so würden die größten Veränderungen keinerlei Schwierigkeit bilden, sofern sie nur den gemeinen Nutzen zum Gegenstand hätten. Was anders kann ich also tun, als mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften diese Wahrheit, die erst den Weg ebnet, verbreiten zu helfen? Zunächst wird man sie übel aufnehmen, doch dann gewöhnt man sich allmählich an sie, die öffentliche Meinung nimmt Gestalt an und schließlich merkt man, daß Grundprinzipien, die man anfänglich als tolle Hirngespinste betrachtet hatte, sich praktisch durchsetzen. Für fast alle Arten von Vorurteilen gilt, daß man heute weniger verständig über sie denken würde, wenn nicht Schriftsteller es auf sich genommen hätten, als verrückt zu gelten.
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Ich treffe überall gemäßigte Leute, die die Wahrheit in Stücke zerlegen oder jeweils nur kleine Teile von ihr zeigen möchten. Ich bezweifle, d a ß sie wissen, was sie sagen, wenn sie so reden. Sie beachten zweifellos zu wenig, daß der Administrator und der philosophe* verschiedene Pflichten haben. Der eine schreitet vorwärts, so gut er eben kann, und verdient schon volles Lob, wenn er nur nicht vom rechten Weg abweicht. Der philosophe aber m u ß diesen Weg bis zu seinem Ende durchdacht haben. Er muß am Ziel angelangt sein, weil er sonst nicht sicher sagen könnte, daß der beschrittene Weg auch wirklich dorthin führt. Wenn der philosophe'1" nun den Anspruch erhebt, mich unter dem Vorwand der Vorsicht aufzuhalten, wann es ihm gefällt, wie soll ich da wissen, ob er mich richtig führt? Soll ich seinen Worten einfach glauben? Nein, ein blindes Vertrauen entspricht nicht der Vernunft. Es hat in der Tat den Anschein, als verfolge man damit, d a ß man nur ein Wort nach dem andern sagt, die Absicht, einen Feind zu überlisten und ihm eine Falle zu stellen. Ich will nun keineswegs erörtern, ob ein offenes Benehmen auch unter Privatleuten das beste sei; aber in nationalen Angelegenheiten, mit denen sich so viele ernstzunehmende und aufgeklärte Interessen öffentlich befassen, ist die Kunst der Verheimlichung und all jener anderen Feinheiten, die man für das Ergebnis der menschlichen Erfahrung hält, reiner Wahnsinn. Hier besteht das wahre Mittel, seine Sache voranzubringen, darin, nicht etwa seinem Feinde zu verheimlichen, was er genausogut weiß wie wir, sondern die Mehrheit der Staatsbürger von der Gerechtigkeit ihrer Sache zu überzeugen. Man hat die falsche Vorstellung, die Wahrheit ließe sich teilen, in einzelnen Stücken verabreichen und sei in solchen Häppchen für den Geist leichter zu verdauen. In Wirklichkeit ist es anders: der Geist bedarf in der Regel kräftiger Erschütterungen; das Licht der Wahrheit kann gar nicht hell genug sein, um sie für immer auf den G r u n d der Seele einzubrennen und so jene starken Eindrücke zu erzeugen, die ein leidenschaftliches Interesse für alles wecken, was man als wahr, schön und nützlich erkannt hat. U n d ihr müßt folgendes beachten: in der unbelebten N a t u r entsteht das Licht nicht durch den direkten Sonnenstrahl, sondern durch seine Reflexe; im politischen Bereich aber entsteht das Licht aus dem wechselseitigen Zusammenhang und dem Ganzen aller Wahrheiten über einen bestimmten Gegenstand. Solange dieses Ganze fehlt, fühlt man sich niemals ausreichend aufgeklärt und meint oft, im Besitz einer Wahrheit zu sein, die man im selben Maße, in dem man über sie nachdenkt, aufgeben muß. Ach wie gering denkt man doch vom Fortschritt der Vernunft, wenn man glaubt, m a n könne ein ganzes Volk über seine wahren Interessen im Unklaren lassen und die nützlichsten, nur von wenigen Köpfen erkannten Wahrheiten dürften sich nur in dem Maße offenbaren, wie ein
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geschickter Administrator sie für den Erfolg seiner Unternehmungen benötigt! Denn einmal ist diese Vorstellung falsch, weil man sie unmöglich nachvollziehen kann. Außerdem aber ist sie verwerflich; denn weiß man etwa nicht, daß die Wahrheit in eine so ungeheure Masse, wie eine Nation es ist, nur langsam eindringt? Darüber wird leider immer nur zu viel Zeit verloren gehn. Doch man muß den Menschen Zeit lassen: den Leuten, welche die Wahrheit stört, damit sie sich an sie gewöhnen; den jungen Leuten, die sie begierig aufnehmen, damit sie erst einmal etwas werden, und den alten Leuten, bis sie nichts mehr sind. Mit einem Worte, warum will man mit dem Säen bis zum Augenblick der Ernte warten? Außerdem bleibt die Vernunft kein Geheimnis; denn nur aufgrund ihrer großen Verbreitung kann sie mächtige Wirkungen erzielen; nur wenn sie jedermann trifft, trifft sie richtig, weil so die öffentliche Meinung"" entsteht, der man vielleicht die meisten für die Bevölkerung wirklich nützlichen Veränderungen zuschreiben muß und der allein es auch zukommt, einer freien Bevölkerung Nutzen zu bringen. Ihr werdet nun sagen, die Geister wären noch nicht reif genug, um euch zu verstehen, ihr würdet viele Leute vor den Kopf stoßen. Aber das muß so sein: die Wahrheit, deren Veröffentlichung den meisten Nutzen bringt, ist doch nicht die, der man schon ziemlich nahe ist, und auch nicht die, die man gerade im Begriff ist, sich zueigen zu machen. Vielmehr ist die Verbreitung einer Wahrheit um so notwendiger, je mehr Vorurteile'' und persönliche Interessen sie verletzt. Man beachtet viel zu wenig, daß dasjenige Vorurteil am meisten Schonung verdient, das auf gutem Glauben beruht, und daß es am gefährlichsten ist, dasjenige Eigeninteresse anzugreifen, dem der Glaube an seine gerechte Sache große Kraft verleiht. Diese sachfremde Kraft muß man den Feinden der Nation nehmen und ihnen durch Aufklärung das schwächende Gewissen der eigenen Unredlichkeit verschaffen. Die gemäßigten Leute, an die ich mich mit diesen Bemerkungen wende, werden nicht länger um das Schicksal der — wie sie es nennen — verfrühten Wahrheiten fürchten, wenn sie endlich aufhören, das maßvolle und vorsichtige Verhalten des Administrators (das in der Tat alles verderben würde, wenn es die Widerstände unberücksichtigt ließe) mit der freien Tatkraft des philosophe* zu verwechseln; denn ihm ist der Anblick der Schwierigkeiten nur ein zusätzlicher Ansporn, er hat auch nicht mit ihnen zu verhandeln, ja er ist um so mehr zur Darlegung der guten gesellschaftlichen Grundprinzipien berufen, je mehr die Geister noch in Vorstellungen des finsteren Mittelalters* befangen sind. Wenn der philosophe* einen Weg durchs Dickicht schlägt, so hat er es nur mit Irrtümern zu tun; er muß sie schonungslos niederhauen, wenn er vorankommen will. Nach ihm kommt der Administrator; er trifft auf die Interessen, denen, wie ich zugebe, schwerer beizukommen ist; hier wird nun eine neue Fähigkeit erforderlich, ein feineres Wissen, das sich von
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den bloßen Überlegungen des Stubengelehrten unterscheidet, das aber — und darüber soll man sich nicht täuschen — noch viel weniger gemein hat mit der Geschicklichkeit so mancher Minister, die sich schon deshalb gute Administratoren dünken, weil sie keine philosophes sind. Eines Tages wird man gerechterweise anerkennen müssen, daß die Gedankenspiele der philosophes es nicht immer verdienen, verächtlich als reine Hirngespinste abgetan zu werden. Denn wenn die Meinung schließlich sogar den Gesetzgebern Gesetze vorschreibt, so ist doch sicherlich derjenige, welcher die Bildung dieser Meinung beeinflussen kann, nicht ganz so unnütz und untätig, wie so viele Leute behaupten, die selber nie auf etwas Einfluß gehabt haben. Gedankenlose Schwätzer — und es gibt davon so einige — kauen endlos dieselben Reden wieder über die sogenannte Bedeutung der Praxis und die angebliche Nutzlosigkeit oder Gefahr der Theorie. Dazu sage ich nur das eine: stellt euch irgendeine beliebige Folge von möglichst weisen, nützlichen und vortrefflichen Tatsachen vor; nun, glaubt ihr etwa, daß es im theoretischen Bereich keine Kette von Gedanken oder Wahrheiten gibt, die eurer Tatsachenfolge genau entspricht? Wenn ihr euch im Bereich der Vernunft haltet, so folgt sie euch, oder besser: sie geht euch voran. Was bitte ist die Theorie auch anders als die ihr entsprechende Folge von Wahrheiten, die ihr vor ihrer Verwirklichung nicht erkennen könnt, die aber dennoch jemand zuvor erkannt haben muß, weil sonst jedermann blind handeln würde, und nicht wüßte, was er täte. Leute, welche die Unterhaltung gewöhnlich mit solchem Unsinn stören, beweisen in Wirklichkeit ebensowenig Praxis wie Theorie. Warum sind sie nicht so klug und praktisch, sich entweder, wenn sie die Fähigkeit dazu besitzen, über die Theorie aufzuklären oder wenigstens die Praxis zum Stillschweigen über Fragen zu benutzen, von denen sie im Grunde nichts verstehen? Doch genug davon. Schließlich wird man noch einwenden, die Privilegierten hätten zwar kein Recht, den Gemeinwillen'''' für ihre Vorrechte einzuspannen, aber in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger müßten sie wenigstens — genauso wie die übrige Gesellschaft auch — ihre politischen Rechte bei der Stellvertretung ausüben können. Ich habe aber schon gesagt, daß sie dadurch, daß sie die Eigenschaft eines Privilegierten angenommen haben, wirkliche Feinde des Gemeininteresses"" geworden sind; sie können also nicht den Auftrag erhalten, für das Gemeininteresse zu sorgen. Ich füge hinzu, daß ihnen die Rückkehr in die wahre Nation ja offensteht, sofern sie es nur wollen und sich von ihren ungerechten Vorrechten trennen; andernfalls schließen sie sich mit voller Absicht selbst von der Ausübung der politischen Rechte aus. D a sie schließlich ihre wahren Rechte — nämlich diejenigen, welche Gegenstand der Nationalversammlung sein können - mit den Abgeordneten dieser Versammlung gemein
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haben, können sie sich mit dem Gedanken beruhigen, daß diese Abgeordneten ja sich selbst schadeten, wenn sie versuchen würden, jene Rechte zu beeinträchtigen. Es steht also fest, daß nur die Nichtprivilegierten die Fähigkeit besitzen, Wähler und Abgeordnete der Nationalversammlung zu werden. Der Wille des Dritten Standes wird für die Allgemeinheit der Bürger stets gut sein; der Wille der Privilegierten aber wäre immer schlecht, sofern sie nicht ihr Eigeninteresse aufgeben und wie einfache Bürger, also wie der Dritte Stand selbst stimmen würden; der Dritte Stand reicht also für alles aus, was man von einer Nationalversammlung erwarten kann; er allein ist somit in der Lage, all den Nutzen zu stiften, den man sich von den Generalständen versprechen darf. Vielleicht meint man, den Privilegierten bliebe als letzte Zuflucht noch die Möglichkeit, sich als eine eigene Nation zu betrachten und eine besondere, unabhängige Stellvertretung zu fordern. Ich selbst bin einen Augenblick von dieser Voraussetzung ausgegangen. Doch sie läßt sich nicht aufrechterhalten. Wie wir bereits im ersten Kapitel dieser Schrift bewiesen haben, sind die privilegierten Stände kein Volk für sich und können es nicht sein. Sie existieren und können nur existieren auf Kosten einer echten Nation. Denn welche Nation würde freiwillig eine solche Last tragen? Die Gerechtigkeit und die Vernunft werden sich schwerlich nach eurem Gutdünken richten. Ihr braucht sie gar nicht erst zu fragen, welchen Platz denn die privilegierten Klassen"' in der Gesellschaftsordnung einnehmen sollen: das käme der Frage gleich, welchen Platz im Körper eines Kranken man einer bösartigen Krankheit zuweisen solle, die ihn quält und verzehrt. Man muß diese Krankheit vielmehr absondern [neutraliser], die Gesundheit und das Zusammenspiel aller Organe soweit wiederherstellen, daß sich nicht mehr solche Krankheitsstoffe bilden, die imstande sind, die lebenswichtigen Kräfte zu zerstören. D a aber sagt man euch, ihr wäret noch nicht in der Lage, die Gesundheit zu ertragen; und ihr nehmt diesen Sinnspruch der aristokratischen Weisheit auch noch so entgegen wie die orientalischen Völker die Tröstungen des Fatalismus. Dann bleibt also krank!
Empfehlung Sr. Hoheit des Herzogs von Orleans an seine Vertreter in den Bailliagen mit Die Beratungen, die in den Versammlungen abzuhalten sind V I E R T E B E R I C H T I G T E AUFLAGE
1789
[Originaltitel: I N S T R U C T I O N D O N N E E PAR S. A. M O N S E I G N E U R LE D U C D ' O R LEANS, ä sesRepresentantsaux Bailliages. Suivie de Deliberations j prendre dans les Assemblies. Q U A T R I E M E E D I T I O N , C O R R I G E E . 1789. 75. S. - Die erste Auflage erschien anonym im Februar 1 7 8 9 ; die Ubersetzung folgt der Pseudonymen 4. Auflage. Die Verfasserschaft des ersten Teils, der Empfehlung, ist ungewiß: Grundgedanken und Formulierungen erinnern an Sieyes, in seinen Papieren aber befindet sich nach Mitteilung von Robert Marquant kein eindeutiger Beleg; Andre Martin und Gerard Walter (Catalogue de l'histoire de la Revolution fran$aise, T . III, Paris 1940, S. 2 1 5 ) nennen ohne nähere Begründung als Autor den Marquis Geoffroy de Limon; ebenso Antoine Alexandre Barbier, Dictionnaire des ouvrages anonymes, Τ. II, Paris 1882, Sp. 9 3 3 ; Paul Bastid, Sieyes et sa pensee, nouv. ed., Paris 1970, S. 53>f. neigt eher zu Laclos. Der wichtigere zweite Teil, die Beratungen, stammt dagegen sicher von Sieyes: eigenhändiger Entwurf in den Archives nationales unter der Signatur 284 AP 3, dossier 2, 3. Sieyes verfaßte diese Schrift wahrscheinlich für LouisPhilippe Joseph d'Orleans, den freigeistigen an der Notabelnrevolte beteiligten Vetter Ludwigs X V I . ; sie diente in den Grundherrschaften des Herzogs als Muster für die Beschwerdehefte; vgl. den Bericht von Jacques Claude Beugnot, Memoires, 1779-1 815, notes et introd. de Robert Lacour-Gayet, Paris 1959, 8 9 - 9 3 . S. a. Camille Bloch (Hrsg.), Cahiers de doleances du bailliage d'Orleans pour les Etats generaux de 1789, vol. 1—2, Orleans 1906—1907, hier Bd. 1, S. X I - X I V . - Anm. d. Ubers.]
EMPFEHLUNG A N M E I N E B E V O L L M Ä C H T I G T E N FÜR D I E B A I L L I A G E - V E R SAMMLUNGEN ZUR VORBEREITUNG DER GENERALSTÄNDE
Ich wünsche, daß meine Bevollmächtigten [Procureurs-fondes] [a] in den verschiedenen Bailliagen*, wo sie mich vertreten, überall dieselbe Auffassung mitbringen, daß sie dort meine Interessen vertreten und meine Meinung ebenso verfechten, wie ich es täte, wenn ich selbst anwesend wäre. Ich erwarte daher, daß sie mit Annahme meiner Vollmacht bei ihrer Ehre folgendes als ihre Verpflichtung betrachten: Erstens den Bailliagen zu erklären, daß die Regierung sie in nichts hindern könne, was die Wahl der Abgeordneten für die Generalstände betrifft — daß alle von den Bailliagen für die Einberufung der Generalstände gefaßten Beschlüsse lokal die gleiche Geltung besitzen wie für das gesamte Königreich die Beschlüsse der Generalstände — und daß die Bailliagen ihr Verhalten eher nach den Erfordernissen des Gemeinwohls als nach dem ihnen zugestellten Reglement [b] richten, denn es ist völlig unüblich, daß der König von Frankreich seinen Einberufungsschreiben irgendein Reglement beifügt. 2. Bei der Wahl der Abgeordneten der Generalstände den Personen ihre Stimme zu geben, die ich ihnen nenne. 3. Alle Anstrengungen zu unternehmen, daß in die Beschwerdehefte"" [cahiers] der Bailliagen folgende Artikel aufgenommen werden. Erster Artikel Man soll allen Franzosen die individuelle Freiheit verbürgen. Diese Freiheit umfaßt: 1. Die Freiheit zu leben, wo man will, inner- und außerhalb des Königreiches völlig ungehindert zu gehen, zu kommen, zu bleiben, wohin und wo es einem gefällt, ohne daß eine Erlaubnis, ein Paß, eine Bescheinigung oder andere Formalitäten erforderlich sind, die-die Freiheit der Bürger beeinträchtigen. 2. Daß niemand verhaftet oder gefangen gehalten werden darf außer aufgrund einer Entscheidung der ordentlichen Richter. 3. Daß, falls die Generalstände eine vorläufige Festnahme vielleicht manchmal für nötig halten, der Betroffene innerhalb von vierundzwanzig Stunden seinem gesetzlichen Richter zuzuführen ist und daß dieser gehalten ist, innerhalb kürzester Frist über die Festnahme zu befinden; daß außerdem gegen Kaution immer die vorläufige Freilassung zu bewil[a] Das Reglement general du 24 janvicr 1789 . . . gebraucht denselben Ausdruck, ζ. B. in Art. 12. [Anm. d. Ubers.] [b] Vgl. den Nachweis oben S. 20 Anm. [Anm. d. Ubers.]
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ligen ist, außer wenn der Festgesetzte eines Vergehens angeklagt ist, auf das eine Körperstrafe steht. 4. D a ß außer den Vollzugsbeamten der Justiz niemand kraft irgendeines Befehls, sei er Offizier, Soldat, Unteroffizier oder sonst jemand, die Freiheit eines Bürgers antasten darf, und zwar bei Todes- oder wenigstens körperlicher Strafe, so wie es die Generalstände bestimmen werden. 5. D a ß jeder, der einen derartigen Befehl bewirkt, unterzeichnet oder seine Ausführung begünstigt, vom ordentlichen Richter belangt und — wie man beschließen wird - nicht nur zum Ersatz von Schaden und Kosten, sondern auch zu einer Körperstrafe verurteilt werden kann. Art. II Die Freiheit, seine Meinung zu veröffentlichen, ist Teil der persönlichen Freiheit, weil der Mensch nicht frei sein kann, wenn seine Gedanken versklavt sind; daher soll die unbeschränkte Pressefreiheit gewährt werden unter Vorbehalt der von den Generalständen getroffenen Einschränkungen. Art. III Ebenso soll man für jeden der Post anvertrauten Brief absolute Achtung befehlen; man soll die zuverlässigsten Mittel ergreifen, um jeden Verstoß zu verhindern. Art. IV Jedes Eigentumsrecht ist unverletzlich, und man soll dies Recht niemandem rauben, auch nicht im öffentlichen Interesse, ohne ihn unverzüglich mit dem höchsten Preis zu entschädigen. Art. V Keine Steuer soll gesetzlich sein und erhoben werden können, wenn nicht die Nation sie durch die Versammlung der Generalstände gebilligt hat, und die genannten Stände können sie nur für eine begrenzte Zeit, nämlich nur bis zum nächsten Zusammentritt der Generalstände bewilligen, so daß alle Steuerzahlungen aufhören würden, wenn der nächste Zusammentritt nicht stattfände. Art. VI Man soll die regelmäßige Wiederkehr der Generalstände auf einen kurzen Zeitraum festsetzen und im Fall eines Thronwechsels oder einer Regentschaft die Generalstände binnen sechs Wochen oder zwei Monaten zu einer außerordentlichen Versammlung einberufen; man darf kein Mittel versäumen, das geeignet ist, die Ausführung dieser Bestimmungen zu gewährleisten.
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Art. VII D i e Regierung soll den Generalständen über die Verwendung der ihr anvertrauten Mittel Rechenschaft geben; sie trägt gegenüber den Ständen die Verantwortung für alles, was sie in Bezug auf die Gesetze des Königreichs tut.
Art. VIII M a n soll die Staatsschuld konsolidieren.
Art. IX D i e Steuern sollen nicht eher bewilligt werden, als bis der U m f a n g der nationalen Schulden bekannt ist und die Staatsausgaben überprüft und festgesetzt sind.
Art. X D i e bewilligten Steuern sollen allgemein und gleichmäßig umgelegt werden.
Art. XI M a n soll die Reform des Zivil- und Strafrechts in Angriff nehmen.
Art. XII M a n soll die Einführung der Ehescheidung fordern, weil sie das einzige Mittel ist, bei zerrütteten Ehen und ihrer Auflösung Unglück und Ärger zu vermeiden.
Art. XIII M a n soll die geeignetsten Mittel ausfindig machen, um die Ausführung der Gesetze des Königreichs zu sichern, so daß niemand ein Gesetz übertreten kann, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Art. XIV M a n soll die Abgeordneten für die Generalstände auffordern, die Angelegenheiten des Königreiches erst dann zu beraten, wenn die persönliche Freiheit eingeführt ist, und die Steuern erst dann zu bewilligen, wenn die Verfassungsgesetze feststehen.
Art. XV Ich wünsche, daß meine Bevollmächtigten keiner Forderung des Dritten Standes, die ihnen gerecht und vernünftig erscheint, aus Rücksicht auf meine Rechte irgendein Hindernis in den Weg legen, unabhängig davon, ob jeder Stand sein Beschwerdeheft getrennt für sich verfaßt, oder ob die drei Stände diese Redaktion gemeinsam vornehmen.
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Art. XVI Es ist mein Wille, d a ß meine Bevollmächtigten in den Bailliagen, w o m a n gegen die Rechte u n d Bestimmungen der Jägermeistereien protestiert, in meinem N a m e n erklären, daß ich deren A b s c h a f f u n g zustimme u n d mich der F o r d e r u n g der Bailliagen n a c h A b s c h a f f u n g namentlich anschließe. Art. XVII Es ist ebenfalls mein Wille, d a ß sich meine Bevollmächtigten bei allen in dieser Instruktion übersehenen oder zu wenig ausgeführten Artikeln nach den G r u n d s ä t z e n richten, die in dem beigefügten Werk mit dem Titel Die Beratungen, die in den Bailliage-Versammlungen abzuhalten sind, ausgef ü h r t w e r d e n ; G r u n d s ä t z e , die ich allgemein vertrete und von denen ich möchte, d a ß meine Bevollmächtigten sie nach K r ä f t e n verbreiten. In diesem Geiste erteile ich meine Vollmacht"" [ P r o c u r a t i o n ] ; ich wünsche, d a ß keiner meiner Bevollmächtigten sich hiervon entfernt, und sie werden das Vertrauen, das ich in sie setze, voll rechtfertigen, wenn sie all ihre Mittel einsetzen, um den obigen G r u n d s ä t z e n zur A n n a h m e zu verhelfen.
B E R A T U N G E N , DIE IN D E N BAILLIAGE-VERSAMMLUNGEN ABZUHALTEN SIND Ein M a n n , der n a c h seiner Bailliage-Versammlung abreist, sucht sich d a r ü b e r klar zu werden, was m a n da zu t u n hat, u n d f r a g t sich: Wie sollen wir vorgehen? Sogleich stürmt eine U n m e n g e von alten u n d neuen Begriffen auf ihn ein u n d erstickt gleichsam die klare Vorstellung, die m a n sich v o n einer Bailliage-Versammlung machen möchte, die Abgeordnete f ü r die Generalstände entsenden soll; er denkt an die Beschwerden [doleances], Gravamina [griefs], Aufträge [charges], Empfehlungen [instructions], Beschwerdehefte·', Vollmachten [pouvoirs] usw. usw. E r weiß nicht, wo m a n a n f a n g e n soll u n d nach welchen G r u n d s ä t z e n m a n so viele gewiß wichtige, weil die Generalstände vorbereitende Vorgänge auseinanderhalten oder verbinden m u ß . Lassen wir all diese Begriffe beiseite, die weder definiert sind noch definiert zu w e r d e n brauchen. Eine beratende V e r s a m m l u n g [Assemblee deliberante] hat eben nur Beratungen [Deliberations] zu pflegen, was f ü r einen G e g e n s t a n d oder A u f t r a g sie auch haben mag. Beschränken wir uns also auf das Protokoll der Beratungen; das ist die alleinige U n t e r l a g e ; sie m u ß alles e n t h a l t e n , denn m a n k a n n nicht a n n e h m e n , d a ß eine öffentliche V e r s a m m l u n g ihren Gesandten [ N o n c e s ] außerdem noch geheime I n s t r u k t i o n e n gibt. Ich unterscheide bei den Beratungen drei große Sachbereiche: 1. Die versammelten Abgeordneten f r a g e n sich zunächst, wie sie sind.
E m p f e h l u n g des H e r z o g s von O r l e a n s
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In der Tat ist es gut, wenn sie vor den eigentlichen Beratungen wissen, ob sie zur Bildung einer beratenden Körperschaft richtig bestellt sind [bien constitues], 2. Haben sie erklärt, woher sie kommen und wer sie sind, so ist es nur natürlich, daß sie sich ihrem Gegenstande zuwenden; sie haben die Belange [besoins] des Staates, ihres Distriktes und ihres Standes in Betracht zu ziehen. }. Nachdem sie dann besprochen haben, was sie unter ihren Repräsentanten und unter den Vollmachten"" verstehen, brauchen sie nur noch ihre Abgeordneten zu wählen. Man sieht, daß nach diesen drei Gruppen von Beratungen nichts mehr zu tun ist. D a s wollen wir nun eingehender darlegen.
Erster Sachbereich Beratung der Versammlung über sich selbst Es ist wahrscheinlich, daß die drei Stände nicht gemeinsam beraten werden, wenigstens nicht in den allermeisten Bailliagen. Mit einer Inkonsequenz, die seiner von jeher bewiesenen Aufgeklärtheit alle Ehre macht, wünscht das Ministerium auf der einen Seite die Vereinigung der drei Stände, um nach Köpfen abstimmen zu lassen, beschränkt aber andererseits die Wahlmänner [Electeurs] des Dritten Standes auf höchstens zweihundert [ a ] , während Adel und Geistlichkeit eine unbeschränkte Zahl von Wahlmännern stellen können: es versteht sich, daß der Dritte Stand, selbst wenn er zur Vereinigung bereit wäre, keineswegs zusammen mit den beiden ersten Ständen abstimmen würde, wenn diese ihn zahlenmäßig überträfen. Somit wird jeder Stand seine Angelegenheiten für sich allein regeln. Ich befasse mich hier nur mit der Kammer des Dritten Standes. Wenn fünfundzwanzig Millionen und zweihunderttausend Menschen eine Verfassung erhalten sollen, dann muß diese das Werk der Stellvertreter eben dieser fünfundzwanzig Millionen sein. Der Dritte Stand allein kann der Nation wieder die Freiheit verschaffen, entweder im Einvernehmen mit den beiden anderen Ständen, wenn diese sich einer so großen Wohltat würdig zeigen, oder aber gegen Adel und Klerus, wenn diese beiden Stände [classes] nichts anderes als vom Gruppeninteresse verdorbene Ansichten aufzuweisen haben. Die wirklich wichtigen Beratungen sind diejenigen des Dritten Standes, wenn er für sich bleibt,; denn er allein hat nichts als das Gemeininteresse im Auge; er allein kann sich als Treuhänder der Vollmachten der [ a ] G e m e i n t sind die v o n den städtischen P r i m ä r v e r s a m m l u n g e n gewählten A b g e o r d n e t e n des D r i t t e n S t a n d e s in den B a i l l i a g e - V e r s a m m l u n g e n . Vgl. A r t . 34 des R e g l e m e n t s . [ A n m . d. U b e r s . ]
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N a t i o n betrachten; der Dritte Stand fühlt, daß das Schicksal der Nation in seine H a n d gelegt ist. Dies Bewußtsein wird ihn weiterführen, selbst bei den einfachen Beratungen im Bailliage. Die Geistlichkeit und der Adel können sich übrigens die meisten Ansichten, die wir darlegen werden, zu eigen machen.
Erste Beratung Uber die Wahl des Präsidenten Beschluß: [arrete]: daß nach den unbestreitbaren Gesetzen einer guten Repräsentation der Präsident einer Vertretungskörperschaft von der Versammlung frei aus ihrer Mitte gewählt werden muß; daß diese Wahl in der Regel geheim sein sollte; daß die Versammlung aber, weil noch nichts über ihre Grundformen entschieden ist, ihren Präsidenten dieses eine Mal noch in offener Abstimmung wählt; daß sie zu diesem Amte H e r r n X wählt (selbstverständlich den G r a n d Bailli* oder den, der laut Reglement den Vorsitz führt) und gleichzeitig erklärt, Herr X verdanke diese Wahl nicht seiner Stellung, sondern allein dem Vertrauen, das die Versammlung in seine Person setze.
Zweite Beratung
Über die Wahl des Sekretärs und der übrigen Beamten usw. Beschluß: da der Sekretär der Versammlung ebenso wie alle übrigen inneren Beamten frei gewählt werden muß, benennt die Versammlung aus denselben Gründen wie oben Herrn X zur Führung und Abfassung des Protokolls (den vom König ernannten Bailliage-Schreiber); die Versammlung wählt von ihren Mitgliedern außerdem Herrn Y und Z, um über die Abfassung des Protokolls zu wachen; ansonsten erklärt sie noch einmal, d a ß künftig jede Abstimmung über eine Person geheim sein soll. Beschluß, daß es für die Bevölkerung von der äußersten Dringlichkeit ist, ihre Stellvertreter zu bestellen, die die Generalstände bilden sollen.
Dritte Beratung Über die Einberufungsschreiben und die Reglements Beschluß: da die Reglements, die den Einberufungsschreiben beiliegen, als Empfehlungen, Meinungen und Ratschläge zu betrachten sind, die Seine Majestät den Bailliagen freundlicherweise gegeben hat, um die Bildung ihrer ersten Versammlung zu erleichtern, sollte man dem König für seine
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wohlmeinenden und väterlichen Instruktionen den ergebensten Dank abstatten. Bemerkung. Ich halte es für sehr wichtig, daß die Bailliage-Versammlungen die sogenannten Reglements, die man ihnen geschickt hat, nicht genau befolgen; mit aller Entschiedenheit dürfen sie sie lediglich als bloße Empfehlungen"" betrachten, weil die ausführende Gewalt niemals das Recht haben kann, die Grundformen der stellvertretenden Versammlungen zu beeinflussen; man muß jedoch bei der von mir geratenen Nichtbefolgung vorsichtig sein; bei Artikeln, über die Einhelligkeit besteht, darf man sich das nicht erlauben; übrigens hat der König den Baillis* eine vorläufige Gewalt zur Beseitigung von Schwierigkeiten gelassen; die Baillis werden gewiß sehr deutlich merken, daß eigentlich die Versammlung diese Gewalt ausüben muß.
Vierte Beratung Über die Mängel der Abordnung Beschluß, daß unsere Abordnung"" nicht den verfassungsmäßigen Grundsätzen einer guten Repräsentation entspricht. Denn i. haben die bestellenden Versammlungen, deren Abgeordnete wir sind, sich nach diktierten Regeln gebildet und beraten, anstatt sich diese Regeln selbst zu geben. 2. Zwischen den ursprünglichen Auftraggebern und den einzelnen Abgeordneten, die diese Versammlung bilden, gibt es ungleiche Zwischenstufen. Zum Beispiel hat der städtische Handwerker seine Stimme in seiner Zunft abgegeben; von da sind seine Abgeordneten in die Stadtversammlung gekommen, was bereits eine erste Zwischenstufe ist; dann haben sich die Abgeordneten der Stadtversammlung mit denen der Dörfer usw. vereinigt, um die Bailliage-Versammlung zu bilden; das ist für die städtischen Handwerker die zweite, für die Einwohner vom Lande aber die erste Zwischenstufe; muß sich die Bailliage-Versammlung mit einer anderen vereinigen, so unterwirft man sie schließlich einer weiteren Abstufung, weil nur jeweils ein Viertel ihrer Abgeordneten in der Generalversammlung der vereinigten Bailliagen abstimmen darf; das macht zusammen drei Zwischenstufen [a]. V o r allem stellen wir fest, daß unsere ursprünglichen Auftraggeber nur über drei Zwischenstufen (oder über zwei in einem Bailliage, der mit keinem anderen vereinigt wird) Einfluß ausüben können, während die Adeligen und die meisten Geistlichen in ihrer Versammlung, die der unsrigen entspricht, zu unmittelbarem Einfluß aufgerufen sind; daraus entsteht eine ungerechte Ungleichheit zwischen Bürgern, deren politi[ a ] Sieyes folgt hier wieder dem mehrfach genannten Reglement. [Anm. d. Ubers.]
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sehe wie bürgerliche Rechte völlig gleich sein müssen. Im übrigen ist es nicht so, daß wir für eine große Nation die Notwendigkeit von Zwischenstufen bestreiten; wir protestieren lediglich gegen eine Ordnung, in der das Mitglied des Dritten Standes eine mittelbarere Einwirkung auf das Zustandekommen der Gesetze hat als die Mitglieder von Adel und Geistlichkeit, und fordern, daß die Generalstände diese politische Ungleichheit beseitigen. 3. Der vielleicht größte Mangel unserer Abordnung ist aber der, daß man mehrere Stimmen auf eine einzige gekürzt hat, als ob die politischen Rechte des einen Bürgers nur ein Bruchteil der politischen Rechte eines anderen Bürgers wären. Und diesem Übel der Kürzung [reduction] [a] hat man auch noch die Ungleichheit einer ungleichen Kürzung hinzugefügt; es kommt nämlich vor, daß der nutzbringende Handwerker nur halb so viel wert ist wie ein Einwohner ohne Stand, wie sein Geselle oder sein Lehrling, nur weil letztere zur Stadtversammlung gehörten, bei der von hundert auf zwei gekürzt wurde, und nicht nur Zunftversammlung, bei der man von hundert auf eins gekürzt hat. Schließlich (in den vereinigten Bailliagen) fand eine Kürzung der Kürzung statt, so daß die Abgeordneten einer so großen Auftraggeberschaft erst in die gegenwärtige Versammlung gelangt sind, nachdem ihre Zahl dreimal gekürzt worden ist; andere sind nur einmal gekürzt worden, während die Adeligen und Geistlichen persönlich in ihre Kammer gekommen sind und jeder einzeln ebenso viele politische Rechte ausüben kann wie mehrere hundert Angehörige des Dritten Standes zusammen. 4. Die politischen Rechte gehören nicht irgendeiner Zunft, sondern sind mit der Eigenschaft des Staatsbürgers verbunden; es widerspricht also den Grundgesetzen der Repräsentation, daß man die ursprünglichen Auftraggeber der Städte nach Zünften versammelt hat, ohne zu bedenken, daß es bei diesem Verfahren oft vorkommen könnte, daß eine Zunft von zwei oder drei Personen dieselbe Zahl von Abgeordneten erhielte wie eine andere Zunft von hundert Personen. Die Einwohner der einigermaßen bevölkerten Städte hätten sich besser ohne Unterschied von Beruf, Rang, Stand usw. nach Stadtvierteln versammeln sollen. Für alles, was mit Repräsentation zu tun hat, ist die räumliche Einteilung die einzig angebrachte, und zwar deswegen, weil die Notwendigkeit, sich vertreten zu lassen, nicht von der Verschiedenheit der Berufe, sondern von den Entfernungen und der zu großen Zahl der Bürger herrührt. Wir fügen hinzu, daß die Abgeordneten der Stadtviertel sich keineswegs mit der Stadtversammlung vereinigen dürfen, so daß sie zu den Bailliagen nur mittelbar abordnen könnten; sie sind vielmehr genauso zu behandeln wie die Dörfer, die unmittelbar abordnen. [ a ] Vgl. denselben Ausdruck in Art. 34 des Reglements. [Anm. d. Ubers.]
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5. Die politischen Rechte gehören nicht zum Eigentum, sondern zur Person; da auch der Eigentümer mit Besitzungen in verschiedenen Bailliagen nur eine Einzelperson ist, darf er seinem Recht auf Einfluß in einem Bailliage nicht noch das andre hinzufügen, sich in einem andren Bailliage von einem Bevollmächtigten vertreten zu lassen. Jedet Bürger, ob reich oder arm, übt seine politischen Rechte einzig und allein da aus, wo er ist; es ist erstaunlich, daß man auch heute noch versucht, den alten politischen und bürgerlichen Privilegien neue hinzuzufügen! Das ist eine offenkundige Ungerechtigkeit. 6. Ferner ist das System der besonderen Vollmachten falsch und verderblich. Setzt doch der politische Begriff der Repräsentation nicht einen einzelnen abwesenden Repräsentierten, sondern eine Menge von auftraggebenden Bürgern voraus, die ihre große Zahl oder ihre Entfernung daran hindert, am Versammlungsort zu erscheinen. Ohne diese beiden Gründe gäbe es keine Stellvertretungen; die Bürger würden vielmehr selber erscheinen; wenn man jedoch das Recht hat, selber zu erscheinen, so muß jedermann dasselbe Recht haben; daraus folgt, daß derjenige, der erscheint, für sich und nicht für einen andern auftritt. Dies System brächte übrigens die Gefahr einer Ungleichheit der Einwirkungsmöglichkeit in ein und derselben Versammlung mit sich; eine Ungleichheit, die den Grundgesetzen einer Beratungskörperschaft völlig widerspricht. Aus all diesen und vielen anderen Überlegungen, deren Darlegung zu viel Zeit in Anspruch nähme, muß die Versammlung wohl oder übel erkennen, daß ihrem Zustandekommen wesentliche Mängel anhaften; sie berücksichtigt jedoch, daß die Generalstände drängen und die Not der Nation keinerlei Aufschub duldet; und da ihr folglich die Zeit fehlt, ihre 'Auftraggeber über alles, was ihr mangelt, zu befragen, glaubt sie sich aufgrund der Umstände verpflichtet, keine Rücksicht darauf zu nehmen und sich damit zu begnügen, den bevorstehenden Generalständen die bereits gefaßten Beschlüsse vorzulegen in der Hoffnung, daß die Frankreich gegebene Verfassung alle Primärversammlungen von den Gemeindeversammlungen an umfassen wird.
Fünfte Beratung Uber die NichtVereinigung der Stände Beschluß, daß es ohne Zweifel den guten Grundsätzen entspricht, daß die Abordnung der Gesamtheit ohne Standesunterschied von der Allgemeinheit der Wähler gewählt wird; wenn nämlich nicht jeder Repräsentant seinen Auftrag von allen erhält, kann man nicht sagen, jeder Abgeordnete sei ohne Ansehen des Standes der Stellvertreter aller. Der Dritte Stand kann jedoch keiner Vereinigung zustimmen, die äußerer Schein
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bleibt, solange man nicht beginnt, die ungerechten Ungleichheiten abzuschaffen, die Privilegierte und Nichtprivilegierte trennen. Eine von allen Freunden der Nation gewünschte Vereinigung oder Verbindung der Stände, die diesen Namen verdient, kann nur nach folgenden Grundsätzen verwirklicht werden: 1. Daß zuvor alle Privilegien, die die Stände trennen, aufgehoben werden; es ist ein Widersinn, daß sich das Gesetz — das Werk des gemeinschaftlichen Willens, das zum gemeinschaftlichen Schutz geschaffene Werkzeug — in ein Werkzeug der persönlichen Gunst verkehrt, das den einen auf Kosten der anderen Vorteile verschafft. Der wahre Gesetzgeber wird sicher nicht vergessen, daß er keineswegs den Auftrag hat, künstliche Ungleichheit zwischen den Bürgern zu erzeugen, sondern im Gegenteil den schlechten Folgen der natürlichen Ungleichheiten zu wehren, daß er keineswegs die Schwachen schwächen und die Starken stärken soll, sondern vielmehr der Schwachheit vor einer Beherrschung durch die Gewalt Sicherheit geben und jedem Bürger die Freiheit gewährleisten muß, über seine Person und sein Eigentum nach Belieben zu verfügen. 2. Da die Privilegien in politischen Rechten nicht minder ungerecht und hassenswert sind als in bürgerlichen Rechten, kann der Dritte Stand unmöglich gemeinsam mit Bürgern stimmen, deren Einfluß auf das Zustandekommen der Gesetze weiterhin viel unmittelbarer und unendlich viel größer sein würde als sein eigener; keinesfalls darf er durch unbedachtes Verhalten das ungeheuerliche Mißverhältnis anerkennen und bestätigen, das sich in dieser Hinsicht in unglücklichen Zeiten zwischen dem Edelmann und dem Mann vom Stand der gewöhnlichen Leute"" eingeschlichen hat. Nie darf der Dritte Stand zugeben, daß die Minderheit jemals die Rechte der Mehrheit in Besitz nimmt und daß das gemeinschaftliche Gesetz gegen das Gemeininteresse zugunsten des Eigeninteresses verfälscht wird. Zu Unrecht wird der Dritte Stand ein Stand genannt; er ist die Nation und hat überhaupt kein Gruppeninteresse zu verteidigen; sein einziger Gegenstand ist das Nationalinteresse. Nichts täte der Dritte Stand oder vielmehr die Nation lieber, als aus allen Bürgern ein einziges gesellschaftliches Ganzes [Corps social] zu bilden 1 ; 1 Ich vermute, daß man Adel und Geistlichkeit dazu bewegen kann, sich zusammenzutun, um für die Generalstände den Zusammenschluß aller Privilegierten zu einem einzigen Stand vorzubereiten. Diese Absicht entspricht völlig den Grundsätzen des Ministeriums, widerspricht aber der guten Politik. Zunächst weiß man, daß die Gesellschaft niemals in guter Verfassung ist, solange man an der Trennung der Stände festhält. Und es scheint doch wohl so, daß man die Notwendigkeit der Vereinigung zu einem einzigen Stand eher spürt, wenn man die drei Stände getrennt hält, als wenn man zwei aus ihnen macht. Drei Stände sind ein Hindernis; doch schon i h r e Abschaffung ist eine ungewisse Frage; hättet ihr nur zwei Stände, so wäre ihre Abschaffung unerreichbar; es müßte zehn bis zwölf von ihnen geben. Zweitens sieht man doch deutlich, daß der Regierungsanhang [parti Ministeriel], wenn es zwei Kammern von Repräsentanten gibt, sich ohne Schwierigkeit zum dritten Teil der gesetzgebenden Versammlung aufwerfen wird, sei es auch nur, um die Zahl drei wieder vollzumachen oder um nachzuahmen, was man anderswo tut. Wenn die drei
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Voraussetzung ist jedoch, daß das Gesetz aufgeklärter und gerechter wird und allen Gliedern der Gesellschaft dieselben bürgerlichen und politischen Rechte gewährt.
Sechste Beratung Über die besonderen Privilegien einiger Mitglieder des Dritten Standes Beschluß, daß man keinen Privilegierten, obwohl er dem Dritten Stande angehört, wählen darf, wenn er nicht sofort auf jedes Privileg, das ihn vom Stand der gewöhnlichen Leute* unterscheiden würde, solange verzichtet, bis die Generalstände diese Privilegien als gemeinschaftliche Rechte der allgemeinen Bürgerschaft zurückerstatten. Die Versammlung ist nicht der Ansicht, daß die Kammer des Dritten Standes bei den Generalständen auf die Mitwirkung von Adel und Geistlichkeit angewiesen ist, um diese große Tat der Gerechtigkeit anzuordnen, die ja nur ihren Stand betrifft; denn man wird wohl schwerlich bestreiten, daß alle Mitglieder des Dritten Standes dieselben politischen und bürgerlichen Rechte haben könnten. Die Versammlung betrachtet das hier geforderte Gesetz als eines der schnellsten und wirksamsten Mittel, um die Stände einander anzunähern und sie durch ein und dasselbe Interesse zu vereinen. Sollte man diesem Antrag bei der ersten Versammlung der Generalstände aus unvorhersehbaren Gründen nicht stattgeben, so gilt das genannte Wahlverbot weiter bis zu dem späteren, aber unvermeidlichen Augenblick der Gerechtigkeit. Bemerkung. Um die Kandidaten für die Abordnung des Bailliage auf dies Verbot festzulegen, soll man in den Berichten feststellen, daß die hierzu von den Abgeordneten verlangte vorausgenommene freiwillige Sitzung im Grunde nur eine ehrenvolle und nicht kostspielige Handlung ist, weil bei den bevorstehenden Generalständen jede Geldbefreiung aufhören muß.
Zweiter Sachbereich Beratungen über den öffentlichen Bedarf Um Ordnung in den Sitzungsbericht zu bringen und den in der Versammlung verhandelten Gegenständen einen ihrer Bedeutung ange-
Stände dagegen bis zu dem glücklichen Augenblick getrennt bleiben, in dem an ihre Stelle sogleich drei Sektionen ein und derselben Nationalabordnung treten, so kann man hoffen, die ausführende Gewalt völlig von der gesetzgebenden Versammlung fernzuhalten; denn es wird nie wirkliche politische Freiheit geben, solange diese beiden Gewalten nicht streng voneinander getrennt sind.
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messenen Platz zu geben, kann man die Materie in mehrere Teile gliedern. A d e l und Geistlichkeit können sie in drei teilen: die Belange des Staates, die Belange des Bailliage, die Belange des Standes. D e r Dritte Stand kann nur die beiden ersten Teile behandeln, denn nur bei ihm decken sich die Bedürfnisse seines Standes mit denen des Staates und der N a t i o n .
Erster Teil Die Belange des Staates V O R B E M E R K U N G . Es wäre töricht zu hoffen, die Generalstände könnten sich bei ihrer ersten Sitzungsperiode* mit allen Erfordernissen der Öffentlichkeit und sämtlichen Einzelanträgen, die die Abgeordneten vorlegen, wirkungsvoll befassen. Tausend ziemlich allgemein einsichtige G r ü n d e beweisen uns heute, daß die Nationalversammlung sich bei ihrer ersten Sitzungsperiode darauf beschränken muß, möglichst wenig zu tun; das heißt, sie muß so weise sein, sich auf die wirklich dringenden Anliegen zu konzentrieren, die man nicht aufschieben kann. Fügen wir diesem Hinweis einer guten Politik weitere hinzu. D e r Dritte Stand, der in diesem Augenblick alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und auf sich ziehen muß, weil recht eigentlich e r Frankreich repräsentiert, weil er die meisten Anträge zu stellen hat und weil ihm an der nationalen Erneuerung am meisten gelegen ist, dieser Dritte Stand hat zwei große Dinge zu vollbringen. 1. Gemeinsam mit den beiden anderen Ständen will er der ausführenden G e w a l t feste Grenzen setzen; denn keine G e w a l t darf willkürlich sein, jede G e w a l t muß Grenzen haben, sonst wird sie zu einem Ungeheuer in der Politik. 2. H a t der Dritte Stand die N a t i o n gegen den Mißbrauch der Regierungsgewalt gesichert, so muß es seine A u f g a b e sein, die N a t i o n gegen die Privilegierten zu verteidigen. Freilich ist der Despotismus der Regierung f ü r das V o l k im Grunde weniger drückend als der Despotismus der Aristokraten*. Wenn ich aber dennoch die Reihenfolge dieser beiden Fragen umkehre, so deswegen, weil der Dritte Stand meiner Meinung nach G e f a h r laufen würde, Frankreich wenigstens f ü r einige Zeit ih eine schreckliche Lage zu stürzen, wenn er nicht den hier vorgezeichneten Weg beschreitet. E r muß sich also zuerst den Erfordernissen des Staats zuwenden, die f ü r alle drei Stände von gemeinsamem Interesse sind; alle zusammen müssen sie damit beginnen, ihren sogenannten gemeinsamen Feind anzu-
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greifen, nämlich die unbeschränkte ausführende Gewalt; sie müssen die persönliche Freiheit sicherstellen, alle Bereiche der Finanzverwaltung an sich ziehen, eine Verfassung schaffen und diese untrennbar mit der Finanzkraft verknüpfen usw. Das sind die Dinge, die ich dringende Erfordernisse nenne; man sieht, daß außer den Einzelheiten der Verfassung in dieser Folge von Schritten nichts enthalten ist, was nicht alle drei Stände mit demselben Eifer erstreben und fördern müßten, und daß wir somit hoffen dürfen, von der ersten Versammlung der Generalstände einigen Nutzen zu haben. Doch wenn sich die Nationalversammlung auch auf die Entscheidung des Wesentlichsten und Dringlichsten beschränkt, so wird sie doch keineswegs die Annahme aller Klagen, aller Anträge usw. verweigern. Sie wird ihre Absicht erklären, diese Anträge in den folgenden Sitzungsperioden alle zur Beratung zuzulassen, jedoch hinzufügen, daß es bei einer solchen Fülle von wichtigen und schwierigen Gegenständen, über die man ohne Rücksicht auf die Zeit Anleitungen und genaue Erkundigungen einholen muß, gerechnet und angemessen scheint, die Bevölkerung auf den drei Repräsentationsebenen zu befragen, nämlich die Gemeinde- oder Primärversammlungen, die Distrikt- oder Sekundärversammlungen und die Provinzial- oder Tertialversammlungen; denn eine völlige Erneuerung muß zur Ergänzung von dem Willen und den Einsichten der Allgemeinheit der Bürger unterstützt und erleuchtet werden. Man wird die zahlreichen Vorteile, die ein solches Vorgehen der Generalstände hat, deutlich genug begreifen, so daß wir auf weitere Ausführungen verzichten können usw. 3. Sie soll sich mit den dringendsten nationalen Erfordernissen in dem eben erklärten Sinn befassen. 4. Die übrigen Anträge von einigem Interesse soll sie zu einer Liste zusammenstellen, um diese an die unteren Repräsentativversammlungen weiterzuleiten und deren örtliche Auskünfte sowie alle nur möglichen Vorschläge einzuholen.
Erster Abschnitt
Über die Freiheit und die Geschäftsordnung [les formes] der Nationalversammlung Es ist eine selbstverständliche Feststellung, daß der Ausdruck Beschluß [arrete] hier nichts weiter besagt als Antrag* oder Empfehlung*. E R S T E B E R A T U N G E N * : über die Wahl des Präsidenten und die Aufforderung an die Generalstände, sich bei der Ausübung der Gesetzgebenden Gewalt der völligen Freiheit zu versichern. Beschluß: da die Gesetzgebende Gewalt wesentlich im nationalen Willen liegt, ist sie durch die Körperschaft der Stellvertreter der Nation auszuüben.
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Beschluß, d a ß die Generalstände ihre Präsidenten ohne Unterschied der Provinzen wählen; um die vollkommenste Gleichheit zwischen ihnen herzustellen, sollen die Präsidenten wöchentlich wechseln und abwechselnd aus jeder Provinz kommen; und wenn der Dritte Stand sich mit den anderen Ständen im selben Saal versammelt, soll der Präsident ohne Unterschied aus allen drei Ständen gewählt werden. Beschluß, daß die Abgeordneten ihre Sitze ohne Unterschied des Standes, der Provinz oder der Abordnung einnehmen sollten [ a ] ; sollten die Generalstände dennoch Unterscheidungen nach Ständen, Provinzen oder Abordnungen machen wollen, so muß man sich wenigstens bemühen, alles zu vermeiden, was irgendeinen Vorrang des einen über den andern vermuten lassen könnte, denn in einer Versammlung von Stellvertretern kann es in gar keiner Beziehung weder Vorrang noch minderen Rang geben. In dieser Hinsicht ist es leicht, die Sitze der Versammlung kreisförmig oder in einem Oval anzuordnen, damit es in der Sitzordnung kein Ende gibt und man keine Provinz, keinen Stand so ansehen kann, als käme er in der Reihenfolge nach einem andern. Was die Rednerfolge betrifft, so brauchte man nur den Sessel des wöchentlichen Präsidenten an die rechte oder linke Seite der Abteilung seiner Provinz zu stellen und die Redner einander von rechts nach links folgen zu lassen; so kann der Reihe nach jede Provinz den ersten Redner stellen, den Eifersüchteleien wird vorgebeugt und die Hindernisse, die dem Nutzen der Generalstände entgegenstehen, werden um eins verringert. Falls die Kammern getrennt bleiben, m u ß der Dritte Stand diese verschiedenen Regeln für sich allein beachten, um die vollkommenste Gleichheit zu genießen. Beschluß, d a ß die Generalstände, um ihrer ersten Versammlung völlige Freiheit zu sichern, nichts besseres tun können, als alle Steuern aufgrund ihrer Gesetzeswidrigkeit aufzuheben und sie sofort vorläufig zu erneuern, doch nur bis zum Ende der Sitzungsperiode, weil sie vor ihrer ersten Auflösung erneut über diesen wichtigen Gegenstand entscheiden wollen. Auf diese Weise sichert sich die Versammlung vor der Gefahr einer unfreiwilligen Auflösung; sie kann sich ohne Furcht allem widmen, was die nationalen Angelegenheiten erfordern, und wird ihre erste Sitzungsperiode' 1 " erst dann mit der Abstimmung über die Steuern beschließen (dies muß immer die letzte H a n d l u n g sein), wenn sie es für richtig hält. Z W E I T E B E R A T U N G : zur Beendigung der Unruhe, zur Festigung des Kredits und zur Gewinnung des Vertrauens der öffentlichen Meinung. Beschluß, d a ß die Staatsschuld in ihrem gegenwärtigen Stand unkünd[a] Dies richtet sich gegen Art. 39 des Reglements. [Anm. d. Ubers.]
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bar wird, daß künftig jede öffentliche Anleihe, die nicht von der Nation veranlaßt oder genehmigt ist, ungültig sein soll, mit welcher Bezeichnung oder äußeren Form man sie auch verschleiern mag, und daß man in der ersten Sitzungsperiode nicht nur für die Zahlung der jährlichen Zinsen, sondern auch für einen Fonds zur allmählichen Rückzahlung sorgen soll. D R I T T E B E R A T U N G : über Permanenz, innere Ordnung und Form der Nationalversammlung usw. Beschluß, daß es für die Gewinnung des Vertrauens der Öffentlichkeit und den Erfolg der großen Vorhaben der Generalstände sehr wichtig wäre, wenn sie gleich zu Beginn grundsätzlich ihre Permanenz beschließen würden; dies Prinzip, das für eine gut eingerichtete gesetzgebende Gewalt so wichtig ist, muß aber wenigstens mit der Verfassung eingeführt werden; eins ist nicht möglich ohne das andere. Beschluß, daß die Abgeordneten der Nation der ausführenden Gewalt für ihre Worte, Schriften oder Maßnahmen im Zusammenhang mit den öffentlichen Angelegenheiten keinerlei Verantwortung schulden; man soll vielmehr in der Versammlung selbst für ein eigenes Ordnungsrecht sorgen, sei es zur Wahrung der guten inneren Ordnung, sei es um jedes Mitglied, das es verdient hat, nach seinem Ausschluß der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu übergeben. Beschluß, daß die aus der Mitte der Generalstände bestellten Ausschüsse von der Versammlung selbst und nicht vom Präsidenten benannt werden und daß alle Abgeordneten Ausschußmitglieder vorschlagen können. Beschluß, daß der Präsident nicht die ausschlaggebende Stimme haben darf, sondern daß die Versammlung das Recht, bei Stimmengleichheit den Ausschlag zu geben, einem oder mehreren Abgeordneten gewähren muß, die sie dazu alle vierzehn Tage in geheimer Wahl bestellt. Beschluß, daß kein Antrag oder Vorschlag sofort beraten wird, wenn ein einziges Mitglied seine Vertagung verlangt; den Zeitpunkt soll die Versammlung festsetzen. Beschluß, daß die zur Vorbereitung der Beratungsgegenstände ernannten Ausschüsse nie etwas eigenmächtig entscheiden dürfen; denn die Bevölkerung hat ihr Vertrauen nicht einigen Abgeordneten, sondern der Körperschaft der Stellvertreter gegeben. Beschluß, daß die der Körperschaft der Stellvertreter anvertraute Gesetzgebungsgewalt unübertragbar ist und daß die Generalversammlung keiner Abordnung, mag sie auch aus Mitgliedern aller drei Stände bestehen, das Recht abtreten darf, irgendetwas in ihrem Namen zu beschließen.
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Empfehlung des Herzogs von Orleans
Zweiter Abschnitt Die dringendsten Erfordernisse der Nation Dies ist der wichtigste Teil des Protokolls. i. Die Erklärung der Rechte: nicht daß eine Urkunde mehr, sei sie auch beschworen und unterzeichnet, ausreichen würde, den Bürgern die freie Verfügung über ihre Sachen und ihre Person zu verbürgen; der Nutzen dieses Dokuments wird vielmehr darin bestehen, jedermann die großen gesellschaftlichen Rechte vor Augen zu stellen, die über die Grenzen hinausschießende Einbildungskraft zu zügeln und jene mächtige Teilnahme zu erzeugen, die man im allgemeinen allem entgegenbringt, was man als sein gerechtes Eigentum kennt. In dieser dreifachen Hinsicht wird die Erklärung der Rechte von großem Wert für die Nation sein. Um zu erläutern, um die Erklärung welcher Rechte es sich handelt, und welche zwei Hauptgründe die verfassungsgebende Gewalt"" zu dieser Erklärung verpflichten, müssen wir weiter ausholen. Erinnern wir uns, daß eine Nation ihren Stellvertretern, die sie zur Ausarbeitung einer Verfassung oder zur Ausübung der gewöhnlichen Gesetzgebungsgewalt bestellt, zur Erfüllung ihrer Aufgabe alle nötige Vollmacht anvertraut, jedoch nicht mehr. Der Nation allein gebührt die ganze Fülle aller Gewalten und aller Rechte, weil die Nation genau dem Einzelnen im Naturzustande entspricht, der ohne Schwierigkeit alles für sich selbst ist. Wie die Natur braucht der Einzelne zu seiner Leitung eine Regierung: beim Einzelnen hat dafür die Natur gesorgt, sie hat ihm einen Willen gegeben, um zu überlegen und sich zu entscheiden, Arme um zu handeln und schließlich Muskeln, um die ausübende Gewalt zu unterstützen. Eine Nation dagegen, die ja nur ein künstlich geschaffener Körper ist, erhält gemeinschaftlichen Willen, Handlungsfähigkeit und Stärke erst durch ihre Mitglieder [Associes], die sich zur Gesellschaft verbunden haben. Man sieht, an Themen für diese dreifache Einrichtung fehlt es nicht; wir haben hier jedoch nur von der Handlungsfähigkeit und von der Stärke der Nation zu handeln. Die Einzelwillen sind die eigentlichen Elemente des gemeinschaftlichen Willens*, und man weiß, wie dieser gemeinschaftliche Wille bei einem großen Volk durch eine Vertretungskörperschaft gebildet werden kann. Der Einzelne braucht nun nicht zu fürchten, daß sein Wille sich gegen sein Interesse kehrt, denn alle Teile seiner Regierung spielen ausgezeichnet zusammen, sofern er nicht verrückt ist. Eine Nation aber ist größeren Gefahren ausgesetzt. Ihre Stellvertreter können, wenn sie mangelhaft bestellt sind, ein Sonderinteresse bilden; und aus diesem wichtigen Grunde hat man kürzlich bewiesen, daß die verfassungsgebende Gewalt und die durch die
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Verfassung gesetzte Gewalt [Pouvoir constitue] getrennt sein müssen. Demgemäß beschränkt sich die verfassungsgebende Versammlung nicht darauf, die gewöhnliche Gesetzgebungskörperschaft einzurichten; nachdem diese gleichsam Beine und Kraft zum Gehen erhalten hat, muß man ihr natürlich auch ihr Ziel angeben und ihr sagen: gehe dorthin und nirgendwo anders. Die Rechteerklärung ist es nun, die ihr dies Ziel setzt; sie beschränkt sich auf die Darlegung der Hauptpunkte, die in den beiden Worten Freiheit und Eigentum enthalten sind. Indem die verfassungsgebende Versammlung die Verfassung mit der — wie wir sie nennen — Erklärung der Rechte verknüpft, verfolgt sie also einen doppelten Zweck, ι. setzt sie der gesetzgebenden Körperschaft das gesellschaftliche Ziel, zu dessen Erreichung sie geschaffen und eingerichtet worden ist; sie verleiht ihr alle Gewalt und alle Kraft, um festen Schrittes auf es zuzugehen, umgibt sie aber zugleich mit solchen Vorsichtsmaßnahmen, daß sie sowohl die Gewalt als auch die Kraft verliert, sobald sie von dem ihr vorgezeichneten Wege abweichen will. 2. Außerdem ist eine Rechteerklärung, wie wir gesagt haben, das wahre Mittel, um die allgemeine Bürgerschaft mit den Grundsätzen zu durchdringen, die für jede rechtmäßige,. das heißt freie menschliche Vereinigung entscheidend sind. Nicht daß die guten Köpfe diese Grundsätze nicht aus der Natur ablesen könnten; da jedoch neun Zehntel der Menschheit in diesem Sinne nicht lesen können, muß man ihnen das Wissensnotwendige genauso beibringen, wie man sie den Katechismus lehrt; andere, und zwar sehr viele, sind fähig, die Wahrheit der guten Grundprinzipien zu erfassen und zu empfinden, doch sie brauchen dabei etwas Hilfe; sie nehmen im Plan der Natur nur das wahr, was deutlich hervorspringt. Es ist also Aufgabe des Gesetzgebers, die wesentlichen Teile herauszustellen, die man nicht aus dem Auge verlieren darf. Für diese beiden Gruppen von Menschen kann man der Arbeit, welche die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte aus dem Naturrecht ableitet, überhaupt nicht genug Feierlichkeit verleihen, um alle Blicke auf sich zu lenken usw. Man sieht, welches verfassungsmäßige Bedürfnis eine Rechteerklärung in unsrer gegenwärtigen Lage ist; wir sind noch weit davon entfernt, uns nur nach den Grundsätzen der wahren Gesellschaftsordnung* zu richten. Auf den bevorstehenden Generalständen wird man die verfassungsgebende Gewalt mit der konstituierten gesetzgebenden Gewalt verquicken; und wir werden diesen Ubergriff wohl dulden müssen, wie wir es sicherlich auch dulden würden, daß unsre Freunde unser Gut den Händen eines Fremden entrissen, obwohl sie von unserer Seite keinen besonderen Auftrag dazu erhalten hätten. Das Wesentliche wird für uns sein, daß die Generalstände einen guten Gebrauch davon machen, daß sie, wenn sie schon das Recht für sich in Anspruch nehmen, uns eine Verfassung zu geben, in dieser auch ein Prinzip der Selbsterneuerung [principe de
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reformation] einbauen, das fähig ist, sich zu entwickeln, immer dem Fortschritt der Aufklärung* zu folgen und die Verfassung auf ihren wahren Ursprung zurückzuführen. Beschluß, daß die Generalstände als erstes der Bevölkerung unter dem Titel Erklärung der Rechte einen Katalog ihrer wesentlichen Rechte vorlegen. Beschluß, daß die nächste Verhandlung der Generalstände der Ausgleichung der Steuern und der Strafen gelten soll. Was die Steuer betrifft, so kann es keine Schwierigkeit geben: der Dritte Stand muß erklären, daß er nie seine Einwilligung zu irgendeiner Steuer oder Auflage gibt, welche die drei Stände nicht gleichmäßig tragen. Hinsichtlich der Strafen soll der Dritte Stand erklären, daß das Gesetz für alle dasselbe sein muß und daher kein Grund besteht, das Strafgesetz davon auszunehmen. Die Strafe muß an die Übertretung des Gesetzes geknüpft sein, nicht aber an Unterschiede der Person; Verpflichtung und Strafe bedingen sich gegenseitig; sie sind für alle gleich. Anmerkung. Es ist übrigens zu bemerken, daß es unmöglich ist, die geheimen Verhaftungsbefehle* [Lettres de Cachet] abzuschaffen und die Freiheit des Einzelnen zu gewährleisten, wenn man nicht zuerst die Gleichheit der Strafen einführt. Ich rate dringend, die Entscheidungen der ersten Versammlung auf diesen Beschluß gegen die persönlich Privilegierten zu beschränken. Alle anderen Anträge dieser Art sollen an die unteren Versammlungen verwiesen werden, um deren Auskünfte und Stellungnahmen usw. einzuholen. 1. Der Gegenstand, dessen Sicherung gewiß am dringendsten ist, ist die persönliche Freiheit. Der Bürger, den man seiner Freiheit beraubt, hat keine Zeit, darauf zu warten, daß ihm die späteren Sitzungen der Generalstände zu Hilfe kommen. Das ist eine Angelegenheit, die sofortige Regelung verlangt. Man muß jede widerrechtliche Anweisung verbieten, alle gesetzmäßigen Anordnungen klären und zuverlässigen Regeln unterwerfen und die Bürger vor den schrecklichen Folgen des blinden und grenzenlosen Gehorsams von Seiten der Militärs.schützen. 2. Die Freiheit der Gedanken, der Rede, der schriftlichen Äußerung, des Drucks und der Veröffentlichung seiner Schriften ist ein wesentlicher Teil der persönlichen Freiheit. Wie in jeder anderen Hinsicht darf das Gesetz auch hier nur das verbieten, was die Rechte des andern beeinträchtigt; es verbietet nicht die Freiheit zu reden und zu schreiben, sondern nur ihren Mißbrauch. Genauso muß es sich verhalten mit der Freiheit zu arbeiten, etwas herzustellen, zu tauschen und zu verbrauchen; all diese Handlungen machen die Freiheit aus, die — wie eben gesagt - nur da ihre Grenzen findet, wo sie beginnen könnte, die Freiheit der andern zu beeinträchtigen. Diese Grenzen bestimmt das Gesetz; genau darin besteht seine
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Aufgabe, nicht aber darin, den einen auf Kosten der andern Privilegien zu bewilligen; denn das Gesetz schützt alles und bewilligt nichts. Beschluß, daß die Generalstände alles, was der vollen persönlichen Freiheit in allen Bereichen entgegensteht, abschaffen und daß sie sich mit dem Gesetz befassen, das die Grenzen dieser Freiheit bestimmen und angeben muß. Beschluß, daß das zum Schutz dieser in Frankreich bisher so mißhandelten Freiheit erlassene Gesetz bei uns das Urteil durch Geschworene einführen soll als das einzige Mittel, die Freiheit gegen die Willkür aller Gewalten zusammen zu verteidigen. 3. Die Verfassung. Man muß darauf achten, ihre Fundamente auf einer unerschütterlichen Grundlage zu errichten. Die Verfassung bezieht sich nur auf die Regierung; diese allein muß konstituiert werden. Die Regierung eines Volkes besteht aus der gesetzgebenden Gewalt, der ausführenden Gewalt und der zwingenden Gewalt [force coercitive]. Von den beiden letzten Bestandteilen soll hier noch nicht die Rede sein. Die gesetzgebende Gewalt zu gründen heißt nichts anderes, als eine gute Repräsentation bilden, indem man sie auf ihrer eigentlichen Basis [base], nämlich der allgemeinen Bürgerschaft"" errichtet und bis zum Nationalsenat [senat national] ausbaut, der das Gebäude krönt und die gesetzgebende Gewalt ausübt. Basis der Repräsentation. Es wäre sehr wichtig, eine neue Gebietseinteilung in überall gleiche Flächen vorzunehmen mit Ausnahme der Grenzgebiete des Königreiches, wo man sich möglichst an die bestehende Einteilung halten würde. Erst durch die völlige Beseitigung der Grenzen der Provinzen wird man es erreichen, alle jene lokalen Privilegien zu zerstören, deren Behauptung nützlich war, solange wir keine Verfassung hatten, die aber von den Provinzen* auch dann weiter verteidigt werden, wenn sie nur noch ein Hindernis der gesellschaftlichen Einheit darstellen. D a die Verfassung eine neue Sache ist, warum sollen wir sie mit aller Gewalt zum Abklatsch der alten Einteilungen machen? Wenn die neue Ordnung der Repräsentation alle Teile Frankreichs gleichförmig umfaßt, so werdet ihr bald sehen, wie sie deren unausgewogene Einteilungen verdrängt, die im Grunde nur von unterschiedlicher Verwaltung herrühren. Die Verwi:iuii allein hat der König niemanden über sich; die Königliche Majestät stellt alles andere in den Schatten, weil sie die Nationale Majestät selbst ist. Damit stellt sich nun die Frage, die uns beschäftigt, in neuer Form; sie spitzt sich nämlich auf die Frage zu, ob, wann und in welchen Fällen das Recht zu verhindern von Nutzen ist, und ob dies Recht, wenn man es für nützlich hält, vom Oberhaupt der Nation durch Abstimmung in der gesetzgebenden Versammlung oder von jedem anderen Teil der Gesetzgebungskörperschaft ausgeübt werden soll. Es ist wohl kaum nötig vorauszuschicken, d a ß das Veto, dessen Nützlichkeit ich untersuche, nicht das Veto sein kann, das man zunächst als absolutes Veto feilgeboten hat und das man heute unter der gemilderten Bezeichnung unbestimmtes oder unbegrenztes Veto leichter an den Mann zu bringen hofft. Ich weiß nicht, welche Vorstellung vom Willen einer Nation man hat, wenn man anscheinend meint, ein willkürlicher Einzelwille könne ihn
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Rede des Abbe Sieyes vom 7. Sept. 1789
z u n i c h t e m a c h e n . E s g e h t hier n u r u m das a u f s c h i e b e n d e V f i o [ a ] ,
Das
a n d e r e v e r d i e n t g a r keine e r n s t h a f t e W i d e r l e g u n g . Ein Nationaldekret,
dessen A u s w i r k u n g e n
Sie f ü r c h t e n
und
dessen
A u f s c h u b bis zu e r n e u t e r P r ü f u n g Sie für g u t h a l t e n , b e t r i f f t e n t w e d e r die Verfassung beiden
oder
es g e h ö r t
Gesichtspunkte,
einfach
unter
zur
denen
Gesetzgebung. wir
die
Dies
Wirkung
sind
des
die Vetos
betrachten wollen. In E n g l a n d h a t m a n zwischen der verfassungsgebenden Gewalt und der
gesetzgebenden
Gewalt
nie
einen
Unterschied
k ö n n t e das b r i t i s c h e P a r l a m e n t , dessen M a ß n a h m e n
gemacht; keine
folglich
Schranken
g e s e t z t sind, d a s k ö n i g l i c h e V o r r e c h t a n g r e i f e n , h ä t t e dies z u r V e r t e i d i g u n g n i c h t das Veto
u n d das R e c h t der P a r l a m e n t s a u f l ö s u n g . I n F r a n k -
reich ist diese G e f a h r u n d e n k b a r . W i r d bei uns d o c h das v e r f a s s u n g s m ä ßige G r u n d p r i n z i p gelten, d a ß die g e w ö h n l i c h e
Gesetzgebungskörper-
s c h a f t keineswegs die v e r f a s s u n g s g e b e n d e u n d e b e n s o w e n i g die a u s f ü h r e n d e G e w a l t ausüben darf. D i e s e T r e n n u n g d e r G e w a l t e n ist in h ö c h stem G r a d e n o t w e n d i g . W e n n uns a u c h g e b i e t e r i s c h e U m s t ä n d e u n d die besondere
Vollmacht
unserer
Auftraggeber
nötigen,
gleichzeitig
oder
u n m i t t e l b a r h i n t e r e i n a n d e r v e r f a s s u n g s - u n d g e s e t z g e b e n d e A u f g a b e n zu erfüllen, so e r k e n n e n wir d o c h wenigstens, d a ß es n a c h dieser S i t z u n g s p e r i o d e keine solche V e r q u i c k u n g m e h r geben d a r f ; die g e w ö h n l i c h e N a t i o n a l v e r s a m m l u n g w i r d lediglich eine g e s e t z g e b e n d e V e r s a m m l u n g sein. E s w i r d ihr u n t e r s a g t sein, j e m a l s i r g e n d e i n e n T e i l der V e r f a s s u n g a n z u t a sten. Sollte es n o t w e n d i g w e r d e n , die V e r f a s s u n g z u revidieren u n d teilweise zu r e f o r m i e r e n , so wird die N a t i o n die Ä n d e r u n g e n , die i h r a n g e b r a c h t erscheinen,· d u r c h einen a u ß e r o r d e n t l i c h e n u n d a u f diese A u f g a b e b e s c h r ä n k t e n Konvent
b e s t i m m e n . So w i r d die V e r f a s s u n g gegen jede
G e w a l t bis zu e i n e m neuen N a t i o n a l k o n v e n t u n v e r ä n d e r t
fortbestehen.
K e i n Teil der öffentlichen G e w a l t b r a u c h t den U b e r g r i f f eines a n d e r e n Teils z u f ü r c h t e n . I n n e r h a l b i h r e r V e r f a s s u n g sind sie alle u n a b h ä n g i g . A u s diesen Feststellungen f o l g t , d a ß d a s in E n g l a n d vielleicht n o t w e n dige k ö n i g l i c h e Veto
in F r a n k r e i c h u n n ü t z u n d fehl a m P l a t z e w ä r e . D e r
K ö n i g h a t gegen die g e s e t z g e b e n d e K ö r p e r s c h a f t g a r nichts zu v e r t e i d i gen, weil es d e r g e s e t z g e b e n d e n K ö r p e r s c h a f t u n m ö g l i c h ist, d a s k ö n i g liche Vorrecht anzutasten. Ich r ä u m e
freilich ein, d a ß keine G e w a l t , w e l c h e es a u c h sei, sich
i m m e r i n n e r h a l b d e r ihr v o n der V e r f a s s u n g v o r g e s c h r i e b e n e n h ä l t u n d d a ß ebenso wie d i e p r i v a t e n
auch
die öffentlichen
Grenzen Körper-
s c h a f t e n a u f h ö r e n k ö n n e n , g e r e c h t g e g e n e i n a n d e r z u sein. D a z u ist meinerseits zu b e m e r k e n , d a ß die G e s c h i c h t e uns lehrt, viel m e h r v o r den A n s c h l ä g e n d e r a u s f ü h r e n d e n G e w a l t a u f die g e s e t z g e b e n d e n K ö r p e r s c h a f t e n auf d e r H u t zu sein als v o r den A n s c h l ä g e n der [a] Dies beschloß die Nationalversammlung am 11. September
1789.
[ Anm. d. Ubers.]
Rede des Abbe Sieyes vom 7. Sept. 1789
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gesetzgebenden Gewalt gegen die Inhaber der Exekutive. Doch wie dem auch sei, sowohl die eine wie die andere Schwierigkeit verlangt Abhilfe; und da die Gefahr alle Gewalten miteinander bedroht, muß die Verteidigung für alle die gleiche sein. Ich sage also folgendes: da es möglich ist, daß die öffentlichen Gewalten trotz sorgfältiger Trennung und trotz gegenseitiger U n a b h ä n gigkeit in Organisation und Rechten sich dennoch wechselseitige Ubergriffe zuschulden kommen lassen, muß man in der Gesellschaftsverfassung [la Constitution Sociale] ein Mittel finden, diesem Mißstand abzuhelfen. Dies Mittel ist ganz einfach. Doch es besteht weder im Aufstand [insurrection] noch in der Einstellung der Steuerzahlungen und auch nicht im königlichen Veto. All diese Mittel sind schlimmer als das Übel selbst; ihr eigentliches Opfer ist immer das Volk, und wir müssen verhindern, daß das Volk zum O p f e r wird. Das Mittel, das uns vorschwebt, besteht vielmehr darin, die außerordentliche Abordnung der verfassungsgebenden Gewalt anzurufen. Dieser Konvent ist in der Tat die einzige Instanz, bei der man solche Klagen vorbringen kann. Dies Verfahren erscheint mir im Grundsätzlichen wie der Angemessenheit nach so einfach und so natürlich, daß ich es für überflüssig halte, weiter beharrlich für dies Mittel einzutreten, das am geeignetsten ist, zu verhindern, daß irgendeine öffentliche Gewalt die Rechte einer anderen beeinträchtigt. Man wird gewiß feststellen, daß wenigstens diese Art von Veto unparteiisch ist; ich mache daraus kein ausschließliches Privileg für die Minister, sondern es steht — wie es sich gehört — allen Teilen der öffentlichen Gewalt* offen. Ich habe soeben bewiesen, daß die Verfassung der ausführenden Gewalt und das königliche Vorrecht von den Beschlüssen der gesetzgebenden Gewalt nichts zu fürchten haben und d a ß bei gegenseitigen Ubergriffen der verschiedenen Gewalten das wahre Mittel gegen diese öffentliche U n o r d n u n g nicht das königliche Veto ist, sondern ein regelrechter Appell an die verfassungsgebende Gewalt, deren Einberufung oder Abordnung der verletzte Teil dann rechtmäßig fordern kann. Gestatten Sie mir den beiläufigen Zusatz, daß diese außerordentliche Einberufung nicht anders als friedlich sein kann in einem Lande, dessen Teile sämtlich einem allgemeinen Repräsentationssystem angeschlossen sind, in dem die Reihenfolge der Abordnungen vernünftig geregelt ist und die Abordnungen der gesetzgebenden Versammlungen häufig stattfinden. Meine Herren, ich habe Ihnen dargelegt, mit welchen Mitteln man alle Teile der Verfassung vor Anschlägen untereinander sichern kann. Im folgenden ist die angebliche Notwendigkeit des Königlichen Vetos in Bezug auf die Gesetzgebung zu untersuchen. Wie sorgfältig ich hier auch in den Beweisführungen derer, die an den Nutzen des Vetos glauben, nach Gründen oder wenigstens Scheingründen suche, so gestehe ich doch, d a ß ich nichts finde.
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Wenn die gesetzgebende Körperschaft sich darauf beschränkt, schützende und leitende Gesetze zu machen, wenn die ausführende Gewalt und das Oberhaupt der Nation sich weder über ihre Rechte, noch über ihre Aufgaben, noch über ihre Vorrechte zu beklagen haben, wenn man sich schließlich damit begnügt, von der ausführenden Gewalt die Ausführung des Nationalwillens im Rahmen der gesetzlichen O r d n u n g zu verlangen — so begreife ich nicht, unter welchem Vorwand man fordern sollte, daß die ausführende Gewalt sich der Ausführung entziehen und dem Gesetz ein aufschiebendes Veto entgegensetzen könnte; genauso könnte man sagen, es sei gut, daß die gesetzgebende Versammlung, wenn die Bevölkerung Gesetze von ihr verlangt, deren Zustandekommen verhindern können solle. Mir scheint, d a ß jede Gewalt sich auf ihre Aufgaben beschränken muß, diese jedoch immer mit Eifer und ohne Verzögerung zu erfüllen hat, wenn diejenigen, denen dies zusteht, es verlangen. Verstößt man gegen diese Grundsätze, so gibt es in keinem Bereich der öffentlichen Gewalt"' mehr gesellschaftliche Zucht. M a n wird nun sagen, daß die Erfahrung der öffentlichen Beamten viele Kenntnisse verschaffe, die von der Gesetzgebung zu Rate zu ziehen seien. Gut, die Gesetzgebungskörperschaft mag alle, die dazu imstande sind, zu Rate ziehen; sobald das Gesetz aber gemacht ist, wird mir niemand weismachen, es entspreche der guten Ordnung, daß diejenigen, die das Gesetz auszuführen haben, ein Veto gegen den Gesetzgeber einlegen könnten unter dem Vorwand, er habe sich vielleicht geirrt. Zunächst kann sich derjenige, dem Sie das Veto zusprechen, genauso irren; und wenn man die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums bei ihm mit der Wahrscheinlichkeit eines Irrtums der gesetzgebenden Versammlung selbst vergleicht, so scheint mir die Entscheidung nicht schwer. Die gesetzgebende Körperschaft ist gewählt, sie ist zahlreich, ihr ist am Guten gelegen, sie steht unter dem Einfluß des Volkes... Der Inhaber der ausführenden Gewalt dagegen hat ein erbliches Amt und ist unabsetzbar; seine Minister verstehen es, Sonderinteressen in ihm zu wecken... Wie kann man sich angesichts so ungleicher Gefahren eigentlich noch immer den Anschein geben, als fürchte man etwaige Irrtümer der gesetzgebenden Versammlung, und zugleich die wahrscheinlichen Irrtümer des Ministeriums so wenig fürchten? Diese Parteilichkeit, das muß man zugeben, ist unnatürlich . . . [sie]. Aber, werden Sie weiter sagen, bei den Verhandlungen der gesetzgebenden Körperschaft seien Überstürzung und Irrtum schließlich nicht unmöglich... Das ist richtig, und obwohl diese Gefahr unendlich geringer ist als selbst bei dem am besten eingerichteten Ministerium, ist es dennoch gut, sich auch dagegen zu sichern, so gut man kann. Sobald man nun das aufschiebende Veto nicht mehr als ein Mittel hinstellt, das bei den Beratungen der Repräsentanten die Wahrscheinlichkeit des Irrtums zum Vorteil der N a t i o n verringert, so widersetze ich
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mich ihm keineswegs, sondern nehme es mit Freuden an; nur muß man mir ein Veto bieten, das diesen Charakter auch wirklich besitzt, und man muß es in diejenigen Hände legen, die es zum größten Vorteil des Volkes handhaben. Wenn es zum Beispiel notwendig ist, ein Gesetz zu machen oder zu reformieren, wie will man mir da beweisen, daß es für das Volk von Nutzen sein könne, die Entscheidung oder Änderung um ein oder zwei Jahre zu verschieben? So etwas ist kein nützlicher Aufschub. Warum dehnt man ihn mehr als nötig aus? Ist es etwa gleichgültig, während diesem langen Zeitraum ein gutes Gesetz zu entbehren und von einem schlechten gequält zu werden? Man behauptet, daß ein und dieselben Personen zur Unzeit an ihren ursprünglichen Vorstellungen festhalten könnten und daß man neue Abgeordnete abwarten müsse. Ich erwidere zunächst, daß man an seinen ursprünglichen Vorstellungen nicht immer zu ungelegener Zeit festhält; und im übrigen gebe ich nicht so leicht meine Überzeugung auf, daß die gesetzgebende Versammlung, sofern sie nur gut eingerichtet ist, viel weniger einem Irrtum unterliegt, wenn sie das Gesetz macht, als das Ministerium, wenn es das Gesetz aufschiebt. Zweitens erwidere ich, daß man die erneute Erörterung nicht in allzu ferne Zeit verschieben können soll, ohne verpflichtet zu sein, dazu eben dieselben Abgeordneten zu befragen. Dies Verfahren, das alle Interessen verbindet, hängt davon ab, daß man nicht zwei oder drei Kammern, sondern zwei oder drei Sektionen ein und derselben Kammer bildet [a]. Meine Herren, erinnern Sie sich an Ihren Beschluß vom 17. Juni; er ist grundlegend, weil Sie von diesem Tage an eine Nationalversammlung sind; Sie haben damals erklärt, daß die Nationalversammlung eins und unteilbar ist. Was jedoch die Einheit und Unteilbarkeit einer Versammlung ausmacht, das ist die Einheit der Entscheidung, nicht die Einheit der Debatte. Es ist klar, daß es mitunter gut ist, dieselbe Frage zwei- und sogar dreimal zu erörtern. Diese dreifache Debatte kann durchaus in drei getrennten Sälen stattfinden, und zwar durch drei Sektionen der Versammlung, bei denen Sie nicht mehr überall aus demselben Grunde Irrtum, Überstürzung oder verführerische Beredsamkeit zu fürchten brauchen. Es genügt, daß die Entscheidung oder der Beschluß nur durch die Mehrheit der Stimmen aller drei Sektionen zustandekommt, genauso, als wären alle Abgeordneten im selben Saal versammelt; das heißt, um mich der üblichen Sprache zu bedienen, daß man nach Köpfen und nicht nach Kammern abstimmt. Wenn man diesem meinem Vorschlag einer dreifachen Debatte entspräche, würde man das Anliegen der meisten, die das aufschiebende Veto fordern, befriedigen — zumindest das Anliegen all derer, die nur [ a ] D a s Einkammerprinzip beschloß die Nationalversammlung am 10. September 1 7 8 9 . [Anm. d. Ubers.]
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die Vorteile des Vetos wollen. Ja, Sie brauchen das Veto überhaupt niemandem mehr zu bewilligen, weil es in der besagten Teilung der Versammlung bereits von selbst enthalten ist; wenn es nämlich eine Sektion für angebracht hält, die Debatte zu verzögern, so haben Sie eben dadurch schon die ganze Wirkung des aufschiebenden Vetos. Wenn aber jede der drei Sektionen über einen bestimmten Punkt einen raschen Entschluß fassen will, so ist das meiner Ansicht nach ein deutlicher Beweis dafür, daß das Gemeininteresse es so verlangt und daß der Gebrauch des aufschiebenden Vetos in diesem Fall schädlich wäre. Der Ihnen unterbreitete höchst einfache Vorschlag enthält also bereits ein aufschiebendes Veto, das genau auf den richtigen Nützlichkeitsgrad berechnet ist, ohne irgendeinen Nachteil mit sich zu bringen. Das also ist es, woran man sich halten muß. Ich sehe in der Tat nicht ein, warum man ein aufschiebendes Veto, wenn es gut und nützlich ist, nicht dort, in der gesetzgebenden Versammlung selbst, ausüben lassen will, wo es nach der Natur der Dinge hingehört. H a t sich doch derjenige, der in der Mechanik erstmals einen Regulator verwandte, sehr wohl gehütet, ihn außerhalb der Maschine anzubringen, deren zu rasche Bewegung er mäßigen wollte. Im übrigen haben wir weiter oben bewiesen und anerkannt, daß das Recht zu verhindern oder aufzuschieben oft nichts anderes ist als das Recht zu machen, daß die Trennung dieser Rechte unsinnig ist und daß man ihre Ausübung auf gar keinen Fall der ausführenden Gewalt anvertrauen darf. Indem wir das Veto also auf ganz natürliche Weise von den verschiedenen Sektionen der gesetzgebenden Versammlung selbst ausüben lassen, nehmen wir dem Oberhaupt der Nation nichts von seinen Rechten. Es besitzt auf das Veto denselben Einfluß wie auf das Gesetz auch; und meiner Vorstellung nach wird immer er als derjenige gelten, der in unserer Mitte das Gesetz verkündet. Diejenigen allerdings, die im Veto etwas anderes als dessen Vorteile und das öffentliche Interesse suchen, die immer Vorlagen außerhalb ihres Gegenstandes nachzuahmen trachten, anstatt die wirklichen Erfordernisse einer Einrichtung aus ihrer Natur selbst abzuleiten — jene allerdings werden in dem von mir vorgeschlagenen natürlichen Veto nicht dasjenige erkennen wollen, das ihnen vorschwebt. Aber wenn wir nun gewiß sind, alles so eingerichtet zu haben, wie das Interesse der Nation und folglich das Interesse des Königs es erfordern, ist es dann erlaubt, weiter zu gehen? Schließlich wird man noch einwenden, daß es trotz aller unserer Vorkehrungen nicht völlig unmöglich sei, daß sich in einen Beschluß der gesetzgebenden Versammlung ein Irrtum einschleiche. Darauf antworte ich zusammenfassend, daß ich es in diesem äußerst seltenen Fall vorziehe, die gesetzgebende Körperschaft ihren Irrtum in den folgenden Sitzungen selbst berichtigen zu lassen, als in die Gesetzgebungsmaschinerie ein
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fremdes Rad einzubauen, das ihre Arbeit willkürlich blockieren kann. Bevor ich zum Schluß komme, noch ein Wort zur Permanenz der Nationalversammlung [a]. Nicht daß ich deren Notwendigkeit beweisen wollte; dies verlangen schon Umstände, Grundsätze und gründliche Überlegungen gebieterisch genug, als daß man befürchten müßte, daß die Meinungen nicht fast einstimmig dafür wären. Ich gestatte mir lediglich die Feststellung, daß meiner Meinung nach jene im Irrtum sind, die zu jeder Sitzungsperiode sämtliche Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung erneuern wollen [b]. Gewiß muß man sorgfältig alles vermeiden, was zur Errichtung einer Aristokratie* führt; wenn aber hinreichende Vorkehrungen getroffen sind, darf uns eine vorgespiegelte Furcht nicht in die unglückliche Lage bringen, Gesetze nur noch in Bruchstücken zu machen; jene Ubereinstimmung der Grundsätze, jenen einheitlichen Geist, die jede gute Gesetzgebung enthalten muß, dürfen nicht unmöglich gemacht werden. Schließlich darf die Erfahrung der einen für die anderen nicht umsonst gewesen sein. Man vergesse doch bitte nicht, daß es sich hier nicht um die Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt handelt (deren Mitglieder allerdings bei jeder Sitzungsperiode völlig erneuert werden müssen), sondern lediglich darum, die Gesetze und Bestimmungen zu beschließen, die zur täglichen Aufrechterhaltung von Freiheit, Eigentum und Sicherheit erforderlich sind, und Einnahme sowie Ausgabe der öffentlichen Gelder zu überwachen. Dann wird man sich auch gewiß davon überzeugen, daß man ohne Gefahr jeweils nur einen Teil der Abgeordneten erneuern kann, und zwar jedes Jahr ein Drittel, so daß immer ein Drittel der Mitglieder eine zweijährige Erfahrung besäße, ein Drittel über die Erfahrungen eines Arbeitsjahres verfügte und schließlich das jährlich von den Provinzen entsandte neue Drittel die gesetzgebende Körperschaft jeweils über die Bedürfnisse und jüngsten Meinungen des Volkes auf dem laufenden hielte. Eine so eingerichtete Körperschaft wird niemals aristokratisch werden, wenn wir zugleich bestimmen, daß ein gewisser Zeitraum verstreichen muß, bevor man wieder wählbar ist. Zum Schluß unterbreite ich der Versammlung den Gesetzesänderungsantrag, den ich bei meiner Stellungnahme angekündigt habe. Ich lege ihn nur deshalb vor, weil ich ihn für eine dringende Notwendigkeit halte. Sollte er nicht unterstützt oder abgelehnt werden, so habe ich wenigstens getan, was ich tür meine Pflicht halte, indem ich darauf hingewiesen habe, welche Gefahr Frankreich droht, wenn man zuläßt, daß sich die [ a ] Dem entsprach dann der Beschluß der Nationalversammlung vom 9. September 1789. [Anm. d. Ubers.] [ b ] D i e s Prinzip beschloß die Nationalversammlung am 14. September 1789. [Anm. d. Ubers.]
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Gemeindebezirke als vollständige und unabhängige Republiken konstituieren. Mein Antrag lautet folgendermaßen: »Man möge noch im Laufe des heutigen Tages einen dreiköpfigen Ausschuß ernennen, der der Versammlung so bald wie möglich einen Gemeindebezirks- und Provinzialplan vorlegen soll, der hoffen läßt, daß das Königreich nicht in eine Menge kleiner Staaten mit republikanischer Staatsform zerfällt, sondern daß Frankreich vielmehr ein einziges Ganzes bildet, das in allen seinen Teilen einer gleichförmigen Gesetzgebung und einer gemeinsamen Verwaltung untersteht.«
Entwurf einer Neuordnung der Justiz- und Polizeiverwaltung in Frankreich
Von Herrn Abbe S I E Y E S
Einige Gedanken machen noch keinen Plan. In Verfassungsdingen ist etwas Ganzes nötig. Wie kann die Staatsmaschine funktionieren, wenn Teile fehlen oder sich schlecht einfügen?
M Ä R Z 1790 PARIS, IMPRIMERIE N A T I O N A L E
[Originaltitel: APPERQU D ' U N E NOUVELLE ORGANISATION D E LA JUSTICE ET D E LA POLICE EN FRANCE. Par Μ. Γ Abbe SIEYES. A PARIS, DE L'IMPRIMERIE NATIONALE. MARS 1790. 62 S. - Anm. d. Übers.]
Vorwort
Dieser Entwurf einer Justizordnung wurde letzten September 1 nach Grundsätzen ausgearbeitet, die sich längst ein jeder zueigen gemacht hatte, der auch nur ein wenig über die Ordnung der Gesellschaft nachdachte. Da dann der zweite Verfassungsausschuß seine Arbeit auf Grundsätzen aufbauen wollte, die mit meinem Entwurf unvereinbar zu sein schienen, habe ich diesen in meinen Schreibtisch zurückgelegt. Daraus hole ich ihn heute widerstrebend nur hervor, weil ich es für meine Pflicht halte, worüber Rechenschaft abzulegen sich erübrigt. Warum, wird man vielleicht fragen, legt man uns nicht zugleich in einer oder mehreren Vorreden den allgemeinen Geist, die Einzelheiten, Erläuterungen usw. dar, die dem Entwurf zugrundeliegen und von denen er nur das Gesamtergebnis ist? Nun darum, weil jene Erörterungen, jene kurzen Uberblicke usw. in ihrer jetzigen Form dem Schriftsteller genügen können, während, um das alles für andere lesbar zu machen, eine Mühe notwendig wäre, der ich damals überhoben zu sein hoffte und die im Augenblick meine Kräfte übersteigt. Ich hoffe aber sehr, daß diese meine Arbeit andern bei der Herstellung eines weniger unvollkommenen Werkes nützlich ist. Nur möge man bitte nicht vergessen, daß hier nur von der Ordnung des Räderwerks der Justiz und nicht von einem allgemeinen Rechtswesen die Rede ist. Man muß die Verfassung immer von der Gesetzgebung und sogar von jenem Teil der Gesetzgebung unterscheiden, der die Aufgaben der öffentlichen Beamten regelt. Der Entwurf einer Polizei- und Justizverfassung enthebt keineswegs von der Ausarbeitung eines Polizei- und Justizgesetzbuches.
1 M i r w a r d a m a l s zusammen mit anderen diese Arbeit a u f g e t r a g e n , weil ich auch dem ersten Verfassungsausschuß angehörte. [Eigentlich handelte es sich — nach d e m ersten Ausschuß von 30 Mitgliedern — bereits u m den zweiten Verfassungsausschuß mit den 8 g e w ä h l t e n Mitgliedern Mounier, T a l l e y r a n d , Sieyes, Clermont Tonnerre, Lally-Tollendal, C h a m p i o n d e Cice, Le Chapelier und Bergasse. Der Ausschuß arbeitete in der zweiten J u l i h ä l f t e . — A n m . d. U b e r s . ]
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Dekretsentwurf
Erster Artikel Am ersten Juni dieses Jahres 1790 wird die alte allgemeine Polizei- und Justizordnung und alles, was damit zusammenhängt, in allen Provinzen des Königreichs zugleich aufgehoben und durch eine neue Ordnung der Justiz und der öffentlichen Sicherheit ersetzt, wie das vorliegende Dekret es bestimmt. 2. Die Leitung der Polizei und die Rechtsprechung werden weiterhin im Namen des Königs ausgeübt.
Titel 1 Über untere Polizei und untere Justiz in den Städten und auf dem
Lande
3·
Jeden ersten Samstag im Dezember bestellt jede Provinzialversammlung für ihren ganzen örtlichen Gerichtsbereich aus ihrer Mitte einen Polizeibeauftragten und einen Justizbeauftragten, die ihr Amt am folgenden ersten J a n u a r antreten. 4-
Diese beiden Unterbeamten können drei Jahre nacheinander gewählt werden; danach ist sowohl f ü r den einen wie für den anderen eine Wiederwahl erst nach frühestens einem J a h r möglich. 5·
Für das laufende J a h r werden der Polizeibeauftragte und der Justizbeauftragte überall am ersten Sonntag im Mai bestellt und treten ihr A m t am ersten Juni an; diese Wahl ersetzt für dieses J a h r diejenige, die gemäß Artikel 3 im Dezember stattfinden soll; die erste Wahl der Polizei- und Justizbeauftragten gilt also für neunzehn Monate, und die zweite Wahl findet erst im Dezember 1791 statt. 6.
Die Polizeibeauftragten haben die Aufgabe, 1) Vergehen und Rechtsstreitigkeiten nach Möglichkeit vorzubeugen; 2) die Urheber der begangenen Vergehen ausfindig zu machen; 3) sie der Rechtsprechung zu übergeben. Diese drei der Rechtsprechung vorausgehenden Tätigkeiten machen die eigentliche oder allgemeine Polizei aus, die man weder mit den Polizeiaufgaben der Verwaltung [Polices administratives] der Gemeinden und anderen Verwaltungskörperschaften noch mit der rein gerichtlichen
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Polizei [Police purement contentieuse] verwechseln darf, die nicht von der Gerichtsbarkeit zu trennen ist. 7· Um diese verschiedenen Arten von Polizei zu beschreiben, ihren Amtsbereich zu bestimmen und abzugrenzen und um die Art und Weise ihrer Tätigkeit festzulegen, ist ein allgemeines Polizeigesetzbuch zu erarbeiten, in dem besonders zur allgemeinen Polizeiverwaltung, von der das vorliegende Dekret nur einen Teil regelt, alle wesentlichen Einzelheiten zu finden sein werden. 8.
Außerdem obliegen den Polizeibeauftragten beim Untergericht ihres Amtsbezirks die Aufgaben der sogenannten Staatsanwaltschaft [Ministere Public], 9Jeder Rechtsstreit, der zu einer gerichtlichen Klage führt, gehört damit nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Polizei; er ist dem Justizbeauftragten zu übergeben, den man auch Friedensrichter [Juge de paix] nennen kann. Im allgemeinen muß jede gerichtliche Klage in allen beliebigen Sachen außer denen, für die das vorliegende Dekret in Titel 4 eine Ausnahme macht, dem Friedensrichter übergeben werden. 10. ' Die Hauptaufgabe der Friedensrichter besteht darin, bei allen ihnen vorgelegten gerichtlichen Klagen für ein schiedsrichterliches Urteil zu sorgen. Weiter haben sie die Aufgabe, sowohl auf Verlangen der Polizeibeauftragten in ihrer Eigenschaft als Staatsanwaltschaft als auch im Auftrag der Obersten Richter erste Erkundigungen oder gerichtliche Untersuchungen vorzunehmen. Das führen die folgenden Artikel näher aus. 11. Die Friedensrichter sollen nicht mit jener Menge nichtrichterlicher Handlungen im Zusammenhang mit Versiegelungen, Vormundschaft usw. usw. überlastet werden, die früher Ortsrichter oder Polizeibeauftragte wahrgenommen haben. Solche Handlungen fallen in den Bereich der Ortsverwaltung, die hierzu bevollmächtigte Beamte einsetzen kann. 12. Ist die dem Friedensrichter vorgelegte Streitigkeit zwischen einem Bürger und einem Polizeibeamten in Ausübung seines Amtes entstanden, soll der Friedensrichter, bevor er sich nach dem Gegenstand der Streitigkeit erkundigt, fragen, ob der Bürger, wer er auch sei, der Polizei vorläufigen Gehorsam geleistet hat. 13· . Hat der Bürger der Polizei den vorläufigen Gehorsam verweigert, wird er ohne weitere Formalitäten und vor der Anhörung zum Gegenstand der Streitigkeit wegen Widerstands gegen die Polizei zu einer Geldstrafe verurteilt.
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14· Die Geldstrafe ist sofort zu bezahlen oder mit einer annehmbaren Kaution abzusichern. Kann der vorläufige Gehorsam noch von Nutzen sein, ist er auch danach noch von dem Bürger zu verlangen. M· H a t der Friedensrichter alle obengenannten Bedingungen erfüllt oder erfüllen lassen, so hört er die Parteien zur Streitsache an und trifft seine Entscheidung. 16. Streitigkeiten, die ohne Beteiligung der Polizei vor den Friedensrichter kommen, bei denen diese Beteiligung auf keinen Widerstand gestoßen ist, oder bei denen dieser Widerstand auf die angegebene Weise gebüßt worden ist, werden wie folgt entschieden. 17Bei Streitigkeiten oder Übertretungen von Polizeivorschriften in leichten Fällen fragt der Friedensrichter die Parteien, ob sie sein Urteil anerkennen wollen. Ist die Antwort zustimmend, spricht er das Urteil aus, gegen das es keine Berufung gibt. 18.
Wenn die Parteien oder eine von ihnen nicht vorher einwilligen, das Urteil des Friedensrichters anzuerkennen, wird die Streitigkeit nach dem folgenden Artikel behandelt. 19· Wenn die gerichtliche Klage vor dem Friedensrichter anhängig ist, soll dieser jede der beiden Parteien auffordern, den Namen eines Schiedsrichters ihrer Wahl zu nennen. Auf ihre Antwort hin läßt er die zwei Schiedsrichter in kurzer Zeit rufen. 20.
Diese beiden Schiedsrichter müssen Mitglieder der Primärversammlung sein, und wenn die Verfassung eines Tages für die Verwaltung Wählbarkeitslisten eingeführt hat, so müssen die Schiedsrichter zu den auf diesen Listen verzeichneten Bürgern gehören. 21. Wollen beide Parteien übereinstimmend auf Schiedsrichter verzichten, können sie vom Richter ein Urteil verlangen, sofern sie versprechen, seine Entscheidung anzuerkennen. In diesem Fall hat der Spruch des Friedensrichters dieselbe Kraft, wie wenn man Schiedsrichter herangezogen hätte. 22.
Die befragten Schiedsrichter sagen ihre Meinung gemäß dem Gesetz nach ihrer Uberzeugung und ihrem Gewissen. Stimmen sie überein, entscheidet der Richter wie sie; andernfalls wägt er beide Meinungen gegeneinander ab und entscheidet gemäß dem Gesetz nach seiner Uberzeugung und seinem Gewissen.
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2}-
Man teilt die Sachen, die vor den Richter gehören, in zwei Gruppen ein: die summarischen und die Instanzen- oder Berufungssachen. Die zur deutlichen Unterscheidung dieser zwei Arten von Streitigkeiten erforderlichen Bestimmungen regelt ein besonderes Gesetz. 24· Die summarischen Sachen werden durch Schiedsspruch oder durch das gleichwertige Urteil des Friedensrichters abschließend entschieden. Die Instanzensachen können durch Berufung den Richtern des Departements vorgelegt werden, wie es Titel 11 des vorliegenden Dekrets bestimmt. In den Gemeinden mit zwei bis zehn Primärversammlungen bilden die Polizeibeauftragten zusammen das Polizeibüro, um die Vorteile eines gemeinsamen Mittelpunktes zu nützen und so wirksamer über die öffentliche Sicherheit und Ruhe zu wachen. Sie können sogar jährlich einen Vorsitzenden des Büros bestellen, der den Titel Erster Polizeibeauftragten trägt. 26. Was Paris betrifft, so erfordern seine unermeßliche Bevölkerung, der große Zugang von Fremden und die Fülle der Geschäfte besondere Gesetze zur Ordnung der Polizei. Diese Gesetze können entsprechend auf alle Städte übertragen werden, die mehr als zehn Primärversammlungen aufbringen. Sie sind Teil des oben in Artikel 7 angekündigten Allgemeinen Polizeigesetzbuches. z
7In den Gemeinden mit mehreren Primärversammlungen unterhalten die Justizbeauftragten oder Friedensrichter ebenfalls einen gemeinsamen Mittelpunkt in Form eines Justizbüros, das sie selbst frei einrichten und dessen jährlicher Präsident den Titel Erster Friedensrichter tragen kann. 28. Diesem Gericht sollen sie mindestens einmal pro Woche über alle ausgesprochenen Entscheidungen Rechenschaft geben. Die Rechenschaftspflicht hat den Zweck, die Einheitlichkeit der unteren Rechtsprechung zu wahren. Das Büro kann bei seinen Mitgliedern sogar eine Art Zensur üben, die aber keine Wirkung nach außen hat. Die Berufung, von der oben in Artikel 24 die Rede war, kann nicht bei den Justizbüros eingelegt werden. Die ihnen zu erteilenden richterlichen Aufgaben werden in Titel iv des vorliegenden Dekrets erläutert. 30. Die untere Justiz und Polizei, wie sie hiermit für Stadt und Land eingeführt wird, ist kostenlos. Die Rechtsprechung bei Berufungen und die obere Polizei allerdings sind nicht völlig kostenlos. Dazu gibt Titel 11 sichere Richtlinien.
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31· Die Bezüge oder Gebühren der unteren Richter und Polizeibeamten gehen zu Lasten des Distrikts. Sie werden alle zehn Jahre von der Verwaltungsversammlung beschlossen und vom Direktorium jährlich aus der besonderen Kasse des Distrikts ausgezahlt. Titel π Uber Polizei und Justiz in den Departements und Distrikten 32· Die nächsten gesetzgebenden Versammlungen werden die Aufgabe haben, den Franzosen ein neues einheitliches Gesetzbuch und eine neue Verfahrensordnung zu geben, die beide so einfach wie möglich gehalten sein sollen. Erst dann kann das Gerichtswesen so ausgebaut sein, daß pro Departement ein oder zwei Richter genügen, um die Berufungssachen im ganzen Königreich zu entscheiden. Bis dahin werden Berufungssachen nach vorheriger Prüfung und Entscheidung durch die Untergerichte, die letztlich nur ein Schiedsurteil sprechen, auf Antrag oder Berufung einer der Parteien förmlich und abschließend so entschieden, wie es die folgenden Artikel bestimmen. 33In jedem Hauptort eines Departements wird ein aus zwölf Richtern bestehendes Gericht gegründet. 34· Die Wahlkörperschaft des Departements wählt diese zwölf Richter in der Weise, daß jeder Distrikt mindestens einen Richter stellt. 3 5· Ihre Ernennung erfolgt Anfang Mai dieses Jahres, so daß sie ihr Amt am ersten Juni antreten können. 36. Dieses erste Mal soll man sie aus den Reihen der alten Richter, Anwälte, Praktiker und Gelehrten nehmen, die wegen ihrer Kenntnisse am meisten zu empfehlen sind; in Zukunft aber sind nur die Justiz- und Polizeibeauftragten des Departements wählbar. 37· Die Absetzung dieser Richter von ihrem Amt ist nur möglich aufgrund einer gerichtlich festgestellten Amts- oder Pflichtverletzung sowie durch eine geheime Prüfungswahl. 38. Die Prüfungswahl wird jährlich einmal von der Wahlkörperschaft des Departements folgendermaßen durchgeführt: 39· Jeder Wähler gibt bei der Abstimmung seinen Zettel ab; wünscht er bei
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den Richtern keine Änderung, läßt er den Zettel weiß, sonst schreibt er darauf den Namen desjenigen der zwölf Richter, dessen Absetzung ihm am nutzbringendsten scheint. 40· Ergibt die Abstimmung gegen keinen der Richter eine deutliche Mehrheit, findet keine Amtsentsetzung statt. 41· Spricht sich die Mehrheit gegen einen der Richter aus, wird er allein aufgrund dieser Tatsache abgesetzt, und die Wahlkörperschaft bestellt einen Nachfolger. 42· In jedem anderen Fall werden freie Stellen bei den zwölf Richtern von der nächsten Wahlversammlung neu besetzt. Bevor die Wahlversammlung jedoch bei einer vakanten Stelle zur Neubesetzung schreitet, soll sie die Verwaltungskörperschaft des Departements fragen, ob eine Verringerung der Richterzahl ohne Schaden für die Rechtsprechung möglich ist. Ist die Antwort bejahend, wird die freie Stelle nicht besetzt, so daß es mit der Zeit statt drei Kammern nur noch drei Richter gibt. 43·
Die zwölf Richter des Departementsgerichts gliedern sich selbst in drei Kammern zu je vier Mitgliedern. Diese Aufteilung wird jedes Jahr durch Ubereinkunft oder Los erneuert. 44·
Jede Kammer bestellt aus ihrer Mitte einen Präsidenten. Diese Wahl findet jedes Jahr statt. 45·
Die erste der drei Kammern entscheidet Strafsachen; die beiden anderen sind für Zivilsachen zuständig. 46. Die beiden Zivilkammern haben keine verschiedenen Sachgebiete; sie werden ohne Unterschied in allen Zivilfällen tätig, unter der einen Bedingung, daß die Parteien entweder in gütlicher Einigung eine Wahl treffen oder daß das Los entscheidet, wenn die Parteien sich nicht einigen, welche Kammer die Sache übernehmen soll. 47·
Alle Mitglieder jeder Kammer außer dem Präsidenten müssen reihum jährlich eine Reise durch das Departement unternehmen, um in allen Hauptorten des Distrikts und in allen anderen wichtigen Städten Gerichtstage [assises] der Kammer, die sie entsendet, abzuhalten. 48. Die Reisen sollen in den drei Jahreszeiten beginnen, in denen die Feldarbeit am wenigsten drängt. Je nach Erfordernis .der Dinge dauern sie kürzer oder länger.
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49·
Die drei Richter sollen von den drei Kammern gleichzeitig entsandt werden und ihre Reise zur gleichen Zeit beginnen; sie sind jedoch nicht zum selben Reiseweg verpflichtet und brauchen nicht aufeinander zu warten, wenn ihre Gerichtstage in derselben Stadt zusammentreffen; sobald er fertig ist, setzt jeder Richter seine Reise fort. 5°.
Strafprozesse in der Zuständigkeit dieser' Gerichtstage entscheidet der abgeordnete Richter der Strafkammer; die Zivilprozesse entscheidet je nach Wahl der Parteien oder nach Los einer der beiden abgeordneten Richter der Zivilkammern. 5I· Kein Richter darf auf seiner Reise eine Sitzungsstadt verlassen, ohne einen Gerichtstag eröffnet zu haben. Befinden sich die beiden Zivilrichter zur selben Zeit in einer Stadt, halten sie nach dem Muster der Kammern, die sie vertreten, getrennte Sitzungen ab. 52'
Die drei Departementskammern bleiben während dieser Zeit weiterhin tätig; nach Abschluß jeder Reise nehmen sie den zusammenfassenden Bericht ihres abgeordneten Richters entgegen; die Gerichtskanzlei bewahrt diesen Bericht auf. 53·
Bei Berufungen gegen Urteile der unteren Instanz sind zwei Gruppen zu unterscheiden: Sachen, die an die Gerichtstage verwiesen werden, und Sachen, für die die Departementskammern zuständig sind. Das neue Urteil ist in beiden Fällen gleichermaßen endgültig. 54·
Die Unterscheidung zwischen Gerichtstag- und /uzmmersachen richtet sich sowohl nach der Wichtigkeit der Personen und der Streitsache wie nach dem Schwierigkeitsgrad der Rechtsfragen und des Verfahrens. Man wird an die Gerichtstage alle jene Sachen verweisen, die ein schnelles und kurzes Verfahren zulassen und nicht so wichtig sind, daß ein gefährlicher Einfluß auf zahlreiche Leidenschaften zu befürchten ist. Diejenigen Sachen dagegen, die ein großes förmliches Gerichtsverfahren erfordern oder von großer Wichtigkeit sind, werden an eine der Departementskammern verwiesen. Um von Anfang an zu wissen, was Gerichtstagsund Kammersachen sind, soll eine Durchführungsbestimmung die Einzelheiten regeln. 55·
Gewinnt jedoch eine Gerichts tagsszche im Laufe des Verfahrens den Charakter einer Kammersiche, kann der Sitzungsrichter sie im Einvernehmen der beiden Parteien oder auf Antrag einer Partei an eine der Departementskammern verweisen.
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56. Einigen sich die Parteien von vornherein, eine Sache, für die der Sitzungsrichter zuständig wäre, vor die Kammer zu bringen, stellt der Friedensrichter den Berufungsschein für die Kammer statt für den Gerichtstag aus. 57· Stellen die Parteien übereinstimmend den Antrag, ihre Sache dem Gericht eines anderen Departements zu übergeben, stellt ihnen die Kanzlei der Kammer, die sonst ihren Fall hätte entscheiden oder entscheiden lassen müssen, einen Vorladungsschein für dieses andere Gericht aus. , 5 . 8 · Die Partei, die gegen die Entscheidung des Friedensrichters bei dem Gerichtstag oder bei der Kammer Berufung einlegen will, hat den in den folgenden Artikeln vorgeschriebenen Weg einzuhalten: 59· Zunächst teilt sie ihre Absicht sowohl dem Friedensrichter als auch der Gegenpartei mit, und zwar nach Ablauf von acht Tagen vom Tage des Urteils an und innerhalb eines Monats. Diese beiden Fristen sind streng zu beachten. Die Partei, die vor Ablauf von acht Tagen oder erst nach einem Monat Berufung einlegt, verliert in dieser Sache das Berufungsrecht; das Urteil des Friedensrichters erhält Rechtskraft. 60.
N u r in Fällen, in denen ein Aufschub der Berufung um acht Tage die Sache oder die Beweisaufnahme gefährden würde, kann der Friedensrichter von der Achttagesfrist befreien und eine unverzügliche Berufung zulassen. 61.
H a t der Friedensrichter eine Berufungsmitteilung erhalten, lädt er beide Parteien vor und teilt ihnen mit, ob ihre Sache dem Gerichtstag oder der Kammer zuzuweisen ist. 62.
Ist diejenige Partei, die Berufung einlegt, das Staatsministerium oder ist sie eines Vergehens angeklagt, auf das Körperstrafen stehen, stellt der Richter den Berufungsschein sofort und ohne weitere Bedingung aus. 6
3·. In allen anderen Fällen stellt der Friedensrichter den Berufungsschein erst aus, nachdem er vom Berufungskläger eine angemessene Kaution gefordert und erhalten hat, und zwar als Gewähr für die vorläufige Hinterlegung, die vor dem Urteil erfolgen muß, wie es die folgenden Artikel bestimmen. 64· Innerhalb von acht Tagen benachrichtigt der Richter die Kanzlei des Gerichtstages oder der Kammer von dem ausgestellten Schein und der
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vom Berufungskläger hinterlegten Kaution. Wenn die Parteien ihre Sache, die in die Zuständigkeit des Gerichtstags fiele, übereinstimmend einer Kammer übertragen oder wenn sie gemäß Artikel 56 und J7 einen Vorladungsschein für die Kammer eines anderen Departements erhalten, wird die Kaution an die Kammer überwiesen, die sich mit der Sache befassen muß. 66. Der Berufungskläger muß seinen Berufungsschein innerhalb von vierzehn Tagen bei der Kanzlei des Gerichtstages oder des Departementsgerichts vorlegen oder vorlegen lassen; außerdem soll er bei der Kanzlei eine Festsetzung der vorläufigen Hinterlegung und die Bestimmung des Termins beantragen, zu dem seine Sache an die Reihe kommt. 67.
Die festgesetzte Höhe der vorläufigen Hinterlegung und der bestimmte Verhandlungstermin werden der Gegenpartei innerhalb von acht Tagen mitgeteilt. 68. Da die vorläufige Hinterlegung statt einer Besoldung den Zeitaufwand der Richter und der Kanzlei vergüten soll, bestimmt die Kanzlei ihre Höhe aufgrund von genehmigten Bestimmungen, die die Art des Prozesses und den zu seiner Entscheidung vermutlich notwendigen Zeitaufwand berücksichtigen. 69.
Vor der Verhandlung einer Sache kann die Kanzlei verlangen, daß die Kaution für die vorläufige Hinterlegung in bares Geld gewechselt wird. 7°· Während des Prozesses darf die vorläufige Hinterlegung nicht erhöht werden; der Betrag bleibt unverändert. Wie groß der Arbeitsaufwand der Richter und der Kanzlei auch sein mag, von Seiten der Parteien haben sie nichts weiter zu beanspruchen. 71· Gewinnt der Berufungskläger den Prozeß, tritt die Gegenpartei für die vorläufige Hinterlegung sowie für alle Gerichtskosten ein, die zu Lasten des Unterlegenen gehen. 72
·
Falls der Berufungskläger nach Abgabe der vorläufigen Hinterlegung und vor Beginn der Verhandlung seine Berufung zurücknimmt, erhält er die Hinterlegung zurück. Nimmt er die Berufung erst nach Beginn der Verhandlung, aber vor der Urteilsverkündung zurück, verliert er nur einen Teil seiner Hinterlegung, entsprechend dem bereits erbrachten Arbeitsaufwand. 73· Am Hauptort jedes Departements wird eine Oberste Kammer der allge-
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meinen Polizei errichtet; sie setzt sich zusammen aus drei Mitgliedern des Departementsdirektoriums, die das Direktorium selbst wählt, sowie aus dem Präsidenten der Strafkammer. _ 74·
Die drei Mitglieder des Direktoriums und der Obersten Polizeikammer sollen außerdem bei den drei Kammern des Departementsgerichts die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrnehmen. 75·
Am Hauptort jedes Distrikts wird eine Kammer der allgemeinen Polizei errichtet; sie setzt sich zusammen aus zwei Mitgliedern des Distriktdirektoriums, die dieses selbst wählt, sowie dem Generalkommandeur der Nationalmiliz des Distrikts. 76. Die beiden Mitglieder des Direktoriums in der Polizeikammer sollen außerdem bei den gerichtlichen Sitzungen die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrnehmen. 77·
Die von den Primärversammlungen bestellten Polizeibeauftragten führen einen genauen Schriftwechsel mit der Polizeikammer des Distrikts und führen deren offizielle Aufträge aus. 78. Die Polizeikammer des Distrikts führt Schriftwechsel mit der Obersten Kammer des Departements und untersteht dieser in allen Fällen, die das oben genannte Allgemeine Polizeigesetzbuch bestimmt. 79·
Jedes Departementsgericht erhält eine Kanzlei, die zugleich die Kanzleiarbeiten bei den Gerichtstagen und Polizeikammern übernimmt. Jede Primärversammlung bestellt für das Untergericht und die Polizei ihres Zuständigkeitsbereichs einen Schreiber, der seine Stelle solange behält, wie er nicht abgesetzt wird. Die Schreiber des Departements unterstehen dem Gericht oder der Kammer, bei der sie Dienst tun. 80.
Das feste Gehalt oder Honorar der Richter des Departements geht zu Lasten des Departements. Es wird alle 10 Jahre von der Verwaltungsversammlung beschlossen und vom Direktorium aus der Departementskasse bezahlt. Titel in Über die Geschworenengerichte
[Jurys] 81.
Jede Berufungssache in Zivil- wie in Strafsachen, die dem Gerichtstag oder den Kammern eines Departementsgerichts übertragen wird, kann
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nur durch Vermittlung eines Geschworenengerichts
entschieden werden.
82.
Nur der Bürger kann in ein Geschworenengericht berufen werden, der auf einer für solche Zwecke geführten Liste der wählbaren Bürger eingetragen ist. 8
3·
Man kann diese wählbaren Bürger durch den Titel Justizrat auszeichnen. Die Wahlkörperschaft jedes Departements, die sich kommenden Mai versammelt, soll jene Liste aufstellen. 84.
Danach sollen die Wahlkörperschaften Sorge tragen, diese Liste einmal im Jahr nach den Erfordernissen ihres Bereichs und in Ubereinstimmung mit der öffentlichen Meinung zu erweitern oder zu beschränken. Die wählbaren Bürger oder Justizräte werden aus dem Kreise der Aktivbürger [a] aller Primärversammlungen des Departements in solcher Anzahl gewählt, daß sie für alle Teile des Geschäftsbereichs, vor allem aber an allen Hauptorten des Distrikts und des Departements gut ausreichen. 86.
Für jetzt und solange, bis Frankreich nicht mehr von verschiedenen Gewohnheitsrechten zersplittert wird und bis ein vollständiges und einfaches neues Gesetzbuch für das ganze Königreich erlassen ist, erfaßt die Liste der für die Geschworenengerichte wählbaren Bürger alle diejenigen, die man heute unter der Bezeichnung Juristen [Gens de Loi] versteht und die in dieser Eigenschaft tätig sind. .
®7·
Die Bestimmung des vorigen Artikels über die Juristen darf jedoch nicht hindern, daß man in die Liste noch für dieses Jahr auch andere Bürger aufnimmt, die den Wählern aufgrund ihrer Weisheit und Aufgeklärtheit geeignet erscheinen, die Aufgaben eines Justizrats wahrzunehmen. 88.
Werden die gemäß Artikel 86 in die Liste eingetragenen Juristen in ein Geschworenengericht berufen, erhalten sie für ihren Arbeitsaufwand auf Kosten der Parteien dieselbe Bezahlung wie die Richter sonst; diese [a] Der Begriff des citoyen actif, des wirtschaftlich selbständigen Bürgers, der allein wahlberechtigt sein soll, erscheint lange vor der Verfassung von 1791 in den Wahlrechtsdekreten vom 22. bis zum 28. Oktober 1789 und besonders in dem Decret relatif a la constitution des assemblies primaires et des assemblies administratives vom 22. Dezember 1789, Sect. I Art. 3, veröffentlicht in: Jean-Baptiste Duvergier, Collection complete des lois, decrets, ordonnances, reglements et avis du Conscil d'Etat . . . de 1788 ä 1824 inclus, Τ. I., Paris 1824, S. 86 ff. Die durch dies Gesetz geschaffenen Selbstverwahungskörperschaften liegen dem ganzen Dekretsentwurf von Sieyes unausgesprochen zugrunde. [Anm. d. Übers.]
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Erhebung der Gerichtskosten wird bis zur Einführung eines neuen Bürgerlichen Gesetzbuches beibehalten. 89. Die Wahl von Bürgern, die keine Juristen sind, in die Liste der Justizräte findet folgendermaßen statt. 90. Die zur Wahlversammlung des Departements abgeordneten Wahlmänner eines jeden Distrikts haben gemeinsam für alle wählbaren Bürger ihres Distrikts das Vorschlagsrecht; sie können einen Bürger jedoch nur dann vorschlagen, wenn sie sich mit zwei Dritteln ihrer Stimmen auf ihn geeinigt haben. 91 · Die Namen der Kandidaten werden in durchnumerierter Reihenfolge in eine Liste eingetragen; diese Liste liegt mindestens zweimal 24 Stunden im Versammlungssaal aus. 92· Wenn die Wahl beginnt und alle Wahlmänner im Begriff sind, ihre Stimmzettel auszufüllen, werden die Namen der Kandidaten nach ihrer Reihenfolge auf der ausgelegten Liste verlesen; nach jedem Namen nennt man deutlich seine Nummer. 93· Der Wahlmann, der einen der genannten Kandidaten ablehnen will, muß auf die Nummer achten, unter der dessen Name steht, und braucht nur die Nummer auf seinen Stimmzettel zu schreiben. 94· Die Wahlmänner lassen die Namen und Nummern derjenigen Kandidaten, mit denen sie einverstanden sind, ohne weiteres verlesen und werfen danach ihren Stimmzettel in die Wahlurne. 95· Bei der Auszählung der Stimmen vermerken die damit Beauftragten auf der Kandidatenliste neben den Nummern, wie oft jede von ihnen auf den Stimmzetteln steht. Um in die Liste der Justizräte des Departements eingetragen zu werden, müssen die Kandidaten mindestens zwei Drittel aller Stimmen für sich haben. 97· Dieses Abstimmungsverfahren ist nicht nur bei einer Erweiterung der Liste anzuwenden, sondern auch zu ihrer Kürzung gemäß Art. 84 und sogar zur Abberufung derjenigen, die auch bei einer möglichen Erweiterung der Liste nicht im Amt bleiben sollen. All diese Fälle sind der freien Entscheidung der jährlichen Wahlmänner überlassen. 98. Findet die Abstimmung eigens zur Kürzung oder Abberufung statt,
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werden alle Namen und Nummern auf den Wählbarkeitslisten verlesen, und die Wahlmänner schreiben nacheinander die Nummern derer auf, die ausscheiden sollen. Nur der aber kann abberufen werden, der bei der ersten und einzigen Abstimmung die Mehrheit gegen sich hat. 99Die Bildung der Geschworenengerichte obliegt dem Prokurator [Procureur-syndic] [a] des Departements, in seiner Abwesenheit dem Prokurator des Distrikts oder in beider Abwesenheit dem Prokurator der Gemeinde, in der das Urteil gesprochen werden soll. In keinem Fall kann ein Richter selbst ein Geschworenengericht bilden. 100. Das Geschworenengericht zählt für einen Zivilprozeß 18, für einen Strafprozeß 27 Mitglieder. 101. Bei der Bildung eines Geschworenengerichts soll der Prokurator nach Möglichkeit diejenigen Justizräte berücksichtigen, die dort wohnen, wo der Prozeß verhandelt werden soll. Auch soll er bemüht sein, als Geschworene Standesgleiche [pairs] des Angeklagten oder der Parteien zu berufen, das heißt Bürger, die sich hinsichtlich der Pflichten, der Vermögensverhältnisse und der gesellschaftlichen Stellung in der gleichen oder selben Lage befinden und daher den Rechtscharakter der zu entscheidenden Fälle besser kennen. 102. Kommt eine der Parteien von auswärts, bildet der Prokurator das Geschworenengericht möglichst zur Hälfte aus Fremden, indem er, wenn die Wahl besteht, wieder auf Standesgleichheit oder Ähnlichkeit mit der betreffenden Partei achtet. 103. Solange kein neues Gesetzbuch das Rechtswesen vereinfacht und solange die Unterscheidung zwischen von Rechts wegen eingetragenen Juristen und erst nach ihrer Wahl eingetragenen Bürgern fortbesteht, sind die Prokuratoren verpflichtet, die Geschworenengerichte aus Räten beider Gruppen in folgender Zusammensetzung zu bilden. 104. Das Geschworenengericht für Zivilprozesse setzt sich zu fünf Sechsteln, und zwar zu 15 von 18, aus Juristen und zu einem Sechstel aus gewählten Räten zusammen. Bei Strafprozessen besteht das Geschworenengericht zur überwiegenden Hälfte aus Juristen, und zwar sind es 14 von 27.
[ a ] N a c h dem genannten Dekret vom 22. Dezember 1789, Sect. II Art. 1 4 - 1 7 wird der Prokurator von der Bürgerschaft gewählt, vertritt aber den König bei den verschiedenen Verwaltungskörperschaften der Bürgerschaft. Er führt die laufenden Geschäfte im Departementsdirektorium. [Anm. d. Ubers.]
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io 5· Die Parteien, deren Prozesse am kommenden ersten Juni bei einem beliebigen Gericht oder Richter anhängig sind, können ihre Sache vor die neuen Departementsgerichte bringen, sofern sie sich an die neuen Gerichtsbezirke und die Artikel des vorliegenden Dekrets halten.
io 6.
Um all diese Prozesse rasch abzuwickeln, sind die kommenden neuen Gerichte berechtigt, je nach Anzahl der anstehenden Sachen drei bis neun Geschworenengerichte anzufordern. Die Prozesse werden zunächst unter die Kammern und dann unter die Richter verteilt, die die Aufgabe haben, die verschiedenen Geschworenengerichte getrennt zu leiten und ihre Entscheidungen zu beschleunigen. Die ersten Geschworenengerichte bleiben so lange bestehen, bis keiner der alten Prozesse mehr zu entscheiden ist. Im übrigen haben sie sich nach folgenden Bestimmungen zu richten. 107. Prozesse, die nach dem ersten Juni beginnen, werden anderen Geschworenengerichten zur Entscheidung vorgelegt. Zu diesem Zweck gibt es zwei Arten von Geschworenengerichten: die einen werden nur für eine besondere Sache berufen; die anderen werden berufen, um eine ganze Folge [role] von Prozessen zu entscheiden; letztere kennzeichnet man mit dem Namen Gemeinsame Geschworenengerichte. 108. Bei den Gerichtstagen bestellt jeder auf Reise befindliche Richter ein oder mehrere Gemeinsame Geschworenengerichte, je nachdem ob die anstehenden Sachen eine oder mehrere Gruppen erfordern. 109. Auch bei den Kammern des Gerichts stellt man je nach dem Andrang der Fälle von Zeit zu Zeit Gruppen von Prozessen zusammen, für die man Gemeinsame Geschworenengerichte bestellt. 110. Bei allen Strafsachen, bei denen mit Körperstrafen zu rechnen ist, und bei Zivilprozessen von großer Bedeutung wird ein besonderes Geschworenengericht bestellt, wenn eine Partei oder beide Parteien im Einvernehmen miteinander einer Erhöhung der vorläufigen Hinterlegung zustimmen, die sich nach dem in der Kanzleiordnung festgelegten Schlüssel bemißt. Die Partei, die der Erhöhung der vorläufigen Hinterlegung ihre Zustimmung verweigert hat, braucht diese Erhöhung nicht zu erstatten, wenn sie unterliegt. 111. Der Richter hat den Angeklagten oder den Parteien die Liste der gemeinsamen oder besonderen Geschworenengerichte unverzüglich vorzulegen. 112. Im Fall einer Strafsache sollen der Angeklagte oder die gemeinsam Ange-
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klagten, im Fall eines Zivilprozesses soll die Partei, die sich gegen die Berufung verteidigt, von der Liste des Geschworenengerichts ein Drittel der Mitglieder ablehnen; sie dürfen die Gründe ihrer Wahl nicht angeben. Bei einem Strafprozeß sind also 9 und bei einem Zivilprozeß 6 Geschworene abzulehnen. "3Sind im Prozeß beide Parteien zugleich Kläger und Beklagte, hat das der Richter in seiner Anklagerede für das Geschworenengericht zu erwähnen; der Prokurator achtet darauf, und erweitert das Geschworenengericht um 9 Mitglieder. 114· In diesem Fall kommt diejenige Partei, die als erste Berufung eingelegt hat, bei der Streichung erst als zweite an die Reihe. Beide Parteien lehnen somit je 9 Geschworene ab. Die erste Partei jedoch lehnt von der vorgelegten Liste nur ein Viertel ab, und die zweite von der restlichen Zahl ein Drittel. 'Μ· Wird die klagende Partei erst im Laufe der Verhandlung zum Beklagten, findet keine Änderung des Geschworenengerichts statt. 116. Die in Art. 54 mit dem Namen Kammersachen hervorgehobenen Sachen, die ihrer Natur nach eine lange und schwierige Verhandlung erfordern, sowie diejenigen Sachen, die entweder wegen der Unklarheit der alten Gesetze oder wegen der Kompliziertheit der noch geltenden alten Prozeßordnung viele Schriftwechsel und Erörterungen nach sich ziehen, verlangen seitens des Geschworenengerichts unbedingt ein vorausgehendes Verfahren. »7. Dieses Verfahren besteht für derartige Sachen darin, daß das Geschworenengericht sich in zwei Teile aufgliedert. Der eine Teil fungiert als Ermittlungsrat, der andere als Entscheidungsrat, 118. Der Ermittlungsrat besteht aus zwei Geschworenen und dem Richter, der den Fall bearbeitet. Die übrigen Mitglieder des Geschworenengerichts bilden den Entscheidungsrat. Die Ermittlungsräte, die als solche auch mit dem Bericht des Prozesses beauftragt sind, verlieren für alle Entscheidungen in der betreffenden Sache das Stimmrecht. 119· Nachdem man ausreichend ermittelt hat, befaßt sich der Ermittlungsrat oder, wenn dieser fehlt, der den Prozeß leitende Richter mit der Auswertung und ordnet alle Tatsachen- und Rechtsfragen, deren Beantwortung notwendig zum Schlußurteil des Prozesses führt, in unmittelbarer Reihenfolge hintereinander an.
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120. Obgleich diese im Strafrecht fast immer klare Analyse im Zivilrecht oft undurchsichtig und sehr schwierig ist, so gibt es doch im G a n g aller Prozesse eine echte Ähnlichkeit, die Richter und Ermittlungsrat zu ergründen suchen sollen. Sie werden nämlich erkennen, daß es in Zivilwie in Strafsachen darum geht, zunächst den eine Sache oder Person betreffenden Tatbestand zu klären, dann festzustellen, worin der Tatbestand dem Gesetz widerspricht, und schließlich denjenigen zu belangen, der dafür verantwortlich ist und der die Strafe auferlegt bekommt oder die gesetzlich bestimmte Entschädigung zu leisten hat. 121. Wenn es in manchen besonders zivilrechtlichen Fragen auch oft schwer und bisweilen sogar unmöglich ist, Tatbestand und Recht zu trennen, so dürfen Richter und Ermittlungsrat doch nicht den Mut verlieren. Sie müssen beachten, daß das vorliegende Dekret sämtliche Fragen — Tatsachenfragen, Rechtsfragen und gemischte Fragen sowie die Frage des Strafmaßes - ohne Ausnahme nacheinander der Entscheidung des Geschworenengerichts unterwirft und daß es im wesentlichen darauf ankommt, durch eine gute Reihenfolge der Fragen den Weg aufzuspüren, der am sichersten zur gerechten Entscheidung des Falles führt. 122. Nachdem die Berufungssache so vor dem Geschworenengericht verhandelt worden ist, obliegt es dem Richter oder dem Ermittlungsrat in Verbindung mit dem Richter, die Fragen zu bestimmen, über die das Geschworenengericht entscheiden soll. Die Anzahl dieser Fragen soll stets so gering wie möglich sein, ohne jedoch die Klarheit und Sicherheit der Entscheidung zu beeinträchtigen. Der Richter soll sich mehr als ein Leiter des Rechtswesens verstehen, der in gesetzlichem A u f t r a g die Rechtsprechung nur veranlaßt, denn als ein Richter im Sinne der alten Verhältnisse, der selbst Recht spricht. Wenn die Bezeichnung Richter dennoch ihm allein vorbehalten bleibt, so deswegen, weil er das Urteil verkündet und das Gesetz ihn in dieser Hinsicht zu seinem Organ bestellt. 123· Die Aufstellung der Fragen ist jedoch weder dem Richter noch dem Ermittlungsrat in dem Maße vorbehalten, daß das Geschworenengericht den Richter nicht ersuchen könnte, eine Frage zu ändern, die ihm schlecht gestellt scheint. Verursacht dieser Antrag irgendwelche Schwierigkeit, ist er als Zwischenfrage zu behandeln, die der Richter vorzulegen und das Geschworenengericht zu entscheiden hat. 124· Das Geschworenengericht kann nicht entscheiden, wenn die Anzahl der Stimmberechtigten in Zivilsachen unter 10 und in Strafsachen unter 15 liegt.
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In Zivilsachen entscheidet in allen Fragen die Mehrheit der Stimmen. 12 6.
Bei Stimmengleichheit muß von neuem beraten werden, und das Geschworenengericht darf nicht eher auseinandergehen, bis Ungleichheit der Stimmen erreicht ist. Läßt diese Ungleichheit lange auf sich warten, so läßt der Richter mit ja und nein darüber abstimmen, welche Seite den Ausschlag geben soll. Schließlich wird, wenn nötig, solange immer wieder abgestimmt, bis Ungleichheit der Stimmen erreicht wird. In Strafsachen kann eine Frage bei 15 Stimmen nur mit einer Mehrheit von mindestens 10, bei 16 und 17 Stimmen mit einer Mehrheit von 1 1 und bei 18 mit einer Mehrheit von 12 Stimmen entschieden werden; wenn es sich bei der Frage des Strafmaßes um die Todesstrafe handelt, entscheiden bei 15 erst 12, bei 16 und 17 erst 13 und bei 18 erst 14 Stimmen.
Titel iv Uber Ausnahmen bei Familien-, Konsular-, politischen und Fiskalprozessen 128. Vier Arten von Streitigkeiten unterliegen besonderen Bestimmungen oder Ausnahmeregeln, unterstehen aber nicht verschiedenen Richtern. Und zwar sind dies: 1. Streitigkeiten zwischen nahen Verwandten, dazu rechnen auch Hilfsgesuche an die Polizei durch Familien; 2. Streitigkeiten und Klagen in Handelssachen; 3. Vergehen von Staatsbeamten in Ausübung ihres Amtes; 4. Streitigkeiten mit dem Fiskus in Steuer- und Gebührensachen. 129. Familiensachen oder innere Familienstreitigkeiten können erst vor ein ordentliches Gericht gebracht werden, nachdem sie ein Familienrat geprüft hat; dieser setzt sich aus den Parteien selbst zusammen, wie folgt: 13°· Die Verwandten ersten Grades und die anderen Verwandten zweiten Grades, die gerichtlich gegeneinander vorgehen wollen, müssen sich zunächst vor dem Friedensrichter auf Verwandte oder Freunde beiderlei Geschlechts einigen, die die Streitsache aufgrund richterlichen Bescheids prüfen und ihre begründete Stellungnahme dazu abgeben. 131· Kann diese begründete Stellungnahme keinen Vergleich zwischen den Parteien herbeiführen, müssen diese beim Friedensrichter vorstellig wer-
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den, der sie noch einmal zum Vergleich auffordert und ihnen die Nachteile ihres Prozesses zwischen nahen Verwandten darlegt. Besteht dann noch eine Partei auf ihrer Rechtsforderung, muß ihr der Friedensrichter bescheinigen, daß der Familienrat berufen und gehört worden ist, die Parteien aber zu keinem Vergleich bringen konnte. N u n kann der Prozeß in der gewöhnlichen Form beginnen. Der Vater, die Mutter, der Vormund oder eine Familie, die über das Verhalten eines Kindes, eines Mündels, eines oder einer Verwandten zweiten Grades besorgt ist, wendet sich an das Polizeibüro des Distrikts oder in dringenden Fällen an den zuständigen Polizeibeauftragten, um ihm die Gründe ihrer ernsten Besorgnis darzulegen. 133· Das Büro des Distrikts oder der zuständige Polizeibeauftragte handelt in sehr dringenden Fällen so, wie es das oben angekündigte Allgemeine Polizeigesetzbuch für alle Anzeigen in dringenden Fällen vorschreibt 2 ; wenn es nötig ist, nimmt er die angezeigte Person in Gewahrsam. Γ 34· Sind die Familienklagen nicht so dringend, d a ß es auf jeden Augenblick ankommt, oder hat sich die Polizei der von der Familie angezeigten Person versichert, so berät das Polizeibüro mit mindestens 8 der wichtigsten Verwandten und Freunde des Beschuldigten, ob die Befürchtungen begründet sind, ob der Beschuldigte eine Züchtigung verdient oder zur Verhinderung eines Vergehens sogar festzunehmen ist, oder ob die Polizei ihm lediglich einen Verweis erteilen soll. I
35·
Sprechen sich die Verwandten nur für einen Verweis aus, lädt das Polizeibüro den Beschuldigten vor, um ihm den Verweis sofort zu erteilen, oder beauftragt den zuständigen Polizeibeauftragten damit, diese Art von Rüge zu erteilen. . 136· Wenn sich die Verwandten für eine Strafe wie die zeitweilige Einweisung in ein gesetzlich eingeführtes Zuchthaus aussprechen, so zieht das Polizeibüro alle notwendigen Erkundigungen ein, um sich der vorgebrachten Tatsachen zu vergewissern, und reicht seine Stellungnahme mit derjenigen der Verwandten an die Polizeikammer des Departements weiter. 137· In Wahrung der Aufgaben der Staatsanwaltschaft beim Gericht legt die Polizeikammer des Departements die Sache der Strafkammer vor, 2 In einem freien L a n d müssen alle V e r h a f t u n g e n d u r c h die genauesten Gesetze klargestellt u n d geregelt w e r d e n . In dieser H i n s i c h t e n t h ä l t d a s Habeas Corpus d e r E n g l ä n d e r n o c h l ä n g s t n i c h t die besten B e s t i m m u n g e n . D i e w a h r e n G e s e t z e zu dieser M a t e r i e k a n n m a n j e d o c h erst im G e s e t z b u c h des B ü r g e r s u n d f ü r die S t a a t s b e a m t e n im Polizei- u n d J u s t i z gesetzbuch niederlegen.
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die als Ausschuß zusammentritt, das heißt ohne Mitwirkung von Geschworenen berät; aufgrund der ihm vorgelegten doppelten Stellungnahme kann der Ausschuß den Vollzug des ganzen Familienwillens genehmigen oder ihn abändern, wenn er es für angebracht hält, oder er kann ihn schließlich völlig übergehen, wenn die angeführten Begründungen nicht beweiskräftig oder nicht wichtig genug sind. 1
3^· . . . Wenn jedoch von privater oder staatlicher Seite eine Klage gegen die Person ansteht oder erhoben wird, die aufgrund der Genehmigung eines Familienbeschlusses gefangengesetzt ist, so ist diese Genehmigung ganz oder teilweise aufzuheben, soweit sie die Rechte des Klägers verletzt; es sei denn, es ist nur ein privater Kläger abzufinden, den die Familie zum Verzicht auf seine Klage bewegt. 139· Bis N a t u r und Zuständigkeit der Konsular- und Admiralitätsgerichtsbarkeit näher geregelt sind, sollen alle Fälle, die heute in die Zuständigkeit dieser Gerichte fallen, den Justizbüros übergeben werden; diese setzen sich gemäß Art. i j und 29 in allen Städten, w o mehrere Primärversammlungen bestehen, aus den Friedensrichtern zusammen. 140. Die Justizbüros entscheiden wie die Konsuln. Berufungssachen, die die Konsuln nicht entscheiden konnten, gehen in zweiter Instanz an das Gericht des Departements und werden hier wie gewöhnliche Sachen behandelt. 141Zwei Mitglieder des Polizeibüros nehmen die Aufgaben der Staatsanwaltschaft beim Justizausschuß wahr. 142· Wenn in französischen Küsten- und anderen Handelsstädten mit Konsulargerichtsbarkeit nicht mehr als eine Primärversammlung und also auch nicht mehr als ein Justizbeauftragter vorhanden ist, so gehen die bisher hier entschiedenen Konsularsachen auf vorläufige Anweisung des Departements entweder an die nächste Justizkammer, oder der Friedensrichter entscheidet sie am Ort selbst unter Mitwirkung von zwei durch die Primärversammlung bestellten Beisitzern. 143· Klagen des Bürgers gegen einfache Polizeidelikte, die die öffentlichen Beamten in Ausübung ihres Amts begangen haben können, werden den Vorgesetzten dieser Beamten vorgelegt; ist das Delikt bewiesen, bietet der Vorgesetzte eine angemessene Strafe an. Gibt sich der Kläger jedoch nicht zufrieden und besteht auf einem förmlichen Verfahren, so kann er seine Klage beim Gericht des Departements erheben, wie es der folgende Artikel vorschreibt.
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144. Delikte der öffentlichen Beamten in Ausübung ihres Amts, gleichgültig ob sie den einzelnen Bürger oder das Gemeinwesen verletzen, werden in erster Instanz beim Gericht des Departements angezeigt und bearbeitet. 145· Diese Delikte können sowohl von den in ihren Rechten verletzten Bürgern als auch durch die Staatsanwaltschaft oder die Vorgesetzten der angeklagten Beamten angezeigt und verfolgt werden. 146. Zur Entscheidung solcher Vergehen, die man mit dem Ausdruck politische Vergehen bezeichnen kann, tritt das Gericht als großer Ausschuß zusammen; dazu versammeln sich die drei Kammern, der älteste der drei Präsidenten führt den Vorsitz. Zur Urteilsfällung ist die Mitwirkung keines besonderen Geschworenengerichts erforderlich; die versammelten Kammern stellen für den öffentlichen Beamten bereits ein solches dar, weil sie sich aus öffentlichen und von jedem Einfluß von oben unabhängigen Beamten zusammensetzen. Näheres über die Berufung gegen Urteile der Departementsgerichte in politischen Streitigkeiten regelt der folgende Titel. 147· Klagen in Steuer- und Gebührensachen sind zunächst als Polizeiangelegenheit zu betrachten und an den Ausschuß der drei Mitglieder des Distriktdirektoriums zu verweisen, die die Polizeikammer des Distrikts bilden. 148. Diese Kammer entscheidet in erster Instanz, nachdem sie sich mit dem Büro des Ortes, von dem die Klage kommt, beraten hat; ihr Urteil wird vorläufig vollzogen. 149· Gegen diese Entscheidungen erhebt man Berufung beim Departementsgericht, das durch Vereinigung der drei Kammern als großer Ausschuß zusammentritt; die Entscheidung dieses Gerichts ist endgültig. Titel ν Uber das allgemeine
Polizei-
und Justizzentrum
für das ganze
Königreich
'join der Hauptstadt des Königreiches wird ein Nationaler Gerichtshof errichtet; seine Zusammensetzung, Gliederung, Befugnisse und Aufgaben bestimmen die folgenden Artikel. Wie alle anderen Gerichte nimmt er seine Tätigkeit am ersten Juni dieses Jahres auf. 151 • Der Nationale Gerichtshof setzt sich zusammen aus einem abgeordneten
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Richter je Departement und besteht somit ingesamt aus dreiundachtzig Mitgliedern, die den Titel Oberrichter von Frankreich führen. Die Wahl der Oberrichter von Frankreich erfolgt kommenden Mai durch dieselben Wahlmännerversammlungen, die die Departementsrichter wählen. Γ 53· Oberrichter können bei dieser ersten Wahl alle wählbaren Bürger werden, die für ihre Aufgeklärtheit und Weisheit bekannt sind; danach und bis 1795 nur noch Gerichts- und Polizeibeamte des Departements oder der Primärversammlung; ab 1796 schließlich nur noch diejenigen Justizbeamten, die mindestens sechs Jahre im Amt gewesen sind. 1 54Die Oberrichter von Frankreich sind wie die Departementsrichter unabsetzbar und wie diese dennoch der Prüfungswahl nach Artikel 38 und 41 dieses Dekrets unterworfen. Diese Wahl wird jährlich von der Nationalversammlung durchgeführt; diese wählt doppelt, das heißt jeder Abstimmende kann statt einem zwei Namen auf seinen Stimmzettel schreiben. Ergibt das Abstimmungsergebnis die Abberufung eines oder zweier Oberrichter, so benachrichtigt man die Departements, die sie abgeordnet haben, daß sie die Stellen bei ihrer nächsten Wahlmännerversammlung wieder besetzen sollen. Die dreiundachtzig Oberrichter von Frankreich gliedern sich selbst in vier Oberkammern. Es sind dies erstens der Oberpolizeirat, zweitens der Oberrevisionsrat, drittens das politische oder Staatsgericht und viertens das Gericht für Staatsverbrechen. Die Mitglieder wechseln jedes Jahr. 1 57Sogleich nach ihrer Bildung bestellen die Oberkammern aus ihrer Mitte je einen Präsidenten für das Jahr. r
>8·
Der Oberpolizeirat besteht aus sechs Mitgliedern. Seine Aufgaben als leitende Behörde bestimmen sich nach dem Ziel der allgemeinen Polizei: Verhütung von Delikten, Auffindung der Urheber begangener Delikte und ihre Ubergabe an die Justiz. Ihm obliegt die Aufsicht über die allgemeine Polizei des Königreichs, damit die Einheit der Grundsätze und der Aufsicht erhalten bleibt. 1 59· Die sechs Mitglieder des Oberpolizeirates nehmen außerdem die Aufgaben der Staatsanwaltschaft bei den drei anderen Oberkammern wahr, in bestimmten Fällen, in denen sich die Kammern vereinigen können, auch beim Nationalen Gerichtshof selbst.
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160. Der Oberrevisionsrat besteht aus sechsunddreißig Oberrichtern. Er befindet über alle Revisionen gegen Departementsentscheidungen i. wegen Verfahrensmängeln, 2. wegen unterschiedlicher Rechtsprechung bei demselben Gericht, 3. wegen ungleicher Rechtsprechung bei verschiedenen Gerichten. Er hat so die große Aufgabe, bei der Rechtsprechung im ganzen Königreich die Gewißheit sowie die Einheit der Grundsätze und Formen zu wahren. 161. In allen Fällen, in denen der Revisionsrat das Urteil eines Departementsgerichtes aufhebt, verweist er den neu zu entscheidenden Fall mit der Begründung der Urteilsaufhebung an das Gericht eines benachbarten Departements. 162. Das politische Gericht besteht gleichfalls aus sechsunddreißig Oberrichtern. Seine Befugnisse und Aufgaben bestehen darin, in letzter Instanz über alle Delikte zu entscheiden, die Beauftragte oder Beamte des Staates innerhalb der öffentlichen Verwaltung begehen, sei der Täter nun ein einzelner Beamter oder eine ganze Körperschaft. Ebenso unterliegen bei politischen Delikten auch die Departementsrichter und -gerichte der Zuständigkeit dieses Gerichts. N u r die Minister und andere obersten Behördenleiter der ausführenden Gewalt unterstehen seiner Gerichtsbarkeit nicht; dazu gehören auch die Oberrichter von Frankreich, ihr natürliches Gericht für politische Delikte regelt Artikel 172. l6
3· Das Gericht für Staatsverbrechen setzt sich aus nur fünf Oberrichtern zusammen; jedoch zieht es in allen Fällen das Obergeschworenengericht zur Mitwirkung heran. Siehe Artikel 1 6 7 und folgende. 164. Ein klares Gesetz soll genau bestimmen, welche von jener Unmenge von Delikten, die die Verfassung, den Staat und die Person des Königs verletzen können, Staatsverbrechen sind, und außerdem regeln, welche Art von Strafe das Delikt erfordert. Wenn das geregelt ist, dann werden alle diejenigen, die bei irgendeinem Richter solcher Verbrechen angeklagt werden, an den Oberpolizeirat verwiesen und von diesem gegebenenfalls dem Gericht f ü r Staatsverbrechen übergeben. Die Minister und anderen Oberbeamten der ausführenden Gewalt unter Einschluß der dreiundachtzig Oberrichter von Frankreich können dem Gericht für Staatsverbrechen erst übergeben werden, nachdem die Nationalversammlung entschieden hat, daß Grund zur Übergabe besteht, und nachdem sie von den sechs Mitgliedern des Oberpolizeirates zwei zu N a tionalprokuratoren bestellt hat, die die Sache verfolgen und das Urteil beantragen. Jede andere Person ist dem Gericht für Staatsverbrechen zu
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übergeben, wenn der Oberpolizeirat entschieden hat, ob Grund zur Übergabe besteht. 166. Ist einer der Richter für Staatsverbrechen selbst in die Anzeigen oder Fälle bei dem Gericht verwickelt, dessen Mitglied er ist, oder erklärt er sich aus Gründen, die dasselbe Gericht anerkennt, für befangen, so versammelt sich der Nationale Gerichtshof sofort, um den vakanten Platz neu zu besetzen. ι6γ. Das Obergeschworenengericht setzt sich zusammen wie folgt: bei der ersten Wahl ihrer Abgeordneten zur Nationalversammlung benennen die Departements unter diesen Abgeordneten jeweils denjenigen, den das Gericht für Staatsverbrechen zum Mitglied des Nationalen Obergeschworenengerichts berufen kann. 168. Die für die Mitgliedschaft im Obergeschworenengericht benannten Abgeordneten wechseln wie die übrigen Abgeordneten mit jeder gesetzgebenden Versammlung; die Wahlkörperschaften benennen in der neuen Abordnung immer denjenigen, der zu dieser Aufgabe herangezogen werden kann; sie können sogar für alle Fälle einen Ersatzmann benennen. 169. Sobald vor dem Gericht für Staatsverbrechen ein Prozeß begonnen hat, wird dem oder, wenn es mehrere sind, den Angeklagten die vollständige Liste der dreiundachtzig Mitglieder des Nationalen Geschworenengerichts vorgelegt. Der Angeklagte oder die Angeklagten müssen vierundzwanzig davon ablehnen, ohne für ihre Wahl irgendeinen Grund zu nennen. Vierundzwanzig andere scheiden durch das Los aus; danach verbleiben also noch fünfunddreißig. Kommen nach dieser zweifachen Ablehnung und vor Beginn des Verfahrens neue Angeklagte hinzu, so haben sie weitere sieben Geschworene abzulehnen; andernfalls erfolgt diese dritte Ablehnung von sieben Mitgliedern des Obergeschworenengerichts durch dieselben Angeklagten wie vorher, die wieder keine Gründe für ihre Wahl angeben. 171· Das Obergeschworenengericht besteht endgültig aus den achtundzwanzig verbliebenen Mitgliedern. Diese versammeln sich nun und bestellen aus ihrer Mitte vier Geschworene, die zusammen mit den fünf Oberrichtern den Ermittlungsrat bilden. Den übrigen vierundzwanzig Geschworenen ist es vorbehalten, nach dem Bericht des Ermittlungsrates über alle Tatsachen- und Rechtsfragen usw. zu entscheiden; die vier Ermittlungsräte haben als Mitglieder des Geschworenengerichts bei diesen Entscheidungen kein Stimmrecht. Siehe oben Art. 1 1 9 und folgende.
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1?2
· Begehen die Minister und anderen Oberbeamten der ausführenden Gewalt unter Einschluß der Oberrichter von Frankreich in Ausübung ihres Amtes Delikte, die keine Staatsverbrechen sind, so werden diese beim Nationalen Gerichtshof angezeigt und entschieden, und zwar von den versammelten Kammern unter Vorsitz des ältesten Richters unter den jährlichen Präsidenten. 173· Die Oberrichter von Frankreich können außer den ihnen durch das vorliegende Verfassungsdekret übertragenen Richter- und Polizeiämtern auf gar keinen Fall weitere öffentliche Aufgaben übernehmen oder ausüben. Jeder Verstoß gegen dieses Gesetz wird als Staatsverbrechen behandelt. r 74Wenn sich irgendeine der Oberkammern oder der Nationale Gerichtshof als Körperschaft in einen anderen Bereich der öffentlichen Gewalt einmischt als in denjenigen, den ihm die Verfassung zuweist, besonders wenn er jemals versucht, die gesetzgebende Gewalt oder die Gewalt, die die Steuern beschließt, umlegt und verwaltet, an sich zu reißen oder zu ersetzen, so erlöschen allein aufgrund dieser Tatsache augenblicklich jeder Auftrag und jede Amtsgewalt der 83 Oberrichter von Frankreich; die Departements sind dann berechtigt, neue Oberrichter zu bestellen, und der neue Nationale Gerichtshof entscheidet, wo immer er zusammentritt, nach dem Gesetz über die Staatsverbrechen, doch ohne Geschworenengericht über alle Mitglieder des alten Nationalen Gerichtshofes, die an den genannten Ubergriffen auf die öffentliche Gewalt beteiligt gewesen sind. 17 5· Bei allen Prozessen und Streitigkeiten besteht nach der Urteilsverkündung die letzte Aufgabe des Richters darin, die innere öffentliche Gewalt mit der Vollziehung zu beauftragen. Muß das Urteil in einem anderen Gerichtsbezirk vollzogen werden als in dem, wo es ergangen ist, so wird es der Kanzlei dieses Bezirks vorgelegt, die es anerkennt und für gültig erklärt; die öffentliche Gewalt des besagten Bezirks muß dann die Vollziehung gewährleisten. Anmerkung. Es erscheint selbstverständlich, wenn man sich zum Schluß zwei Fragen stellt: welches Gehalt erhält jeder Beamte der Polizei wie der Justiz, und wie stark wird diese ganze Richter- und Polizeibeamtenschaft die Staatskasse insgesamt belasten? Die unteren Beamten können mit durchschnittlich fünfhundert Livres Gehalt zufrieden sein. Man muß hoffen, daß die empfehlenswürdigsten Männer der Primärversammlungen mit Eifer Ämter ausüben werden, die
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sie durch das Vertrauen ihrer Mitbürger erhalten haben, die keinen Wohnortwechsel erfordern, die auf dieser unteren Stufe keinen vollen Beruf darstellen und deren Nutzen so klar auf der Hand liegt usw. Wenn es, wie man glaubt, etwa 6000 Primärversammlungen gibt, die je 1000 Livres für ihre beiden Unterbeamten aufbringen, so ist das bereits ein Betrag von sechs Millionen. Auf dieser ersten Stufe ist es billigerweise angebracht, daß die Rechtsprechung und die allgemeine Aufsicht über die öffentliche Sicherheit völlig kostenlos sind. Ich überlasse es nun dem Leser, die tausend Gründe zu überdenken, die es aus Rücksicht auf den Richter wie auf den Prozeßführenden notwendig machen, daß die Rechtsprechung in Berufungssachen für die Parteien nicht ganz kostenlos ist. Der Gedanke einer vorläufigen Hinterlegung schien mir allen diesen Gesichtspunkten gerecht zu werden. Wenn man das feste Gehalt der Departementsrichter auf zweitausend Livres festsetzt, ist mit Grund zu hoffen, daß die vorläufige Hinterlegung diesen Betrag wenigstens verdreifacht. Zweitausend Livres sind für Richter, die ihre Pflicht tun, nicht zuviel. Die Oberrichter können ein Gehalt von zwölftausend Livres erhalten; man hat also zu bezahlen für die unteren Richter 6 000 000 für die 996 Departementsrichter 2 092 000 füf die 83 Oberrichter von Frankreich 996 000 Gesamtbetrag 9 088 000 Ich gehe davon aus, daß jene sechs Millionen für die unteren Richter zu Lasten der Distrikte gehen, daß die Departementsrichter von den Departements und schließlich die Oberrichter aus der Nationalkasse bezahlt werden; eine andere Regelung ist keineswegs gleichgültig. Man muß daher voraussetzen, daß die Distrikte und Departements über eigene Gelder verfügen. Oder ist es etwa falsch von mir, alles, was man tun soll, vorauszusetzen? Ich meine also, daß man unabhängig von den eigenen Geldern der Distrikte sowohl diesen letzteren als auch den Departements einen Anteil an den Steuern geben muß, deren Erhebung ihnen anvertraut ist, usw. Es braucht wohl kaum daran erinnert zu werden, daß die Polizeikammern der Distrikte und Departements aus Mitgliedern bestehen, die ihr Gehalt anderswoher erhalten. Es ist jedoch darauf zu achten, daß die drei Mitglieder des Departementsdirektoriums, die zu den Polizeikammern gehören und im Auftrag des Volkes Aufgaben wahrnehmen, die man öffentliche Belange nennt, außer ihrem Gehalt vom Direktorium auch noch die Wählbarkeit für das Amt eines Oberrichters von Frankreich erwerben.
GLOSSAR
Zahlreiche Termini der Sieyesschen Schriften sind seit jeher kaum übersetzbar gewesen und sind selbst im Original für den heutigen Leser oft schwer verständlich. Das folgende Glossar faßt deshalb die wichtigsten von Sieyes mehrfach gebrauchten und oben möglichst einheitlich übersetzten Begriffe — die im Text durch * gekennzeichnet sind — in alphabetischer Reihenfolge zusammen; die besonders schwierigen Begriffe sucht es kurz zu erläutern. Sofern nicht der französische Originalausdruck beibehalten ist, enthält das Alphabet nur den entsprechenden deutschen Ausdruck, von dem der Leser dieser Ubersetzungen ja ausgeht; die französische Entsprechung ist in Kursivschrift beigefügt. Den folgenden Erläuterungen liegen — neben der jeweils genannten Spezialliteratur — folgende allgemeinen Nachschlagewerke zugrunde: Bourde, Maurice: L'Administration provincialc et municipale en France au X V I I I « siecle. Paris 1 9 7 2 (Regards sur PHistoire 1 8 ) . Ellul, Jacques: Histoire des institutions. 4: x v i e - x v i n c siecle. 6. ed. mise a jour. Paris 1969 (Themis. Sciences politiques 6). Frey, M a x : Les transformations du vocabulaire frangais ä l'epoque de la Revolution (1789—1800). Phil. Diss. Zürich 1925. Godechot, Jacques: Les Institutions de la France sous la Revolution et PEmpire. 2. ed. rev. et augm. Paris 1968. [Grundlegend.] Gohin, Ferdinand: Les transformations de la langue frangaise pendant la deuxieme moitie du xvm« siecle (1740—1789). These lettres. Paris 1903. Goubert, Pierre: L'Ancien Regime. T. 1 : L a Societe. T. 2: Les Pouvoirs. Paris 1969—1973. Holtzmann, Robert: Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution. München, Berlin 1 9 1 0 , Nachdr. Darmstadt 1965. (Handbuch der mal. u. neuer. Geschichte 111 2.) Marion, Marcel: Dictionnaire des institutions de la France aux xvn e et xviii' siecles. Reimpr. de l'ed. originale de 1 9 2 3 . Paris 1970. Mousnier, Roland: Les Institutions de la France sous la monarchie absolue (1598—1789). T. 1: Societe et Etat. Paris 1974. Olivier-Martin, Frangois: Histoire du droit frangais des origines ä la Revolution. 2. tirage. Paris 1 9 5 1 . Seguin, Jean Pierre: La Langue f r a ^ a i s e au xviii« siecle. Paris 1972.
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Glossar
A B G E O R D N E T E ( R ) - depute(s) A B O R D N U N G - deputation A M T S G E W A L T - autorite; s. a. Obrigkeit A N T R A G — demande, selten motion A P A N A G E S , (Land-)Geschenke des Königs an die nachgeborenen Söhne der kgl. Familie zu ihrem persönlichen Unterhalt, u. a. die Krondomänen ganzer Provinzen. Dies bedeutete vor allem wirtschaftliche Macht wie im Fall von Philippe d'Orleans, der auf seinen Apanagen allerdings auch politischen Einfluß zu nehmen suchte, ζ. B. bei der Redaktion der Beschwerdehefte. A R I S T O K R A T ( I E ) - aristocrat(i)e. Gegenüber der traditionellen Bedeutung >Regierungsform der Aristokratie« überwiegt bei Sieyes der polemische Gebrauch des durch die vorrevolutionären Ständekämpfe aufgeladenen Schlagwortes. Aristocrate ist hier derjenige, der gegenüber den einfachen Leuten in irgendeiner Weise privilegiert ist, auch ohne adlig zu sein. Aristocrate steht so vielfach als Synonym für die Privilegierten, wird jedoch im Laufe der Revolution zunehmend zu einem politischen Gesinnungsschlagwort ohne soziale Bestimmtheit. — Vgl. Andre Decoufle, L ' A r i stocratie devant l'opinion publique a la veille de la Revolution (1787— 1789), in: Etudes d'histoire economique et sociale du x v m c siecle, Paris 1966, 1 - 5 2 . A R T S O C I A L — Dieser Begriff blieb unübersetzt, weil die wohl beste deutsche Entsprechung >Gesellschaftswissenschaft< zu unhistorisch erschien und der heute in seiner Bedeutung verengte Ausdruck >Kunst< den damals darin enthaltenen Wissenschaftsanspruch unterschlagen würde. D e r art social steht für das Bemühen der Zeit, die Beschäftigung mit gesellschaftlichen und politischen Fragen zu einer den Naturwissenschaften an Gründlichkeit und methodischer Exaktheit ebenbürtigen Wissenschaft für Spezialisten auszubauen. Sieyes hat an diesen Bestrebungen Anteil als einer der führenden Köpfe der >Societe de 1789«. - Vgl. Moro (Sieyes-Bibliographie unten S. 328); Keith Μ. Baker, Politics and social science in eighteenth-century France: the >Societe de 1789«, in: French Government and Society, 1500—1800, Essays in memory of Alfred Cobban, ed. by John F. Bosher, London 1 9 7 3 , S. 208—230. A U F K L Ä R U N G , Aufgeklärtheit - lumieres. Die Lichtmetaphorik ist für das optimistische Selbstverständnis eines großen Teils der Zeitgenossen kennzeichnend. Siecle des lumieres wurde geradezu ein Epochenbegriff. Die Ubersetzung kann das in diesen Ausdrücken enthaltene Fortschrittspathos nur schwach wiedergeben. — Vgl. Fritz Schalk, Zur Semantik von >Aufklärung< in Frankreich, in: Festschrift Walther von Wartburg zum 80. Geburtstag, Bd. 1, Tübingen 1968, 251—266; Roland Mortier: Lumi'ere et lumieres, Histoire d'une image et d'une idee au xvii* et au xvin c siecle, in: Ders., Clartes et ombres du siecle des lumieres, Geneve 1969, 1 3 - 5 9 .
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A U F T R A G G E B E R - commettan(t)s A U S F Ü H R E N D E V E R F A S S U N G - constitution active; s. a. Verfassung B A I L L I , Grand Bailli. Ursprünglich die höchsten und wichtigsten Vertreter des Königs in den Bailliagen, besaßen diese Beamten am Ende des Ancien Regime fast nur noch Ehrenvorrechte. 1789 bei der Einberufung der Generalstände traten sie ein letztes Mal in Erscheinung; aufgrund des königlichen Wahlreglements führten sie jeweils den Vorsitz in der Kammer des Adels und in der Versammlung der drei Stände ihres Amtsbereichs. B A I L L I A G E ( S ) oder senechaussee(s) — Seit dem Mittelalter vom erstarkenden französischen Königtum ausgebaute Verwaltungsbezirke unter einem dem Souverän direkt unterstellten Bailli oder Seneschall. Am ehesten vergleichbar den deutschen Vogteien. Im ausgehenden Ancien Regime im wesentlichen nur noch Gerichtsbezirke von sehr unterschiedlicher Größe und Bedeutung mit aufgeblähtem Beamtenapparat. 1789 gab es über 400 solcher Bezirke, die oft einem heutigen Arrondissement entsprachen. In Ermangelung besserer Gliederungen dienten sie als Wahlbezirke für die Generalstände. Das Wahlreglement vom 24. Januar 1789 unterschied zwei Arten von Wahlkreisen: 1. die Grands Bailliages oder Bailliages principaux, sie hatten schon die Abgeordneten für die Generalstände von 1614 direkt gewählt und sollten auch jetzt unmittelbar abordnen; 2. die Bailliages secondaires; diese kleinen Bezirke wurden gruppenweise zu einem Bailliage principal zusammengefaßt und konnten nur mittelbar über diesen Abgeordnete für die Generalstände bestellen. — Vgl. A. Brette, Recueil de documents relatifs ä la convocation des Etats generaux de 1789, 1 (Paris 1894), S. xxxi—XLVIII. B E A U F T R A G T E R - mandataire B E G E I S T E R U N G — enthousiasme; s. a. Schwärmerei B E R A T U N G - deliberation B E S C H L U S S - deliberation B E S C H W E R D E H E F T ( E ) - cahier(s de doleances). Handschriftliche, nicht streng verbindliche Aufzeichnung der Wünsche und Beschwerden, die die meist nach Ständen getrennten Wähler ihren Vertretern bei den Generalständen mitzugeben pflegten; die einzelnen meist durchnumerierten Punkte sind in der Regel nur in jeweils wenigen Zeilen ausgeführt. Bereits für 1614 von Interesse, sind die Zehntausende von Heften von 1789 eine einzigartige Quelle, deren Auswertung allerdings große Vorsicht verlangt. Denn nur die ursprünglichen Hefte der einzelnen Landgemeinden geben die Meinung der breiten Bevölkerung einigermaßen unmittelbar wieder, während in den Heften der verschiedenen Repräsentativversammlungen bis zu den Generalständen, die als Zusammenfassungen der Cahiers der jeweils unteren Körperschaften entstanden, der Einfluß der Privilegierten immer beherrschender wird. Die kriti-
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sehe Edition der Cahiers ist erst vereinzelt in Angriff genommen worden und bisher kaum koordiniert. — Vgl. vorläufig: Beatrice Fry Hyslop, Repertoire critique des cahiers de doleances pour les Etats-generaux de 1789, [nebst] Supplement, Paris 1933—1952; Dies., Α Guide to the general Cahiers of 1789, New York 1936; eine thematisch gruppierte Auswahl bieten Pierre Goubert et Michel Denis, 1789: Les Frangais unt la parole, Cahiers de doleances des Etats generaux, suivis d'un glossaire pratique de la langue de 1789, Paris 1964; einen neuen Forschungsansatz entwickelt George V. Taylor, Revolutionary and nonrevolutionary content in the Cahiers of 1789, an interim report, in: French Historical Studies 7 (1972), 479-502. B E T R I E B — fabrique. Dieser Ausdruck oder >Handwerksbetrieb< wurde vorgezogen, weil die Fabrik im modernen Sinne damals erst im Entstehen war. — s. a. Gewerbe(fleiß). B E V Ö L K E R U N G — peuples; meist im Sinne von breite Landbev. B E V O L L M Ä C H T I G U N G - procuration; s. a. Vollmacht B O N N E S V I L L E S — Königsstädte. Als bonne ville wurde im Spätmittelalter der Typus der nicht dem örtlichen Lehnsherr, sondern der königlichen Kontrolle unterworfenen Stadt mit durchorganisierter Selbstverwaltung (maire, echevins oder ein sonstiger corps de magistrats) bezeichnet. Auf diese Städte und ihr aufstrebendes Bürgertum stützte sich die Krone in ihrem Kampf gegen die großen Lehnsherren und den Hochadel. Sie bot ihnen Schutz und gewährte ihnen zahlreiche Privilegien. Auf den Generalständen des 14. und 15. Jhs. war der Dritte Stand nur durch Abgeordnete der bonnes villes vertreten. Die Bezeichnung Communes geht auf diese frühe Vertretung durch die dem König ergebenen Stadtgemeinden zurück. B U R G E R ( T U M ) — citoyen(s), bourgeois(ie). Meist citoyen im staatsrechtlichen Sinne, ein Begriff, .der oft auch die patriotisch gesinnten Glieder des Gemeinwesens bezeichnet. Das Wort bourgeois beschränkte sich im ausgehenden Ancien Regime auf den gegenüber dem platten Lande vielfach privilegierten Stadtbürger und muß meist entsprechend übersetzt werden. Eine höchst bemerkenswerte Ausnahme bildet Sieyes' Passage im Versuch Uber die Privilegien, oben S. 102; sie zeigt, daß sich das aufsteigende Bürgertum ganz wesentlich durch seine Mentalität auszeichnet. — Vgl. Regine Robin, La Societe franiaise en 1789: Semur-en-Auxois, P^ris 1970, 19—57; Pierre Leon, in: Histoire economique et sociale de la France, T. 2, Paris 1970, 601—609. B U R G E R L I C H — civil; das Adjektiv bourgeois erscheint nicht B Ü R G E R L I C H E ( R ) - roture. Verächtliche Bezeichnung der Nichtprivilegierten und Nichtadeligen, viel häufiger als der seltene Begriff bourgeoisie. B Ü R G E R L I C H E R E C H T E - droits civils B U R G E R S C H A F T — corps des citoyens; s. a. Körperschaft
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C A P I T A T I O N — Neben Taille und Vingtieme eine der drei großen direkten Hauptsteuern des späten Ancien Regime. Ende des 17. Jh. als allgemeine Einkommens- und Kopfsteuer eingeführt, wurde sie allmählich für Städte, Zünfte, Adel und Geistlichkeit ermäßigt oder unterdrückt und lastete schließlich fast nur noch auf der Landbevölkerung. Praktisch war sie ein Zuschlag zur Taille und brachte 1789 über 40 Millionen Livres. C H A T E L E T — Das seit dem 16. Jh. bestehende berühmte Pariser Gericht für Zivil- und Strafsachen unterstand unmittelbar dem Obersten Gerichtshof (s. Parlament) in Paris. Seine zentrale Stellung gab seiner Rechtsprechung große Bedeutung für ganz Frankreich. C L A S S E S - s . Milice C O M M U N E S - (Die) Gemeine(n); s. a. bonnes villes D E M O K R A T I E — democratic. Begriff und Sache waren im 18. Jh. in Frankreich noch nicht besonders geläufig. Wenn man die Sache meinte, sprach man meist von republique oder constitution populaire. Sieyes' Ausführungen in Was ist der Dritte Stand (s. o. S. 179 f.) sind deshalb besonders beachtenswert und wie andere Texte von der Begriffsgeschichte bisher kaum ausgewertet. — Vgl. Robert R. Palmer, Notes on the use of the word Democracy 1789—1799, in: Political Science Quarterly 68 (1953), 203—26. D O N G R A T U I T — Freiwillige, unregelmäßige Steuerabgabe des steuerlich privilegierten Klerus; s. a. Vingtieme. D R I T T E R S T A N D - Tiers etat, Tiers-Etat, tiers, tiers ordre; gelegentlich auch la roture, les Communes E I G E N I N T E R E S S E - intiret particulier E L I T E — elite. Der Begriff erscheint im späten 18. Jh. häufiger, als man lange glaubte, und weitgehend bereits in der heutigen Bedeutung. Sieyes ist ein Beispiel dafür. E I N S C H R E I B E N - enregistrer; s. a. Parlamente E M P F E H L U N G - instruction E N T S C H L I E S S U N G - arrete E R N E U E R U N G — regeneration; s. a. Wiedergeburt E T A T S G E N E R A U X - s. Generalstände F E U D A L I T Ä T - fiodalite. Obwohl der Begriff im späten Ancien Regime große emotionale Brisanz besaß, haben sich die Ubersetzer für die blasse Entsprechung >Feudalität< entschieden, weil das Lehnswesen mit dem Erstarken des Absolutismus als positive und integrierende rechtlich-politische Ordnung weitgehend abgestorben war. Was blieb, waren besonders grundherrliche Gerichts- und Strafbefugnisse sowie bestimmte Vorrechte, welche die Nichtprivilegierten vielfach unterdrückten und diskriminierten. Der mit dem Begriff verbundene Haß
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übertrug sich auf alles, was mit Mittelalter, Rittertum, Geburtsadel und Grundherrschaft zusammenhing. Wenn die aufklärerische Feudalitätskritik keinen Unterschied zwischen Lehnsrecht und Grundherrschaft machte, so entsprach das (zumindest teilweise) der sozialen Wirklichkeit der Zeit. Die >FeudalFeudalrechte< zuzuordnenden Belastungen von Grund und Boden ersatzlos auf. — Vgl. G u y Lemarchand, Le Feodalisme dans la France rurale dans les temps modernes, Essai de caracterisation, in: Annales historiques de la Revolution franfaise 41 (1969), 77—108; wichtig folgender Kongreßbericht: L'Abolition de la >feodalite< dans le monde occidental (Toulouse 12—16. 1 1 . 1968), T. 1—2, Paris 1 9 7 1 ; darin S. 891—934: Jacques Godechot et Suzanne Moncassini, Lexigue multilingue des principaux termes relatifs a la feodalite. Ebenfalls wichtig: Ernst Hinrichs, Die Ablösung von Eigentumsrechten. Zur Diskussion über die droits feodaux in Frankreich am Ende des Ancien Regime und in der Revolution, in: Vierhaus, Rudolf (Hrsg.), Eigentum und Verfassung. Zur Eigentumsdiskussion im ausgehenden 1 8. Jahrhundert, Göttingen 1 9 7 2 , 112—178. Zuletzt John Q. C . Mackrell, The Attack on >Feudalism< in Eighteenth-Century France, London 1 9 7 3 . F I N A N C I E R S — Schicht von Finanzagenten des Königs zwischen Bürgertum und Hochadel, vielfach hohe Beamte des Fiskus, private Steuerpächter oder negativ alle Leute mit Geld; durch Geld, Ämter und Heiraten mit der Monarchie verknüpft. Ihre Darlehen und Vorschüsse für die auf den Staatsbankrott zutreibende Staatskasse gaben ihnen eine Schlüsselstellung in den Staatsfinanzen. Z w a r bereiteten sie dem Kapitalismus den Weg und arbeiteten in den 80er Jahren mit Handel und Industrie zusammen, ansonsten aber verkörpern sie die starke Privatisierung der Finanzverwaltung des Ancien Regime, deren Mängel wesentlich zur revolutionären Krise beitrugen. — Vgl. Jean Bouchary, Les Manieurs d'argent ä Paris ä la fin du x v n i ' siecle, Vol. 1—3, Paris 1939—43; ders., Les Compagnies financieres ä Paris ä la fin du X V I I F siecle, Vol. 1—3, Paris 1940—42; John Francis Bosher, French Finances, 1770—1795, from business to bureaucracy, London, New York 1970; Herbert Lüthy, La Banque protestante en France de la Revocation de l'Edit de Nantes ä la Revolution, T. 2: De la banque aux finances, 2. ed., Paris 1 9 7 1 ; G u y Chaussinand-Nogaret, Gens de finances au x v m e siecle, Paris 1 9 7 2 . F I N S T E R E S M I T T E L A L T E R - les siecles barbares, les temps gothiques. Sehr emotionaler Ausdruck für alles, was mit Haßbegriffen wie Vorurteile, Feudalität, Despotismus, Unaufgeklärtheit zusammenhängt. — Vgl. Jürgen Voss, Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs, Unter-
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suchungen zur Geschichte des Mittelalterbegriffs und der Mittelalterbewertung von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München 1972; die polemische Seite des Begriffs wird für das 1 8. Jh. leider recht knapp behandelt. S. a. Werner Krauss, Das Mittelalter in der Aufklärung, in: Medium Aevum Romanicum, Festschrift Hans Rheinfelder, München 1963, S. 2 2 3 - 2 3 1 . FLEISS - Industrie; s. a. Gewerbe. G E H E I M E V E R H A F T U N G S B E F E H L E - lettres de cachet. Unmittelbar vom Souverän veranlaßte und von einem Staatssekretär unterzeichnete versiegelte geheime Briefe an einzelne Bürger. Sie wurden von einem Vollzugsbeamten überbracht und berechtigten ihn je nachdem, den Empfänger entweder gefangenzusetzen oder zu exilieren. Da sie willkürlich und unkontrolliert verfügt werden konnten, waren sie verhaßt. Unter Louis xv wurden sie besonders gegen die protestierenden Gerichtshöfe eingesetzt, Louis xvi dagegen machte kaum von ihnen Gebrauch, wollte aber auf das Recht nicht ganz verzichten. Das starke zahlenmäßige Ansteigen der lettres de cachet im 18. Jh. war jedoch weniger die Schuld des Absolutismus als vielmehr vieler Anträge von privater Seite, durch die einzelne Geschlechter ζ. B. Nachbarn oder unfolgsame Mitglieder der Familie zur Räson zu bringen suchten. — Vgl. Frank Funk-Brentano, Les Lettres de cachet, Paris 1926; A. Chassaigne, Les Lettres de cachet sous l'Ancien Regime, Paris 1903. G E M E I N D E ( R Ä T E ) - municipalite(s) (DIE) G E M E I N E ( N ) — Communes. Bezeichnet in den Ständekampfbroschüren das Corps de Nation bzw. den Tiers-Etat. Dieser Wortgebrauch geht bis auf Piganiol de la Force (Introduction ä la description de la France, Paris 3 i 7 5 2 , Bd. 2, S. 293) und Boulainvilliers (Etat de France, Londres 1753 ( 1 i 7 2 8 , Bd. 2, S. 175) zurück. 1788/89 griffen die Reformer den alten Begriff bewußt auf und gaben ihm eine neue Bedeutung — gegen den Protest der Privilegierten: danach beanspruchte der Dritte Stand die gleichen politischen Rechte wie die englischen Commons. — Vgl. Georges Michon, Essai sur l'histoire du parti Feuillant: Adrien Duport, Paris 1924, 49; Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, 246—247. G E M E I N G E I S T - esprit public G E M E I N I N T E R E S S E — interet general (commun) G E M E I N S C H A F T L I C H E R WILLE - volonte commune G E M E I N W E S E N — chose publique, corps politique G E M E I N W I L L E — volonte generale, voeu general G E M E I N W O H L - bien public G E N E R A L I T A T ( E N ) - Generaliti(s). Wichtigste territoriale Einheit der inneren und Finanzverwaltung des Ancien Regime. Ursprünglich von sog. Finanzgenerälen geleitet (daher der Name), seit dem 16. Jh. von Finanzbüros mit einem, dann mehreren Schatzmeistern (Tresoriers de
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France) an d e r Spitze. Diese w u r d e n im 17. J h . z u n e h m e n d von den I n t e n d a n t e n v e r d r ä n g t . So fielen die Generalitäten schließlich mit den I n t e n d a n t u r e n z u s a m m e n , zumindest im alten Kerngebiet Frankreichs, wo neben d e n Vertretern der Zentralgewalt keine landständischen G e w a l t e n entscheidend an der A d m i n i s t r a t i o n beteiligt waren. G E N E R A L S T Ä N D E — Etats generaux, Etats-Gineraux. Vollversammlung der R e p r ä s e n t a n t e n der drei Stände des Königreichs, nämlich Klerus (clerge), Adel (noblesse) und D r i t t e r Stand (Tiers-Etat, la roture, les Communes). Sie w u r d e n erstmals 1302 von Philippe le Bei einberufen u n d dienten seither sowohl als A k k l a m a t i o n s i n s t r u m e n t f ü r die Politik der K r o n e wie als Steuerbewilligungs- und Umverteilungsorgan. Daneben h a t t e n sie die F u n k t i o n , die G r a v a m i n a der v o n ihnen vertretenen Bevölkerungsschichten zu überbringen (s. Beschwerdehefte). Sie wurden nach langer U n t e r b r e c h u n g am 5. Juli 1788 a n g e k ü n d i g t u n d am 8. August 1788 f ü r F r ü h j a h r 1789 nach Versailles einberufen, um an der Sanier u n g der zusammengebrochenen Staatsfinanzen m i t z u w i r k e n . U b e r den E i n b e r u f u n g s m o d u s , die Zusammensetzung, die K o m p e t e n z e n u n d die G e s c h ä f t s o r d n u n g der Generalstände bestanden außerordentliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Ständen. Ab Sommer 1788 sah jede G r u p p i e r u n g in der ihr genehmen Ausgestaltung der Gener a l s t ä n d e das geeignete Mittel, eine ihr genehme R e f o r m des Staatswesens zu beeinflussen. Dementsprechend behandeln die Reformbroschüren des S t ä n d e k o n f l i k t s seit Herbst 1788 nicht n u r das T h e m a einer allgemeinen S t a a t s r e f o r m , vielmehr steht daneben die Frage der Ausgestalt u n g der G e n e r a l s t ä n d e und der von ihr zu vertretenden Politik im V o r d e r g r u n d , insbesondere bei Sieyes. Die Krone bezog in dieser Auseina n d e r s e t z u n g n u r andeutungsweise Position. G r u n d l e g e n d für die Them a t i k ist C l a u d e Soule, Les Etats generaux (1302—1789). Etude historique, c o m p a r a t i v e et doctrinale, Heule 1968; vgl. daneben den kritischen Bericht v o n E b e r h a r d Schmitt, Neuere Forschungen zur Geschichte der französischen Generalstände, in: Der Staat 11 (1972), S. 527—549. G E S E L L S C H A F T E R — associi(s). Die U b e r s e t z u n g sucht mit diesem A u s d r u c k die mitgemeinte Theorie des Sozial Vertrags im Auge zu behalten, k a n n aber den engen Z u s a m m e n h a n g zu societe sprachlich nicht voll wiedergeben. G E S E L L S C H A F T S A U F B A U (-organisation, -gefüge) — organisation sociale. G E S E L L S C H A F T S - G E S E L L S C H A F T L I C H E O R D N U N G - ordre social. N o r m a t i v e r Begriff, der immer die gute und w a h r e O r d n u n g im G e g e n s a t z zum desordre m e i n t ; die Ubersetzung m u ß t e d a h e r o f t ein entsprechendes Adjektiv h i n z u f ü g e n . D e r Begriff und die mit ihm v e r b u n d e n e n Ordnungsvorstellungen finden sich schon bei dem späten P h y s i o k r a t e n Guillaume Fran?ois Letrosne, L ' O r d r e social, Paris 1777·
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G E S E L L S C H A F T S Z U S T A N D — etat social; im Gegensatz zum Naturzustand. G E S E T Z G E B E N D E V E R F A S S U N G - constitution legislative; s. a. Verfassung. G E S E T Z G E B E N D E V E R S A M M L U N G (Gesetzgebungskörperschaft) Legislature, assemblee legislative. G E S I T T U N G — maeurs. Der Begriff besaß damals eine sehr umfassende und politische Bedeutung, er bezeichnete gemeinschaftliches und soziales Denken und Verhalten. GEWERBE(FLEISS) — Industrie. Die moderne Bedeutung ist im 18. Jh. noch relativ selten, obwohl sich in der zweiten Jahrhunderthälfte durchaus frühe Formen des maschinellen Fabrikationsbetriebes entwikkelten. In diesen Fällen sprach man jedoch meist von manufacture. Vgl. Kurt Baldinger, Einige terminologische Auswirkungen des Aufschwungs der Industrie im 18. Jh. in Frankreich, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft, Festschrift für Otto Brunner, Göttingen 1963, 318-335. G L U C K ( S E L I G K E I T ) - bonheur, bien-etre, felicite. Es handelt sich um einen der Schlüsselbegriffe der französischen Aufklärung, die Ubersetzung kann seinen emotionalen Gehalt kaum wiedergeben. Die Zeit war geradezu besessen vom Streben nach irdischer Glückseligkeit, besonders auch im politischen Bereich, was in der Forschung bisher neben der Behandlung des literarischen Glücksbegriffs zu kurz gekommen ist. Beispiel: Marquis Frangois Jean de Chastellux, De la Felicite publique, ou considerations sur le sort des hommes dans les differentes epoques de l'histoire, 2. ed., Vol. 1 - 2 , Bouillon 1776. — Vgl. Robert Mauzi, L'Idee de Bonheur dans la litterature et la pensee fran?aise du xvm e siecle, These lettres, Paris i960; Louis, Trenard, Pour une histoire de l'idee de Bonheur au χνιιι^ siecle, in: Annales historiques de la Revolution frangaise 35 (1963), 309-330, 428-452. G R A N D B A I L L I - siehe Bailli G R U N D H E R R ( S C H A F T ) - seigneur(ie). Ein Komplex von seit langem und sorgfältig umgrenzten Ländereien und Rechten, deren Inhaber adelig oder bürgerlich, Geistlicher oder Laie, ein Einzelner oder eine Gruppe sein kann. Hinsichtlich des Grund und Bodens unterscheidet man 1. die vom Grundherrn selbst oder einem Großpächter bewirtschaftete Domäne (reserve), 2. die kleinen Höfe der zinspflichtigen und lehrwsabhängigen Bauern. Drückend waren vor allem die Rechte des Grundherrn über alle abhängigen Mitglieder der Grundherrschaft: u. a. Mühlen-, Kelter- und Backmonopol, Anteile an Erbschaften usw., Gerichtshoheit, alleiniges Jagd- und Fischrecht und nicht zuletzt Ehrenvorrechte, die auch den bürgerlichen Grundherren ein adeliges Ansehen gaben. Die Zeit machte zwischen Adel, Feudalität und Grundherrschaft kaum einen Unterschied. — Vgl. Eberhard Weis, Ergebnisse eines Vergleichs der
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grundherrschaftlichen Strukturen Deutschlands und Frankreichs vom 1 3 . bis zum Ausgang des 18. Jh., in: Vierteljahrschrift für.Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 57 (1970), i—14. G R U N D H O L D E — tenancier. Inhaber des sog. >Untereigentums< an Grund und Boden, das >Obereigentum< besitzt der seigneur (s. Grundherr). Im französischen Rechtsverständnis ist def tenancier der eigentliche Eigentümer, der seinen Besitz veräußern und vererben kann. Dieser Besitz ist jedoch mit einer je nach Region variablen Fülle von grundherrlichen Rechten belastet, die jährlich mit Naturalien oder Geld abgelöst werden müssen. Diese Ablösungen bedrücken den in der Regel über einen kleinen Hof verfügenden tenancier außerordentlich, sie machen gegen 1789 im Durchschnitt ca. 1 0 % des bäuerlichen Nettoeinkommens aus. S. a. Hintersasse, Grundherr. G R U P P E ( N ) - Classe(s), Corps, partes); s. a. Klasse, Körperschaft, Partei. G R U P P E N I N T E R E S S E - interet de corps H A N D W E R K S B E T R I E B -fabrique; s. a. Gewerbe(fleiß). H I N T E R S A S S E - tenancier; s. a. Grundholde I N T E N D A N T ( E N ) - intendant(s). Diese Vorgänger der heutigen Präfekten waren das Rückgrat der Staatsverwaltung des späten Ancien Regime und eine der typischsten Institutionen des fürstlichen Absolutismus. Als unmittelbar und allein dem Souverän verantwortliche Kommissare und dann Beamte eroberten sie im 17. Jh. die Funktionen der älteren Ämter, die sich der zentralen Kontrolle durch Erblichkeit und verwandtschaftliche Verflechtungen zunehmend entzogen hatten. Ihre Aufsichtsund Leitungsbefugnisse erstreckten sich auf alle Finanz-, Gerichts-, Polizei· und Militärfragen ihres Bereichs, notfalls konnten sie direkt entscheiden; ein fester Amtssitz und Unterbeamte sicherten Kontinuität, ihre 32 Verwaltungsbereiche (intendances) erfaßten 1789 ganz Frankreich. Obwohl als Arm der Zentralgewalt bei Adel und Lokalgewalten verhaßt, waren sie besonders im 18. Jh. vielfach um Reformen bemüht; Turgot ist nur das bekannteste Beispiel. - Vgl. Vivian R. Gruder, The Royal provincial Intendants: a governing elite in eighteenth-century France, Ithaca 1968; als Anfang der ersten grundlegenden Gesamtdarstellung Adriana Petracchi, Intendenti e prefetti. L'intendente provinciale nella Francia d'Antico regime. Vol. 1 : 1551—1648, Milano 1 9 7 1 (Archivo della FISA, 1, 13). K A P I T A L I S T ( E N ) - capitaliste(s). Der seit etwa 1 7 7 0 u. a. bei Raynal auftauchende Neologismus besitzt häufig polemische Bedeutung und wird dann mit >Kapitalist< übersetzt. Wo das Wort neutraler verwendet wird, hat die Ubersetzung Ausdrücke wie >reiche Leute< oder >Geldleute
KlasseGruppe< und >Schicht< übersetzt. Im Sieyesschen Verständnis verbindet sich mit >Klasse< noch kein Klassenbewußtsein. — Vgl. Ernest Labrousse, in: Histoire economique et sociale de la France, T. 2, Paris 1970, 7°9~733· K Ö N I G S S T Ä D T E - s. bonnes villes; s. a. Die Gemeinen. K Ö R P E R S C H A F T — corps. Diese sehr häufige Entsprechung ist kennzeichnend für das Denken der Zeit in kleinen gruppenmäßigen und oft persönlichen Bindungen. Doch gebraucht Sieyes den Begriff in so vielen verschiedenen Verbindungen, daß teils auch andere Obersetzungen nötig waren. Oft enthält der Begriff neben der körperschaftlichen Komponente auch die Vorstellungen des Ganzen und organisch Zusammengehörenden, ζ. B. Corps politique — >politischer KörperGemeinwesendas Ganze der Gesellschaft; corps des citoyens — »Bürgerschaft. K O R P S G E I S T — esprit de corps. Die negative Seite des körperschaftlichen Denkens. Ein vielgebrauchter, oft mit prejuges verbundener negativer Begriff, der sich gegen das im alten Frankreich vorherrschende Standes-, Zunft-, Kasten- und Gruppendenken richtete. L A G E R - p a r i / f s ^ s . a. Partei. L I E U T E N A N T ( G E N E R A L ) D E P O L I C E . Seit Louis xiv oberster Gerichts- und Polizeibeamter von Paris mit Aufsicht und Entscheidungsbefugnis u. a. über alle Polizeibüros, Gefängnisse, Zünfte, Handel und Gewerbe, Märkte, Verpflegung, Spielhäuser und Gaststätten, Sitten, Beleuchtung und Sauberkeit der Stadt. M A N U F A K T U R ( E N ) - fabrique(s), industries); s. a. Betrieb. MILICE. Unter Louis xiv zur Unterstützung des stehenden Heeres geschaffene Art von gemildertem Militärdienst, der nur in Kriegszeiten in Anspruch genommen wurde, wegen seiner Ungerechtigkeit aber sehr unpopulär war. In jeder Gemeinde sollte das Los einen Mann bestimmen, wegen zahlreicher willkürlicher Ausnahmen trug jedoch praktisch die bäuerliche Bevölkerung die alleinige Last; manche Gemeinde bezahlte einen oder mehrere Stellvertreter. — An den Küsten Frankreichs gab es stattdessen die Classes, einzelne im Wechsel einberufene Abteilungen der Kriegsflotte, in denen seit Colbert alle Schiffer, Fischer und Einwohner der Küstengemeinden erfaßt waren. M U N I Z I P A L I T A T E N - municipalites; s . a . Gemeinde(räte). 1 7 8 7 / 8 8 erhielten die meisten Gemeinden Frankreichs neue Selbstverwaltungsor-
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gane aus gewählten Repräsentanten. Diese traten vielfach an die Stelle der alten Oligarchien und von der Einwohnerversammlung bestellten Syndizi. In den größeren Städten und den Randprovinzen konnte sich das neue System vor der Revolution allerdings kaum durchsetzen. N A T I O N A L R E P R Ä S E N T A T I O N - representation nationale. Mit dem Terminus >Nationalrepräsentation< verbindet sich bei Sieyes eine in sich geschlossene Konzeption der politischen Verfaßtheit eines Gemeinwesens. Dieses Gemeinwesen ist rechtlich egalitär unter Aufhebung aller Zünfte-, Stände- und Provinzprivilegien und -partikularismen organisiert. Aufgaben von nationalem Belang werden darin von Nationalrepräsentanten wahrgenommen. Diese nationalen Aufgaben oder nationalen Funktionen sind zur Kontrolle gegen Machtmißbrauch scharf voneinander getrennt, zu ihnen gehören im wesentlichen Verfassungsgebung, Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung. Die jeweiligen Amtsinhaber sind vom Vertrauen der repräsentierten souveränen Nation abhängig. Dieses Vertrauen wird im allgemeinen beim Bestellungsvorgang der Wahl übertragen, es gilt zusammen mit der Sachqualifikation des Amtsinhabers als seine Legitimation. Für die Dauer der Amtsführung ist der Nationalrepräsentant jedoch völlig frei von jeder Weisung, er besitzt ein freies Mandat. Diese Konzeption des »modernen, demokratisch legitimierten Nationalstaates« (Karl Loewenstein) setzt Sieyes in seinen Schriften der Jahre 1 7 8 8 - 1 7 9 0 stets dem bestehenden kritisierten Staatswesen des Ancien Regime gegenüber. Die französische Verfassung des Jahres 1 7 9 1 erfüllt im wesentlichen das Sieyessche Programm. Vgl. Eberhard Schmitt, Sieyes, in: Klassiker des politischen Denkens (hrsg. v . H . Maier u. a.), Bd. 2, München 1 1 9 6 8 , 2 1 9 6 9 , S. 13 5—160; ders., Repräsentation und Revolution, München 1969, S. 177—222. N A T I O N A L V E R S A M M L U N G - Assemblee nationale oder einfach Assemblee. Dieser Begriff erscheint in der politischen Publizistik seit Mitte des 18. Jahrhunderts als Bezeichnung für eine Vollversammlung der Generalstände. — Vgl. Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, München 1969, 179—187. N A T U R Z U S T A N D - etat naturel (- de nature). N I C H T P R I V I L E G I E R T E - la roture; s. a. Bürgerliche. N O T A B E L N - Notables. Bekannte, einflußreiche und angesehene Persönlichkeiten aller drei Stände, die der König unverbindlich einberief, wenn er für seine Beschlüsse Rückhalt in der Öffentlichkeit suchte, die Generalstände aber nicht einberufen wollte. D a weder die Art ihrer A u s w a h l und Zusammensetzung noch ihre Befugnisse geregelt waren, galten sie als bequemes Akklamationsinstrument der Regierung. Als sie 1787/88 zum letzten Mal einberufen wurden, trugen sie zur weiteren Verschärfung der allgemeinen Krise bei. - Vgl. Jean Egret, L a Prerevolution fran9aise 1787—1788, Paris 1962.
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O B R I G K E I T - autorite; s. a. Amtsgewalt. Ö F F E N T L I C H E G E W A L T - etablissement public. Ein wahrscheinlich von Sieyes geschaffener, kaum ganz übersetzbarer Begriff, weil er sowohl den Staat als politische Institution als auch das soziale Gemeinwesen und das gleichsam organisatorisch kristallisierte Gemeininteresse bezeichnet. Die vielleicht treueste deutsche Entsprechung >Gemein'-Anstalt< erschien schon Ebel sprachlich unmöglich. Ö F F E N T L I C H E M E I N U N G - opinion publique. Dieser Begriff wurde im damaligen Frankreich stark diskutiert, die damit verbundenen Theorien und Vorstellungen der Zeit sind sehr unterschiedlich. Vor allem beanspruchte die politische Aufklärung lautstark die Leitung der öffentlichen Meinung und erwartete von ihrer angeblichen Kraft wahre Wunder. In der politischen Praxis standen sich nicht einfach Regierung und die Öffentlichkeit gegenüber, es gab vielmehr mehrere konkurrierende Meinungen in der Öffentlichkeit. - Vgl. zuletzt Rolf Reichardt, Reform und Revolution bei Condorcet, Bonn 1973, 292—305. Ö F F E N T L I C H E R D I E N S T - service public. Ö F F E N T L I C H K E I T - public. PAIRS. Im ausgehenden Ancien Regime 43 Fürsten und Herzöge, die das Recht besaßen, an den Sitzungen des Pariser Parlaments teilzunehmen und dort ihre Rechtsstreitigkeiten entscheiden zu lassen. P A R L A M E N T ( E ) - Parlement(s). Die 14 obersten Gerichtshöfe im alten Frankreich, von denen das Pariser Parlament den weitaus größten Amtsbereich und Einfluß besaß. Neben der Gerichtsbarkeit besaßen die Parlamente u. a. vor allem das Recht, alle königlichen Gesetze zu registrieren (droit d'enregistrement), d. h. auf ihre Ubereinstimmung mit den bestehenden Gesetzen zu überprüfen und ihnen durch die Einschreibung Rechtskraft zu verleihen oder Einspruch (remontrance) zu erheben. Obwohl von den Regierungen als Formalität betrachtet, wurde dies Recht von den Parlamenten häufig gegen die Zentralgewalt ausgespielt; der König konnte die Einschreibung dann durch persönliche Gegenwart im Gericht (lit de justice) erzwingen. In der Vorgeschichte der Französischen Revolution waren die publizistisch äußerst regen Parlamente der Hauptgegner des Absolutismus, allerdings keineswegs allein aus selbstlosen Motiven, so daß ihre Beurteilung umstritten ist. — Vgl. John Hay Shennan, The Parlement of Paris, Ithaca 1968; Jean Egret, Louis xv et l'opposition parlementaire 1715—1774, Paris 1970; Wolfgang Mager, Die Entstehung einer revolutionären Verfassungsdoktrin der französischen Parlamente im 18. Jh., Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht (in Vorbereitung). P A R T E I ( U N G ) - parti(s). Die Ubersetzung zieht dem Begriff >Partei< meist die Ausdrücke >GruppeLager< oder >Parteiung(en)< vor. Denn Parteiorganisationen gab es in Ansätzen erst ab 1789 (Club
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breton); ein Parteibegriff war noch kaum entwickelt, es sei denn abwertend zur Bezeichnung von egoistischen Gruppen, die das Gemeininteresse und die nationale Einheit bedrohten. — Vgl. Rudolf von Albertini, Parteiorganisation und Parteibegriff in Frankreich 1789—1930, in: Historische Zeitschrift 193 (1961), 559-600; Mario A. Cattaneo, II Partito politico nel pensiero dell'Illuminismo e della Rivoluzione francese, Milano 1964 (Pubbl. della Fac. di Giurisprud. di Milano. Ser. 2,8); Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, München 1969, 251—260. P A T R I O T ( I S M U S ) - patriote, patriotisme. Der Begriff kennzeichnet eine breite geistige Strömung im Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jh., die gegenüber individualistischen Zügen der Zeit oft vernachlässigt wird. Sie stellte sich entschieden gegen Partikularinteressen und die innere Zerklüftung des Landes und bildete eine entscheidende Grundlage für die Konzeption der Nationalrepräsentation. — Vgl. zuletzt Jacques Godechot, Nation, patrie, nationalisme et patriotisme en France au xvni e siecle, in: Annales historiques de la Revolution fran^aise 43 ( 1 9 7 1 ) , 481—501. P A Y S - D ' E T A T S . Gegenüber dem Kernland der französischen Monarchie später hinzugewonnene, privilegierte Randprovinzen: Bretagne, Flandern und Hennegau, Bourgogne, Dauphine, Provence, Languedoc und die südliche Guyenne. Ihre Privilegien waren vor allem steuerlicher Art. ζ. B. konnten sie ihre im Vergleich zum übrigen Frankreich niedrigeren Steuern selbst umlegen und eintreiben, während in den anderen Provinzen (Ρays-d'Elections) königliche Zentralbeamte (elus) diese Funktion wahrnahmen. Außerdem hatten sich hier die alten Landstände (Etats) halten können, sie spielten bei der Steuerbewilligung eine gewisse Rolle, ebenso wie die Parlamente in diesen Randprovinzen eine besondere Bedeutung besaßen. P H I L O S O P H E . Soweit dieser Ausdruck nicht im traditionellen Sinne den philosophischen Denken meint, sondern in neuer aufklärerischer Bedeutung auftritt, wird er als unübersetzbar beibehalten. Denn wie gens de lettres bezeichnet er einen neuen sozialen Typus im Gegensatz zum honnete komme des 17. Jh. Die Hauptkennzeichen dieses ersten Intellektuellentypus sind eine neuartige analytisch-normative Denkart der Vernunft, ein adelsfeindliches Elitebewußtsein, die Zuwendung zur Gesellschaft aufgrund einer politisch-humanitären Tätigkeitsethik, der teils fanatische Anspruch auf die Bildung einer aufgeklärten öffentlichen Meinung durch Publizistik und kämpferisches Auftreten als politische Gruppe. Dies aktivistische Element felilt bei Sicyes allerdings weitgehend. — Vgl. Charles G. Stricklen, The philosophe's political missioryi the creation of an idea, 1750—1789, in: Studies on Voltaire and the eighteenth century 86 ( 1 9 7 1 ) , 137—228; Rolf Reichardt, Reform und Revolution bei Condorcet, Bonn 1974, 23—128. P R O V I N Z E N - p r o v i n c e s . Obwohl es sie offiziell nicht mehr gab, bewahr-
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ten die alten ζ. Τ. aus den mittelalterlichen Fürstentümern erwachsenen Provinzen bis zum Ende des Ancien Regime lebendige Gemeinsamkeiten in Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Recht über die neuen Verwaltungsgrenzen der Generalitäten hinweg. P R O V I N Z I A L S T Ä N D E - Etats provinciaux; s. a. Pays-d'Etats. P R O V I N Z I A L V E R S A M M L U N G E N - assemblies provinciales; s.a. oben die Einleitung S. 8. R E G I S T R I E R E N — enregistrer; s. a. Parlamente. R E N T E N B E S I T Z E R - rentier. Nicht der Rentner im heutigen Sinne, sondern jeder, der ohne persönliche Arbeit aus Grund und Boden, Hausbesitz, Ämtern, Kapital usw. relativ geringe, aber regelmäßige Einkünfte bezog und von diesen risikolos lebte. Die Jagd nach solchen Renten und ihrem großen Sozialprestige ist für die Mentalität der Oberschichten im Ancien Regime sehr kennzeichnend. — Vgl. Michel Vovelle et Daniel Roche, Bourgois, rentiers, proprietaires: elements pour la definition d'une categorie sociale a la fin du x v m e siecle, in: Actes du Congres national des Societessavantes 84, Sect, d'histoiremod. etcont., Paris i960, 419—452. George V. Taylor, Noncapitalist Wealth and the Origins of the French Revolution, in: American Historical Review 72 (1966/67), 469—496, abgedr. in: Die Französische Revolution, hrsg. von Eberhard Schmitt, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 293), 289—328. R E P R Ä S E N T A N T - representant; s. a. Stellvertreter, Vertreter. R E P R Ä S E N T A T I O N - representation; s. a. Stellvertretung, Vertretung, Nationalrepräsentation. R E P R Ä S E N T A T I V V E R F A S S U N G - constitution Verfassung. R I C H T L I N I E N - instructions R O B E . Siehe Talaradel.
representative;
s. a.
S C H I C H T E N — classes; s. a. Gruppe, Klasse. S C H W Ä R M E R E I — enthousiasme. So bei polemischer Bedeutung, sonst im neutralen Sinne >Begeisterung