Politische Formen Fur Fragmentierte Gesellschaften: Das Beispiel Sudafrika (German Edition) 3428079728, 9783428079728


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Politische Formen Fur Fragmentierte Gesellschaften: Das Beispiel Sudafrika (German Edition)
 3428079728, 9783428079728

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ULRIKE SCHUMACHER

Politische Formen für fragmentierte Gesellschaften

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 73

Politische Formen für fragmentierte Gesellschaften Das Beispiel Südafrika

Von

Ulrike Schumacher

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Schumacher, Ulrike: Politische Fonnen für fragmentierte Gesellschaften : das Beispiel Südafrika I von Ulrike Schumacher. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft ; Bd. 73) ISBN 3-428-07972-8 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-07972-8

Vorwort Der Versuch, den Prozeß des Entstehens einer neuen politischen Ordnung analytisch zu begleiten, unterliegt dem Risiko des Rennens des Hasen mit dem Igel: Der Analyseprozeß läuft stets Gefahr, von der aktuellen Entwicklung eingeholt wenn nicht überholt zu werden. Die Ankündigung der ersten allgemeinen und gleichen Wahlen in Südafrika am 27. April 1994 erscheint eine geeignete Zäsur, um den Analyseprozeß zunächst abzuschließen. Die fast gleichzeitig vorgelegten Dokumente über den Stand des Verfassungsprozesses verdeutlichen, daß

1.

eine Einigung über die "efficient parts of the constitution" auch unter den an den Verfassungsverhandlungen Beteiligten nicht erkennbar ist und daß

2.

selbst eine Übereinkunft über die Grundlagen dieser ersten allgemeinen Wahlen und einer daraus hervorgehenden Übergangsregierung und einer verfassungsgebenden Versammlung fraglich ist.

Beobachter schließen zum Teil daraus, daß der angekündigte Wahltermin zum Beispiel mit der Begründung der anhaltenden gewalttätigen Auseinandersetzungen im Lande verschoben wird. Wichtiger als solche Spekulationen ist, daß in den verschiedenen Verfassungsvorschlägen neue Argumente nicht vorgetragen worden sind. Dies rechtfertigt mehr als alle Aktualitätsfragen, die Analyse des Prozesses und der sich daraus ergebenden verfassungspolitischen Optionen zunächst zu beenden.

Kiel, im September 1993 Ulrike Schumacher

Inhalt

1. Kapitel Problemstellung

15

A. Historische Vorfonnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 B. Fragestellung: Politikwissenschaft als Verfassungstechnologie . .......... . . . ..... . 38

2. Kapitel Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

51

A. Fonnale Merkmale der Fragmentierung .... . . . ...... . .......... . .... . ... . .. 53

I.

Die sozialstatistische Ausdifferenzierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 53

I!.

Vorfonnungen des politischen Verhaltens ..... . ........ ...... ... .... 69

III.

Wirtschaftliche und soziale Konfliktfelder ... . . . . . ............ .. ... . . 75

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung ..... . ...... . .. . ..... . ........ . . . . 78 I.

Vertrauensbezüge ...... . ... .. . .. ................. . . ......... . 78

I!.

Einschätzung der eigenen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

IIJ.

Religiosität . ... . .. .............. . ... . .... . .... . .... . . ... . . .. 91

IV.

Aspekte des Wertesystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

V.

Veränderungen der Wertestrukturen im Zeitablauf . . . . .. . .... . . .. . .. ... 106

VI.

Einstellungen zur Wirtschaftsordnung ..... ... .. . .. . . .......... . . . . . 108

VII.

Gesellschaftliche und politische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

VIII.

Politische Grundeinsteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

C. Schlußfolgerungen .. ..... . .... . . . . ........... . . . . ............ . ... . . . 121

3. Kapitel Die Umsetzung der Konfliktstruktur Im Partelensystem

127

A. Die Ausgangssituation ..... .. . ......... .... . ... ..... . ... .. .. . ....... . 127

8

Inhalt

B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 I.

Die regierende Nationalpartei (NP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

II.

Die Democratic Party (DP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

111.

Die Konservative Partei (KP) ............. . ............... .. .... 138

IV.

Parteien und Bewegungen am rechten Rand des Parteienspektrums ... ..... . 141

V.

Der African National Congress (ANC) ....... . .............. . ...... 145

VI.

Die South African Communist Party (SACP) ........................ 164

VII.

Der Pan Africanist Congress of Azania (PAC) und das Black Consciousness/ Azapo ....... . ....................... . ............. . . . . . . 169

VIII.

Die lnkatha Freedom Party (IFP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

IX.

Sonstige politische Gruppierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

C. Die Stellung der Parteien zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

4. Kapitel

Möglichkeiten einer demokratischen Verfassung für Südafrika

187

A. Kriterien demokratischer Regierungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 B. Das erste konstitutive Element: Die Wirkungsweise von Wahlsystemen ..... .. ...... 209

I.

Zur Bedeutung von Wahlsystemen ................ . .. . ....... . . . . 209

II.

Mehrheitswahlsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

III.

Verhältniswahlsysteme ................. . . . ................ .... 216

IV.

Schlußfolgerungen .................... . . . .. . ................. 221

C. Das zweite konstitutive Element: die Beziehung zwischen Exekutive und Legislative . . . 223

I.

Das Westminster-Modell . ... . .. . . . . . ... . . . .. . .... .. .... . ...... 223

II.

Das Wesiminster-Modell mit Proporz ......... . . . ................. 231

III.

Das konkordanzdemokratische oder consociationale Modell . . . . . . . . . . . . . . 232

IV.

Die präsidiale Form ... . ................... . .................. 237

V.

Das Modell bipolarer Exekutive ........... . .. . .................. 242

VI.

Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

D. Das dritte konstitutive Element: Formen dezentraler politischer Ordnung . . . . . . . . . . . . 247 I.

Funktion dezentraler Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

II.

Formen föderativer Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

III.

Formen der Abgrenzung der Subsysteme in Südafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

IV.

Die Autonomie der Subsysteme ............. . . .. ....... ...... . .. 278

V.

Die Mitwirkung der Subsysteme an der Willensbildung des Zentralsystems ... 281

VI.

Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Inhalt

5. Kapitel Das Konzept einer Verfassung für ein demokratisches Südafrika

9

287

A. Die politikwissenschaftlichen Inhalte einer Verfassung ..................... . . . 287

B. Die Organisation des politischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 C. Verfassungsrechtliche Absicherung . . . .... . ........ . ............... . . . ... 294

D. Regeln zur Parteienlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

6. Kapitel Südafrika in einer historischen Krisis?

303

Literaturverzeichnis

311

Verzeichnis der Tabellen, Schaubilder und Karten TabeDen Tab. la:

Sprachgruppenzugehörigkeit der schwarzen Bevölkerung . ...... .. ... . .... 57

Tab. lb:

Siedlungsform . . . ......... . ....... . ................ . .. .. ..... 59

Tab. 2:

Pro-Kopf-Einkommen ...... . . .. .......... .... ...... . . . ...... 62/63

Tab. 2a:

Verteilung des monatlichen Haushaltseinkommens nach Bevölkerungsgruppen für 1988/89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

Tab. 3:

Ausstattung mit Konsumgütern .. . . . . .. ......... . ..... .. . . ... .. . .. 65

Tab. 3a:

W ohnfonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Tab. 4:

Ausbildungsniveau und Informationsverhalten ... . ............... . .... 71

Tab. 5:

Politische Diskussion ....... .. ....................... .... . . .... 72

Tab. 5a:

Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Situation .. . .. . ... .. .......... 73

Tab. 6:

Vertrauensbezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Tab. 6a:

Beurteilung der Rassenbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Tab. 6b:

Vertrauensbezüge in Primärgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Tab. 6c:

Vertrauensbezüge unter ethnischen Gruppen .... . . ... .... . . . .. . ....... 83

Tab. 6d:

Regionale Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

Tab. 7:

Selbstperzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Tab. 7a:

Stimmungslage .......... . ............ . .............. . ....... 90

Tab. 8:

Religionszugehörigkeit .... . . . .. .. ..... . . ... . . ........... . ...... 94

Tab. 8a:

Religiosität . . .. .... .. . . . . .... . ..... . . . . . ........ . . .. . . ...... 95

Tab. 8b:

Häufigkeit des Kirchgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Tab. 9:

Wertesystem, Freiheit oder Gleichheit ...... .... ........... .. ....... 98

Tab. 9a:

W ertesystem, Materialismus/Immaterialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Tab. 9b:

Bedeutung von Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 0 I

Tab. 9c:

Vertrauen in Institutionen ......... .... .... . ............ . . . . .. .. 103

Tab. 9d:

Akzeptanz gesellschaftlicher Nonnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Tab. 9e:

Existenz von verbindlichen Wertsystemen .......................... 105

Tab. 10:

Ordnungspolitische Grundeinsteilungen I - Interventionismus oder freie Wirtschaft . .................... .. .... .. . . .. . . . . . . .. . . .. ..... .. 109

Tab. lOa:

Ordnungspolitische Grundeinsteilungen II - Einstellung von Managern . . . . . . 110

12

Verzeichnis der Tabellen, Schaubilder und Karten

Tab. lOb:

Ordnungspolitische Grundeinsteilungen III - Ursachen von Armut

Tab. lOc:

Ordnungspolitische Grundeinsteilungen IV -Institutionen zur Bekämpfung von Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Tab. IOd:

Ordnungspolitische Grundeinsteilungen V - Dissens mit der Wirtschaftsordnung 113

111

Tab. 11:

Demokratisierung I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Tab. lla:

Demokratisierung II .................... . . . ...... . ..... . . ... . . 115

Tab. llb:

Politische Partizipation . . ....... . ........... .. .... .. ..... ... ... 116

Tab. 12:

Politische Grundeinsteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Tab. 12a:

Gewünschte Zusammensetzung einer zukünftigen Regierung ......... . . . . 118

Tab. 12b:

Ablehnung politischer Organisationen ... ... . . ............. . ..... . . 120

Tab. 12c:

Patriotismus .......... . ............ .. . . . .... ............. . . 121

Tab. 13:

Ausformungen von Föderalismus ........ . . . . . . . .............. 259/260

Tab. 14:

Ausformungen von Regionalismus . ................ . ....... . .... . 263

Tab. 15:

Bevölkerungszusammensetzung in Provinzen ...... . ... . .......... ... 270

Tab. 16:

Bevölkerungszusammensetzung in Entwicklungsregionen ..... . . . ... .... . 276

Tab. 17:

Bevölkerungszahl und Mandatsverteilung in der Europäischen Gemeinschaft .. 284

Schaubilder Schaubild 1:

Zukunftsaussichten (nur schwarze Bevölkerung) ....... . . . . . . . ... 74

Schaubild li:

Lebensgefühl im heutigen Südafrika (nur schwarze Bevölkerung) . . . . . 88

Schaubild III:

Faktorenanalyse zur Veränderung von Einstellungen unter Weißen 1982-1990 . .. ... ........ . . . ... ...... .... . . . .... ... . . 106

Schaubild IV:

Faktorenanalyse zur Veränderung von Einstellungen unter urbanisierten Schwarzen 1985-1989 .... .. . . .... . . . . . . .. . . . . ...... . ... 108

Schaubild V:

Einordnung der wichtigsten politischen Akteure und Stellung der Parteien zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Schaubild VI:

Orientierung von Wählern und Parteien in Südafrika unter einem Mehrheitswahlsystem ............... . . . .. . ..... .. . . .. .. . 413

Schaubild VII:

Orientierung von Wählern und Parteien in Südafrika unter einem Verhältniswahlsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Schaubild VIII:

Dimensionen von Föderalismus . .. .. . . . ....... . ..... . ..... 261

Karten Karte I:

Südafrika, Einteilung nach Provinzen

Karte II:

Südafrika, Einteilung nach Entwicklungsregionen . ....... . ... . .. 274

271

Verzeichnis der Abkürzungen südafrikanischer Begriffe ABRECSA

Alliance of Black Refonned Christians in Southem Africa

AIC

African Indigenous Churches

ANC

African National Congress

ANCYL

African National Congress Youth League

APLA

Azanian People's Liberation Anny

ASA

African Students Association

AWB

Afrikaner Weerstandsbeweging

AZAPO

Azanian People's Organisation

BBB

Boere Befreiings Beweging

BCM

Black Consciousness Movement

BP

Boerestaat Party

BPC

Black People's Convention

CAL

Cape Action League

CODESA

Convention for a Democratic South Africa

CONlRALESA

Congress of Traditional Leaders of South Africa

COSATU

Congress of South African Trade Unions

CP

Conservative Party

CPSA

Communist Party of South Africa (später SACP)

DP

Democratic Party

ECOSA

Econornic Cornmunity of Southem Africa

FLS

Front Line States

HNP

Herstigte Nasionale Party (Wiederhergestellte Nationale Partei)

HRSC

Human Seiences Research Council

IFP

Inkatha Freedom Party

IP

Independent Party

KP

Konserwatiewe Party(-> CP)

LP

Labour Party

NCCLSA

National Conference of Church Leaders of South Africa

NDM

National Democratic Movement

NEC

National Executive Committee (of the ANC)

14

Verzeichnis der Abkürzungen südafrikanischer Begriffe

NHK

Nederduitsch Hervormde Kerk van Afrika

NJC

Natal Indian Congress

NP

National Party, Nasionale Party

NPP

National People's Party

NRK/NGK

Niederdeutsch Reformierte Kirche/Nederduitse Gereformeerde Kerk

NUM

National Union of Mineworkers

NUSAS

National Union of South African Students

OAU

Organisation for African Unity

PAC

PanAfricanist Congress

PF

Patriotic Front

PFP

Progressive Federal Party

PSS

Parti Socialiste Senegalais

PWV-Region/Area

Pretoria-Witwatersrand-Vereeniging-Region/Area

SABRA

South African Bureau of Racial Affairs

SACC

South African Council of Churches

SA-COD

South Africa - Congress of Democrals

SACP

South African Communist Party (früher CPSA)

SACPO

South African Coloured People's Organisation·

SACTU

South African Congress of Trade Unions

SADF

South African Defense Force

SAIC

South African Indian Congress

SASO

South African Students Association

SPRO-CAS

Study Project on Christianity in Apartheid Society

SWAPO

South West Africa People' s Organization

TBVC-States

Transkei, Bophuthatswana, Venda, Ciskei

TJC

Transvaal Indian Congress

UDF

United Democratic Front

UPS

Union Progressiste Senegalaise

VOC

Vereenigde Nederlandsche Ge-Octroeerde Oost-Indische Compagnie (Vereinigte Niederländische Ostindische Aktiengesellschaft)

ZANU-PF

Zimbabwe African National Union - Patriotic Front

ZAPU

Zimbabwe African Peoples Union

1. Kapitel: Problemstellung Südafrika hat in den letzten 40 Jahren immer wieder die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Was mit dem Konflikt mit Großbritannien begann, der nach einer Volksabstimmung unter Weißen im Oktober 1960, dann im März 1961 zur Ausrufung der Republik Südafrika und später im Jahr zum Austritt Südafrikas aus dem Commonwealth führte, gipfelte schließlich in einer fast allgemeinen internationalen Ächtung, die zum Teil mit erheblichen Wirtschaftssanktionen verbunden war. Die Ursache dieser Entwicklung liegt im südafrikanischen Konzept der "getrennten (parallelen) Entwicklung" - so die offizielle Bezeichnung -, das mit dem demokratischen Wertesystem als unvereinbar betrachtet wird. Für diese Politik hat sich auch international der Begriff Apartheid 1 eingebürgert. Die normative Ablehnung der Politik der Apartheid ist eine Frage, die Möglichkeit, eine durch sozio-kulturelle und sozio-ökonomische Gegensätze gekennzeichnete Gesellschaft demokratisch zu verfassen, ist eine zweite und im internationalen Vergleich weitaus wichtigere Frage. Die Diskussion um ein "Neues Südafrika", also ein demokratisches politisches System ohne Apartheid, spiegelt diese Grundsatzfrage wider: Wie kann man eine solche Gesellschaft in einer politischen Form verfassen, die einerseits dem demokratischen Grundsatz entspricht, daß alle Menschen politisch gleich sind, die andererseits Rücksicht auf den empirischen Tatbestand einer vielfältig fragmentierten Gesellschaft nimmt. Südafrika ist ein Beispiel dieses demokratietheoretischen Problems.

1 Über den Ursprung des Wortes Apartheid herrscht keine Einigkeit; es gibt ihn weder im Niederländischen noch im älteren Afrikaans als Substantiv, sondern zunächst nur das aus dem Französischen entlehnte "apart" (getrennt), was aber keine Konnotation zu einer politischen Ordnungsform hatte. Vermutlich Mitte bis Ende der 30er Jahre kam die Verwendung des Begriffs Apartheid als Übersetzung des englischen Wortes "segregation" in das Afrikaans. Vgl. Fisch, Jörg, Geschichte Südafrikas, München 1990, S. 287. Andere Autoren schreiben den Terminus der niederdeutsch-reformierten Kirche zu, noch ehe er in die Politik Eingang fand. Vgl. Niedeiberger, Oskar, Kirche-Mission-Rasse. Die Missionsauffassung der niederländisch-reformierten Kirchen von Südafrika, Schöneck-Beckenried, 1959, S. 233. Für die Verankerung der Apartheidpolitik in der Rechtsordnung Südafrikas siehe schon Delbrück, Jost, Die Rassenfrage als Problem des Völkerrechts und nationaler Rechtsordnungen, Frankfurt (M) 1971, insbes. Kapitel: Gleichheit durch Trennung? Das südafrikanische Gegenmodell der Apartheid, S. 205-252.

16

1. Kapitel: Problemstellung

Für die Erörterung dieser Fragestellung sind drei Aspekte zu berücksichtigen: - die historische Vorprägung der politischen Strukturen; - die Konfliktstruktur der so gewachsenen Gesellschaft und - die institutionellen Möglichkeiten für eine politische Form einer solchen Gesellschaft.

A. Historische Vorformung Die Trennung der einzelnen Rassen hat in Südafrika eine weitaus längere Tradition als die internationale Aufmerksamkeit, die mit Versuchen einer internationalen Verurteilung Südafrikas im Rahmen der Vereinten Nationen verbunden war.Z Dabei ist es falsch, Apartheid - verstanden als politische Organisationsform - ausschließlich mit dem Nationalismus der Afrikaner3 oder gar erst der Politik der Regierungspartei (der Nationalen Partei) der 2. Hälfte des 20. Jh. gleichzusetzen. Schon wenige Jahre nach der Errichtung eines Versorgungsstützpunktes an der Tafelbucht durch Jan van Riebeeck für die Vereinigte Niederländische Ostindische Aktiengesellschaft (VOC) 4 gab es die erste getrennte Schule für Schwarze (1663) und kurz darauf (1678) das durch die VOC ausgesprochene Verbot von gemischtrassischen Ehen. Symbolisch kann

2 Resolution 1761 (XVII) der UN-Generalversammlung vom 6. Nov. 1962 forderte erstmals Wirtschaftssanktionen gegen Südafrika in Form von Handelseinschränkungen und Aufhebllllg von Landerechten für Schiffe Wld Augzeuge. Es handelte sich um eine nicht-bindende Resolution. In seinen Resolutionen 181 Wld 182 von 1963 forderte der Sicherheitsrat der UNO erstmals ein Waffenembargo gegen Südafrika, das allerdings erst 1977 in verschärfter Form auch für bindend erldärt wurde. Für die völkerrechtlichen Aspekte der Apartheid, bes. die Qualifikation der Apartheid als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", vgl. Delbrück, Jost, Apartheid, in: Wolfrum, Rüdiger (hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2., völlig neu bearb. Aufl. München 1991, S. 17-25. 3 Die Schreibweise dieser Bezeichnllllg für die Weißen burischer Abstammung ist politisch umstritten, aber sprachwissenschaftlich Wlbestritten. In den einschlägigen Lexika findet man auch Schreibweisen wie Afrikaoder oder Mrikaander. In der sozialwissenschaftliehen Literatur herrscht die Schreibweise Mrikaner oder Afrikaaner vor. Vor diesem Hintergrund ist die sprachwissen· schaftlieh gültige Schreibweise gewählt, mit der auch die betroffenen Menschen sich selbst bezeichnen: Afrikaner. Dies entspricht auch der Schreibweise im Englischen, es sei denn in einem Zitat ist eine andere Schreibweise gewählt. Die zugehörige Sprache wird dagegen übereinstimmend Mrikaans geschrieben. 4 Vereenigde Nederlandsche Ge-Octroeerde Oost·lndische Compagnie(Vereinigte Niederländi· sehe Ostindische Aktiengesellschaft), entstanden im Jahr 1602 durch einen Zusammenschluß von vier rivalisierenden Schiffahrtsgesellschaften.

A. Historische Vorlonnung

17

man die 1660 von Jan van Riebeeck gepflanzte Bittennandelhecke, mit der er 6000 Acres Land als Weideland für die ausschließliche Benutzung durch weiße Farmer vom Land der Khoikhoi abgrenzte, als den ersten Akt der Trennung der unterschiedlichen Gruppen betrachten.5 In der Realität der Siedlung am Kap kam es allerdings im 17. und 18. Jh. zu nach Herkunft und Rechtsstellung deutlich voneinander unterschiedenen Bevölkerungsgruppen. Beim Eintreffen der Holländer im Jahre 1652 gab es im Gebiet des heutigen Südafrika und Namibia zwei unterschiedliche Bevölkerungsgruppen.6 Zum einen die Gruppe der San, die wie folgt charakterisiert werden: deutlich hellere, braungelbe Hautfarbe, von kleinerem Wuchs mit sogenanntem Pfefferkornhaar. Ihre Entwicklung ist vennutlich das Ergebnis jahrhundertelanger Abgeschiedenheit von den übrigen Bewohnern Afrikas. Sie lebten nomadisierend als Jäger und Sammler in kleinen sozialen Einheiten, wobei die Größe einer Horde nicht selten mit einer Kernfamilie identisch war, in der Regel aber mehrere Familien umfaßte, denen eine Art Ältestenrat, bestehend aus den Familienoberhäuptern, vorstand.7 Die zweite, zahlenmäßig stärkere Gruppe war die der Khoikhoi, die vennutlich ca. 200 v. Chr. aus dem nördlichen Botswana kommend sich nach Süden ausbreitete und vor allem in der Westhälfte Südafrikas als Viehzüchter lebte. Die Viehzucht ennöglichte ein Zusammenleben in größeren Gruppen; dabei war der Kern wiederum die Familie, hier allerdings nur als Bestandteil eines Clans mit der erblichen Funktion eines Oberhauptes, dem ein Rat aus Familienältesten zur Seite stand. Mehrere Clans bildeten einen Stamm, dem das angesehenste Oberhaupt eines Clans vorstand, das allerdings in seinen Machtbefugnissen stark durch die Clanoberhäupter eingeschränkt war und deshalb nur als eine Art Vorsitzender einer Ratsversammlung angesehen werden konnte. Wurde ein Stamm zu groß, spaltete sich ein Teil ab und bildete eine eigene Einheit.

5 Vgl. Louw, Leon/Kendall, Frances, South Africa, The Solution, 3. überarb. Auf!., Bisho, Ciskei, 1989, S. 31 ff. 6 Eine Gesamtdarstellung der südafrikanischen Bevölkerungsgruppen findet sich in Wilson, Monica(Thompson, Leonard, (eds. ), The Oxford History of South Africa, 2 Bde., Oxford 1969-1971. Zu Khoikhoi und San, Bd. 1: South Africa to 1870, Kapitel "The Huntersand Herders", S. 40-74.

7 Zur Lebensweise und sozio-ökonomischen Organisation der San, vor allem ihrer Lebensweise in Horden, vgl. Stephan, David, The San of the Kalahari, Minority Rights Group Report Nr. 56, London November 1982. 2 Schumacher

18

l. Kapitel: Problemstellung

Die San als Jäger und Sammler und die Khoikhoi als Viehzüchter lebten neben- und miteinander in einem Konkurrenzverhältnis, das sich aus den verschiedenen Lebensweisen ergab. Dabei kam es durchaus zu Vennischungen der beiden Gruppen, so daß die ethnologische Situation Südafrikas zum einen durch die Wanderungsbewegungen, d.h. das Ausweichen vor Bevölkerungsdruck, zum anderen durch Zusammenleben gekennzeichnet war. Die weißen Kolonisten bezeichneten die San als Buschleute und die Khoikhoi als Hottentotten; spricht man von beiden Lebensfonnen, wird meist der Begriff Khoisan verwandt. Erst im Verlauf des 18. und beginnenden 19. Jh. trafen die weißen Kolonisten auf zwei weitere große Gruppierungen schwarzer Stämme, die Nguni und die Sotho oder auch Sotho-Tswana. 8 Die Nguni besiedelten einen Küstenstreifen vom heutigen Swaziland bis zur Transkei; sie werden allgemein in die nördlichen und die südlichen Ngunivölker unterteilt. Zu den nördlichen zählen als die bekanntesten der Stamm der Zulus und der der Swazis; zu den südlichen gehören eine Vielzahl kleinerer Stämme wie die Thembu9 , die Mpondomise, die Mpondo und als bekanntester der Stamm der Xhosa, der als südlichster den ersten Kontakt mit den Kolonisten vom Kap hatte. Das innere Hochplateau und das Randgebirge des heutigen Südafrika besiedelten die Sotho, die in die westlichen Sotho oder Tswana, die nördlichen Sotho bestehend aus den Pedi und Lobedu und die südlichen Sotho oder Basotho, die im heutigen Lesotho und dem angrenzenden Gebiet leben, eingeteilt werden. 10

8 Die Einteilung der Bantu-Völker in diese beiden Gruppierungen erfolgte von außen und im nachhinein; sie ergibt sich aus einer sprachlichen Zweiteilung. wobei es wiederum eine Vielfalt von Dialekten gibt, die in der gesprochenen Sprache aber Ähnlichkeiten aufweisen, so daß Verständigung möglich ist.

9 Hierzu zählt der Präsident des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) Nelson Mandela.

10 Die bis heute durch die weiße Regierung Südafrikas vorgenommene Klassifizierung einzelner schwarzer Stämme oder Gruppen steht nach Ansicht von Historikern, Ethnologen und Archäologen auf wissenschaftlich nach wie vor ungesichertem Boden. Dies hat vor allem mit der fehlenden Überlieferung von bestimmten Lebensweisen, Wanderungsbewegungen und ethnischen Vermischungen zu tun; mehr noch mit den fehlenden Klassifikationskriterien in den einzelnen Disziplinen. Im allgemeinen werden Rasse, physischer Typ. Sprache und Kultur zur Einteilung benutzt, wobei ein Charakteristikum der Völker des südlichen Afrika ist, daß sich in aller Regel mindestens zwei dieser Kriterien überlappen. Vgl. Maylam. Paul, A History of the African People of South Africa: From the Early Iron Age to the 1970s, London/Cape Town/Johannesburg 1986, bes. s. 20 ff.

A. Historische Vorlormung

19

Die Bezeichnungen Nguni und Sotho haben sich seit ca. 200 Jahren eingebürgert, weil es in beiden Gruppen eine linguistische Homogenität gibt; gerade dies aber verdeckt die Heterogenität der Gruppierungen. So bezeichnen die NguniVölker sich selber nicht als Nguni, und die Bezeichnung Sotho verdeckt eine Vielfalt unterschiedlicher Dialekte, Siedlungsmuster und sozia-politischer Organisationsformen. Im Unterschied zu den Khoisan ist ihnen allen aber eine weitere Wirtschaftsform neben Jagd und Viehzucht eigen, und zwar der Ackerbau, der allerdings je nach Bodenbeschaffenheit, Klima und natürlichen Barrieren (Tsetsefliege) stark variierte, im Prinzip aber eine seßhafte Lebensweise ermöglichen konnte. Spezialisierungen in der Landwirtschaft hat es aber bei den extensive Viehzucht betreibenden Nguni ebenso wenig gegeben wie im Handwerk, das bei den Sotho-Tswana stärker verbreitet war. Die Organisation dieser Gemeinschaften war bestimmt durch das System Familie, Sippe, Clan, die aber nicht in territorial festen Grenzen lebten, sondern durcheinander siedelten. Da die politische Organisationsform aber abhängig vom Territorium war, gab es Unterschiede zwischen Abstammungsgemeinschaften und politischen Organisationen. Die herausgehobenste Stellung hatte das angesehenste Oberhaupt des angesehensten Clans inne, seine Funktion war die eines absoluten Herrschers, seine Macht basierte auf der Kontrolle über Land, das sich ausschließlich in Gemeineigentum 11 befand. Bei größeren Organisationseinheiten gab es eine mehrstufige Verwaltungshierarchie bestehend aus den jeweiligen Unterführern. Diese meist sehr angesehenen Männer hatten insofern eine große Bedeutung als jeder von ihnen über seine eigenen bewaffneten Einheiten verfügte, die er im Konfliktfall dem Oberhaupt des Clans zur Verfügung stellen konnte. Dies war um so wichtiger, weil es bis ca. 1800 keine stehenden Heere im südlichen Afrika gab. In der politischen Realität bedeutete das, daß der Herrscher eines Stammes in seiner Machtfülle insofern eingeschränkt war, als er von der Unterstützung durch seine Unterführer abhängig war. Kam es zu Streitigkeiten, endeten diese im Regelfall mit dem Wegzug des Unzufriedenen. Trennung von der ursprünglichen Gemeinschaft war im übrigen ein völlig normaler Vorgang bei starkem Bevölkerungswachstum oder Nachfolgeauseinandersetzungen. All dies scheint in der Realität des Zusammenlebens eher dazu geführt zu haben, daß ein 11 Anders verhielt es sich mit dem Vieh, das individueller Besitz war und vor allem auch rituelle Bedeutung hatte.

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1. Kapitel: Problemstellung

Herrscher aus Furcht vor Mangel an Untergebenen Rücksicht auf die Bedürfnisse seines Volkes nahm. Darüber hinaus stand ihm ein aus hochgestellten Clanmitgliedern zusammengesetzter Konsultativrat zur Seite, der in Überlebensfragen des Stammes bis zu einer Art Volksversammlung ausgeweitet werden konnte. Das System von Abspaltung, Wegzug und neuer Landnahme funktionierte allerdings nicht auf Dauer, da zum einen natürliche Barrieren und zum anderen die Bevölkerungszunahme den Kampf um das jeweils beste Land zunehmend verschärften. Veränderungen hin zu einer intensiveren Wirtschaftsweise scheint es trotzdem nicht gegeben zu haben. So kam es im Verlauf des 17. und 18. Jh. zu zunehmenden Zentralisierungstendenzen in den politischen Organisationsformen. In diese Zeit fallen auch die ersten Kontakte mit den weißen Siedlern. Da die VOC das Kap als Versorgungsstützpunkt und nicht als Kolonie betrachtete, lag das Hauptinteresse der Kompanie nicht so sehr in Herrschaft über möglichst viel Land, sondern im Handel und der Versorgung. Die Teilnehmer an van Riebeecks Expedition zum Kap waren denn auch weniger als Siedler gedacht als vielmehr als Angestellte der Kompanie zur Versorgung der das Kap anlaufenden Schiffe. Da es sich bei diesen Menschen jedoch meist um Soldaten und Beamte handelte, waren die von ihnen erwirtschafteten Ernten nur äußerst spärlich, und da mit den Khoikhoi nicht viel zu tauschen war, bat van Riebeeck die Kompanie um Siedler, die auf eigene Rechnung arbeiten sollten, um so die Versorgung sicherzustellen. Dazu war die Kompanie jedoch nur in minimalem Umfang bereit; aus dieser Gruppe entstand die zweite Kategorie von Weißen am Kap: die Freibauern. 12 Der Strom von Siedlern aus Europa blieb jedoch äußerst spärlich, sieht man einmal von ca. 225 hugenottischen Einwanderern 13

12 Viele der Pioniere der Anfangszeit waren Bauern oder Viehzüchter. Gouverneur Willern Adriaan van der Stel (1699-1707) geriet mit ihnen in Konflikt über die Belieferung der Schiffe, die das Kap anliefen, da er auf seinen Plantagen einen erheblichen Überschuß erwirtschaftete, und er seine Monopolstellung nicht aufgeben wollte. In dieser Auseinandersetzung benutzte er den negativ gemeinten Ausdruck "Boer" oder Bure, um die störrischen Farmer zu beschimpfen, die allerdings fortan dieses Wort als Auszeichnung benutzten. 13 Nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes hatten ab 1685 ca. 80.000 Hugenotten Frankreich mit Ziel Niederlande verlassen. Die 225, die das Kap zwischen 1688 un 1700 erreichten, waren meist von einfacher Herkunft. Ihr Bindeglied in den ersten Jahren war ihr Pastor Pierre Simond Dauphine, der allerdings 1702 nach Europa zurückkehrte. Damit verschwand auch das Instrument der Gruppenkohäsion, nämlich die französiche Sprache. Ab Mitte des Jahrhunderts war das Französiche fast ganz durch das sich aus dem Niederländischen entwickelnden Afrikaans ersetzt

A. Historische Vorfonnung

21

ab, die in den Jahren 1687 und 1688 aufgrund einer Werbekampagne in den Niederlanden am Kap eintrafen. Hinzu kamen wenige Bedienstete der VOC, die sich nach Ablauf ihrer Vertragszeit in Asien oder auch am Kap dauerhaft niederließen. 14 Die rigide Wirtschafts- und Monopolpolitik der Kompanie führte bereits in den ersten Jahren nach der Gründung der Kapkolonie zu Klagen und scharfen Protesten der Freibauern. Auch die Einführung erster Sklaven durch van Riebeeck 1658 verschärfte das Verhältnis zwischen Kolonie und Bürgern weiter, da die Arbeit von Sklaven billiger war, was bedeutete, daß die Kompanie niedrigere Preise für die von ihr benötigten Produkte festsetzen konnte. Die Wirtschaftspolitik der Kompanie war auch ursächlich verantwortlich für das Entstehen der sogenannten Trekburen 15: Die besitzlosen Freibürger verließen die Kolonie vor allem deswegen, weil sie keine ihnen gemäße Arbeit finden konnten. Die Kompanie aber vergab großzügig Weidegebiete - nicht aber Ackerbauland, da der Bedarf an Getreide etc. gedeckt war - , und so war es in aller Regel für die Viehzüchter billiger, weiterzuziehen als durch Infrastrukturmaßnahmen die Weiden zu verbessern. So

worden. Zu finden sind allerdings auch heute noch französische Namen wie du Plessis, Roux, Lombard oder de' Villiers. 14 Ein Vergleich der Zahlen für die USA und das Kap belegt, daß das Kap kein Einwanderungsland war. So lebten in den USA in den 90er Jahren des 18. Jh. bereits 3 Millionen weiße Einwanderer; am Kap hingegen blieben die Zahlen der Freibürger äußerst niedrig: 1660 waren es 130 und im Jahr 1793 erst 13830. Zahlen nach Fisch, Geschichte Südafrikas, S. 57.

15 Das Wort Trekburen bezeichnet "umherziehende" (trekken =ziehen) Bauern, die als Jäger und Viehzüchter lebten. Ihre Lebensweise wird als primitiv und hart beschrieben, sie lebten von der Jagd und ihrem Viehbestand, waren aber nach wie vor auf die Zentrale in' Kapstadt für einen Teil des Lebensnotwendigen wie Waffen, Munition, Werkzeuge, etc. angewiesen. Die Expansion der Trekburen erstreckte sich in die Gebiete der einheimischen Khoisan und Khoikhoi, die sie teilweise versuchten, als Arbeitskräfte anzustellen. Die große Entfernung der Trekburen von jeglicher Zivilisation führte zu einer Verrohung der Lebensweise, die wohl nur in den wenigsten Fällen vorn Vorhandensein einer Bibel in jeder Familie aufgehalten wurde. Autoren wie Fisch und Du Toit schließen sich denn auch der These vom "Ausgewählten Volk", begründet auf dem Alten Testament, nicht an. Vgl. Fisch, GeschichteSüdafrikas, S. 87 und Du Toit, Andre, No Chosen People. The myth of the Calvinist origins of Afrikaner nationalism and racial ideology, in: American Historical Review, Vol. 88 (1983), S. 120-152. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Ideologie vom "Auserwählten Volk" nicht Rechtfertigung für politisches Verhalten im 19. und 20. Jh. werden konnte. Eine Unterscheidung wird allerdings zwischen den Trekburen und den sogenannten Voortrekkers gemacht. Dabei wird der Große Trek (ab 1834) nicht einfach nur als eine Fortsetzung der Lebensweise der Trekburen angesehen, sondern - vor allem in südafrikanischer Literatur - als ein Beispiel für den Kampf um die politische Eigenständigkeil der Voortrekkers von britischer Einmischung dargestellt. Vgl. Du Bruyn, J.T., The Great Trek, in: Cameron, Trewhella/Spies, S.B., (eds.), An illustrated History of South Africa, Johannesburg, Cape Town, 3. Aufl., 1988, S. 127 ff.

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1. Kapitel: Problemstellung

entsteht mit den Trekburen ein quasi nomadisierender weißer Stamm, auch wenn er nie völlig autark in seiner Lebensweise wurde. Diese Kolonisten nahmen mit ihrer Lebensweise - dem Trekken - ein außerordentlich großes, wenn auch keineswegs menschenleeres Gebiet in Besitz. Schon ab 1710 gab es mehr Sklaven als freie Bürger in der Kapkolonie. Das Sklavenhandelssystem der damaligen Zeit brachte in der Mehnahl Sklaven aus Ostafrika, aber auch einen beträchtlichen Teil Asiaten aus Indien, Ceylon und Indonesien. Diese letzte Gruppe stammte in aller Regel aus entwickelten, städtischen Gesellschaften und wurde deshalb meist als Haussklaven und Handwerker eingesetzt, wohingegen die Sklaven des afrikanischen Kontinents fast ausschließlich in der Landwirtschaft arbeiteten. Wie in anderen Kolonien auch war der Rechtsstatus eines Sklaven fest geregelt: Der Sklave galt nicht als Person, sondern als Sachbesitz, d.h. er konnte jederzeit verkauft werden; Sklaven konnten keine Ehen schließen, was dazu führte, .daß Familien immer wieder auseinandergerissen wurden, und Sklaven waren der Strafgewalt ihres Herrn unterworfen. Prinzipiell gab es drei Möglichkeiten für einen Sklaven, seinen Status zu verändern: 1.

die Freilassung durch den Herrn, die allerdings weit häufiger bei Asiaten als bei Einheimischen vorkam; aus dieser Gruppe entstanden die Freischwarzen, die den Freibürgern zumindest in der Anfangszeit der Kolonie gleichgestellt waren. Mit zunehmendem Klassen- und Rassenbewußtsein der Kapgesellschaft verschlechterte sich aber auch die Stellung dieser Gruppe wieder. Ihre Kinder, also die Kinder von Freigelassenen, wurden als Freigeborene bezeichnet und waren auch später noch den Freibürgern weitgehend gleichgestellt.

2.

die Heirat mit einem Freien, ein Ausweg, der vor allem Frauen offenstand. Die Kinder aus solchen Verbindungen wurden unbeschadet ihrer Hautfarbe als Freie angesehen.

3.

die Bekehrung zum Christentum, d.h. der Reformierten Staatskirche, die aber eine wesentlich geringere Rolle gespielt hat, als ursprünglich angenommen. So verlangte die Kirche z.B., daß Sklaven, die Christen geworden waren, nicht mehr verkauft werden durften, was lediglich dazu führte, daß kaum noch Sklaven getauft wurden.

Die Gruppenbeziehungen haben sich im Verlauf der Zeit drastisch gewandelt, so war es in der Anfangszeit der Kapkolonie nicht selten, daß Europäer und Sklavinnen Verbindungen eingingen, sicherlich auch als Resultat eines akuten Mangels an weißen Frauen. Aber auch Verbindungen zwischen Kolonisten im

A. Historische Vorfonnung

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Grenzland der Kolonie und Khoikhoi-Frauen waren nicht selten, ihre Kinder gehörten - auch ohne Ehe - zu den Freien. Aus solchen Verbindungen entstanden im Laufe der Zeit Mischlingsgruppen, die Bastards, die im 19. Jh. unter Mithilfe von Missionaren eigene Staaten, die Griqua-Staaten bildeten. 16 Die Bevölkerung am Kap bis zum späten 18. Jh. war eine Mischbevölkerung, an der alle beschriebenen Gruppen ihren Anteil hatten, in der alle Gruppen aber auch ihre Eigenständigkeit bewahrten und in der die Weißen nur wenige Mischlinge in ihre Gruppe aufnahmen. 17 Das Vordringen der Kolonisten im 18. und 19. Jh. aus der engumgrenzten Kapkolonie in die angrenzenden Gebiete führte zu einem Zusammentreffen mit den südwärts vorstoßenden Nguni-Völkern. Die Umwälzungen in den Staaten der Xhosa und Zulu führten dazu, daß die vormals kleinen Einheiten als Folge von Eroberungen zu größeren, zentralistischen politischen Staaten umgebildet wurden. 18 Die wichtigste Veränderung hierbei war der plötzliche Aufstieg des Zulu-Reiches unter König Shaka. 19 Diese Militärdiktatur begründete sich auf der Einführung sogenannter Altersregimenter (amabutho), in denen die wehrfähigen jungen Männer, nach Jahrgängen eingeteilt, Einheiten bildeten, in denen sie vom 16. bis zum 40. Lebensjahr verbleiben mußten. Der König herrschte durch seine Regimentsführer (indunas), die in aller Regel nicht den traditionellen

16 Zur Rolle der Griqua-Staaten siehe Bi1ger. Harald R., Südafrika in Geschichte und Gegenwart, Konstanz 1976, S. 117 · 124. Die drei Griqua-Staaten waren Gründungen von Missionaren, die versuchten, mit ihrer Arbeit vor allem denjenigen unter den Bewohnern - entwunelten Khoikhoi und Mischlingen -,die mit den Veränderungen des späten 18. Jh. nicht zurechtkamen, zu helfen. Die Griqua-Staaten waren eine Übergangserscheinung, die letztlich an den veränderten ökonomischen und sozial-strukturellen Bedingungen des 19. Jh., nicht zuletzt auch der Entdeckung von Diamanten im Griqua-Gebiet, zugrunde gingen.

17 Berechnungen ergeben, daß in der ersten Hälfte des 19. Jh. ca. 7 % der Vorfahren der afrikaanssprachigen Weißen nichteuropäischer Abstammung w~ren. Nach Fisch, Geschichte Südafrikas, S. 82. 18 Omer-Cooper spricht in diesem Zusammenhang von einem Prozeß "positiven politischen Wandels" und einer Adaption an die Ausnahmezustände der Periode der Umwälzungen des 19. Jh. Siehe Omer-Cooper, John, Aspects of political change in the nineteenth-century Mfecane, in: Thompson, Leonhard, African Societies in Southem Africa, London/Ibadan/Nairobi 1969, S. 200229. 19 Einige der Umstrukturierungen, die Shaka vornahm, hatten ihre Vorläufer bereits bei seinem Vorgänger Dingiswayo, der das Reich der Mthethwa führte, und Zwide, dem König der Ndwandwe. Diese beiden Reiche kämpften, nachdem sie jeweils andere kleinere Nachbarn besiegt hatten, Anfang des 19. Jh. um die Vornemchaft im Gebiet des fruchtbaren Hügellandes zwischen der Hochebene im Westen und dem Meer im Osten.

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I. Kapitel: Problemstellung

Adelsfamilien angehörten, sondern wegen ihrer Loyalität dem König gegenüber mit diesen Positionen ausgezeichnet wurden. Das gab dem König eine nahezu unbeschränkte Machtfülle.20 Die sich Anfang des 19. Jh. herausbildenden Reiche im südlichen Afrika, vor allem das Zulu-Reich, waren keine homogenen Einheiten von zu einem Stamm gehörenden Gruppen, sondern bestanden aus vielen kleinen zur Unterwerfung gezwungenen Gruppen unterschiedlicher Lebensweisen und Kulturen. Die durch Shaka mit militärischer Gewalt und Terror erzwungene Staatsbildung erfolgte auch ohne gemeinsame Sprache und Geschichte und ist - obwohl das ZuluReich 1887 formell aufgelöst wurde - bis heute insoweit erfolgreich, als die Zulus die Gruppe im gegenwärtigen Südafrika zu sein scheinen, die nach wie vor den größten politischen Zusammenhalt zeigt. Die politischen Veränderungen während der ersten Jahrzehnte des 19. Jh. werden durch zwei unterschiedliche Entwicklungen auf Seiten der weißen Siedler und der schwarzen Einheimischen gekennzeichnet. Auf Seiten der weißen Siedler kommt es zum Konflikt mit den neue Ansprüche erhebenden Briten, auf der Seite der Einheimischen kommt es zu dem, was als Difaqane oder Mfecane bezeichnet wird.2 1 Das letztere Phänomen von Vernichtung, Vertreibung und Unterwerfung führte zu einer völligen Umgestaltung der politischen Strukturen des südlichen Afrika, in vielen Fällen führte die erzwungene Bildung von Staaten dabei zur Volkbildung. Teilweise übernahmen die aus dem Chaos der Überlagerungen hervorgegangenen meist größeren Einheiten die Errungenschaften des ZuluKönigreichs unter Shaka. Mzilikazi, einer der Heerführer Shakas, setzte sich um 1821 mit seiner Gruppe von den Zulus ab und zog mit seinen von den Sothos Matabele genannten Anhängern nach Norden ins südliche Transvaal. Das NguniWort für Fremde "Ndebele" wurde von den umliegenden Völkern für Mzilikazi und seine Krieger verwandt, die auf ihrem Vormarsch die Siedlungen vieler kleinerer Stämme, aber auch die großflächig ohne Schutz angelegten Dörfer der

20 Weitere Kontrollmechanismen für den König waren das Verbot des Heiratens für Männer unter 40 Jahren, die Kasernierung der wehrfähigen Männer außerhalb der Dörfer und jährliche Beutezüge, die zum Teil Monate andauerten. Eine ausführliche Beschreibung der Methoden Shakas findet sich bei Wilsonflbompson, The Oxford History, Band I, S.336 ff.

21 Das Wort Difaqane oder auch Lifaqane ist ein Begriff aus der Sprache der Sotho und bedeutet "erzwungene Migration"; der Begriff Mfecane stammt aus dem Nguni und bezeichnet den Tatbestand des ZerrnahJens im Sinne eines totalen Krieges.

A. Historische Vorfonnung

25

Tswana überrannten und erst durch die überlegene Technologie der mit Pferden und Feuerwaffen ausgerüsteten Mischlinge und Khoikhoi aus den Griqua-Staaten gestoppt wurden. Endgültig wurden sie jedoch erst von den Voortrekkers 1836/37 geschlagen. Als Volk haben die Ndebele oder Matabele jedoch trotzdem überlebt, obwohl von der ursprünglichen Nguni-Gruppe, die das Zulureich verlassen hatte, durch das Absorbieren der eroberten Stämme, nur der kleinere Teil noch von Nguni-Ursprung war. Nach der Auseinandersetzung mit den Buren zogen sie ins heutige Zimbabwe, wo sie den Minderheitenstamm bilden. Zu einer weiteren Nationenbildung kam es unter dem Sotho-Führer Moshweshwe, dem es durch die günstige geographische Lage seines Zentrums auf dem großen Tafelberg Thaba Bosiu22 gelang, sich aus vielen militärischen Konfrontationen herauszuhalten. Marodierende Gruppen und Kannibalen konnte er in einem langsamen Prozeß davon überzeugen, sich ihm anzuschließen, indem er ihnen Vieh und Weideland im Tausch gegen Arbeits- und Kriegsdienste zur Verfügung stellte. Durch geschickte Diplomatie oder auch das Zahlen von Tribut an König Shaka überlebte er mit seinem Volk die Jahrzehnte der Zerstörung der Mfecane und konnte sich endlich auch gegen seinen schärfsten Rivalen Sekonyela, den Führer des Volkes der Tlokwa durchsetzen. Es bleibt bis heute umstritten, welches die Ursachen für die Mfecane, d.h. für den sozio-ökonomischen Wandel mit Staats- und Nationenbildung im südlichen Afrika waren, in dessen Verlauf das politische und demographische Bild der Region sich völlig veränderte, ganze Völker vernichtet wurden und andere entstanden. Hervorgehoben werden in der Literatur drei Möglichkeiten 23 für das Entstehen dieses Phänomens: 1.

die wirtschaftliche Ursache, d.h. die Auseinandersetzung verschiedener Gruppen über die Kontrolle des Handels und die Handelswege mit den Portugiesen in der Delagoa Bucht, da Handelsmonopole ein Mittel zur Kontrolle größerer Gebiete waren;

2.

die demographische Ursache, d.h. der Bevölkerungsanstieg führte im späten 18. Jh. zu einer verschärften Auseinandersetzung um knappe

22 Dieser Tafelberg im westlichen BaSotholand hat eine Oberfläche von ca. 1,5 qkm, auf der er sich bei Gefahr mit seinen Leuten verschanzen konnte. 23 Vgl. Maylam, A History, S. 29 ff. und Wilson[Thompson, The Oxford History, Band 1, S. 336 ff. und Edgecombe, Ruth, The Mfecane or Difaqane, in: Cameron/Spies, Illustrated History, S. 115-126.

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l. Kapitel: Problemstellung

Ressourcen, da die bis dahin geübte Praxis der Abspaltung von Teilen eines Stammes nicht mehr möglich war; verbunden hiermit waren offensichtlich ökologische Probleme wie Wasserknappheit; 3.

der Wandel in den politischen Strukturen, d.h. das System der Altersregimenter (amabutho) war nicht allein ein militärisches Prinzip, das zur Stärkung der Schlagkraft einer Armee diente, sondern führte eine soziale Umgestaltung herbei, da die amabutho auch wichtige Funktionen im Arbeitsprozeß erfüllten und so die Position des Königs stärkten.

Die Möglichkeit, daß die Veränderungen und Umgestaltungen in den schwarzen Staaten auf das Einwirken der Weißen, vor allem der Trekbauem und Voortrekkers, zurückzuführen sei, wird heute allgemein als gering angesehen, da sich die gravierendsten Umwälzungen in den schwarzen Systemen in großer Entfernung von den Grenzen der Kapkolonie ergaben und sich vor allem in der ersten Zeit des Wandels nur äußerst wenige Weiße in den entsprechenden Gebieten aufhielten. 24 Die Kriege und Beutezüge während der Periode der Mfecane, also von 1800 bis ca. 1835, die unter den Nguni-Völkem zur Transformation von kleineren in größere politische Einheiten geführt hatten, hatten aber auch weite Landstriche zwischen dem südlichen Hochveld, Transvaal und Natal nahezu menschenleer gemacht. Zwar lebten - versprengt und isoliert - kleinere Gruppen in diesem Gebiet, aber der Eindruck, den die ersten Vorausexpeditionen des Großen Treks in den Jahren 1834 und 1835 vermittelten, war der eines unbewohnten Landes. Dabei wurde sicherlich nicht berücksichtigt, daß die Könige Dingane und Mzilikazi diese Landstriche als ihr strategisches Hinterland betrachteten, um ihre Macht zu festigen. Auch mag es Flüchtlingsgruppen gegeben haben, die, wenn es die Umstände zulassen sollten, in dieses ihnen angestammte Gebiet zurückkehren wollten. Der Vorstoß der Voortrekkers in unbewohntes "leeres" Gebiet war eine aus ihrer Sicht nachvollziehbare Perzeption, die aber mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmte. Diese Perzeption sollte in den folgenden Jahren zu den vielfältigen Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Weißen führen, die in der Konsequenz die Beziehungen zwischen den Gruppen bis heute belasten.

24 Hier ist auch darauf hinzuweisen, daß die Veränderungen in der Struktur der Gesellschaften nicht auf "westliche überlegene" Technik zurückzuführen war, sondern auf originären Entwicklungen meist der Könige und Führer einzelner Gruppen, besonders von König Shaka, beruhten. So z.B. seine Einführung des schwertähnlichen Kurzspeeres und des großen Schildes.

A. Historische Vorlonnung

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Auf Seiten der weißen Siedler kam es Anfang des 19. Jh. ebenfalls zu einer großen politischen Veränderung. 1806 wird das Kap britische Kolonie25, auch wenn der offizielle Stichtag der Übergabe erst der durch Vertrag26 geregelte 13. August 1814 ist. Das Problem für die Briten wurde sehr schnell, daß sie am Kap eine inzwischen auf ca. 20.000 Menschen angewachsene, sehr homogene, niederländisch geprägte Bevölkerung vorfanden, die die Inbesitznahme durch die Engländer als Fremdherrschaft empfanden. 27 Hier liegt der Ursprung für eine weitere Fragmentierung der heutigen südafrikanischen Bevölkerung und letztlich die Ursache für den Großen Trek. Für die einen ein Akt der Kolonisation schwarzer Gebiete, für die anderen der Schritt zur Befreiung28 von der ungeliebten britischen Herrschaft ist der Große Trek in der südafrikanischen Geschichte ein einschneidendes Ereignis in bezug auf die Gruppenbeziehungen. 29 Die Probleme zwischen den niederländisch geprägten Einwohnern, vor allem den trekkenden Buren und der britischen Kapkolonie verschärften sich im Verlauf der Jahrzehnte. Nachdem zunächst noch die holländische Sprache und die niederdeutsch-reformierte Kirche beibehalten worden waren, fühlten sich die Kapbewohner durch die englische Gesetzgebung, insbesondere die sogenannte Hottentotten-Gesetzgebung30 und

25 Bereits im September 1795 hatten die Briten erstmals das Kap besetzt, gaben es aber im Frieden von Amiens an die Batavisehe Republik zuriick. 1806 setzten sie sich schon nach wenigen Gefechten durch und waren bedingt durch die damalige weltpolitische Lage nicht ein weiteres Mal bereit, diesen strategisch wichtigen Stützpunkt zuriickzugeben.

26 Durch Vertrag gab Großbritanien 1814 den Niederlanden ihren Kolonialbesitz zuriick, das Kap, ebenso wie Ceylon, wurde aber ausdrucklieh davon ausgenommen. 27 Hier lassen sich gewisse Parallelen zum französichen Teil Kanadas ziehen, den die Engländer 1763 erworben hatten und wo sie eine ähnlich homogene Bevölkerung vorlanden wie am Kap. Die Fragmentierung der kanadischen Bevölkerung in einen französischen und englischsprechenden Teil spielt bis in die Gegenwart eine herausragende Rolle und droht, die Einheit des Staates in Frage zu stellen.

28 Es ist bemerkenswert, daß in den Auseinandersetzungen zwischen Buren und Briten im vergangenen Jahrhundert, die Buren auf ihrem Konzept von Vryheid (Freiheit) beharrten wie die schwarzen Gruppierungen des 20. Jh. lnkululeko (nguni für Freiheit) fordern. Semantisch stehen der afrikaanse ebenso wie der nguni Begriff jeweils nur für "Freiheit der eigenen Gruppe". 29 Bilger spricht in diesem Zusammenhang von der Verschärlung des "Aufeinanderpralls von Schwarz und Weiß" und der "Entwurzelung der Schwarzafrilcaner". Vgl. Bilger, Südafrilca, S. l75. 30 Ausgelöst durch die englische Anti-Sklaverei-Gesetzgebung von 1808 wurde Sklavenhandel auf englischen Schiffen verboten, was erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf die Kolonie hatte. Das Gesetz von 1809 brachte amtliche Arbeitsverträge, Lohnzahlungen und vor allem einen Rechtstatus, mit dem Rechte auch vor Gericht (den sogenannten Black Circuits) eingeklagt werden

28

I. Kapitel: Problemstellung

das farbenblinde Wahlrecht31 , in ihrer wirtschaftlichen und politischen Handlungsfreiheit deutlich eingeschränkt. Das nicht vorhandene Recht auf die Eigengestaltung des politischen und wirtschaftlichen Rahmens, zusammen mit dem Wegfall des Monopols einer calvinistischen Staatskirche32, führte letztlich zum Auszug der Buren aus der Kapkolonie. Damit war der weitere Prozeß quasi programmiert. Nur wenig später kam es zur Gründung der Burenrepubliken und damit zu einer scharfen Gruppentrennung zwischen den Weißen in Engländer und Afrikaner33 oder Buren, die bis heute im politischen System Südafrikas zu einer nachhaltigen Fragmentierung führt. 34

konnten. Im Erlaß 50 (Ordinance 50) von 1828 schließlich wurde die Gleichsetzung von Schwarz und Weiß in ihren bürgerlichen Rechten festgeschrieben. was wiederum wirtschaftliche Auswirkungen hatte, da nun auch Schwarze über Landbesitz verfügen, sowie sich im Lande ungehindert bewegen konnten. 31 Zwar war das Wahlrecht nach der Verfassung von 1853 nicht an die Hautfarbe gebunden, war aber ein Zensuswahlrecht, gekoppelt an Immobilienbesitz von mindestens 25 oder ein Jahreseinkommen von 50 Pfund, was in der Praxis die Mehrheit der Weißen deutlich sicherte. Älmliche Vorkehrungen gab es auch im englischen Wahlrecht zur damaligen Zeit, auch in der Wahlrechtsreform von 1832 kam es nur zu einer Ausdelmung der Wählerschaft um ca. 200.000 Männer, da das Wahlrecht weiter an Eigentum und/oder Pacht von Immobilien mit 10 Pfund Jahresmindestwert oder Steuern gekoppelt blieb. Auch die zweite große Wahlrechtsreform von 1867 hob die Koppelung des Wahlrechts an Besitz nicht völlig auf, erst im Jahre 1949 fallen die Zusatzstimmrechte z.B. für Wohnungs- und Geschäftsinhaber, völlig weg. 32 Wie die Engländer im Rechtswesen das römisch-niederländische Recht durch den britischen Kodex ersetzt hatten, so hoben sie auch das Monopol der calvinistischen Staatskirche zugunsten der allgemeinen Glaubensfreiheit auf. Die Begründung dieser neuen Gesetze blieb den Buren total unverständlich, ja sie beleidigten gar ihren Glauben und ihre Religion, die tief in einem alttestamentarisch-patriarchalischen Lebensbild verwurzelt war. Die britische Gesetzgebung verstieß gegen den "natuurlijk onderscheid" (natürlichen Unterschied), den die Buren zwischen sich und den Eingeborenen sahen, da sie als Gottes auserwähltes Volk niemals mit den "Heiden" gleichgestellt sein konnten. Für eine detaillierte Analyse der religiösen Begründung des burischen Rassismus vgl. Meiertöns, Gerd, Religionsdogmatische Grundlagen der Politik der "getrennten Entwicklung" der Republik Südafrika, Magisterarbeit, Kiel 1990. 33 Der Begriff Afrikaner für die niederländisch sprechenden weißen Siedler des Kaps bürgert sich schon früh ein. Gebräuchlich sind zusätzliche Einfügungen in Namen wie Dirk Africanus de Beer (getauft 1690) oder Michiel Africanus Heyns (getauft 1697), um den Ort der Geburt zu bezeichnen. Bei de Klerk findet sich die Erzählung über einen jungen Mann, der sich bei einer Auseinandersetzung mit den Behörden im Jahre 1707 mit dem Ausruf verteidigt "Ik ben een Afrikaander." De Klerk, Willern A., The Puritans in Africa, A Story of Afrikanerdom, London 1975, unver. Nachdruck 1978 und 1988, S. 9.

34 Zum Selbstverständnis der Buren und zum Gruppenzusammenhalt, mitbedingt durch die Mystifizierung des Großen Treks als das Ereignis, das die Gruppe der Buren unbezwingbar machte, vgl. February, Vemon, The Afrikaners of South Africa, London/New York 1991.

A. Historische Vorformung

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Allerdings verließen in den ersten vier Jahren nach Beginn des Großen Treks bis 1840 nur wenige Tausend Weiße die Kapkolonie und auch in der Folgezeit war die Auswanderungsquote nie so hoch, daß die Mehrheit der niederländisch-, später afrikaans sprechenden35 Weißen in der Kapkolonie infragegestellt gewesen wäre. Die Vorstellung, alles Hab und Gut auf einen Ochsenwagen zu verpacken und in wenig erforschtes, unwirtliches Gebiet weit ab von anderen Siedlungen zu ziehen, stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung bei allen Bewohnern der Kapkolonie. Hinzu kam, daß die Reformierte Kirche den Auszug aus der Zivilisation als Flucht verurteilte und den Trekburen keine Geistlichen zur Verfügung stellte. Aus dieser Konstellation zweier Gruppierungen von afrikaans sprechenden Weißen - denen, die in der Kolonie blieben und denen, die trekkend eine neue Lebensmöglichkeit suchten - lassen sich noch heute politische Unterscheidungen in "lediglich" afrikaans sprechende Südafrikaner und Buren ableiten. Dabei verstehen sich die Buren als ein Volk mit einer "Volksaard", eigener Tradition, Kultur und Lebensweise. Hierin sind auch nach dem Einsetzen des Reformprozesses unter de Klerk die meisten der Vorschläge zur Teilung des Landes begründet, die in der Diskussion um das Neue Südafrika vorgetragen werden. Die drei Vorausexpeditionen waren mit unterschiedlich guten Nachrichten über geographische Hindernisse und die Lebensverhältnisse im Norden (Transvaal), Nordosten (Natal) und Nordwesten (westliche Wüstengebiete und heutiges Namibia) zurückgekommen, so daß letztlich von den auswanderungswilligen Buren zwei Möglichkeiten wahrgenommen wurden, nach Norden über den Oranje und nach Osten in das Gebiet südlich des Tugela mit der Aussicht, in Port Natal einen Hafen und damit Zugang zu den Weltmeeren zu finden. Die ersten Voortrekker hatten bald nach dem Verlassen36 der Kapkolonie mit den Einheimischen ernsthafte Zusammenstöße, obwohl das nördliche Gebiet durch die Mfecane besonders stark entvölkert war. Sie trafen auf die Ndebele

35 Das Afrikaans entwickelte sich aus dem Niederländischen des ausgehenden 17. Jh. durch eine Vennischung dieser Hochsprache mit Ausdrucken, die von asiatischen und einheimischen Sklaven benutzt wurden. Die Syntax wurde vereinfacht und ein gewisses Vokabular der Gegend aufgenommen. Die Engländer sprachen vom Kap-Niederländisch oder "Taal". Dieser Dialekt sollte zu einem der Instrumente des Afrikaner-Nationalismus werden.

36 Nicht alle Auswanderer verließen die Kapkolonie gleichzeitig. Die ersten waren Louis Tregardt und Hans van Rensburg, die sich Ende 1835 zu einer Gruppe von ca. 50 Weißen in neun Wagen mit ungefähr 3000 Schafen und 800 Rindern zusammenfanden; ihnen folgten Andries Hendrik Potgieter, der spätere konservative Begrunder von Transvaal und Gert Maritz, einer der Administratoren des Treks 1836.

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1. Kapitel: Problemstellung

unter Mzilikazi, mit denen es im Oktober 1836 zu einer ersten Schlacht kam. Wenige Monate später wurden die Ndebele dann vernichtend geschlagen und flohen über den Limpopo in den Norden, das heutige Zimbabwe. 37 Die größere Gruppe von Voortrekkers zog weiter nach Osten in das heutige Natal, wo sie sehr rasch auf König Dingane und seine Zulus trafen. Die Auseinandersetzungen ließen nicht lange auf sich warten. Obwohl die Buren Dingane zunächst militärisch unterstützten, kam es zur Ermordung Piet Retiefs und seiner Begleiter, als diese zur Unterzeichnung eines Vertrages in das Hauptquartier der Zulus eingeladen waren und endete in der sogenannten Schlacht arn Blutfluß (Blood River), in der die Trekker aus ihrem befestigten 'Laager' heraus mit ihrer überlegenen Technologie die zahlenmäßig deutlich überlegenen Zulus vernichtend schlugen.38 Dieses Ereignis fand arn 15./16. Dezember 1838 statt, und fortan wurde der 16. Dezember zum Nationalfeiertag der Buren. 39 Bereits kurz nach den für die Buren erfolgreichen Kämpfen mit den Einheimischen wurden die ersten Versuche einer politischen und sozialen Ordnung der Auswanderer unternommen. Piet Retief hatte in seinem Manifesto im Graharnstown Journal40 vor dem Verlassen der Kapkolonie eine Begründung für den Auszug der Buren gegeben, die im wesentlichen auf drei Elementen beruhte: 1.

dem Verlust, der den Buren durch die Befreiung der Sklaven und die Plünderungen durch "Kaffers" und "coloureds" zugefügt wurde;

37 Dort begrundeten sie ein neues Matabeleland, was allerdings auf Kosten der dort lebenden Shonabevölkerung geschah. Der damals entstandene Konflikt setzte sich nach der Staatsgriindung Zimbabwes in blutigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppen um die Vomemchaft im Regierungsapparat fort. Vgl. Rasmussen, R. Kent, Migrant Kingdom, London 1978. 38 Das Laager bestand aus einer aus Ochsenwagen kreisrund zusammengefügten Wagenburg, die im Inneren meist noch einen zusätzlichen kleinen Ring für Frauen und Kinder hatte. Das Phänomen des Eingekreistseins, d.h. von Feinden umgeben, spielt in der heutigen politischen Kultur des Landes nach wie vor eine bedeutende Rolle, allgemein wird von der Laagermentalität der Buren gesprochen.

39 Die herausragende Bedeutung dieses Tages im Denken der Buren wird durch das sogenannte Voortrekker-Denkmal in Pretoria unterstrichen, in dem eine bildliehe Darstellung der Ereignisse und Auseinandersetzungen mit den Zulus vorgenommen wurde. Als im Jahr 1990 wenige Monate nach seiner Legalisierung der ANC sein erstes nationales Treffen im Lande seit Jahrzehnten auf den 16. Dezember nach Pretoria einberief und einen Marsch zum Voortrekker-Denkmal ankündigte, löste dies vor allem unter den konservativen Buren einen Sturm des Protests aus. 40 Nachgedruckt in englischer Fassung in: de Klerk, The Puritans, S. 22-24.

A. Historische Vorfonnung

31

2.

dem Wunsch, nach den Prinzipien burischer Freiheit zu leben, zwar die Sklaverei nicht wieder einzuführen, aber ein geordnetes Verhältnis von "Herr und Diener" beizubehalten;

3.

dem Willen, sich fortan selbst zu regieren und nach den selbstgesetzten Prinzipien zu leben, vor allem auch der eigenen Religion.

Die Wirklichkeit nach dem Verlassen der Kolonie zeigte aber schon bald erste Probleme. Auf einer Versammlung der Emigranten im Juni 1837 in Winberg wurde eine Verfassung beschlossen, die folgende Merkmale beinhaltete: ein Parlament (Volksraad), gewählt von allen Auswanderern, die Verankerung des römisch-niederländischen Rechts, Abschaffung der Sklaverei, Gerichte, bestehend aus Landdrosten mit Berufungsmöglichkeiten vor dem Parlament, einer Exekutive, bestehend aus einem Commandant-General oder auch Governor, und der Vorschrift, unter Eid zu versichern, nie mit der Londoner Missionary Society41 Kontakt aufzunehmen. Erster Govemor wurde Piet Retief, ihm zur Seite stand Gert Maritz als Oberster Richter und Vorsitzender des Volksraads, aber andere angesehene Führer des Treks wie Andries Hendrik Potgieter und Piet Uys fühlten sich übergangen. Dies und die Unterschiede in der Durchführung der Politik bei

41 Bereits zu Beginn des 19. Jh. breitete sich ein Netz europäischer Missionsstationen in Südafrika aus. Die Herrenhuter Brüdergemeinde, die Londoner Missionary Society, die Pariser Mission, die Rheinische Mission, die Berliner Mission, die Church Missionary Society oder die Mission der Methodistischen Freikirche sind nur einige einer langen Liste von Missionen, die staike Aktivitäten in der schwarzafrikanischen Bevölkerung entfalteten. Dabei führte allerdings die Vielfalt und Konkurrenz der europäischen Missionen zu einer ebenso staiken Zersplitterung der christlichen Bekenntnisse in Südafrika wie in Europa. Da die verschiedenen Missionen bei unterschiedlichen Stämmen tätig wurden und in Konkurrenz um die besten Erfolgsmeldungen für zu Hause standen, verstäikte dies noch die Stammesgegensätze. Wichtiger jedoch war, daß die Missionsgesellschaften mit ihren Missionaren Personen entsandten, die keine Angehörigen der Niederdeutsch Refonnierten Kirche waren und somit auch keinen Zugang zum Glauben der Buren und ihrer Lebensart ganz allgemein fanden. Da viele Missionare sich als Fürsprecher und Anwälte der Schwarzafrikaner empfanden, Missionare und Buren aber wegen der liberalen Haltung der Missionare staikes Mißtrauen füreinander empfanden, verstäikte diese Beziehung automatisch auch das skeptische Verhältnis der Buren zu schwarzafrikanischen Christen.

32

I. Kapitel: Problemstellung

Fragen nach der Unabhängigkeit von Großbritannien42 oder dem besten Land für eine permanente Siedlung führten zur Trennung in die Gruppe um Potgieter, die sich im Hochveld niederließen und der größeren Gruppe um Retief, die in Natal den ersten unabhängigen Burenstaat begründeten. Für die Gruppenbeziehungen der folgenden Jahrzehnte bis heute ist hierbei wichtig, daß ein voll gleichwertiges Mitglied der Burengemeinschaften nur sein konnte, wer niederländisch bzw. afrikaans als Muttersprache hatte, von europäischer Herkunft war und zur Gruppe derjenigen gehörte, die die Kapkolonie verlassen hatten, um von den Engländern und ihren Gesetzen unabhängig zu sein. Auch wenn die erste Zeit der Unabhängigkeit nur wenige Jahre dauerte43 , bis die Briten erneut ihre Herrschaft über die "abtrünnigen" Buren ausweiten konnten, der Geist des Großen Treks, die 'Volksaard' der Buren, hatte eine nachhaltige Prägung für das politische Zusammenleben der Gruppen. Für die politische Konstellation des modernen Südafrika nach Übernahme der Macht durch die Nationale Partei 1948 hatte der Große Trek, wie Fisch argumentiert44 , eine weitere Bedeutung: Mit dem Auszug aus der begrenzten Kapkolonie und der Landnahme durch die Buren, die in einem weit größeren Umfang erfolgte als für das Überleben der weißen Siedler notwendig gewesen wäre, manövrierten die Weißen sich endgültig in eine Minderheitenposition, die es derart ausgeprägt in der Kapkolonie nie gegeben hätte. Erschwerend kommt hinzu, daß die Fragmentierung in burische Weiße und englische Weiße sich in den Jahrzehnten nach dem Großen Trek weiter verschärfte. Aus einem ursprünglich innenpolitischen Konflikt entstand die Auseinandersetzung zwischen Burenrepubliken und britischer Kolonie, die besonders dadurch belastet wurde, daß die Mehrheit der Weißen in der Kapkolonie auch nach dem Auszug der Voortrekkers burisch und nicht etwa englisch war.

42 Zwar hatten die Buren sich in ihrer Perzeption von Großbritannien unabhängig erklärt. doch war dies nie von den Briten anelkannt worden. Für die Briten blieben die Voortrekker formal britische Untenanen, wenn auch in der Praxis von einer Ausübung souveräner Rechte durch die Briten in den Gebieten jenseits der Kapkolonie kaum die Rede sein konnte. Zwar hatte man 1836 die Rechtsprechung über britische Untertanen bis zum 25. Breitengrad ausgedehnt, doch war dies eher ein Vorgehen ohne praktische Auswilkungen, da es jenseits der Kolonie weder britische Polizei noch Rechtsprechung gab. Die Diskussion unter den Führern des Großen T reks ging darum, ob man sich mit den Briten auf formale Unabhängigkeitsverhandlungen einlassen sollte oder den status quo beibehalten konnte. 43 Die Buren gründeten 1839 die Republik Natalia, wurden allerdings bereits 1842 von den Briten bekämpft, die 1845 Natal als Teil der Kapkolonie annektierten. 44

Fisch, Geschichte Südafrikas, S. 136 ff.

A. Historische Vorformung

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Das weitere Verhältnis zwischen Buren und Engländern wurde durch zwei Verträge aus den Jahren 1852 und 1854 bestimmt. Zu diesen Verträgen von SandRiver und der Bloomfontain Convention kam es nach erneuten Auseinandersetzungen, an denen neben Briten und Buren auch mehrere andere Parteien beteiligt waren. 1843 war es zu einer weiteren Staatsgründung durch die Voortrekker im Norden des Landes in den südlichen Gegenden des Vaal gekommen. Sie riefen eine Republik aus und beanspruchten das gesamte Gebiet zwischen Oranje und Vaal. Auch wenn dieser Anspruch weit von einer tatsächlichen Beherrschung des Gebietes entfernt war, so traf er doch britische Interessen. Diese annektierten 1848 nun ihrerseits das von den Buren beanspruchte Gebiet, indem sie die Buren militärisch schlugen. Allerdings wurde nur wenig später den Briten durch Häuptling Moshweshwe, der Ansprüche auf Teile dieses Gebietes geltend machte, eine vernichtende Niederlage beigebracht, die aber auch darauf zurückzuführen war, daß die Hauptkräfte der Briten im Osten der Kapkolonie gebunden waren. Dort war bereits 1850 eine neue Auseinandersetzung mit den Xhosa entbrannt, nachdem die Briten 1847/48 das Gebiet zwischen Keiskamma und Großem Kei annektiert hatten und hier Britisch Kaffraria ausgerufen hatten. Unter diesen Bedingungen drohte ein Aufstand der Buren, dem die Briten mit dem Vertrag von Sand River begegneten, in dem sie erstmals die Unabhängigkeit der Voortrekker anerkannten. Mit der Gründung der Burenrepubliken45 hatte sich die Konfliktstruktur herausgebildet, die Südafrika bis in die Gegenwart prägt: der Konflikt zwischen Afrikanern und Engländern, der Konflikt zwischen Schwarz und Weiß und der Konflikt zwischen den verschiedenen schwarzen Stämmen. Die folgenden Jahrzehnte sind vor allem durch eine Verschärfung dieser vorgezeichneten Konfliktlinien gekennzeichnet. Dabei sind wirtschaftliche Faktoren von besonderer Bedeutung: Mit der Entdeckung von Gold und Diamanten innerhalb der Burenrepubliken änderten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, und das Interesse der Briten an diesen Territorien wuchs. Damit wurde aber zugleich das sich langsam bessernde Verhältnis zwischen Burenrepubliken

45 Die endgültige Gründung erfolgte für die Republik Transvaal 1852 und für den Oranje Freistaat 1854. 3 Schumacher

34

1. Kapitel: Problemstellung

und britischen Besitzungen schlagartig beendet. 1867 waren nördlich des Vaal Diamanten gefunden worden, kurze Zeit später wurden noch reichere Vorkommen in der Gegend des heutigen Kirnberly entdeckt. Die Buren glaubten Anspruch auf beide Gebiete zu haben, ließen sich aber auf ein Schiedsverfahren ein, bei dem der britische Gouverneur von Natal die Gebiete den Griqua und Tswana zusprach, die sie wiederum umgehend an die Briten abtraten. Durch die Diamantenfunde und etwas später durch die Goldvorkommen, die sich die Briten ebenfalls zu sichern verstanden, hatten sie die wirtschaftliche Schlüsselposition zum gesamten Südafrika für sich beansprucht. Diese wirtschaftliche Vormachtstellung ließ sich aber nur durch die Hinnahme der erneuten Verschärfung des Konfliktes mit den Buren erreichen. 46 Aber diesmal fühlten sich nicht nur die Buren der beiden Republiken, sondern auch die in der Kapkolonie Verbliebenen von dieser Vorgehensweise der Briten hintergangen. Diese allgemeine Enttäuschung und Verärgerung hatte zur Folge, daß sich nun erstmals eine Gruppenidentität zu entwickeln begann,47 die die Konfliktsituation zwischen Engländern und Buren einer Verschärfung bis zu militärischen Auseinandersetzungen zuführte, die letztlich mit dem Sieg der Briten im sog. Burenkrieg von 1899-1902 endeten. Die mit äußerster Härte48 geführten Auseinandersetzungen dieser Zeit haben das Spannungsverhältnis zwischen Briten und Buren bis heute geprägt. Nach dem Sieg der Briten setzte jedoch auch eine Phase des Ausgleichs ein, die insbesondere ihren Ausdruck in der Durchsetzung und - wenn auch recht zögerlichen - Verbreitung der Anerkennung von Afrikaans als Schriftsprache

46 Die Auseinandersetzungen zwischen Briten und Buren in Transvaal von 1880-1881 bezeichnen die Buren als den ersten Freiheits- oder Unabhängigkeitskrieg. 47 Eine besondere Rolle spielte hierbei die Sprachenfrage. Seit Anfang der 60er Jahre des 19. Jh. war verstärkt eine Tendenz zur Verselbständigung des Afrikaans als Sprache der Buren zu verzeichnen. Das erste Buch aufafrikaanswurde 1861 veröffentlicht. Die Anglisierungsversuche der Briten hanen gerade auf dem Land wenig Erfolg gehabt, und auch die Gesetze, mit denen Englisch zum Unterrichtsmedium und vor allem zur einzigen Amtssprache gemacht worden war, waren auf wenig Verständnis gestoßen. Zur Rolle des Afrikaans als Ventil des Widerstandes gegen die Briten und als Instrument, sich als einheitliches Volk mit eigener Kultur durchzusetzen, vgl. Februacy, The Afrikaners, Kapitel "A Culture of the few", S. 73 ff.

48 Hierzu gehören zum Beispiel die Konzentrationslager der Briten, in denen wegen der äußerst schlechten Lebensbedingungen ca. 28.000 Frauen und Kinder starben oder auch die Zerstörung von fast 30.000 Bauernhöfen und das Niederbrennen der Ernten, um die militärischen Kommandos der Buren von ihrer Versorgung abzuschneiden.

A. Historische Vorfonnung

35

und Sprache des täglichen Gebrauchs 49 fand. Dies war - neben der Frage der Gewährung des Wahlrechts an Nicht-Weiße, die erst später nach der Einführung der Selbstregierung der Provinzen entschieden wurde - eine Voraussetzung dafür, daß die ursprünglich britischen Besitzungen Kap und Natal mit den Burenrepubliken Transvaal und Oranje 1910 zur Südafrikanischen Union als Teil des britischen Commonwealth zusammengeführt werden konnten. Dabei spricht vieles für die Hypothese, daß der erneute Versuch des Ausgleichs zwischen Briten und Buren von den jeweiligen politischen Eliten auch deshalb angestrebt wurde, weil man den Gegensatz zur schwarzen Mehrheitsbevölkerung als das langfristig vorrangige Problem erkannte.50 Dafür spricht auch die Tatsache, daß es 1877 zum neunten und letzten Krieg der Briten an der Ostgrenze mit den Xhosa kam, in dem diese vernichtend geschlagen wurden. Als 1894 auch noch das Gebiet der Pondo von den Briten unter massivem Druck annektiert worden war, war die Brücke zu Natal geschlagen und das Gebiet der Briten durchgehend arrondiert. 1879 kam es im Norden zum Krieg mit den Zulus, den die Briten unter erheblichen eigenen Verlusten gewannen; das Zulugebiet wurde zunächst britische Kronkolonie und wurde dann im Jahr 1897 Natal zugeschlagen. Damit waren alle schwarzen Staatswesen51 so vernichtet oder demoralisiert, daß es kaum noch nennenswerten Widerstand gab. Der Sieg der Briten über die verschiedenen schwarzen Völkerschaften -wie übrigens auch schon der Buren gegen die Zulus in der Schlacht am Blood River - war in erster Linie das Ergebnis ihrer überlegenen militärischen Technologie. Die Vereinigung des Territoriums zur Südafrikanischen Union führte aber auch dazu, daß die isoliert lebenden schwarzen Stämme in Kontakt zueinander traten. Damit wurde die zahlenmäßige Überlegenheit aller Schwarzen gegenüber Briten und Buren zu einem vorausseilbaren politischen Problem.

49 Die Verfassung von 1910 sah die Gleichberechtigung des Niederländischen mit dem Englischen vor, allerdings wurde das Niederländische als Hochsprache mehr und mehr vom Afrikaans verdrängt, das sich im Verlauf des 19. Jh. auch zu einer Schriftsprache entwickelt hatte. Allerdings stammt die erste Bibelübersetzung erst aus dem Jahre 1933 und 1937 lag erst das erste Gesangbuch in Afrikaans vor. 50

Vgl. Fisch, Geschichte Südafrikas, S. 180 und S. 214 ff.

51 Die Ausnahme bildete Basotholand, dem es gelang, den Briten derart Widerstand zu leisten,

daß es zu einer von London aus verwalteten Kronkolonie mit erheblicher Autonomie wurde und 1968 als Lesotho unabhängig wurde. 3•

36

I. Kapitel: Problemstellung

In den Jahren nach 1910 wurde die Südafrikanische Union von den Briten dominiert. Die folgende Entwicklung ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: die Herausarbeitung des Systems der getrennten rassischen Entwicklung durch eine Vielzahl von Gesetzen, die die Grundstrukturen des späteren Apartheidsystems legen; 52 die Herausbildung einer Dichotomisierung im wirtschaftlichen Bereich zwischen Engländern und Buren. Eines der Ergebnisse der Burenkriege war eine Verwüstung großer Teile des Landes und damit verbunden eine Verarmung von großen Teilen der burischen Bevölkerung. Mit der einsetzenden Industrialisierung nahmen diese armen Weißen an dem wirtschaftlichen Aufschwung nicht teil, und so kam es erneut aus ökonomischen Gründen zu einer Verschärfung der Konfliktlinien: Insbesondere in den Gold- und Diamantenminen wurden in verstärktem Umfang "billige" schwarze Arbeitskräfte eingesetzt, die damit zu einer Konkurrenz für die weißen und das heißt überwiegend burischen Arbeitskräfte wurden. 53 Das bedeutet, daß die wirtschaftliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jh. einerseits den Konflikt zwischen Engländern und Buren verschärfte; andererseits ergab sich auch ein neues Konfliktpotential zwischen Schwarzen und Weißen, hier jedoch vornehmlich zwischen Schwarzen und Buren, was sich später auf die politische Grundhaltung von Engländern, Buren und Schwarzen auswirkte: Die politischen Eliten der Briten, die das Wirtschaftssystem weitgehend kontrollierten, nahmen in dem später einsetzenden Reformprozeß zur Überwindung

52 Beispielhaft seien hier nur genannt: Minesand Works Act von 19 11: Trennung der Rassen am Arbeitsplatz. Schwarze können keine gelernte Arbeit mehr leisten; Native Land Act von 1913: Beginn der Homelandpolitik, kein Schwarzer darf außerhalb der Homelands Land erwerben; Native Urban Areas Act von 1923: Verbot für Schwarze in weiße Städte zu ziehen, Paßzwang zur Durchsetzung von Zuzugsbeschränkungen; Immorality Act von 1927: Verbot geschlechtlicher Beziehungen zwischen den Rassen; Representation of Natives Act von 1936: Ausschluß der Schwarzen in der Kapprovinz vom Wahlrecht; Native Trust and Land Act von 1936: Festlegung der Grenzen der heutigen Homelands, Siedlungsgebiete der Schwarzen umfassen nun 13,7% der Gesamtfläche Südafrikas. 53 So verstand sich die kommunistische Partei nach ihrer Gründung zunächst als eine Interessenvertretung dieser weißen Arbeiterschaft. In der Rand-Revolte von 1922 gab es Spruchbänder mit Slogans wie "Proletarier aller Länder vereinigt Euch für ein weißes Südafrika." in: Kühne, Winrich, Südafrika und der weiße Stamm der Afrikaaner: Ein Problem von Autonomie besonderer Art. in: Senghaas, Dieter (Hrsg.), Regionalkonflikte in der Dritten Welt, Baden-Baden 1989, S. 241-279. Mit der Entstehung einer burischen Arbeiterklasse fanden die Afrikaner sich in einer Situation, die "dem alttestamentarischen Verständnis des Afrikaanertums von einem Herr-Knecht-Verhältnis zwischen Weiß und Schwarz widersprach." S. 253.

A. Historische Vorformung

37

der Apartheid eine Vocreiterrolle ein, weil für sie die Bedeutung der schwanen Arbeitskräfte für das Funktionieren der modernen Industriegesellschaft Südafrika vorrangig war. Die politische Dominanz der Briten endete nach einer Entwicklung von Parteispaltungen, Parteivereinigungen und Neugründungen mit der Wahl von 1948, in der die Nationale Partei der Buren unter dem calvinistischen Geistlichen Daniel Malan eine Mehrheit gewann, die sie bis in die Gegenwart behauptet hat. Die NP-Regierungen nutzten ihre politische Macht zu einer rechtlichen Verfestigung und Ausweitung des unter britischer Dominanz eingeleiteten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems, das als Apartheid weltweit bekannt wurde. Es umfaßt im wesentlichen drei Elemente: I.

den Ausschluß der nicht-weißen Bevölkerung von der Beteiligung am politischen System,

2.

die wirtschaftliche Diskriminierung der nicht-weißen Bevölkerung durch die Reservierung bestimmter beruflicher Positionen ausschließlich für Weiße und

3.

die soziale Diskriminierung der nicht-weißen Bevölkerung durch zahlreiche Maßnahmen54, von denen die Reservierung bestimmter Wohngebiete für die einzelnen ethnischen Gruppen die nachhaltigste Wirkung gezeigt hat.

Dieses System führte zunächst zum Austritt Südafrikas aus dem Commonwealth und später zu der weltweiten Ächtung des Landes, die ihrerseits dann wieder die Refonnbestrebungen ausgelöst haben, die seit Ende der 80er Jahre zu der Diskussion und den Verhandlungen über die ordnungspolitischen Konturen des "Neuen Südafrika" geführt haben.

54 Für einen Überblick über die Ausgestaltung des Systems der Apartheid und der entsprechenden Gesetzgebung siehe Pose!. Deborah, TheMakingof Apartheid 1948-1961, Conflict and Compromi se, Oxford 1991; vgl. auch Debroey, Steven, South Africa under the Curse of Apartheid, Lanham/New York/London 1990.

38

1. Kapitel: Problemstellung

B. Fragestellung: Politikwissenschaft als Verfassungstechnologie Dieser kurze historische Überblick zeigt, daß die Ursache für die Entwicklung des Konzepts der getrennten (parallelen) Entwicklung der Gruppen in drei Faktoren zu sehen ist: 1.

den ökonomischen Interessengegensätzen,

2.

dem daraus abgeleiteten politischen Dominanzstreben und

3.

dessen religiöser Fundierung.

Seit den Anfängen der UN ist die Problematik der Rassendiskriminierung erörtert worden. 1 Größere internationale Aufmerksamkeit und Kritik fand diese Entwicklung jedoch erst, als Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre auch in Afrika der Prozeß der Entkolonialisierung begann. Geraqe die innenpolitische Kritik an der Kolonialpolitik in den Kolonialländern war in der Unvereinbarkeit dieser Politik mit den auf die internationalen Beziehungen übertragenen Demokratieprinzipien begründet: Wie die Gleichheit aller Menschen als Stimmbürger die Demokratie kennzeichnet, so sollte die Gleichheit aller Nationen die , neue internationale Ordnung prägen. In der Charta der Vereinten Nationen von 1945 wurden diese Prinzipien formuliert. 2 Dabei waren es gerade die Vereinigten Staaten, die Druck auf ihre Verbündeten ausübten 3, sich von ihren Kolonialreichen zu trennen, da Kolonialpolitik unvereinbar mit dem Legitimationsanspruch einer demokratischen Regierung sei.4

1

Eingehend dazu De1bJiick, Jost, Die Rassenfrage als Problem, S. 39-143.

2

"Wir, die Völker der Vereinten Nationen - fest entschlossen, ... , unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,..." Charta der Vereinten Nationen, Präambel. "Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder." Art. 2,1. 3 Ein besonders herausragendes Beispiel ist hier das Abstimmungsverhalten des amerikanischen UNO-Botschafters Adlai Stevenson im März 1961, als er der Angola-Resolution zustimmte, die Portugal aufforderte, in den Kolonien Reformen einzuleiten und sie auf die Unabhängigkeit vorzubereiten. Daraus entwickelte sich später der Streit um die Nutzungsrechte der portugiesischen Basen durch die amerikanischen Streitkräfte im Rahmen der NATO und das teilweise Einlenken der USA gegenüber Portugals kolonialer Anspruchshaltung gegenüber seinen Besitzungen in Afrika. Vg!. Leimgruber, Walter. Kalter Krieg um Afrika. Dieamerikanische Afrikapolitik unter Präsident Kennedy 1961-1963, Stuttgart 1990, S. 92 ff. 4 Ein ähnliches Legitimationsproblem belastete die Atlantische Allianz in ihrem Anspruch, Frieden und Freiheit zu sichern, solange einzelne Mitgliedstaaten in Form von autoritären Systemen

B. Fragestellung: Politikwissenschaft als Verfassungstechnologie

39

Zusammen mit Unabhängigkeitsbestrebungen in den Kolonien löste dies den Prozeß der Entkolonialisierung aus, der erst 1974 mit dem Umsturz in Portugal einen weitgehenden Abschluß fand, und der den portugiesischen Kolonien, insbesondere Angola, Mocambique und Guinea-Bissau, die Unabhängigkeit brachte. Gegenüber dieser internationalen Entwicklung erschien die Situation in Rhodesien und Südafrika immer mehr als ein Anachronismus. In beiden Ländern regierten zwar keine ausländischen Kolonialmächte, sondern Regierungen der weißen Minderheiten, was aber für die betroffene schwarze Bevölkerung keinen Unterschied bedeutete. Dies gilt insbesondere für Rhodesien, wo die weiße Regierung von britischen Siedlern gestellt wurde, die durch ihren Austritt aus dem Commonwealth am 11. November 19655 der Entkolonialisierung Rhodesiens zuvorzukommen suchten. Dieser Versuch scheiterte jedoch. 1980 wurde nach langjähriger militärischer Auseinandersetzung aus Rhodesien Zimbabwe. Die historische Entwicklung in Südafrika ist komplizierter. Hinzu kommt ein zweiter wesentlicher Unterschied: In Rhodesien lebten zur Zeit der Machtübergabe etwa 250 000 weiße Siedler6 , für die es die reale Option einer Emigration nach Südafrika gab, von der viele Gebrauch machten. In Südafrika gibt es dagegen ca. 5 Millionen Weiße und damit keine reale Option der Emigration. Mit der Machtübernahme durch Robert Mugabes ZANU-PF (Zimbabwe African National Union- Patriotic Front) in Zimbabwe war Südafrika in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit gerückt, ja fast zum Paria der inter-

organisiert waren: so z. B. Portugal bis 1974, die Türkei von 1971 bis 1973 und von 1980 bis 1983 und Griechenland von 1967 bis 1974. Aus dem gleichen Grund stand für Spanien die Möglichkeit eines Beitritts erst an, als der Übergang zur Demokratie gelungen war. In diesem Zusammenhang ist auch auf die heftige innenpolitische Kritik in den USA an enger außenpolitischer Kooperation und diktatorischen Systemen zu verweisen. 5 Unter der Führung von I an Smith wurde der Austritt in Form einer "Unilateral Declaration of Independence" vollzogen. Dies wurde in Afrika durchweg als eine Herausforderung durch die weißen Siedler empfunden, die damit auch ihrer Mißachtung der Grundrechte der schwarzen Bevölkerung Ausdruck gaben. Vgl. zur Entkolonialisierung der afrikanischen Staaten des Commonwealth Mansergh, Nicholas, Das Britische Commonwealth, Entstehung-Geschichte-Struktur, München 1969, S. 629·679.

6 Seit 1981 sollen ca. 180 000 weiße Bewohner das Land verlassen haben. Inzwischen wurde das Auswandern insoweit erschwert, als bei Emigration lediglich ein Betrag von 1000 Zimbabwe Dollars (ca. DM 345,--) ausgeführt werden darf und das übrige Vermögen in Form von Regierungsanleihen noch zwanzig Jahre nach Verlassen des Landes in Zimbabwe verbleiben muß.

40

I. Kapitel: Problemstellung

nationalen Politik geworden. Zunächst waren es nur die sogenannten Frontstaaten7, also die südafrikanischen Anrainerstaaten, die, gefolgt von zahlreichen Entwicklungsländern, aber auch den OPEC-Staaten Druck auszuüben versuchten, was jedoch für die Situation Südafrikas von untergeordneter Bedeutung war. 8 Erst als Mitte der 80er Jahre auch die USA und die Europäische Gemeinschaft wirtschaftliche Sanktionen gegen Südafrika erließen, häuften sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Lande. 9 Stellt man vor diesem Hintergrund die Frage an die weiße in Südafrika regierende Schicht, warum denn nicht auch in Südafrika das demokratische Recht, daß alle Stimmbürger unabhängig von der Hautfarbe gleich sein sollten, verwirklicht ist, so erhält man drei Antworten: 1.

Im Prozeß der Entkolonialisierung hätten mit Ausnahme Portugals die früheren Kolonialmächte ihre Kolonien in der Form in die Unabhängigkeit entlassen, daß sie mit einer mehr oder weniger gut vorbereiteten Verwaltung in eine parlamentarische Demokratie nach Vorbild des Mutterlandes 10 mündeten. Mit Ausnahme Senegals und Kenias - was gerade auch im Hinblick auf Kenia mehr und mehr zweifelhaft er-

7 Die Front Line States (FLS) sind ein Zusammenschluß der Länder Angola, Botswana, Mocambique, Sambia, Tansania und Zimbabwe.

8 Die gegen Südafrika verhängten Maßnahmen blieben anfänglich vor allem deswegen ohne größere Wirkung. weil sie kontinuierlich von einer Anzahl von Staaten unterlaufen wurden, bzw. es Südafrika gelang, die beabsichtigten Wirkungen durch Gegenmaßnahmen minimal zu halten. 9 Vgl. Meese, Hubert K., Sanktionen gegen Südafrika, in: Maull, Hanns W.,(Hrsg.), Südafrika Politik-Gesellschaft-Wirtschaft vor dem Ende der Apartheid, Opladen 1990, S. 297-334. 10 Dies kann an drei kleineren Staaten exemplifiziert werden. So z.B. im Falle Surinams, das 1975 in die Unabhängigkeit entlassen wurde; die Verfassung sah ein Einkammersystem nach niederländischem Muster vor; der Putsch 1980 führt zu einer Militärdiktatur, seit 1987 gibt es ein Präsidialsystem mit dominierendem Einfluß der Militärs. Als Beispiel einer ehemals französichen Kolonie kann Mauretanien gelten, das 1960 in die Unabhängigkeit entlassen wurde und eine Verfassung nach dem Vorbild der V. französichen Republik erhielt. Bereits 1961 kommt es zu einer Entmachtung der Nationalversammlung bei gleichzeitigem Machtzuwachs des Staatspräsidenten, der ebenfalls Regierungschef wird. 1965 wird die Einparteiherrschaft durch Verfassungsänderung durchgesetzt, 1978 kommt es dann zum Militärputsch, ein weiterer erfolgt 1984. 1991 werden Demokratisierungsmaßnahmen angekündigt. Als weiteres Beispiel kann Sierra Leone gelten; das Land wurde 1961 in die Unabhängigkeit entlassen, 1967 kam es zum Militärputsch, ein weiterer, der allerdings scheiterte, folgte 1971; durch eine neue Verfassung im Jahr 1978 wurde der Einparteistaat festgeschrieben, seit 1985 gibt es wieder eine Militärherrschaft, die durch friedliche Machtübergabe erfolgte.

B. Fragestellung: Politikwissenschaft als Velfassungstechnologie

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scheine 11 - seien all diese Demokratien jedoch nach recht kurzer Zeit in Diktaturen umgeschlagen und hätten blutige Auseinandersetzungen, die in der Regel durch Stammeskonflikte ausgelöst waren, die Politik dieser Länder gekennzeichnet. Die beiden positiven Ausnahmen Senegal und Kenia - verdienten auch nur sehr bedingt dieses Prädikat, da es auch in Kenia de facto ein Einparteiensystcm 12 gäbe und da im Senegal die Stammesverteilung so sei, daß die seit der Unabhängigkeit im Jahre 1960 regierende Partei die Wahlen stets mit mehr als 2/3 der Stimmen gewinnt. 13 Aus dieser Entwicklung wird der Schluß gezogen, daß die in den westlichen Demokratien entwickelten demokratischen Ordnungsformen offensichtlich nicht für Schwarzafrika geeignet seien. So sei die weiße Bevölkerung Südafrikas seit langem demokratisch organisiert, woran seit 1983 auch die Gruppen der Asiaten und Mischlinge partizipierten. Zur Einbeziehung der Schwarzen müßten andere Formen gefunden werden. 2.

Diese aus der historischen Erfahrung abgeleitete Schlußfolgerung wird untermauert durch die Besonderheiten der tradierten schwarzafrikanischen Stammeskultur, der das Denken in Konkurrenz und Mehrheitsentscheidungen fremd sei. 14 Anstelle des politischen Wettbewerbs, der

11 Vgl. Krabbe, Günther, Die Stammeskämpfe in Kenia breiten sich aus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. April 1992. 12 Im Dezember 1992 fanden die ersten Mehr-Parteien-Wahlen in Kenia seit 27 Jahren stan. Vgl. Hellma!Ul, Hartmut: Wahlen in Kenia, Rückblick, Verlauf, Ergebnisse, in: KAS, auslandsinformationen, März 1993, S.33-47. Hellmann zeigt auch die Schwachstellen des Wahlprozesses deutlich auf. In wie weit die mit den Wahlen eingeleitete Entwicklung mittelfristig in einen institutionalisierten politischen Pluralismus münden wird, ist noch nicht abzuschätzen. 13 Senegal wurde 1960 unabhängig, seit diesem Zeitpunkt bis 1976 naMte sich die regierende Partei Union Progressiste Senegalaise (UPS), seit 1976 Parti Socialiste Senegalais (PSS). Unter Senghor erreichte die Regierungspartei bei Wahlen zur Nationalversammlung zwischen 85% im Jahr 1963 und 100% der abgegebenen Stimmen im Jahr 1973, bei Präsidentschaftswahlen zwischen 90% im Jahr 1963 und ebenfalls 100% im Jahr 1973. Unter Diouf bei Wahlen zur Nationalversammlung 1983 und 1988 80% der abgegebenen Stimmen; bei Präsidentschaftswahlen 83,33% im Jahr 1983 und 73,2% im Jahr 1988.

14 Molema vergleicht das politische und soziale System der Bantu mit dem Ideal Rousseaus: "Anyone acquainted with the Bantu social state willbestruck by its approximation to Rousseau's conception of the ideal social compact. Anyone unacquainted with the Bantu or their social organisation. as represented by a tribe, will get a good idea of it if he imagines it identical with Rousseau's conception." Molema, S.M., The Bantu, Past and Present, An Ethnographical &

42

I. Kapitel: Problemstellung

westliche Demokratien kennzeichne, sei in der politischen Kultur Schwarzafrikas das Konsensprinzip verankert: Nach langer und intensiver Debatte eines Problems, in dem beginnend mit dem Jüngsten entsprechend der Hierarchie alle Beteiligten ihre Meinung artikulieren, träfe der Stammesälteste eine Entscheidung, die sich an dem kleinsten gemeinsamen Nenner orientiere und die dann von allen anderen mitgetragen würde. Gäbe es dennoch wenige, die diese Entscheidung nicht mitlliigen, so verliessen sie den Stamm. Die überall in Schwarzafrika nach der Dekolonialisierung zu beobachtende Tendenz zu einem Einparteiensystem, 15 zumeist als Folge des Zusammenschlusses der von den Kolonialherren ererbten verschiedenen Parteien, sei Ausfluß dieser politischen Kultur. Aus dieser Argumentation ergibt sich dann ebenfalls, daß die westliche Konkurrenzdemokratie für die schwarze Bevölkerung Südafrikas nicht geeignet sei. Da aber Südafrika auch eine komplexe moderne Industriegesellschaft ist und sich darin von allen schwarzafrikanischen Staaten unterscheide, sei der langwierige Willensbildungsprozeß nach dem Konsensprinzip der Stammestradition nicht effizient genug, um dem Politikbedarf solch komplexer Gesellschaften zu genügen. 3.

Dieses Konsensprinzip sei im übrigen auch mit dem Wertesystem einer westlichen Demokratie unvereinbar. In diesen Demokratien beruht die Möglichkeit der Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen durch die jeweilige Minderheit in der Chance des Machtwechsels, also in der Möglichkeit, daß als Ergebnis freier Wahlen die Minderheit von heute die Mehrheit von morgen wird. In dem aus dem Konsensprinzip abgeleiteten Einparteiensystem gäbe es diese Möglichkeit ex defrnitione nicht. Bei dieser Argumentation ist der Begriff Minderheit durch kein äußeres Merkmal wie Religion, Ethnizität usw. definiert, sondern ergibt sich allein aus der jeweiligen politischen Situation. Dies ist zugleich die Grundlage dafür, daß ein Machtwechsel als Folge veränderter politi-

Historical Study of the Native Races of South Africa, Edinburgh 1920, S. !34f. Eine Beschreibung des politischen Systems der Bantu findet sich im Kapitel Manners and Customs, S. 113-133. 15 Vgl. die Studie von Sartori, Giovanni, Parlies and party systems, A framework for analysis, Vol. I, Cambridge/London 1976, bes. das Kapitel "The African Iabyrinth", S. 248-254 mit seinen Tabellen Nr. 29 und 31.

B. Fragestellung: Politikwissenschaft als Verfassungstechnologie

43

scher Positionen möglich wird. Darüber hinaus gibt es jedoch auch in fast jeder westlichen Demokratie strukturelle Minderheiten 16, deren Schutz ein essentieller Bestandteil der Demokratie ist, ein Schutz, der über die Möglichkeit des Auswandems, wie das für die Stammeskulturen gilt, deutlich hinausgeht. 17 Dieser Schutz ist auch mehr als die Garantie individueller Menschenrechte, beispielhaft sei nur der Unterhalt von gesonderten Schulsystemen, z. B. für die Dänen (Südschleswiger) in Deutschland und die Südtiroler in Italien genannt. Diese Argumente kann man nicht einfach mit dem Machtinteresse der Weißen im allgemeinen und der Afrikaner im besonderen vom Tisch wischen. Es ist vielmehr zu fragen, ob es nicht westliche Arroganz ist, die ein politisches System, das in ihren Ländern vor dem Hintergrund einer mindestens zweieinhalbtausendjährigen überlieferten Geschichte seit gut hundert Jahren besteht, zur Meßlatte der Bewertung politischer Systeme macht, die einen völlig anderen sozio-kulturellen Hintergrund haben. Dies gilt für die schwarzafrikanischen Staaten ebenso wie z.B. für die islamischen. Das Problem Südafrikas ist, daß es das einzige Land der Welt ist, in dem große Bevölkerungsgruppen, die diesen unterschiedlichen sozialkulturellen Traditionen entwachsen sind, in einem politischen System zusammenleben. Gegen diese Aussage wird häufig eingewandt, daß insbesondere die urbanisierte schwarze Bevölkerung sich von den schwarzafrikanischen Traditionen gelöst habe und "verwestlicht" sei. Inwieweit dies der Fall ist, ist eine empirische Frage. Unbestritten ist jedoch, daß die nicht-urbanisierte schwarze Bevölkerung, und das sind je nach Definition ländlicher Lebensform zwischen zwei Dritteln und der Hälfte, in den tradierten Strukturen leben. In der Literatur wird in Bezug auf Südafrika häufig der Begriff "multikulturelle Gesellschaft" verwendet. Demgegenüber wird in der Soziologie betont, daß

16 Für die unterschiedlichen Methoden zum Schutz struktureller Minderheiten vgl. Fawcen, James, The International Protection of Minorities, Minority Rights Group Report No. 41, London 1979 und Palley, Claire, Constitutional Law and Minorities, Minority Rights Group Report No. 36, London Aprill978, Nachdruck Aprill987. 17 Die großen Auswanderungswellen aus Europa, die zur weißen Besiedlung Nordamerikas führten, hatten eine wesentliche Ursache -neben wirtschaftlichen Gründen - darin, daß es in dieser vorkonstitutionellen Periode diesen Schutz struktureller Minderheiten nicht gab. Das beste Beispiel für einen solchen fehlenden Minderheitenschutz ist die Formel des Friedens von Münster und Osnabrück, der 1648 den 30jährigen Krieg beendete: Cuius regio, eius religio. Dieses bereits im Augsburger Religionsfrieden von 1555 den Reichsständen zugesprochene Recht, die Religion ihrer Untertanen zu bestimmen, ließ den religiösen Minderheiten nur die Option des Auswandems.

44

1. Kapitel: Problernstellung

dieser Begriff ein Widerspruch in sich ist. Zu den Merkmalen einer Gesellschaft gehört danach eine einheitliche Kultur. 18 Da, wie noch zu zeigen sein wird, in Südafrika mehrere Kulturen nebeneinander leben, ergibt sich aus diesem soziologischen Verständnis von der Einheitlichkeit von Kultur und Gesellschaft, daß der Staat Südafrika aus mehreren Gesellschaften besteht. Dies ist freilich ein Problem, das es nicht nur in Afrika sondern in vielen Teilen der Welt gibt, in denen die Grenzziehungen das Ergebnis kolonialer Machtinteressen sind, die auf die gewachsenen traditionellen gesellschaftlichen Strukturen keine Rücksicht genommen haben. Es ist eine offene Frage, ob sich in diesen Gesellschaften ein Prozeß des "nation-building" entwickeln wird, der letztlich zu einer Übereinstimmung von Staat und einer kulturell einheitlich geprägten Gesellschaft führt oder ob es zu einer Sezession der einzelnen Bevölkerungsfragmente kommt, wie das 1967 mit Biafra versucht wurde und 1993 mit Eritrea geschehen ist. Aus politikwissenschaftlicher Sicht handelt es sich um unterschiedlich begründete Konfliktlinien, deren Überwindung, bzw. Kanalisierung um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, die verfassungstechnologische Herausforderung ist. Aus dieser Problemdefinition ergibt sich die Fragestellung dieser Arbeit: Gibt es Verfassungsmodelle, d. h. gibt es eine politische Form 19 , die ein friedliches, gleichberechtigtes, demokratisch organisiertes Zusammenleben dieser unterschiedlichen Kulturen, die sich in den schwarz/weißen, englisch/burischen und internen schwarzen Gegensätzen widerspiegeln, ermöglicht. Dies aber ist kein spezifisch afrikanisches, sondern ein allgemeines demokratietheoretisches Problem: Ist Demokratie ein Luxus für wenige mehr oder weniger homogene Gesellschaften, wie dies die Realität der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen signalisiert, die kaum zu einem Viertel aus Demokratien besteht? Oder gibt es Möglichkeiten, auch fragmentierte Gesellschaften mit einem hohen internen Konfliktpotential so zu verfassen, ihnen also eine politische Form zu geben, daß die normativen Zielsetzungen der Demokratie realisiert werden können?

18 Siehe dazu beispielhaft Endruweit, Günter, Aussiedler - Auf Dem Weg Von Einer Gesellschaft Zur Anderen, in: Joachim Sikora (Hrsg.), Aussiedler Als Herausforderung Und Auftrag Für Die Deutsche Gesellschaft, Bad Honnef/Rhein 1991, S. 13-43.

19 Der Begriff wird verwandt im Sinne von Hermens, vgl. Hermens, Ferdinand A., Verfassungslehre, Bd. 7, Demokratie und Frieden, Köln, Opladen, 1968, S. 3-10. Siehe auch Kaltefleiter, Werner, Politische Form, in: Wildenrnann, Rudolf (Hrsg.), Form und Erfahrung, Ein Leben für die Demokratie, zum 70. Geburtstag von Ferdinand A. Hermens, Berlin 1976, S. 173-180.

B. Fragestellung: Politikwissenschaft als Verfassungstechnologie

45

Dieser Fragestellung liegt die Hypothese zugrunde, daß menschliches Verhalten im allgemeinen und politisches Verhalten im besonderen durch zwei Gruppen von Variablen geprägt ist:

1.

die sozio-kulturellen/sozialstrukturellen, die sog. 'Cleavages' 20 und

2.

die institutionellen Faktoren21 , also jene Regeln, die die Prozesse der Willensbildung, Machtbildung, -ausübung und -kontrolle wirksam und nachhaltig bestimmen.

Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Variablengruppen ist, daß die erste das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung und somit durch politische Entscheidungen nicht kurzfristig veränderbar ist. Die zweite Gruppe dagegen ist das Ergebnis politischer Entscheidungen, wobei allerdings einzuräumen ist, daß der Entscheidungsspielraum in diesem Bereich theoretisch nahezu unbegrenzt, in der Wirklichkeit allerdings durch die erste Gruppe der Variablen erheblich eingegrenzt ist: Auch die politischen Entscheidungsträger, Wähler wie politische Eliten, sind natürlich selbst auch Teil ihrer eigenen Geschichte. Dieses Konzept der Interdependenz von sozio-kulturellen und sozio-strukturellen Variablen einerseits und institutionellen Variablen andererseits ergibt sich aus dem kritisch rationalistischem Verständnis von sozialwissenschaftlicher Theoriebildung wie es bahnbrechend von Sir Karl Poppe~2 und in Deutschland vor allem von Hans Albert23 entwickelt worden ist. Dieser Ansatz geht davon aus, daß es eine allgemeine Theorie in den Sozialwissenschaften nicht

20 Vgl. Lipset, Seymour Martin/Rokkan, Stein, Oeavage Structures, Party Systems, and Voter Alignements: An Introduction, in: dies., Party Systems and Voter Alignements: Cross-National Perspectives, New York/London, 1967, S.l-64.

21 Kalteileiter definiert Institutionen in Anlehnung an die Verwendung in der Soziologie als "Prozeßregler"; vgl. Kaltefleiter, Wemer, Doppelbegriff, Die Bedeutung politischer Institutionen, in: Die Neue Ordnung, Nr. 2 (April) 1988, S. 95-104, hier S. 95. Anders Carl J. Friedlich, Politik als Prozeß der Gemeinschaftsbildung. Eine Empirische Theorie, Köln, Opladen 1970. Er definiert: "Eine politische Institution ist ein gefestigtes Machtgebilde, in dem sich die Konformität des Verhaltens nach festen Regeln vollzieht, d.h. sie ist zu einer Gestalt (configuration) geworden." S. 30. 22 Popper, Kar! Raimund, Das Elend des Historizismus, I. Aufl. Tübingen 1%5 (Übersetzung nach der englischen 2. Buchauflage von The Poverty of Historicism, London 1960).

23 Albert, Hans, Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Bd. 93, 1957, wieder abgedruckt in: Topitsch, Ernst (hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln 1972, S. 126-143, bes. III. Quasitheorien und das Problem der Relativierung.

46

1. Kapitel: Problemstellung

oder zumindest noch nicht gibt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, für Teilbereiche sogenannte "Quasi-Theorien" zu entwickeln, d. h. die Gültigkeit der Aussagen auf bestimmte Bedingungen zu relativieren. Dabei gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: die sogenannte analytische Relativierung (Tautologisierung), die die Aussagen letztlich inhaltsleer macht, die historische Relativierung (Historisierung), die die Aussagen auf ein Raurn/Zeitkoordinatensystem beschränkt, und die strukturelle Relativierung (Nomologisierung), die angibt, unter welchen Bedingungen Raum/Zeit-ungebunden eine Aussage gilt. Die letztere ist allein für eine sozialwissenschaftliche Theoriebildung fruchtbar. Für den Bereich der Politik bedeutet dies die Relativierung der politikwissenschaftlichen Aussagen auf den jeweiligen institutionellen Rahmen. Anders formuliert: Ein Parteiensystem ist nicht das einfache Spiegelbild der Konfliktstruktur eines Landes, sondern der Umsetzung dieser Konfliktstruktur durch politische Institutionen, wie z. B. Wahlrecht, Formen der Parlamentsauflösung, Regeln der Parteifinanzierung und vieles mehr. 24 Nur ein solches Wissenschaftsverständnis rechtfertigt die Einordnung der politischen Wissenschaft in die Gruppe der "Sciences", um auf die im englischsprachigen Raum übliche Unterscheidung zwischen "Sciences" und "Arts" zu verweisen, die es im Deutschen in dieser Form nicht gibt. Sozialwissenschaftliche Aussagesysteme in diesem Sinne sind dann jederzeit umformulierbar in technologische Empfehlungen; diese sind im Sinne von Popper als "Wenn ... , dann ...-Sätze" zu formulieren, wobei der "Wenn-Satz" die jeweilige Zielsetzung, der "dann-Satz" die zur Erreichung dieses Zieles notwendigen Mittel oder Instrumente enthält. Angewandt auf das Beispiel25 der Konstruktion eines Staudammes bedeutet dies, daß die Funktion des Dammes (der "Wenn-Satz"), also die Staufähigkeit einer bestimmten Wassermenge, seine Konstruktionsweise in Form und Material (der "dann-Satz") bestimmt. Entsprechende Beispiele lassen sich aus dem Bereich der Politik formulieren, wobei zusätzlich Bedingungen zu formulieren sind, die in dem Staudammbeispiel sehr einfach zu erkennen sind, nämlich der Druck der Menge des gestauten Wassers.

24 Vgl. Kaltefleiter, Wemer, Politische Fonn, in: Wildenmann, Fonn und Erfahrung, S. 178.

25 Popper benutzt das Beispiel eines Fadens, der bei Belastung eines bestimmten Gewichts reißt. "Für jeden Faden einer gegebenen Struktur s (die durch Material, Durchmesser usw. bestimmt ist) gibt es ein charakteristisches Gewicht w , so daß der Faden reißen wird, wenn man irgendein w übersteigendes Gewicht an ihm aufhängt". Popper, Historizismus, S. 96.

B. Fragestellung: Politikwissenschaft als Verfassungstechnologie

47

Dementsprechend kann man bezogen auf die Politik formulieren: Wenn man unter den Bedingungen einer fragmentierten Sozialstruktur (der "politische" Wasserdruck) ein Vielparteiensystem will (gewünschte Staumenge), dann ist dazu ein Verhältniswahlsystem (Konstruktionsform des Staudammes) das geeignete Instrument. Diese technologische Empfehlung (Verhältniswahlsystem) beruht auf der Hypothese oder Quasi-Theorie, daß ein Verhältniswahlrecht die Konfliktstrukturen weitgehend ungefiltert in die Parlamente transformiert. Auf die Problematik Südafrikas bezogen heißt das, daß die formulierte Fragestellung, unter welchen Bedingungen ein friedliches, gleichberechtigtes, demokratisch organisiertes Zusammenleben dieser unterschiedlichen Kulturen möglich ist, zunächst die theoretische Frage beantworten muß, wie sich unter den Bedingungen der Sozialstruktur Südafrikas (Druck der Wassermenge) die unterschiedlichen Institutionen (Konstruktionsform des Staudammes) im Hinblick auf die formulierte Zielsetzung (Stau einer bestimmten Wassermenge) und das heißt in diesem Fall konkret demokratische Regierungsweise verwirklichen läßt. Wie es in den Naturwissenschaften zum Beispiel eine angewandte Physik nur auf den Grundlagen der theoretischen Physik gibt, so kann es verfassungspolitische Empfehlungen, d. h. eine Verfassungstechnologie nur auf der Grundlage einer Theorie der politischen Institutionen oder einfach einer Verfassungstheorie geben. Eine solche Verfassungstheorie unterscheidet sich grundsätzlich von der Verfassungsdogmatik,26 die im Staatsrecht entwickelt wird. Diese geht von abstrakten vorgegebenen Prinzipien aus, z. B. Gewaltenteilung oder Souveränität des Parlamentes und deduziert daraus konkrete Verfassungsempfehlungen, ohne

26 Im Staatsrecht versteht man unter einer Verfassung" ... die rechtliche Grundordnung und das grundlegende Instrument politischer Machtkontrolle des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft." So Stein, Erwin, Verfassungsrecht, in: Görlitz, Axel (Hrsg.), Handlexikon der Rechtswissenschaft, München 1972, S. 493-497, hier S. 493. Gegenstand des Verfassungsrechts könne nur die materielle Verfassung, nicht aber die sozio-kulturelle Gesamtverfassung sein. "Dieser Begriff des Gesamtzustandes sozio-kultureller Einheit und Ordnung erweist sich wegen seiner Unbestimmtheit fürdie verfassungsrechtliche Betrachtung als unbrauchbar." ebd. S. 493. Der Gegensatz zwischen Verfassungstheorie und -dogmatik begründet sich auf dem staatsrechtlichen Primat des Rechts: Das Entscheidende einer Verfassung wird weniger in ihrer politischen und soziologischen Wirkung gesehen, als vielmehr in sich selbst. Ursache hierfür ist das einseitige Denken in Kategorien der Rechtsverbindlichkeit Anders Grimm, der den Begriff der empirischen Verfassung verwendet und anerkennt, daß mit " ... der Verengung des Verfassungsbegriffs auf das Verfassungsgesetz hat ja die reale Verfassung nicht aufgehört zu bestehen. Die bleibt vielmehr in denjenigen sozialen Gegebenheiten präsent, die sich in politische Macht ummünzen lassen." Vgl. Grimm, Dieter, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a.M. 1991, S. l8ff.

48

1. Kapitel: Problemstellung

danach zu fragen, wie die so gefundenen Verfassungsregelungen sich tatsächlich auf das menschliche Verhalten und das heißt konkret auf die Prozesse der Willens- und Machtbildung, der Machtausübung und -kontrolle auswirken. Es wäre freilich verfehlt, anzunehmen, eine solche Verfassungstheorie käme ohne normative Vorgaben aus. Aus der Fragestellung ergibt sich, daß es sich nicht um eine beliebige Verfassungstheorie, sondern um eine Theorie einer demokratischen Verfassung handelt. Mit der demokratischen Zielsetzung aber ist die normative Vorgabe angesprochen. Durch die Anwendung einer bestimmten Verfassungstheorie, also der Verfassungstechnologie auf eine entsprechende Sozialstruktur, ergibt sich jeweils eine konkrete Verfassungswirklichkeit.27 Die Umsetzung dieses wissenschaftstheoretischen Konzepts in die Fragestellung nach der Möglichkeit demokratischer Regierungsweise für Südafrika verlangt somit zunächst eine Analyse der Sozialstruktur (Druck der zu stauenden Wassermenge, um im Bild zu bleiben), um daran anschließend zu diskutieren, welche institutionelle Anordnung geeignet ist (also die Konstruktionsweise des Staudammes), das Ziel demokratischer Regierungsweise zu verwirklichen. Dieser wissenschaftstheoretischen Begründung stehen jedoch erhebliche Begrenzungen in der Umsetzung gegenüber. Dabei ist vor allem auf zwei Faktoren zu verweisen: 1.

Empirisch verläßliche Informationen über die sozio-kulturellen und sozio-strukturellen Bedingungen der südafrikanischen Gesellschaft sind nur bedingt verfügbar. Zwar gibt es die üblichen Daten von Volkszählungen in modernen Industriegesellschaften, repräsentative Erhebungen auf der Grundlage von Individualdaten über die weiße, asiatische, farbige und urbanisierte schwarze Bevölkerung, aber der so wichtige Teil der tradierten politischen Kultur der schwarzen urbanisierten wie nichturbanisierten Bevölkerung ist durch verläßliche quantitative Erhebungsmethoden nur unzureichend erfaßt.

2.

Die vorhandenen Theorien - oder besser Quasi-Theorien - über die Wirkungsweise politischer Institutionen entstammen fast ausschließlich den Beobachtungen in den modernen westlichen Industriegesellschaften

27 Zum Begriff siehe zum Beispiel die von Ferdinand A. Hermens herausgegebene Schriftenreihe "Verfassung und Verfassungswirklichkeit", Köln, Opladen 1966 ff; vgl. auch den einleitenden Artikel zu dieser Schriftenreihe, ders., Verfassung und Verfassungswirklichkeit, in: ebd. Band 1, Jahrbuch 1966, S. 7-13. Ein alternativer Begriff in der Literatur ist dazu der von Dolf Steroberger geprägte Begriff "Lebende" oder "lebendige Verfassung", vgl. Stemberger, Dolf, Lebende Verfassung, Studien über Koalition und Opposition, Meisenheim am Glan 1956.

B. Fragestellung: Politikwissenschaft als Verfassungstechnologie

49

und teilweise ihren vorkonstitutionellen Vorläufern. Bei ihrer Anwendbarkeit auf die sozialstruktureilen Bedingungen Südafrikas ist deshalb besondere Behutsamkeit gefragt. Unabhängig davon verdeutlicht dieses Problem jedoch eine grundsätzliche Schwierigkeit der Sozialwissenschaften im allgemeinen und der politischen Wissenschaft insbesondere, dem kritsch rationalistischen Anspruch einer "Science" gerecht zu werden: Der Laborversuch als Grundlage der naturwissenschaftlichen Methode steht in der Regel den Sozialwissenschaften nicht offen. An seine Stelle kann nur das Bemühen treten, die Wirkungsweise von Institutionen unter unterschiedlichen Bedingungen zu beobachten. Daß sich dabei Unschärfen und Unsicherheiten ergeben, ergibt sich von selbst. Wichtiger aber ist, daß die beinahe beliebige Veränderbarkeil einer Versuchsanordnung im Labor in den Sozialwissenschaften nie besteht: Die Beobachtung der vielfältigen Realität ist in diesem Sinne eben kein Ersatz für ein Experiment, das den Sozialwissenschaften nie zur Verfügung steht. Der Irrtum in der Entwicklung einer Verfassungstechnologie wird von den betroffenen Menschen mit sozialen Kosten bezahlt, die gerade nach einem demokratischen Normensystem nicht vertretbar sind. Besonders die Geschichte Schwarzafrikas nach der Entkolonialisierung bietet dafür reichliches Anschauungsmaterial. Auf Südafrika bezogen bedeutet dies für die Fragestellung dieser Untersuchung: 1.

Welchen politischen "Wasserdruck" gilt es zu stauen, d.h. welche Konfliktstrukturen prägen die Gesellschaft?

2.

Welche institutionellen Regelungen sind geeignet, dieser Aufgabe gerecht zu werden?

Dabei wird undiskutiert als Zielfunktion unterstellt, daß es den politischen "Wasserdruck" zu stauen gilt, d.h. ein friedliches Zusammenleben aller Menschen in Südafrika in einer politischen Ordnung, die dem demokratischen Wertesystem entspricht, zu ermöglichen. Die verfassungspolitischen Vorstellungen der verschiedenen Gruppen des Landes sind an dieser Zielsetzung zu messen.

4 Schwnacher

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft Der Versuch einer Operationalisierung des bildhaften Begriffs des "politischen Wasserdrucks" führt zu den Konfliktlinien einer Gesellschaft. Diese können unterteilt werden in historisch gewachsene Gegensätze, also die sogenannten 'Cleavages' und die Einstellungen zu zentralen Fragen des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens, wobei allerdings diese Einstellungen häufig, aber nicht immer durch die historische Vorformung der 'Cleavages' geprägt wird. Schon die historische Entwicklung legt für Südafrika die Hypothese einer fragmentierten Gesellschaft nahe, die empirische Frage ist, ob diese Hypothese bestätigt oder verworfen werden kann. Alle verfassungstechnologischen Überlegungen sind l'art pour l'art, wenn sie sich nicht auf einen solchen empirischen Befund beziehen. Man kann eben nicht sinnvoll über die Konstruktionsweise eines Staudammes diskutieren, wenn man den Druck des zu stauenden Wassers nicht kennt. Der Begriff "fragmentierte Gesellschaft" wirft in den einschlägigen Wissenschaftsgebieten zahlreich diskutierte Definitionsfragen auf: Was ist ein Fragment einer Gesellschaft? Diese Frage ist aus den Perspektiven der einzelnen Fachwissenschaften sehr unterschiedlich zu beantworten. Unter politikwissenschaftlicher Fragestellung lassen sich grundsätzlich zwei Ansätze unterscheiden: Der eine hebt auf mehr oder weniger "objektiv" erkennbare Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen ab, der andere bezieht sich auf die Perzeption von Gruppenzugehörigkeiten, wie immer diese entstanden sein mögen. Hautfarbe, Religion, Riten, Geschichte und Tradition gelten als einige der Faktoren, die zur Perzeption von Zusammengehörigkeit geführt haben, sie können Trennung bewirken, müssen dies freilich nicht. 1 Dabei besteht allerdings ein enger Zusammenhang zwischen

1 Das im deutsch-dänischen Konflikt nach JahrhWlderten entwickelte Konzept der Selbsteinordnung erscheint unter diesem Aspekt als das geeignete Instrument der Konfliktlösung. Vgl. Kopenhagen-Bonner ErkläfWlg vom 29. März 1955. Vgl. auch die Entschließung des Minderheiten-Forums auf Einladung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, in dem es heißt: "Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder Volksgruppe bestimmt sich nach dem Willen des Individuwns", Die Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages (hrsg.), Minderheiten in Europa, Landtagsforum am 7. JWli 1991, o.O., o.J., S. 63. Dem entspricht die theoretische Kategorie der Einordnung in eine Gruppe durch 4•

52

2. Kapitel: Die mehrlach fragmentierte Gesellschaft

beiden Ansätzen: Die sogenannten objektiven Merkmale sind die häufigsten, ganz ohne Zweifel aber nicht die einzigen, die zu subjektivem Trennungsempfinden führen. Dieses kann sich allerdings bei Konstanz der objektiven Faktoren im Zeitablauf ändern: Der Konfessionsgegensatz in Deutschland ist dafür ein überzeugendes Beispiel, er war zwar nicht die einzige Ursache des 30jährigen Krieges, aber doch ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Konfliktstruktur bis in die sechziger Jahre des 20. Jh. Seitdem ist er politisch nahezu irrelevant - anders als zum Beispiel in Nordirland. Aus politikwissenschaftlicher Sicht hat die Definition von Gruppenzugehörigkeit auf der Grundlage von Selbstperzeption den Vorteil, daß sie im Zeitablauf mühelos veränderbar und damit zur Konfliktlösung offen ist. Aus diesem analytischen wie verfassungstechnologischen Grund gehen die folgenden Überlegungen von dem auf Selbstperzeption beruhenden Gruppenbegriff aus und lassen die Frage, ob eine Gruppe Stamm, Ethnie oder gar Nation ist, bewußt offen. Politisch wichtig ist nicht eine derartige Klassifizierung, sondern die interne Kohäsion und Abgrenzungswilligkeit einer Gruppe gegenüber anderen Teilen der Gesellschaft und damit der Grad ihrer freiwilligen subjektiven Bereitschaft zur Einordnung in einen Staat. Dies ist gerade für Schwarzafrika von Bedeutung, wo die in der Regel willkürlichen kolonialen Grenzziehungen auf gewachsene "natürliche" soziale Einheiten, z.B. Stämme, keine Rücksicht genommen haben. 2

Selbstperzeption. Vgl. auch die definitorische Aufarbeitung bei EIwert, der vom "Kriterium der Selbstzuschreibung" spricht; Elwert, Georg: Nationalismus, Ethnizität und Nativismus - über die Bildung von Wir-Gruppen, in: Waldmann, Peter/Elwert, Georg (Hg.): Ethnizität im Wandel. Saarbrücken, Fort Lauderdate 1989, S. 21-60, hier S. 34. Die Apartheid-Politik basierte dagegen auf der bürokratischen Zuordnung zu vorgegebenen Kategorien, wobei die häufige Umsortierung die Problematik dieses Konzeptsam besten illustriert.Noch im Jahre 1988 stellten 1.142 Menschen einen Antrag auf Umklassifizierung zu einer anderen Gruppe, von diesen Anträgen wurden 867 positiv beschieden, der Rest abgelehnt. 362 Personen wurden für weiß erklärt. Vgl. South African Institute of Race Relations (hrsg.), Race Relations Survey 1989/90, Johannesburg 1990, S. 39. Erst 1991 wurden die rechtlichen Grundlagen für diese bürokratische Kategorisierung abgeschafft. 2 Dies führte dazu, daß sich unterschiedliche Stämme in eirwr politischen Organisationseinheit wiederlanden, so daß heterogene Strukturen künstlich zu einem Staat zusammengefügt wurden. Treffendes Beispiel hierlür ist Nigeria mit den mostemischen Haussa-Fulani im Norden, den Yoruba, die meist Animisten, selten auch Christen sind im Südwesten und den christlichen Ibo im Südosten. Der entgegengesetzte Fall findet sich bei den Ovambos, vor allem ihrem größten Stamm, den Kwanyama, der als Folge der Berliner Konferenz der Kolonialmächte von 1884-85 zweigeteilt wurde, so daß heute jeweils etwa die Hälfte der Ovambos in Angola bzw. Namibia lebt. Forderungen einer Wiedervereinigung sind bislang ohne Konsequenzen geblieben und werden dies auch bleiben, solange die Grenze zwischen Namibia und Angola durchlässig ist. Vgl. Baynham, Simon, Security Issues in Africa, Geopolitics, Natural Resources and Domestic Conflicts, in: Kaltefleiter, Wemer/Schumacher, Ulrike (eds.), Conflicts, Options, Strategies in a Threatened World, Kiell992, S. 141 -175.

A. Formale Merkmale der Fragmentierung

53

A. Formale Merkmale der Fragmentierung Das Außenbild der südafrikanischen Gesellschaft ist durch den Gegensatz zwischen Schwarz und Weiß gekennzeichnet. Dies ist aus der geschichtlichen Entwicklung leicht erklärbar,3 entsprichtjedoch nicht der sozialen Realität gerade auch im Selbstverständnis der Menschen. Die südafrikanische Gesellschaft ist weit über die Ausdifferenzierung, die auch konfliktgeladene Gesellschaften, seien sie nun industrialisiert oder noch in einem Entwicklungsstadium, durch vielfältige Gegensätze gekennzeichnet, die den Begriff der Fragmentierung4 rechtfertigen. Dabei ist insbesondere auf fünf Konfliktlinien zu verweisen:

1.

der Gegensatz zwischen den normalerweise als ethnisch bezeichneten Gruppen,

2.

der Gegensatz zwischen Stadt und Land,

3.

der Gegensatz im Bildungsniveau, im Wohlstandsgefälle und in Formen politischer Artikulation, die eng miteinander zusammenhängen,

4.

die Gegensätze in den Einstellungen zu zentralen Fragen des Wertesystems, der sozialen und politischen Ordnung und

5.

die wechselseitigen Vertrauens- oder besser Mißtrauensbeziehungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen, wobei für die Frage der Chance des friedlichen Zusammenlebens die Frage offengelassen werden kann, ob es sich bei den einzelnen Gruppen um Stämme, Ethnien oder Nationen handelt. Empirischer Tatbestand ist die Gruppenkohäsion und ihre Abgrenzung von anderen Gruppen, wie zu belegen ist.

I. Die sozialstatistische Ausdifferenzierung der Gesellschaft Der Gegensatz zwischen den ethnischen Gruppen geht weit über das SchwarzWeiß-Klischee hinaus. Schon innerhalb der Weißen gibt es den geschichtlich geprägten und heute noch lebendigen Gegensatz zwischen den Afrikanern und

3 4

Vgl. I. Kapitel: A. Historische Vorformung.

Ähnliche Begriffe finden sich z.B. bei Horowitz, dervon der "deeply divided society", spricht; vgl. Horowitz, Donald L., A Democratic South Africa, Constirutional Engineering in a Divided Society, Berkeley, Los Angeles 1991. Im südafrikanischen Sprachgebrauch findet sich häufig der Terminus "highly segmented society" oder auch "ethnically divided society", vgl. die Veröffentlichungen des Human Seiences Research Council, z.B. van Vuuren, et. al. (eds.), South Africa in the Nineties, Pretoria 1991.

54

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

den Engländern. 5 Nach den Zahlen des Official Yearbook South Africa 1991-92 gibt es in Südafrika insgesamt etwas mehr als 5 Mio. Weiße, davon gehören 56% zu den afrikaans sprechenden und 38% zu den englisch sprechenden Weißen. 6 Darüber hinaus gibt es kleinere und kleinste Gruppen von deutsch, französisch, portugiesisch, griechisch, spanisch, polnisch, italienisch, niederländisch, flämisch oder armenisch sprechenden Einwanderem oder deren Nachkommen? Vielfach sind sie von einer der beiden großen Gruppen assimiliert worden oder haben zumindest deren Sprache übernommen. Zwei vollständig selbständige Gruppen bilden die Asiaten (0,95 Mio} und die Mischlinge, Coloureds genannt, (3,21 Mio.) also die Nachkommen aus Verbindungen zwischen Schwarzen und Weißen.9 Bei den verschiedenen Merkmalen der Sozialstatistik, aber auch bei wichtigen Einstellungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen, nehmen beide Gruppen häufig eine mittlere Position zwischen den weißen und schwarzen Segmenten der südafrikanischen Gesellschaft ein. Die Schwarzen mit insgesamt 21,6 Millionen sind in mehrere selbständige Völkerschaften gegliedert. 10 Auch dies ist das Ergebnis von geschichtlich bedingten

5 Das zeigte sich erneut bei dem Verfassungsreferendum vom März 1992, in dem de Klerk eine Zustimmung von insgesamt 68% der weißen Wählerschaft gewann. Wahlanalysen zeigen jedoch, daß die wahlberechtigte englische Bevölkerung fast einmütig mit 'ja' stimmte, während es unter den Buren keine Mehrheit für de Klerk gab. 6 Vgl. South Africa 1991-92, Official Yearbook of the Republic of South Africa, Seventeenth edition, First English edition in the new, shortened version, Pretoria, S. 22. 7 Die Gruppeng;öße rangiert zwischen I 000 (z.B. die spanisch-sprechende Gruppe) und 35 000 (Deutsche und Portugiesen). Vgl. South Africa 1991-92 Official Yearbook, S. 31 ff.

8 Bei den Asiaten handelt es sich in der überwiegenden Mehrzahl um Inder (ca. 930.000), schätzungsweise 12-13.000 Chinesen, wenige Japaner und andere Asiaten. Zahlen nach South Africa 1991-92 Official Yearbook, S. 24. Zum historischen Hintergrund der indischen Bevölkerung und ihrer ökonomischen Position im Lande vgl. Ginwala, Frene, Indian South Africans, Minority Rights Group Report No. 34, London September 1977, Neuauflage Juli 1985. 9 Zu dieser Gruppe zählen auch die Griquas, Nachfahren von Hottentotten und Europäern, sowie die Kap-Malaien, die von den durch die Niederländisch Ostindische Aktiengesellschaft ans Kap gebrachten Sklaven abstammen.

10 Diese Zahl bezieht sich auf die in Südafrika lebenden Schwarzen, berücksichtigt aber nicht diejenigen, die in den international nicht anerkannten sog. "unabhängigen" Staaten Transkei, Bophuthatswana, Venda und Ciskei, den TBVC Staaten mit insgesamt noch einmal ca. 6 Mio. Menschen leben. In derverfassungspolitischen Diskussion Südafrikas spielt die Frage der Wiedereingliederung dieser Gebiete in die Republik Südafrika eine zentrale Rolle. Zahlenangaben nach South Africa 1991-92 Official Yearbook, S. 22.

A. Formale Merkmale der Fragmentierung

55

Wanderungsbewegungen. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, von denen einige miteinander verwandt sind, andere zu völlig unterschiedlichen Sprachgruppen gehören. Häufig ist Afrikaans oder Englisch das Medium der Verständigung für Schwarze untereinander. So wenig sinnvoll es ist, die Einwohner Europas durch den Begriff Europäer künstlich zu homogenisieren, so wenig macht es Sinn, die Einheimischen einfach als "die Schwarzen" zu bezeichnen. Diese Plakatierung unterschiedlicher Völker ist traditionellletztlich Ausfluß europäischkolonialer Arroganz. In der Auseinandersetzung um die politische Ordnung des Neuen Südafrikas wird diese Plakatierung jedoch auch genutzt, um Solidaritätseffekte und Wir-Gefühle zu erzeugen- freilich, wie noch zu zeigen sein wird - bislang mit mäßigem Erfolg. Die Hypothese, daß ein "schwarzes Volk" entstehen wird 11 , übersieht diese traditional gewachsenen Fragmentierungen. Die Hypothese stützt sich auf Befragungen ausschließlich unter städtischen Schwarzen, d.h. weniger als ein Drittel der damaligen schwarzen Bevölkerung. Die in dieser Hypothese erfolgte Unterschätzung des Konfliktpotentials unter den schwarzen Stämmen wird an den militanten Auseinandersetzungen zwischen den größten, nämlich Zulus und Xhosas, seit Anfang der 90er Jahre gerade auch in den schwarzen Städten besonders deutlich.12 Konfliktpotential kann man nicht daran messen, daß z.B. eine Mehrheit nichts gegen Heiraten, die Stammesgrenzen übergreifen, einwendet, sondern daß es eine beachtliche Minderheit gegen solche Integrationsformen gibt. Im übrigen sind Studien aus der Zeit vor dem Reformprozeß wenig geeignet, Aussagen über die Situation nach dem Beginn des Reformprozesses und damit verbunden der Legalisierung vieler zuvor verbotener Organisationen z.B. des ANC zu stützen. Über die Bevölkerungsstruktur der Republik Südafrika können trotz nicht immer eindeutiger statistischer Berechnungen einige generelle Aussagen gemacht werden: Die südafrikanische Bevölkerung wächst ~edingt durch eine sinkende

11 Vgl. Hanf, Theodor/Weiland, Heribert/Vierdag, Gerda: Südafrika: Friedlicher Wandel? Möglichkeiten demokratischer Konfliktregelwtg - Eine empirische Untersuchwtg; München/Mainz 1978, hier S. 356.

12 Gerade außerhalb Südafrikas wird häufig die These vertreten, daß diese Auseinandersetzungen Folge der Apartheidpolitik seien. Dieses Argument übersieht die historische Dimension des Konflikts zwischen Zulus und Xhosas. Lijphart spricht in diesem Zusammenhang von "self-detennined ethnicity instead of partially predetennined ethnicity". Vgl. Lijphart, Arend, the Ethnic Factor and Democratic Constitution-Making in South Africa, in: Keller, Edmond J./Picard, Louis A.: South Africa in Southem Africa, Dornesric Change and International Conflict, Boulder/London 1989, S. 13-24, hier S. 22.

56

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

Mortalitätsrate und eine steigende Geburtenwachstumsrate rapide; eine Verdoppelung der Bevölkerung wird für jeweils einen Zeitraum von dreißig Jahren angegeben. Allerdings trifft der Bevölkerungszuwachs nicht für alle Gruppen gleichmäßig zu. Die höchsten Geburtenraten finden sich bei der schwarzen Bevölkerung mit 4,2 (Angabe für 1987) Kindern pro Frau, das entspricht einem Zuwachs von 2,9% bei dieser Bevölkerungsgruppe. Das Population Development Programme der Regierung erhofft eine Stabilisierung des Geburtenzuwachses auf nicht mehr als drei Kinder pro Frau, in der Realität muß allerdings in den ländlichen Gebieten sowie allen sog. Homelands von einer Geburtenrate von mehr als sechs Kindern pro Frau ausgegangen werden. Bevölkerungsprojektionen bis zum Jahr 2035 gehen davon aus, daß der Anteil der schwarzen Bevölkerung von derzeit ca. 75% auf bis zu 89% der Gesamtbevölkerung anwachsen wird. Dagegen sehen die Projektionen bei den Gruppen der Mischlinge und Asiaten nur relativ niedrige Geburtenwachstumsraten voraus; bei der Gruppe der Weißen wird sogar eine Abnahme der Bevölkerung erwartet. 13 Dies bedeutet, daß das größte Segment der südafrikanischen Bevölkerung zugleich auch das jüngste ist 14 und, da der größte Zuwachs in den ländlichen Gebieten erfolgt, das Aufeinandertreffen von Erster und Dritter Welttrotz Weiterentwicklung und Modemisierung noch auf viele Jahre hinaus die gesellschaftliche und politische Struktur des Landes charakterisieren wird. Daraus ergeben sich Anforderungen - "demands" im Sinne der Systemtheorie - an das politische System des Neuen Südafrikas, die mindestens zwei Dimensionen umfassen: 1.

die Verfügbarkeil der Ressourcen, um diesen Anforderungen gerecht werden zu können, und

2.

die Handlungsfähigkeit der zukünftigen Regierungen, um eine problemgerechte Verteilung dieser Ressourcen, so sie denn verfügbar sein sollten, durchsetzen zu können.

13 Vgl. hierzu Mostert, W.P., van Tonder J. L., Demographie Realities in South Africa, in: van Vuuren, D.J. et. al. (eds.), South Africa: The Challenge of Reform, Pinetown 1988, S. 533-550. 14 In diesem Zusammenhang muß auf die Zahlen von HIV -Infizierten und AIDS-Erkrankten in Afrika hingewiesen werden. Zwar gibt es kaum verläßliche Zahlen, doch scheint die Zunahme der Krankheit rapide zu sein, so daß in manchen Quellen bereits von der Perspektive der Entvölkerung ganzer Teile Schwarzafrikas gesprochen wird. Vgl. Armstrong, Jill, Sozioökonomische Implikationen von AIDS in Entwicklungsländern, in: Finanzierung & Entwicklung, Vierteljahresheft des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, Dezember 1991 , S. 14 ff. Vgl. auch Bittorf, Wilhelm, Ngolo ist unser Gott, in: Der Spiegel, Nr. 25 vom 17. Juni 1991, S. 146-174, hier S. !52 ff.; oder auch "Aids wird ganze Landstriche entvölkern", Studie aus Harvard: Bis zum Jahr 2000 wird sich die Zahl der HIV-Infizierten verzehnfachen, in: Süddeutsche Zeitung vom 5. Juni 1992, S. 60.

A. Formale Merlemale der Fragmentierung

57

Darüber hinaus gibt es natürlich in jeder der gesellschaftlichen Gruppen Ausdifferenzierungen im Hinblick auf Altersgruppen, Geschlecht, Bildung und sozioökonomischen Status, wie dies für Gesellschaften unterschiedlichen Entwicklungsstandes kennzeichnend ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind diese jedoch für die Fragestellung nach der Möglichkeit eines vom Konsens getragenen Neuen Südafrikas von untergeordneter Bedeutung. 15 Tabelle Ja

Sprachgruppenzugehörigkeit der schwarzen Bevölkerung Census 1985

Census 1991 16

a) Nguni-Sprachgruppe Zulus Xhosas

5,3 Mio. 2,1 Mio.

7,0 Mio. 2,3 Mio.

b) Solho-Sprachgruppe Nordsothos Südsothos Tswanas

2,3 Mio. 1,6Mio. 1,1 Mio.

2,7 Mio. 2,1 Mio. 1,2 Mio.

c) Tsongas

1,0 Mio.

1,1 Mio.

d) Yendas

0,1 Mio.

0,1 Mio.

15 Vereinfachend kann man die Hypothese formulieren, daß über alle Gruppen hinweg die Ausgleichsbereitschaft mit steigendem Einkommen und höherer Bildung steigt, mit wachsendem Alter jedoch abnimmt. Angesichts dieses gruppenübergreifenden Trends wird auf eine Aufteilung der einzelnen Gruppen nach sozio-demographischen Daten verzichtet, nicht zuletzt auch, weil die Zellenbesetzung häufig statistisch gesicherte Aussagen nicht mehr zuläßt. Eine Ausnahme bilden allein Teile der schwarzen städtischen Jugend, unter denen Radikalität, niedrige Bildung und niedriges Einkommen besonders ausgeprägt sind. 16 Die Zahlen aus dem Census von 1991 sind nur sehr bedingt mit den Zahlen von 1985 vergleichbar. Das liegt zum einen daran, daß im einzigen bisher veröffentlichten Band mit Daten aus 1991 ca. 5 Mio. Menschen weniger gezählt wurden, als dies aus derdemographischen Hochrechnung erwartet wurde. Schwerer wiegt für die Vergleichbarlceit jedoch die Tatsache, daß in der Zählung von 1991 nicht mehr nach Zugehörigkeit zu einem Stamm gefragt wurde, sondern nach derjenigen Sprache, die Zuhause am häufigsten gesprochen wird. So gaben z.B. auch ca. 10.000 Weiße, Mischlinge und Asiaten an, die bei ihnen Zuhause am häufigsten gesprochene Sprache sei Zulu. Für die obigen Angaben wurden diese Gruppen herausgerechnet Dennoch bleibt die unterschiedliche Fragestellung nach Stammeszugehörigkeit 1985 und nach der Sprache, die am häufigsten Zuhause gesprochen wird 1991, die nur eine bedingte Vergleichbarlceit zuläßt. Vgl. Central Statistical Service, Population Census 1991, Summarised Resu1ts Before Adjustment For Undercount, No. 03-01-00 (1991 ), Pretoria 1992, S. 130 ff.

58

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

Die wichtigsten schwarzen Bevölkerungsgruppen Südafrikas werden in den offiziellen Volkszählungen der Republik Südafrika in verschiedene Sprachgruppen eingeteilt (Vgl. Tab. la).l 7 Jede dieser Völkerschaften kann nach der Tradition schwarzafrikanischer Gesellschaften noch weiter nach Stammesgruppen unterteilt werden. 18 Teile dieser Völker leben auch außerhalb Südafrikas (z.B. die Tswanas in Botswana, Teile der Tsongas in Mocambique und die Ndebele oder Matabele, die ursprünglich zu den Zulus gehörten, in Zirnbabwe). Was den Stadt-Land-Gegensatz betrifft, so ist er im wesentlichen nur für die Weißen und die Schwarzen relevant. Unter der weißen Bevölkerung sind die ländlichen Afrikaner der harte Kern des konservativen Burentums. Unter der schwarzen Bevölkerung bedeutet der Gegensatz zwischen städtisch und ländlich vereinfacht formuliert den Gegensatz zwischen Erster und Dritter Welt. Dies ist nicht nur eine Frage von Einkommen und Bildung, sondern vor allem eine der Sozialisation. In der ländlichen schwarzen Bevölkerung lebt die traditionelle Stammesgesellschaft fort, mit dem Zuzug in die städtischen Regionen beginnt ein Entwurzelungsprozeß, der durchaus in vielen Aspekten mit den großen Migrationen während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in Europa vergleichbar ist. 19 Aber auch in den Städten der schwarzen Bevölkerung lassen

17 Vgl. Centrat Statistical Services, Population Census Report No. 02-85-01, Geographical Distribution of the Population with a Review for 1960-1985, Pretoria 1986, S. 10. Neben den im Text genannten Gruppen gibt es noch die Nord- und Südndebele mit zusammen 0,43 Mio. und die Swazi mit insgesamt 0,8 Mio. Menschen. Alle weiteren schwarzen Gruppen kommen zusammen auf weniger als 0,07 Mio. Es ist zu beachten, daß die offiziellen Volkszählungen der südafrikanischen Regierung die sogenannten unabhängigen Homelands immer ausgeschlossen, die sog. "self-goveming territories" jedoch eingeschlossen haben. Dadurch ergeben sich im Vergleich der Daten von 1985 zu 1991 teilweise erhebliche Verschiebungen, bzw. unterschiedliche Zuwächse vor allem bei Zulus und Xhosas. Dabei ist ferner zu berücksichtigen, daß die Homelands T ranskei und Ciskei überwiegend von Xhosas bewohnt werden. 18 Daß es bei einer solchen Einteilung in kleinere Einheiten Probleme der Klassifikation gibt, ist ein vielfach diskutiertes Phänomen der Anthropologie und Soziologie. Vgl. Maquet, Jacques, The · Coltoral Units of Mrica: A Classificatory Problem, in: Douglas, Mary/Kaberry, Phyllis M. (eds.), Man in Africa, London 1969, S. 3- 13. Murdock, George P. zählt im Jahre 1959 in seinem Mrica: lts Peoples and their Colture History, New York 1959 allein 850 größere Einheiten im Gebiet südlich der Sahara bis zur Spitze des Kaps.

19 "Much grief has been caused by separation from one' s original society and landscape, from the institutional practices of family life, communal organization, and occupation. ... it must be accepted that immigration results in some loss of what is objectively valuable to the immigrants and to their descendents. They lose their language and a sense of historical continuity with their ancestors and their ancestral places, and they also lose the hard-won wisdom of judgement of their ancestors,

59

A. Formale Merkmale der Fragmentierung

sich noch Bindungen an die alten Stammeskulturen beobachten, wobei es von der Homogenität der Besiedlung bestimmter Stadtteile abhängt, wie stark und nachhaltig diese traditionalen Strukturen ausgeprägt sind. Dies geht so weit, daß es auch in den städtischen Agglomerationen die Parallelität von tradiertem Stammesrecht und geschriebenem westlichen Recht gibt. Große Bereiche des Privat- wie des Strafrechtes werden auch in den städtischen Gebieten noch nach Stammesrecht behandelt. Tabelle lb Siedlungsform ländlich

kleinstädtisch

großstädtisch

Afrikaner

29,9

41,5

28,1

Engländer

12,5

36,1

51,2

Mischlinge

3,5

40,9

55,6

Asiaten

4,8

35,1

60,1

Zulus

55,4

19,1

25,5

Xhosas

44,6

26,4

24,0

Tswanas/Sothos

55,4

23,6

21,1

Tabelle I b zeigt die Verteilung der wichtigsten Bevölkerungsgruppen nach der Siedlungsfonn.20 Der Urbanisierungsgrad unter Engländern ist deutlich höher

built up through long and arduous experience; they lose their imagery and their consoling proverbs and adages." Shils. Edward, Roots - The Sense of Place and Past: the Cultural Gains and Losses of Migration, in: McNeill, William H./Adams, Ruth S., Human Migration, Paneros and Policies, Bloomington, London 1978, S 404-426, hier S. 418. Zur speziellen afrikanischen Situation vgl. im selben Band Curtin, Philip D., Postwar Migrations in Sub-Saharan Africa, S. 188-198. 20 Die folgenden Angaben - soweit nichts anderes ausdrücklich vermerkt ist - beruhen auf der Repräsentativbefragung "The World Social Value Study", die das Markinor Institut in Johannesburg im Frühjahr 1991 durchgeführt hat. Von den verschiedenen Untersuchungen dieser Art in Südafrika ist sietrotzvieler Einschränkungen noch am ehesten für sozialwissenschaftliche Forschung geeignet, da sie Teil der regelmäßig von Gallup International in 46 Ländern durchgeführten vergleichenden Untersuchung ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Studien ist die schwarze ländliche Bevölkerung im Sampie enthalten, die Interviews wurden nicht per Telefon, sondern durch persönliche Kontaktaufnahme durchgeführt. Obwohl das Sampie mit 2736 Befragten relativ groß war, ergeben sich bei einer Aufteilung nach Bevölkerungsgruppen und der gleichzeitigen Unterteilung nach städtisch und ländlich zum Teil recht kleine Zellenbesetzungen. Der international vergleichende Ansatz der Untersuchung gewährt einerseits einen gewissen Quaiitätsstandard, wirft jedoch häufig die Frage auf, ob der identische Wortlaut einer Frage für die

60

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

als unter Afrikanern und wird noch geringfügig von dem der Mischlinge und Asiaten übertroffen. Ein anderes Bild zeigt sich bei den Schwarzen21 : noch über die Hälfte der Zulus lebt im ländlichen Raum, fast 20% in Kleinstädten und nur ein Viertel in den großen Städten - eine Zahl, die freilich nur geringfügig niedriger ist als die der Afrikaner. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Xhosas und auch wenn man als dritte schwarze Gruppe Tswanas und Sothos zusammenfaßt.22 Von statistischer Signifikanz sind Bildungs- und Einkommensgefälle. Das ProKopf-Einkommen für ganz Südafrika beträgt nach Angaben der Development Bank 4.254 Rand für das Jahr 1986, das damit an der Spitze des schwarzafrikanischen Kontinents liegt (vgl. Tabelle 2: Pro-Kopf-Einkommen). Tabelle 2 enthält keine Aufstellung nach Bevölkerungsgruppen, die auch in keiner offiziellen südafrikanischen Statistik enthalten ist, wenngleich natürlich die einzelnen Regionen schwerpunktmäßig von bestimmten Gruppen bewohnt werden. Dennoch fällt zunächst auf, daß das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen für alle Südafrikaner etwa dreimal so hoch ist, wie das für die am günstigsten dastehende schwarze Region (Qwaqwa)23 und sogar sechsmal so hoch wie für die ärmste

Befragten auch nur einen vergleichbaren Stimulus auslöst. Dies ist bei der Interpretation zu beachten. Eine intensive Beschäftigung mit dieser und anderen Studien führt zu der Hypothese, daß das Instrumentarium der Repräsentativbefragung durchgängig im Prinzip auch unter den Bedingungen einer schwarzafrikanischen Stammesgesellschaft anwendbar ist, jedoch mit einer zentralen Einschränkung: Fragen, die bei den Befragten die Erwartung stimulieren, daß der Interviewer eine bestimmte Antwort hören möchte, laufen nicht, Antworten auf solche Fragen ergeben nicht das Meinungsbild des Befragten, sondern dessen Erwartung über die Wunschantwort für den Interviewer. Dies gilt insbesondere für unmittelbar politische Fragen z.B. Wahlabsicht oder Parteianhängerschaft Das Material wurde in Form von Kreuztabellen zur Verfügung gestellt, nicht jedoch der maschinenlesbare Datensatz, so daß eigene Auswertungen mit differenzierteren statistischen Methoden nicht möglich waren. 21 Der Grad der Urbanisierung der schwarzen Bevölkerung wird in verschiedenen Szenarien beruhend auf Schätzungen der demographischen Entwicklung und Aufhebung bestimmter noch bestehender Gesetze für den Zeitraum 1990-2000 auf zwischen 56 und 60% angesetzt. Vgl. Kok, P.C./Mostert, W.P .. Urbanisation: A South African perspective, in: van Vuuren, D.J., et. al., South Africa: A Plural Society in Transition, Durban 1985, S. 99-119, hier S. 115. 22 Dies ist statistisch notwendig, um noch auf eine interpretierbare Fallzahl zu kommen, und erscheint angesichts der Parallelität in vielen Aspekten der Stammeskulturen beider Völker einschließlich der Sprache vertretbar. Die anderen schwarzen Völkerschaften sind in dem Sampie nicht ausreichend vertreten.

23 Innerhalb der Grenzen der Republik Südafrika liegen die sogenannten schwarzen "selfgoverning territories" Gazankulu, KaNgwane, KwaNdebele, KwaZulu, Lebowa und QwaQwa. Diese Regionen haben zum Teil eigene Verwaltungsstrukturen und auch ein jeweils eigenes Schulsystem bei totalerfinanzieller Abhängigkeit von Pretoria. Auch diese Regionen sollten von Südafrika ähnlich

A. Formale Merkmale der Fragmentierung

61

schwarze Region (Lebowa). Da der Anteil der Weißen nur etwa ein Siebtel der Gesamtbevölkerung einschließlich der TBVC Staaten umfaßt, folgt daraus, daß der Unterschied zwischen dem statistisch nicht aufgeführten Pro-Kopf-Einkommen der Weißen noch um ein wesentliches höher sein muß, als das die Differenz zwischen dem Durchschnittseinkommen für Südafrika und den aufgeführten Regionen signalisiert. Interessant ist aber auch die Veränderung der Wachstumsraten. In den beiden aufgeführten Perioden ist das reale Pro-Kopf-Einkommen in ganz Südafrika gesunken (1970-1980 um 0,1, 1980-1986 sogar um 2,2%). Da in allen aufgeführten schwarzen Gruppen in beiden Perioden Wachstumsraten zu verzeichnen sind, (Ausnahme KaNgwane von 1980-1986) folgt daraus, daß das Pro-Kopf-Einkommen für die Weißen in beiden Perioden deutlich gesunkensein muß, für 1980-1986 kann man von einer jährlichen Schrumpfung des ProKopf-Einkommens unter Weißen von jährlich ca. 3,3% ausgehen. Tabelle 2a verdeutlicht, daß 93% der schwarzen Haushalte ein Monatseinkommen von unter 1200 Rand beziehen, davon die Hälfte gar unter 400 Rand, dagegen 81 ,9% der weißen Haushalte ein Einkommen über 1200 Rand. Deutlicher kann die Einkommenspolarisierung trotz der erwähnten Veränderungen in den letzten Jahren nicht dargestellt werden. Bei der Beurteilung der tatsächlichen Lebenssituation der Schwarzen ist allerdings hinzuzufügen, daß es fast in jedem schwarzen Haushalt mehrere Einkommensbezieher gibt, was weitere Rückschlüsse auf die niedrigen Individualeinkommen ermöglicht. Diese Statistik enthält allerdings nicht den informellen Sekto~ 1 der Wirtschaft; Einkünfte aus diesem Bereich ermöglichen häufig erst das Überleben. Bei den Mischlingen beträgt der Anteil mit einem Einkommen unter 1200 Rand immerhin noch 67,9%, bei den Asiaten nur noch 47,4%. So zeigt die Tabelle auch, daß die Asiaten von allen nicht-weißen Gruppen sich in einem Prozeß zu einer Mittelstandsgesellschaft22 befinden. Immerhin 53,1% dieser Gruppe erzielen ein Einkommen über 1200 Rand.

wie die TBVC-Staaten in die "Unabhängigkeit" entlassen werden. Daß sie Teil des Neuen Südafrikas sein werden, steht außer Frage. 21 Im April 1990 veröffentlichte die Johannesburg Chamber of Commerce ihre Zahlen für einen "minimum living Ievel" in Höhe von 591,10 Rand für eine schwane Familie von fünf Mitgliedern in Soweto oder einem anderen Ort der Greater Johannesburg Area. Zahlen der University of Stellenbosch gehen davon aus, daß bis zu 50% des Einkommens einer schwarzen Familie im informellen Sektor verdient werden. Vgl. Race Relations Survey 1989/90, S. 658. 22 Zum Begriff siehe schon Schelsky, Helmut, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, Dortmund 1953, er spricht von einer "nivellierten kleinbürgerlich-mitteisländischen Gesellschaft'', S. 218.

105 186 1.207

241

..

11

112

119

KwaZu1u

KwaNdebe1e

KaNgwane

lRANSKEI

BOPHUTHATSW ANA

305

60

CISKEI ----

130

18

1.101

VENDA

-----

1.600

4

Qwaqwa

-----

1.064

575

2.843

3.713

577

515

4.922

480

685

184

27

Gazankulu 127

2.096

121.069

1986

623

55.238

1980 (jeweils in Mio. Rand)

109

11.781

1970

Gesarnt-BSP zu laufenden Preisen

Lebowa

SÜDAFRIKA

Region Land Gebiet

Tabelle 2 Pro- Kopf-Einkommen

5,9

9,7

12,4

14,2

8,1

12,5

2,8

5,2

6,0

14,5

.. 19,3

5,9

9,6

9,3

6,8

-0,1

1980-1986 (%)

8,8

28,6

9,0

7,4

3,0

1970-1980 (%)

Reale Wachstwnsraten des BSP

~

~ g.

g

Cl

1i

g.

"3g

~

....,

"'3 "' ~ g.

9.

;

~.

!" :;.::

Rj

536

96

..

KwaZu1u

1.093 1.290

312 412

61

101

VENDA

CISKEI

1.394. .

3,6

6,0

7,0

10,4

1,5

..

3,7

6,0

3,2

2,0

-0,1

1970-1980 (%)

6,2

8,2

-

3,3

-3,4

1,2

1,5

2,3

4,1

1,3

-2,2

1980-1986 (%)

Reales Pro-Kopf-Wachstwn

Zahlenangaben nach: Esterhuysen, P.W., iri conjunction with the Deve1opment Bank of Southern Africa., Southern Africa, an interstate comparison of certain salient features 1989, Halfway House 1989, S. 43.

637

113

BOPHUTHATSW ANA

1.065

399

52

1RANSKEI

955

1.257

939

1.582

537

631

945

760

4.254

1986

161

KaNgwane

KwaNdebe1e

393

123

Qwaqwa

340

86

Gazankulu

322

2.202

1980 Geweils in Rand)

92

638

1970

BSP pro Kopf

Lebowa

SÜDAFRIKA

Region Land Gebiet

w

0\

~

g.

g

3

~

'Tl

...g.

~

~

~

"

?>

61 3 e.

64

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft Tabelle 2a•l

Verteilung des monatlichen Haushaltseinkommens nach Bevölkerungsgruppen für 1988/89 in % in Rand/ pro Monat

Schwarze

MischIinge

Asiaten

Weiße

1-399

50,9

24,4

6,1

2,6

400-699

23,1

18,4

14,5

5,3

700-1199

19,0

25,1

26,8

10,1

1200-1999

4,7

19,5

26,3

16,1

2000-2499

0,9

5,1

9,5

11,1

2500-3999

1,1

5,3

11,7

24,9

4000-5999

0,3

1,5

4,5

18,9

6000+

0,1

0,6

1,1

10,9

•lAlle Zahlenangaben für diese Tabelle aus: Race Relations Survey 1989/90, S. 658.

In dieser Tabelle darf aber auch nicht übersehen werden, daß auch 18% der weißen Bevölkerung schon 1988/89 über ein monatliches Einkommen von unter 1200 Rand verfügten. Aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung ist die Tendenz eher steigend: Diese Ziffern umschreiben das ökonomische Potential für einen undifferenzierten Protest gegen jede Reformpolitik. Diese ökonomische Situation von fast 20% der Weißen ist das Potential für Rechtsextremismus wie dies auch aus anderen modernen Industriegesellschaften bekannt geworden ist: Pierre Poujade 1954 in Frankreich, die NPD nach 1966 in Deutschland, George Wallace 1968 in den USA, M0gens Glistrup 1973 in Dänemark, Jean-Marie Le Pen 1987 in Frankreich und die Republikaner seit 1989 in Deutschland, um nur wenige Beispiele aus jüngerer Zeit aufzuzeigen. In all diesen Fällen ist rechtsextremes Verhalten die politische Reaktion auf den Verlust oder auf die Furcht des Verlustes des sozio-ökonomischen Status.23 Bei allen Besonderheiten, die sich aus der ethnischen Fragmentierung Südafrikas ergeben, dürfen diese allgemeinen Erfahrungen über Rechtsradikalismus als eine fast normale

23 Kaltefleiter bezeiclmet W abiverhalten zugW1sten von rechtsextremen Parteien als eine "normale Pathologie" einer modernen lndustriegesellschaft. Vgl. Kaltefleiter, Wemer, Rechte Wähler sind die normale Krankheit der modernen lndustriegesellschaft, in: Signatur der Zeit, Handelsblatt vom Freitag/Samstag 10./11. April 1992.

65

A. Fonnale Merkmale der Fragmentierung

Pathologie nicht außerachtgelassen werden, um die Relevanz dieser Strömungen realistisch einschätzen zu können. Auf der anderen Seite zeigt die Tabelle aber auch, daß nur 7,1% der schwarzen Haushalte über ein Einkommen über 1200 Rand verfügen. Dies ist weit davon entfernt, ein Mittelschichteneinkommen zu sein und verdeutlicht zugleich, wie schwierig es für die schwarzen Bevölkerungsgruppen sein wird, in einem Neuen Südafrika die ihnen zufallenden Führungspositionen adäquat zu besetzen,- wobei an dieser Stelle die vielfältigen historischen Ursachen dieses Tatbestandes nicht zu wiederholen sind.24 Diese Tabelle verdeckt jedoch auch den Stadt-Land Unterschied, wobei die Berechnung von Kriterien wie Pro-Kopf-Einkommen für Bevölkerungsteile, die zum großen Teil durch Subsistenzwirtschaft leben, nur bedingt sinnvoll ist. Tabelle 3

Ausstattung mit Konsumgütern in % Elektrizität

fließ. Wasser

Telefon

FarbTV

Kabelanschluß

Afrikaner

97,7

96,6

93,4

22,9

92,2

15,6

84,5

Engländer

96,7

98,1

93,1

25,9

90,2

35,9

81,0

Mischlinge

98,6

96,4

73,6

39,0

58,3

19,9

42,0

Asiaten

99,0

98,1

78,2

24,1

73,8

18,9

64,4

Zulus ländlich

1,7

0,0

1,7

8,6

1,7

0,0

62,2

Zulus städtisch

53,6

45,4

35,5

18,7

30,3

2,8

57.4

Xhosas ländlich

7,1

8,1

5,1

10,0

10,2

0,0

71,3

Xhosas städtisch

36,9

46,1

29,2

38.4

14,5

0,7

47,9

Tswanas/ Sothos ländlich

13,5

12,8

3,5

14,6

8,9

0,0

67,2

Tswanas/ Sothos städtisch

74,6

52,5

44,3

23,8

41,4

4,2

48,9

24 Vgl. I. Kapitel, A. Historische Vorfommng. 5 Schumacher

Schwarz/ Weiß TV

Trans.radio

66

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

Veranschaulicht kann dieser Unterschied werden, wenn man nach der Ausstattung durch Elektrizität und fließendes Wasser sowie anderer Konsumgüter fragt (vgl. Tabelle 3: Ausstattung mit Konsumgütern). Dabei zeigt sich, daß der so gemessene Lebensstandard bei Engländern, Afrikanern, Asiaten und Mischlingen sehr vergleichbar ist, während bei den Schwarzen nicht nur der Unterschied zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung extrem groß ist (Elektrizität 54 : 2% bei den Zulus, 37 : 7 %bei den Xhosas und bei den Tswanas/ Sothos auch 37: 7%), sondern auch die Gesamtausstattung mit Konsumgüternmit Ausnahme bei den tragbaren Radios - deutlich niedriger ist, als dies für die Nicht-Schwarzen gilt. Tabelle Ja Wohnform in% Haus

Wob-

son-

Eigen-

nung

stiges

turn

privat gemietet

Miet-

Wohn-

mit

wohnungen der Kornmunen

heime, Untermiete, Squatter

den Eltern leben

Afrikaner

86,1

8,7

5,1

71,5

15,0

5,9

6,9

19,1

Engländer

81,1

12,9

5,8

78,9

15,9

1,7

2,4

16,3

MischIinge

86,3

10,4

3,4

66,8

8,0

24,3

1,0

33,3

Asiaten

81,7

12,3

6,0

65,7

19,4

14,3

0,6

32,5

Zulus ländlich

9i,5

0,4

8,1

92,8

3,4

0,0

3,7

53,9

Zulus städtisch

84,0

0,9

15,1

29,4

15,4

45,9

8,8

40,3

ländlich

39,0

2,2

58,8

95,0

2,4

2,6

0,0

41,1

Xhosas städtisch

73,0

0,5

26,5

17,3

6,2

59,4

17,1

41,6

Tswanas/ Sothos ländlich

84,3

0,0

15,6

88,5

0,2

8,9

2,4

45,5

Tswanas/ Sothos städtisch

85,0

0,0

15,0

29,4

12,7

49,3

8,7

31,0

Xhosas

A. Fonnale Merlemale der Fragrnentierung

67

Ein anderes Bild scheint sich zu ergeben, wenn man die Wohnfonn in die Betrachtungsweise mit einbezieht (vgl. Tabelle 3a: Wohnform). Hier istder Anteil derjenigen, die in einem Haus wohnen, mit Ausnahme der ländlichen Xhosas über alle Gruppen hinweg fast gleich, eine statistische Gleichheit, die natürlich aussagelos ist, weil sie den qualitativen Unterschied zwischen einem Einfamilienhaus eines Weißen in Pretoria und einem Kraal im Zululand nicht berücksichtigt. Aber auch hier ist die Verarmung der ländlichen Xhosas hervorzuheben, bei denen anders als bei den Zulus und Tswanas die eigene Hütte nicht als "Haus" verstanden wird. Was die Eigentumsverhältnisse betrifft, so geben 92% der ländlichen Schwarzen- ohne nennenswerten Unterschied zwischen den einzelnen Völkern- an, ein eigenes "Haus" zu besitzen, aber nur ein Viertel der städtischen Schwarzen. Bei Asiaten und Mischlingen sind es 2/3, bei den Weißen 3/4. Aber 52% der städtischen Schwarzen leben in Mietwohnungen der Kommunen und weitere 11% leben in Wohnheimen oder Squattersiedlungen25 . Nur 6% der ländlichen Schwarzen entfallen auf die letzten beiden Kategorien. Gerade diese Zahlen verdeutlichen den Entwurzelungsprozeß, der mit der Verstädterung einhergeht. Erkennbar, wenn auch nicht so ausgeprägt, ist dies auch bei einer anderen Frage. 47% der ländlichen Schwarzen, aber nur 39% der städtischen Schwarzen geben an, mit ihren Eltern zusammen zu leben. Bei Asiaten und Mischlingen sind es nur etwa 1/3 und bei den Weißen weniger als 1/5. Bei dieser Frage zeigt sich auch ein bemerkenswerter Unterschied zwischen den ländlichen Zulus und den ländlichen Xhosas. Während bei der ersten Gruppe 54% mit ihren Eltern

25 Generell muß man für Südafrika einen enonnen Bedarf an zusätzlichen Wohneinheiten feststellen, wobei überdie Anzahl unterschiedliche Angaben gernacht werden. Nach dem Jahresbericht des South African Housing Trust fehlten im Jahre 1989 in Südafrika unter Einschluß der 10 Hornelands 1.26 Mio. Einheiten. Der Direktor des Council for Scientific and lndustrial Research sprach für 1990 von 2 Mio. fehlenden Einheiten und bis zum Jahr 2000 von weiteren 1,2 Mio. Vorn Institute for Futures Research wurden für 1988 die folgenden Zahlen nach Gruppen angegeben: Schwarze: I 050 000, Mischlinge: 110 000, Asiaten: 36 000, Weiße: 25 000. Vgl. Race Relations Survey 1989/90, 1990, S. 100 ff. Da das Angebot an konventionellem Wohnrawn vor allem für die schwarze Bevölkerung bei weitem nicht ausreicht, sind hauptsächlich ännere und/oder arbeitslose Schwarze in den vergangeneo Jahren auf den sog. infonnellen Wohnungsbau, d.h. auf' shacks' aus einfachsten Bawnaterialien ausgewichen. Dieses 'illegal squatting' arn Rande größerer Städte- teilweise auch auf weißen Pannen -hat Elendssiedlungen großen Ausmaßes entstehen lassen. Beispiele lassen sich arn Rande Johannesburgs ebenso finden wie wn Durban oder Kapstadt herum. Von Seiten des Staates versucht man mit sog. 'self-helpschernes • oder 'controlled squatting carnps' aus den vielfach illegalen Siedlungen durch Einhaltung bestimmter Gesundheits- und Baustandards 'infonnal Settlements' zu machen.

68

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

zusammenleben, sind es bei der zweiten Gruppe nur 41%: ein erster Indikator dafür, daß die Stammesstruktur bei den ländlichen Zulus noch viel stärker intakt ist, als das bei den Xhosas der Fall ist. 26 Der qualitative Unterschied bei formal gleichen Kriterien ist selbstverständlich auch im Bildungsniveau zu berücksichtigen. Die staatlichen Aufwendungen für einen schwarzen Schüler betragen pro Kopf 656 Rand, für einen weißen dagegen 2.882 Rand. 27 Bei diesem Unterschied ist ferner zu berücksichtigen, daß diese Aufwendungen für die Schwarzen in den letzten 10 Jahren dramatisch gestiegen sind, d.h. daß der inhaltliche Wert eines formalen Schulabschlusses für die höheren Altersgruppen wesentlich geringer sein müßte als dies bei den jüngeren der Fall ist.

26 Für alle Gruppen gilt natürlich, daß das Zusammenleben mit den Eltern in erster Linie für die Altersgruppe von 16-24 Jahre gilt. Aber während immerhin fast 30% der weißen Jugendlichen über eine eigene Wohnung verfügen, sind es unter den Schwarzen weniger als 20%. 27

Die staatlichen Ausgaben pro Kopf der Schüler werden für 1988/89 wie folgt angegeben: Ausgaben inc!. Kapitaldienst in Rand

Schwarze

Veränderung zum Vorjahr in%

Ausgaben ex.c!. Kapitaldienst in Rand

Veränderung zum Vorjahr in%

764,73

+ 28

655,96

+30

Mischlinge

1.359,78

-10

1.221,47

-5

Asiaten

2.227,01

+ 11

2.066,85

+II

Weiße

3.082.00

+ 13

2.882,00

+14

Die Angaben für die schwarze Bevölkerung beziehen sich auf Südafrika ohne die Homelands. In diesen Homelands ist die Situation für die schwarze Bevölkerung zum Teil noch dramatisch schlechter. So werden für einen schwarzen Schüler in Gazankulu nur 669 bzw. 594 Rand und in KaNgwane sogar nur 520 bzw. 488 Rand ausgegeben. Dieses Verhältnis von mehr als 4: I für weiße Schüler kehrt sich allerdings um, wenn man die Ausgaben für schwarze und weiße Universitätsstudenten betrachtet. Die Ausgaben betrugen für das Jahr 1983/84 für Schwarze 5270 Rand, für Mischlinge 6210 Rand, für Asiaten 4335 Rand und für weiße 3339 Rand. Alle Zahlenangaben nach: Race Relations Survey 1989/90, S. 795 ff. In der Zwischenzeit haben erste Gespräche zwischen dem ANC und dem zuständigen Bildungsminister stattgefunden, um über die Bildung einer einheitlichen Schulbehörde für alle Gruppen zu beraten. Dabei wurde auch das Thema der Gleichstellung -vor allem der finanziellen - der einzelnen Gruppen diskutiert. Um die Gleichstellung aller Schüler auf dem finanziellen Niveau wie es gegenwärtig für einen weißen Schüler besteht in ganz Südafrika zu gewährleisten, wäre folgendes notwendig: Der Bildungshaushalt, der für 1991/92 23% des Gesamtbudgets und 6,3% des BIP ausmacht, müßte auf ca. 42% des Gesamthaushalts, bzw. ca. II % des Bruttoinlandprodukts erhöht werden. Vg!. Race Relations Survey 1991/92, S. 187- 196.

A. Fonnale Merkmale der Fragmentierung

69

Dem steht allerdings entgegen, daß nicht zuletzt wegen der Unruhen 28 in zahlreichen schwarzen Städten und der weit befolgten ANC-Parole "Liberation now- Education later" das tatsächliche Bildungsniveau eher gesunken ist,- was zu dem Problem der "verlorenen Generation" schwarzer Jugendlicher geführt hat, die fast ohne Ausbildung strukturell arbeitslos sind und denen Randalieren zur täglichen Gewohnheit geworden ist. Ihre Zahl ist unbekannt, Schätzungen sprechen von bis zu 5 Millionen. 29

II. Vorformungen des politischen Verhaltens Diese qualitativen Aspekte des Bildungssystems sind bei der Befragung nach dem Ausbildungsstand30 natürlich nicht enthalten. Sie sind aber zum Ver-

28 Im Jahr 1989 gab es insgesamt 1.403 Menschen, die als Folge politischer Auseinandersetzung starben, 254mehr als im Jahr zuvor. Nach der Legalisierung der politischen Parteien und Bewegungen vom Februar 1990 stieg diese Zahl sogar noch deutlich an. Nach Angaben des South African Institute of Race Relations starben 1990 3.699 Menschen wegen politischer Gewalt, was einen Anstieg zum Vorjahrvon 163% bedeutet. Zu den Hauptkonfliktgebieten zählt die Provinz Natal, in der auch lange nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes in den anderen Provinzen des Landes der Notstand in Kraft blieb, und bestimmte Townships vor allem im PWV -Gebiet und im westlichen Kap. In diesen Gebieten kam es sowohl zu Lehrer- als auch zu Schülerstreiks, so daß in einigen Schulen bis zu sechs Wochen der Unterricht ausfiel. Diese 'boycotts', 'stayaways' und 'strikes' sind neben den katastrophalen Rahmenbedingungen in den schwarzen Schulen ursächlich für die hohen Durchfallquoten bei den 'Matric-Exams' verantwortlich. Nur 41,1% der angetretenen Kandidaten bestanden im Jahr 1989 ihre Abschlußprüfung, im Jahr 1990 waren es sogar nur 37% der schwarzen Schüler. Vgl. Race Relations Survey 1989/90, S. 235 und 829 und dgl., Race Relations Survey 1991/92, S. 208 und 485.

29 Eingehend mit der Situation der schwarzen städtischen Jugendlichen beschäftigt sich eine Studie "Black Youths in Soweto Attitudes Regarding Various Socio-Political Issues", die im Auftrage des SA Communication Service durch Market Research: Research for a New South Africa im August 1991 durchgeführt wurde. Danach stimmten nur 21% der Parole "Liberation before Education" zu, 66% entschieden sich für "No Liberation without Education", was seit 1991 die offizielle Parole des PAC ist, weitere 9% stimmten beiden Parolen zu. Obwohl also die ANC Forderung einer klaren Minderheitenposition entspricht, gelang es, das Schulsystem in den schwarzen Städten über Jahre lahm zu legen - ein deutlicher Indikator für die Einschüchterung, die das politische Klima in vielen schwarzen Städten kennzeichnet.

30 Ein weiteres gilt es zu beachten. Die Forderungen der einzelnen schwarzen Gruppen nach Unterrichtung in ihrer jeweiligen Muttersprache wurden inzwischen durch das Department of Education and Training weitgehend berücksichtigt. So wurden für 1988 in den Sprachen Xhosa, Zulu, NordSotho, Süd-Sotho, Tswana, Venda und Tsonga die entsprechenden Unterrichtsmaterialien erstellt, und der Unterricht fand in diesen Sprachen bis zum Abschluß (Standard 10) statt. Vgl. Department of Education and Training, Annual Report 1989, Cape Town, Pretoria 1990, S. 57 ff. Da viele dieser Sprachen jedoch erst im Laufe des 19. Jh. zu Schriftsprachen wurden (meist durch den Einfluß von

70

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

ständnis der politischen Situation des Landes wesentlich, weil Bildung die sozialstatistische Variable ist, die sich nicht nur unmittelbar in der politischen Orientierung niederschlägt, sondern die auch wie ein Filter die objektiven sozialstatistischen Merkmale wie z.B. Wohlstand oder Armut in den Bereich des politischen Verhaltens transformiert. Bildung spielt beim Individuum eine ähnliche Rolle wie u.a. die Massenmedien im politischen System: Sie erfüllt eine 'Gatekeeper-Funktion' 31 . Informationsverhalten und Formen der politischen Kommunikation gehören zwar wie die Bildung in dieselbe Gruppe der Variablen, die das politische Verhalten vorformen, sie sind allerdings selbst wiederum eine abhängige Variable im Hinblick auf den Bildungsstand, der z.B. bestimmte Formen des Informationsverhaltens erst ermöglicht oder auch nicht zuläßt. Faßt man die Befragungsergebnisse nach dem Bildungsstand (vgl. Tab. 4: Ausbildungsniveau und Informationsverhalten) in einen Index32 zusammen, so erhält der Ausbildungsstand der gesamten Afrikanerbevölkerung einen Wert von 529, gefolgt von einem für Engländer von 525, Asiaten mit 408 und Mischlinge mit 386. Die bestausgebildeten schwarzen Gruppen sind die städtischen Tswanas/Sothos (372) und Zulus (371), während die Xhosas auch in den Städten nur einen Wert von 320 erhalten, dieser liegt noch unter dem Wert der

Missionaren), sind sie zwar ein optimales Kommwlikationsmittel für Radio oder Fernsehen, wie die relativ hohe Zahl der Sendestunden zeigt, aber nicht immer geeignet, einen Schulunterricht vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern zu ermöglichen. Dies bedeutet, daß Englisch oder Afrikaans als Medium benutzt werden und schwarze Kinder damit in der Regel eine weitere Sprache erlernen müssen. 31 Zum Begriff vgl. schon Easton, David, A Framework for Political Analysis, Englewood Cliffs, N.J. 1965, S. 122 und ausführlicher ders., A Systems Analysis of Political Life, New York, London, Sydney 1965, S. 87 ff. Easton weist Parteien, Meinungsführern, der Intelligenzia und den Medien kritische Funktionen innerhalb und außerhalb seines Input-Output-Modells bei der Umsetzung von Wünschen (wants) in Anforderungen (demands) an das politische System zu. 32 In der Untersuchung wurde erhoben, wie sich der Ausbildungsgrad auf einer 9er Skala, die von I (keine Ausbildung) bis 9 (akademischer Abschluß) reicht, verteilt. Um die in dieser Häufigkeitsverteilung über alle aufgeführten ethnischen Gruppen enthaltenen Informationen zu verdichten, wurde die 9er Skala als - wie in den Sozialwissenschaften üblich, wenn auch nicht ganz unproblematisch als Intervallskala interpretiert und der Index gebildet, indem die unterste Stufe (keine Ausbildung) mit I und die höchste Stufe (akademischer Abschluß) mit 9 gewichtet wurde. Diese Zahlen sind mit den dazugehörenden Prozentsätzen multizipliert und summiert worden. Auf diese Weise ergeben sich Indexwerte mit einem Minumurn von 100 (keiner hat einen Abschluß) und 900 (alle haben einen Akademischen Abschluß). die natürlich weit außerhalb der 1-9 Skala liegen, die aber deutlich den Abstand zwischen den einzelnen Gruppen veranschaulichen. Die tatsächlichen Unterschiede sind jedoch noch deutlich höher anzusetzen, weil die formal gleichen Abschlüsse inhaltlich unterschiedlich sind, ohne daß dies gemessen worden ist. Erfahrungswerte legen die Hypothese nahe, daß' das tatsächliche Bildungsgefälle mindestens doppelt so groß ist wie das durch die Befragung erhobene.

71

A. Formale Merkmale der Fragmentierung

ländlichen Tswanas/Sothos mit 335. 33 Das Schlußlicht bilden die ländlichen Zulus (303) und die ländlichen Xhosas mit 280, - also fast der Hälfte des für die Weißen erhobenen Wertes. Tabelle 4

Ausbildungsniveau und Informationsverhalten Ausbildung (Index)

Zeitunglesen in%

Fernsehen in%

Radiohören in%

Afrikaner

529

77,3

93,8

79,2

Engländer

525

79,7

91,6

77,4

Mischlinge

386

66,7

84,3

69,2

Asiaten

408

76,2

84,1

77,4

Zulus ländlich

303

29,9

ll ,9

79,2

Zulus städtisch

371

56,0

49,7

77,6

Xhosas ländlich

208

19,6

25,1

63,3

Xhosas städtisch

320

44,3

55,4

75,9

Tswanas/ Sothos ländlich

335

32,9

20,1

74,5

Tswanas/ Sothos städtisch

372

61,9

62,1

58,3

Ausbildung zum Teil zusammen mit dem Lebensstandard spiegeln sich auch im Informationsverhalten (vgl. Tabelle 4) wider. Nur beim Radiohören erreichen die schwarzen Gruppen eine Häufigkeit, die an die Weißen, Asiaten und Mischlinge heranreicht, während Fernsehen und Zeitunglesen deutlich geringer insbesondere in den ländlichen Regionen - praktiziert wird. Damit ist natürlich nichts darüber ausgesagt, was gehört, gesehen und gelesen wird. Teilnehmende Beobachtung in städtischen wie ländlichen schwarzen Siedlungen, sowie ein Blick in die wichtigsten Zeitungen34 für Schwarze legen die Hypothese nahe, daß

33 Dem entsprechen auch die Zahlen der an Universitäten eingeschriebenen Studenten: Xhosa 3.70 I; Zulu 9 .516; Tswana/Sotho 19.120. Zahlen aus: Department of Education and Training, Annual Report 1989, S. 335. 34 Hierzu gehört zum Beispiel die derzeit auflagenstärkste Tageszeitung "The Sowetan", die zur Argus-Gruppe gehört und die erst im Zuge der Verfassungsverhandlungen eine Art Lernprogramm der wichtigsten Verfassungsbegriffe aufgelegt hat. Sogenannte "weiße" Zeitungen entdecken erst seit kurzem die Schwarzen als ihre Zielgruppe.

72

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

politische Information dabei nur von minimaler Bedeutung ist. Wie Tabelle 5 zeigt, spielt mündliche Kommunikation im politischen Bereich eine viel wesentlichere Rolle. Tabelle 5 Politische Diskussion Skala 1-3 bzw. 1-4 Häufigkeit

Überzeugungskraft

Afrikaner

2,34

3,07

Engländer

2,17

2,69

Mischlinge

1,55

2,35

Asiaten

1,71

2,45

Zulus ländlich

1,70

2,42

Zulus städtisch

1,76

2,58

Xhosas ländlich

1,66

1,90

Xhosas städtisch

1,92

2,26

Tswanas/Sothos ländlich

1,85

2,50

Tswanas/Sothos städtisch

1,93

2,59

Der in Tabelle 5 enthaltene Indexwert für die Häufigkeit politischer Diskussionen auf einer Dreierskala zeigt zwar für alle schwarzen Gruppen Werte, die niedriger sind als die für die Weißen, aber alle Werte liegen deutlich über dem Mittelwert von 1,5. Bemerkenswert bei dieser Tabelle ist allerdings auch, daß diesmal Asiaten und Mischlinge nicht in der Größenordnung der Werte für die Weißen liegen. sondern sich am unteren Ende bewegen mit dem absolut niedrigsten Wert von allen Gruppen bei den Mischlingen. Dies legt die Hypothese nahe, daß diese Minderheiten zwischen Schwarz und Weiß politisch schweigen, um nicht anzuecken. Ein ähnliches Ergebnis zeigt der zweite Teil von Tabelle 5, wo nach der Selbstperzeption der eigenen Überzeugungskraft gefragt ist. Hier erreichen die Afrikaner auf der diesmal von 1 bis 4 reichenden Skala wiederum den Spitzenwert, aber erneut erreichen alle Gruppen mit Ausnahme der ländlichen Xhosas einen Wert, der deutlich oberhalb der Skalenmitte liegt.

A. Formale Merkmale der Fragmentierung

73

Neben Lebensstandard und Ausbildungsniveau kommt der Perzeption der eigenen Situation und der entsprechenden Erwartung für die Zukunft eine wesentliche Rolle für das politische Verhalten zu. 35 Tabelle 5a36

Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Situation (Index) Gegenwart (Vergleich Vorjahr)

Zukunft (nächstes Jahr)

Afrikaner

- 28,1

- 27,4

Engländer

-

29,0

- 31,7

0,0

+ 23,0

6,4

+ 18,2

Schwarze in formellen Siedlungen Schwarze in informellen Siedlungen

+

Es gibt kaum eine Variable bei der der Schwarz-Weiß-Gegensatz ausgeprägter ist: Die Weißen fühlen sich als Verlierer der jüngsten Entwicklung und erwarten einen weiteren Niedergang ihres ökonomischen Status, die Schwarzen, ganz gleich ob mit oder ohne festen Wohnsitz, sehen zwar keine nennenswerte Veränderung ihrer Situation, zeigen aber große Erwartungen in die Zukunft. Dies wird auch im Zeitvergleich37 unter städtischen Schwarzen deutlich, wobei es plausibel erscheint, einen Zusammenhang zwischen der deutlichen Reduktion der Erwartun-

35 Die Bedeutung der Perzeption gerade der wirtschaftlichen Situation für das politische Verhalten ist heute ein anerkanntes Paradigma zur Erklärung politischen Verhaltens. Erstmalig theoretisch entwickelt und empirisch anhand der Daten zur Bundesrepublik Deutschland wurde dies überprüft von Kaltefleiter, Wemer, Wirtschaft und Politik in Deutschland. Konjunktur als Bestimmungsfaktor des Parteiensystems, 2. Aufl. Köln, Opladen, 1968, insbes. S. 108 ff.

36 Markinor. Socio-Political Trends, Johannesburg Juni 1991, die Untersuchung bezieht sich nur auf Weiße und städtische Schwarze, enthält keine Unterscheidung nach schwarzen Stämmen, jedoch eine nach Wohnfonnen, vgl. Fußnote 25 dieses Kapitels. Eine entsprechende Untersuchung aus dem Jahr 1992 enthält dagegen eine Unterteilung nach schwarzen Stämmen, diese zeigt, daß eine positive Beurteilung der wirtschaftlichen Situation unter Xhosas und Zulus geringfügig größer ist als unter Sothos und Tswanas, während der Pessimismus unter allen Weißen noch größer geworden ist. Vgl. Markinor, Socio-Political Trends, Johannesburg Juni 1992. 37 Vgl. Survey Results on Various Socio-Political Issues: A Comparison Between Surveys Oct '89, May '90 and May '91, Opinion Surveys: Researchfora New South Africa. Dieser Trend hat sich auch 1992 fortgesetzt, wobei der Optimismus unter Zulus, Sothos und Tswanas deutlich größer ausgeprägt ist, als unter den Xhosas, während es unter Engländern und Afrikanern in ihrem Pessimismus keine nennenswerten Unterschiede gibt. Vgl. Socio-Political Trends 1992.

74

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

gen von 1990 mit 1991 und dem im gleichen Zeitraum deutlich gestiegenen allgemeinen Unbehagen zu unterstellen (vgl. Schaubild I): Schaubild I

Zukunftsaussichten, nur schwarze Bevölkerung") 100%r---------------------------------------------~-----------,

• Oktober '89 r::zJ Mai '90 0Mai '91 80%

60%

58,7%

40%

20%

besser

g leichbleibend

schlechter

weiß nicht

a) aus: Survey Results on Various Socio-Politicallssues: A Comparison.

Es ist offensichtlich, daß diese Erwartungen nicht erfüllt werden können, so daß sehr bald mit erheblichen Entäuschungseffekten unter der schwarzen städtischen Bevölkerung und damit verbunden politische Radikalisierung zu erwarten ist; dies gilt gerade dann, wenn in einem Neuen Südafrika eine von . Schwarzen geführte Regierung an die Macht kommt. 38 Der ausgeprägte Pessimismus der Weißen ist ein weiterer Indikator für ein weißes Protestpotential.

38 In der "Black Youths in Soweto" Untersuchung erklären 46,8%, daß sie unter einer schwarzen Regierung einer sehr guten oder guten Zukunft entgegensehen, unter einer weißen Regierung artikulierten nur 29,4% diesen Optimismus, der allerdings am ausgeprägtesten im Hinblick auf eine gemischte Regierung unter Beteiligung aller Gruppen ist: 74,9% sehen unter dieser Bedingung einer sehr guten oder guten Zukunft entgegen.

A. Fonnale Merkmale der Fragmentierung

75

111. Wirtschaftliche und soziale Konfliktfelder

Die Konfliktlinien einer Gesellschaft werden einerseits geprägt von den sozialstatistisch erfaßbaren Unterschieden. Andererseits erhalten diese Unterschiede ihre politische Relevanz erst dadurch, daß sie als Gegensätze perzipiert werden. Schon dieser Überblick über die meßbaren Unterschiede in der südafrikanischen Gesellschaft rechtfertigt den Begriff Fragmentierung, die so ausgeprägt ist, daß es naheliegend ist, daß diese sich auch in den wechselseitigen Perzeptionen niederschlagen werden. Auf der Grundlage der sozialstatistisch meßbaren Ausdifferenzierung der Gesellschaft lassen sich fünf Hauptkonfliktlinien erwarten:

I.

Südafrika ist eine vielfältig fragmentierte Gesellschaft, bei der erwartet werden kann, daß aufgrund der historischen Vorbelastung die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen nach wie vor politisch relevante Konfliktlinien darstellen. Dies gilt sowohl innerhalb der verschiedenen Ethnien als auch zwischen ihnen.

2.

Die südafrikanische Gesellschaft ist durch eine Polarisierung der Einkommensverteilung gekennzeichnet, die den Ruf nach staatlich organisierter Umverteilung geradezu provoziert. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß erstens der wohlhabende Teil der Gesellschaft, also primär die Weißen, nicht homogen wohlhabend sind und zweitens die zahlenmäßige Relation zwischen Weiß und Schwarz das Umverteilungspotential erheblich reduziert. Wenn nur gut 50% der Weißen über ein Haushaltseinkommen von mehr als Rand 2.500 verfügen, so ergibt das eine relativ wohlhabende Schicht von ca. 2,5 Mio. Menschen. Wenn fast 85% der schwarzen Haushalte weniger als Rand 1.200 verdienen, so entspricht dies fast 18 Mio. Menschen39 . Das bedeutet, daß, um das Haushaltseinkommen jedes Schwarzen um nur einen Rand zu verbessern, jeder der in einem wohlhabenden weißen Haushalt Lebenden ca. 7 Rand abgeben muß- nimmt man die TBVC-Staaten hinzu, sind es sogar fast 10 Rand. Um also das Haushaltseinkommen von Schwarz und Weiß durch Umverteilung anzugleichen, müssen die Weißen zwischen sieben und zehnmal mehr abgeben als die Schwarzen erhalten können. Dabei ist ergänzend zu berücksichtigen, daß die als "wohlhabend" definierte Grenze bei den Weißen von monatlich Rand 2.500 pro Haushalt eher dem Einkommen der unteren Mittelschichten in den

39 Dabei sind die Einwohner der TBVC-Staaten mit ca. 6 Mio. Menschen nicht beriicksichtigt. Vgl. Fußnote 10 in diesem Abschnitt.

76

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

modernen Industriegesellschaften vergleichbar ist, wobei für die Perzeption der betroffenen Weißen wichtig ist, daß dieses Einkommen in den letzten 20 Jahren ständig gesunken ist. Dies verdeutlicht, daß eine nennenswerte Umverteilungsmasse nicht zur Verfügung steht. Dies signalisiert die Schärfe der zu erwartenden Umverteilungskämpfe. Dementsprechend lehnt Präsident de Klerk eine Umverteilung grundsätzlich ab und strebt eine Wohlstandssteigerung für die schwarze Bevölkerung aus dem Zugewinn durch wirtschaftliches Wachstum an. 40 3.

Nicht weniger ausgeprägt ist die Polarisierung bei der Vermögensverteilung. Dementsprechend wird von verschiedenen Gruppen, vor allem dem ANC, immer wieder die Verstaatlichung der großen Industrievermögen gefordert. Eine solche Verstaatlichung mag symbolische Bedeutung haben, verändert allerdings die realen Möglichkeiten der Umverteilung nicht. Kein schwarzer Haushalt erhält dadurch mehr Einkommen, daß die Anglo American Corporation of South Africa, Sanlam und andere sich nicht mehr im Privat- sondern im Staatsbesitz befinden. Eher ist das Gegenteil anzunehmen, da alle Erfahrung lehrt, - was auch wirtschaftstheoretisch mühelos zu begründen ist- daß die Produktivität solcher Unternehmen nach der Verstaatlichung tendenziell sinkt und somit für eine Einkommensumverteilung noch weniger zur Verfügung steht. Daraus ergibt sich, daß es nicht nur keine Masse für Umverteilung gibt und daß darüber hinaus mögliche Umverteilungen, insbesondere im Vermögensbereich, die gesamte Leistungsfähigkeit der Wirtschaft eher reduzieren werden.

4.

Eine Lösung aus diesem Umverteilungsdilemma kann dementsprechend nur eine stark wachsende Wirtschaft bringen - wie das zum Teil in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, aber auch in der Republik Korea und der Republik China auf Taiwan der Fall war. Selbst wenn nach dem Aufheben aller Sanktionen die außenwirtschaftliehen Voraussetzungen für einen kräftigen Wachstumsschub gegeben sein werden, so bedeutet die Struktur des südafrikanischen Arbeitsmarktes eine enge Begrenzung der Wachstumsmöglichkeiten. Da die Polarisierung im Bildungssystem nicht weniger ausgeprägt ist als bei der Einkommensverteilung, fehlt die große Reserve an Humankapital, um eine arbeits-

40 Vgl. De Klerk: Sein Stimmrecht kann man nicht essen. Der südafrikanische Präsident räwnt im Welt-Interview ein, daß sich die materielle Lage der Farbigen noch nicht verbessert hat, in: Die Welt vom 10. August 1993.

A. Formale Merkmale der Fragmentierung

77

intensive Wachstumsphase einzuleiten. Aus der weitgehend statischen Wirtschaftsgesinnung, auf der Grundlage unzureichender Ausbildung der älteren Generation - vor allem im Hinblick auf die Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft - und der von hohem Anspruchsniveau geprägten unausgebildeten jugendlichen Generation,41 ergibt sich eine enge Begrenzung der Arbeitsmarktreserven, die in einem totalen Gegensatz zu der Arbeitslosenstatistik steht. 5.

Einer allmählichen Angleichung der Einkommensunterschiede durch stetiges Wachstum steht die Erwartungsstruktur eines großen Teils der schwarzen Bevölkerung gegenüber. Sie erwarten eine durchgreifende Verbesserung ihrer ökonomischen Situation in kürzester Zeit, als ob die Abschaffung der 'getrennten Entwicklung' und die Regierungsübernahme oder -beteiligung durch Schwarze die ökonomischen Probleme buchstäblich über Nacht lösen würde. Für die politischen Konfliktlinien ist es unwesentlich, daß diese Erwartungen unrealistisch und unerfüllbar sind, wer immer die Regierung stellt. Wichtig ist, daß angesichts dieser Erwartungsstruktur der Faktor Zeit zur Überwindung der Einkommenspolarisierung de facto nicht zur Verfügung steht. Daraus ergibt sich eine Situation, zu deren Lösung bewährte politische oder ökonomische Strategien nicht zur Verfügung stehen.

Gerade aus dieser letzten Feststellung folgt allerdings auch ein weiterer Faktor, der die Situation darüber hinaus weiter verschärft. Zu den wichtigsten Bestandteilen der Sanktionspolitik, die die anhaltende Wirtschaftskrise seit Mitte der achtziger Jahre mit bewirkt haben, gehört das Fehlen ausländischer Investitionen. In diesem Sinne ist Südafrika ein Entwicklungsland, dessen Wachstumschancen von der Verfügbarkeil ausländischen Kapitals wesentlich bestimmt werden. Den Abzug diesen Kapitals kann man -wie geschehen- durch politische Entscheidungen (Sanktionen) weitgehend bewirken. Die Rückkehr dieses Kapitals kann jedoch weder politisch befohlen noch erbeten werden. Sie hängt allein von der Attraktivi41 Bei der älteren Generation sind die Folgen der sogenannten Bantu Education, die eine systematische Vernachlässigung der Ausbildung der schwarzen Bevölkerung im Hinblick auf die Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft kennzeichnete, zu nennen. Vgl. Debroey. Steven, South Africa under the Curse of Apanheid. Lanham, New York, London 1990, bes. S. 237-241. Bei der jüngeren Generation ist neben der 'Lost Generation' darauf zu verweisen, daß diejenigen. die sich einer weitergehenden Ausbildung unterziehen, eine große Präferenz für die nicht natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereiche zeigen. So belegten 1989 80% aller Schüler höherer Schulen Kurse mit philosophischer Ausrichtung. Das Angebot an ausgebildeten Kräften der Elektro- und Elektronikindustrie beträgt seit 1970 nur ca. 50% des jährlichen Bedarfs. Vgl. Race Relations Survey 1989/90, s. 641 ff.

78

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

tät, d.h. konkret der Rentabilitätschancen für dieses Kapital ab. Verteilungskämpfe, Verstaatlichungsdrohungen usw. zerstören die Attraktivität eines Standortes. Daraus ergibt sich ein circulus vitiosus: Eine Chance zur sozialen Befriedung des Landes setzt massive ausländische Investitionen voraus. Die sozialen Konfliktlinien des Landes und die Form, wie sie ausgetragen werden, bzw. wie ihre Austragung erwartet wird, schreckt ausländisches Kapital jedoch ab. Das bedeutet das Ausbleiben von realen Wachstumschancen, was wiederum die sozialen Gegensätze verschärft.

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung Diese kritische Beurteilung der Situation Südafrikas ist zunächst das Bild, das sich bei der Betrachtung des verfügbaren statistischen Materials zeigt. Von politischer Relevanz werden die Konfliktgegensätze jedoch nur, wenn sie auch von den beteiligten Menschen in dieser oder ähnlicher Form gesehen werden. Religiöse Bindungen z.B., die soziales Leiden für jedes Individuum als Teil eines göttlichen Ratschlusses verstehen, können dazu führen, daß soziale Gegensätze ihre politische Sprengkraft verlieren. Ein erster wichtiger Indikator, um diese Frage zu prüfen, sind die wechselseitigen Vertrauensbezüge in einer Gesellschaft.

I. Vertrauensbezüge Bei den für das Zusammenleben der Menschen in einem Staat so entscheidenden wechselseitigen Vertrauensbezügen gilt zunächst für Südafrika, daß gruppenübergreifend ein Klima des Mißtrauens herrscht. 1 Ursächlich verantwortlich für dieses Klima des Mißtrauens ist sicher auch die jahrzehntelange Politik der getrennten Entwicklung der Gruppen, die als offizielle Regierungspolitik seit der Machtübernahme der Nationalen Partei 1948 propagiert wurde, auch wenn die Wurzeln dieses Regierungshandeins weit früher zu suchen sind.

1 Dies zeigt auch der umfassende Bericht des Human Seiences Research Council "lnvestigation into Intergroup Relations", der als Ergebnis einer Studie von über 30 Wissenschaftlern und dreizehn Arbeitsgruppen im Zeitraum von 1980 bis 1985 erstellt wurde. Im Abschlußbericht heißt es: "Ethnic differences can give rise to long-tenn conflict, particularly when there are also conflicting econornic interests. There has often been an economic basis for conflict between different groups in South Africa In the specific instance where ethnic and dass differences coincide, there is a very strong probability of conflict." Main Committee: HSRC lnvestigation into lntergroup Relations, The South African Society: Realities and Future Prospects, Pretoria 1985, S.59.

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

79

Tabelle 6

Vertrauensbezüge (in%) Man kann den meisten Menschen vertrauen

Man kann nicht vorsichtig genug sein

Afrikaner

26,6

68,3

Engländer

29,3

66,1

Mischlinge

10,8

88,6

Asiaten

15,9

81,0

Zulus ländlich

31,2

53,6

Zulus städtisch

20,9

69,2

Xhosas ländlich

53,9

41,2

Xhosas städtisch

30,8

60,7

Tswanas/Sothos ländlich

28,7

68,0

Tswanas/Sothos städtisch

27,5

67,2

Die Sprachlosigkeit und das Unvermögen zur Kommunikation zwischen den Gruppen hat zu einer politischen Kultu~ des Landes geführt, die bislang die jeweils anderen Gruppen kaum - oder wenn, dann nur negativ - zur Kenntnis nahm. 3

2 Die Form der politischen Kultur des Landes auch innerhalb der weißen Gruppie~ngen wurde besonders in den ganzseitigen Anzeigen der NP zum Referendum vom März 1992 deutlich. Diese 'Werbung' zeigte eine vermummte weiße Gestalt mit dem Finger am Abzug eines Revolvers und der Aussage: "Free with every CP vote, the AWB and all they stand for." Vgl. z.B. Business Day vom 12. März 1992 oder The Star vom 11. März 1992.

3 Beredtes Zeugnis einer Auseinandersetzung mit dieser Tatsache sind- neben den 'harten' Daten der Umfragen - die zahlreichen, häufig im Exil geschriebenen, Bücher von Schriftstellern oder Journalisten, die sich mit dem mangelnden Verständnis zwischen den Gruppen beschäftigen. Beispielhaft sei hier das Erstlingswerk von Rian Malan, My Traitor' s Heart. A South African Exile Returns to Face His Country, His Tribe And His Conscience, New York 1990 (deutsche Übersetzung unter dem Titel "Mein Verräterherz, Mordland Südafrika", Reinbek 1990) genannt. Malan, Nachfahre einer der angesehensten burisch-hugenottischen Familien Südafrikas, Großneffe des burischen Premierministers Daniel F. Malan (1948-54) und Neffe des bis 1991 amtierenden Verteidigungsministers Magnus Malan, arbeitete als Reporter bei verschiedenen Zeitungen, ehe er 1977 aus Protest gegen das Apartheidregime Südafrika verließ und nach Amerika ging, von wo er 1985 in seine Heimat zurückkehrte. "Ich lief davon, weil ich Angst vor den kommenden Veränderungen hatte und Angst vor den Folgen, wenn sich nichts änderte. Ich lief davon, weil ich die Apartheid nicht mit dem

80

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

In Tabelle 6 (Vertrauensbezüge) wird der Versuch wiedergegeben, diese Vertrauensbezüge zu messen. Fast 90% der Mischlinge, gut 80% der Asiaten 4 und etwa 2/3 der Weißen wie der städtischen Schwarzen glauben im Hinblick auf ihre Mitmenschen, nicht vorsichtig genug sein zu können. Allein in den ländlichen Gebieten, insbesondere bei den Xhosas, zum Teil aber auch bei den Zulus, ist dieser Anteil deutlich niedriger. Dem entspricht allerdings nicht die Beurteilung der Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen, wenn man diese Frage allgemeiner formuliert (vgl. Tab. 6a). Tabelle 6~ Beurteilung der Rassenbeziehungen Gegenwart (Mittelwert) 5er Skala

Zukunft (Index)

Erwartung: glücld. SA für alle Rassen (Mittelwert) 5er Skala

Afrikaner

2,96

+ 8,4

2,66

Engländer

2,88

+ 29,7

2,74

Schwarze mit festem Wohnsitz

3,33

+ 29.9

3,01

Schwarze ohne festen Wohnsitz

3,18

+ 34,7

2,82

Dabei ist zunächst bemerkenswert, daß die schwarze Bevölkerung die gegenwärtigen Beziehungen deutlich positiver beurteilt als die weiße, die aber auch

Gewehr in der Hand verteidigen und weil ich sie nicht mit dem Gewehr in der Hand bekämpfen wollte. Ich lief davon, weil ich Afrikaaner haßte und Schwarze liebte. Ich lief davon, weil ich Afrikaaner war und Schwarze fürchtete." S. 102. Auch die Werke der Nobelpreisträgerio von 1991 Nadine Gordimer oder die des wegen terroristischer Aktivitäten 1975 verurteilten Malers und Lyrikers Breyten Breytenbach lassen sich in diesem Zusammenhang nennen. Vg!. vor allem die Reden und Aufsätze der Jahre 1967-1974 und 1983-1985 (vor und nach der Zeit im Gefängnis), Breytenbach, Breyten, Schlußakte Südafrika, Frankfurt am Main 1988. 4 Dies entspricht der geringen Häufigkeit an politischer Kommunikation in dieser Gruppe. Vgl. Tabelle 5: Politische Diskussion.

5 Vgl. Socio-Political Trends 1991. Die Markinor Studie aus dem Jahre 1992 zeigt, daß mehr als die Hälfte der Schwarzen - unabhängig von der Stammeszugehörigkeit - von einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen ausgeht, und etwa 2/3 glauben an eine glückliche Zukunft in Südafrika für alle ethnischen Gruppen. Es ist bemerkenswert, daß dieser Optimismus unter den Weißen ähnlich ausgeprägt ist, unter den Engländern sind es fast 70%, unterden Afrikanern mit 66% nur geringfügig weniger. Vgl. Socio-Political Trends, 1992.

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

81

noch ein vorsichtiges positives Bild zeichnet. Auf die Zukunft bezogen fällt der fast identische Optimismus von Engländern und Schwarzen auf, aber auch die Afrikaner zeigen sich, wenn auch sehr verhalten, eher optimistisch.6 In diesem Fall bedeutet die Informationsverdichtung durch die Indexbildung jedoch einen wesentlichen Informationsverlust Über ein Drittel der Afrikaner, fast ein Viertel der Engländer, aber nur fast 15% der Schwarzen erwarten eine Verschlechterung der Beziehungen. Diese Zahlen verdeutlichen, daß das Protestpotential gegen das Neue Südafrika unter den Weißen, insbesondere unter den Afrikanern beachtlich ist. was der politischen Artikulation im Lande entspricht. Im Durchschnitt zeigen sich jedoch alle Gruppen zuversichtlich im Hinblick auf ein "glückliches Südafrika für alle Rassen", eine durchschnittliche Zuversicht, die wiederum durch eine Polarisierung der positiven und negativen Erwartungen zustande kommt, insbesondere auf Seiten der Afrikaner. Das Klima des Mißtrauens schlägt jedoch wieder durch, wenn man die Fragestellung konkretisiert. Das gilt bereits im Hinblick auf die verschiedenen Primärgruppen (vgl. Tabelle 6b: Vertrauensbezüge in Primärgruppen). Vertrauen schenkt man eigentlich nur der eigenen Familie, aber auch in diesem Bereich zeigt sich bei den städtischen Xhosas ein deutlich niedrigerer Indexwert als bei den anderen Gruppen. Interessant ist aber auch in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen den ländlichen und städtischen Schwarzen. Bei allen drei Gruppen ist das Vertrauen in die eigene Familie auf dem Lande größer als in der Stadt. Dramatisch ist der Unterschied allerdings bei den Xhosas, ein weiterer Indikator für den Prozeß der Entwurzelung gerade unter dieser Gruppe.? Das Vertrauen zu den Freunden ist generell niedriger als zur eigenen Familie, aber hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen ethnischen

6 In der 1992 Markinor Studie äußern sich über 70% der Schwarzen sehr oder ziemlich zuversichtlich im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung der Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen. Unter den Engländern ist dieser %-Satz fast identisch, unter den Afrikanern mit ca. 65% nur geringfügig niedriger. Im Hinblick auf die schwarzen Stämme fällt auf, daß die Zuversicht unter Xhosas und Zulus ebenfalls um etwa 5 Prozentpunkte höher ist als unter Tswanas und Sothos. Vgl. Socio-Political Trends I 992. 7 Mit der Begrenzung ihrer Untersuchung auf Teile der städtischen schwarzen Bevölkerung konnte dieser Unterschied von Hanf et. al. natürlich nicht erfaßt werden. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, daß seit jener Untersuchung aus verschiedenen Gründen eine Konfliktverschärfung eingetreten ist. Dem entspricht, daß die Autoren schon damals feststellten, daß "friedlicher Wandel ... noch (Hervorhebung vom Verf.) möglich [ist]." Hanf/WeilandNierdag: Südafrika: Friedlicher Wandel?, S. 394. 6 Schumacher

82

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

Gruppen: während das Vertrauen zu Freunden unter den Weißen noch relativ hoch ist, gilt das für die Asiaten kaum noch und ist unter der städtischen schwarzen Bevölkerung nicht mehr erkennbar. Tabelle 6b Vertrauensbezüge in Primärgruppen (Skala 1-10) Familie

Freunde

Nachbarn

Südafrikaner

Afrikaner

8,85

7,59

6,03

5,32

Engländer

8,99

7,41

5,92

5,37

Mischlinge

8,99

6,69

5,44

5,32

Asiaten

8,86

6,0

5,58

5,19

Zulus ländlich

8,89

5,86

5,55

5,55

Zulus städtisch

8,38

5,01

4,75

4,78

Xhosas ländlich

8,98

6,77

7,67

6,55

Xhosas städtisch

7,07

4,79

4,39

4,98

Tswanas/Sothos ländlich

8,84

4,95

5,23

6,36

Tswanas/Sothos städtisch

8,07

4,46

4,79

5,74

Bei dem Vertrauen gegenüber den Nachbarn schlägt das allgemeine Mißtrauen bereits deutlich durch, mit der wichtigen Ausnahme der ländlichen Xhosas. Von allen drei schwarzen Gruppen ist der Stadt-Land Unterschied bei den Xhosas am ausgeprägtesten. Gerade gegenüber der relativ intakten Stammesstruktur wird das städtische Leben am stärksten als Entwurzelung empfunden. Dagegen ist bei den städtischen Zulus offensichtlich die Einbindung in noch bestehende Stammesstrukturen größer. Wendet man das gleiche Instrumentarium auf das Vertrauen zwischen den ethnischen Gruppen an, so gilt wiederum das allgemeine Mißtrauen (vgl. Tab. 6c: Vertrauensbezüge unter ethnischen Gruppen). Hierbei zeigt sich deutlich, daß das Mißtrauen der Schwarzen untereinander zum Teil besonders ausgeprägt ist. Von zehn möglichen Indexpunkten erreichen die Zulus in den Augen der städtischen Xhosas gerade 2,6 Punkte. Die Weißen bringen es immerhin noch auf 3,1 Punkte. In den Augen der ländlichen Xhosas erreichen die Zulus sogar nur 2,3

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

83

Punkte, die Weißen hier immerhin 5,4. Die Xhosas erreichen zwar in den Augen der Zulus etwas höhere Werte, aber den Zulus bringen auch städtische und ländliche Tswanas und Sothos nur Mißtrauen entgegen. Tabelle 6c

Vertrauensbezüge unter ethnischen Gruppen Skala 1-10 MischIinge

Asiaten

Zulus

Xhosas

Weiße

Afrikaner

3,8

3,7

4,0

3,2

6,0

Engländer

4,4

4,4

4,8

4,1

5,7

Mischlinge

5,6

5,1

4,0

4,0

5,0

Asiaten

4,0

5,8

3,3

3,2

5,1

Zulus ländlich

3,9

2.7

6,8

4,1

4,4

Zulus städtisch

3,2

2,8

4,9

4,6

4,0

Xhosas ländlich

4,4

4,2

2.3

8,0

5,4

Xhosas städtisch

3,9

3,3

2,6

6.2

3,1

Tswanas/Sothos ländlich

3,1

2,6

3,5

4,8

4,1

Tswanas/Sothos städtisch

3.7

3,5

3,3

5,4

4.2

Nicht weniger ausgeprägt ist das Mißtrauen, das die Mischlinge und Asiaten allen anderen Gruppen gegenüber entwickeln und das alle anderen Gruppen ihnen gegenüber zeigen. Wie generell, so gilt auch in diesem Fall, daß man der eigenen Gruppe das größte Vertrauen gegenüberbringt Abgesehen davon schenkt man der Gruppe der Weißen noch das höchste Vertrauen. Dies entspricht sicher nicht dem Außenbild der südafrikanischen Gesellschaft, es ist offensichtlich die Folge einer im primär ländlichen. aber auch im städtischen Leben bis zur Gegenwart gepflegten Verhaltensnorm einer patriarchalischen Gesellschaft. Gerade Tabelle 6c (Vertrauensbezüge unter ethnischen Gruppen) zeigt deutlich, daß die statistisch ermittelten Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen nicht die Oberfläche des täglichen Lebens beschreiben, sondern von einem wechselseitigen Mißtrauen begleitet sind, das natürlich aus der geschichtlichen Entwicklung, die aber offensichtlich weit über den Schwarz-Weiß Konflikt hinausgeht, erklärt werden kann. Es wirft aber die Frage auf, wie es ermöglicht werden kann, daß

84

2. Kapitel: Die mehrlach fragmentierte Gesellschaft

Menschen friedlich in einem Staat zusammenleben können, die wechselseitig tiefes Mißtrauen gegeneinander hegen. 8 Ein wesentliches Element zur Erklärung von Vertrauensbezügen ist die Identifikation mit der als relevant empfundenen Umwelt. Tabelle 6d Regionale Identifikation (in %) Südafrika

Welt als Ganzes

Wohnort

Provinz

Afrikaner

39,4

11,5

40,4

0,4

2,5

Engländer

28,8

16,2

42,9

1,2

8,1

Mischlinge

43,8

27,0

22,8

0,3

5,2

Asiaten

27,5

11,2

49,3

3,1

5,5

Zulus ländlich

54,6

15,3

23,2

5,3

1,7

Zulus städtisch

28,6

13,5

32,5

15,3

9,6

Xhosas ländlich

72,2

24,2

3,8

0,0

0,0

Xhosas städtisch

39,1

11 ,4

43,6

3,9

2,0

Tswanas/ Sothos ländlich

38,7

22,2

27,7

10,7

2,5

Tswanas/ Sothos städtisch

29,9

14,7

35,4

13,6

6,4

ganz Afrika

8 In der Markinor Studie "Socio-Political Trends, June 1991 ",die allerdings nur unter Weißen und städtischen Schwarzen durchgeführt wurde, werden die Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen von den Weißen zu 6,3 Prozentpunkten mehr als negativ bewertet, während eine positive Bewertung unter den Schwarzen einen Vorsprung von 24,8 Prozentpunkten hat. Allerdings glauben nach dieser Studie 17 Prozentpunkte derWeißen mehr an eine Verbesserung in der Zukunft, während dieser Optimismus unter den städtischen Schwarzen sogar 30,9 Prozentpunkte ausmacht. Noch deutlicher zeigt sich das Mißtrauen unter den Gruppen, wenn man nach dem Vertrauen fragt, daß dem Versprechen des ANC entgegengebracht wird, daß eine zukünftige schwarze Regierung keine schwarze Herrschaft über Weiße zulassen werde. Die Engländer mißtrauen diesem Versprechen zu 71,6% und die Afrikaner sogar zu 89,3%. (Landes weite Telefonumfrage im April 1990). 25,4% der Schwarzen und 38,7% der Weißen im Lande fühlen sich in ihrer persönlichen Sicherheit bedroht. Zahlenangaben nach Rhoodie, Nie J., Survey-based indicators of black and white perceptions of sociopolitical change in South Africa, in: van Vuuren, South Africa in the Nineties, S . 503-550, hier S.537 ff.

B. Perzeptionsmerlemale der Fragmentierung

85

Dabei zeigen sich ganz deutlich drei Tendenzen:

1.

Die Identifikation mit Südafrika erreicht bei keiner Gruppe 50% und ist bei Weißen, Asiaten und städtischen Schwarzen, hier vor allem bei den Xhosas, noch arn höchsten.

2.

Der Bezug zum eigenen Wohnort ist bei allen ländlichen Schwarzen, insbesondere bei den Xhosas, aber auch noch bei Mischlingen und Afrikanern sehr ausgeprägt.

3.

Die Identifikation mit ganz Afrika, wie es der Ideologie des Pan Africanist Congress entspricht, findet nur unter den städtischen Zulus und den Tswanas/Sothos eine gewisse Resonanz.

Die enge Verwurzelung der Schwarzen in ihrem Wohnort - für eine Interpretation dieser Zahlen wird man wahrscheinlich auch noch die Identifikation mit der Provinz hinzuzählen müssen - entspricht den Erfahrungen mit Stammesgesellschaften. Daß aber auch fast 40% der Afrikaner (einschließlich Provinz sogar über 50%) sich mit ihrer regionalen Umgebung identifizieren, kann auch als Reflex der Tatsache interpretiert werden, daß wichtige weiße Gruppen die Teilung des Landes propagieren, um in einem Teilstück Südafrikas Afrikaner Lebensart zu erhalten. Bei der schwarzen Bevölkerung fällt wiederum der Unterschied zwischen Zulus und Xhosas ins Auge: Während es unter den ländlichen Xhosas fast keine Identifikation mit überregionalen Einheiten gibt, ist diese unter den ländlichen Zulus mit einem Viertel - ähnliches gilt für die ländlichen Tswanas/Sothos bemerkenswert. Aber auch unter den städtischen Schwarzen ist die Identifikation mit ihrer regionalen Umwelt nach wie vor beachtlich. Dies deutet darauf hin, daß zumindest die Schwarzen, die schon längere Zeit in den schwarzen Städten wohnen, sich mit diesen identifizieren. Ganz offensichtlich ist, daß die über 40 Jahre gesetzlich vorgeschriebene Trennung der Wohngebiete nach ethnischen Gruppen sich im Bewußtsein der Bevölkerung niedergeschlagen hat.

II. Einschätzung der eigenen Situation Für gesellschaftliche Gegensätze gilt, daß die statistisch nachweisbaren Unterschiede häufig weniger wichtig sind als die Perzeption der eigenen Situation. Dabei zeigt sich, daß die Zufriedenheit insgesamt deutlich ausgeprägter ist, als dies nach dem Bild des allgemeinen Mißtrauens zu erwarten ist (vgl. Tabelle 7: Selbstperzeption).

8,03

8,55

7,35

6,50

6,38

7,28

6,13

6,00

6,73

Engländer

Mischlinge

Asiaten

Zulus ländlich

Zulus städtisch

Xhosas ländlich

Xhosas städtisch

Tswanas/ Sothos ländlich

Tswanas/ Sothos städtisch

--

8,23

Afrikaner

Glücklieh

--~

2,78

2,87

3,58

6,06

4,74

2,44

5,96

5,47

6,94

7,46

Faire BehandJung

5,75

4,72

5,23

6,08

5,62

5,62

7,48

7,63

7,51

7,75

Zufriedenheit mit dem Leben

6,40

4,86

5,93

7,81

6,16

5,80

8,55

8,36

8,03

8,52

Zufriedenheit mit Familienleben

4,20

3,30

3,20

4,61

3,96

4,00

6,09

6,44

6,49

6,74

Zufriedenheit mit finanzieller Situation

Tabelle 7 Selbstperzeption Skala 1-10

5,92

6,01

5,91

6,48

6,11

6,22

8,08

7,62

7,69

7,74

Selbstbestimmung im Leben

6,51

5,72

6,52

7,31

6,91

5,94

8,16

7,67

7,66

7,97

Zufriedenheit am Arbeitsplatz

5,76

4,08

5,45

7,86

5,91

4,92

7,36

6,39

7,43

7,45

Selbstbestirnmung am Arbeitsplatz

8,30

8,23

8,08

8,95

8,38

7,95

9,88

9,45

9,78

9,53

Stolz auf die eigene Leisnmg

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

87

Auf einer Zehnpunkteskala ist das Glücklichkeitsempfinden bei den Mischlingen am höchsten, aber auch bei den Weißen und Asiaten recht hoch. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen schwarzen Gruppen sind gering, wichtig ist, daß alle sich in ihrem Selbstverständnis für relativ glücklich, nicht für unglücklich halten. Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich, wenn man die Frage stellt, ob man gerecht behandelt wird. Daß die Weißen nur minimal Ungerechtigkeit empfinden, ist nicht überraschend, daß auch Mischlinge und Asiaten sich überwiegend als gerecht behandelt finden, paßt sich in das bisherige Bild ein. Aber auch unter den Schwarzen ist das Bild differenziert: In geringem Umfang faire Behandlung empfinden ländliche Zulus und städtische wie ländliche Tswanas und Sothos, gewisse Unfaimess die städtischen Xhosas und auch noch die städtischen Zulus, deren ländliche Stammesgenossen sich überwiegend fair behandelt fühlen. All das entspricht überhaupt nicht dem weitverbreiteten Außenbild Südafrikas. Dieses Außenbild spiegelt die Einschätzung der Inhaber politischer Führungsfunktionen, aber offensichtlich nicht das Selbstverständnis der großen Mehrheit auch der schwarzen Bevölkerung. Bei der Zufriedenheit mit den allgemeinen Lebensumständen und dem Familienleben überwiegen die positiven Werte mit Ausnahme der ländlichen Tswanas/Sothos. Hier liegen Afrikaner, Mischlinge, Engländer und Asiaten - in wechselnder Reihenfolge - an der Spitze der Zufriedenheit. Aber auch bei den Schwarzen herrscht generell ein bißchen Zufriedenheit, wobei der Unterschied zwischen städtischem und ländlichen Bereich nicht ausgeprägt ist. Im Zeitvergleich ergibt sich jedoch eine deutliche Verschlechterung der Stimmungslage unter städtischen Schwarzen (siehe Schaubild II: Lebensgefühl im heutigen Südafrika, nur schwarze Bevölkerung). Die Verdoppelung des Anteils der ihr Leben als unglücklich empfindenden Schwarzen von 1990 bis 1991 ist das herausragende Ergebnis dieser Studie und verdeutlicht die krisenhafte Entwicklung gerade unter den städtischen Schwarzen in dieser Phase. Die Unterschiede im tatsächlichen Lebensstandard werden reflektiert in der Zufriedenheit über die finanzielle Situation. Der Gegensatz zwischen Schwarzen und Nicht-Schwarzen ist bei kaum einer Frage ausgeprägter.9

9 Dem widerspricht das Ergebnis der Markinor Studie, Socio-Political Trends 1991, in der nur Weiße und städtische Schwarze befragt wurden. Nach dieser Untersuchung erklären 28,4 Prozentpunkte mehr der Weißen, daß ihr finanzieller Lebensstandard schlechter als vor einem Jahr sei, während diese Differenz unter den städtischen Schwarzen nur 1,3 Prozentpunkte beträgt - eine

88

2. Kapitel: Die mehrlach fragmentierte Gesellschaft Sclulubild II

Lebensgefühl im heutigen Südafrika, nur schwarze Bevölkerunga) 100%,--------------------------------------------,----------, • Oktober '89

IZJMai '90 0Mai '91 80%

60% 50,5%

40%

20%

0%

sehr glücklich

glücklich

weder noch

unglücklich ärgerlich & ungeduldig

a) aus: Survey Results on Various Socio-Political Issues: A Cornparison

Interessant ist aber auch, daß die Selbsteinschätzung der im ländlichen Raum lebenden Schwarzen, deren Lebensstandard objektiv niedriger ist als der ihrer städtischen Stammesgenossen, geringfügig höher ist - am ausgeprägtesten ist dieser Unterschied wiederum bei den Xhosas. Eine intakte Sozialstruktur ist eben auch ein Filter für die Perzeption der ökonomischen Realitäten - die Ausnahme bilden wieder die Tswanas/Sothos. Im Kontrast zum Außenbild Südafrikas steht auch die Perzeption der Freiheit in der eigenen Lebensgestaltung. Asiaten, Afrikaner, Engländer und Mischlinge bilden auch hier die Spitzengruppe, aber über alle Gruppen hinweg geben die Schwarzen auch hier einen Skalenwert von über 6 an, wobei der Unterschied zwischen Stadt und Land - wiederum mit der Ausnahme der Xhosas - gering ist.

Selbstperzeption, die durchaus der statistischen Realität der seit Jahren laufenden Umverteilung entspricht. Dem entspricht die Erwanungshaltung: Mit 22 Prozentpunkten ist der Pessimismus unter Weißen genau soviel größer als der Optimismus unter Schwarzen.

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

89

Nicht weniger überraschend muß dem Außenstehenden die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit erscheinen. In der Spitzengruppe führen diesmal die Asiaten vor den Afrikanern, Mischlingen und Engländern, denen mit nur geringem Abstand die ländlichen Xhosas folgen. Aber auch alle anderen schwarzen Gruppen geben sechs, zum Teil deutlich mehr Punkte auf der Zehnerskala an. Offensichtlich schwingt bei den Schwarzen bei dieser Frage die Zufriedenheit mit, daß man überhaupt einen Arbeitsplatz hat. Aber auch im Hinblick auf die perzipierte Freiheit bei der Ausgestaltung der eigenen Arbeit übernehmen die ländlichen Xhosas gar die Spitzenstellung, deutlich vor Weißen und Asiaten. Dies scheint jedoch ein typisches Beispiel dafür zu sein, wie der gleiche Wortlaut einer Frage unterschiedlich verstanden wird. Hier wird der Freiheitsgrad einer schwarzen Bäuerin in der Subsistenzwirtschaft mit der eines leitenden Angestellten mit geregelten Bürozeiten verglichen. Trotz dieses Einwands ist es jedoch bemerkenswert, daß im Gegensatz zu den Xhosas die Gruppen der Zulus und Tswanas/Sothos ihren Freiheitsgrad im städtischen Bereich höher einschätzen als im ländlichen Bereich. Offensichtlich werden die Gruppenzwänge der ländlichen Stammeskultur von diesen Schwarzen höher perzipiert als von den Xhosas. Dieses generelle Bild der Zufriedenheit wird bestätigt durch die Frage nach dem Stolz, den man durch die eigene Leistung empfindet. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen sind geringer als bei anderen Fragestellungen. Zwischen dem Spitzenwert der Asiaten mit 9,88 Punkten auf der Zehnerskala bis zu dem niedrigsten Wert der ländlichen Zulus (7,95) liegen immerhin fast zwei Skalenpunkte. Ein etwas differenzierteres Bild der Stimmungslage zeigt Tabelle 7a (Stimmungslage). Einsam fühlt sich in Südafrika eigentlich niemand; genervt auch nicht, obwohl Tswanas und Sothos zum Teil auch Zulus dazu tendieren. Depressive Empfindungen zeigen die Schwarzen stärker als die anderen Gruppen, ausgeprägt aber nur bei den ländlichen Xhosas und den städtischen Zulus. Verärgert ist niemand, am wenigsten die Xhosas, am ehesten noch die AfrikanerReflektion von veränderter Statuserwartung und Statusangst? Optimistisch sind dagegen nur Engländer, Mischlinge und Asiaten und ein bißchen die städtischen Tswana/Sothos, deren ländliche Stammesgenossen den größten Pessimismus von allen schwarzen Gruppen zeigen. Interessant bei diesem Kriteriwn ist aber vor allem die Stimmung der Afrikaner, bei denen sich Optimismus und Pessimismus die Waage halten. Zufrieden sind vor allem die Weißen, aber auch Mischlinge, Asiaten und die städtischen Tswanas/Sothos, deren ländliche Stammesgenossen

90

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentiene Gesellschaft

erneut die einzige Gruppe ist, die eine deutliche Tendenz zur Unzufriedenheit zeigt. Von einem Hochgefühl über die gegenwärtige Situation spricht nur eine Mehrheit von Afrikanern und Engländern, während alle Schwarzen - im ländlichen Raum stärker als im städtischen Bereich - das Gegenteil empfmden. Tabelle 7a Stimmungslage (Index) Optimistisch

Zufrieden

- 39

+ 1

+ 71

+ 39

-56

-55

+ 35

+72

+ 18

-55

- 67

-53

+ 20

+ 37

+ 1

- 38

-42

- 31

-54

+ 28

+ 29

- 10

Zulus ländlich

-62

- 31

-20

-65

-26

- 9

-54

Zulus städtisch

- 45

-26

- 8

-59

- 6

+ 6

- 47

Xhosas ländlich

-48

- 48

- 6

-75

- 21

- 7

- 60

Xhosas städtisch

-50

- 44

- 32

-72

- 22

+ 3

- 34

Tswanas/ Sothos ländlich

-26

- 18

-22

-72

- 44

- 23

-52

Tswanas/ Sothos städtisch

-29

- 18

-20

-46

+ 8

+ 29

- 17

Einsam

Genervt

Depressiv

Afrikaner

-57

-48

-53

Engländer

-50

-53

Mischlinge

- 68

Asiaten

Verärgen

Hochgefühl

Vereinfacht kann man die Tabelle 7a wie folgt zusammenfassen: Im Hinbliclc auf die gegenwärtige Situation in der mehr privaten Sphäre (einsam, genervt, . depressiv, verärgert) gibt es bei allen Unterschieden im Detail ein tendenziell gleichartiges positives Bild bei allen Gruppen. Bei der Beschreibung der allgemeinen gegenwärtigen Situation (optimistisch, zufrieden, Hochgefühl) zeigt sich wieder eine Dreiklassengesellschaft Weiße : Mischlinge und Asiaten Schwarze. Trotz aller Unterschiede bei den einzelnen Indikatoren ergibt sich jedoch ein grundsätzlich anderes Bild als bei den Vertrauensbezügen. Bei den meisten

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

91

Indikatoren - mit der wichtigen Ausnahme der Beurteilung der eigenen finanziellen Situation - ergeben sich tendenziell mehr Parallelen als Gegensätze. Diese sind natürlich auch darauf zurückzuführen, daß die Perzeption der eigenen Situation auch von dem Erwartungsniveau abhängig ist, somit vergleichbare Selbsteinschätzungen natürlich bei weitem nicht vergleichbare Lebensbedingungen bedeuten. Mit der Aufhebung der rechtlichen Trennung in den Lebensbedingungen muß jedoch mit einer Angleichung des Erwartungsniveaus gerechnet werden, mit der Folge, daß die tatsächlichen Unterschiede sich verstärkt in der Selbsteinschätzung niederschlagen werden. Das aber bedeutet, daß das Konfliktpotential in diesem Bereich tendenziell höher als das gemessene ist. ßl. Religiosität

Die Bindung an eine Kirche hat sich interkulturell als eine wesentliche Variable zur Erklärung von politischem und sozialem Verhalten erwiesen. In einer mehrfach fragmentierten Gesellschaft, wie Südafrika sie darstellt, hat jedoch Kirchenbindung innerhalb der einzelnen Kulturen eine sehr unterschiedliche Bedeutung. 10 Während bei Afrikanern - in deren Geschichtsschreibung man häufig das Selbstverständnis des auserwählten Volkes findet 11 - und Engländern eine klare monotheistische Ausrichtung besteht, bei der nur die Frage nach der Intensität der Bindung gestellt ist, ergibt sich bei dem Schwarzafrikaner ein differenzierteres Bild. Die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche und die Verbundenheit mit Elementen der traditionellen Naturreligionen kennzeichnet das Glaubenssystem vieler Schwarzafrikaner.12 In einigen christlichen Kirchen

10 Vgl. Coetzee, J.K., Religion and Social Change, in: G. C. Oosthuizen, et. al., Religion, Intergroup Relations and Social Change in South Africa, Pretoria 1985, S. 117-156. Diese Studie ist Teil der HSRC lnvestigation into lntergroup Relations. 11 Vgl. Moodie, T. Dunbar, The Rise of Afrikanerdom. Power, Apartheid and the Afrikaner Civil Religion, Los Angeles 1975. Am deutlichsten findet man dieses Sendungsbewußtsein verbunden mit striktester Apartheid heute noch in der kleinen Nederduitsch Hervormde Kerk van Afrika, die noch im Frühjahr 1990 eine Rechtfertigung der Apartheid als Rundbrief in allen ihren Kirchen als Reaktion auf erste Äußerungen der Law Commission zu Menschen- und Gruppenrechten verteilen ließ. Vgl. Kommentaar van die NHK van Afrika op: Suid-Afrikaanse Regskommissie: Werkstuk 25: Projek 58: Groeps- en Menseregte, o.O. 1990. 12 Dafür spricht auch die wachsende Beliebtheit der African Indigenous Churches (AIC). Ursprünglich Abspaltungen von weißen Missionskirchen, den sogenannten Äthiopischen Kirchen, gibt es heute eine Dreiteilung in die Äthiopische, Apostolische und Zionistische Kirche. Schätzungen gehen davon aus, daß jeder Dritte Schwarzafrikaner Mitglied einer dieser, sich in ca. 4000 unabhängi-

92

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

hat eine Adaption von Elementen der Naturreligionen in das Christentum stattgefunden, wie das auch in anderen Kulturregionen, z.B. auch in Europa, zu beobachten ist. Die religiöse Bindung wird im Prinzip als eine Art von Rückversicherung verstanden. Aber auch diese Erscheinung ist in anderen Kulturkreisen, z.B. in Japan, zu beobachten. Hinzukommt eine Gruppe von ca. 5,5 Millionen fast ausschließlich schwarzer Südafrikanern, die sich zu keiner religiösen Institution zugehörig verstehen. Hierbei handelt es sich in der Regel um die sogenannten Afrikanischen Traditionalisten, 13 die allerdings engen Kontakt mit den christlichen Religionen haben. Hinzukommt, daß natürlich gerade auch die vielen unterschiedlichen Kirchen Südafrikas unter dem politischen System der getrennten Entwicklung gezwungen waren, Stellung für oder gegen die Apartheid zu beziehen, um damit - wie im Falle der NRK/NGK (Niederdeutsch Reformierte Kirche/Nederduitse Gereformeerde Kerk) -eine Rechtfertigungsideologie für den Staat 14 vorzuhalten oder - wie im Falle vieler schwarzer Kirchen - eine Institution zu bieten, die den Kampf15 gegen das staatlich verordnete Wertesystem aufnehmen konnte, dafür

ge Kirchen gliedernde, christlichen Religionen ist. Damit ist diese religiöse Gruppierung die stärkste überhaupt im Lande. Vgl. Religion, lntergroup Relationsand Social Change in South Africa, bes. S. 44 ff. 13 Zu betonen ist, daß die verschiedenen traditionellen Naturreligionen unterschiedliche kulturelle Grundlagen haben. Trotz dieser Verschiedenheit sind ihnen aber bestimmte Phänomene gemeinsam. Dazu gehören die Existenz eines 'höheren Wesens', die Verehrung der Ahnen, die die Verbindung zwischen dem weltlichen Diesseits und dem geistigen Jenseits darstellen, die Macht der Geister und Zauberer, der übernatürlichen Kräfte, sowie die Heiler und Kräuterdoktoren. Eine ausführliche Darstellung der religiösen Vorstellungen findet sich bei Mutwa, Vusamazulu Credo, lndaba, My Children, Johannesburg o.J., besonders Kapitel 4 Yena Lo! My Africa, S. 433-562. 14 In einer Vielzahl von Dokumenten der NGK wird dieser Rechtfertigungscharakter deutlich, so z.B. in "Menschliche Beziehungen der Völkerschaften Südafrikas im Lichte der Heiligen Schrift" von 1974 oder auch noch in dem nach fünfjähriger Beratung zwischen 1982 und 1986 verabschiedeten "Kirche und Gesellschaft. Ein Zeugnis der Nederduitse Gereformeerde Kerk", Pretoria 1986 das eine Revision des ersten Papiers darstellen soll. Text auch in: epd-Dokumentation Nr. 29, 1988. Positiver sah der Vorsitzende des Departments of Dogmalies and Ethics der University of Pretoria Prof. Johan Heyns die Wandlungsbemühungen seiner Kirche 1986: "We arenot going to try to give to apartheid a theological, ethical justification." Johan Heyns and the NGK'S Change of Heart, Interview in: Leadership, Vol. 5, Nr. 5, 1986, S. 46-49, hier S. 48.

15 Dieser Kampf gegen die als tyrannisch empfundene Staatsgewalt führte schon in den ersten Jahren des Apartheid-Regimes zur Diskussion um die Legitimation des Widerstandes und der Gewalt unter Christen. Der norwegische Bischof Eiving Berggrav spitzte die Legitimation von Gewalt 1952 vor dem Lutherischen Weltbund theologisch zu: "We!Ul die Obrigkeit mit grober Willkür tyrannisch wird, dann gibt es dämonische Zustände und infolgedessen ein Regiment, welches nicht unter Gott steht. Gehorsam einer teufli schen Macht gegenüber wäre aber nichts anderes als Sünde ... Unter

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

93

eine moralisch-ethische Begründung angab und ihre Gruppe mit Außenwirkung vertreten konnten. 16 Vor diesem Hintergrund sind die statistischen Erhebungen über Religionsbindung zu interpretieren. Tabelle 8 zeigt die Religionszugehörigkeit der verschiedenen Gruppen. 17 Unter den Afrikanern nimmt die NRK/NGK eine dominierende Position ein. Bei der Gruppe der Engländer ist die Streubreite weitaus größer, die anglikanische Kirche hat hier mit fast einem Viertel die größte Anhängerschaft. Unter den Mischlingen sind die römisch-katholische und die anglikanische Kirche relativ stark, ein Drittel betrachtet sich als anderen christlichen Kirchen zugehörig, immerhin fast 13% sind Muslime. Unter den Asiaten dominiert der Hinduismus. Unter den schwarzen Gruppen überwiegt im ländlichen Bereich bei den Zulus die katholische und lutherische Kirche, während bei den Xhosas verschiedene andere christliche Kirchen 18 eine dominierende Position einnehmen. Diese und die Lutheraner sind die stärksten Gemeinden unter Tswanas und Sothos.

solchen Umständen besteht prinzipiell das Recht zum Aufruhr in der einen oder anderen Form." Zitiert nach Moltmann, Jürgen, Rassismus und das Recht auf Widerstand, in: ders., Das Experiment Hoffnung. München 1974 S. 145-164, hier S. 156. 16 Vor allem die nicht-weißen Teile der Gruppe der NG-Kirchen, also die Nederduitse Gereformeerde Sending Kerk (Kirche der Farbigen), die Nederduitse Gereformeerde Kerl< in Afrika (Kirche der Schwarzen) und die Reformed Church in Africa (Kirche der Inder) haben ihren Protest über viele Jahrzehnte hinweg deutlich gemacht, unter anderem auch in ihrer Vereinigung apartheid-kritischer Theologen und Gemeindemitglieder aus der NG-Familie, dem sogenannten Belydende Kring (Bekennender Kreis). Als weiteres Instrument der Kritik dienten die Generalversammlungen des Reformierten Weltbundes vor allem die Versammlung in Ottawa 1982, auf der die "Rassentrennung nicht nurmoralisch-ethisch verurteilt, sondern ihre Verwerfung als ein Akt des Glaubensgehorsams gefordert" wurde. Vg!. Nordholt, Heinz-Hermann, (i. A. des Reformierten Bundes zsgest. und hrsg.), Kirche im Brennpunkt Südafrika, Neue Dokumente eines Konflikts 1985-1989, Neukirchen-Vluyn 1990, s. 59. 17 In diesem gesamten Fragenkomplex ist die Anlage der Untersuchung fast einseitig auf das christliche Religionsverständnis orientiert, so daß die nicht-christlichen Weltreligionen kaum in die Analyse einbezogen wurden. Auch fehlt es an Indikatoren, um Elemente schwarzer Naturreligionen im Glaubenssystem der Menschen zu ermitteln. Erschwerend kommt hinzu, daß die Zahlen über Religionszugehörigkeit allenfalls als Indikator für die Größenordnung zu verstehen sind, da die Markinor Studie die Methodisten, die mit ca. 9% bzw. fast 3 Millionen Mitgliedern viertgrößte südafrikanische Kirche sind, nicht berücksichtigt und der Fragebogen keine entsprechende Antwortvorgabe enthält. 18

Es ist zu vermuten, daß es sich hier um die African lndigenous Churches handelt.

20,4

16,5

--

5,9

6,0

15,0

Zulus ländlich

Zulus städtisch

Xhosas ländlich

Xhosas städtisch

Tswanas/ Sothos ländlich

Tswanas/ Sothos städtisch 8,2

6,9

5,4.

7,1

10,8

- -

7,8

5,7

2,4

--

--

--

1,4

--

2,3

1,5

Asiaten

10,8

0,4

7,6

15,4

14,1

Mischlinge

3,3

0,9

10,4

11,4

7,6

10,0

7,8

3,8

22,9

11,8

ll,6

29,7

2,2

--

4,9

21,4

0,5

1,7

2,0

0,6

1,4

Engländer

70,8

Lutheraner

Presbyterianer

0,5

NGK

0.5

Anglikanisch

Afrikaner

Röm.- . kath.

Tabelle 8

Religionszugehörigkeit (in %)

19,6

35,6

38,6

75,7

23,2

13,9

19,1

35,1

27,1

14,6

Andere Christen

--

--

--

--

--

--

--

0,6

--

--

--

--

--

12,1

12,7

--

--

--

--

--

--

--

62,1

--

--

--

-3,0

Hindi

--

Muslime

--

Juden

~

" ~ g.

Cl

~

3 ä ...

iJ

~ g.

"

3

i?

{

!"

\0

...

95

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

Im städtischen Bereich ergibt sich eine breite Streuung unter allen Schwarzen, die katholische Kirche sowie verschiedene andere christliche Kirchen sind bei Zulus und Tswanas/Sothos besonders stark. Bemerkenswen ist, daß bei allen städtischen Schwarzen, nicht jedoch bei den ländlichen Schwarzen fast ein Vienel die Zugehörigkeit zu einer anderen Religion angeben. Ob das als ein Hinweis auf Afrikanische Traditionalisten verstanden werden kann, ist nicht zu erkennen, allerdings spricht die Urbanisierung eher gegen diese These. Im Selbstverständnis der Menschen Südafrikas ist die religiöse Bindung sehr ausgeprägt (vgl. Tabelle 8a: Religiosität). Tabelle Ba Religiosität

Selbsteinschätzung: religiös in%

Selbsteinschätzung: nicht religiös in%

Selbsteinschätzung Atheist in%

Erziehung religiös in%

Erziehung nicht religiös in%

Gläubigkeit')

Kirchliehe Partizipation•)

Afrikaner

92,1

4,0

0,1

94,0

4,6

556,6

113,8

Engländer

76,2

15,8

2,5

70,3

27,5

337,9

187,8

Mischlinge

69.5

28,3

0,6

94,0

6,0

642,3

223,5

Asiaten

90,4

7,4

0,6

95,4

4,6

279,5

198,2

Zulus ländlich

74,2

9,9

11,3

85,8

14,2

412,6

221.1

Zulus städtisch

76.6

14.5

4,4

92,1

7,9

314,1

215,2

Xhosas ländlich

84,6

8,2

3,6

87,1

12,9

434,2

209.4

Xhosas städtisch

74.3

16,8

2,6

82,7

17,3

335,7

197,6

Tswanas/Sothos ländlich

85,3

4,1

4,2

83,2

6,8

257,1

223,8

Tswanas/Sothos städtisch

78,0

15,7

1.6

89,7

10,3

275,3

239,2

•) Zustimmung zu zentralen religiösen Aussagen und Beteiligung an religiösen Ritualen (Index).

Als religiös bezeichnen sich über alle Gruppen hinweg zwischen 70 und 90% der Befragten. Noch höher ist das Selbstverständnis, religiös erzogen worden zu sein. Versucht man der Religiosität näher nachzugehen, so sind zwei Dimensionen zu unterscheiden: die Gläubigkeit an zentrale Begriffe der Religion und die Beteiligung an religiösen Riten aus bestimmten Anlässen. Tabelle 8a (Religiosität) faßt die entsprechenden Skalenwerte zusammen. Dabei zeigt sich eine extrem

96

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

hohe Gläubigkeit bei Mischlingen, Afrikanern und den ländlichen Xhosas und Zulus. Deutlich geringer ist diese Gläubigkeit bei den Engländern, städtischen Zulus und Xhosas, sowie insgesamt bei den Tswanas und Sothos. Bei der Beteiligung an religiösen Riten sind die Werte für alle Schwarzen, Mischlinge und Engländer deutlich höher als die für die Afrikaner. 19 Unabhängig von der Selbsteinschätzung hat sich international die Häufigkeit des Kirchganges als ein recht zuverlässiger Indikator für die kirchliche Bindung20 ergeben. Tabelle 8b zeigt die Kirchgangshäufigkeit für die einzelnen Gruppen. Tabelle Bb Häufigkeit des Kirchgangs•) bes. Anlässe

mehrmals wöchentl.

einmal wöchentl.

Afrikaner

23,1

51,2

13,1

10,8

3,0

Engländer

8,9

19,2

15,2

34,2

22,2

einmal monatl.

me

Mischlinge

32,4

26,6

20,3

85,8

5,0

Asiaten

25,7

22,4

15.5

27,0

9,3

Zulus ländlich

6,2

29,3

33,3

18,8

12,3

Zulus städtisch

16,2

34,8

24,8

16,2

9,1

Xhosas ländlich

31,7

33,8

20,0

8,1

3,3

Xhosas städtisch

16,4

38,3

18.5

43,5

11,5

Tswanas/ Sothos ländlich

11,5

58,1

12,1

13,2

8,5

Tswanas/ Sothos städtisch

19,1

37,4

16,0

21,3

6,3

•lMehrfachnennungen möglich.

19 Die Werte für die Asiaten sind nicht vergleichbar, weil von den neun !tems, die diesen Skalen zugrunde liegen, acht dem christlichen Denken und nur einer (Reinkarnation) dem hinduistischen Glauben entnommen sind. 20 So schon Scheuch, Erwin, Die Sichtbarkeit politischer Einstellungen im alltäglichen Verhalten, in: Zur Soziologie der Wahl, Scheuch, Erwin/Wildenmann, Rudolf (hg.), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 9, 1968, S. 169-214, hier S. 173.

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

97

Über 87% der Afrikaner, aber nur etwas mehr als 43% der Engländer gehen einmal im Monat oder häufiger zur Kirche. Der Kirchgangshäufigkeit der Afrikaner kommen die Mischlinge mit über 79%, die städtischen Zulus mit über 75%, die städtischen Xhosas mit über 73% und die städtischen Tswanas/Sothos mit über 72% recht nah. In den ländlichen Regionen sind die Ziffern ähnlich. Gemeinsam ist allen Gruppen in Südafrika - mit Ausnahme der Engländer in ihrem Selbstverständnis eine hohe Religiosität, die auch in regelmäßigem Kirchgang praktiziert wird. Vor diesem Hintergrund kommt der Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Kirchen eine besondere Bedeutung zu, wobei besonders auf den Gegensatz zwischen den calvinistisch geprägten Kirchen der Niederdeutsch Reformierten21 Gruppe (NG-Kirchen) und den verschiedenen christlichen Kirchen (African Indigenous Churches) der Schwarzen abzuheben ist. Die Niederdeutsch Reformierte Kirche der Afrikaner hat über Jahrzehnte hinweg die Staatstheologie für das Konzept der getrennten rassischen Entwicklung geliefert, während bedeutende schwarze Führe?2 im Kampf gegen dieses Konzept aus den verschiedenen meist schwarzen oder farbigen Kirchen hervorgegangen sind. Es kann die Hypothese gewagt werden, daß der Beginn für die Neuordnung Südafrikas auf die Abkehr des weißen Teils der Niederdeutsch Reformierten Kirche vom Konzept der getrennten rassischen Entwicklung datiert werden kann.23

21 Den Widerspruch, der in der Tatsache zu bestehen scheint, daß es auch schwarze bzw. farbige calvinistische reformierte Kirchen in Südafrika gibt, greift Allan Boesak in einem Vortrag vor der Alliance of Black Reformed Christians in Southem Africa (ABRECSA) auf. in dem er sich mit der calvinistischen Tradition und ihrer Pervertierung in Südafrika auseinandersetzt. Boesak argumentiert hierbei im Sinne der mutua obligatio Calvins im Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen. Vgl. Boesak, Allan, Black and Reformed, Apartheid, Liberation and the Calvinist Tradition, 3. Aufl. Johannesburg 1988, hier Kapitel : Black and Reformed: Contradiction or Challenge?, S. 90-107.

22 So z.B. der Erzbischof deranglikanischen Kirche und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu, Dr. Allan Boesak von der Nederduitse Gereformeerde Sending Kerk und Generalsekretär des Reformierten Weltbundes oder Reverend Dr. Frank Chikane, Generalsekretär des SACC. Vor allem nach dem Verbot der Regierung für 17 Anti-Apartheid Organisationen Aktivitäten durchzuführen, das am 24. Februar 1988 unter dem Ausnahmezustand verhängt wurde, traten diese und andere Kirchenführer mit spektakulären Aktionen an die Weltöffentli chkeit, so z.B. ihrem Marsch auf das südafrikanische Parlament in Kapstadt am 29. Febr. 1988 zur Überreichung einer Petition oder dem öffentlichen Briefwechsel zwischen schwarzen Kirchenführern und Staatspräsident P.W. Botha. Petition und Briefwechsel abgedruckt in: Wallis, Jim/ Hollyday Joyce. Crucible of Fire. The Church Confronts Apartheid, Maryknoll, N.Y., Washington, D.C. 1989, S. 140-165. 23 Im November 1990 einigten sich 230 Kirchenführer von 97 unterschiedlichen Denominationen darunter auch der NGK- und Organisationen in der National Conference of Church Leaders of South Africa auf die sogenannte Rustenburg Declaration, in der es unter anderem zur Apartheid-Politik heißt: "We denounce apartheid in its intention, its implementation and its consequences as an evil policy. The practice and defence of apartheid as though it were biblically and theologically legitimated is 7 Schumacher

98

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

Dennoch bleibt aber, daß die verschiedenen Kirchen bei der Vermittlung unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wertesysteme nach wie vor eine prägende Rolle spielen. IV. Aspekte des Wertesystems

Eine deutliche Polarisierung zwischen Weißen undNicht-Weißen gibt es, wenn die Befragten vor die Alternative Freiheit oder Gleichheit gestellt werden. Tabelle 9 Wertesystem (in%) Freiheit oder Gleichheit Priorität Freiheit

Priorität Gleichheit

Afrikaner

69,9

14,0

Engländer

72,6

17,3

Mischlinge

30,6

52,5

Asiaten

36,8

50,2

Zulus ländlich

30,0

55,6

Zulus städtisch

30,6

54,7

Xhosas ländlich•)

32,9

39,7

Xhosas städtisch

37,2

48,7

Tswanas/ Sothos ländlich

47,6

44,9

Tswanas/ Sothos städtisch

39,1

50,8

•>Angesichts 24% "weiß nicht" ist diese Frage offensichtlich in dieser Gruppe nicht gelaufen.

Während Engländer und Afrikaner mit etwa 70% für die Freiheit votieren, spricht sich bei den Mischlingen, Asiaten und städtischen Schwarzen eine knappe

an act of disobedience to God, a denial of the Gospel of Jesus Christ and a sin against our unity in the Holy Spirit." Abdruck der Deklaration in: Alberts, Louw/Chikane, Frank, (eds.), The Road to Rustenburg, The Church looking forward to a new South Africa, Cape Town 1991, S. 275-286. Aufsehen erregte auch die vor diesem Gremium öffentlich vorgetragene Entschuldigung von Prof. Willie Jonker von der Universität Stellenbosch, der für sich und für seine Kirche - die NGK - "sin and gui1t ... for the political, social, economical and structural wrongs" bekannte. Vgl. ebd. S. 92.

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

99

Mehrheit für Gleichheit aus. Bei den ländlichen Schwarzen ist das Bild uneinheitlich, während bei den Zulus eine deutliche Mehrheit für Gleichheit votiert, die Tswanas und Sothos mit einer knappen Mehrheit für Freiheit votieren, ist das Bild bei den Xhosas ausgeglichen, wobei 24% auf diese Frage keine Antwort geben. Offensichtlich ist diese Frage, die wiederum dem westlichen Wertesystem entstammt, für die ländlichen Xhosas nicht vermittelbar. Im übrigen läßt sich das Wertesystem sehr gut auf die Dichotomie Materialismus/Immaterialismus reduzieren. Dabei gibt es drei verschiedene Dimensionen (vgl. Tabelle 9a: Wertesystem: Materialismus/Immaterialismus):

l.

Bei der Frage nach den wichtigsten Werten insgesamt ist der Unterschied relativ gering. Bei Afrikanern, Mischlingen, Engländern und Asiaten, aber auch bei den ländlichen Zulus dominieren materielle Werte eindeutig, während bei den übrigen Gruppen die Betonung auf immateriellen Werten relativ höher ist.

2.

Bei der Frage, was das Land anstreben soll, ergibt sich eine ähnliche Reihenfolge. Dabei ist das Übergewicht der materiellen Werte bei Afrikanern, Engländern, Asiaten und ländlichen Zulus sehr ausgeprägt, während bei den übrigen Gruppen das Verhältnis ausgeglichen ist, bei den ländlichen Xhosas sich sogar ein deutliches Übergewicht der immateriellen Werte zeigt.

3.

Bei der Frage nach der am meisten gewünschten Errungenschaft überwiegen wieder deutlich die materiellen Werte bei den meisten Gruppen. Allein bei den städtischen Xhosas halten sich materielle und immaterielle Werte die Waage.

Setzt man die Zielsetzungen auf diesen Dimensionen in unmittelbare Konkurrenz zueinander, so zeigt sich ein noch eindeutigeres Bild. Auf der Grundlage von 12 Items ergibt sich bei allen Gruppen ein deutliches Übergewicht der materiellen Werte. Es ist am ausgeprägtestenbei Weißen, Mischlingen, Asiaten, ländlichen Zulus und städtischen Tswanas/Sothos, aber auch bei den anderen Gruppen unübersehbar. Es erscheint jedoch notwendig diese Indices unterschiedlich zu interpretieren: Bei den Weißen, Mischlingen und Asiaten muß die Betonung der materiellen Werte als eine Verteidigung der bestehenden Situation verstanden werden, während die Betonung materieller Werte bei den übrigen Gruppen ganz offensichtlich eine Priorität ihrer Erwartungen beschreibt.

49,3

142,8

136,6

126,5

139.9

128,3

100,1

114,5

113,6

Mischlinge

Asiaten

Zulus ländlich

Zulus städtisch

Xhosas ländlich

Xhosas städtisch

Tswanas/Sothos ländlich

Tswanas/Sothos städtisch 85,2

81,1

93,4

68,0

56.0

70,8

55,7

56,5

139.0

Engländer

41,8

150,4

Afrikaner

101,0

108,3

83,4

68,7

103,5

111.2

111.6

95,8

119,4

13l,l

97,1

87,7

97,1

126.8

96,0

88,7

78,4

93,1

69,4

56.3

Immaterialismus

Materialismus

Materialismus Immaterialismus

Staatszielbestimmung

wichtigste Werte

111,8

110,1

99,7

122,0

121,8

148,5

128,1

128,3

142,2

139,4

Materialismus

86,4

78,4

100,4

73,7

77,2

50,7

65,2

59,1

53,2

51,4

Immaterialismus

begehrtestes Ziel

Tabelle 9a Wertesystem Materialismus/Immaterialismus (Index)

115,2

141,6

109,3

112,4

130,2

152,7

143,8

148,8

149,5

162,8

Materialismus

84,4

56,6

88,3

86,1

69.9

46,2

51,3

41,9

44,4

26,4

Immaterialismus

allgemeine Zielsetzung

t

~

~ g.

~

s

g.

{g

~

g.

3

9. 0

~

!'>

0 0

-

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

101

Bei der Wichtigkeit von Lebensbereichen zeigen sich zum Teil bemerkenswerte Unterschiede. Tabelle 9b Bedeutung von Institutionen Skala 1-4 Arbeit

Familie

Freunde, Bekannte

Freizeit

Politik

Religion

Afrikaner

3,57

3,89

2,96

3,03

2,74

3,75

Engländer

3,23

3,84

3,02

3,13

2,52

2,90

Mischlinge

3,65

3,93

2,94

3,02

2,00

3,72

Asiaten

3,82

3,94

3,12

2,97

2,37

3,70

Zulus ländlich

3,97

3,87

2,77

2,71

2,44

3,34

Zulus städtisch

3,86

3,85

2,70

2,91

2,54

3,49

Xhosas ländlich

3,61

3,83

3,05

2,88

2,44

3,58

Xhosas städtisch

3,72

3,75

2,47

2,43

2,78

3,39

Tswanas/ Sothos ländlich

3,90

3,97

3,07

3,00

3,27

3,70

Tswanas/ Sothos städtisch

3,87

3,95

2,57

3,01

2,83

3,61

Auf einer Viererskala erreichen die Lebensbereiche Arbeit, Familie, Freunde und Bekannte, Freizeit, Politik und Religion durchweg relativ hohe Werte, wobei die Werte für die Politik mit Ausnahme der städtischen Xhosas über alle Gruppen hinweg unter den Niedrigsten sind. Auffallend bei dieser Tabelle sind insbesondere die vergleichsweise niedrigen Werte für den Lebensbereich Religion bei der Gruppe der Engländer - dies entspricht dem Befund im Kapitel Religiosität -, für Politik bei den Mischlingen, für Freizeit, Freunde/Bekannte bei den städtischen Xhosas und für Freunde/Bekannte auch bei den städtischen Tswanas und Sothos. Dies bestätigt erneut, daß die Mischlinge sich in eine unpolitische Nische des gesellschaftlichen Systems zurückziehen, so wie das Phänomen der Entwurzelung eine Politisierung der städtischen Xhosas bewirkt.

102

2. Kapitel: Die mehtfach fragmentierte Gesellschaft

Fragt man nach dem Vertrauen in die Institutionen Kirche, Annee, Erziehungssystem, Rechtssystem, Sozialsystem, Presse, Gewerkschaften und Polizei, so zeigt sich ein sehr unterschiedliches Bild (vgl. Tabelle 9c: Vertrauen in Institutionen). Das Vertrauen in die Institution Kirche - selbstverständlich mit den unterschiedlichen Ausprägungen für jede Gruppe - ist durchweg sehr hoch mit Ausnahme bei den Engländern, was erneut den Befund im Kapitel Religiosität bestätigt, und bei den Asiaten, was offensichtlich Gründe hat, die aus der Anlage des Fragebogens ermittelt werden können. Bei dem Vertrauen in die Armee gibt es dagegen eine deutliche Polarisierung zwischen Weißen und Nicht-Weißen, wobei erneut der extrem niedrige Wert bei den städtischen Xhosas ins Auge fällt. Interessant ist, daß es diese Polarisierung bei der Polizei nicht gibt. 24 Ländliche Zulus und ländliche Xhosas artikulieren ein etwa gleichgroßes Vertrauen in die Polizei wie Weiße und Asiaten. Diese gruppenübergreifende positive Bewertung der Polizei entspricht auch nicht dem Außenbild Südafrikas. Im Hinblick auf das Erziehungssystem werden die höchsten Vertrauenswerte von den Schwarzen artikuliert, was offensichtlich mehr einer Erwartungshaltung als einer Perzeption der Realität entspricht. In den niedrigen Werten bei Weißen und Mischlingen spiegelt sich offensichtlich die dort unübersehbare Tendenz wider, den gewohnten Standard durch Ausweichen in private Schulen zu erhalten. Das Vertrauen in das Rechtssystem ist durchgehend hoch, am ausgeprägtesten bei Afrikanern, Zulus, ländlichen Xhosas und ländlichen Tswanas/Sothos. Hier fällt wiederum das geringe Vertrauen der städtischen Xhosas ins Auge. 25

24 Dies wird bestätigt durch die "Survey Results on Various Socio-Political Issues" Studie unter städtischen Schwarzen, von denen 1990 noch 60,5% und 1991 immer noch 54,6% eine positive Einstellung zur südafrikanischen Polizei artikulierten. Im Mai 1991 bestätigen 56,1% der Polizei, daß sie sich um eine Verbesserung ihrer Beziehungen zu allen Bevölkerungsgruppen bemüht. 45,5% artikulieren persönlich freundlichere Empfindungen gegenüber der Polizei als ein Jahr zuvor. Dabei weisen ihr 66,3% die Verantwortung für Verbrechensbekämpfung zu, 75,1% hielten dies für die wichtigste Aufgabe der Polizei. All dies sind Indikatoren, daß der überwiegende Teil der schwarzen städtischen Bevölkerung zumindest seit der Einleitung der Reformprozesse Südafrika nicht als "Polizeistaat" perzipiert.

25 In der "Survey Results on Various Socio-Political Issues" Studie ist die gleiche Frage unter den städtischen Schwarzen in einer anderen Form ernoben worden. Das Ergebnis ist weniger positiv: 49,7% erwarten eine faire Behandlung vor Gericht, immemin 25,6% eine unfaire.

2,46 2,24

2,90

3,36

3,38

3,65

3,54

3,51

3,50

Asiaten

Zulus ländlich

Zulus städtisch

Xhmas ländlich

Xhosas städtisch

Tswanas/Sothos ländlich

Tswanas/Sothos städtisch 2,34

2,84

2,11

2,57

2,92

3,28

3,65

3,38

3,61

3,46

3,41

3,17

2,93

2,62

3,57

Mischlinge

2,64

2,99

Erziehungssystem

3,21

2,74

Engländer

3,51

3,46

Armee

Afrikaner

Kirche

2,83

3,26

2,66

3,08

3,05

3,06

2,95

2,78

2,85

3, 18

Rechtssystem

2,63

3,04

2,41

2,55

2,95

3,18

2,76

2,59

2,25

2,72

Sozialsystem

Tabelle 9c Vertrauen in Institutionen Skala 1-4

2,98

3,01

2,49

2,79

2,86

2,76

2,72

2,66

2,18

2,27

Presse

3,33

3,24

3,24

2,85

3,03

2,80

2,53

2,54

1,66

1,92

Gewerkschaften

2,42

2,62

2,35

3,08

2,71

3,30

3,01

2,66

3,03

3,38

Polizei

w

0

-

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g.

f

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~

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104

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

Beim sozialen System sticht das hohe Vertrauen der Zulus und der ländlichen Tswanas/Sothos hervor, während bei dieser Frage die Engländer, aber auch die städtischen Xhosas eine deutlich skeptische Position einnehmen. Im Hinblick auf die Presse zeigt sich wieder eine deutliche Dichotomie: Der skeptischen Haltung von Engländern und Afrikanern - die Presse stellt nach einem weit verbreiteten Urteil immer alles in Frage, vor allem den präferierten Status quo - steht eine klar positivere Haltung aller anderen Gruppen gegenüber. Eine ähnliche Dichotomie zeigt sich im Hinblick auf die Gewerkschaften, wo der extrem ablehnenden Haltung von Engländern und Afrikanern eine deutlich positivere Haltung aller anderen Gruppen gegenübersteht.26 Die tradierten gesellschaftlichen Normen sind in allen drei Dimensionen, der privaten, der wirtschaftlichen und der politischen Sphäre überwiegend akzeptiert (vgl. Tab. 9d: Akzeptanz gesellschaftlicher Normen). Die geringste Zustimmung wird in der politischen Sphäre auf einer Zehnerskala mit 6,04, d.h. aber nach wie vor deutlich über dem Mittelwert von 5,5 unter den städtischen Xhosas registriert. Tabelle 9d Akzeptanz gesellschaftlicher Normen Skala 1· 10 Privatsphäre

Wirtschaftliehe Sphäre

Politische Sphäre

Afrikaner

8,01

8,48

7,30

Engländer

7,13

8,07

7,09

Mischlinge

8,49

8,40

8,08

Asiaten

7,82

7,81

7,12

Zulus ländlich

8,35

8.26

8,17

Zulus städtisch

7,54

7,60

6,99

Xhosas ländlich

*

*

*

Xhosas städtisch

6,59

6,26

6,04

Tswanas/Sothos ländlich

7,82

7,79

7,40

Tswanas/Sothos städtisch

7,36

7,94

6,81

* Wegen eines

Übersetzungsfehlers konnten diese Fragen für die ländlichen Xhosas nicht ausgewertet werden.

26 In der "Survey Results on Various Socio-Political lssues" Studie unter städtischen Schwanen ist darüber hinaus nach der Zufriedenheit mit der kommunalen EntwicklWJg gefragt: 43% gaben eine eher positive, 43,4% eine eher negative Antwort, also eine deutliche Polarisierung.

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

105

Dies spricht gegen die Existenz eines massenhaft verbreiteten revolutionären Potentials. Auffallend ist allerdings auch, daß die Zurückweisung traditioneller Werte umer Engländern und slädtischen Schwarzen relativ hohe Werte erreicht und daß die Ablehnung der Normen des friedlichen Zusammenlebens in der politischen Sphäre unter Weißen, Asiaten und städtischen Schwarzen relativ hoch ist. Hierin spiegelt sich offensichtlich die Bereitschaft von verschiedenen radikalen Minderheiten zum bewaffneten Kampf. Angesichts dieser bedeutsamen Unterschiede im Wertesystem ist es von besonderer Bedeutung, mit welcher Rigidilät die einzelnen Wertvorstellungen vertreten werden. Eine Antwort darauf kann die Frage geben, ob es klare und absolute Richtlinien für "Gut" und "Böse" gibt oder nicht (vgl. Tab. 9e: Existenz von verbindlichen Wertesystemen). Tabelle 9e

Existenz von verbindlichen Wertsystemen in% ZustimmWig

Ablehnung

Afrikaner

58,1

32,9

Engländer

51,5

38,5

Mischlinge

50,3

31,6

Asiaten

47,8

44,2

Zulus ländlich

32,3

47,4

Zulus städtisch

42,3

42,5

Xhosas ländlich

24,7

66,0

Xhosas städtisch

40,9

40,6

Tswanas/Sothos ländlich

56,1

39,0

Tswanas/Sothos städtisch

47,5

32,7

Dabei zeigt sich, daß ein derart rigides Normensystem bei Afrikanern, Engländern, Mischlingen, Asiaten und den Tswanas/Sothos deutlich ausgeprägter ist als bei Zulus und Xhosas, wobei bei den letzteren der Pragmatismus im ländlichen Bereich deutlich ausgeprägter ist als in den Städten. Wichtig ist aber auch hier, daß die Unterschiede in den Einstellungen nicht parallel zu den erwarteten Konfliktlinien schwarz/weiß verlaufen, sondern daß es unterschiedliche informelle Koalitionen in den Einstellungen gibt.

106

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

V. Veränderungen der Wertestrukturen im Zeitablauf Dieses komplexe Bild der Verteilung von Einstellungen über die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wird durch eine Faktorenanalyse im Zeitvergleich des Instituts für Zukunftsforschung der Universität Potchefstroom bestätigt_27 Obwohl die gleichen Merkmale bei Schwarzen und Weißen erhoben wurden, ergab die Faktorenanalyse ein unterschiedliches Bild für beide Gruppen. Schaubild 111 Faktorenanalyse zur Veränderung von Einstellungen unter Weißen 1982- 1990

P:r.lgung du:rch G:tuppenzugehö:rigkeit

'84 '86 •

'82 •



'88 P~og~essive __. . . . . . . . . . . . . .~~. . . . . . . . . . . .---

1

Traditionalisten



90

Egozentriker

27 Das Institut ist an einer jährlich durchgeführten umfassenden Untersuchung beteiligt, in der neben zahlreichen Marketingfragen - zur Finanzierung der Studie -auch politisch-soziale Einstellungen erboben werden, die zur Auswenung durch eine Faktorenanalyse geeignet sind. Der Leiterdes Instituts Prof. H. Boshoff und sein Mitarbeiter T. Venter haben dies in einem noch unveröffentlichten Manuskript: Demographie, Language, and Value Systems Realities in South Africa: A Federalist Option?, Potchefstroom Dezember 1991 zusammengefaßt. Wegen des geringen Anteils von Asiaten und Mischlingen am südafrikanischen Markt fehlen in diesen Untersuchungen Erbebungen über diese Gruppen. Das gleiche gilt für die ländliche schwarze Bevölkerung, deren Subsistenzwirtschaft für eine primär als Marktforschung angelegte Untersuchung uninteressant ist. Da der zentrale politische Konflikt um das Neue Südafrika jedoch zwischen den Weißen und städtischen Schwarzen ausgetragen wird, vermittelt diese Untersuchung ergänzende Hinweise nicht zuletzt auch, weil sie sich differenzierterer statistischer Auswertungsmethoden bedient. Vgl. Fußnote 20, Kapitel 2, Abschnitt A.

B. Perzeptionsmelkmale der Fragmentierung

107

Unter der weißen Bevölkerung kristallisierten sich zwei Dimensionen heraus: der Gegensatz zwischen Progressiven und Traditionalisten einerseits und der zwischen Egozentrikern und durch Gruppenzugehörigkeit geprägten Menschen andererseits. Unter den städtischen Schwarzen wurden ebenfalls zwei Dimensionen ermittelt: Die eine dichatomisiert den Gegensatz zwischen Resignation und aufgeschlossener Modernität, die andere den zwischen neuem Selbstbewußtsein und tradierter Anpassung. Schaubild III zeigt die Veränderung der Verteilung der Einstellungen unter Weißen zwischen 1982 und 1990. Das Schaubild verdeutlicht eine für den vergleichsweise kurzen Zeitraum deutliche Veränderung im Wertesystem. Zwei Entwicklungen sind offenkundig: 1.

Von 1982 bis 1990 gibt es einen eindeutigen Trend von einer traditionellen durch Gruppenzugehörigkeit geprägten Werthaltung hin zu einer progressiven, aber zugleich auch stärker egozentrischen Wertestruktur.

2.

Dieser Trend verläuft jedoch in der ersten Dimension nicht kontinuierlich, sondern zeigt einen deutlichen Einbruch zwischen 1986 und 1988, auf der zweiten Dimension ist dagegen eine fast lineare Entwicklung erkennbar.

Der Einbruch in der ersten Dimension kann unschwer durch den Ausbruch der Unruhen in wichtigen schwarzen Städten Ende 1986 erklärt werden: Das verstärkte Empfinden von Bedrohung des sozialen Status löste unter den Weißen eine größere Bedeutung der Gruppenbindung aus. Eine Unterteilung nach Engländern und Afrikanern zeigt ein deutliches Übergewicht der Afrikaner bei der ersten Dimension auf der traditionalistischen Seite und auf der zweiten Dimension bei den Gruppenbindungen. Wichtig ist jedoch, daß auf beiden Dimensionen der Trend im Hinblick auf Progressivität und Egozentrik unter den Afrikanern kaum weniger ausgeprägt ist als unter den Engländern. Schaubild IV zeigt die entsprechende Entwicklung unter den städtischen Schwarzen. 28 Bei dieser Analyse ist die Bewegung von 1987 bis 1989 vor allem auf der Dimension zu mehr Selbstbewußtsein hervorzuheben. während die Veränderung zu mehr aufgeschlossener Modernität kontinuierlich über den Beobachtungs-

28 In diesem Fallliegen allerdings nur Vergleichszahlen für 1985 bis 1989 vor, die Erhebungen von 1991 sind noch nicht ausgewertet.

108

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

zeitraum erfolgt ist. Dabei zeigen sich keine interpretierbaren Unterschiede zwischen den verschiedenen Stämmen; der Faktor Urbanisierung überlagert in diesen Veränderungen der Wertestruktur offensichtlich die tradierten Starnmesbindungen. Schaubild IV

Faktorenanalyse zur Veränderung von Einstellungen unter urbanisierten Schwarzen 1985 - 1989

Resignation

'85 • 1

87 •

Neues Selbstbewußtsein

Tradierte Anpassung

'89 •

Modernit4t

Als Fazit dieser Untersuchungen ergibt sich die Hypothese, daß die deutliche Neuorientierung in der Verfassungspolitik Südafrikas ohne diese Veränderungen kaum erklärbar ist: Die neue Wertestruktur der urbanisierten Schwarzen hat sie gefordert und die der Weißen toleriert.

VI. Einstellungen zur Wirtschaftsordnung

I_n der Diskussion über das Neue Südafrika nimmt die Auseinandersetzung über die neue Wirtschafts-, Gesellschafts- und politische Ordnung eine zentrale Rolle

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

109

ein. Im Hinblick auf die Wirtschaftsordnung sind dabei drei Dimensionen zu unterscheiden: I.

Die grundsätzliche Frage, ob Privatinitiative oder staatliche Lenkung die weitere wirtschaftliche Entwicklung kennzeichnen soll. Dabei ist allein die Position der Engländer im Hinblick auf Privatinitiative eindeutig. Schon unter den Afrikanern ist die Neigung zur staatlichen Lenkung unübersehbar, was auch der bestehenden Wirtschaftsordnung entspricht. Alle anderen Gruppen bevorzugen mehr oder weniger deutlich den Interventionismus (vgl. Tab. 10). Tabelle 10 Ordnungspolitische Grundeinsteilungen I Interventionismus oder freie Wirtschaft Skala 1-10 Privatinitiative vs. Staatsinterventionismus

2.

Selbstvorsorge vs. SozialJX>litik

Afrikaner

4,11

3,73

Engländer

3,72

4,01

Mischlinge

5,05

4,66

Asiaten

5,61

4,72

Zulus ländlich

6,29

5,24

Zulus städtisch

5,54

5,01

Xhosas ländlich

6,29

4,84

Xhosas städtisch

5,68

5,11

Tswanas/Sothos ländlich

6,22

4,10

Tswanas/Sothos städtisch

5,76

5,11

Eine zweite ebenso grundsätzliche Frage ist, ob eigene Leistung oder staatliche Sozialpolitik zur Sicherung einer gewissen Wohlfahrt der richtige Weg ist. Bei dieser Frage sind die Unterschiede .wesentlich weniger ausgeprägt. Afrikaner, Engländer, Mischlinge, Asiaten und ländliche Tswanas/Sothos und ländliche Xhosas vertrauen mehr der Eigeninitiative, während die anderen Gruppen mehr auf staatliche Sozialpolitik bauen (vgl. Tab. 10: OrdnungspoL Grundeinsteilungen I).

2. Kapitel: Die mehrlach fragmentierte Gesellschaft

II 0

3.

Geht man jedoch von den ordnungspolitischen Grundsatzfragen weg zu der praktischen Frage- die jeder nachvollziehen kann-, wie die Manager in einem Unternehmen bestellt werden sollen, nämlich durch alleinige Entscheidung der Eigentümer, durch Mitbestimmung der Beschäftigten, durch den Staat oder durch Wahl durch die Beschäftigten, so ergibt sich ein eindeutiges Bild (vgl. Tab. IOa: Ordungspol. Grundernstellungen II). Tabelle JOa

Ordnungspolitische Grundeinsteilungen II Einstellung von Managern (in %) durch Eigentümer

durch Mitbestirnmung

durch den Staat

durch W ah1 der Beschäftigten

Afrikaner

50,5

38,0

1,9

5,1

Engländer

49,5

42,4

0,5

3,7

Mischlinge

36,5

41,5

1,2

4,9

Asiaten

41,0

37,0

5,0

7,4

Zulus ländlich

39,5

36,7

11,1

2,2

Zulus städtisch

35,3

41,4

8,7

7,2

Xhosas ländlich

51,8

31,3

6,7

3,0

Xhosas städtisch

25,7

55,0

8,4

8,2

Tswanas/Sothos ländlich

25,1

25,5

25,6

14,6

Tswanas/Sothos städtisch

25,5

52,8

11,3

8,6

Über alle Gruppen hinweg gibt es einen breiten Konsens, daß die Eigentümer allein oder mit Mitbestimmung diese Entscheidungen zu treffen haben. Eine wesentliche Minorität gegen diese Auffassung gibt es allein bei den Tswanas und Sothos (vgl. Tab. lOa: OrdnungspoL Grundeinsteilungen II). In diesen Komplex gehört auch die Frage, warum es anne Menschen in Südafrika gibt. In dieser Frage gibt es wieder eine deutliche Polarisierung zwischen Afrikanern und dem Rest der Bevölkerung (vgl. Tab. lOb: OrdnungspoL Grundeinsteilungen III, Ursachen von Armut).

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

111

Tabelle JOb

Ordnungspolitische Grundeinsteilungen 111 Ursachen von Armut (in %) Glücklosigkeit

Faulheit

Gesellschaftliehe Ungerechtigkeit

Afrikaner

4,0

49,3

22,6

Engländer

4,8

34,1

40,5

Mischlinge

12,0

21,1

59,5

Asiaten

12,7

24,6

56,9

Zulus ländlich

14,3

12;7

41,7

Zulus städtisch

14,4

14,0

57.4

Xhosas ländlich

21,7

24,8

31,1

Xhosas städtisch

14,1

18,1

65.4

Tswanas/Sothos ländlich

6,4

7,2

66,1

Tswanas/Sothos städtisch

9,1

12,5

71.4

Während fast 50% der Afrikaner Armut auf Faulheit und mangelnde Willenskraft zurückführen, überwiegt bei allen anderen Gruppen, einschließlich der Engländer, die Vorstellung, daß Armut ein Resultat der Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft sei. Dabei ist aber hinzuzufügen, daß diese Vorstellung unter den Engländern, den ländlichen Xhosas und Zulus jedoch auch nur eine Minderheit vertritt. Bei allen schwarzen Gruppen gibt es eine zum Teil beachtliche Minderheit, die Armut als schicksalhaft bezeichnet. Die Betroffenen sind eben glücklos. Fragt man nach den Institutionen, die geeignet sind, Armut zu überwinden, so ergibt sich wiederum ein klares Bild (vgl. Tabelle lüc: Ordnungspolitische Grundeinsteilungen IV, Institutionen zur Bekämpfung von Armut). Während Engländer wie Afrikaner ganz überwiegend an Privatinitiative glauben, einschließlich der individuellen Verantwortung für Mitmenschen, ist unter den schwarzen Gruppen, aber auch unter Mischlingen und Asiaten das Vertrauen in Wohltätigkeitsorganisationen lind den Staat weit ausgeprägter.

112

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft Tabelle JOc

Ordnungspolitische Grundeinsteilungen 1v•> Institutionen zur Bekämpfung von Armut (in %) Wohltätigkeitsorganisationen

Selbst verantwortung

Nachbarschaftshilfe

staatliehe Fürsorge

wachsende Wirtschaft

Afrikaner

32,4

84,8

55,6

68,2

31,7

Engländer

25,5

85,1

57,6

39,6

74,2

MischIinge

55,9

72,3

49,4

63,0

51,1

Asiaten

58,6

66,8

42,4

62,8

60,0

Zulus ländlich

46,4

45,9

49,3

81,0

71,4

Zulus städtisch

58,5

51,4

37,1

73,3

73,4

Xhosas ländlich

64,9

44,6

43,6

74,7

59,9

Xhosas städtisch

61,0

49,2

51,0

64,6

72,6

Tswanas/ Sothos ländlich

75,7

39,5

45,2

65,0

56,8

Tswanas/ Sothos städtisch

62,4

53,9

52,7

61,2

69,2

a) Mehrfachnennungen möglich

Übereinstimmung herrscht unter allen Gruppierungen mit Ausnahme der Afrikaner, daß eine gesunde und wachsende Wirtschaft das Problem der Armut lösen kann. Insgesamt aber gibt es einen hohen Konsens dartiber, daß das wirtschaftliche System einer fundamentalen Veränderung bedarf (vgl. Tab. IOd: OrdnungspoL Grundeinsteilungen V, Dissens mit der Wirtschaftsordnung). Es überrascht nicht, daß die Ablehnung einer grundlegenden Veränderung unter Afrikanern und Engländern am höchsten und bei den verschiedenen nicht-weißen Gruppen arn geringsten ist.

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

113

Tabelle JOd

Ordnungspolitische Grundeinsteilungen V Dissens mit der Wirtschaftsordnung Skala 1-10 Ablehnung einer grundsätzlichen Veränderung des Wirtschaftssystems Afrikaner

4,34

Engländer

3,68

Mischlinge

2,61

Asiaten

2,65

Zulus ländlich

2,87

Zulus städtisch

2,87

Xhosas ländlich

1,82

Xhosas städtisch

2,87

Tswanas/Sothos ländlich

3,00

Tswanas/Sothos städtisch

2,69

Es paßt in das Bild der anderen Einstellungen, daß die städtischen Xhosas arn nachdrücklichsten eine grundlegende Refonn des Wirtschaftssystems fordern. 29

VII. Gesellschaftliche und politische Ordnung Im Hinblick auf die politische Ordnung eines zukünftigen Südafrikas können wiederum nur grundsätzliche Positionen, nicht jedoch verfassungspolitische Einzelheiten, abgefragt werden. Dabei zeigt sich bei den drei erhobenen Einstellungen - Offenheit der Regierung, Tempo der politischen Reformen und Wertschätzung der Demokratie30 - ein tendenziell einheitliches Bild (vgl. Tab. 11: Demokratisierung 1).

29 In der "Black Youths in Soweto" Untersuchung erklärten 43,2%, sie wüßten genug über Sozialismus und Kapitalismus, um sich ein Urteil zu bilden (56,8% verneinten dies). von diesen in der Selbstperzeption Urteilsfähigen entschieden sich 52,4% für den Sozialismus, 26,4% für Kapitalismus und 17% für eine Mischung aus beiden Ordnungsformen, - ein weiteres Beispiel für Unterschiede, die sich ergeben, wenn man nach abstrakten Begriffen oder konkreten Tatbeständen fragt. 30 Dabei ist es eine offene Frage, welche Art von Stimulus der Begriff Demokratie in diesem Zusammenhang ausgelöst hat. Vieles spricht dafür, daß das Wort einen Symbolwert hat. der im großen Umfang mit der Abschaffung der Apartheid gleichgesetzt wird, nicht aber mit einer konkreten Ausgestaltung des Regierungssystems im westlichen Sinne verbunden wird. 8 Schumacher

IJ4

2. Kapitel: Die melufach fragmentierte Gesellschaft Tabelle 11 Demokratisierung I Skala 1 (Zustimmung) - 10 (Ablehnung)

offeneres Regierungssystem

schnellere politisehe Reformen

Demokratie als optimale Staatsform

Afrikaner

5,0

6,2

4,1

Engländer

4,4

5,2

3,6

Mischlinge

3,5

3,0

2,9

Asiaten

3,9

5,0

3,6

Zulus ländlich

4,0

3,5

3,0

Zulus städtisch

3,6

3,9

3,7

Xhosas ländlich

4,1

1,8

1,7

Xhosas städtisch

3,0

2,6

2,8

Tswanas/Sothos ländlich

4,1

2,6

2,5

T swanas/Sothos städtisch

3,5

3,6

2,8

Afrikaner und mit e1mgem Abstand die Engländer stehen jeder Art von Demokratisierung deutlich skeptischer gegenüber als alle anderen Gruppen. Widerstand gegen eine schnelle politische Refonn gibt es aber auch bei den Asiaten, während die Unterschiede unter den schwarzen Gruppen gering sind und insgesamt kein einheitliches Bild ergeben. Dabei fallen die Spitzenwerte der Zustimmung zu schnelleren politischen Refonnen und zu Demokratie als optimaler Staatsfonn unter den ländlichen Xhosas auf.31 Im Hinblick auf die gesellschaftliche Ordnung gibt es erneut den Gegensatz zwischen Afrikanern und dem Rest der Bevölkerung (vgl. Tabelle lla: Demokratisierung II).

31 Dies steht nicht in Übereinstimmung mit den übrigen Ergebnissen, z.B. auch die relativ hohe Skepsis gegenüber einem offeneren Regierungssystem. Es gibt kaum eine Möglichkeit, diese Abweichung inhaltlich plausibel zu interpretieren. Wahneheiniich handelt es sich um einen Datenfehler oder der Stimulus der Fragestellung hat bei dieser Gruppe unterschiedlich gewirkt.

B. Perzeptionsmerkmale der Fragmentierung

115

Tabelle lla Demokratisierung II (in %) radikale Reform

allmähliche Reform

Bewahrung

Afrikaner

5,3

45,4

42,8

Engländer

8,9

73,3

12,9

Mischlinge

39,6

32,9

7,0

Asiaten

20,4

52,4

15,4

Zulus ländlich

15,7

53,7

24,8

Zulus städtisch

15,7

61,4

20,4

Xhosas ländlich

8,9

52,8

20,9

Xhosas städtisch

22,0

56,4

20,6

Tswanas/Sothos ländlich

16,0

58,7

21,7

Tswanas/Sothos städtisch

28,5

47,8

22,0

Die große Mehrheit der Engländer, aber auch alle anderen Gruppen mit Ausnahme der Mischlinge, sprechen sich für allmähliche Refonnen aus. Aber während bei allen anderen Gruppen die Verteidigung der bestehenden Ordnung bei ca. 20% - bei Mischlingen, Engländern und Asiaten deutlich weniger - liegt, möchten immerhin fast 43% der Afrikaner die bestehende Ordnung verteidigen. Die Anhänger eines radikalenWechselssind unter den Mischlingen mit Abstand am größten. gefolgt von den städtischen Schwarzen und den Asiaten, während diese These unter den ländlichen Schwarzen kaum Anhänger findet. Dabei ist es bemerkenswert, daß von 1990 bis 1991 unter städtischen Schwarzen die Forderung nach Nationalisierung von 40,2% auf 30,6% abgesunken und die Zustimmung zum Privateigentum von 53% auf 61,7% gestiegen ist. 32 Bezogen auf Grund und Boden fordern sogar nur 19,1% der Befragten Staatseigentum, 77,1% dagegen, daß jeder Bürger das Recht haben sollte, Land zu besitzen.33

32

Vgl. Survey Results on Various Socio·Political Issues: A Comparison.

33 In der Fragestellung ist nicht berücksichtigt, daß es bei vielen schwarzen Stämmen darüber hinaus die Eigentumsform des "triballand" gibt, daß also das Land dem Stanun insgesamt gehört. Aus den Daten ist nicht erkennbar, in welche Kategorie diese Eigentumsform einzuordnen ist. Die Hypothese bietet sich an, daß aus der Perspektive betroffener Schwarzer dies eher als Privateigentum im Sinne der Fragestellung interpretiert wird.

116

2. Kapitel: Die mehrlach fragmentierte Gesellschaft

Was die Fonn politischer Partizipation betrifft, so ist zwischen konventionellen und nicht-konventionellen Fonnen zu unterscheiden (vgl. Tab. llb: Politische Partizipation). Bei den unkonventionellen Formen ist tendenziell eine weitaus höhere Partizipationsbereitschaft bei den Schwarzen - bei den städtischen tendenziell mehr als bei den ländlichen - zu beobachten als bei den anderen Gruppen. Dagegen werden die konventionellen Partizipationsformen von den Weißen deutlich stärker akzeptiert. Insgesamt ist die Partizipationsbereitschaft jedoch durch eine gewisse Resignation gekennzeichnet. Gegen ein ungerechtes Gesetz etwas unternehmen zu können, glaubt im Grunde keine Gruppe. Am stärksten ist dieser Glaube noch bei den städtischen Zulus ausgeprägt, aber auch dieser Spitzenwert von 1,8 auf einer Dreierskala ist nicht unbedingt ein Indikator für ein revolutionäres Potential. Tabelle llb Politische Partizipation Skala 1-3 Besetzung von Gebäuden und Fabriken

Teilnahme an genehmigten Demonstrationen

Teilnahme an inoffiziellen Streiks

Beteiligung an Boykotts

Unterzeichnung von Petitionen

Protest gegen ungerechte Gesetze

Afrikaner

1,2

1,2

1,1

1,3

2,3

1,3

Eng1änder

1,0

1,5

1,1

1,5

2,6

1,5

MischIinge

1,2

1,4

1,2

1,4

1,8

1,2

Asiaten

1.2

1,6

1,2

1,5

1,8

1,2

Zulus ländlich

1,2

1,5

1,2

1,4

1,5

1,3

Zulus städtisch

1,3

1,8

1,6

1,9

1,7

1,8

Xhosas ländlich

1,4

1,9

1,5

1,9

1,8

1,5

Xhosas städtisch

1,5

2,2

1,7

2,4

1,9

1,4

Tswanas/ Sothos ländlich

1,4

1,6

1,5

1,9

1,8

1,5

Tswanas/ Sothos städtisch

1,4

2,0

1,7

2,0

1,9

1,6

B. Perzeptionsmerkmale der Fragrnentierung

117

VIII. Politische Grundeinstellungen In der international vergleichenden Einstellungsforschung haben sich Skalen auf der Links-Rechts und Traditional-Progressiv-Dimension bewährt.34 Ob dies auch für die unterschiedlichen Gruppen in der vielfältig fragmentierten Gesellschaft Südafrikas gilt, erscheintjedoch fraglich. Daß auf der Links-Rechts-Skala die Afrikaner deutlich rechts und die Engländer sich gemäßigt rechts einstufen, erscheint noch plausibel. Dies gilt auch für die extrem rechte Einstellung der ländlichen Xhosas und der Tatsache, daß die städtischen Zulus und Xhosas sich deutlich weiter links einstufen als ihre ländlichen Stammesgenossen (vgl. Tab. 12: Politische Grundeinstellungen). Daß dagegen die ländlichen Tswanas und Sothos sich extrem links einstufen, die urbanisierten Teile dieser Stämme jedoch nahe der politischen Mitte, ist schwer zu erklären. Tabelle 12 Politische Grundeinsteilungen Skala 1 (links, progressiv)- 10 (rechts, traditional) Links - Rechts

Traditional- Progressiv

Afrikaner

6,41

6,82

Engländer

5,59

4,88

Mischlinge

5,33

6,42

Asiaten

5,04

4,72

Zulus ländlich

5,09

6,38

Zulus städtisch

4,67

5,60

Xhosas ländlich

7,26

7.02

Xhosas städtisch

4,51

6,56

Tswanas/Sothos ländlich

2,86

6,0

Tswanas/Sothos städtisch

4,65

5,58

Auf der Traditional-Progressiv-Skala ordnen sich alle Gruppen deutlich im Hinblick auf eine traditionelle Einstellung ein. Am stärksten die Afrikaner, die

34 Siehe Inglehart, Ronald/K.lingernann, Hans D., Party Identification, Ideological Preference and the Left-Right Dimension arnong Western Mass Publics, in: Budge, Ian/Crewe, Ivor/Farlie, Denis (eds.), Party Identification and Beyond, Representations of Voting and Party Cornpetition, London, New York 1976, S. 243-273.

118

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

Mischlinge, aber auch die ländlichen wie städtischen Xhosas. Auch diese Ergebnisse stützten die Hypothese, daß diese dem westlichen Kulturkreis entnommenen Dimensionen unter den schwarzafrikanischen Kulturen unterschiedliche Stimuli bedeuten. Von praktischer politischer Bedeutung werden diese Grundernstellungen und damit unabhängig von der Wirkung bestimmter Stimuli unter unterschiedlichen sozio-kulturellen Bedingungen, wenn man nach der gewünschten Zusammensetzung einer zukünftigen Regierung fragt: Soll die Regierung schwarz dominiert sein, die Macht gleichmäßig geteilt werden oder soll ein weißes Übergewicht herrschen (vgl. Tab. 12a: Gewünschte Zusammensetzung einer zukünftigen Regierung). Dabei ist allerdings auch anzunehmen, daß ein großer Teil derer, die sich für gleichmäßige Machtteilung aussprachen, den Begriff "gleichmäßig" in ihrem Gruppenverständnis interpretieren. Dennoch gibt es einige bemerkenswerte Unterschiede. Tabelle 12a35 Gewünschte Zusammensetzung einer zukünftigen Regierung (in %) Schwarz dominiert

gleichmäßige Machtteilung

Übergewicht d. Weißen

Afrikaner

0,7

48,0

51,3

Engländer

2,0

73,1

24,9

Zulus

5,8

86,6

7,2

Xhosas

14,5

81,0

4,6

Sothos

6,9

89,2

3,9

Tswanas

9,4

88,0

2,6

sonst. Schw.

7,1

83,6

9,3

Auffallend ist zunächst die überwältigende Zustimmung, die das Konzept der gleichmäßigen Machtteilung unter allen Schwarzen findet; selbst wenn man die einschränkende Interpretation unterstellt, daß der Begriff gleichmäßig (equally) im Sinne der zahlenmäßigen Überlegenheit der Schwarzen zumindest teilweiseinterpretiert werden muß. Auch unter den Engländern fmdet dieses Konzept eine

35 Auch dieseTabelleist Socio-Political Trends 1991 entnommen. Im Gegensatz zu allen anderen Tabellen dieser Studie enthält sie eine Aufteilung der städtischen Schwarzen nach Stammeszugehörigkeit.

B. Perzeptionsmelkmale der Fragmentierung

ll9

Dreiviertel-Mehrheit, es wird jedoch nur von weniger als der Hälfte der Mrikaner getragen, die mehrheitlich an dem Konzept einer weißen Vorherrschaft festhalten. Interessant ist auch, daß fast 15% der städtischen Xhosas - fast dreimal soviel wie die städtischen Zulus -eine schwarze Machtübernahme fordern. Die Tabelle verdeutlicht somit, wo das Protestpotential gegen das Konzept eines neuen, auf Machtteilung gegründeten Südafrika liegt: unter den Afrikanern und den städtischen Xhosas, der Keimzelle des ANC. 36 Diese Problematik eines fehlenden Verfassungskonsenses bei zentralen Gruppen der südafrikanischen Gesellschaft wird auch deutlich, wenn man nach der entschiedenen Ablehnung einzelner politischer Organisationen fragt (vgl. Tab 12b). Wenn auch wegen der unterschiedlichen Erhebungsmethoden (nur städtische Schwarze) die Ergebnisse für Schwarze und Weiße in ihrer absoluten Höhe nicht vergleichbar sind, so sind doch drei politisch relevante Trends unübersehbar:

1.

ANC und PAC sind für die Mrikaner nicht akzeptabei. 37 Die Hypothese ist naheliegend, daß der Zusammenschluß von ANC und PAC mit einigen anderen Gruppierungen zur Patriotic Front die Akzeptanz des ANC für Mrikaner, aber auch für Engländer deutlich weiter reduziert.

2.

Die Konservative Partei polarisiert die Afrikaner und ist für die Engländer noch weniger akzeptabel als der ANC und selbst - wenn auch geringfügig - der PAC.

36 In der "Black Youths in Soweto" Studie wurde die Frage gestellt, ob die Befragten eine friedliche Lösung der politischen Probleme Südafrikas durch Verhandlungen für möglich hielten. 27% antworteten auf jeden Fall, 37,1% mit hoher Wahrscheinlichkeit, 17,2% mit einiger Wahrscheinlichkeit und 4,4% mit geringer Wahrscheinlichkeit. Nur9,2% hielten eine solche Verhandlungslösung für unmöglich, eine kleine Minderheit also, die aber groß genug ist, um jede ausgehandelte Lösung zu torpedieren. Dem entspricht es, daß in dergleichen Studie 13,9% erklärten, daß sie Entscheidungen ihrer politischen Führung im Verhandlungsprozeß für sich nicht als bindend empfinden würden, 14,6% erklärten, sie würden keinerlei Verhandlungsergebnis akzeptieren. 23,6% halten es für erlaubt, während der Verhandlungen Druck auch durch Gewalttätigkeiten auf die eigene Führung auszuüben, um Konzessionen zu verhindern. 13,1% glaubten, die Schwarzen könnten durch Gewalt mehr erreichen als durch Verhandlungen und gar 28.7% lehnten die Reformpolitik der Regierung grundsätzlich ab. Je nach Fragestellung ergibt sich also unter den schwarzen städtischen Jugendlichen ein hartes Oppositionspotential zwischen 10 und 25%. 15,3% halten es definitiv, weitere 26,2% grundsätzlich für möglich, die südafrikanische Regierung durch Gewalt zu stürzen. Diese Einstellungen sind Folge der jahrelang verbreiteten Parolen von der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes. 37 Im Vergleich zu den entsprechenden Daten aus dem Jahr 1991 (Socio-Political Trends 1991) fällt auf, daß die Ablehnung des PAC durch die Afrikaner (1991 60,4%) und durch die Engländer (1991 45,4%) deutlich gestiegen ist, während die Akzeptanz des ANC durch die Engländer gestiegen ist. Die Ablehnung betrug 1991 noch 31,2%.

=

=

120

3.

2. Kapitel: Die melufach fragmentierte Gesellschaft

Die IFP ist für beide weißen Gruppen eher akzeptabel als für fast ein Drittel der Schwarzen. 38 Tabelle 12 b 39 Ablehnung politischer Organisationen (in %) ANC

PAC

IFP

DP

NP

CP

Afrikaner

50,0

71,4

13,0

18,4

8,6

34,0

Engländer

25,6

58,1

10,5

7,2

3,5

59,5

Xhosas städtisch

0,5

6,3

75,8

4,8

7,1

55,3

Zulus städtisch

6,5

10,9

57,7

5,8

5,3

58,5

Sothos städtisch

0,9

3,7

80,5

8,3

5,2

72,7

Tswanas städtisch

0,3

4,0

77,4

13,8

6,3

65,8

Schwarzen. A. Gouws

1,9

1,5

30,7

0,7

6,3

16,3

Das Fazit dieser Tabelle kann nur lauten: Eine Koalitionsbildung unter dem Konzept der Machtteilung, wie es die Regierung de Klerk anstrebt, die wenigstens breite Akzeptanz - von Zustimmung kann gar nicht die Rede sein - findet, ist nicht erkennbar. Zu den politischen Grundeinsteilungen gehört auch die Identifikation mit dem Land Südafrika (vgl. Tab. 12c: Patriotismus). Dazu gibt es zwei Dimensionen: 1.

der Stolz auf das eigene Land, dieser ist bei allen Gruppen in einer Form ausgeprägt, wie man es kaum in einem westlichen Land erwarten würde. 40 Auf einer Viererskala reicht der "Stolzindex" von 3,83 bei den Afrikanern bis zu 3,36 bei den Mischlingen.

38 In dieser Untersuchung fällt die große Ablehnung der IFP auch unter den Zulus auf. Dies ist eine Folge der Struktur des Sampies (nur urbanisierte Schwarze wurden befragt), spiegelt aber auch die Einschüchterung wider, die infolge der anhaltenden Gewalt in den Townships die Regel ist.

39 Vgl. Socio-Political Trends 1992; für eine vergleichbare Fragestellung vgl. Untersuchung von Gouws, Amanda. Political Intolerance: A Catalyst for Violence, in: The Vrye Weekblad/Sowetan, Quarterly State of the Nation Report, Violence: Now the Fight for Peace, Winter 1991, S. 7-8. 40 In der Marldnor Studie, Socio-Political Trends 1991 erklärten 29,6 Prozent der Weißen und 45,5 Prozent der städtischen Schwarzen, daß sie der Zukunft Südafrikas mit Vertrauen entgegen sehen.

C. Schlußfolgerungen

2.

121

Ein differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man nach der Bereitschaft fragt, für dieses Land zu kämpfen. Diese ist bei den Afrikanern mit fast 85% am höchsten, gefolgt von den Asiaten mit 70% und den Engländern mit 65%. Aber auch unter Mischlingen, ländlichen und städtischen Schwarzen schwankt diese Bereitschaft zwischen einem und zwei Drittel, d.h. auch unter den Bevölkerungsgruppen, die unter dem gegenwärtigen System eindeutig zu den Benachteiligten gehören, ist diese Bereitschaft beachtlich. Dies wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, daß die Ablehnung der Verteidigungsbereitschaft unter keiner Gruppe nennenswert größer als ein Drittel ist. Tabelle 12c Patriotismus (Skala 1-4) Stolz. Südafrikaner zu sein

Bereitschaft, SA zu verteidigen

Afrikaner

3,83

3,38

Engländer

3,40

2,61

Mischlinge

3,36

1,34

Asiaten

3,46

2,82

Zulus ländlich

3,48

1,44

Zulus städtisch

3,48

1,84

Xhosas ländlich

3,61

2,27

Xhosas städtisch

3,43

2,37

Tswanas/Sothos ländlich

3,40

1,44

Tswanas/Sothos städtisch

3,55

1.90

C. Schlußfolgerungen Dieser Überblick über die Einstellungen zu unterschiedlichsten Themen bei den verschiedenen Gruppen Südafrikas zeigt, daß es keinen einheitlichen Trend gibt. Offensichtlich ist, daß das Schwarz-Weiß-Klischee des Außenbildes der Wirklichkeit nicht entspricht. Zugleich aber zeigen sich deutliche Gegensätze zwi-

122

2. Kapitel: Die mehrlach fragmentierte Gesellschaft

sehen den einzelnen Gruppen bei einem unterschiedlichen Verlauf der Konfliktlinien. Dies ist der empirische Beleg für die soziologische Betrachtungsweise, daß Südafrika aus mehreren Gesellschaften besteht. Für die politikwissenschaftliche Frage nach dem Prozeß der Konsensbildung über die politische Ordnung eines Neuen Südafrikas bedeutet dies Problematik und Chance zugleich: Chance, weil der unterschiedliche Verlauf der Konfliktlinien bei verschiedenen Themen unterschiedliche gruppenübergreifende Koalitionsbildungen ermöglicht; Gefahr, wenn es niCht gelingt, den unterschiedlichen Gruppen in den ihnen wichtigen Fragen die Freiheit der Eigengestaltung zu ermöglichen. Versucht man, die Vielfalt dieser unterschiedlichen Ergebnisse zu strukturieren, so lassen sich fünf Tendenzaussagen zum sozio-politischen Gesellschaftsbild Südafrikas formulieren, die jedoch fast alle bei einer spezifischen Fragestellung nicht bestätigt werden. 1 1.

Die Afrikaner insbesondere die im ländlichen Raum lebenden und die städtischen Xhosas besetzen die Extrempunkte auf einer Dimension, die vom status quo zu radikalen Veränderungen reicht. Die Asiaten stehen dabei den Afrikanern häufig näher als die Engländer, während auf schwarzer Seite der Urbanisierungsgrad häufig die Trennung der Stammeslinien überlagert. Das zentrale politische Problem für das Neue Südafrika liegt darin, daß die Einstellungen an den Endpunkten dieser Dimension von straff geführten Organisationen artikuliert werden.2

2.

Bei abstrakten ideologisch geprägten Begriffspaaren ist der Gegensatz zwischen den Gruppen, insbesondere zwischen Schwarz und Weiß, aber auch innerhalb dieser Gruppen deutlich größer als bei pragmatisch praktischen Fragen. Das ist im Bereich der Wirtschaftspolitik besonders deutlich, darin liegt die Chance, das Land wirtschaftspolitisch trotz aller programmatischen Rhetorik neu zu ordnen und dadurch zu entwickeln.

3.

Die Gruppenbezüge sind über die ethnischen Grenzen hinweg durch ein tiefes Mißtrauen gekennzeichnet, dem ein vor dem Außenbild Südafrikas

1 Auf der Grundlage einer derartigen Vielfalt von "weichen" Daten bedingt die Anwendung des Falsifikationskriteriums den weitgehenden Verzicht auf jeden Versuch der empirischen Fundierung. Unter den Bedingungen der Datenlage kann nur eine weitgehende Verifikation angestrebt werden.

2 Vgl. 3. Kap.: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem; besonders B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen IV, VI und VII.

C. Schlußfolgerungen

123

überraschendes Vertrauen in wichtige politische Institutionen, z.B. der Polizei gegenübersteht. Ob der Verhandlungsprozeß für das Neue Südafrika dieses wechselseitige Mißtrauen abbauen kann, ist eine der entscheidendenVoraussetzungenfür die Erfolgschancen für ein Neues Südafrika. 4.

Die Weißen empfinden sich im großen Umfang als die sozialen Absteiger der jüngeren Vergangenheit und erwarten eine weitergehende derartige Entwicklung für die Zukunft. Dem steht eine bemerkenswene Geduld - gemessen sowohl am tatsächlichen wie auch am perzipienen Lebensstandard-, aber zugleich eine völlig unrealistische Erwartungshaltung der Schwarzen gegenüber: Dies implizien die Kombination von existierendem (weißen) und kommendem (schwarzen) Protestpotential, das die Grundpfeiler des Staates infragestellt Nur massive internationale Hilfe erscheint als der Ausweg aus diesem Konflikt, der sich aus diesem Erwartungsgap ergibt, Hilfe, die freilich gerade wegen dieser Konfliktlinien auf privater Basis kaum zu erwarten ist.

5.

Diese unterschiedlichen Perzeptionen sind verbunden mit substantiellen Protestminoritäten auch bei solchen Fragen, bei denen überwältigende Mehrheiten einen gruppenübergreifenden Konsens signalisieren. Dieses Protestpotential von starken Minoritäten, gekennzeichnet durch eine Kombination von Verzweiflung und Gewaltbereitschaft, stellt fast jeden denkbaren Verfassungskonsens in Frage. 3

Es ist gerade diese Konstellation, die zusammen mit den anderen Konfliktlinien, wie sie sich aus der sozialstatistischen Ausdifferenzierung der Gesellschaft ergeben. dem Szenario einer langanhaltenden gewaltsamen Austragung der Konflikte einen gewissen Realitätsgehalt vermittelt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Verbreitung von Waffen in der südafrikanischen Gesellschaft: Waffenlager auf Seiten des ANC und anderer schwarzer Organisationen, je zwölf Waffen auf einen Waffenschein auf Seiten der Weißen, usw., usf. Diese fünf Hauptkonfliktlinien werden weiter verschärft durch die Gegensätze zwischen Xhosas und Zulus, aber auch zwischen Afrikanern und Engländern. Während im zweiten Fall die trennende Linie vor allem aus dem Bereich der Winschaftspolitik und den Vorstellungen über eine neue politische Ordnung Südafrikas- was der gegenwärtigen Rollenverteilung beider Gruppen in Südafrika

3 Vgl. Kaltefleiter, Wemer, Nur massive Hilfe der Industrieländer kann Südafrika vor der Katastrophe bewahren, in: Signatur der Zeit, Handelsblatt vom 22./23. November 1991.

124

2. Kapitel: Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft

entspricht - entstammen, schlägt sich der Gegensatz zwischen Xhosas und Zulus neben den tradierten Konflikten überwiegend in dem weitgehend intakten "Nationalbewußtsein" der Zulus und der Entwurzelung der städtischen Xhosas nieder. Dies ist unabhängig von allen tagespolitischen Themen ein Potential für Gewaltsamkeit, das das Land belasten wird, was immer die politischen Strukturen Südafrikas sein werden. Über diese Konfliktstrukturen hinaus gibt es eine Vielzahl von Unterschieden und wechselnden Konfliktlinien, die insgesamt die Hypothese einer fragmentierten Gesellschaft belegen. Für die politische Diskussion über das Neue Südafrika und zwar im Land selbst wie auch im interessierten Ausland ist jedoch ein Ergebnis von zentraler Bedeutung: Die jahrzehntelange Politik der getrennten rassischen Entwicklung hat das Land zu einer perzipierten Polarisierung zwischen Weißen und Nichtweißen geführt, die durch die Verfassungsreform von 1983 im Hinblick auf Mischlinge und Asiaten nur peripher aufgebrochen wurde. So ist es verständlich, daß von wichtigen schwarzen Organisationen, insbesondere ANC, PAC aber auch der Gewerkschaft COSATU die Überwindung der Apartheid ebenso zum übergeordneten Ziel der Politik gemacht wurde, wie dies für die weiße Reformpolitik der Regierung de Klerk und die Einstellungen des Auslandes zu Südafrika gilt. Diese Polarisierung hat jedoch nur scheinbar zu einer Homogenisierung der beiden Seiten geführt; die empirische Analyse bestätigt, was aufgrund der seit Jahren anhaltenden z.T. blutigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen schwarzen Gruppen signalisiert worden ist: Die Fragmentierung der südafrikanischen Gesellschaft besteht nicht nur zwischen Schwarzen, Weißen, Mischlingen und Asiaten, sondern z.T. im stärkerem Umfang innerhalb dieser Gruppen und hier insbesondere innerhalb der Gruppe der Schwarzen. Der empirische Befund ist in dieser Frage eindeutig. Daraus folgt, daß es keine Verfassungsordnung für Südafrika geben kann, die ein demokratisches und friedliches Miteinander aller Gruppen sicherstellt, die von der Fiktion der Existenz der Schwarzen und z.T. auch der Weißen ausgeht. Eine politische Ordnung, die die Ziele des friedlichen und demokratischen Miteinanders erreichen will, muß von der Realität der gruppeninternen Fragmentierung ausgehen. Dies wollen wichtige politische Gruppen auf allen Seiten innerhalb und außerhalb Südafrikas nicht wahrhaben, ist aber dennoch eine Realität, an der man sich weder mit ideologischen Parolen4

4 Dazu gehört auch. daß denjenigen, die seit Jahren auf die Fragmentierung gerade innerhalb der Schwarzen hingewiesen haben, der Vorwurf gemacht wurde, sie wollten durch eine sozialwissenschaftliche Fundierung der Fragmentierung nur die Grundlagen für ein divide et impera und damit die weiße Vorherrschaft sichern.

C. Schlußfolgerungen

125

noch mit dem bewußten Schließen der Augen5 vorbeimogeln kann. Es ist deshalb ein Gebot intellektueller Redlichkeit, bei der Diskussion der verfassungspolitischen Optionen von der Realität der inter- und intraethnischen Fragmentierung auszugehen. So stellt Lijphart fest "... from the point of view of social science, the denial of ethnicity is a myth, but it is a myth that is part of the South African political reality and that has tobe constitutionally accomodated." 6 Diese Feststellung ist nur durch den Hinweis zu ergänzen, daß der Mythos, die ethnische Fragmentierung zu leugnen, im Ausland eher noch stärker verbreitet ist als in Südafrika.

5 Dies geht z.B. so weit, daß die meisten empirischen sozialwissenschaftliehen Untersuchungen, sei es im Auftrag des HSRC (Human Seiences Research Council) oder der Regierung, zwar die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Sprachen erheben, diese aber in ihren Berichtsbänden nur in Form von Sprachgruppen ausweisen. Dies führt dann dazu, daß z.B. dieVölkerder Zulus und Xhosas, zwischen denen es seit Jahren in den schwarzen Townships zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt, in eine gemeinsame Sprachgruppe (Nguni) eingeordnet werden. Solche Zählkünste reduzieren die tatsächlich existierenden Konfliktlinien freilich nicht. 6 Lijphart, Arend, the Ethnic Factor and Democratic Constitution-Making in South Africa, in: Keller, Edmond J./Picard, Louis A. (eds.): South Africa in Southem Africa, Domestic Change and International Conflict; Boulder/London 1989, S. 13-24, hier S. 13.

3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem A. Die Ausgangssituation Unabhängig von der Frage, in welcher Form das politische System eines neuen demokratischen Südafrikas im einzelnen organisiert wird, bleibt, daß der Struktur des Parteiensystems oder der Parteienlage 1, wie Max Weber formulierte, eine entscheidende Rolle für das Funktionieren jedes politischen Systems zukommt. Hier bietet sich die Orientierung an Max Webers Diskussion der verfassungspolitischen Optionen Deutschlands nach dem I. Weltkrieg an: Er begann mit der Analyse der Parteienlage,2 weil diese die Konfliktstruktur der Gesellschaft in der Politik widerspiegelt. Die Frage ist also zunächst, in welcher Form die fragmentierte Gesellschaft Südafrikas ihre politischen Organisationen, also Parteien, gefunden hat. Die Auswirkungen unterschiedlicher Verfassungsstrukturen hängen in großem Umfang von der Konfliktstruktur einer Gesellschaft und der Struktur des Parteiensystems ab. 3 Für Südafrika impliziert dies zunächst die Frage, ob die ethnischen Gruppen jeweils durch eigene Parteien repräsentiert werden oder ob es Parteien gibt, die für die unterschiedlichen ethnischen Gruppen offen sind. Bis zu Beginn der Transformation des Apartheid-Systems gab es in Südafrika für Weiße, Mischlinge und Asiaten selbständige Parteien; seit Beginn des Reformprozesses Anfang 1990 haben sich die linksliberale oppositionelle Demokratische Partei (DP) und die seit 1948 regierende Nationale Partei (NP) ebenso für Nicht-

1 Weber, Max, Gesammelte Politische Schriften, 2. erweiterte Auf!. Tübingen 1958, S. 457. 2 Vgl. Weber, Politische Schriften; bes. Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 294-431, aber auch Politik als Beruf, S. 493-548. 3 In einem parlamentarischen System wird zum Beispiel die Rolle des Premierministers in wesentlichem Umfang durch die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien bestimmt. Ein Parteiensystem ist generell abhängig von der gesellschaftlichen Konfliktstruktur, da diese die Grundlage für die Entwicklung von Parteien ist. Vgl. Lipset/Rokkan, Oeavage structures, party systems and voter alignments, S. 1-64.

128

3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

Weiße geöffnet wie die Inkatha Freedom Party (IFP) dies für Weiße getan hat. Der ANC hatte seit Jahrzehnten Angehörige aller Gruppen in seinen Reihen. Ausgangspunkt für die verfassungspolitische Diskussion in Südafrika, die das tradierte System der getrennten rassischen Entwicklung überwinden und die schwarze Bevölkerung zu in jeder Hinsicht gleichberechtigten Bürgern machen soll, ist zunächst eine umfangreiche Literatur, in der verschiedene Konzepte für das Neue Südafrika erörtert worden sind. Diese Vorschläge sind zum Teillange vor der Einleitung des politischen Reformprozesses durch Präsident de Klerk in seiner Rede vom 2. Februar 19904 entstanden. Dementsprechend ist ihr Bezug zu der seitdem entstandenen Diskussion zum Teil nur bedingt erkennbar, zumal gerade die ältere Literatur sich im großen Umfang auf die Probleme der sogenannten "kleinen Apartheid", also die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung im täglichen Leben bezieht. Ansätze zu ihrer Abschaffung wurden durch Präsident P.W. Botha seit Anfang der 80er Jahre eingeleitet. 5 Diese Reformansätze hatten die politische Struktur des Apartheidsystems noch nicht in Frage gestellt. Zur Strukturierung dieser umfangreichen Diskussion sind insbesondere die im Jahre 1991 vorgelegten Verfassungsmodelle der regierenden Nationalpartei (NP)6 und des ANC7 geeignet. Hinzu kommt als drittes Dokument das KwaZulu Natal Indaba,8 das im Jahre 1986 als Modell für eine gemeinsame gemischtrassische Selbstregierung der weißen Provinz Natal und des von der Zulu-Bewegung Inkatha beherrschten autonomen Territoriums KwaZulu gedacht war. Dieses Modell wurde damals von der Zentralregierung verworfen und ist durch die seitdem

4 Text der Rede de K.lerks, in der er das Verbot von ANC, PAC und SACP sowie die Restriktionen für weitere 33 Organisationen aufhebt und die Beschränkungen für die Medienberichterstattung zurücknimmt und die Rücknahme des Separate Amenities Act von 1953 ankündigt, in: Pretoria News vom 2. Februar 1990.

5 Vgl. die Zusammenstellung von Thomashausen, Andre E.A.M., The Dismantling of Apartheid, The Balance of Reforms 1978-1988, Pretoria 1987. 6 Vgl. Constitutional Ru1e in a Participatory Democracy, The National Party's framework for a new democratic South Africa, Compiled and issued by the Federal Council of the National Party, Pretoria September 1991 (im folgenden zitiert als National Party, Constitutional Ru1e) 7 Vgl. African National Congress, Constitutional Committee, DiscussionDocument: Constitutional Princip1es and Structures for a Democratic South Africa, April 1991 (im folgenden zitiert als ANC, Constitutional Principles ); vgl. auch The ANC Constitutional Comminee, A Bill of Rights for a New South Africa, A Working Document, published by Centre for Deve1opment Studies, Belville 1990 (im folgenden zitiert als ANC, Bill of Rights) 8 KwaZulu Natallndaba Constitutional Proposals, Agreed to on 28 November 1986, Durban, o.J. (im folgenden zitiert als lndaba Constitutional Proposals)

A. Die Ausgangssituation

129

eingetretene Entwicklung zum Teil überholt, enthält aber dennoch wesentliche Elemente, die die spätere Verfassungsdiskussion mit geprägt haben. Dies betrifft insbesondere die heftig wnstrittene Repräsentation traditioneller ethnischer Gruppen. Darüber hinaus hat Inkatha bei den Verfassungsverhandlungen seit Dezember 1991 neuere, aber im wesentlichen ähnliche Vorschläge vorgelegt. 9 Neben den drei Hauptdokumenten gibt es zahlreiche ergänzende Vorschläge, die sich aber in ihren zentralen Elementen nicht von diesen unterscheiden. Davon gibt es freilich zwei wesentliche Ausnahmen: die verschiedenen Vorschläge zur Teilung des Landes und zur Errichtung eines vom Afrikaner geprägten "Volksstaates", 10 sowie die Wiederherstellung des klassischen Apartheid-Modells 11 und damit verbunden vor allem das Zurückdrängen von ca. 10 Millionen urbanen Schwarzen in ihre "Homelands", deren wirtschaftliche Entwicklung man als ausgleichende Zielsetzung angibt. Auf eine nähere Diskussion dieser beiden Vorschläge wird aus zwei Gründen nicht eingegangen: I.

Es besteht keine Chance auf die Verwirklichung dieser Modelle und dies nicht nur aus machtpolitischen Gründen, sondern auch, weil sie die Realität einer zwar fragmentierten aber letztlich doch auch einheitlichen und insbesondere ökonomisch integrierten Gesellschaft außer acht lassen.

2.

Es handelt sich nicht um Modelle für ein Neues Südafrika, sondern sie versuchen, das alte in der Wirklichkeit schon nicht mehr bestehende Südafrika entweder auf einem Teil des oder sogar auf dem gesamten Territorium der Republik Südafrika wiederherzustellen.

Für die weitere verfassungspolitische Diskussion lassen sich die drei Hauptdokumente von NP, Inkatha und ANC in drei Problemkreise unterteilen: 1.

die Organisation des zentralen politischen Systems in Exekutive und Legislative,

2.

die Frage einer Dezentralisierung der politischen Strukturen und

3.

Formen des Minderheitenschutzes.

9 Vgl. Werking Group 2, Position Paper of the Inkatha Freedom Pany for Submission at the CODESA Meeting of February 6, 1992, o.O. (im folgenden zitien als Position Paper of the IFP). 10 Vgl. z.B. die Vorschläge der Afrikanervryheidstigting, Raath, A.W.G., Vryheidsreeks I, Selfbeskikking en Sesessie: Die Saak vir die Afrikanervolk, o.O. 1990. 11

Vgl. die Vorstellungen der HNP in: Basson, J.L., Die Land is ons Land!, Pretoria 1991.

9 Schumacher

130

3. Kapitel: Die UrnsetZWlg der Konfliktstruktur im Parteiensystem

Übereinstimmung besteht bei allen Dokumenten in der Zielsetzung eines demokratischen und nicht auf ethnischen oder rassischen Strukturen aufgebauten Südafrika mit einem umfangreichen individuellen Grundrechtskatalog. 12 Eine Prinzipienübereinstimmung, die allerdings viel Raum für fast unüberbrückbar erscheinende Gegensätze in den drei Problembereichen enthält. Neben diesen verfassungspolitischen Kontroversen gibt es einen weiteren ordnungspolitischen Gegensatz, der zwar nicht unter den defmierten Verfassungsbegriff fällt, der aber für die weitere Entwicklung Südafrikas auch von zentraler Bedeutung sein wird: Während IFP, DP und NP- dabei mit Unterstützung der Konservativen -eine grundsätzlich marktwirtschaftliche Ordnung auf der Grundlage von Privateigentum für unabdingbar erklärt haben, haben Vorstellungen von Nationalisierung und zentraler Planung einen hohen Stellenwert im Denken des ANC 13 und seiner potentiellen Verbündeten. 14 Bei diesem Gegensatz ist jedoch der Bezug zu der verfassungspolitischen Kontroverse um Form und Umfang der Dezentralisierung entsprechend der Interdependenz der Ordnungsformen 15 unübersehbar.

B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen I. Die regierende Nationalpartei (NP)

Für alle etablierten Parteien des südafrikanischen Parteiensystems, aber auch für alle Bewegungen (Movements) und Ami-Apartheidsgruppen bedeutete die von Präsident de Klerk eingeleitete Reformpolitik eine große Umorientierung. Dies galt und gilt auch für die regierende Nationalpartei. Vor den vorgezogenen

12 Vgl. die ausführliche Ausarbeitung der Law Cornrnission zu diesem Thema, South African Law Commission, Working Paper 25, Project 58: Group and Human Rights, Pretoria 1989, besonders die Stellungnahmen der Parteien S. 260-280. 13 Vgl. Centre for Development Studies, African National Congress, Department of Economic Policy, Discussion Document: Economic Policy, Bellville o.J. und Centre for Development Studies, Draft Resolutionon ANC Economic Policy for National Conference, Bellville o.J. 14 So z.B. im Programm der südafrikanischen Kommunistischen Partei, vgl. Programme of the South African Communist Party, The Path to Power, Johannesburg September 1990.

15 Das Konzept der Interdependenz der Ordnungsformen geht auf Walter Eucken (Grundlagen der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl. Tübingen 1975.) zurück. Für eine jüngere Diskussion aus politikwissenschaftlicher Sicht siehe Kaltefleiter, Wemer, Politische Ordnung und Wirtschaftsordnung, in: Vaubel, Roland/Barbier, Hans, D., (hrsg.). Handbuch Marktwirtschaft, Pfullingen 1986, S. 45-51.

B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen

131

Wahlen am 6. September 1989, die die NP wiederum mit einer Mehrheit der Sitze gewann, hatte sie ihren "Plan of Action" als Programm für ein "New South Africa" vorgelegt. 1 Diese Parlamentswahl unter der weißen Bevölkerung war die unmittelbare Auswirkung des Führungswechsels innerhalb der Nationalen Partei von P.W. Botha, der wegen Krankheit im Februar 1989 sein Amt als Führer der NP niederlegte, zu F.W. de Klerk. De Klerk hatte bei den Wahlen zum Parteivorsitzenden im Frühjahr 1989 nur wenige Stimmen mehr als sein stärkster Konkurrent Barend du Plessis (69 : 61 Stimmen) erhalten. Da Botha zunächst noch am Amt des Staatspräsidenten festhielt, kam es zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen großen Teilen der NP, die sich bereits im Übergang zum Reformprozeß befanden, und dem damaligen Staatspräsidenten, der in seiner Politik des politischen status quo verharrte. Diese Situation konnte erst beendet werden, als am 15. August 1989 kurz vor den vorgezogenen Parlamentswahlen vom September 1989 F.W. de Klerk auch Staatspräsident wurde. Der Plan of Action, der im Juni 1989 von der NP verabschiedet worden war, enthielt die Forderung nach einem System mit gleichen politischen Partizipationschancen für alle Gruppierungen, das auf dem Weg über Verhandlungen erreicht werden sollte.2 Diese Position traf nicht nur die Parteimitglieder, sondern auch die Wählerschaft so unvorbereitet, daß die Spaltung in die sog. "Verligtes" und "Verkramptes" 3 noch deutlicher wurde und die Partei vor der größten Zerreißprobe seit ihrer Machtübernahme 1948 stand. Die regierende NP, die 1948

1 Vgl. Proposed PlanofAction of the National Party- Election 6 September 1989, verabschiedet auf dem NP Parteitag im Juni 1989. Viele der in diesem Programm genannten Ideen finden sich bereits in einem sogenannten Geheimpapier des Afrikaner Broederbond "Basic Political Preconditions for the Survival of the Afrikaner", 1986; Nachdruck in: Centre for Policy Studies, Negotiations Package, Johannesburg 1989. Dieses Papier, das ein Rundbrief an alle Mitglieder des Broederbonds war und durch die Indiskretion eines Mitgliedes an die Presse geriet, enthält Aussagen, daß eine Regierung, die sich nur auf einen Teil der Bevölkerung stützt, diesen bevorzugen wird - eine Politik, die für die Weißen, insbesondere auch für die Afrikaner unakzeptabel sei, genauso wie für alle anderen Gruppen. Diese reformerische Haltung war bereits in den Wahlen von 1987 gegen die Regierungspartei von den konservativen Parteien genutzt worden. 2 Die Kritik am Programm der NP bezog sich vor allem darauf, daß keine eindeutige Stellung bezogen wurde, sondern "By paying lip-service to the foundations of both an apartheid and a democratic state the NP's plan could mean different things to different people." Taylor, Rupert, Between Apartheid and Democracy: The South African Election of 1989, in: Moss, Glenn/Obery, Ingrid, South African Review 5, Braamfontein/Johannesburg 1989, S. 56-67, hier S . 60.

3 Mit den Begriffen "Verligtes" und "Verkramptes" werden die Aufgeklärten und Verkrampften unter den Buren, also die, die eine Anpassung an die Veränderungen der Gesellschaft befürworten und die, die den Idealen der Verwoerd-Zeit anhängen, bezeichnet.

9•

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

als Befürworter der Apartheid-Politik und des Afrikaner-Nationalismus an die Macht gekommen war, verließ den politischen Weg ihrer großen Führer wie General Hertzog und H. F. Verwoerd und- so jedenfalls in der Perzeption der Mitglieder und Wähler der NP- begann mit dramatischen Reformen. 4 Seit Mitte der 70er Jahre hatte es eine Verschiebung des Wählerpotentials der NP gegeben. 5 Zunehmend wurde die Partei auch für englischsprachige Südafrikaner wählbar, was vor allem darin begründet lag, daß es in der Ausrichtung der NP nicht länger allein um das Erkämpfen desselben sozioökonomischen Status für die Afrikaner ging, den ein Großteil der Engländer bereits seit mehreren Jahrzehnten besaß, sondern eher um Bewahrung der erreichten Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dieser Wandel in der Parteipolitik und damit auch der Regierungspolitik betraf aber vor allem die schlechter gestellten Schichten der südafrikanischen Gesellschaft, die mit ihrer geringeren Ausbildung auch die unattraktiveren wirtschaftlichen Positionen besetzten, mithin von einem wirtschaftlichen Aufstieg schwarzer Teile der Bevölkerung am stärksten betroffen wurden und in der Verfolgung strikter Apartheid-Politik ihre größten Chancen sahen, da sie durch eine solche Politik stark privilegiert wurden. Die unterschiedlichen parteipolitischen und ideologischen Positionen innerhalb der NP um die Streitfrage radikale Reformen mit dem Ziel der totalen Abschaffung der Apartheid oder Festhalten an Rassenstrukturen führte immer wieder zu Parteiausschlüssen oder Abspaltungen von der NP. 6 Nach der Entscheidung der Regierung/NP zu Verhandlungen über eine Reform des politischen Systems hat die NP zwar auf der einen Seite einen starken Zulauf

4 Es muß allerdings angemerkt werden. daß in den 80er Jahren bereits eine Reihe von Apartheid· Gesetzen abgeschafft wurden. darunter z.B. der "Prohibition of Mixed Marriages Act" Nr. SS von 1949 oder der "Immorality Act" Nr. 23 von 1957. Durch Gesetze wie den "Labour Relations Amendment Act" Nr. 57 von 1981 wurde die legale Diskriminierung von Gewerkschaften beseitigt oder durch den "Mines and Works Amendment Act" Nr. 38 von 1987 die Reservierung von Arbeitsplätzen in der Minenindustrie für Weiße aufgehoben.

5 Vgl. Schlemmer, Lawrence, The National Party: ideology, aims, role and strategy, in: van Vuuren, D.J., et. al. (eds.) South African Election 1987, Context, Processand Prospect, Pinetown 1987, S. 51 -64, bes. S. SS ff. Schlemmer sieht die erste wirkliche Verschiebung zur Mitte des Parteienspektrums und damit zu wirklichen Reformansätzen für den Zeitraum von 1978-1987. 6 1969 gründeten vier von der NP ausgeschlossene Mitglieder die Herstigte Nasionale Party (Wiedemergestellte Nationale Partei), die zwar in den folgenden Wahlen beachtliche Erfolge verzeichneten (bis zu 13% der Stimmen), aber wegen des Mehmeitswahlrechts keinen Sitz erringen konnten. 1982 spaltete sich die Konservative Partei von der NP ab, die heute die offizielle Oppositionspartei ist.

B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen

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von liberalen Weißen zu verzeichnen, auf der anderen Seite zeigten Umfragen und Wahlergebnisse in Nachwahlen7 , daß die NP vor allem in den ländlichen Gebieten stark an die Konservativen verloren hat. Über diese Tatsache kann auch das von Präsident de Klerk mit zwei Dritteln der weißen Stimmen gewonnene Referendum8 vom 17. März 1992 nicht hinwegtäuschen. Das Wahlergebnis von 1989 verdeutlicht den inneren Zwiespalt der NP und ihrer Wählerschaft.9 Sowohl von Seiten der Democratic Party (DP) als auch der Konservativen Partei (KP) kam heftige Kritik am Kurs der NP wie er sich im Wahlprogramm von 1989 zeigte: Während die DP ihre Kritik damit begründete, daß die Reformvorstellungen der NP halbherzig seien, gingen gerade diese Vorstellungen von der schrittweisen Abschaffung des Apartheidsystems der Konservativen Partei entschieden zu weit. Beide Oppositionsgruppierungen konnten in der Wahl 1989 erhebliche Zugewinne verbuchen. Die NP gewann zwar mit 93 Sitzen die absolute Mehrheit der 166 Mandate, mußte aber 17 Sitze an die KP (insgesamt 39) und 12 (insgesamt 33) an die DP abgeben. 10 Noch deutlicher wird der Verlust der NP bei einer Betrachtung der Stimmenanteile, sie erlangte nur noch 48% der Stimmen, die KP 32% und die DP 20%. Das bedeutet, daß nur das Mehrheitswahlrecht der NP eine Mehrheit der Sitze und damit den Erhalt der Regierungsmacht ver-

7 Seit der Parlamentswahl vom September 1989 hat die NP jede Nachwahl an die rechte Konservative Partei verloren. Dramatisch war vor allem die Niederlage der NP im Februar 1992 in der Universitätsstadt Potchefstroom, wo der Stimmenumschwung zugunsten der KP 11% betrug. DieserWahlkreis auf dem Platteland von Transvaal galt als repräsentativ für das Afrikanertum, hinzu kommt, daß F.W. de Klerk hier nicht nur seinen Universitätsabschluß gemacht hat- die Universität Potchefstroom für Christlichen Höheren Unterricht gilt als Kaderschmiede der Afrikaner-Elite sondern auch Kanzler dieser Universität ist. 8 Nach einer verlorenen Nachwahl kündigte Präsident de Klerk anläßlich einer gemeinsamen Sitzung aller drei Kammern des Parlamentesam 20. Febr. 1992 ein Referendum an, um zu prüfen, ob der von der Nationalen Partei eingeleitete Verhandlungsprozeß im Rahmen der CODESA (Convention for a Democratic South Africa) fortgesetzt werden sollte. Die Frage, die von den weißen Wählern beantwortet werden sollte, lautete: "Unterstützen Sie die Fortsetzung des Reformprozesses, den der Staatspräsident am 2. Februar 1990 begonnen hat und der eine neue Verfassung durch Verhandlungen zum Ziel hat?" Bei einer Wahlbeteiligung von fast 88% entschieden sich 68,7% der weißen Wähler für eine Stimmabgabe mit 'Ja', 31,3% stimmten mit 'Nein'.

9 In diesem Sinne argumentiert auch Friedman, Steven, South Africa's 1989 General Election, in: Vierteljahresberichte, Probleme der internationalen Zusammenarbeit Nr. 118, Dezember 1989, Special issue, South Africa: The Dynamics of Stagnation, S. 351 -360. 10 Im Distrikt Fauresmith mußten Nachwahlen stattfinden, da im ersten Wahlgang Stimmengleichheit zwischen NP und KP bestand. DieseWahl wurde inzwischen zugunsten der KP entschieden.

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

schaffte. 11 Der Schock, den diese Wahl innerhalb der Führungsriege der NP auslöste, war ein weiterer Grund für das Einlenken auf den Refonnkurs. In der Convention for a Democratic South Africa (CODESA) 12, der ersten institutionalisierten Diskussion für Verfassungsverhandlungen, hat die NP sich für folgende Punkte eingesetzt: eine Begrenzung der Machtbefugnisse des Staatspräsidenten; ein Parlament, bestehend aus zwei Kammern; Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht; ein stabiles, handlungsfähiges Regierungssystem mit einer Beteiligung und Schutz von Minderheiten bei möglichst weitgehender Dezentralisierung auf regionaler und kommunaler Stufe; die autonome Entscheidung von Subsystemen über das Bildungswesen bei Beibehaltung sprachlicher und kultureller Rechte für Gruppen, die dies wünschen; einen wirksamen Schutz des Privateigentums sowie Schutz der etablierten Wirtschaftsinteressen, d.h. der Erhaltung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems grundsätzlich marktwirtschaftlicher Ordnung, geprägt durch Oligopole und erheblichen Staatseinfluß. Dies steht im Einklang mit den NP Aussagen seit der Rede de Klerks im Februar 1990, vor allem ihrem Verfassungskonzept "Constitutional Rule in a Participatory Democracy". 13 Zusammenfassend läßt sich für die NP feststellen: 1.

Die NP strebt im Prinzip ein consociationales Regierungssystem an, wobei offensichtlich die politische Erwartung besteht, eine große Koalition zusammen mit dem ANC und IFP bilden zu können. Um dies auch

11 Diese Situation hatte es bereits einmal gegeben und zwar bei den Wahlen 1948, als die NP erstmals Regierungspartei wurde.

12 Die Convention for a Democratic South Africa (CODESA) trat nach einer langen Reihe von Vorverhandlungen erstmals am 20. und 21. Dezember 1991 in Johannesburg zusammen. 13 Parteien oder Bewegungen sowie die Regierungen der Republik Südafrika und der vier sogenannten unabhängigen Homelands Bophuthatswana, Transkei, Ciskei und Venda nahmen an der ersten Sitzung teil. Nicht vertreten waren die rechte Konservative Partei, die kleineren rechtsradikalen weißen Parteien wie HNP, BBB, AWB, etc. und der linksradikale PanAfricanist Congress. 13 Für eine kritische Würdigung des Verfassungskonzepts der NP vgi. Schlemmer, Lawrence, The National Party constitutional proposals - stable democracy or minority imperialism? in: South Africa International, Voi. 22, Nr. 2 (Oktober) 1991, S. 65-70.

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für den Fall zu sichern, daß eine der beiden großen Parteien also ANC und NP allein oder zusammen mit kleineren Verbündeten eine parlamentarische Mehrheit erreichen könnte, soll in der Verfassung festgeschrieben werden, daß mindestens die drei stärksten Parlamentsparteien im Kabinett vertreten sein müssen 14 und im Kabinett nur nach dem Konsensprinzip 15 entschieden wird. 2.

Die NP will eine starke Dezentralisierung des Landes und der politischen Kompetenzen durch ein Regierungssystem mit drei Organisationsstufen: Union, Regionen, Kommunen und Kreisen, 16 wobei die für das tägliche Zusammenleben der Bürger so wichtigen Fragen wie Erziehung, Stadtentwicklung, etc. in der Zuständigkeit von Kommunen oder von freiwilligen "Nachbarschaftsgemeinschaften" (City oder Neighbourhood Councils) innerhalb einzelner Kommunen liegen. Zur Dezentralisierung gehört auch die Repräsentation der einzelnen Regionen in einer Zweiten Kammer auf der Organisationsstufe der UnionP

3.

Die NP verlangt die Anerkennung freier und autonomer Gemeinschaftsinteressen für alle Minoritäten in der Gesellschaft. 18 Dies impliziert das Recht auf Selbstverwaltung sowohl in ökonomischen Fragen als auch solchen wie Erziehung, Kultur, Sport, Religion, Sprache, Tradition und entsprechenden Fragen des Gemeinschaftslebens.

14 " ... the office of head of state and of govemrnent should be vested in a collective body known as the Presidency. The Presidency will consist of the Ieaders of the three largest parties in the First House. In the event that the three largest parties do not tagether represent the majority of the voters, the Presidency will be supplemented by as many additionalleaders, in order of the size of their party, as may be required to represent a majority." National Party, Constitutional Rule, S. 13. 15 "The chairmanship may rotate among the members on an annual basis. Decisions are Iaken by consensus .... The Presidency, by consensus, appoints ministers who form a multiparty Cabinet and who are obliged to carry out the policy of the Presidency." National Party, Constitutional Rule, 13.

s.

16 Es sind Formen des 'Regional Govemment' und des 'Local Govemrnent' vorgesehen, wobei die Formen des Local Govemrnent mit den 'City' und 'Neighbourhood Councils' stalk umstritten sind, da Wahlen zu diesen Organen auch nach Kriterien wie Eigentümer, Vermieter und Mieter stattfinden können. Vgl. National Party,Constitutional Rule, S. 17. 17 Vgl. National Party, Constitutional Rule, S. 11

ff. und S. 14 ff.

18 Dies soll vor allem durch einen Grundrechtekatalog festgeschrieben werden, der "protection

ofthe interests of groups and comrnunities" beinhaltet, sowiedurch die Verankerung des Grundsatzes "the fundamental rights of the individual, including rights exercised in group and comrnunity context, are protected against infringement" in der zukünftigen Verfassung. Vgl. National Party, Constitutional Rule, S. 6-8.

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

II. Die Democratic Party (DP)

Die DP (Democratic Party) ist die Partei der liberalen Engländer und Intellektuellen. Sie entstand im April1989 aus einem Zusammenschluß von PFP (Progressive Federal Party), IP (Independent Party) und NDM (National Democratic Movement). Von diesen Parteien war bis dahin nur die PFP im weißen Parlament vertreten gewesen. 1961 errang sie erstmals einen Sitz und erzielte ihr bestes Ergebnis 1981 mit 26 Mandaten, ehe sie 1987 wieder auf 19 abrutschte. Diese neue 19 Gruppierung forderte im Wahlkampfvon 1989 die vollständige Abschaffung der Apartheid und ein System mit 'one-person one-vote' in einem föderativen System nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada oder Australien,2° das auf dem Weg über Verhandlungen zwischen den Führern aller wichtigen Gruppen erreicht werden sollte. Die derzeit geltende Verfassung sei überholt, da sie auf zwei Prämissen aufbaue, nämlich dem Prinzip der Rassenzugehörigkeit und dem Ausschluß der Mehrheit der Bevölkerung vom Willensbildungsprozeß. Schon mehrere Jahre vor dem Amtsantritt de Klerks hatten Führer der heutigen DP begonnen, Beziehungen zu schwarzen Gruppierungen - vor allem dem ANC anzuknüpfen. 21 1985 versuchte die PFP eine Allianz von Organisationen zustande zu bringen. die dem Gedanken einer National Convention und einer dort auszuhandelnden neuen Verfassung nahestanden. Schließlich nahm sie aktiv am KwaZulu Natal Indaba22 teil -einer nicht auf Rassenzugehörigkeit beruhenden Verfassungslösung für die Region KwaZulu/Natal mit erhofften Anwendungsmöglichkeiten für ganz Südafrika, dem die NP-Regierung allerdings ablehnend

19 Die Partei trug zwar einen neuen Namen, aber die Parteiführer aller drei Vorläuferparteien fanden sich in einem Führungstriumvirat der Democratic Party zusammen. 20 Vg!. Race Relations Survey 1989/90, S. 705. 21 Dennis Worrall, der gemeinsam mit Zach de Beer und Wynand Ma!an die Democratic Party führt, traf sich bereits im September 1987 mit führenden ANC-Offiziellen in Zimbabwe. Aufsehen erregte vor allem eine der ersten Delegationen, die sich mit Vertretern des ANC im Exil trafen. Hierbei handelte es sich um eine Wirtschafts- und Journalistendelegation unter Leitung des damaligen Präsidenten von Anglo-American, Gavin Relly, die sich im September 1985 in Lusaka, Sambia trafen. Zur selben Zeit äußerte sich auch Harry Oppenheimer, ehemaliger Präsident von Anglo·American und De Beers Consolidated Mines in einem Vortrag in London vor dem South Africa Oub im Sinne eines Ausgleichs zwischen den Gruppen. Vgl. Oppenheimer, Harry. Recent Changes in South Africa, in: South Africa International, Vo!. 16, Nr. 1 (July 1985), S. 24-28. 22 Das KwaZulu Natal Indaba erarbeitete von April bis Dezember 1986 Vorschläge für eine gemeinsame Verfassung der Provinz Natal und des sog. Homelands KwaZulu mit einer einheitlichen legislativen Institution für beide Teile in Form eines 'dezentralisierten' Systems.

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gegenüberstand und dessen Schlußbericht sie scharf verurteilte. Die PFP wurde die erste Partei, die Mitglieder in mehr als einer Kammer des seit 1983 bestehenden Drei-Kammer-Parlaments hatte, als Mitglieder des Indian House of Delegates im Jahre 1988 der PFP beitraten. Die Ausgangspositionen der DP bei den Verfassungsverhandlungen waren denen der NP nicht unähnlich; folgende Punkte wurden vorgeschlagen: ein dezentralisiertes System mit 8-12 Einzelstaaten, deren Grenzen sich an den Entwicklungsregionen orientieren oder von einer unabhängigen Kommission nach den Kriterien wirtschaftliche Überlebensfähigkeit, administrative Handlungsfähigkeit, Rücksichtnahme auf Interessen der jeweiligen Bevölkerungen und strikte Ablehnung von ethnischer Grenzziehung vorgeschlagen werden können; 23 allgemeine Wahlen nach einem Verhältniswahlrecht, wobei drei Alternativen diskutiert werden, die alle von einem Parlament mit 300 Abgeordneten ausgehen und dem Wähler zwei Stimmen zugestehen, die auf dem ganzen Land als einem Wahlkreis oder den vorgesehenen Einzelstaaten als Bezirken basieren sollen;24 eine duale Exekutive bestehend aus einem direkt gewählten Präsidenten und einem Premierminister, der vom Präsidenten ernannt werden soll, aber das Vertrauen des Parlamentes besitzen muß. Das Kabinett soll auf proportionaler Basis von Abgeordneten der Parteien mit mehr als 10 % der Sitze im Parlament zusammengesetzt werden; 25 ein umfassender Grundrechtekatalog, der Bestandteil der Verfassung sein soll.26

23 " ... a federal system of govemment ... promotes personalliberty ... provides accessible centres of decision making and ... enables appropriate entrenchment of rights to be effected." Democrarie Party, A social Market Economy, o.O., o.J., S. 23. "Federalism is a defence against tyranny. The Democratic Party believes that an overconcentration of power in central govemment Ieads to the retention of power for its own sake, and the use of power and patronage for the advantage of the party or group which is in power." Democratic Party, Policy Discussion Paper, Constitutional Proposals, 23. August 1991. 24

Für Einzelheiten vgl. Appendix A, Democratic Party, Policy Discussion Paper.

25 Vg!. ebd. 26 Vgl. ebd., Punkt 5. The Bill of Civil Rights and the Statement of Social, Economic, and Cultural Obligations of Govemment. Bemerkenswert am Statement of Social, Economic and Cultural Obligations ist die Festschreibung einer Staatszielbestimmung Umweltschutz, wie sie auch die Verfassung Namibias vorsieht, und eine Politik von "affirmative action" im öffentlichen Sektor.

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

Was den Schutz von Minderheitenrechten angeht, so hält die DP besondere Vorkehrungen für einzelne Gruppen, besonders die Weißen, nicht für notwendig. Lösungen wie in Zimbabwe, wo es für eine Übergangszeit eine bestimmte Anzahl reservierter Parlamentssitze für Weiße gab, lehnt die DP ab. "It is not white numbers that must be represented in government, it is rather the values and interests which whites have claimed for themselves, and which must be built into the new system of government and reflected in government policy."27 Die Chance der weißen Bevölkerungsgruppe liegt nach Auffassung der DP in ihrer Möglichkeit zur Beeinflussung der Wirtschaft des Landes, eine Chance die sich nicht böte, wenn sie politische Sonderrechte für sich in Anspruch nähme. Sehr viel mehr Nachdruck legt die DP allerdings auf den Schutz von Privateigentum und das System der sozialen Marktwirtschaft.28 Das Recht auf Privateigentum soll in der Verfassung verankert werden. Im übrigen ist die DP bisher die einzige Partei, die ein Konzept über einen Finanzausgleich zwischen Zentralregierung und Einzelstaaten vorgelegt hat. 29 Zwischen Democratic Party, bzw. ihren Vorläufern, und National Party besteht ein historisches Spannungsverhältnis, das sich jedoch seit dem Amtsantritt de Klerk's stark abgeschwächt hat. Dies liegt vor allem daran, daß die NP fast alle Reformpositionen der Democratic Party übernommen hat, darunter auch eine Reihe von Punkten aus dem KwaZulu Natal Indaba zur Beziehung zwischen Exekutive und Legislative.

111. Die Konservative Partei (KP) So sehr sich das ehemalige Spannungsverhältnis zwischen NP und DP gelockert hat, so sehr hat sich die Beziehung zwischen der regierenden Nationalpartei und den Gruppierungen am rechten Rand des Parteienspektrums vor allem

27

Dennis Worrall, DP Future, in: The Citizen vom 10. März 1990.

28 "The DP subscribes to a social Market economy which respects

principles of private ownership and initiative, and which offers rewards to risk takers and entrepreneurs, but which recognises that the State has an important role in the development and uplifting of, and the provision of certain services to a1l South Africans." Democratic Party, A Social Market Economy, o.O., o.J., S. 5. In dem vorgeschlagenen Grundrechtekatalog möchte die DP das Recht "to own, acquire, occupy and dispose of property, and the right to compensation in the event of expropriation" festgeschrieben sehen. Vg!. Democratic Party, Policy Discussion Paper. 29 Vgl. Democratic Party, A Social Market Economy, o.O., o.J., S. 23 ff. und die zugehörige Anlage Democratic Party, The Social Market Economy, Illustrative Budget, o.O., o.J.

B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen

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in den letzten Jahren der Reformen verschlechtert. Schon während der Amtszeit von Vorster und später Botha war es am rechten Flügel der NP zu abweichenden Meinungen bei Fragen der sogenannten großen und kleinen Apartheid gekommen. 30 Diese Spannungen innerhalb der Nationalen Partei führten nach der ersten Abspaltung der HNP 1969 zu einer größeren Absetzbewegung von den vorsichtigen Reformversuchen der NP durch den ehemaligen NP-Minister und NP-Parteivorsitzenden von Transvaal Andries Treurnicht31 , der im März 1982 mit einer Gruppe von 18 Parlamentsabgeordneten die Konservative Partei gründete. Anlaß für die Abspaltung von der NP waren die Pläne zum DreiKammer-Parlament, das 1983 durch eine Verfassungsänderung institutionalisiert worden war und für die Konservativen von Andries Treumicht die endgültige Abkehr der NP von einer Politik der Selbstbestimmung der Afrikaner symbolisierte. Grundlegende Idee der Konservativen Partei ist die Fortführung des Systems der getrennten Entwicklung. Aus der Überzeugung heraus, daß das Afrikanervolk ein Recht auf Selbstbestimmung in einem eigenen Land habe, erfolgt eine Argumentation für "fair and moral geographic partition without baasskap. "32 In Übereinstimmung mit der Ideologie des Afrikaner Nationalismus steht die KP für eine Position, daß "each nation must have the right to govem itself in its own homeland. If each nation govems itself, it then exercises total self-determination at the highest Ievel and any threat to its survival is then eliminated." 33 Mit dieser Position steht die KP in der Tradition von Afrikaneridealen, die ihr vor

30 Deutliche:; Zeichen dieser Auseinandersetzung wardie Wiedergründung der Herstigte Nasionale Party (HNP) im Jahre 1969. Anlaß für die Trennung von der NP war das Thema 'mixed sport', d.h. die Frage, ob es gemischtrassische Teams gegen sollte. Die permanenten Auseinandersetzungen zwischen der HNP und der Konservativen Partei in den 80er und 90er Jahren um eine Einigung am rechten Rand des Parteienspektrums haben das Problem bis heute konserviert.

31 Andries Treumicht konnte als ein Paradebeispiel für den Politikerder regierenden Nationalpartei der 60er und 70er Jahre gewertet werden: Geistlicher der Niederländisch Reformierten Kirche, Doktortitel in Theologie, Herausgeber der konservativen Zeitung Die Kerkbode, Chefideologe für Afrikaner Nationalismus und Rugby-Spieler. 32 Bekker, S./Grobbelaar, J., The Afrikaner right-wing, paper delivered at the biennial conference, Political Science Association of South Africa, Stellenbosch l.-3. Oktober 1987, S. 73. Das Wort 'baasskap' kommt aus dem Afrikaans und beschreibt die Beziehung zwischen dem Herrn (baas) und dem Untergebenen; in diesem Zusammenhang kann es am besten mit Bevormundung im Sinne von Vorherrschaft übersetzt werden. 33

Zitiert in Bekker/Grobbelaar, The Afrikaner right-wing, S. 73

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

allem in der verunsicherten, ärmeren weißen Bevölkerung großen Zulauf sicherte.34 In den Wahlen von 1987 und 1989 griff die Konservative Partei die NP vor allem wegen der Aufgabe der Prinzipien Verwoerds, d.h. der Abschaffung des Apartheid-Systems an35 und konnte damit erhebliche Wahlerfolge verbuchen; sie wurde 1987 auf Anhieb mit 22 Sitzen die stärkste Oppositionspartei und konnte 1989 mit insgesamt 39 Sitzen ihre Stellung noch deutlich verbessern. Die Position der Selbstbestimmung als Afrikanervolk kontrastiert auch heute scharf zur Position der Machtteilung der NP-Regierung, spricht aber offensichtlich ein umfangreiches Segment der weißen Wählerschaft an. 36 Diese ideologische Fixierung und die Orientierung an einem konservativen Wählersegment läßt eine Veränderung der traditionellen Afrikanersichtweise von getrennter Entwicklung durch die Parteiführung nicht zu. Folgerichtig war die KP an CODESA zunächst nicht beteiligt. Die Frage, ob sie sich in einer späteren Runde Verfassungsverhandlungen anschließen solle, wurde kontrovers diskutiert37, erste Anzeichen waren vorhanden. Eine eventuelle Verhandlungsposition ist vom damaligen Parteiführer Treumicht schon früh formuliert worden als "rather negotiate a small country for whites than a large country for blacks ...

34 Vgl. Razumovsky, Dorothea, Die Afrikaaner und der Rest der Welt, Südafrika hätte wie Brasilien werden können, Rückblick auf eine unglückselige Geschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. November 1990. 35 Die Konservative Partei betonte in den Publikationen zu den Wahlen erneut die Position, daß die Weißen in Südafrika ein Recht auf Selbstbestimmung besitzen, das durch Teilung des Landes verwirklicht werden kann. Vgl. Conservative Party, Information Service, The CP has the Solution, Pretoria o.J., S. 8f. "... the most basic right of every people, namely the right to rule over themselves, i s guaranteed as an inalienable right f or the White community and every other individual community;" The Conservative Party of South Africa. Election Manifesto, Election: 6 September 1989, The CP is the Solution, Pretoria. 36 So gelang es der KP im Februar 1990 als Reaktion auf die Freilassung Nelson Mandelas und der Aufhebung des Verbots des ANC einen Protestmarsch in Pretoria zu organisieren, an dem sich 50.000 Menschen beteiligten. Vgl. 50.000 Whites in PT A Protest, in: The Citizen vom 16. Februar 1990. Eine weitere Aktion im Mai 1990 unter dem Motto ' Vir vryheid volk en vaderland, Die Vryheidsmanifes van die Afrikanervolk' erbrachte I Mio. Unterschriften,

37 Die Diskussion um dieses Thema hat innerhalb der Partei zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, die im Augustl992 zu einer Abspaltung von fünf MP's von der Konservativen Partei geführt haben. Unter der Führung von Andries Beyers versuchen sie die Gründung einer Afrikaner Volksunie, die bereit ist, mit dem ANC direkt zu verhandeln, wobei das Ziel die Selbstbestimmung der Afrikaner in einem kleinen weißen Afrikanerstaat ist. Vgl. Pretoria would be capital of proposed volkstaat, in: The Citizen vom 27. August 1992.

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If the plan is for majority rule to preside, there will not be peace in this country."38 Nach dem Tode Treurnichts wurde diese Position aufgegriffen. Aus dieser Sichtweise heraus erübrigen sich Fragen nach der Organisation eines künftigen politischen Systems, Formen der Dezentralisierung und des Minderheitenschutzes für die Konservative Partei. Ob es für die Partei eine Kompromißlösung geben kann, die anders aussieht als die Teilung des Landes zwischen Schwarz und Weiß- z.B. welche Formen von Autonomie und Minderheitenschutz gewährleistet sein müssen -, bleibt abzuwarten. Allenfalls kann es nach Vorstellung der Konservativen Partei zu einer Konföderation oder einem Commonwealth autonomer Staaten kommen, die dann entscheiden, ob gewisse Staatsfunktionen auf einen konföderalen Rat übertragen werden sollen. Die Öffnung der Parteien für Angehörige aller Gruppen wie sie die NP, DP, IFP und einige andere Gruppierungen seit kurzem praktizieren, gilt nicht für die Konservative Partei. Eine solche Öffnung würde die Aufgabe der Positionen des Afrikaner Nationalismus bedeuten und damit zugleich auch das Ende der Konservativen Partei.

IV. Parteien und Bewegungen am rechten Rand des Parteienspektrums Gleiches gilt für die nicht mehr im Parlament vertretene Herstigte (Reformierte/Wiederhergestellte) Nasionale Party (HNP), die Boerestaat Party und für die rechtsradikale Afrikaner Weerstandsbeweging (AWB), die sich in einer gemeinsamen Front zusammengeschlossen haben. Eine Vielzahl kleinerer und kleinster rechter Parteien und Bewegungen, wie die Afrikanervryheidstigting oder die Boere Befreiings Beweging haben sich nach Einsetzen der Reformpolitik de Klerks wieder zu Wort gemeldet. Einen substantiellen Rückhalt in der Bevölkerung scheinen sie aber vor allem wegen der Zersplitterung am rechten Rand des Parteienspektrums und einer Realitätsfeme39 ihrer Positionen zur politischen Wirklichkeit des heutigen Südafrikas

38 Vgl. CP will accept small country -

if whites rule, in: Pretoria News vom 2. März 1990.

39 Deutlichstes Beispiel hierfür ist das Projekt von Prof. Carel Boshoff, ehemaliger Theologieprofessor der Universität Pretoria, Schwiegersohn des ehemaligen Premierministers Verwoerds und fruherer Vorsitzender des Broederbond, der für ein 'weißes Südafrika' ein Gebiet der nord-westlichen Kapprovinz an der Grenze zu Namibia ausersehen hat, das von den geographischen Bedingungen äußerst schwierig ist (Karroo-Wüste, Abhängigkeit von künstlicher Bewässerung durch Staudämme, etc.). Trotz dieser Schwierigkeiten hat er bereits ein Siedlungsprojekt begonnen und versucht durch

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

nicht zu finden. 40 Dies mag sich je nach Verlauf des Verhandlungsprozesses ändern, vor allem wenn in ihrer Perzeption de Klerk weiße Positionen "verraten" sollte. Trotz dieser Realitätsfeme werden Positionen der Teilung des Landes verstärkt diskutiert41 und haben im übrigen innerhalb der Konservativen Panei im August 1992 zu einer Zerreißprobe geführt, die mit dem Austritt von fünf Abgeordneten endete, die für ein weißes Homeland votieren. Die Diskussion um die Teilung des Landes ist allerdings bereits seit Mitte der 70er Jahre vor allem von ausländischen Beobachtern geführt worden. 42 Zu unterscheiden ist am rechten Rand des Paneiensystems zwischen den Paneien und Bewegungen, die auch Gewalt als politisches Mittel nicht ausschließen, so wie denen, die passiven Widerstand und unkonventionelle Formen des Protests als Mittel der Durchsetzung ihrer Politik einsetzen würden. Zur ersten Gruppierung gehört ganz eindeutig die Afrikaner Weerstandsbeweging mit ihrem Führer Eugene Terre'Blanche, zur zweiten die Konservative Panei, die Afrikaner Volkswag oder die Afrikanervryheidstigting. 43 Die Afrikaner W eerstandsbeweging zielt mit ihrem Programm nicht generell auf die weiße Bevölkerungsgruppe Südafrikas, sondern insbesondere auf die

weitere Landkäufe das 'blanke land' beständig zu vergrößern. Die ideologische Begründung findet sich bereits in Veröffentlichungen wie: SABRA (hrsg.), 'N Nuwe Grondwet Vir Die RSA: Die Afrikaner Se StandEn Toekoms, Pretoria 1985. 40 Anders ist die Situation in den Medien des Landes, vor allem in den afrikaanssprachigen Zeitungen. Vgl. 'n Wit Tuisland ... Waldner, Mariechen, Sal Andries-hulle rnoet bly droorn? und Mischke. Anne-Marie, Gee hulle hulland! is nuwe linkse kreet, in: Rapport vorn 18. März 1990. Vor allem der A WB findet große Beachtung: vgl. TerreBlanche teils white rniners to arm thernselves, in: The Star vom 23. März 1990 oder A sinister irony as the Right takes to the streets, in: Weekly Mail, 23. Februar bis 1. März 1990, S. 5. Mit spektakulären Aktionen, die zum Teil auf bewußte Provokation abzielen, erlangt der A WB selbst im Ausland gewisse Aufmerksamkeit. V gl. "Rechtsradikale bauen Armee in Südafrika auf', in: Die Welt vom 30. Dezember 1991.

41 Vgl. Woodgate, Shirley, Partition rnay be negotiable- Slabbert, in: The Star vorn 5. Aprill990 oder van Heerden, Dries, Partition and the Reasonable Right, in: Sunday Tirnes vorn 18. März 1990. 42 Vgl. Blenck, Jürgen/von der Ropp, Klaus Frhr., Republik Südafrika: Teilung oder Ausweg?, in: Aussenpolitik, Jg. 27, 3/1976, S. 308-324. Noch früher erschien der Artikel von Tiryakian, Edward A., Sociological Realisrn: Partition for South Africa, in: Social Forces, Dezember 1967, S. 208-221. Vgl. die alternativen Konzepte wie sie von Mahncke, Dieter, Konflikt in Südafrika, Die politische Problematik Südafrikas in ihren innen- und außenpolitischen Dimensionen, Paderbom 1989, bes. S. 131-158 diskutiert werden. 43 Ein Überblick über die ideologischen Rechtfertigungen der politischen Vorstellungen der rechten Bewegungen findet sich bei Marx, Christoph, Von der Apartheid zum weißen Separatismus: Afrikaaner Volksstaat, Burenstaat und Nationalismus, in: Zeitschrift für Politik, 39. Jg. Nr. 3/1992, s. 286-308.

B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen

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Gruppe der Buren und mit ihren Forderungen und Methoden auf die Sicherung der Lebensgrundlagen des 'Afrikaner-Boerevolk'. 44 Vom äußeren Erscheinungsbild dieser Bewegung her lassen sich deutliche Anklänge bei Farben, Symbolen und sprachlicher Ausdrucksweise an Artikulationsformen des Nationalsozialismus feststellen. 45 Das gilt auch für die Ausstattung der männlichen Mitglieder mit paramilitärischen Uniformen, Aufmärschen mit Spalierbildung, militärischem Gruß und Marschmusik. Ziel der AWB ist die Sezession von Südafrika und die Errichtung eines burischen Afrikanerstaates auf christlicher Grundlage46; hierbei wird immer wieder an die Zeit der Voortrekker und ihre Auseinandersetzungen und Kriege sowohl mit den schwarzen Völkern als auch mit den Engländern erinnert. Es wird eine Anknüpfung an die Entstehung der Burenrepubliken des letzten Jahrhunderts gewollt herbeigeführt und eine direkte Verbindungslinie zwischen dem Bund Gottes mit den Trekkern vom Blutfluß47 und der heutigen Zeit hergestellt. Über die genaue Mitgliederzahl der AWB liegen keine Angaben vor, die AWB selbst veröffentlicht keine Zahlen, in den Medien wird von mehreren Hundert bis einigen Tausend Aktiven gesprochen. 48 Zu Veranstaltungen der AWB erscheinen je nach Gegend und Anlaß 5-l 0.000 Menschen. Die häufig von AWBMitgliedern geäußerte Absicht, eine Machtübernahme oder auch nur Machtteilung könne von ihnen mit Gewalt verhindert werden, hat heftige Spekulationen darüber 44 "Die Afrikaner-Weerstandsbeweging se hoofdoel is om die voortbestaan van die AfrikanerBoerevol.k. vry in sy eie land en vooruitstrewend op geestelike en stof!ike gebied, te verseker." (Die Hauptaufgabe der Afrikaner Widerstandsbewegung ist es, das Überleben der Burennation sicherzustellen, frei in ihrem eigenen Land und vorwärtsstrebend auf geistlichem und materiellen Gebiet.) AWB, Program van beginsels, Pretoria o.J., S. 28.

45 Das Symbol der Afrikaner Weerstandsbeweging ist dem Hakenkreuz nachempfunden, auch wenn die Bewegung selber es von der biblischen dreifachen Sieben ableitet, die Farbgebung ist schwarz auf weißem Grund in rotem Kreis. Auch für die Farben nimmt die AWB die Bibel zum Leitfaden: rot für das Blut Jesus Christus, weiß für die Reinheit des Ideals und schwarz für die Tapferkeit. 46 "Die Afrikaner-Boerevolk het binne God se raadsplan ontstaan en is gerope tot 'n lewe van diens aan Horn uit dankbaarheid vir Sy genade." (Das Afrikaner-Boerevolk entstand durch Gottes Vorsehung und ist aufgerufen, in seinem Dienst zu leben aus Dankbarkeit für Seine Gnade.) AWB, Program vam beginsels, S. 29.

47 Dieser Bund vom Blutfluß wurde am 29. November 1986 von der AWB in einer Versammlung bei Paardekraal mit einem öffentlichen Gelöbnis bekräftigt. 48 Vgl. Macl.eod, Scott, The Threat from the Right, Leaders like TerreBlanche may bluster, but white extremist organisations are increasingly isolated, in: Time Magazine vom 30. März 1992, MacLead geht von 10.000 AWB-Mitgliedern aus.

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

ausgelöst, ob es in Polizei und/oder Armee einen größeren Rückhalt für diese neo-nazistische Bewegung in Fonn einer sogenannten 'Dritten Kraft' gebe. 49 Die terroristischen Aktivitäten anläßlich der Kampagnen zum Referendum vom März 1992, die Ansätze zur Bildung einer Privatarmee unter Terre'Blanche50 und die 'Selbsthilfemaßnahmen' weißer Farmer wie Ausbildung ihrer Frauen und Kinder an Waffen, bei der Feuerbekämpfung, der Bevorratung von Lebensmitteln, bei der Ersten Hilfe sowie die Entlassung schwarzer Arbeitskräfte und die Einstellung arbeitsloser Weißer, wenn sie sich verpflichten mitzukämpfen, sind Anzeichen für eine zunehmende Verschärfung der innenpolitischen Situation.5 1 Die Afrikaner Weerstandsbeweging wird auf absehbare Zeit eine zwar kleine aber militante Opposition zum sich abzeichnenden System für das Neue Südafrika darstellen. Eine Strategie der Isolierung dieser Bewegung kann effektiv nur durch die Konservative Partei erfolgen: 52 Ob sie gelingen kann, hängt davon ab, ob es möglich ist, die KP in den mit CODESA begonnenen Verhandlungsprozeß einzubeziehen und sie damit zum Teil des Neuen Südafrika zu machen. Dies allerdings bedingt eine weitgehende Kompromißbereitschaft der Teilnehmer der Verfassungsverhandlungen in Fragen der Autonomie und des Minderheitenschutzes. Ein friedliches Zusammenleben aller Menschen in Südafrika in einer politischen Ordnung, die einem demokratischen Wertesystem entspricht, ist mit den politischen Zielen der Afrikaner Weerstandsbeweging und der HNP als politischer

49 Aussagen der AWB im Zusammenhang mit dem sog. 'Civil Co-operation Bureau (Burgerlike Samewerkingsburo)'. einer geheimen Einheit der südafrikanischen Streitkräfte, der Aktionen von Todesschwadronen vorgeworfen wurden,lassen einen solchen Schluß zu. Vgl. Quellen in Race Relations Survey 1989/90, S. 689 und 244. Vgl. auch die Berichterstattung des Star, Johnson, Shaun, Beware night of the generals, in: The Star vom 25. August 1992 und 'Third force' is active- colonel, in: The Star vom 24. August 1992.

50 Die südafrikanische Polizei (SAP) hat inzwischen damit begonnen, die Trainingscamps der AWB zu beobachten. Zwischen Law and Order Minister Hemus Kriel und Terre'Blanche haben Gespräche stattgefunden, in denen der Minister klargemacht hat, der Staat könne und werde eine Übernahme seiner Funktionen von Militär und Polizei durch die AWB nicht dulden. Vgl. SAP to monitor AWB training, in: The Citizen vom 26. August 1992. 51 Schon unmittelbar nach der Freilassung von Nelson Mandela und der Wiederzulassung des ANC als politische Organisation. wurden von Terre 'Blanche militante Aussagen gemacht. "The day the govemment capitulates and law and order disappear, the Afrikanerweerstandsbeweging (A WB) will take South Africa back with violence.... If the African National Congress wants war, it will get war." AWB willtakeback SA - Terre'Blanche, in: Pretoria News vom I. März 1990.

52 Dies scheint aber fraglich zu sein, da eine gewisse Prinzipienübereinstimmung besteht und beidesich z.B. in einer Kampagne gegen das Referendum vom März 1992 zusammengefunden haben.

B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen

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Partei nicht zu verwirklichen. Fraglich bleibt aber auch, ob Vorschläge zur Teilung des Landes geeignet sind, ein friedliches Zusammenleben zu garantieren oder ob nicht wie bei vielen anderen Teilungen z.B. Indien, Zypern oder Irland längere gewaltsame Auseinandersetzungen einer solchen Teilung vorausgehen oder folgen würden. V. Der African National Congress (ANC)

Unter den Schwarzen gibt es eine Vielzahl politischer Organisationen53, zu den wichtigsten zählen: der African National Congress (ANC), die Inkat~a Bewegung bzw. die Inkatha Freedom Party (IFP) und der Pan Africanist Congress (PAC). ANC und PAC sind durch das jahrzehntelange Verbot54 , als Organisation in Südafrika aktiv zu werden, geprägt worden. Während der Zeit der Verbannung übernahmen innerhalb Südafrikas Ersatzorganisationen Funktionen dieser verbotenen Gruppierungen. Für den ANC waren das in erster Linie die United Democratic Front (UDF), der Gewerkschaftsdachverband COSATU und ein Teil der schwarzen Kirchen, für den PACkleinereOrganisationen einzelner Berufsverbände und das sogenannte Black Consciousness Movement. Darüber hinaus operierten die exilierten Organisationen durch ihre Basen in Zimbabwe, Tansania, Mocambique, Angola und Botswana, wo in militärähnlichen Camps die Ausbildung von Kämpfern für den militärischen Arm des ANC, den "Umkhonto we Sizwe" (Speer der Nation) stattfanden und Operationen zur Durchführung in Südafrika vorbereitet wurden.55 Ähnliche Camps gab es für 53 So betonen Hanf et al. schon 1978 "Unter der Hypothese freier politischer Organisationen wäre demnach kawn mit einer kompakten, hegemonialen politischen Organisation 'der Schwarzen' zu rechnen." Hanf/WeilandNierdag: Südafrika: Friedlicher Wandel?, S. 407. 54 Das Verbot wurde 1960 ausgesprochen, als es infolge von Demonstrationen gegen die Paßgesetze im März in Sharpeville zu massiven Ausschreitungen mit 69 Toten kam, auf die der ANC dann in den folgenden Wochen mit Massenprotesten reagierte.

55 Für die Regierung in Pretoria waren vor allem die Basen des ANC in Mocambique Anlaß zu beständiger Sorge, so daß es im Jahre 1984 zum sogenannten Nkomati Accord (benannt nach dem Fluß. an dem das Abkommen unterzeichnet wurde) kam, in dem sich Maputo und Pretoria gegenseitig verpflichteten, die Unterstützung für den ANC respektive die Renamo (eine gegen die regierende Frelimo gerichtete Widerstandsorganisation) einzustellen. Für Einzelheiten vgl. Sullivan, John, Southem Africa in Conflict: Problems Enough to Share, in: Keller, Edmond J./Picard, Louis A. (eds.), South Africa in Southem Africa, Domestic Change and International Conflict, Boulder/London 1989, S. 201 -219, hier S. 206 ff. 10 Schumacher

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

den PAC, diese wurden vor allem von Tansania und der Volksrepublik China unterstützt. Auch die politischen Zentralen dieser Organisationen errichteten während der Zeit der Verbannung ihre Hauptquartiere in Ländern außerhalb Südafrikas. Mit der Legalisierung von ANC und PAC am 2. Februar 199056 hat sich die Situation innerhalb Südafrikas grundlegend geändert. Es kann davon ausgegangen werden, daß - in einem langsamen Prozeß - vor allem der ANC aber auch der PAC die normalen Strukturen legaler Parteien entwickeln werden und die Ersatzorganisationen sich auflösen oder sich auf ihre eigentlichen Funktionen konzentrieren können. Der ANC ist formal für alle ethnischen Gruppen offen. Seit Anfang der 70er Jahre hat es im ANC auch weiße Mitglieder gegeben, allerdings gibt es für den Zeitraum bis 1990 wegen des Verbots des ANC keine genauen Zahlenangaben. Es wurden auch mehrere weiße ANC-Mitgliedem durch die südafrikanische Regierung inhaftiert und zum Teil zu über lOjährigen Haftstrafen verurteilt. 57 Generell gelang es Weißen und Asiaten ohne große Schwierigkeiten, in gehobene Positionen der ANC-Führung aufzurücken. 58 Die Entstehungsgeschichte des African National Congress59 geht zurück auf das Jahr 1912 und auf eine von Dr. Pixley ka Izaka Seme zusammengerufene Konferenz schwarzer Führer, die mit der Gründung des South African Native National Congress endete. Auslöser für diese Aktion waren die Gründung der Südafrikanischen Union und die daraus resultierenden Maßnahmen der weißen Regierung gegen die schwarze Bevölkerung. Die neue Verfassung sah z.B. vor, daß der schwarzen Bevölkerung in der Kap-Provinz das Wahlrecht mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit beider Häuser des Parlamentes entzogen werden konnte; es waren aber vor allem die Diskriminierungen am Arbeitsplatz, in den Schulen

56 Amendment of Schedule 4 of the Intemal Security Act. 1982, No. R 21, 1990, Govemment Gazette Vol. 296, No. 12287, Pretoria 3. Februar 1990. Das Verbot wurde auch für die Kommunistische Partei Südafrikas aufgehoben, vgl. ebd. 57

Bekannt geworden ist vor allem der Fall von Barbara Hogan, die über 10 Jahre in Haft war.

58 Das bekannteste Beispiel ist Joe Slovo, Mitglied des Nationalen Exekutivkomitees des ANC und bis Ende 1991 gleichzeitig Vorsitzender der Kommunistischen Partei Südafrikas. Andere bekannte nicht-schwarze ANC-Mitglieder und Mitglieder des Exekutivkomitees sind Prof. Albie Sachs und Mohamed Valli Moosa. 59 Vgl. Holland, Heidi, ANC, Nelson Mandela und die Geschichte des African National Congress, Braunschweig 1990.

B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen

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und der öffentlichen Verwaltung, die die Konferenz mit der Gründung des Native National Congress und den Methoden des seit 1893 in Südafrika lebenden indischen Politikers und Anwalts Mahatma Gandhi bekämpfen wollte. Erster Präsident wurde Dr. John Dube.60 Diese Anfangsjahre des ANC61 waren gekennzeichnet durch den Versuch der Einigung der schwarzen Stämme und Königreiche als organisatorische Einheit62, um am politischen Willensbildungsprozeß partizipieren und die Rechte der schwarzen Bevölkerung garantieren zu können. Die zunächst gesteckten Ziele der Organisation waren neben dem Versuch, eine Einheit aller schwarzen Gruppen herzustellen, der Kampf für Gleichberechtigung und politische Repräsentation, sowie aktuelle Maßnahmen gegen Gesetze wie z.B. den NativeLand Act von 1913 oder die folgenden Paßgesetze. Diese Maßnahmen umfaßten das Schreiben von Petitionen, Versammlungen, Abordnungen, die nach England reisten, um dort um Unterstützung zu werben, etc. Eine erste noch behutsame Umorientierung dieses gewaltlosen Widerstandes63 erfolgte erst Jahre später mit der Gründung der ANCYL (African National Congress Youth League64) 1944 und der Formulierung des ANC-Aktionsprograrnms von 1946 als Folge eines Bergarbeiterstreiks, an dem sich nahezu 100 000 schwarze Arbeiter beteiligten. Dieses Programm bildete die Grundlage

60 Sowohl Dr. Pixley ka Izaka Seme, der in Columbia und Oxford zum Anwalt ausgebildet worden war, als auch Dr. John Dube, Leiter einer Schule in Natal und Ehrendoktor der University of South Africa gehörten dem Stamm der Zulus an.

61 Offiziell umbenannt von South African Native National Congress in African National Congress wurde die Organisation erst im Jahre 1925. 62 "Der Dämon des Rassendenkens, die Verirrungen der Zwistigkeit zwischen Xhosas und Fingo, die zwischen Zulu und Tongabestehende Feindseligkeit, die zwischen den Basuto und allen anderen Eingeborenen müssen begraben und vergessen werden; sie haben genug Blut zwischen uns vergossen. Wir sind ein Volk." Aus der Eröffnungsrede von Dr. Seme auf dem Griindungskongreß in Bioernfontein 1912, zitiert nach: Seedat, Tony, Die Politik der Befreiungsbewegung Südafrikas, Der African National Congress im Kampf gegen die Apartheid, in: Bayrische Landeszentrale (hrsg.), Südafrika Krise und Entscheidung -, Band II, München 1987, S. 169-194, hier S.l71. 63 Der ANC selbst legt Wert auf die Feststellung, daß dies keine Zeit des passiven Widerstands war, sondern: "Der ANC der 50er Jahre war nie pazifistisch oder eine Bürgerrechtsbewegung. Dies zu behaupten, wäre eine Verdrehung der Geschichte. Unsere Politik war vielmehr eine der Gewaltlosigkeit." Vgl. ANC-Vertretung in der BRD (hrsg.), Die Geschichte des African National Congress (ANC) 1912-1987, Amandla-Sonderheft Bonn 1987, S. 17 ff. 64 Zu den Gründungsmitgliedern der Youth League gehörten Nelson Mandela, Walter Sisulu, Oliver Thambo und Anton Lembede.

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

für die ANC-Politik während der 50er Jahre mit Massenaktionen des passiven Widerstandes und gewollter Verstöße gegen Apartheid-Gesetze, der sogenannten Defiance-Campaigns. Diese Aktionen richteten sich hauptsächlich gegen die Paßgesetze und den Population Registration Act (No. 30 of 1950). in dem jeder Bürger Südafrikas als einer der vier Gruppen zugehörig klassifiziert wurde, später gegen den Bantu Education Act. In Massenaktionen wurde gegen diese Gesetze verstoßen, z.B. durch das Verbrennen von Pässen, was dazu führte, daß im Jahr 1952 ca. 8.000 ANC-Mitglieder und Anhänger befreundeter Organisationen verhaftet und verurteilt wurden. Ähnliches wiederholte sich wenige Jahre später 1956 als die Paßgesetze auf Frauen ausgeweitet wurden. Gerade diese Aktionen brachten dem ANC in den 50er Jahren ein großes landesweites Ansehen, das vor allem auch durch zwei weitere Komponenten verstärkt wurde: zum einen die Fonnulierung für ein Programm für ein zukünftiges Südafrika, zum anderen die Einbeziehung all derjenigen, die bereit waren gegen die Apartheid zu kämpfen, gleich welcher Hautfarbe. Die zweite Komponente wurde durch ein Bündnis zwischen dem ANC und dem South African Indian Congress (SAIC), der Coloured People ·s Organisation (SACPO) und dem Congress of Democrals (SACOD) 65 erreicht. Die Absprachen zwischen diesen Gruppen führten schließlich 1955 zur sogenannten Kongreß-Allianz, an der auch der südafrikanische Gewerkschaftsverband (South African Congress ofTrade Unions, SACTU) als Gegenbewegung zur offiziellen Gewerkschaftsvereinigung. teilnahm. Auf einer Tagung (Congress of the People) von 3.000 Delegierten wurde am 25./26. Juni 1955 in K1iptown bei Johannesburg die "Freedom Charter"66 als ein Programm für ein zukünftiges Südafrika verabschiedet, die noch heute bei mehreren Organisationen des Landes, vor allem dem ANC, der diese Charter im

65 Im Jahre 1950 war das Gesetz über die Bekämpfung des Kommunismus (Suppression of Communism Act) verabschiedet und die damalige kommunistische Partei (Communist Party of South Africa, CPSA) verboten worden. Viele dieser ehemaligen Mitglieder fanden sich im South African Congress of Democrals (SACOD) zusammen und schlossen sich der Kongreß-Allianz in Kliptown als eine Gruppe von Weißen an. 1953 hatte sich im Untergrund die neue Partei der Kommunisten als South African Communist Party (SACP) konstituiert, als solche gab sie 1960 ihre Weiterarbeit bekannt und gehörte zu den wenig später mit Verbot belegten Parteien.

66 Text und Interpretation der Freedom Charter in: Hund, John (ed.), Law and Justice in South Africa, Johannesburg 1988 als Appendix: Saunders, A.J.G.M., The South African Freedom Charter, S. 222-230, Text der Charter ebd., S. 217-221.

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März 1956 zu seiner offiziellen Politik erklärte, einen hohen Stellenwert hat. 67 Diese Wertschätzung des Dokumentes wurde durch die offizielle Regierungspolitik von Verbot und Verfolgung nur verstärkt. 68 Inhaltlich erinnert die Freedom Charter an Forderungen aus einem Grundrechtekatalog, nicht jedoch an konkrete verfassungspolitische Ausgestaltungen. Außer einer Forderung nach einem "democratic state, based on the will of the people" findet sich keine verfassungstechnologische Anweisung in diesem Dokument. Geprägt ist es jedoch von den Forderungen seiner Zeit, der Gleichheit aller Menschen ohne Rassendiskriminierung, der Forderung nach Umverteilung des Wohlstandes, vor allem des Landbesitzes einschließlich der Minen, dem Recht zur Bildung von Gewerkschaften zur Vertretung der Arbeiterschaft, der Forderung nach kostenloser Bildung und Ausbildung, sowie dem Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsortes und menschenwürdige Wohnung. 69 Kennzeichnend ist auch der Beginn des Dokumentes, der in der Preamble formuliert: "We, the people of South Africa, declare for all our country and the world to know: That South Africa belongs to all who live in it, black and white, ... "70 Manche dieser Forderungen des Jahres 1955 finden sich in den Constitutional Guidelines und der Bill of Rights for a New South Africa des ANC von 1990/91 wieder. In die Periode nach dem Kongreß in Kliptown fallen die ersten internen Auseinandersetzungen zwischen den Flügeln der Befreiungsbewegung. Der Vorwurf einer Gruppe, die sich bald darauf vom ANC abspaltete, lautete, daß

67 Es gibt aber auch Stimmen, die die Charter als ein Dokument sehen, das der Kongreß-Allianz quasi von den stark kommunistisch geprägten weißen Mitgliedern der SACOD aufoktroyiert wurde; als Grund - vor allem von schwarzen Autoren - wird angegeben, daß auch die internen Gremien der anderen an der Kongreß-Allianz beteiligten Gruppen, das Dokument auf der Tagung in Kliptown zum erstenmal sahen. Vgl. Motlhabi, Mokgethi, The Theory and Practice of Black Resistance to Apartheid. Johannesburg 1984, S. 45 ff.

68 Noch während der Dauerdes Kliptown Kongresses griffen die Sichemeitskräfte mit Polizeieinheiten ein. In der Folgezeit wurde das Dokument verboten, wurde aber durch die UDF und COSATU ab Anfang der 80er Jahre massiv verbreitet und erlangte im Kampf gegen die Apartheid einen hohen symbolischen Wert. 69 Diese Forderungen der Freedom Charter wurden auf einer Konferenz im Jahre 1988 von einer Reihe bekannter ANC-Sympathisanten grundsätzlich wieder aufgegriffen, darunter auch Cyril Ramaphosa seit 1991 Generalsekretär des ANC, zum Zeitpunkt der Konferenz Generalsekretär der National Union of Mineworkers (NUM). Vgl. Ramaphosa, Cyril, the Freedom Charter and the economy: fundamental worker' s rights, in: Polley, James A., the Freedom Charterand the Future, Johannesburg 1988, S. 43-46. 70

Vgl. Freedom Charter, in: Hund, Law and Jusice in South Africa, S. 217.

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

der ANC unter der Führung von Chief Albert Luthuli71 den Weg des 'Africanism' oder 'African Nationalism' verlassen habe und die Freedom Charter in ihrem Ansatz reformistisch sei; der Einfluß der weißen Kommunisten im ANC sei so gestiegen, daß eine Dominanz zu befürchten sei. Die Trennung erfolgte 1958, und im Jahre 1959 wurde von Robert Sobukwe und Potlako K. Leballo der Pan Africanist Congress (PAC) gegründet. Seit dieser Zeit gibt es für diese beiden Bewegungen auch die Bezeichnungen 'Charterists' (Anhänger der Freedom Charter) und 'Africanists' (Anhänger des African Nationalism). In der folgenden Zeit verschärften sich die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und ANC im großen Umfang. 72 Auf unterschiedliche - nun nicht mehr gewaltfreie - Aktionen des ANC reagierte die Regierung durch die Verhängung des Ausnahmezustandes und mit großen Verhaftungswellen. Gemeinsam mit der South African CommunistParty (SACP) gründete der ANC im Jahr 1961 Umkhonto we Sizwe (Speer der Nation) als eine Befreiungsarmee für den bewaffneten Kampf gegen die weiße Herrschaft und als Reaktion auf das Vorgehen der Regierung. Erster Oberkommandierender von Umkhonto we Sizwe wurde Nelson Mandela. Zum Zeitpunkt der Gründung ging eine große Anzahl von Kadern zur militärischen Ausbildung ins Ausland. Zu einer ersten großen Welle von Sabotageakten und Bombenattentaten durch Umkhonto we Sizwe kam es im Dezember 1961, sie richteten sich fast ausschließlich gegen Regierungseinrichtungen. Das weiße politische System reagierte mit Verhaftungen, Gerichtsverhandlungen und Gefängnisstrafen vor allem im sogenannten Rivonia-Prozeß, bei dem die Führung von Umkhonto we Sizwe, nämlich Nelson Mandela, Walter Sisulu und Govan Mbeki, lebenslange Gefängnisstrafen erhielten. Fortan ließen die Aktionen des ANC und seines militärischen Flügels das Land nicht mehr zur Ruhe kommen,1 3 wenn auch die 60er Jahre für den ANC in gewisser Weise

71 Chief Albert Luthuli wurde im Jahre 1961 der Friedensnobelpreis verliehen. 72 Hier ist besonders das Massaker von Sharpeville am 21. März 1960 zu nennen, das zugleich die Aktionen des ANC als legale Organisation beendete.

73 In einer Veröffentlichung zum 75jährigen Bestehen des ANC heißt es hierzu: "Unser Kampf umfaßt eine Vielzahl von Methoden und Taktiken, wobei sich die verschiedenen Kampfformen gegenseitig ergänzen und bestärken. Wir sind Freiheitskämpfer, die danach streben, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Wir führen einen politischen Kampf mit der Waffe in der Hand. Wir haben den Feind stets als ein Unterdrückungssystem definiert, nie als Volk oder Rasse. Unsere Kampfanstrengungen richten sich gegen den Staatsapparat, nicht gegen zivile Ziele.... Revolutionärer bewaffneter Kampf ist ein politischer Kampf unter Einsatz auch von militärischer Gewalt, und der Sieg, um den wir ringen, hat zum Ziel die Ergreifung der Macht durch das Volk unter Führung seiner politischen Avantgarde, den ANC." ANC-Vertretung in der BRD, Geschichte, S. 26.

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einen Rückschlag bedeuteten, da ein Teil der Führer sich im Gefängnis und ein anderer Teil im Ausland74 befand. Im Jahr 1969 fand dann eine Konferenz im tansanischen Morogoro75 statt, auf der der ANC neben einer Verkleinerung seines Nationalen Exekutivkomitees zwei wichtige Entscheidungen traf: die Öffnung für alle Non-Africans, d.h. alle Inder, Mischlinge und Weißen, sowie die Verschärfung des Kampfes gegen die weiße Herrschaft mit den Mitteln von Umkhonto we Sizwe im Lande selbst. Kurz nach dieser Konferenz begann der ANC mit dem Wiederaufbau von Organisationsstrukturen im Lande, wobei ihm die vielen verschiedenen Studentenvereinigungen wie South African Students Organisation (SASO), African Students Association (ASA) oder Black People's Convention (BPC) zur Hilfe kamen. Beeinflußt von der Philosophie des Black Consciousness verbreiteten sich Bürgerkomitees und Studenten- und Schülergruppen in kürz~ster Zeit über das ganze Land; diese Entwicklung gipfelte 1976 im Schüleraufstand von Soweto. Bereits in dieser Phase wird ein Zwiespalt in der Strategie des ANC deutlich: Auf der einen Seite gibt es die Gruppe, die sich dem bewaffneten Kampf verschrieben hat und diesen für die ultima ratio hält, auf der anderen Seite gibt es eine Gruppierung, die für eine Lösung des Konfliktes zwischen Schwarz und Weiß auf dem Verhandlungswege plädiert. Mit den Plänen zur Einführung des Drei-Kammer-Parlamentes erlangte der Widerstand gegen die weiße Regierung 1983 mit der Gründung der United Democratic Front (UDF) seinen Höhepunkt. Die UDF versteht sich als Volksfront und Bündnis von sehr heterogenen Gruppierungen, wieJugendgruppen, Kirchen, Bürgerkomitees, Sportvereinen, Frauenorganisationen und Hilfskomitees, Gewerkschaften und politischen Zusammenschlüssen.· Wesentlich mitbeteiligt am Zustandekommen der UDF war der Präsident der World Alliance of Reformed

74 In diese Zeit fallen auch Versuche der Zusammenarbeit mit den Befreiungsbewegungen in Rhodesien, die gegen das Regime von !an Smith kämpften; diese Zusammenarbeit war aber in erster Linie eine 'Beschäftigungstherapie' für die Umkhonto we Sizwe Kader, die in ihren Camps in Tansania mit sinkender Moral zu kämpfen hatten. 75 Für eine Beurteilung der ideologischen Veränderungen unter dem Einfluß der Kommunistischen Partei Südafrikas aus der Sicht eines weißen Südafrikaners vgl. Kotze, Dirk, Morogoro: Out of the Whirlwind, in: Politikon, Vol. 16, Nr. 1 (Juni) 1989, S. 58-68.

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Churches Allan Boesak gemeinsam mit dem South African Indian Congress (SAIC), der in den 50er Jahren Teil der Kongreß-Allianz war. Die UDF entwikkelte sich zur größten Bewegung in Südafrika mit mehreren hundert Mitgliedsorganisationen unter ihrem Dach.76 Aus der Struktur der SammlungsbewegungDoppelmitgliedschaft bei UDF und anderen Organisationen war nicht nur möglich, sondern die Regel - ergab sich auch die Orientierung: gegen die weiße Regierung und ihre Politik der Diskriminierung und getrennten Entwicklung, aber ohne ein eigenes positiv formuliertes oder ideologisch detenniniertes Ziel. Das bedeutete auch, das von Seiten der UDF und ihrer ebenfalls sehr heterogenen Führungsgremien keine konkreten politischen Vorgaben an ihre Mitgliedsorganisationen erfolgen konnten, sondern allenfalls ein loser politischer Rahmen gesteckt werden konnte, in dem sich alle Teile des amorphen Ganzen wiederfinden konnten.1 7 Dieser Rahmen fand sich in den Aussagen der Freedom Charter von 1955, die allerdings erst am dritten Jahrestag der UDF 1986 zum offiziellen Grundsatzdokument erklärt wurde. 78 Die UDF machte Nelson Mandela und andere inhaftierte ANC-Mitglieder zu Ehrenmitgliedern der Organisation. Auch in den Führungsgremien der UDF waren ANC-Mitglieder stark vertreten.1 9 Diese personelle Verflechtung auf allen Organisationsstufen bzw. in den meisten Mitgliedsorganisationen hat der UDF vielfach den Vorwurf eingetragen, lediglich eine Tarnorganisation des ANC zu

76 Südafrikanische Quellen sprechen von ca 600 Organisationen, die Mitglieder der UDF sind. Vgl. Hugo. Pierre/O'Malley. Kierin, Political parties and pressure groups: A selective overview, in: Venter, Albert, South African Goverrunent and Politics, An Introduction to its Institutions, Processes and Policies, Johannesburg 1989, S. 122-169, hier S. 157. Der Präsident der UDF Archibald Gumede, Sohn des ehemaligen ANC-Präsidenten, spricht in einem Interview mit Thomas Krochern ebenfalls von 600 Mitgliedern. die sich in der UDF zusammengefunden haben. Vgl. Kruchem, Thomas, Brocken über die Apartheid, Gespräche im Südafrika des Ausnahmezustandes, München!Zürich 1986, S. 58. Präziser sind Adam/Moodley, die von 316 Jugendverbänden, 47 Studentenvereinigungen, 32 Frauenvereinen, 87 sozialen, 25 religiösen und 29 verschiedenen politischen Organisationen sprechen. Vgl. Adam, Heribert/Moodley, Kogila, Südafrika ohne Apartheid?, Frankfurt 1987, S. llO.

77 Adam/Moodley sprechen in diesem Zusammenhang bildhaft von der UDF als einer Front mit vielen Generälen aber einer undisziplinierten Armee. Vgl. ebd., S. !II. 78 Daß dieses Dokument erst so spät zum Grundsatzdokument der UDF erklärt wurde, mag auch daran gelegen haben, daß in der Anfangsphase der UDF Gruppierungen des Black Consciousness, also 'Africanists' oder· African Nationalists', zur Mitarbeit gewonnen werden sollten. Vgl. in diesem Abschnitt 7. Der Pan Africanist Congress of Azania (PAC).

79 So z.B. der Generalsekretär der UDF Popo Molefe, der Pressesprecher Patrick "Terror" Lekota, die stellvertretende Präsidentin der UDF Albertina Sisulu, die 1991 alle in das Nationale Exekutivkomitee des ANC wiedergewählt wurden.

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sein. Eine solche Beurteilung wird der Stellung der UDF aber nicht gerecht, da eine zentrale Lenkung oder gar 'Fernsteuerung' der UDF durch den exilierten ANC zu keiner Zeit möglich war. Die Mitgliedsorganisationen der UDF-Koalition werden von einer Politik der Verweigerung, des totalen Boykotts zusammengehalten. Ihre größten Erfolge konnte die UDF in Kampagnen gegen die Wahlen zum Drei-Kammer-Parlament bei Indern und Mischlingen, sowie beim Boykott der Wahlen zu den schwarzen Kommunal- und Stadtverwaltungen verzeichnen. Die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum House of Representatives und House of Delegates blieb weit hinter den Erwartungen der Regierung zurück und erreichte noch nicht einmal 20% der Wahlberechtigten. Eine Aktion gegen den Versuch der Regierung, das Homeland KwaNdebele in die Unabhängigkeit zu entlassen, hatte ebenfalls Erfolg. Massenhafte Verweigerungskampagnen, Schul- und Busboykotte bilden die Instrumente der Obstruktionspolitik, die zwar die eigenen Mitglieder einen hohen Preis zahlen lassen, aber davon ausgehen, daß nur so die 'Befreiung' erfolgen kann. Trotz zunehmender Repression von Seiten der Regierung begann die UDF, bzw. ihre Mitgliedsorganisationen, gemeinsam mit dem ANC Mitte der 80er Jahre mit dem Aufbau von Straßen- und Townshipkomitees als Gegenpol zu den Versuchen der Regierung, ein System schwarzer Selbstverwaltung aufzubauen. Der ANC erklärte das Jahr 1987 zum "Year of Advance to People's Power" und erlangte durch die Struktur der Straßenkomitees einen Organisationsgrad und eine Mobilisierungsmöglichkeit der Bevölkerung, die vorher nicht dagewesen war und sich in die seit Ende 1983 laufende Strategie, das Land unregierbar zu machen, nahtlos einpaßte. 80 In wenigen Jahren wurde der ANC in seiner Allianz mit der UDF zum beherrschenden politischen Faktor des Landes, wenn es um Aktionen gegen die weiße Minderheitsregierung ging. 81

80 Diese Politik führte auch zu Kritik aus den eigenen Reihen, die Adam/Moodley wie folgt beschreiben: "Die Strategie befreite 'No-go' Bezirke in den Townships zu schaffen, die von 'Volkskomitees in jedem Block' kontrolliert und mit Patrouillen von kleinen mobilen Einheiten 'kämpfender Jugendlicher' versehen sind, mag die Unzufriedenheit in den Dienst des ANC stellen, setzt aber die Aktivisten der gesamten Macht des besser gerüsteten Staates aus. Adam/Moodley, Südafrika ohne Apartheid?, S. 113. 81 Allerdings war die Regierung nicht tatenlos und setzte in immer größerem Umfang Machtmittel des Staates wie Verhängung des Ausnahmezustandes, Zensur der öffentlichen Meinung, Verhaftungen ohne richterliche Anhörung, etc. ein. Außenpolitisch gelang mit dem Nkomati-Abkommen, den einsetzenden Verbandlungen mit Angola und den Großmächten um dienamibische Unabhängigkeit ein gewisser Durchbruch in den Beziehungen zu den Nachbarn und vor allem eine gewisse Entlastung, durch die Beseitigung der ANC-Basen und Nachschubwege in und durch Mocambique.

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3. Kapitel: Die Umsetzwtg der Konfliktstruktur im Parteiensystem

Unterstützt wurde der ANC dabei neben der UDF auch vom größten Gewerkschaftsdachverband COSATU (Congress of South Mrican Trade Unions), der im Dezember 1985 in Durban gegründet worden war. COSATU vertritt 15 Einzelgewerkschaften und über eine Million Gewerkschaftsmitglieder. Viele der Forderungen von COSATU waren mit den Forderungen des ANC oder der UDF identisch oder doch zumindest leicht zu vereinbaren. Dazu gehören z.B. die Forderungen nach leistungsgerechter Bezahlung, adäquater Wohnung, 40-StundenWoche, verbrieftes Recht auf Streik, Sharpeville Day und May Day als bezahlte Feiertage, Mutterschaftsurlaub und vor allem die Abschaffung von Wanderarbeit. Ähnlich übereinstimmend sind die Ansichten der beiden Organisationen beim Thema Marktwirtschaft vs. zentralgelenkte Wirtschaft. 82 Allerdings hat COSATU immer strikt darauf geachtet, kein formales Bündnis mit der UDF oder dem ANC einzugehen und Streikaufrufen von außerhalb nur dann zu folgen, wenn sie in die eigenen Planungen paßten. Der ANC andererseits wird nur in enger Abstimmung mit COSATU bei den Verfassungsverhandlungen Wirtschaftsthemen anschneiden und sich daher auch nicht über die COSATU-Ansichten zur 'Verteilungsgerechtigkeit' hinwegsetzen können. Den Verlust der Unterstützung von COSATU kann der ANC sich auf keinen Fall leisten. Trotz der Betonung des bewaffneten Kampfes (armed struggle) durch die Einheiten von Umkhonto we Sizwe in den 80er Jahren gab es Anzeichen dafür, daß Teile des ANC eine Lösung auf dem Verhandlungswege für möglich hielten. Seit Mitte der 80er Jahre riß der Strom ausländischer und südafrikanischer Besucher im Hauptquartier des ANC in Lusaka und auch an anderen Orten, um eine solche Verhandlungslösung zu diskutieren, nicht ab. Hinzu kam die sich verändernde weltpolitische Lage und die Einschätzung, daß regionale Konflikte nur durch Verhandlungen auf diplomatischem Wege zu lösen seien. Diese Beurteilung wurde durch führende Mitglieder der OAU, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten geteilt. Vor allem die Akzeptanz von SWAPO als Verhandlungspartner für die Lösung des Konfliktes um Südwestafrika/Namibia durch die weiße südafrikanische Regierung stützte diese Position. 83

82 COSATU plädiert für eine Umstrukturierung der Wirtschaft durch Umverteilung, Verstaatlichung und zentrale Lenkungsmechanismen zur Herstellung gleicher Lebensbedingungen und damit der Abschaffung der Apartheid. Vgl. COSATU, Political Economy. South Africa in Crisis, Johannesburg 1987. 83 Vgl. Mahncke, Dieter, Südafrikas Außenpolitik: Gibt es einen Weg aus der Isolation?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 50/90,7. Dezember 1990, S. 29-37, hier S. 34.

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Dokumente des ANC wie die Constitutional Guidelines von 1987 und die Harare Declaration von 198984 verdeutlichen die Diskussion innerhalb des ANC um Strategie und Taktik der Befreiungsbewegung. Die Realität des Landes mit Halskrausenmorden, Massendemonstrationen, zerstörten Schulen und bewaffneten Angriffen auch auf Zivilisten85 zeigte die andere Seite der Entwicklung und die Problematik der Führung des ANC, seine sich verselbständigenden Flügel zu kontrollieren.86 Die vier Elemente der ANC-Strategie bewaffneter Kampf, Massenmobilisierung, Untergrundstrukturen als Gegenstrukturen zum weißen politischen System und die internationale Ächtung und Isolierung Pretorias über eine koordinierte Sanktionspolitik führen im Februar 1990 zur Aufhebung des Verbots des ANC, der Freilassung Nelson Mandelas und Ende 1991 zur ersten Sitzung von CODESA. 87 Bis zum Beginn der Verfassungsverhandlungen hatte es mehrere Dokumente und Beschlüsse des ANC gegeben88, in denen Vorbedingungen und Forderungen gestellt wurden, ehe es zu eigentlichen Gesprächen über eine neue Verfassung

84 Vgl. Constitutional guidelines for a democratic South Africa, in: Esterltuyse, Willie/Nel, Philip, The ANC and its Leaders, Tafelberg 1990, Addendum C, S. 162-166. Declaration of the OAU Ad-hoc Committee on Southem Africa on the Question of South Africa, Harare Zimbabwe, 21. August 1989.

85 Gemäß dem Slogan "Liberation now - Education later" hat sich eine zahlenmäßig nicht genau faßbare Gruppe von militanten 'Comrades' gebildet, die sich in bewußte Konfrontationen mit dem weißen Sicherlteitsappara1 begeben und die gegenüber sogenannten Kollaborateuren - also all denjenigen, die mit oder in den weißen Strukturen arbeiten - mit den Mitteln von Lynchjustiz und dem sog. Necklacing (ein mit Benzin gefüllter Gummireifen wird dem Opfer um den Hals gelegt und angezündet) vorgehen. Vgl. von der Ropp, Klaus Frltr., Südafrika: Die abermals vertagte Revolution, in: Aussenpolitik, Jg. 38, 4/1987, S.395-406, hier bes. Abschnitt über "Aspekte des Aufbegehrens der schwarzen Südafrikaner". 86 Vgl. Esterhuyse, The history of the ANC, in: ders. und Ne!, The ANC and its Leaders, S. 9-24, hier S. 21 ff. 87 Diese Entwicklung scheint jedoch nicht von der veränderten Situation des ANC losgelöst zu sein, dessen Verhandlungsbereitschaft durch den Wegfall der massiven finanziellen Unterstützung aus der ehemaligen Sowjetunion (Beobachter sprechen von$ 175 Mio. jährlich) deutlich vergrößert wurde.

88 Hierzu gehören vor allem die Harare Declaration von August 1989, die Vorbereitungspapiere der Conference for a Democratic Future, die im Dezember 1989 mit mehreren tausend Delegierten in Johannesburg stattfand, sowie deren Verltandlungsbericht mit den zugehörigen Resolutionen und das Statement of the National Executive Committee on the Occasion of the 78th Anniversary of the African National Congress - January 8th, 1990.

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kommen sollte. Wichtige Punkte in allen Diskussionen über eine Verhandlungsstrategie mit der weißen Regierung waren Freilassung aller politischen Gefangenen, Aufhebung des Verbots von Parteien und Organisationen, Rückzug aller Truppen und der Polizei aus den Townships, Aufhebung des Ausnahmezustandes Gewährleistung der Versammlungs- und Pressefreiheit und Beendigung aller politischen Verfahren und Urteile. Nach Einlösung dieser Positionen sei dann ein Klima durch die weiße Regierung geschaffen, das es erlaube, in Verfassungsverhandlungen einzutreten. Für diese Verhandlungen wurden auf der Grundlage der Freedom Charter einige Leitlinien für Südafrika formuliert: ein vereinter (united), demokratischer und nicht-rassischer Staat; einheitliche, gemeinsame Staatsbürgerschaft für alle ohne Ansehen von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht oder Glaubenszugehörigkeit; allgemeines, gleiches Wahlrecht nach dem Prinzip 'ein Mensch -eine Stimme'; Recht zur Gründung von Parteien, so weit sie nicht rassistisch sind; Verankerung von Menschen- und Freiheitsrechten in einer 'Bill of Rights'; ein neues Rechtssystem mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz; eine unabhängige Gerichtsbarkeit und ein neues Wirtschaftssystem zur Förderung aller Südafrikaner. Bemerkenswert in allen Dokumenten ist der Versuch der Rechtfertigung von Verhandlungen mit der weißen Regierung und das Bemühen um die Vereinbarkeil unterschiedlicher Positionen innerhalb des ANC sowie bei seinen Verbündeten. Papiere des ANC, in denen von Verhandlungen als einer 'subtilen Form der Korruption' der Freiheitsbewegung oder der Notwendigkeit, 'jede Form der Kooptation durch die Weiße Regierung zu vermeiden' die Rede ist, sind deutliche Anzeichen dieser internen Befürchtungen. 89 Daher werden Verhandlungen als

89 Vgl. Mass Democratic Movement (ed.), Discussion Papers for the Conference for a Democratic Future, o.O., o.J., S. 6 ff.

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Teil der alles umfassenden Strategie des Freiheitskampfes dargestellt, in die nach Erfüllung der Vorbedingungen eingetreten werden kann, die aber jederzeit wieder unterbrochen werden und durch den bewaffneten Kampf ersetzt oder ergänzt werden können. 90 Diese Position wurde auch 1991 auf der Nationalkonferenz beibehalten. In der relativ kurzen Zeit nach der Aufhebung der Verbots des ANC bis zur ersten Runde von CODESA ist es dem ANC noch nicht gelungen, die organisatorischen Strukturen einer Volkspartei zu etablieren.91 Auf der ersten Nationalkonferenz des ANC in Südafrika im Juli 1991 gelang ansatzweise die Reintegration der exilierten ANC-Mitglieder92 und Umkhonto-Kämpfer in die politischen Strukturen des neuen Nationalen Exekutivkomitees, ebenso wie die personelle Verbindung zwischen dem ANC und den Führungsgruppen der Ersatzorganisationen wie UDF oder dem Gewerkschaftsdachverband COSATU. Für ganz Südafrika wird seitdem die Zahl der ANC-Mitglieder mit ca. 700.000 angegeben, wobei die meisten der neugegründeten 'Branches' noch keine festen Strukturen aufweisen; Regionalräte wurden eingerichtet, die als Entscheidungsforen in den Verhandlungsprozeß mit einbezogen werden und den Mitgliedern die Chance der Artikulation geben sollen; die Verhandlungspositionen werden von einer hauptamtlichen Abteilung im Hauptquartier des ANC inhaltlich vorbereitet und als Diskussionspapiere allen Mitgliedern zur Verfügung gestellt. Die Rolle von Umkhonto we Sizwe, die auf der Nationalkonferenz durch eine Resolution 93 neu formuliert wurde, paßt dagegen nicht in den normalen Rahmen einer Volkspartei.

90 " ... , negotiations are integrally connected with the overall strugg1e to free or resist the freedom of the peop1e of South Africa.... There is a tendency to view any form of negotiations as amounting to surrender.... Our objectives do not get changed mere1y because we are negotiating, just as the presence or absence of armed struggle does not affect our commitment to the type of SA enshrined in the Freedom Charter." Ebd., S. 7 ff. 91 Dies lag auch daran, daß mit dem sich abzeichnenden Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion nicht nur deren finanzielle und materielle Hilfe der vorangegangenen Jahre ausblieb, sondern auch mit dem einsetzenden Reformprozeß im Lande einige westliche Länder wie Schweden, die Niederlande oder Dänemark ihre Unterstützung reduzierten. So erging z.B. ein Aufruf des ANC um finanzielle Unterstützung für den Druck von Mitgliedsausweisen.

92 Ein Porträt der meisten Mitglieder des NEC (National Executive Committee) in Lusaka findet sich in: van Niekerk, Phillip, The Long Road Back, in: Leadership, Vol. 9, März 1990 (A New South Africa), S. 30-39. 93 Alle Resolutionen des ANC auf seiner Nationalkonferenz in Übersetzungen durch African National Congress (South Africa), lnformationsbulletin, Bonn Nr. 9 September 1991.

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Danach ist es die Aufgabe von Umkhonto zur Verteidigung des Volkes ständig kampfbereit zu sein, die Ausrüstung und Waffen nicht an die weißen Sicherheitskräfte zu übergeben und landesweite Strukturen für Umkhonto aufzubauen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen den beiden aus vielen einzelnen Gruppierungen bestehenden Blöcken innerhalb des ANC kann auch durch die Persönlichkeit und die immer wieder gezeigte Kompromißbereitschaft des ANC-Präsidenten Nelson Mandela94 nicht überbrückt werden, es spiegelt vielmehr die Wirklichkeit der Gesellschaftsstrukturen Südafrikas wider, die sich in der Vielzahl sozio-struktureller Antagonismen gegenüberstehen.95 Wie tief manche der Spaltungen in der Gesellschaft gehen, zeigt auch der vom ANC initiierte Versuch die CODESA - auch All-Party-Conference oder PreConstituent-Assembly-Meeting - durch eine sog. Patriotic Front (PF) von der weißen Regierung beschleunigt einzuklagen. Zwar trafen sich im Oktober 1991 ca. 800 Delegierte von 50 Organisationen96 zu einem dreitägigen Kongreß in Durban, vorangegangen war aber der Ausschluß von AZAPO (Azanian Peoples Organisation) aus dem Organisationskomitee, ursprünglich bestehend aus ANC, PAC und AZAPO, wegen eines Briefes, den AZAPO als Organisationsmitglied der PF an alle Homeland-Führer und politischen Parteien geschrieben hatte, in dem diese aufgefordert wurden, ihre Positionen in den weißen politischen Strukturen aufzugeben, andernfalls man sie ausladen werde. Gar nicht erst eingeladen worden waren NP und Inkatha, die DP war zwar eingeladen worden, konnte sich aber mit den Organisatoren nicht auf die Vorbedingungen einigen und nahm nur mit Beobachterstatus und ohne Stimmrecht an der Gründungskonferenz der Patriotic Front teit.97

94 Vgl. die einzige autorisierte Biographie über Nelson Mandela von Meer, Fatima, Higher Than Hope, Rolihlahla We Love You, Johannesburg 1988.

95 Eine Analyse der Gruppen innerhalb des ANC versucht Lodge, Tom, People's War or Negotiations? African National Congress Strategies in the 1980s, in: Moss/Obery, South African Review 5, S. 42-55. 96 Darunter auch religiöse, sportliche und studentische Organisationen, z.B. die National Soccer League oder auch die SA Catholic Bishops Conference.

97 Vgl. Nyatsumba, Kaizer, Slippery eel of unity, in: The Star vom 22. Oktober 1991.

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Als Ergebnis dieser Konferenz wurde dann eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der die Einberufung einer Allparteienkonferenz gefordert wurde, mit dem Ziel zu einer demokratisch gewählten verfassungsgebenden Versammlung zu kommen, die die Übergabe der Macht durchsetzen soll; eine Verfassung kann - nach diesem Beschluß - nur durch eine verfassungsgebende Versammlung erarbeitet werden. 98 Damit war der erste große Streitpunkt zwischen Regierung, bzw. Nationaler Partei und ihren Verbündeten sowie dem ANC und seiner Allianz der Patriotic Front programmiert. Zwar wurde noch im Dezember 1991 die erste Sitzung einer Allparteienkonferenz (CODESA) einberufen, aber schon nach zwei Sitzungsrunden wurde die Konferenz vom ANC wegen der fortgesetzten Gewalt im Lande ausgesetzt. In seinen Constitutional Principles und dem Entwurf der Bill of Rights fordert der ANC folgende Regelungen für das Neue Süda.frika: 99 Der erste Teil des Verfassungsdokumentes geht von vier verschiedenen Elementen aus, die das künftige Südafrika prägen sollen: 1. Einheit des Landes, 2. Demokratie, 3. Abwesenheit von Rassismus und 4. Abwesenheit von Sexismus. Die Einheit des Landes kann nach den ANC Vorstellungen nur in einer nicht fragmentierten Entität unter Einbezug von Transkei, Bophuthatswana, Venda und Ciskei erfolgen. Besondere Betonung liegt dabei auf einer einheitlichen Staatsbürgerschaft in einer Nation 100, dem Abbau aller Apartheid-Strukturen, einem einheitlichen System von Grundrechten, einer effektiven Zentralregierung und administrativen regionalen und kommunalen Einheiten. Das Kriterium Demokratie beinhaltet für den ANC die Institution freier, fairer und regelmäßiger Wahlen auf der Grundlage eines proportionalen Wahlrechts mit einem Mischsystem nationaler und regionaler Listen.

98 Text der Resolution in: African National Congress (South Africa), lnformationsbulletin, Bonn Nr. IO, Oktober 1991, S. 17 ff. 99 Ein Vergleich der Constitutional Principles des African National Congress und der Constitutional Rules der National Party und ihrer Vereinbarkeil findet sich bei Olivier, Nie, ANC constitutional proposals and state reaction, in: South Africa International, Vol. 22, Nr. 2, Oktober 1991, s. 55-64.

100 Diese Betonung der Nation und der Einheit aller Südafrikaner (" ... we are all South Africans." ANC, Constitutional Principles, S. 8.) hat im südlichen Afrika seinen Vorläufer in der identischen Argumentation von SWAPO in Namibia bei den Wahlen zur dortigen verfassungsgebenden Versammlung.

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

Als nicht-rassisch wird Südafrika dann gelten können, wenn alle Südafrikaner gleiche Chancen haben, die allerdings nicht durch eine nichtrassische Verfassung allein erreicht werden können, die Verfassung hat geeignete Vorkehrungen zu treffen, die die tatsächliche Gleichheit herstellen besonders mit den Mechanismen positiver Diskriminierung (affirmative action). Ähnliche Maßnahmen sollen in der künftigen Verfassung zur Herstellung gleicher Rechte von Männern und Frauen festgeschrieben werden 101 , verfassungsmäßiger Schutz gegen sexuelle Gewalt und Diskriminierung soll ebenso Teil dieser Verfassung sein, wie die Festschreibung von Frauenquoten in allen Bereichen der Gesellschaft und Politik. Diese vier Grundlagen sollen in einer Bill of Rights entsprechend abgesichert sein, ebenso wie eine Anzahl von sogenannten sozialen Grundrechten wie "basic human rights in relation to nutrition, shelter, education, health, employment and welfare. Govemment should be under a constitutional duty to work towards the establishment of a guaranteed and expanding floor of social, economic and educational rights for everybody." 102 Der zweite Teil der Constitutional Principles beschäftigt sich mit der Struktur eines zukünftigen Regierungssystems und fordert: Einen gewählten Präsidenten, der zugleich das Amt des Staatsoberhauptes innehat; er ernennt einen Premierminister und andere Mitglieder des Kabinetts; der Präsident handelt "in consultation" mit dem Kabinett, kann einmal wiedergewählt und nur mit einer 2/3 Mehrheit der National Assembly abgesetzt werden. 103 Das alle fünf Jahre zu wählende Parlament soll aus einer National Assembly als erster Kammer und einem Senat als zweiter Kammer

101 Diese überaus starke Betonung gleicher Rechte von Mann und Frau wird nur vor dem Hintergrund der Tatsache verständlich, daß es Frauen im heutigen Südafrika z.B. noch nicht einmal möglich ist, ein eigenes Bankkonto zu führen, wenn sie vemeiratet sind; gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist in aller Regel nicht einmal eine theoretische Möglichkeit. 102

ANC, Constitutional Principles, S. 19.

103 In dieser Ausgestaltung erinnert das Amt eines solchen Präsidenten stark an das namibische Modell. Vgl. Art. 27-34 der namibischen Verfassung, die sich mit der Ausgestaltung des Präsidentenamtes befassen, Vgl. Republic ofNamibia, Constitution, issued August 1990, Dobbs Ferry/New York, in: Blaustein, Albert P./Flanz. Gisbert H. (Hrsg.), Constitutions of the Countries of the World, Binder XI, New York May 1992.

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bestehen, wobei das Recht zur Gesetzgebung bei der National Assembly liegen soll; die zweite Kammer hat lediglich ein aufschiebendes Veto und soll in ihrer Rolle als Hüterinder Verfassung das Recht haben das Verfassungsgericht in Streitfragen der Interpretation und Anwendung der Verfassung anzurufen. Zur Sicherstellung freier und fairer Wahlen soll eine unabhängige Wahlkommission zur Überwachung des Wahlprozesses und entsprechender Abkommen zwischen den Parteien und der Gleichbehandlung aller Gruppen in den Medien eingesetzt werden. Regionale und kommunale Regierungen 104 sollen ebenfalls durch einheitliches Wahlrecht ohne Berücksichtigung ethnischer, sprachlicher oder sonstiger Zugehörigkeit zustande kommen. Ihre Rechte sind vom Zentralsystem delegiert und können nur solange ausgeübt werden wie sie "do not conflict with national policies" .105 Breiten Raum nimmt die Diskussion der zukünftigen Sprachenpolitik ein. Alle zehn Sprachen des Landes sollen danach gleichen Status haben und der Staat die Verpflichtung, in Erziehung und Kultur alle Sprachen gleichennaßen zu fördern und ihren Gebrauch auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene in den Verwaltungen durchzusetzen. Die Politik des Staates soll Mehrsprachigkeil fördern und die Verwendung nur einer Sprache verhindern. Allerdings können in bestimmten Regionen einzelne Sprachen für begrenzte Zwecke wie Verwaltung oder Gerichte vorgesehen werden. Eine offizielle Sprache für das Land wird abgelehnt. 106 Die Einrichtung der Institution eines unabhängigen Ombudsmannes mit dem Recht zur Untersuchung von Fällen von Korruption und Beschwerden gegen Amtsinhaber vor allem bei der Polizei soll in der Verfassung verankert werden. Eine 'public service commission' soll eingerichtet werden und die Aufsicht über alle Einstellungen, Beförderungen und Entlassungen im

104 Vgl. African National Congress, Constitution Committee, Departments of Legaland Constitutional Affairs/Local and Regional Govemment and Housing, Discussion Document: Regional Policy, October, 1992. Auffällig ist die Betonung der engen Grenzen, die einer Dezentralisierung nach der Vorstellung des ANC gesetzt werden sollen. 105

ANC, Constitutional Principles, S. 27.

106

Um so interessanter ist die Tatsache, daß die ANC Constitutional Principles nur auf Englisch veröffentlicht worden sind. 11 Schumacher

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öffentlichen Dienst haben. Ein 'affirmative action' Programm soll die bestehenden Ungleichgewichte bei gehobenen Positionen des öffentlichen Dienstes beseitigen und Benachteiligungen bestimmter ethnischer Gruppen und von Frauen in diesen Positionen abstellen. Verfassungsänderungen sollen nur mit 2/3 Mehrheit der National Assembly oder einer 2/3 Mehrheit eines landesweiten Referendums zulässig sein. Der Entwurf der Bill of Rights stützt sich auf die Menschenrechtserklärung von 1948, die europäische Menschenrechtskonvention, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (Afrikanische Charta), die Freedom Charter etc. Das Dokument - es wiederholt in Teilen die Forderungen der Constitutional Principles - umfaßt die international anerkannten Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte, wie sie sich in vielen demokratischen Verfassungen finden. Darüber hinaus sollen eine Anzahl meist als soziale Grundrechte bezeichnete Inhalte in dem zukünftigen Grundrechtekatalog kodifiziert werden. Hierbei handelt es sich vor allem um das Recht auf Erziehung, Gesundheitsfürsorge, Sozialhilfe und ausreichende Ernährung 107 , das Recht auf Arbeit und auf Streik verbunden mit dem Recht auf ein Mindesteinkommen, sowie eine Staatszielbestimmung zum Schutz der Umwelt. Allerdings sollen nach den Vorstellungen des ANC diese sozialen Grundrechte nicht einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf konkrete Leistungen für den Einzelnen beinhalten, wohl aber eine Verpflichtung für den Gesetzgeber gemäß den finanziellen und sonstigen Möglichkeiten des Staates die Ansprüche der Bürger durchzusetzen. 108

107 Vgl. auch die Vorschläge von Prof. Sachs, Mitglied des ANC-Exekutivkomitees, für eine "minimum standards strategy", die er in ÜbereinstimmWlg mit der europäischen Sozialcharta sieht und die z.B. sicherstellen soll, daß die Kalorienanzahl pro Kind ebenso schrittweise erhöht wird, wie die Anzahl der Schuljahre pro Schüler. Sachs, Albie, Watch out - there's a constitution about, in: South Africa International, Vol. 22, Nr. 4 (April) 1992, S. 184-189, hier S. 188. 108 Zu Recht weist Lücke in seiner Analyse der verschiedenen VorstellWlgen der Verwirklichung von GrW1drechten in einerneuen südafrikanischen VerfassWlg darauf hin, daß diese Vermengung von sozialen Grundrechten Wld sozialen Rechten in dem Entwurf der Bill of Rights des ANC bei der gegebenen Sozialstruktur des Landes bei weiten Teilen der Bevölkerung eine Erwartungshaltung verstärkt, die durch eine Verfassung nicht fundiert werden kann. Vgl. Lücke, Jörg, Grundrechte in einerneuen südafrikanischen VerfassWlg, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Jg. 52/1, S. 70-148, hier 127 ff.

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Besondere Beachtung hat in der Diskussion um die zukünftige Wirtschaftsordnung die Frage des Rechts auf Eigentum und seines Schutzes in einem Neuen Südafrika gefunden. Dies gilt um so mehr als die Aussagen führender ANC-Mitglieder zur Verstaatlichung und Nationali. sierung im Lande selbst und bei ausländischen Investoren zu erheblicher Unsicherheit geführt haben. Im Entwurf der Bill ofRights ist in diesem Zusammenhang dem Art. 11, Abs. 11 besondere Beachtung zu schenken,109 da er die zuvor in Art. 11, Abs. 2 und 7-9 genannten eigentumsrechtlichen Sicherungen wieder unterläuft und mit der darin enthaltenen Ausnahmeregelung "einer entschädigungslosen Verstaatlichung Tür und Tor" 110 öffnet. Ähnlich problematische Formulierungen finden sich in den Dokumenten des ANC zur künftigen Wirtschaftspolitik, in denen von einer "Democratic mixed economy which will foster cooperation between the state, private companies, financial institutions, trade unions and other organisations of civil society" die Rede ist. Umverteilung, Steuerpolitik und ein nationaler Entwicklungsplan sollen als Instrumente eines ökonomischen Planungsprozesses den 'Wiederaufbau' der Wirtschaft einleiten und das Wachstum fördem.111 Zusammenfassend kann man feststellen, daß der ANC noch seine Selbstidentifikation sucht. Das gilt in dreifacher Hinsicht: organisatorisch befindet er sich noch auf dem Weg von einer Massenbewegung zu einer strukturierten Partei, programmatisch spiegelt er die Bandbreite einer langjährigen Oppositionsgruppierung wider, der klare ordnungspolitische Orientierungen noch fehlen,

109 Art. II, Abs. II lautet: "The preceding provisions shall not be interpreted as in any way impeding the right of the State to adopt such measures as might be deemed necessary in any democratic society for the control, use or acquisition of property in accordance with the general interest, or to preserve the environment, or to regulate or curtail monopolies or to secure the payment of taxes or other contributions or penalties."

110 Lücke, Grundrechte... , [Hervorbebung im Original] S. 111. 111 Vgl. ANC, Department of Economic Policy, Discussion Document: Economic Policy, o.O., o.J. und Draft Resolutionon ANC Economic Policy for National Conference, o.O., o.J. Deutsche Übersetzung mit Genehmigung des ANC als ANC-Diskussionspapier zur Wirtschaftspolitik, in: KAS Auslandsinformationen, Dezember 1990, S. 15-20. 11•

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personell ist die Eigenständigkeil gegenüber der kommunistischen Partei nicht durchgesetzt. Gerade dieses letzte Problem ist jedoch untrennbar mit der Entwicklung der südafrikanischen kommunistischen Partei verknüpft.

VI. Die South African Communist Party (SACP)

Die enge Verbindung zwischen der südafrikanischen Kommunistischen Partei und dem ANC zeigt sich am deutlichsten in den Doppelmitgliedschaften wichtiger Führungspersonen beider Organisationen, 112 wobei die genauen Zahlen allerdings umstritten sind, da die Kommunistische Partei ebenso wie der ANC keine Angaben über diese Doppelmitgliedschaften macht. Schätzungen gehen davon aus. daß ca. die Hälfte der Mitglieder des ANC-Exekutivkomitees auch Mitglieder der Kommunistischen Partei Südafrikas sind. 113 Besonders deutlich wurde die personelle Verflechtung im Jahr 1991 als der Führer von Umkhonto we Sizwe, dem bewaffneten Flügel des ANC, Chris Hani (der im Frühjahr 1993 ermordet wurde), Nachfolger von Joe Slovo als Generalsekretär der Kommunistischen Partei wurde. Die Mitgliederstärke für die Kommunistische Partei in Südafrika wurde durch eine Arbeitsgruppe der Partei mit 30.000 zum Jahresende 1991 festgesetzt. Diese Größe wurde nach langer Diskussion über die künftige Struktur als Kader- oder Massenpartei beschlossen, wobei der Schwerpunkt auf "quality activists" 114 gelegt wurde. Nach eigenen Angaben rekrutiert die Kommunistische Partei die Mehrheit ihrer Mitglieder aus dem Bereich der Minenarbeiter. Nach der Aufhebung des Verbots der Partei im Februar 1990 begann der unverzügliche Aufbau eines Kadersystems im Lande unter Beibehaltung und teilweiser Umgestaltung der Einheiten von Umkhonto we Sizwe als Nachbarschafts- und Townshipeinheiten (neighborhood and township defence committees) und der Rechtfertigung des bewaffneten Kampfes. Organisatorisch ist die SACP über eine sog. "Tripartite Alliance" mit dem ANC und COSATU seit Mitte 1990 verbunden, wobei die Selbständigkeit der einzelnen

112 Vgl. von Lucius, Robert, Zwischen Kampf und Versöhnung, Der Afrikanische Nationalkongreß (ANC) nach dem Ende der Apartheid, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juli 1991, Nr. 154 (Ereignisse und Gestalten).

113 Vgl. Race Relations Survey 1991/92, S. 14 ff. 114

Vgl. ebd., S. 49.

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Teile der Allianz, die Führung durch den ANC und die Freedom Charter als gemeinsame Grundlage für die Dreiergruppe angesehen werden. Frühe Kontakte zwischen ANC und Marxisten gab es bereits vor der ersten Gründung einer kommunistischen Partei in Südafrika durch dissidente Mitglieder der südafrikanischen Labour Partei, die gemeinsam mit dem ANC Proteste gegen den 1913 verabschiedeten Land Act organisierten. Die weitere Zusammenarbeit mit der 1921 gegründeten Communist Party of South Africa (CPSA) stand jedoch vor einer Reihe von Hindernissen, die vor allem in der Argumentation der Marxisten begründet lag, daß das Heil der Arbeiterklasse in Südafrika in einem 'weißen' Sozialismus zu suchen sei, 115 d.h. daß es Aufgabe der weißen Arbeiterorganisationen sei, weiße Arbeit vor allem auch gegen schlechter bezahlte schwarze Arbeit zu schützen. 116 Auch von Seiten der schwarzen Arbeiterschaft und des ANC gab es eine Reihe von Vorbehalten gegenüber einer kommunistischen Ideologie und ihrer Umsetzung für Südafrika, die hauptsächlich in der nationalistischen Ausrichtung des ANC in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz begründet war. Die Ablehnung des Kommunismus war in seinen atheistischen, anti-aristokratischen und antibritischen Positionen begründet. 117 Für die CPSA hingegen war der ANC eine reaktionäre, kleinbürgerliche, nationalistische Bewegung. Erst Ende der 30er Jahre mit dem Aufkommen faschistischer Strömungen auch in Südafrika kam man zu

115 "I was not consciously hostile or prejudiced against black men. But forme the 'workers of the world' were the white miners, trarnwaymen, building artisans, and so on, who had trade unions and fought strikes. The blacks were simply disregarded." Zitat des Mitgliedes der Young Communist League Eddie Roux Anfang der 20er Jahre, in: SACP, The Red Flag in South Africa, A popular history of the Communist Party, o.O., o.J., S. 9. 116 Besonders deutlich wurde diese Haltung in der Rand Revolte von 1922, als infolge des Verfalls des Goldpreises die Charnber of Mines weiße Arbeiter entlassen und dafür weniger gut bezahlte schwarze Arbeiter einstellen wollte. Die Problematik dieser Situation bestand in der Unterstützung der weißen Streikkomitees gegen den "Klassenfeind", obwohl die Streikkomitees gegen die Einstellung schwarzer Arbeiter argumentierten. Gleichzeitig sollte verdeutlicht werden, daß die Unterstützung dieses Streiks keinen rassistischen Hintergrund hatte, der Slogan der Partei war aber zu Anfang der Revolte: "Workers of the World, Fight and Unite for a White South Africa." Zitat nach Karis, Thomas G., South African Liberation: The Comrnunist Factor, in: Foreign Affairs, Vol. 65, Nr. 2, Winter 1986/87, S. 267-287, hier, S. 271.

117 Zahlreiche 'tribal chiefs' unterstützten den ANC in seinen Forderungen, konnten aber die Haltung der Kommunistischen Partei in der russischen Revolution und die Ermordung der Zarenfamilie nicht verstehen, da sie als Häuptlinge ihrer Stämme ihre Herkunft aus königlichen Geschlechtern ableiteten. Auch die anti-britische Haltung wurde nicht immer verstanden, da eine starke Loyalität gegenüber dem britischen Königshaus bestand.

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3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

einer Übereinkunft über künftige Zusammenarbeit, was 1941 zur gemeinsamen Gründung der African Mine Workers' Union führte. Die sich ausweitende Zusammenarbeit der beiden Organisationen blieb in den Reihen des ANC nicht unwidersprochen, so wandten sich mehrere Mitglieder der ANC Youth League gegen die Doppelmitgliedschaft in ANC und CPSA. unter ihnen Nelson Mandela und Oliver Tambo, unterlagen jedoch mit ihrem Antrag auf dem Nationalkongreß des ANC. In der Folge sollte sich die enge Verknüpfung der Organisationen vor allem für die Kommunistische Partei auszahlen, da sie 1950 einem Verbot durch Selbstauflösung zuvorkam und trotz der Wiedergründung im Untergrund 1953 als South African Communist Party (SACP) kaum als eigenständige Kraft in Erscheinung zu treten vermochte. Sie arbeitete vornehmlich durch die Strukturen der Kongreß-Allianz, und es bleibt bis heute umstritten, welchen Einfluß die SACP, bzw. auch die kommunistischen Mitglieder des Congress of Democrats auf die Formulierung der Freedom Charter ausübten. 118 Ein erster Höhepunkt in der Zusammenarbeit der beiden Organisationen war die Bildung von Umkhonto we Sizwe durch ANC und SACP-Mitglieder im Jahre 1961 kurz nach dem Parteienverbot von 1960. Die Bildung einer militärischen Organisation traf bei Teilen des ANC auf Widerstand, 119 so daß bewußt eine eigene getrennte Struktur mit eigener Führungsspitze für Umkhonto errichtet wurde, in der neben SACP und ANC auch andere Organisationen vertreten waren. Die Finanzierung der von Umkhonto durchgeführten Sabotageakte, etc. erfolgte schwerpunktmäßig durch die kommunistische Partei der Sowjetunion. 120 Ob die Tatsache, daß Nelson Mandela erster Kommandant von Umkhonto wurde, ein Indikator für den Einfluß des ANC ist, erscheint fraglich. Die SACP der frühen 60er Jahre galt als pro-sowjetisch und von ihrer Konzeption am Staatssozialismus der Sowjetunion orientiert. Im Parteiprogramm von 1962 wurde eine theoretische Weiterentwicklung, das Konzept des Kolonialismus besonderen Typs, in der Ideologie der SACP festgeschrieben. Danach sei die südafrikanische Lage einer kolonialen Situation mit der Besonderheit vergleichbar, daß der dominierende und der dominierte Teil der Bevölkerung geographisch im

118

Vgl. in diesem Abschnitt: V. Der African National Congress (ANC).

119

So z.B. bei Albert Luthuli, Präsident des ANC und Friedensnobelpreisträger.

Vgl. die stark durch die Ideologie des "Total onslaught" gefärbte Studie von Pike, Henry R., A History of Communism in South Africa, Pretoria 1985, bes. s. 350 ff. 120

B. Die verfassungspolitischen Konzeptionen

167

selben Territorium lebe. Die Aufnahme dieser Position in das offizielle Programm der SACP bedeutete gleichzeitig auch eine Annäherung an die Position des ANC. Mit der Anerkennung der Forderung einer nicht auf rassischen Grundlagen aufgebauten Gesellschaft mit höchster Priorität über die Verwirklichung des Sozialismus in Südafrika hatte die Kommunistische Partei die wichtigste inhaltliche Position des ANC übernommen. Im Gegenzug übernahm von diesem Zeitpunkt an der ANC in seinen Dokumenten und auf seinen Tagungen im Exil Positionen der SACP, so daß es seitdem nahezu Identität in allen substantiellen Fragen zwischen beiden Organisationen gibt. 121 Die vielfach in Südafrika diskutierte Frage nach dem Einfluß der SACP auf den ANC ist aus der jahrzehntelangen Zusammenarbeit der Organisationen und der personellen Verflechtungen leicht ableitbar, schwieriger fallt eine Einschätzung des Einflusses der Sowjetunion auf den ANC oder eine Antwort auf die Frage, ob der ANC nach 1962 bis zum Zusammenbruch der UdSSR eine durch die SACP von Moskau aus gesteuerte Bewegung war. 122 Auffallend ist nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion das Festhalten der SACP an den Theorien des Marxismus/Leninismus und der Rolle der Kommunistischen Partei Südafrikas als einer Avantgarde für die "nationale demokratische Revolution" im Lande, die als eine Vorstufe für das angestrebte Stadium des Sozialismus notwendig ist: "... the unity in action of the oppressed and democratic forces around basic national democratic demands constitutes the most powerful revolutionary weapon against the ruling class. To weaken this unity by placing the attainment of socialism on the immediate agenda would, in fact, be to postpone the very attainment of socialist transformation. "123 In ersten Interviews nach der Aufhebung des Verbots der Kommunistischen Partei Südafrikas im Februar 1990 erklärte ihr damaliger Generalsekretär Joe Slovo: 121 V gl. auch Ne!, Philip, The ANC and "comrnunism", in: Esterhuyse/Ne1, The ANC and its Leaders, S.42-65, hier S. 48 ff. 122 Dies impliziert schon der Titel der Studie von von Löwis of Menar, Henning, Der Afrikanische Nationalkongreß /ANC · Moskaus Speerspitze gegen Südafrika, Bonn 1986. Die Unterstützung für sowjetische Kampagnen wie den Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 oder nach Afghanistan 1979 und die Zusammenarbeit mit den Regimen in Angola, Mozambique oder Nicaragua können Indikatoren für diese These sein. Eher mäßig wird der kommunistische Einfluß auf den ANC eingeschätzt von Karis, South African Liberation, S. 267-287. Er vertritt die These, daß die Kommunisten innerhalb des ANC den Kurs des ANC in größerem Umfang beeinflußt haben als es ihrer Mitgliederzahl entspricht. 123 South African Communist Party, The Path to Power, Programme of the South African Communist Party, Johannesburg September 1990, S. 36.

168

3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

"The serious errors that emerged in the practice of existing socialism are not rooted in the basic tenets of Marxist revolutionary science. They are the result of distortions and misapplications."124 In diese Argumentation fällt auch die scharfe Ablehnung von Vorschlägen für eine Refonn der Struktur und inhaltlichen Ausrichtung der Partei und eine anschließende Umbenennung in Labour Party oder sozialdemokratische Partei analog zu vielen anderen ehemals kommunistischen Parteien in Europa. 125 In den Verfassungsverhandlungen hat die Kommunistische Partei in voller Übereinstimmung mit dem ANC und COSATU sich das Ziel gesetzt: "to win people's power so that the popular forces of our country can begin the process of building a united, non-racial, democratic and non-sexist South Africa.'' 126 Dieses Ziel einerneuen Verfassung und freien Wahlen nach dem Prinzip "one person - one vote" wird jedoch nur als kurzfristiges Zwischenstadium in einer längerfristigen Strategie auf dem Wege zum demokratischen Sozialismus propagiert. "In South African conditions the process of national democratic transition is the most direct line of advance to socialism.'.I 27 Wiederum befindet sich die SACP mit dieser Position in einem Dilemma: Sie befürwortet ein Mehr-parteiensystem für das Neue Südafrika und verfolgt langfristig "The ultimate aim of tlte party is the building of a communist society ... ";hierbei spielt die SACP die Rolle als "... guide to concrete policy development in the transformation within our country .'d 28 Die vorläufigen Selbstbegrenzungen ergeben sich zum einen aus der allgemeinen Diskreditierung des Sozialismus weltweit, zum anderen aus der engen Allianz mit dem ANC, dem in der Strategie der SACP die Rolle eines "trojanischen Pferdes" auf dem Weg zum Sozialismus/Kommunismus zugewiesen wird.

124 Interview with JocJ Slovo, Restoring Socialism, in: New Nation, March 16-22, 1990, S. 10-11, hi

MARKTWIRTSCHAFT/ PRIVATEIGENTUM

•) Die Positionierung derverschiedenen Akteure beruht auf einer Auswertung ihrer schriftlichen und mündlichen Äußerungen mit den Methoden der lnhaltsanalyse. Daraus folgt, daß die Abstände zwischen den Akteuren nur im Sinne einer Ordinalskala zu interpretieren sind.

PLANWIRTSCHAFT/ VERSTAATLICHUNG

Umkhonto we Sizwe

COSATU SACP

IAZAP~ PACJ

INDIVIDUALRECHTE/ZENTRALSTAAT

Schaubild V Einordnung der wichtigsten politischen Akteure/Parteien•)

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184

3. Kapitel: Die Umsetzung der Konfliktstruktur im Parteiensystem

Dabei ist auffallend, daß es eine deutliche Dichotomisierung über beide Dimensionen gibt. AZAPO, PAC, COSATU, SACP und damit verbunden Umkhonto we Sizwe, der ANC und die sog. unabhängigen Homelands Venda und Transkei sind eindeutig in dem Quadranten angeordnet, der durch einen Zentralstaat und eine planwirtschaftliche Wirtschaftsordnung gekennzeichnet ist. Dem gegenüber sind die NP, die DP, die IFP sowie das unabhängige Homeland Ciskei in dem entgegengesetzten Quadranten in einer mittleren Position angesiedelt, der durch die beiden Dimensionen Marktwirtschaft und Dezentralisierung gekennzeichnet ist. In diesem Quadranten sind auch die politischen Vertretungen der Asiaten und Mischlinge2 angesiedelt, deren marktwirtschaftliche Position von allen südafrikanischen Gruppierungen am ausgeprägtesten ist. Auch in diesen Quadranten einzuordnen sind die politische Vertretung Bophuthatswanas und die Konservative Partei, die zwar eine prinzipielle marktwirtschaftliche Orientierung auszeichnet, denen jedoch die Garantie eines stark dezentralisierten Systems und die Sicherung von Gruppenrechten wichtiger ist. Interessant ist bei dieser Betrachtungsweise die Position der extrem konservativen Organisationen der Weißen HNP und AWB. Diese nehmen auf der wirtschaftlich ordnungspolitischen Dimension eine indifferente Position ein. Ihre politische Orientierung wird fast einseitig von der Zielsetzung eines Systems dominiert, das in bestimmten Regionen des Landes nicht nur die Aufrechterhaltung einer politischen Kultur, die fast ausschließlich durch die Afrikaner-Tradition geprägt ist, sondern auch eine damit verbundene Dominanz der Afrikaner gegenüber allen anderen ethnischen Gruppen des Landes anstrebt. In der verfassungspolitischen Diskussion Südafrikas ergreifen diese Gruppen Partei für eine Position, die im Prinzip den status quo erhalten möchte. Für die Möglichkeit eines verfassungspolitischen Konsensus ist es entscheidend, ob der ANC in der Lage ist, sich von seinen ideologisch geprägten Formationen zu lösen und sich im Hinblick auf mehr marktwirtschaftliche und mehr dezentrale Ordnungsformen zu bewegen. Ansätze diese Art sind unübersehbar. Die damit verbundenen internen Auseinandersetzungen spiegeln jedoch das doppelte interne Strukturproblem des ANC wider: die Entwicklung zu einer politischen Partei und die Lösung von seinem kommunistischen Flügel. Entsprechendes gilt für den entgegengesetzten Quadranten. Dort hängt der Spielraum der NP für ein Übereinkommen mit dem ANC wesentlich davon ab, 2 Bei einer Gesamtbevölkerung Südafrikas von ca. 26,3 Mio. zuzüglich 5,8 Mio. in den gegenwärtig noch 'unabhängigen' TBVC-Staaten und einer Bevölkerungszahl für Asiaten und Mischlinge von 0,9 Mio. bzw. 2,9 Mio. ist die politische Orientierung dieser Gruppierungen für eine zukünftige Mandatsverteilung weniger bedeutend.

C. Die Stellung der Parteien zueinander

185

inwieweit die NP die politischen Gruppierungen, die sich in ihrem Quadranten dieses ordnungspolitischen Systems befinden, also insbesondere die IFP, die Vertretungen der Asiaten und Mischlinge sowie der Ciskei und von Bophuthatswana in Richtung auf einen sich zur politischen Mitte bewegenden ANC führen kann. Ein solches Szenario für ein neues, auf Konsensus gebautes Südafrika steht jedoch vor dem Problem, daß ANC wie auch NP mit der Tatsache konfrontiert sind, daß je größer ihre interne Bereitschaft und Fähigkeit ist, auf einander zuzugehen, desto größer der Widerstand gegen einen solchen Kamprarniß innerhalb ihrer peripheren Flügel der eigenen Partei und ihrer potentiellen Verbündeten wirkt. Bei einer solchen Betrachtung ist es natürlich wesentlich, die relative Stärke der einzelnen politischen Gruppierungen innerhalb und zwischen den politischen Parteien insbesondere bei der schwarzen Bevölkerung abzuschätzen. Dabei ist die Frage der zu erwartenden Orientierung der Wählerschaft wichtiger als die der Größe der Parteimitgliedschaft in den einzelnen Organisationen. Wenn es auch Repräsentativbefragungen 3 gibt, die z.B. signalisieren, daß etwa l/4 der Schwarzen bei allgemeinen Wahlen für die NP ihre Stimme abgeben würden, so sind diese Ergebnisse aufgrund der Konfliktstruktur des Landes bei einer tatsächlich durchgeführten Wahl kaum zu erwarten. Realistisch ist, heute anzunehmen, daß die weiße Wählerschaft sich auf die traditionellen drei weißen Parteien verteilen wird, wenn auch nicht auszuschließen ist, daß eine kleine Minderheit sich für schwarze Parteien entscheiden würde. Entsprechendes gilt für die schwarze Bevölkerung, bei der allerdings die Stammesgegensätze hinzukommen. So ist Inkatha fast ausschließlich eine Partei der Zulus, des größten Stammes, während der ANC sich schwerpunktmäßig aus dem zweitgrößten Stamm, den Xhosas rekrutiert; für die Tswanas, die gegenwärtig durch keine eigenständige Partei vertreten sind, wenn auch zu erwarten ist, daß ein Teil dieser Gruppe in seiner Wahlabsicht dem ANC zuzurechnen ist, wäre ein Tswana-Führer ein Kristallisationspunkt für eine parteipolitische Eigenständigkeit; ähnliches gilt für die meisten anderen schwarzen Stämme im 'weißen' Südafrika, nicht aber für die sog. unabhängigen Homelands; allein der PAC, zur Zeit eine kleine elitäre Gruppierung, ist nicht stammesmäßig verwurzelt.

3 Zur Problematik solcher Untersuchungen, insbesondere für Wahlabsicht oder Parteianhängerschaft vgl. 2. Kap., Die mehrfach fragmentierte Gesellschaft, A. Formale Merlanale der Fragmentierung, Fußnote 20.

186

3. Kapitel: Die UmsetZWlg der Konfliktstruktur im Parteiensystem

Daraus ergibt sich, daß bei anstehenden allgemeinen Wahlen mit überwiegend ethnischem oder stammesorientiertem Wahlverhalten zu rechnen ist. Für diese Hypothese als Grundlage der Erörterung von Verfassungsmodellen spricht auch ein zweites Argument. Sollte es in Südafrika zu Parteien kommen, die alle ethnischen Gruppen integrieren, würde dies mit einer weitgehenden Entschärfung der Konfliktstruktur der Gesellschaft einhergehen. Dies wiederum hätte zur Folge, daß demokratische Regierungsweise mit vergleichsweise einfachen Verfassungsmodellen realisiert werden könnte. So gilt auch hier wieder die Notwendigkeit einer "worst-case-assumption": Um die Belastbarkeit von Verfassungsmodellen zu überprüfen, ist von der Hypothese eines ethnisch und stammesorientierten Parteiensystems auszugehen. Wird diese Hypothese von der Wirklichkeit widerlegt, vergrößert dies nur die Stabilitätschancen einer alle sozialen Gruppierungen umfassenden Demokratie. Würden dagegen Verfassungsmodelle auf der Grundlage eines gruppenübergreifenden Parteiensystems akzeptiert und somit die Hypothese der Dominanz von Gruppenbeziehungen falsifiziert, würde dies das Scheitern der auf dieser Grundlage konzipierten Demokratie bedeuten, wie das vielfach auf dem afrikanischen Kontinent geschehen ist.

4. Kapitel: Möglichkeiten einer demokratischen Verfassung für Südafrika A. Kriterien demokratischer Regierungsweise Vor dem Hintergrund dieses empirischen Befundes der fragmentierten Gesellschaft Südafrikas und der Parteienlage stellt sich die Frage, wie Demokratie in diesem Land verwirklicht werden kann. Für den Versuch, diese Frage zu beantworten, kann ein Blick auf die verfassungstheoretischen Überlegungen und die verfassungspolitischen Erfahrungen der einschlägigen Demokratien hilfreich sein. Demokratie als politische Ordnungsform ist das Ergebnis einer langen Entwicklung in den Ländern, die in der Regel als industrialisierte Demokratien bezeichnet werden. Daraus ergibt sich die Frage, ob und in welchem Umfang oder gegebenenfalls Modifikationen die wesentlichen Bestandteile dieses Ordnungssystems auf ein Land wie Südafrika übertragen werden können. Dies wiederum setzt voraus, diese wesentlichen Bestandteile, die unabhängig von der konkreten verfassungsrechtlichen Ausgestaltung im Einzelfall den Begriff Demokratie rechtfertigen, zu definieren. Dies kann allerdings nicht losgelöst von dem empirischen Befund der Gesellschaft Südafrikas geschehen. Demokratie ist einerseits das Ergebnis einer kulturhistorischen Entwicklung. 1

1 "Demokratie ist der Schlachtruf unserer Zeit geworden. Jedermann ist für die Demokratie, wie er sie gerade versteht." Friedrich, Carl J., Der VerfassWigsstaat der Neuzeit, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953, S. I. Dieses Standardwelk der modernen Politikwissenschaft schrieb Friedrich einige Jahre früher in den USA auf Englisch Wld legte kurz nach dem Entstehen der BWidesrepublik die überarbeitete deutsche Ausgabe mit der Intention vor, "die Wissenschaft von der Politik in Deutschland wieder aufleben zu lassen" (vgl. Vorwort). Darin leitet er den modernen VerfassWigsstaat bzw. den modernen Konstitutionalismus von " dem Philosophen" Aristoteles ab. Einen anderen Ansatz verfolgt Alexander Rüstow in seinem dreibändigen Hauptwelk "Ortsbestimmung der Gegenwart", in dem er die sozialgeschichtliche Hypothese der Überlagerungslehre anwendet, um die Entstehung von Klassen wie auch des Staates zu elklären. Dabei stellt er seinem Welk als Leitsatz voran "Denn ganz allein durch Aufklärung der Vergangenheitläßt sich die Gegenwart begreifen." (Goethe) Vgl. Rüstow, Alexander, Ortsbestimmung der Gegenwart, Eine universalgeschichtliche Kultulkritik, Erlenbach-Zürich und Stuttgart, 3 Bände 1950-1957.

188

4. Kapitel: Möglichkeiten einer demokratischen Verfassung für Südafrika

In diesem Sinne verweist die Demokratiegeschichte auf die Ansätze im antiken Athen2 oder auch der res publica in Rom 3 , obwohl beide Beispiele keine Demokratien im modernen Sinne waren: Es mangelte an der gleichberechtigten politischen Partizipation aller Bürger. In den Rahmen einer solchen kulturhistorischen Betrachtung gehört dann die englische Entwicklung4 nach der normannischen Eroberung (1066) sowie entsprechende Ansätze in der Schweizer Eidgenossenschafts. Andererseits gibt es eine nicht weniger lange verfassungstheoretische Tradition, die von Aristoteles über Cicero6 bis zu den Demokratieklassikern der Aufklärung7 reicht. Verfassungswirklichkeit8 wurde Demokratie jedoch erst im 19.

2 Bleicken geht in seiner Analyse von einem "Demokratisierungsprozeß", d.h. einer Entwicklung der Demokratie in Athen aus, dem der Wille zur Ausgestaltung der politischen Ordnungsformen in Richtung auf Demokratie durch seine großen Staatsmänner, vornehmlich Aristoteles, zugrunde lag. Das Netz von Gesetzen und ungeschriebenen Normen, die das Vernahen der Bürger in den Institutionen regelte, seien das Kernstück der athenischen Form von Demokratie. Vgl. Bleicken, Jochen, Dieathenische Demokratie, Paderbom/München/Wien;Zürich, 1986, bes. Kap. 3 Die Entstehung des Begriffs "Demokratie" und der Beginn des verfassungspolitischen Denkens, S. 55 ff.

3 Vgl. Klein, Richard, Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt 1980, besonders die Beiträge von Solmsen, Friedrich, Die Theorie der Staatsformen bei Cicero de re publica I, S. 315-331 und Stark, Rudolf, Ciceros Staatsdefinition, S. 332-347. 4 Die Zeit von 1066 bis zur glorreichen Revolution von 1688 gilt als die Phase, in der die Vorformung der gegenwärtigen politischen Institutionen Großbritanniens stattfand. Durch die Eigentumsverteilung nach der normannischen Eroberung zugunsten von König, kirchlichen und weltlichen Magnaten ergaben sich allererste Ansätze einer pluralen Sozialstruktur. Aus dem Instrument der Beratung des Königs entwickelte sich die Institution der Curia regis, aus der wiederum das Obernaus und Vorläufer der Kabinetts entstanden. Vgl. Loewenstein, Kar!, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, 2 Bde., Berlin/Heidelberg/New York 1967, bes. Band I S. 3-15.

5 Vom 13. Jahrhundert an kann man mit Einschränkungen von einer Föderation kleiner Republiken sprechen, die sich in der Verflechtung dreier Bundessysteme konstituierte. Die mit der Herausbildung dieser Republiken verbundenen Auseinandersetzungen (z.B. Morgarten 131 5, Laupen 1339, Sempach 1386 und Aargau 1415) waren Konflikte zwischen Bauern und Bürgern einerseits und Adel andererseits. Das Bündnisgeflecht mit seinem Zentrum "VIII Orte" (Kantone) hatte als politische Institution die sogenannte Tagsatzung der Regierungsdelegationen. Anzumerken ist, daß der vielbeschworene Freiheitsdrang der Eidgenossen ("Wir wollen frei sein, wie die Väter waren", Schiller, Wilhelm Tell) in dieser Anfangszeit, aber auch weit bis in die Neuzeit hinein, kein individueller Freiheitsgedanke war, sondern Freiheit von Fremdherrschaft und damit die Möglichkeit der lokalen Selbstverwaltung, meinte. Vgl. hierzu Riklin, Alois und Möckii, Silvano, Werden und Wandel der schweizerischen Staatsidee, in: Riklin, Alois, (hrsg.), Handbuch Politisches System der Schweiz, Band I, Grundlagen, Bem und Stuttgart 1983, S. ll-118. 6

Vgl. Seel, Otto, Cicero - Wort, Staat, Welt, Stuttgart 1953.

7

Vgl. Locke, John, Two Treatises of Civil Govemment, lntroduction by W. S. Carpenter, London

A. Kriterien demokratischer Regierungsweise

189

Jh. in Großbritannien, den USA, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden und später auch in Frankreich. Dieser Feststellung liegt eine - natürlich nonnative Definition von Demokratie zugrunde, die auf drei Elementen beruht, die gerade auch für die verfassungspolitische Diskussion des Neuen Südafrikas von Bedeutung sind: I.

der gleichberechtigten Mitwirkung der erwachsenen Bevölkerung in freien und geheimen Wahlen, die zur Regierungsbildung führen;

2.

der regelmäßigen Wiederholung dieser Wahlen mit der dadurch gegebenen Möglichkeit des Regierungswechsels und der Machtkontrolle;

3.

der Sicherung des Rechtstaates und damit untrennbar verbunden der individuellen Freiheitsrechte.9

Von diesen drei Kriterien ist das letzte in der Verfassungstheorie und auch in der verfassungspolitischen Diskussion Südafrikas kaum umstritten. Auf der Grundlage der Montesquieu' sehen Theorie der Gewaltenteilung erfolgte erstmals eine Kodifizierung von Grundrechten in den ersten Amendments von 1791 zu der US-Verfassung von 1787. Unabhängigen Gerichten wurde die Kompetenz zur Überwachung der Einhaltung dieser Grundrechte zugewiesen. Dieses Konzept hat seitdem Einzug in zahlreiche Verfassungen gefunden, nicht zuletzt auch in das deutsche Grundgesetz von 1949. So unterschiedlich die institutionelle Ausgestaltung des Verfassungsgerichtswesens im einzelnen auch ist, in der Regel ist ihm neben dem Schutz der Grundrechte auch die Überwachung der Einhaltung der Spielregeln der Prozesse der Willensbildung, Machtbildung, -ausübung und

1924. Locke' s Arbeiten haben die politischen VorstellWJgen vor und während der französischen Revolution sowie die VerfassWJgsberatWJgen der Nationalversammlung von 1789 Wld 1791 stark beeinflußt. Der Locke' sehe Einfluß auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung wird bereits in den allerersten Sätzen evident. Montesquieu (Charles-Louis de Secondat), DeI 'Esprit Des Lois, hg. Derathe, Robert, 2 Bde., Paris (Gamier) 1973. Die Lehre von der GewaltentrennWlg und die Notwendigkeit den Gewalten durch checks and balances Grenzen zu setzen, findet sich am deutlichsten in der amerikanischen Verfassung. 8 Zur Begriffsbildung siehe l. Kapitel; B. Fragestellung: Politikwissenschaft als VerfassWJgstechnologie.

9 Aus einer solchen Definition des im allgemeinen Sprachgebrauch positiv geladenen und perzipierten Begriffes Demokratie folgt, daß der Begriff Volksdemokratie eine semantische Strategie für diktatonale Systeme ist. Zum Verhältnis von Politik Wld Sprache siehe Bergsdorf, Wolfgang, Politik und Sprache, München 1978, bes. Kapitel "Wörter sind wie Arsen, Zur Technik totalitärer Sprachlenkung", S. 90 ff.

190

4. Kapitel: Möglichkeiten einer demokratischen Velfassung für Südafrika

-kontrolle übertragen. Dieser Doppelfunktion der Gerichtsbarkeit ist gerade für eine fragmentierte Gesellschaft, in der es keinen breiten Konsens über die Werte gibt, wie das für Südafrika gilt, von besonderer Bedeutung. Kritik an diesem System der Verfassungsgerichtsbarkeit entzündet sich an dem Tatbestand, daß die zumeist wenig operationalisiert formulierten Grundrechte im Zeitablauf von den wechselnd zusammengesetzten Gerichten unterschiedlich interpretiert werden. Dies hat zu dem Vorwurf der quasi-legislativen Funktion der Verfassungsgerichte 10 und damit verbunden der der Justizialisierung Politik geführt. 11 Dennoch besteht ein breiter Konsens, daß die Vorteile einer rechtlichen Absicherung der inhaltlichen wie formalen Merkmale von Demokratie für eine fragmentierte Gesellschaft überwiegen, weil die Flexibilität in der Interpretation der verfassungsrechtlich fixierten Werte in einem Land wie Südafrika, das sich noch im Prozeß des "nation-building" 12 befindet, eine kontinuierliche Anpas-

10 Boudin spricht in diesem Zusammenhang sogar von "judicial despotism". Boudin, L.B.: Govemrnent by Judiciary, in: Political Science Quanerly, Vol. XXVI (1911), S. 238-270, hier S. 264. Auf der Grundlage einer längeren empirischen Basis argumentiert Hirschfield "Judicial participation in the policymaking process has often made the Supreme Court a center of political controversy, and dissatisfaction with its decisions has often raised the charge that it is an institutional anomaly in a democratic society." Hirschfield, Robert S.: The Constitution and the Court, The development of the basic law through judicial interpretation, New Yorlc, 2. Auf!. 1963, S. 188. 11 Diese Problematik ist umfassend von Kar! Leewenstein unter dem Begriff Judizialisierung diskutiert worden. Sind "lebenswichtige Interessen derpolitischen Machtträger" betroffen, so ergeben sich nach Leewenstein Spannungen zwischen den Kompetenzen der Judikative und der Legislative. Vgl. Loewenstein, Karl, Velfassungslehre, Tübingen 1959, S. 261-265. Im Hinblick auf die jüngere Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland vgl. die gegensätzlichen Positionen von Benda, Ernst, Konsens und Mehrheitsprinzip im Grundgesetz und in der Rechtsprechung des Bundesvelfassungsgerichts, in: Hattenhauer,Hans/ Kaltefleiter, Wemer (hrsg.), Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, Kieler Symposium vom 14.-16. Juni 1984, Heidelberg 1986, S. 61-77 und Kaltefleiter, Wemer, Die Grenzen der Demokratie, in: ebd., S. 137-159; 12 Almond und Powell beziehen den Begriff auf "the process whereby people transfer their commitment and Joyalty from smaller tribes and villages or petty principalities to the !arger central political system". Alrnond, Gabriel A./Powell G. Birmingharn, Comparative Politics: a developmental approach, Boston 1966, S. 66. Für Kar! Deutsch impliziert "Nation-building ...an architectural or mechanical model. ... a nation can be built according to different plans, from various materials, rapidly or gradually, by different sequences of steps, and in partial independence from its environment." Deutsch. Kar! W., Tides Arnong Nations, New Yorlc/London 1979, S. 134 ff. Bereits in früheren Welken hat sich Deutsch mit dem Thema beschäftigt, siehe u.a. Deutsch, Karl W./Foltz, Williarn J. (eds.), Nation-Building, New Yorl< 1966. Zum Thema des nation-building in ethnisch fragmentierten Gesellschaften vgl. Connor, Walker, Nation-Building or Nation-Destroying, in: Wor1d Politics, Vol. 24, Nr. 3 (April) 1972, 5.319-355.

A. Kriterien demokratischer Regierungsweise

191

sung der Verfassungsnonnen an den Wertewandel und die Verfassungswirklichkeit ermöglicht. Die organisatorische Ausgestaltung des Gerichtssystems z.B. nach amerikanischem (Einheitsgericht) oder deutschem (parallele fachspezifische Gerichte) System ist unter diesem Aspekt von untergeordneter Bedeutung. Beide Systeme haben diese Funktion erfüllt, wobei die weitaus längere Tradition des amerikanischen Gerichtes die Funktion der Anpassung des Verfassungsrechts an die sich ändernde Nonnenstruktur der Bevölkerung deutlicher illustriert als das deutsche Beispiel. Deshalb erscheint ein derartiges Gerichtssystem gerade für eine fragmentierte Gesellschaft wie Südafrika funktionsgerecht, um die Bildung eines Wertekonsenses im Zeitablauf zu unterstützen. Auf eine eingehende Diskussion dieser verfassungsrechtlichen Ordnungsmöglichkeiten kann deshalb verzichtet werden. Die unterschiedliche kulturhistorische Entwicklung und die zahlreichen verfassungstheoretischen Ansätze haben zu verschiedeneh politischen Organisationsformen 13 geführt, die einerseits diesen Kriterien von Demokratie entsprechen, die andererseits jedoch die Prozesse der Willens- und Machtbildung, der Machtausübung und -kontrolle sehr unterschiedlich beeinflussen und regeln. Es ist deshalb zu prüfen, welche dieser Organisationsformen den Bedingungen der südafrikanischen Gesellschaft am ehesten gerecht werden kann. So einfach die Prinzipien von Demokratie erscheinen, ihre Umsetzung in der Verfassungswirklichkeit hängt entscheidend von den sozio-strukturellen Bedingungen ab. Die meisten verfassungstechnologischen Empfehlungen leiden daran, daß sie abstrakt und ohne Bezug zu einer konkreten Gesellschaft mit all ihren Konflikten und Gegensätzen formuliert worden sind. 14 Daraus ergibt sich, daß

Unabhängig vom Prozeß des nation-building ist der Prozeß des state-bui1ding, der die Installation von institutionellen politischen Strukturen beschreibt. Diese Prozesse können nicht nur parallel, sondern auch entgegengesetzt verlaufen, so daß bei nicht gleichgerichteter Entwicklung Spannungen auftreten können. Vgl. Almond/Powell, ebd., S. 35 ff. Bei solchen Entwicklungen kann das Präsidentenamt bei ausreichendem Charisma Identifikationsdefizite, die bei verzögertem nation-bui1ding auftreten können, vorübergehend ausgleichend. 13 Vgl. Lehner, Franz, Vergleichende Regierungs1ehre, Opladen 1989, bes. S. 47

ff.

14 Dies gilt auch für den fast 1500 Seiten umfassenden Bericht der südafrikanischen Law Commission, die durch Präsident F.W. de Klerl nat. Föderalismus, kein

Konfliktslruktur + Föderalisumsbegründung

ethnisebe Minderheiten ohne groBen Organi· sationsgrad, Föderalismus geographisch begründet

Einfluß auf legislativen ProzeB

2. Kammer: Mitglieder vom Premier emannt, keine eigentliche Verneh.lng der Subsysteme, kein

Seoatsprinzip: 2. Kammer legislativ gleichberechtigt

Verfassung im Umbruch, Teijung zum 1. Jan. 1993 bescblossen. Trerum.ng voo.

CSFR bis 1992

Tscbechci und Slowakei

Repräsentation der Subsysteme auf Bundeseben::

Autonomie der Subsysteme

Tabelle 13 Ausformungen von Föderalismus

Beidc Kamm::rn: relative MW in Eim:rwablkreisen, 2. Kammer gleich starke Vertretung jedes Staates

l.Kammcr:VW

1. Kammer: personalisierte

vw

1. Kannner: VW auf Listen, 2. Kammer: UDierscbiedlicbe kantonale Wahlvorscbrifteo, direktdemokratische Elemente

Kammer: gleichstarke Vertretung d. Einzelstaaten

beide Kammern: absolute MW in Eincrwahlkieisen. 2.

1. Kammer relative VW io EUE-rwahlkreisen

Beido Killlllm:rn: direkte VW , 2. Kammer: gleich starke Vertretung beider Subsysteme

Repräsentation der Bürger auf Bundesebene

~ '0

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61

trettr durch Länderparlamente bestellt), gleichberechtigt arn legislativen Prozeß

Kompetenzaufteilung mittels zweier

Li.!.ten. eigene Steuereinna.hmen d.

Pakisr.an

keine 2. Kammer

Senatsprinzip, gleichberechtigter Teil der Legislativen

Parteienherrschaft der CCM (Chassa cha Mapinauzi)

Übergewicht des Bundes

Brasilien

modif. Bundesratsprinzip (freies Mandat, einige Abgeordnete vom Präsidenten emarmt), geringer Einfluß auf legislativen Prozeß

Tansania

Provimen. Kompetenzvei'IID.ltung zug. Provinzen

modiflZ. Bundesratsprinzip (Ver·

Kom.pe1enzaufteilung mittels dreier Listen, bei inkompatiblen Gese1zen Übergewicht des BWides, Kompetenzvermutung zug. des ZcnlnlmS

Indien

tigt

modiftzicrtcs Senatsprinzip, beide Kammern legislaliv gleichberech-

Prädominanz des Zentrums, Steuer· gesclzgebuog beim Bund

Repräsentation der Subsysteme auf Bundescbellt

Malaysia

Autonomie der Subsysteme

(Fortsetzung Tabelle 13)

bipolare Exekutive mit kollegialen Elementen

präsidiale Demokratie

starke gesellschaftliebe Gegensätze auf ver· schiedeneo Ebenen, Föderalismus jedoch geogJaphisch begründet

bipolare Exekutive

parlamcntariscbes System

parlamentarische Wahlmouarcbie

Re gierun.gsform

extreme rribalistiscbe Fragm.entierung, Föderalismus historisch begründet, durch zentralistische Tendenzen abnehmender Konsens über das foderale Prinzip

ethnische Gegensätze, Föderalismus ethnisch begründet

ethnische und religiöse Frag:mentierung, Föderalismus ethnisch und geographisch sowie historisch begründet, abnehmender Konsens über das fOdc:rale Prinzip durch Zentralisierungstendcnzen

elhnisclE und religiöse Fragmentierung, Föderalismus aber nicht ethnisch begründet, soorlern historisch

Konfliktstrulctur + Föderalismusbegründung

wahllcreisen

1. Kammer: VW und MW nebeneinander, 2. Kammer: relative MW in Einer·

Einzige Kammer: Stichwahl nach Vorauswahl durch Einheitspartei, Delegierte des Präsidenten, des Parlaments von Sansibar

1. Kammer: relative MW in Einerwahlkreisen

1. Kammer: relative MW in Einerwahlkreisen

Beide Kammern: relative MW in Eincrwahlkreisen. 2. Kammer: 32 vom König ern. Mitglieder+ gleiche Verrrenmg d. 13 Teilsr.aaten (2/St.aat)

Repräsentation der Bürger auf Bundesebene

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Personale und territoriale Autonomie;

pers. Aut.: Gremien ZIU Vertretung der

10zio-ökcnomiscbc und. s~

zie>-lrulturelle Unterschiede

Belgien

kulL + persooenbezogeuen ln~ssen d. 3 Sprachgruppen (bei der dt. Sprach· gruppe anch polit. Kompetem); ter. Aut.: Veruetung der pol. Int. der Aamon, Wallonen • Region Brü.,.el. Eig. Kompetenzen in einigen Bereichen

terteilt

Verwaltung

gesamte.~ Staatsgebiet wurde in Regioneo mit Vcrwaltungskanpelenzen un-

Delegation zeDlrolotaatlicber Anfgaben an Schottland und Woles

schiedliebem Umfange politische Autooomie (Besood-Südtirol), Regiooen mit Normolstatutlediglich Verwoltungskompetenzen, betrifft ge· samtes Staatsgebiet

2 unterschiedliebe Statuten, Regionen

mit Sonderstatus erhielten in unter-

säaulichc Provinzen des Staatsgebietes erhielten umfangreiche regionale politi· scbe Autonomie

eigene Exekutive und Legislative auf beiden Ebeocn oder gemeinsa~ mes Ausüben der jeweiligen Kompetenzen durch jeweils eine Institution

schiedlich über~ geordneten legi.slativen Gremien

mengesetzt aus unter-

von der Zcob'ale ein-

gesetzter Präfekt und Re gionalrat, zusam-

beschränkte Kompetenzen, jederzeit dw-ch einfache Gesetze zutücblelunbar, oberste

eigene Exekutive und Legislative

Verfassungsgericht entscheidet in Kompctcozstreiti&)r.:eiten uad in iDkompatiblen Gesetzen, keine direkte EiDgriffsmöglich· k:eit der Zentrale

Status von oormalen Gesetzen

~rlängcrter Arm der Zentrale, Übcrwachung dw-ch Präfek~ Regionen haben

Legislative weiterbin Unterhaus

zuwiderlaufen, Rückna.bme auL Rechle nur über Verfassungsänderung 2. Reg. mit Normolstatut: verlängerter Arm der Zen· trole, Überwachung d1treh Präfekt, Regio· oen haben Status von normalen Gesetzen

nc Exekutive und Le-

1. Regionen/Provinzen mit Sondc:rstarut: Verfassungsgericht kann prüfen, ob Rege· lungen der Reg. nicht Allgemeinwohl

gen an Provinzen

keiten

eigene Steuerhobeit der Regiooen, 40% der Staatsausgaben bei den Regiooen

beschränkte Steu· erhobeil zur Finanzierung der regionalen Verwoltungoaufgaben

Zuwendungen durch ZentroJe

Regionen unterminiert wurde

Zuwendungen durch Zentrole, da Finanzhoheit der

nder umgekehrt

2 Systeme: Steu· erhobeil bei Zen· tralc; Überweisun-

finanzielle Autonomie

Rücknahmt der autonomen Rechlc: nur über Vcrfassungsändcnmg, in Politikbereieben der Region keine Eiogriffsmöglicb-

EiDgriffsmöglichkeit der ZeDlrole

gislativc 2. Regionen mit Normalstatut dito • kontrollierender Prä· fekt

I. Regionen/Provinzen mit Sonderstatut eige-

eigene Exekutive und Legislative

Institutioneller Aufbau reg. Subsysteme

Umfang regionaler

Reformen

Frankreich

IDcffizienz zentralistiscbc:r

Tendenzen in einigen Teilen

fiihrt.cn zu autaD.omistiscben

sozio-ölconomiscbe und/oder sozio-lrulturelle Unterschiede fiihrtcn zu separatistischen bzw. autonomistiscben Tendenzen in einigen Regiooen

fiihrten zu separatistischen bzw. autonomistiscbcn Tendc:nzen in einigen Provinzen

sozie>-lrulturelle Untenchiede

Italien

Spanien

Grund< fiir regionale Reformen

Tabelle 14 Ausformungen von Regionalismus



keine signifikante Eindämseparatistischer Stränungen lllllDg

lismus als Autonomie wider~ spricht französischem Staats~ vcrständnis

sehe Bewegungen, Regioua-

bisb:::r keine Antwort auf separative bzw. autonomisti-

denzen iD Schottland • W a· les, keine poo. Verändenmg iD Nordirland, hier InstrumeDI d . ZeD!rolisienmg

bzw. autonomistiscber Tcn-

Stärkung separatistischer

in den Regionen mit Normol· starut entstehen

autonomistischt Tendenzen

gering, sozio-ökonomische

Gegensätze in Italien Jassen

Separative Tendenzen in den Regiooen mit Sonderstatut

LaDlet scparatislischer Bewegungen. Entwicklung eiDcs Konsenses über die Zugehörigkeit zu Spanien

aboelmende Akzeptanz mili·

Erfolg der Regionalisieruug

264

4. Kapitel: Möglichkeiten einer demokratischen VerfassWig für Südafrika

sungspolitischen Zielvorstellungen der Europäischen Gemeinschaft von Interesse, die freilich in den Mitgliedstaaten zum Teil sehr umstritten sind.24 Diese sind: 1.

eine auf gleicher, allgemeiner, geheimer Wahl beruhende Repräsentation aller Bürger ohne irgendwelche Einschränkungen im Hinblick auf ihren sozio-ökonomischen, kulturellen oder sonstigen Hintergrund;

2.

eine Begrenzung der Kompetenzen der Gemeinschaft auf wenige wesentliche Aufgaben, die für die politische Zielsetzung z.B. des Binnenmarktes und später der sogenannten politischen Union unabdingbar sind;

3.

die institutionalisierte Mitwirkung der Mitgliedstaaten, also der Subsysteme am Zustandekommen der zentralen Institutionen (vor allem der Kommission) als auch an deren Entscheidungsfindung z.B. durch den Ministerrat;

4.

ein unabhängiges Gericht, das die Einhaltung der für alle EG-Staaten und Bürger verbindlichen Regeln sicherstellt.

Für die verfassungspolitische Diskussion in Südafrika kann gerade die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft hilfreich sein. Seit ihren Ursprüngen in der Montan-Union von 1951 demonstriert sie die außerordentliche Flexibilität bei der Ausgestaltung föderativer Ordnungsformen in Abhängigkeit zum Konsens, der unter den Mitgliedstaaten erzielt werden konnte. 25 Am Anfang stand die weitgehend supranationale Organisation der Montan-Union, die nur konsensfähig war, weil die Bundesrepublik Deutschland die Supranationalität - das war die Leitlinie Adenauers Außenpolitik - als ein Instrument zur Erzielung internationaler Gleichberechtigung verstand und die anderen fünf Mitgliedstaaten in eben dieser Supranationalität das Instrument zur Kontrolle eines wiedererstarkenden Deutsch24 Vgl. die Föderalismusdebatte in Großbritannien im Hinblick auf die Maastrichter Verträge. Oakley, Robin, French vote forces cabinet to show colours, in: The Tim es vom 21. September 1992. Margaret Thatcher wird hier zitiert mit ihrer Warnung vor Maastricht als "'conveyor bell to federalism"'. Diese Debatte beruht allerdings zu einem großen Teil auf der unterschiedlichen Bedeutung der Begriffe "'federal"' Wld "'föderativ". 25 Vgl. Kimme!, Adolf, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Grundrechte, Staatszielbestimmungen und VerfasWigsstrukturen, in: Gabriel, Oscar W. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Brettschneider, Frank. Die EG-Staaten im Vergleich, Strukturen, Prozesse. Politikinhalte. Opladen 1992, S. 23-49. Vgl. auch im seihen Band die Verfassungssynopse vor allem im Teil 2.6 Bund Länder - Regionen, S.474 ff. Zur Verfassungsgeschichte der EG vgl. auch Everling, Ulrich, Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, in: Hailbronner, Kay/Ress, Georg/Stein, Torsten, Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Kar! Doehring, Berlin/Heidelberg/New York/Paris/ Tokio/Hong Kong 1989, S.l79-198.

D. Formen dezentraler politischer Ordnung

265

Iands sahen. 26 Schon der EWG-Vertrag von 1957 kannte beide Motive nicht mehr, mit der Folge, daß die supranationale Struktur des EWG-Vertrages weit weniger ausgeprägt ist als die der Montan-Union. Als dann Frankreich unter General de Gaullc nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen eine Revitalisierung nationalstaatliehen Denkens verfolgte,27 ergab sich in der Europäischen Gemeinschaft eine politisch wie verfassungs- bzw. völkerrechtlich bemerkenswerte Entwicklung, die gerade im Prozeß des "nation-building", der für Südafrika noch ansteht, hilfreich sein kann. Obwohl alle Elemente der Supranationalität des EWG-Vertrages - insbesondere die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat - unverändert weiter galten, wurden sie in einem stillschweigenden Konsens der Teilnehmerstaaten28 für fast 20 Jahre nicht angewandt. Diese Praxis transformierte in der Verfassungswirklichkeit die Gemeinschaft in dieser Zeit zu einer weitgehend intergouvernementalen Organisation. Diese Aussage verlangt jedoch zwei Qualifikationen: 1.

in dieser Periode der Nichtanwendung der Möglichkeit zu Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat gewann der Europäische Gerichtshof eine Stellung im Rechtssystem der Mitgliedsländer, die einen anderen Aspekt der Supranationalität weiterführte;

2.

die Möglichkeit auf der Grundlage des Vertragstextes zu supranationalen Willensbildungsprozessen auch im Ministerrat zu kommen, setzte die Mitgliedstaaten bei fortschreitender wirtschaftlicher Integration unter einen politischen Einigungszwang, der in den tatsächlichen Willensbildungsprozessen zu einem Element der Supranationalität führte.

Mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986 wurde der supranationale Charakter der Europäischen Gemeinschaft formal wiederbelebt.29 Dabei

26 Vgl. schon Wildenmann, Rudolf, Macht und Konsens als Problem der Innen- und Außenpolitik, Frankfurt a.M., Bonn 1963, S. 179 ff.

27 Vgl. Weisenfeld, Ernst, Frankreichs Geschichte seit dem Krieg. Ereignisse, Gestalten, Hintergründe 1944-1980, München 1980, S. 155 ff. 28 Vgl. das Agreement to Disagree der Luxemburger Konferenz vom Januar 1966. Sie beschloß das Mehrheitsprinzip zu suspendieren und durch das Einstimmigkeitsprinzip bei Ratsentscheidungen zu ersetzen. Vgl. Hellmann, Rainer, Schlußakt einer Krise? Die Europäischen Institutionen nach Luxemburg. in: Europa Archiv Folge 7/1966, S. 259-268. Vorausgegangen warein 6-monatiger Boykott der Ministerratssitzungen durch Frankreich. Damit verlor die EG ein entscheidendes Instrument ihrer postulierten Supranationalität Erst die EEA von 1986 belebte das Mehrheitsprinzip wieder. 29 Vgl. Hrbek, Rudolf/Läufer, Thomas, Die Einheitliche Europäische Akte, Das Luxemburger Refonnpaket: eine neue Etappe im Integrationsprozeß, in: Europa-Archiv, Folge 6/1986, S. 173-184.

266

4. Kapitel: Möglichkeiten einer demokratischen Verfassung für Südafrika

ist wesentlich, daß die EEA die politische Antwort auf die Lähmung der Institutionen der Europäischen Gemeinschaft durch das von Präsident de Gaulle erzwungene De-facto-Einstimmigkeitsprinzip war. Sie war aber zugleich die politische Reaktion auf die Lähmung der wirtschaftlichen Dynamik der Europäischen Gemeinschaft, die sich nicht zuletzt als Folge der gewissen Lähmung ihrer politischen Institutionen in den 70er Jahren eingestellt hatte. Der Begriff 'Eurosklerose' steht für diese Krisenperiode der Europäischen Gemeinschaft. Auf Südafrika bezogen demonstriert gerade diese Geschichte der Europäischen Gemeinschaft, in welcher Form durch Stufenpläne im Hinblick auf die institutionelle Entwicklung in Abhängigkeit von der Entwicklung des Verfassungskonsenses behutsam ein Verfassungsgerüst geschaffen werden kann, das von antagonistischen Konflikten der Gegenwart ausgehend Formen zu deren Überwindung unter der Herausbildung von gesamtstaatlichen wirksamen Institutionen ermöglicht.

111. Formen der Abgrenzung der Subsysteme in Südafrika Auf Südafrika bezogen heißt das, daß die mehrfach fragmentierte Gesellschaft geradezu nach dezentralen Regelungen verlangt, um das friedliche Zusammenleben aller Gruppen in einem demokratischen Gemeinwesen zu gewährleisten. Angesichts der Tatsache, daß es keine in den politischen Strukturen der Gegenwart nachwirkende dezentrale Einheiten gibt, wird das Ergebnis also eher als Regionalismus als als Föderalismus einzuordnen sein: Die vier traditionellen Provinzen spielen für die weiße Bevölkerung als politische Strukturen keine nennenswerte Rolle, es sind eher administrative Einheiten, wobei eine traditionale Identifikation unter Afrikanern möglich ist. 30 Die sogenannten Homelands gelten bei der schwarzen Bevölkerung als ein besonderes Merkmal der Politik der getrennten rassischen Entwicklung und werden aus diesem Grunde deutlich

30 Die vier Provinzen Südafrikas entstanden erst im Zuge der Verfassungsverhandlungen von 1908.19 als Kompromißlösung zwischen den Vertretern einer zentralistischen und einer dezentralen Lösung. Sie blieben aber lediglich regionale Verwaltungseinheiten mit begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten, die im Zuge des Provincial Govemment Act von 1986 noch weiter beschnitten wurden. Lediglich der Provinz Natal gelang es in den späten 70er Jahren Kontakte mit der Administration von KwaZulu herzustellen und sogar zu einer ' Joint Executive Authority' zu kommen. In den beiden ehemaligen Burenrepubliken Transvaal und Oranje Freistaat zeigt die Stärke rechtsgerichteterweißer Organisationen, z.B. des AWB, die strukturell konservativere Ausrichtung vor allem auch der weißen ländlichen Bevölkerung als in den ehemaligen britischen Kolonien Kap und Nata!.

D. Fonnen dezentraler politischer Ordnung

267

abgelehnt. 31 Die einzige Ausnahme könnte unter diesem Aspekt Zululand sein. 32 Aber als Grundlage für ein dezentralisiertes Neues Südafrika, das vom Konsens aller Gruppen getragen wird, kommen diese Provinzen nur in Frage, wenn sie zu gruppenübergreifenden Einheiten geformt werden können. Hieraus ergibt sich ein fundamentaler Widerspruch zwischen demokratischer Verfassungstheorie und politischer Realität Südafrikas: 1.

Dezentralisierung ist in dieser Theorie das Instrument, um in einer fragmentierten Gesellschaft in einem über Generationen hinwegreichenden Prozeß zu einem nation-building zu kommen.

2.

Jede Dezentralisierung, unabhängig von ihrer Bezeichnung, kann diese konsensbildende Funktion nur erfüllen, wenn dadurch den Fragmenten der Gesellschaft eine eigenständige Entwicklungschance gegeben wird.

3.

Diese Fragmente sind in Südafrika durch die lange Politik der Rassentrennung als deren Wiedereinführung durch die Hintertür diskreditiert.33 Dies gilt insbesondere für fast alle Nicht-Weißen, aber auch die NP hat sich diese Position zu eigen gemacht.

31 Kurz nach der Freilassung Mandelas im Februar 1990 hatten sich alle Homeland-Führer mit Ausnahme Buthelezis für die Wiedereingliederung ausgesprochen. Der ANC hat immer die Position des "unital)' South Africa" vertreten. In den schwarzen Widerstandsbewegungen wurden HomelandFührer, die mit Pretoria zusammenarbeiteten, als 'Kollaborateure' bezeichnet. Die schlechte wirtschaftliche Situation und die 'Überbevölkerung' der Homelands (24 Einwohner pro Quadratmeile in den Homelands, 9 Einwohner im sog. weißen Südafrika) führte zu großer Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen. Vgl. Race Relations Survey 1989!90, S. 435 ff. Zu Einzelheiten der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Homelands von Südafrika vgl. auch Halbach, Axel J., Südafrika und seine Homelands, Strukturen und Probleme der "Getrennten Entwicklung", München 1988. 32 Buthelezi hat mit seiner Opposition gegen die Regierung in Pretoria, vor allem bei den verschiedenen Versuchen der Zentralregierung KwaZulu in die 'Unabhängigkeit' zu entlassen, eine Position besetzt, die kein anderer Homeland-Führer erreichen konnte. Mit dem Aufbau von lnkatha, der Einsetzung der Buthelezi Commission und dem KwaZulu/Natal Indaba hat er sich eine regionale Machtbasis unter den Zulus aufgebaut, die er durch traditionale Elemente zu stärken weiß. Die Betonung einer eigenen Zulunation und der Erhalt der Selbständigkeit wird von ihm immer wieder reklamiert, vgl. Mangosuthu Buthelezi, 'We will be part of the new South Africa as KwaZulu', in: The Citizen vom 24. September 1990. "Die Nation der Zulu wurde von König Shaka geschaffen, nicht von der Homeland-Politik, anders als die anderen Produkte der sogenannten Politik der Regierung." Karcher, Günther L., Interview mit Chief Minister Buthelezi, in: KAS Auslandsinfonnationen 12/1990, S. 26-28, hier S. 28. 33 Diese Diskreditierung besteht zu Recht auch bei einem Vorschlag für eine zukünftige Neuordnung des Landes wie dem von Steenhuisen, Annand, The Federal Republic of South Africa, A New Political Dispensation, Silverton 1989. Er erweitert das System der getrennten Entwicklung noch durch die Beibehaltung der sog. abhängigen und unabhängigen Homelands sowie der Einführung von zehn neuen Subsystemen ("national states... called the White/Coloured/Indian States", S. 23).

268

4. Kapitel: Möglichkeiten einer demokratischen Verfassung für Südafrika

4.

Diese Ablehnung der Bildung von Subsystemen entlang der traditionellen Fragmente der Gesellschaft entspricht durchaus einem demokratischen Ideal, aber die Existenz dieser Fragmente der südafrikanischen Wirklichkeit.

5.

Aus diesem Widerspruch folgt, daß Südafrika eine lange Phase der Krisis durchlaufen wird, an deren Ende entweder die Akzeptanz oder die tatsächliche, nicht nur plakative Überwindung der Fragmente dieser Gesellschaft steht. Zuvor ist die Entwicklung von Verfassungskonsens kaum zu erwarten.

Vor dem Hintergrund dieses fundamentalen Widerspruchs ergab sich lange Zeit. daß jede Diskussion möglicher Subsysteme aus südafrikanischer Sicht weitgehend akademischer Natur zu sein schien. 34 Schon damals stellte sich die Frage, ob es nicht auch die Funktion wissenschaftlichen Nachdenkens sei, auszusprechen, was noch nicht akzeptabel erscheint? 35 Im Verlauf der Verfassungsdiskussion haben sich in Südafrika jedoch die Stimmen gemehrt, die ernsthaft auch Vorschläge zur Dezentralisierung unterbreiten. 36 Bei jeder Fonn der Dezentralisierung, gleichgültig, ob sie als Föderalismus oder als Regionalismus verstanden wird, ist zunächst zwischen der Gewährung von Autonomie für die Subsysteme und der Mitwirkung dieser Subsysteme an

34 Die akademische Diskussion wird aber durchaus gefühn, so z.B. von de Villiers, Benus, Regional Govemment in the new South Africa. Pretoria 1992, Kendall, Francis, The hean of the nation, Regional and community govemment in the new South Africa, Norwood 1991 oder auch Venter. Alben J., South Africa: (Con)federal Structures?, in: Plural Societies, Vol. 19, No. 2/1990, s. 4-27. 35 Anfang September 1992 fand eine Konferenz zu föderalen Optionen für das neue Südafrika auf Einladung der Regierung statt. An dieser Konferenz nahmen neben der NP, CP, DP und einigen Paneien, die die Volksstaatidee für das Afrikanervolk venreten, auch die IFP, die Solidarity Pany und die Regierungen der sog. unabhängigen Staaten Bophuthatswana und Ciskei sowie don venretene Paneien teil. Der ANC und die in der Patriotic Front venretenen Gruppen hatten eine Einladung zur Teilnahme abgelehnt. Vgl. ANC won't attend regionalism summit, in: The Citizen vom 28. August 1992. Auf dieser Konferenz wurde von Seiten des Verfassungsministeriums ein Diskussionspapier vorgelegt, das von sieben Regionen für das neue Südafrika ausgeht. V gl. Seven provinces on federal map for SA, in: The Citizen vom 8. September 1992. 36 Vgl. Calitz, J.M., Regional Distribution of Potential Voters. Vgl. vor allem die Vorschläge von NP und ANC, wobei die NP sieben, der ANC I 0 Regionen vorschlägt. The new SA takes shape, in: Sunday Times vom 23. Mai 1993. Auch die technische Kommission bei den Verfassungsverhandlungen (Commission on the Demarcation/Delimitation of States/Regions/Provinces) hat im August 1993 einen Plan für neun eigenständige Regionen mit hoher Autonomie vorgelegt. Vgl. Regions get exclusive powers in second draft of new constitution, in: Business Day vom II. August 1993.

D. Fonnen dezentraler politischer Ordnung

269

der Willensbildung des Zentralsystems zu unterscheiden. Für die erste Frage ist es zunächst wichtig, in welcher Fonn die Subsysteme voneinander abgegrenzt werden. Dabei ist es unvenneidlich, auf vorhandene Einheiten zurückzugreifen, so umstritten diese im Einzelfall auch sein mögen. Neue, heute künstlich zu schaffende Einheiten würden einen Prozeß der Konsensbildung noch mehr erschweren. Unter diesem Aspekt bieten sich zunächst die vier Provinzen, Kap, Natal, Transvaal und Oranje Freistaat an. Die Bevölkerungsstatistik Südafrikas weist für diese Provinzen Weiße, Mischlinge und Asiaten aus und zählt nur jene Schwarzen hinzu, die nicht in den sogenannten Homelands, also die den jeweiligen schwarzen Stämmen zugewiesenen Siedlungsgebieten wohnen. Diese sind als extraterritoriale Einheiten in der Statistik aufgeführt. Da es undenkbar ist, daß diese Trennung in einem "Neuen Südafrika", das nicht auf der Rassentrennung aufgebaut ist, erhalten bleibt,37 ist es notwendig, die beiden Statistiken über die Provinzen und die Homelands zusammenzufügen. Das Ergebnis zeigt Tabelle 15 (Bevölkerungszusammensetzung38 in Provinzen), dabei ist der Provinz Natal das Homeland Kwazulu, der Provinz Transvaal die vier Homelands K wandebele, Kangwane, Lebowa und Gazankulu und dem Oranje Freistaat das Homeland Owaqwa zugeschlagen worden, um auf diese Weise territoriale Einheiten zu bekommen (Karte 1: Südafrika, Einteilung nach Provinzen). In der Kapprovinz stellen die Mischlinge eine klare Mehrheit, Weiße und Xhosas jeweils eine gleichgroße Minderheit mit einer Bevölkerung, die jeweils etwa die Hälfle der Mischlinge ausmacht. Andere schwarze Gruppen, wie auch

37 Auch wenn es in den Velfassungsverhandlungen noch gegensätzliche Auffassungen zur Wiedereingliederung der TBVC-Staaten gibt- Transkei, Ciskei und Venda haben ihre Zustimmung zur Wiedereingliederung unter bestimmten Bedingungen eridärt, Bophuthatswana steht einem solchen Prozeß noch sehr skeptisch gegenüber-, scheint die grundsätzliche Frage der Rückführung nicht länger kontrovers diskutiert zu werden. Vgl. von Lucius, Robert, Streit um die Zukunft der Homelands, in: FAZ vom 5. Mai 1992 und Homelands kehren nach Südafrika zurück, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. Mai 1992. Zur Perzeption nationaler Identität unter den TBVC-Staaten vgl. Malan, J.S., Perceptions on ldentity and Nationhood Among the Leaders of the National States and Territories in the South African Region. Africa Institute Occasional Paper no 53, Pretoria 1989.

38 Zusätzlich zu den im 2. Kapitel, in den Fußnoten 16/17 genannten methodischen Problemen, hat der politische Druck vor allem des ANC dazu geführt, daß in der Volkszählung von 1991 die Unterteilung nach schwarzen Stämmen nicht mehr erhoben worden ist. Die veröffentlichten Zahlen legen die Hypothese nahe, daß die horizontale Mobilität nicht dazu geführt hat, daß das in der Volkszählung von 1985 erhobene Grundmuster der Bevölkerungsverteilung sich grundlegend geändert hat. Diese Aussage gilt auch für die Tabelle: Bevölkerungszusammensetzung in Entwicklungsregionen.

OFS + Qwaqwa

Kangwane Lebowa Gazankulu

17.0

3.2

2.6

23.5

+ KwaNdebele

Transvaal

1.7

9.5

Natal + KwaZulu

47.6

24.0

Misch!.

Kap

Weiße