Politische Denkbilder: Von Caspar David Friedrich bis Neo Rauch 9783412213916, 9783412207038


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Politische Denkbilder: Von Caspar David Friedrich bis Neo Rauch
 9783412213916, 9783412207038

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Jost Hermand

Politische Denkbilder Von Caspar David Friedrich bis Neo Rauch

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Linkes Motiv: Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld: Cäcilia Tschudi als Walküre (1813), Privatbesitz Rechtes Motiv: Otto Nagel: Junger Maurer von der Stalinallee (1953), akg-images © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Judith Mullan Druck und Bindung: fgb freiburger graphische betriebe Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20703-8

Inhalt

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Vorwort

14

Caspar David Friedrichs christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik (1806–1835)

35

Sieg der gerechten Sache! Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld: Cäcilia Tschudi als Walküre (1813)

51

Adolph Menzels Fridericiana (1836–1867)

72

Emanuel Leutze: Washington Crossing the Delaware (1849/50)

83

Adolph Menzels Das Eisenwalzwerk (1875) und Robert Koehlers Der Streik (1886) in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss

103

Der gründerzeitliche Übermensch Arnold Böcklin: Der Abenteurer (1882)

118

Karl Schmidt-Rottluff: ist euch nicht Kristus erschienen (1919)

133

Das Gemeinsame im Trennenden Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

152

Manfred Hirzel: Lotte Danziger (1931)

161

John Heartfields Hitler-Satiren (1932–1943)

177

Pablo Picassos politische „Wende“ Sein Guernica-Bild (1937)

Inhalt

5

186

Otto Pankok und Jo Pieper Zigeunerbilder (1931–1953)

201

Fidus: Das Haupt des Führers (1941)

221

Auf andere Art so große Hoffnung Otto Nagel: Junger Maurer von der Stalin-Allee (1953)

233

Anselm Kiefer: Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch (1977)

245

Spiegel-Bilder Michael Matthias Prechtl: Denker Nietzsche – Täter Hitler (1981)

258

Wandlungen der Leipziger Schule Von Wolfgang Mattheuer bis Neo Rauch (1973–2010)

271 294

Anmerkungen Bildnachweise

6 Inhalt

Vorwort

I Was sind Denkbilder? Ist ein derartiger Begriff „konkret“ genug, um uns bei der Interpretation jener Bilderflut, die uns tagaus-tagein umgibt, tatsächlich tiefere Aufschlüsse über den Bedeutungsgehalt all jener sinnlichen Impressionen zu geben, denen wir unentwegt ausgesetzt sind? Schließlich kann für Menschen, welche die Fülle dieser Seheindrücke nicht einfach so hinnehmen, sondern sich von Zeit zu Zeit auch zur Reflexion über einige ihrer optischen Wahrnehmungen angeregt fühlen, alles zum Denkbild werden. Statt in einer schönen Landschaft einfach eine schöne Landschaft zu sehen, die sich vor ihnen ausbreitet, fangen solche Menschen zugleich an, darüber nachzudenken, was im Zuge der unentwegt fortschreitenden Industrialisierung und Zersiedlung mit diesem Stück Natur in Zukunft geschehen könnte, wie viele Wildblumen in ihr bereits verschwunden sind, ob durch Abflußgräben der Grundwasservorrat vermindert wurde und vieles andere mehr. Statt in einem neugebauten Haus lediglich ein neugebautes Haus zu sehen, reflektieren sie zugleich, welche der gegenwärtigen Stilrichtungen in ihm zum Ausdruck kommt, ob es in das Ensemble der neben ihm stehenden Gebäude paßt, ob dadurch wieder ein Stück nutzbaren Bodens verlorengegangen ist und vieles andere mehr. Statt eine menschliche Gestalt nur im Hinblick auf ihre körperliche Attraktivität wahrzunehmen, denken sie zugleich darüber nach, welche Lebenserfahrung sich in ihrer Haltung ausdrückt, wie sich diese Erfahrung in ihrem Gesicht eingegraben hat, ob sie noch auf andere Menschen anziehend wirken will und vieles andere mehr. Kurzum: in allem, gleichviel ob in Landschaften, Häusern oder Menschen, wie überhaupt in allem, was sie umgibt, sehen solche Menschen nicht nur vorüberhuschende Sinneseindrücke, sondern zugleich Erscheinungen, welche sie – über ihr äußeres Wahrnehmungsvermögen hinaus – zu weiterführenden Überlegungen anregen. Und dadurch bleiben die sie umgebenden Bilder nicht nur optischmachistische Impressionen, sondern verwandeln sich in Denkbilder, die Vorwort

7

ihnen ein vertiefteres Bewußtsein über den Zustand der sie umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit vermitteln. So gesehen, können täglich Hunderte von uns wahrgenommene Wirklichkeitspartikel zu Denkbildern werden. Allerdings liegt das, wie gesagt, nicht an den objektiv existierenden Eindrücken selbst, sondern an uns. Je bewußter, historisch-gebildeter, das heißt aufgeklärter wir die uns umgebenden Erscheinungen betrachten, desto bedeutsamer werden die politischen, sozioökonomischen, ideologischen oder auch ökologischen Tiefendimensionen, welche sich hinter ihnen auftun. All dies sollten an sich epistemologische Binsenweisheiten sein. Dennoch begegnet man nicht nur auf alltäglicher oder journalistisch-populärer, sondern auch auf wissenschaftlich-philosophischer Ebene immer wieder Anschauungen, die vor allem die polithistorischen Komponenten eines derartigen Wahrnehmungsvermögens für überflüssig halten. Die Vertreter derartiger Sehweisen begnügen sich stattdessen meist mit den unmittelbaren Gegebenheiten der jeweiligen Eindrücke oder sehen in ihnen auf anthropologisch-ontologische Weise weitgehend unwandelbare Phänomene, indem sie – im Gefolge strukturalistischer oder auch poststrukturalistischer Anschauungen – die Grenzen zwischen dem Gegenwärtig-Erlebten und dem Historisch-Vergangenen einfach verwischen. Sie sehen daher in einer Landschaft, einem Haus oder einer menschlichen Gestalt in erster Linie etwas Essenzielles und damit typisch Gewordenes, das keinen deutlich markierten historischen Stellenwert besitzt, sondern sich rein naturhaft, produktbedingt oder allgemein-menschlich betrachten läßt. Demzufolge bleiben die wahrgenommenen Bilder im Rahmen solcher Anschauungsformen meist vordergründige Sinneseindrücke bzw. ontologisch erstarrte Embleme und verwandeln sich nicht in reflexionsanregende Denkbilder, denen ein weitgespanntes, die gesamtgesellschaftlichen Bezüge ins Auge fassendes Beziehungsnetz zugrunde liegt.

II Die gleichen Einsichten gelten im Hinblick auf die Wahrnehmung von Werken der bildenden Künste. Zugegeben, man kann auch sie rein oberflächlich als sinnliche Gratifikationsobjekte betrachten, ohne sich groß 8 Vorwort

Gedanken über ihren historischen Stellenwert oder die ideologische Einstellung der hinter ihnen stehenden Künstler und Künstlerinnen zu machen. Es gibt zweifellos viele Menschen, die sich mit einer solchen Sehweise begnügen und eine genauere Erklärung oder gar geschichtsträchtige Interpretation der in den jeweils betrachteten Gemälden zum Ausdruck kommenden „Gesinnung“ von vornherein ablehnen, da sie das entweder als einen Verstoß gegen die angebliche Autonomie des künstlerischen Schaffens empfinden oder da sie befürchten, daß derartige Bemühungen zu einer Abschwächung ihrer eigenen ästhetischen Wahrnehmungsfähigkeit führen könnten. Sie wollen sich von solchen Werken vor allem beeindrucken lassen, aber nicht von anderen darüber belehrt werden. Was sie allenfalls dulden, sind lediglich irgendwelche biographisch-psychologischen oder anekdotischen Aspekte, die bei der Entstehung bestimmter Gemälde oder Skulpturen eine Rolle gespielt haben, aber keine ins Polithistorische oder Gesellschaftswissenschaftliche ausgreifenden Hintergrundserläuterungen. Die meisten unter ihnen sind vor allem darauf aus, sich in bestimmte Kunstwerke einzufühlen, das heißt die auf ihnen dargestellten Sujets als etwas zu empfinden, mit dem sie sich persönlich identifizieren können. Innerhalb einer derartigen Sehweise herrscht also allein das aus aller Historizität herausgelöste Ichgefühl vor, das sich weitgehend, wenn auch meist unbewußt, an anthropologischen Konstanten orientiert und von vornherein auf alle historischen Ableitungsbemühungen verzichtet, wodurch die betrachteten Werke entweder zur Einfühlung anreizende Identifikationsobjekte oder geschmäcklerisch wahrgenommene Artefakte bleiben, sich aber nicht in Denkbilder verwandeln. Um also in bestimmten Kunstwerken sinnträchtige Denkbilder zu sehen, gehört auch hier, wie auf allen Gebieten der optischen Wahrnehmungsfähigkeit, ein bewußter, aufgeklärter, das heißt historisch geschärfter Blick. Nur für einen damit begabten Menschen sind gemalte Landschaften, Porträts, Interieurs oder Genreszenen nicht nur gefühlsauslösende oder ästhetisch reizvolle Gratifikationsobjekte, sondern zugleich mit einer Fülle zusätzlicher Bedeutungsgehalte ausgestattete Denkbilder, die zu weiterführenden Reflexionen anregen können. Und zwar gilt das nicht nur für alle Gemälde und Graphiken der Vergangenheit, sondern sogar für die Fotos und Werbeplakate der heutigen Warenwelt. Schließlich ist im Hinblick auf den denkbildnerischen ChaVorwort

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rakter solcher Objekte, wie gesagt, nicht das jeweilige Werk, sondern der bewußte, aufgeklärte Blick, der es wahrnimmt, von entscheidender Bedeutung. Daß eine derartige Sehweise bei der Interpretation von Werken minderer Qualität, vor allem dann wenn sie einen rein illustrierenden, das heißt plakativen, vedutenhaften oder szientifisch erläuternden Charakter haben, kaum auszuschließen ist, hat bisher im Bereich der Kunstgeschichte selten jemand geleugnet. Aber ist sie auch bei den sogenannten Meisterwerken erforderlich, fragen sich viele? Schließlich gehen diese in ihrem Bedeutungsgehalt und ihren Stilmitteln so weit über den trivialen Massengeschmack hinaus, wie immer wieder behauptet wird, daß sie sich nicht auf irgendwelche zeitgeschichtlich bedingten Faktoren zurückführen lassen. Sollte man sie daher nicht lieber als ästhetische Manifestationen einer ins Einzelpersönliche, wenn nicht gar Genialische tendierenden Überzeitlichkeit bewundern, die jeden kongenialen Betrachter eine mit seinen eigenen Gefühlen übereinstimmende Sehweise erlauben? Doch genauer gesehen, hat es eine solche Überzeitlichkeit selbst im Bereich des sogenannten Genialischen nie gegeben. Gerade die bedeutsamsten Künstler und Künstlerinnen waren stets Menschen, welche sich in ihren Werken, so gut sie es vermochten, mit den jeweiligen Konflikten ihrer eigenen Zeit auseinandergesetzt haben. Obwohl dieses Faktum für historisch bewußte Menschen eine Selbstverständlichkeit sein sollte, wird sie sowohl von den Einfühlungsästhetikern als auch den auf die angeblich künstlerische Autarkie eingeschworenen Formalisten häufig geleugnet oder als nebensächlich abgewertet, um sich nicht in ihrem gefühlsmäßigen Angemutetsein oder ihren abstrakten Stilerkundungen irritieren zu lassen. Deshalb wehren sie sich von vornherein gegen ein sie angeblich erdrückendes Übermaß historischer Informationen. Eine solche Interpretationsweise erscheint ihnen zu positivistisch, zu akademisch, mit anderen Worten: zu bildungsbetont. Wenn es um Kunst geht, wollen sie – außer emotionalen Erregungsmomenten oder philosophieästhetischen Abstraktionen – alles „Kunstfremde“ lieber von vornherein vermeiden. Doch ohne eine vertieftere vergangenheitsbewußte Bildung bleiben alle Werke der bildenden Kunst letztlich unverstanden, das heißt sinken zu subjektiv erlebten Gefühlssubstraten oder formalästhetisch genossenen Objekten einer vordergründigen Augenweide herab und verlieren damit den Charakter des Denkbildnerischen. 10 Vorwort

Schließlich manifestiert sich auch in ihnen – fast noch stärker als in anderen historischen Dokumenten – jener unaufhörliche Wandel der Menschheitsgeschichte, der in dialektisch verschränkter Form von Progressionen und Reaktionen gezeichnet ist. Dementsprechend gibt es im Bereich der bildenden Kunst sowohl erstarrte Kultbilder als auch einladende Lebensbilder, sowohl Herrscher als auch Unterdrückte, sowohl heroisierende Kriegsdarstellungen als auch idyllische Genreszenen, sowohl realistisch Ausgemaltes als auch formalistisch Abstrahiertes, die sich in ihren wechselnden Darstellungsweisen nie rein ästhetisch verstehen lassen, sondern für historisch geschulte Augen stets auf den darin zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Hintergrund verweisen. Und das macht alle diese Werke zu Denkbildern, an denen sich der mühsame Verlauf des oft beschworenen „Fortschritts“ in der Geschichte der Menschheit ablesen läßt, dessen progressive Entwicklungsschübe immer wieder von Krisen und Rückschritten bedroht sind. Allerdings setzt eine solche Sehweise eine „Haltung“ voraus, die sich selbst als Teil dieser scheinbar unaufhörlichen Dialektik versteht. Nur wer sich in der Gegenwart mit dem Vergangenen im Hinblick auf die Zukunft beschäftigt, also auch die eigene Seh- und Auffassungsgabe an diesem Dreischritt der Geschichte orientiert, wird daher sowohl den älteren als auch den gegenwärtigen Kunstwerken eine sinnvolle Perspektive abgewinnen. Ich weiß, das ist ein anspruchsvolles Programm. Aber bedeutsame Kunst ist nun einmal anspruchsvoll und setzt zu ihrer historisch vertieften Kenntnis ein wahrhaft „konkretes Sehen“ voraus, das sich weder mit vorwiegend anthropologisch-essenziellen Einfühlungsanalogien noch mit vorwiegend formalästhetischen Kriterien begnügt, die nicht über das Konsumistisch-Gratifikatorische oder das Akademisch-Exklusive hinausgehen. Was es in ihr – ungeachtet aller persönlichen Beglückungsmomente – vor allem zu erkunden gilt, ist die gesamtgesellschaftliche Relevanz, die in jedem Kunstwerk enthalten ist und von uns erkannt sein will.

III Wenn also jedes Bild, so betrachtet, ein Denkbild sein könnte, was sind dann „Politische Denkbilder“? Haben nicht alle gesellschaftsbedingten Vorwort

11

Phänomene und damit auch alle Kunstwerke einen direkten oder indirekten ideologieüberformten Charakter? Wie läßt sich demzufolge bei der Betrachtung von Kunst das spezifisch Politische überhaupt als eine gesonderte Kategorie herauspräparieren? Wird damit nicht alles andere, ob nun die jeweils angewandten Stilmittel oder gewisse Motivzusammenhänge, ins angeblich Unpolitische abgeschoben, was – methodologisch gesehen – ein gravierender Fehler wäre? Ja, kommt man damit nicht all jenen Schöngeistern entgegen, die sich ohnehin nur für sogenannte formalästhetisch gelungene Kunstwerke interessieren und froh wären, wenn man jene Bilder, bei denen das Zeitgeschichtliche nun einmal nicht zu übersehen ist, als Sonderfälle behandeln würde, die eher in den Bereich der Geschichtsforschung als in den der Kunstwissenschaft oder gar einer geschmäcklerischen Art Appreciation gehören? Nichts wäre verkehrter als das. Um solchen Sehweisen entgegenzuwirken, wäre es angebracht, stets zwischen dem Politischen in einem weiteren und dem Politischen in einem engeren Sinn zu unterscheiden. Politisch in einem weiteren Sinn ist schließlich fast alles, was uns täglich begegnet oder was wir über das Alltags- und Berufsleben vergangener Zeiten wissen. Strenge Historiker würden daher zwischen „realexistierend“ und „politisch“ überhaupt keinen Unterschied machen. Politisch in einem engeren Sinne wäre dagegen im Rahmen einer eher „denkerisch“ eingestellten Sehweise nur das, was wir selbst als historisch bedeutsames Ereignis miterlebt haben oder was uns in Büchern, Bildern und anderen Dokumenten der Vergangenheit als Darstellung historisch bedeutsamer Ereignisse entgegentritt. Der Terminus „Politisches Denkbild“ ist also nur dann sinnvoll, wenn man ihn lediglich im Hinblick auf solche Kunstwerke verwenden würde, bei deren Themenstellung das jeweils Historisch-Aktuelle, wenn nicht gar „Gesellschaftlich-Eingreifende“ im Brechtschen Sinne überwiegt. Allerdings sollte das nicht in einem illustrativen Sinn verstanden werden. Kunst ist kein „Dienstmädchen der Geschichte“, wie es im Rahmen formanalytisch eingestellter Richtungen früher oft abschätzig hieß. Gesellschaftswissenschaftlich betrachtet, hat sie zwar eine relative Autonomie, die mit der ideologischen Haltung der hinter ihr stehenden Künstler und Künstlerinnen zusammenhängt, aber keine grundsätzliche Autarkie, welche jenseits aller zeitgeschichtlichen Bezüge angesiedelt wäre. Denn wer auf bestimmte historische Ereignisse mit einem gesamtgesellschaftlichen 12 Vorwort

Bewußtsein reagiert, kann gar nicht anders, als eine direkte oder indirekte Stellung dazu beziehen. Was es deshalb bei Bildern dieser Art ins Auge zu fassen gilt, ist vor allem die jeweilige Haltung, die ein bestimmter Maler oder Graphiker in seinem Werk angesichts des von ihm dargestellten politischen Ereignisses angenommen hat. Darin liegt die entscheidende Signifikanz eines „Politischen Denkbilds“. Ob diese Haltung eine rebellische, revolutionäre, kritische, utopistische, widerwillige, affirmative oder reaktionäre war, muß die jeweilige Analyse ergeben, die auch den historischen Hintergrund in ihre Betrachtung einbezieht. Ohne eine Heranziehung möglichst vieler diesbezüglicher Fakten bleibt nämlich der politisch konkrete Inhalt solcher Bilder notwendig unverstanden oder wird lediglich in einem bereits klischeehaft verfestigten Sinn wahrgenommen. Das trifft besonders auf jene Bilder zu, die sich mit dem turbulenten Verlauf der deutschen Geschichte befassen. Schließlich hat es in diesem Land während der letzten 200 Jahre so viele Regimewechsel, gescheiterte Revolutionen, Kriege, Okkupationsperioden, Spaltungen, Gebietsverluste, Vertreibungen, Ausrottungen und andere katastrophale Ereignisse gegeben, daß die damit verbundenen historischen Fakten unter jeweils wechselnden ideologischen Perspektiven immer wieder auf andere, ja manchmal auf höchst verschiedene Weise interpretiert bzw. uminterpretiert worden sind. Neben unzähligen patriotisch-revisionistischen, mythologisch-dämonologischen oder existentiell-verschleiernden Darstellungen solcher Ereignisse, gibt es darunter auch ebenso viele gesellschaftskritisch-realistische Reaktionen, die vielleicht künstlerisch weniger wertvoll sind, aber welche die eher hochkulturellen Bilder an politischer Aussagekraft zum Teil weit übertreffen. Die Fülle an derartigen „Politischen Denkbildern“, die es in der deutschen Kunst dieses Zeitraums gibt, ist allerdings in einer Monographie kaum zu überschauen, sondern läßt sich nur beispielhaft wiedergeben. Jeder, der sich ernsthaft mit solchen Bildern beschäftigt, wird sich dabei gezwungen sehen, selbst eine geschichtsbetonte Haltung einzunehmen, ohne die jede Interpretation solcher Bilder zwangsläufig im Bereich des ideologisch Unverbindlichen bliebe. Und wer wollte sich schon einem solchen Vorwurf aussetzen?

Vorwort

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Caspar David Friedrichs christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik (1806–1835)

I Es gibt wohl kaum einen deutschen Maler des 19. Jahrhunderts, dessen Ansehen heutzutage in Deutschland so groß ist wie das von Caspar David Friedrich. Ob nun seine Eiche im Schnee, sein Einsamer Baum, seine Kreidefelsen auf Rügen, sein Kreuz im Gebirge, seine Zwei Männer in Betrachtung des Mondes oder sein Wanderer über dem Nebelmeer, manche seiner Bilder haben fast die Berühmtheit des Dürerschen Hasen, des Großen Rasenstücks oder der Betenden Hände erreicht. Während die gebildete Bourgeoisie um 1900 von den deutschen Malern des 19. Jahrhunderts eher Arnold Böcklin, Anselm Feuerbach, Hans Thoma, Adolph Menzel oder Franz von Lenbach schätzte, ist es heute nur noch Friedrich, der sich weitester Popularität erfreut. Denn auf seinen Bildern finden viele Freunde älterer Kunst genau das, was für sie noch immer zum Wesen großer Malerei gehört: eine unmittelbare Anschaulichkeit und zugleich eine idealisierende Überhöhung. Bei Friedrich, glauben sie, läßt sich nicht nur die naturgetreue Wiedergabe des Vordergründigen, sondern auch der Hauch des Utopischen genießen. Angesichts der zersiedelten, verwüsteten Natur unserer eigenen Umwelt empfinden deshalb viele dieser Menschen seine Berg-, Wiesen-, Wald- und Seestücke wie eine einzige große Augenweide oder seelische Labsal. Schließlich ist auf ihnen alles noch unberührt, noch rein. Der Blick auf Friedrichs Bilder wird darum von Jahr zu Jahr immer intensiver, nostalgischer, liebevoller. Denn wo – wenn nicht bei Friedrich – gibt es noch soviel schöne Nur-Natur? Seine Landschaften gleichen Naturschutzgebieten, die noch nicht vom gräßlichen „Fortschritt“ der Industrialisierung gezeichnet sind, wo alles noch zeitlos, ewig, göttlich wirkt. Auf ihnen geht auf den ersten Blick noch nichts in die „alleszermalmende“ Geschichtlichkeit ein. Hier ist alles noch schön, problemlos, einfach da. 14 Caspar David Friedrich

Die Zahl der Friedrich-Anhänger wächst deshalb von Jahr zu Jahr. Als die Hamburger Kunsthalle 1974 eine große Gedächtnisausstellung zu Ehren seines 200. Geburtstages veranstaltete, drängte sich über eine Viertelmillion Besucher durch die Säle.1 Und dieser Erfolg blieb nicht nur auf Deutschland beschränkt. Auch die Friedrich-Ausstellung der Londoner Tate Gallery wurde von Besuchermassen geradezu überschwemmt.2 Ja, selbst in den USA, wo die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts lange Zeit zu den „Terrae incognitae“ gehörte, ist Friedrich in den letzten Jahrzehnten zu einem relativ bekannten Maler aufgestiegen. Sogar hier erscheinen seine Bilder, wie in der Bundesrepublik, plötzlich auf Buchumschlägen, Compact Discs und Plakaten. Während sich das heutige Publikum anderen deutschen Malern des 19. Jahrhunderts gegenüber recht unterschiedlich verhält: im Hinblick auf Caspar David Friedrich sind sich alle einig. Er gilt momentan bei vielen als der bedeutendste Landschaftsmaler aller Zeiten, als der neue Friedrich der Große. Aufgrund dieser Verkultung sind seine Gemälde zu nostalgischen Identifikationsobjekten geworden, die so sehr enthistorisiert werden, daß man sie quasi „naturhaft“, das heißt jenseits aller konkreten Geschichtlichkeit genießen kann. So viel zu der erstaunlichen Breitenwirkung, die Friedrichs Bilder heutzutage haben. Es ist daher umso bemerkenswerter, daß sich die Wissenschaftler über Friedrich alles andere als einig sind. In ihren Kreisen ist Friedrich so umstritten wie kaum ein anderer deutscher Maler des 19. Jahrhunderts, da seine Bilder eben nicht nur Landschaften darstellen, sondern zugleich eine Fülle mehr oder minder geheimnisvoll verschlüsselter Symbole oder Allegorien enthalten, deren Deutung die Kunsthistoriker, Historiker, Politologen und Germanisten nun schon seit vielen Jahrzehnten in Atem hält. Der Streit um diese emblematischen Chiffren begann bereits im Jahr 1808, als Friedrich zum ersten Mal mit einem Gemälde an die Öffentlichkeit trat. Es handelte sich dabei um den sogenannten Tetschener Altar, auch Kreuz im Gebirge genannt, ein Bild, das damals in Dresden ausgestellt wurde und ungewöhnliche Furore machte. Während die Vertreter des klassizistischen Hof- und Adelsgeschmacks dieses Bild als zu „dunkel“ und „mystisch“, sprich: nationalistisch angriffen, verteidigten es antinapoleonische „Patrioten“ wie Gerhard von Kügelgen, August Rühle von Lilienstern und Ferdinand Hartmann als Ausdruck einer Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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neuen deutschen Seelenhaltung.3 Ähnlich positiv äußerten sich kurz darauf Clemens Brentano und Heinrich von Kleist über Friedrichs Hünengräber und seinen Mönch am Meer, die sie wegen ihrer romantischen Sehnsucht nach einem verlorenen Vaterland bewunderten.4 Kein Wunder also, daß die antipatriotisch eingestellten Kreise gerade diese Elemente besonders oft aufs Korn nahmen. Immer wieder war es das Romantische oder das Nationale, das die höfisch-klassizistisch orientierten Kritiker an seinen Bildern bemängelten. Wohl der schärfste Angriff kam von Seiten Johann Wolfgang von Goethes und Heinrich Meyers in ihrem Aufsatz Neudeutsche religiös-patriotische Kunst.5 Neben Philipp Otto Runge, Peter Cornelius, Ferdinand Hartmann, Gerhard von Kügelgen und Friedrich Overbeck wird hier vor allem Friedrich, den Goethe anfangs sehr geschätzt hatte, als mystischdüster verteufelt und ihm angeraten, lieber „Werke heiteren Sinnes zu verfertigen“, die „angenehm in die Augen fallen“.6 Privat äußerte sich Goethe sogar noch schärfer. So behauptete er am 11. September 1815 Sulpiz Boisserée gegenüber, daß er Friedrichs Gemälde am liebsten „an der Tischecke zerschlagen“ würde.7 Und Goethe stand mit dieser Meinung nicht allein da. Vor allem nach 1817, nach dem Wartburgfest, als die „Demagogenverfolgung“ einsetzte, empfahlen die Vertreter der Metternichschen Restauration den ehemaligen Patrioten der Befreiungskriege immer wieder, endlich auf ihre „Jugendträume“, das heißt ihre Sehnsucht nach nationaler Einheit und sozialer Gleichstellung, zu verzichten. So rieten etwa die konservativen Blätter für literarische Unterhaltung dem durch die Wendung ins Dynastisch-Reaktionäre zutiefst enttäuschten Friedrich, ein „patriotisches“ Bild wie Huttens Grab „künftig nicht mehr nach den Ausstellungen zu versenden“, um sich nicht den Zorn der antinationalistisch gesinnten Fürsten aufs Haupt zu ziehen.8 Friedrich, der während der Befreiungskriege als Maler einer nationaldemokratischen Sehnsucht nach einem deutschen Einheitsstaat rasch bekannt geworden war, geriet daher nach 1815 ebenso rasch ins politische und kulturelle Abseits. Statt die ihm anempfohlene Wendung ins Antidemokratische oder Biedermeierlich-Heitere zu vollziehen, machte er Front gegen die Metternichsche Restauration, indem er ein Bild der gescheiterten Hoffnung nach dem anderen malte. Doch für solche Werke war nach dem Wiener Kongreß und den Karlsbader Beschlüssen kein Bedarf mehr. Und so starb Friedrich 1840 16 Caspar David Friedrich

völlig verarmt und verbittert inmitten einer gewandelten Welt, die ihn kaum mehr wahrnahm. Wiederentdeckt wurde Friedrich erst um 1900, und zwar durch den norwegischen Kunsthistoriker Andreas Aubert, den Kunstwart und die berühmte Jahrhundertausstellung in Berlin. Und wieder entspann sich um sein Œuvre sofort eine heftige Kontroverse. Während ihn die Ästheten wegen seiner Nebel- und Wolkenbilder als einen Vorläufer des Impressionismus hinstellten, versuchten ihn die national gestimmten Kreise für eine imperialistische Stimmungsmache gegen die Franzosen zu mobilisieren, was vor allem im Jahr 1913, als die chauvinistisch-verfälschende Jahrhundertfeier der Befreiungskriege mit großem Gepränge über die Bühne ging, zu einer merklichen Friedrich-Hausse führte. In den zwanziger Jahren war es dann die geistesgeschichtlich orientierte Romantik-Forschung, die Friedrich vor allem für ihre Tendenz ins Stimmungshafte, Entgrenzende, Verinnerlichte zu vereinnahmen suchte. In ihren Publikationen ist daher im Hinblick auf seine Bilder ständig von Ich und Universum, unendlicher Landschaft, andächtiger Frömmigkeit und ähnlichen Verschwommenheiten die Rede.9 Von dort war es nach 1933 nur ein kleiner Schritt zu einer fortschreitenden Nationalisierung solcher Konzepte, durch die aus dem „unendlichen Raum“ und der „romantischen Beseelung“ schließlich der „nordische Raum“ und die „germanische Beseelung“ wurden, wobei sich neben Kurt Karl Eberlein, der 1940 den repräsentativen Friedrich-Band zur 100. Wiederkehr seines Todes herausgab, auch Hans Friedrich Blunck, Hermann Göring, Bettina Feistel-Rohmeder und Gustav Friedrich Hartlaub als Vertreter dieser nordischen Perspektive „auszeichneten“. Durch diese konsequente „Aufnordung“ war es nach 1945 fast etwas peinlich, sich erneut mit Friedrich zu beschäftigen. Die ersten, die sich auf diesem Gebiet vorwagten, waren die Historiker und Kunsthistoriker der DDR, die im Rahmen einer positiven Bewertung der Befreiungskriege auch die patriotisch-freiheitlichen Aspekte in Friedrichs Werk hervorhoben. Als Vertreter einer solchen Gesinnung wurde dabei neben Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und Theodor Körner auch auf Caspar David Friedrich hingewiesen.10 In der ehemaligen Bundesrepublik verlief dagegen die Entwicklung im Hinblick auf Friedrich nicht so glatt. Hier herrschte nach 1945 erst einmal ein betretenes Schweigen. Und als sich die dortigen Kunsthistoriker wieder über ihn Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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zu äußern begannen, achteten sie darauf, den patriotischen Elementen in seinem Œuvre möglichst aus dem Wege zu gehen und beschränkten sich entweder auf restaurativ-christliche oder formalistisch-abstrakte Deutungsaspekte. Als Vertreter der Interpretatio christiana machte sich hier vor allem Helmut Börsch-Supan einen Namen, der alle Friedrichschen Bildmotive auf eindeutig religiöse Allegorien zu reduzieren versuchte, während er jede „ideologische“ Deutung dieser Motive als „unwissenschaftlich“ verwarf.11 Doch solche Thesen erfuhren nach 1960 bei den Liberalen eine deutliche Ablehnung,12 die ihn meist als „Vorläufer der Moderne“ charakterisierten und ihn damit in eine Ahnenreihe stellten, die ihre letztendliche Erfüllung in den abstrakten Gemälden Wassily Kandinskys, Lyonel Feiningers und Piet Mondrians gefunden habe.13 Neben diesen christlichen sowie modernistisch eingefärbten Sehweisen machten sich in der BRD jedoch seit den siebziger Jahren in Sachen Friedrich auch wieder politische Interpretationsansätze bemerkbar. Die neulinke Friedrich-Forschung rückte dabei vor allem die wilhelminische und faschistische Vereinnahmung Friedrichs in den Vordergrund. Doch nicht nur die Rezeption, auch die subjektive Intention der Friedrichschen Bilder wurde in diesem Lager zusehends in Frage gestellt und auf die kleinbürgerliche Begrenztheit von Friedrichs Ideologie und Kunstauffassung zurückgeführt.14 Trotz aller antifeudalistischen „Radikalität“, hieß es hier, sei es bei ihm nie zu einer „dialektischen Beziehung zwischen objektivem Prozeß und subjektiver Tätigkeit“ gekommen.15 Statt auf seinen Bildern das Politisch-Eingreifende zu akzentuieren, habe sich Friedrich weitgehend auf die Rolle eines passiven „Zuschauers“ beschränkt und sei dadurch schließlich der „Isolierung“, „Melancholie“ und „Depression“ verfallen.16 Doch diese Sehweise machte nur wenige Jahre von sich reden. Seit den späten siebziger Jahren setzte – im Zuge der sogenannten Postmoderne – auch in der Friedrich-Forschung eine steigende Entideologisierung ein, die gerade den Verzicht auf jede allzu eindeutige, als ideologisch zu verstehende Festlegung als das eigentlich Bedeutsame an Friedrichs Kunst hinstellte. Daher spricht man seitdem lieber von der Polyinterpretabilität, Chiffriertheit, Mehrfachkodierung oder Widersprüchlichkeit der Friedrichschen Bilder, die lediglich „Metaphern von Fragehaltungen“ seien, wie es bei Werner Hofmann heißt, „in denen der 18 Caspar David Friedrich

Mensch nicht irgendein Einssein, sondern ein Anderssein“ erfährt.17 Während also die bisherigen Richtungen innerhalb der Friedrich-Forschung vor allem das Patriotische, Romantische, Religiöse, Chauvinistische, Formalistische oder Kleinbürgerlich-Resignierende herausstellten, löste sich im Rahmen dieser Betrachtungsweise seiner Bilder alles in einen zeichenhaften Beziehungsreichtum auf, der weitgehend im Rätselhaften verharrt und daher kaum noch vor einem historischen Hintergrund interpretiert zu werden braucht. Und daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

II Statt in einer solchen Posthistoire-Stimmung zu verharren, sollte sich die Friedrich-Forschung in Zukunft wieder stärker mit den politischen, kulturellen und ideologischen Voraussetzungen seiner Malerei beschäftigen, die bei der Herausbildung des deutschen Nationalismus im Zeitalter der Befreiungskriege, des Wilhelminismus und des Dritten Reichs eine nicht zu übersehende Rolle gespielt haben. Die These vom „Romantiker“ Friedrich, der sich in die Werke eines Novalis oder Friedrich Schlegel vertieft habe, ist wohl seit den Forschungen Rudolf Zeitlers nicht mehr zu halten.l8 Friedrich war ein einfacher Greifswalder Handwerkersohn, der aus jener protestantisch-empfindsamen Tradition stammte, deren Ursprünge weit in das 18. Jahrhundert zurückreichen. Auch seine deutsch-patriotische Haltung war nicht romantischer Natur, sondern knüpfte eindeutig an die vaterländische Stimmung der Pietisten des 18. Jahrhunderts an.l9 Wie bei Friedrich Gottlieb Klopstock vermischten sich daher bei ihm das Christliche und das Germanische im Laufe der Jahre immer stärker zu austauschbaren Werten, die schließlich zu christgermanischen Einheitsvorstellungen verschmolzen. Ob nun der Messias oder Hermann der Cherusker, beide wurden von Klopstock und Friedrich mit der gleichen Inbrunst „erinnert“. Ihre Werke sind deshalb voller Denkmal-, Nacht- und Gräberstimmungen, in denen der Untergang der herrlichen Vorzeit betrauert wird, aber zugleich christgermanische Zukunftserwartungen aufschimmern. Das uralte Motiv von Tod und Auferstehung ist darum bei ihnen sowohl religiös als auch vaterländisch gemeint. Der Messias hat für sie die Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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Menschheit von der Sünde, Hermann die Germanen von der welschen Tyrannei befreit. Der Märtyrer und der Soldat: beide haben für Klopstock und Friedrich für eine „heilige“ Sache geblutet – der eine auf dem Altar des inneren, der andere auf dem Altar des äußeren Vaterlands. Von ähnlicher Bedeutung waren für Friedrich die Werke der Dichter des Göttinger Hains mit ihren wuterfüllten Entladungen gegen die Franzosen und katholischen Götzendiener, denen sie mit der Hoffnung auf die Wiedererweckung des alten Hermannsgeistes in Deutschland entgegentraten. In ihren Gedichten ist daher einerseits ständig vom Harz als dem deutschen Olymp, der deutschen Eiche, den Gräbern der Altvordern, dem deutschen Landleben, der längst fälligen Rückkehr zur Urvätersitte, von Vaterlandshelden wie Hermann, Tell, Hutten, Gustav Adolf und Klopstock, von deutscher Tugend, deutscher Treu und Redlichkeit, ja Opfer- und Todesbereitschaft fürs heilige Vaterland – und andererseits von welscher Tücke, schmeichlerischem Intrigantenwesen, Prunksucht und buhlerischer Liederlichkeit die Rede. Kurzum: Tugend steht hier gegen Wollust, Germania gegen Lutetia – als dränge alles bereits auf einen Befreiungskrieg der „Söhne Teuts“ gegen die verderbenbringenden Römlinge und Franzosen hin, die sich auch an den deutschen Höfen in Form „gallisch parlierender“ Intriganten und Mätressen breit zu machen versuchten.20 Mit diesen ersten Anhaltspunkten dürften wenigstens einige politische und religiöse Voraussetzungen für Friedrichs Schaffen klar geworden sein. Doch all das hätte sicher nicht zu jener besonderen Form seiner Landschaftsmalerei geführt, wenn nicht noch ein ihn erschütterndes historisches Faktum dazugekommen wäre. Und das waren die Ereignisse des Jahres 1806, das heißt die schmähliche Niederlage der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt, die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die fortschreitende Okkupation deutscher Territorien durch die französischen Besatzungstruppen unter Napoleon. All das führte in Deutschland bekanntermaßen zum ruckartigen Anschwellen einer antinapoleonischen Freiheitsbewegung, die nicht allein auf die Gebildeten beschränkt blieb, sondern im Laufe der Jahre immer breitere Schichten der Bevölkerung ergriff, bis sie sich 1813 zu einer wahren Lawine steigerte und schließlich in den Befreiungskrieg mündete.

20 Caspar David Friedrich

Friedrich wühlten die Ereignisse des Jahres 1806 so auf, daß er erst einmal eine Weile das Bett hüten mußte.21 Doch andererseits führten gerade diese nationalen Schicksalsschläge dazu, daß Friedrich, zweiunddreißigjährig, seinen bis dahin recht tastenden malerischen Bemühungen ein ideologisches Telos geben konnte: nämlich die politisch sakralisierte deutsche Landschaft. Während er bis 1806 fast ausschließlich vedutenhaft gemalt und gezeichnet hatte, rückten jetzt mit einem Schlage eher monumental gesehene Darstellungen spezifisch deutscher Landschaften (Rügen, Harz, Elbsandsteingebirge, Riesengebirge) in den Mittelpunkt seines bildnerischen Schaffens. Ja, alle diese Landschaften stattete er obendrein mit spezifisch nationalen Attributen (Eichen, Hünengräbern, gotischen Ruinen) aus, die an politischer Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Französisches lehnte Friedrich von diesem Zeitpunkt an immer schroffer ab. So bat er seinen Bruder Christian, der sich 1808 in Paris aufhielt, ihm doch erst wieder zu schreiben, wenn er nach Deutschland zurückgekehrt sei, da er aus Frankreich keinen Brief empfangen wolle.22 In dieser Hinsicht huldigte er dem gleichen forcierten Deutschheitskult, wie ihn viele Vertreter der christgermanischen Tradition vertraten, zu denen in Dresden vor allem Patrioten wie Theodor Körner und die Mitglieder des Kleist-Kreises gehörten. Was Friedrich in den folgenden Jahren malte, sind daher alles andere als harmlose Landschaftsbilder, sondern patriotisch durchglühte Allegorien von Tod und Auferstehung, die genau in die bereits aufgezeigte pietistisch-vaterländische Ahnenreihe gehören. Daß sie auf viele der heutigen Betrachter so geheimnisvoll verschlüsselt wirken, hängt nicht nur mit dem zeitlichen Abstand, sondern auch mit der damals auf Deutschland lastenden Zensur zusammen, die jeden offen antifranzösischen Ausdruck geradezu unmöglich machte. Dennoch ist Friedrichs Zeichensprache keineswegs so chiffriert, daß sie nicht als politisch zu erkennen wäre. Unter dem Druck von Zensur entwickeln sich immer Geheimcodes, die von jenen, die unter solchen Maßnahmen zu leiden haben, ohne weiteres zu entschlüsseln sind. Versuchen wir darum, Friedrichs frühe Gemälde einmal mit den Augen jener patriotisch gestimmten Zeitgenossen zu betrachten, für die diese Bilder bestimmt waren. Wohl die deutlichsten Beispiele der nationalen Tod- und Auferstehungsprogrammatik liefern folgende seiner Hauptwerke aus diesem Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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Zeitraum: Hünengrab am Meer (1806–1807), Hünengrab im Schnee (1807), Das Kreuz im Gebirge (1808), Mönch am Meer (1808–1809) und Abtei im Eichenwald (1809). Was diese Bilder gemeinsam haben, ist genau jenes „neudeutsche, religiös-patriotische“ Element, wie es Goethe und Heinrich Meyer 1817 verächtlich nannten. Es wäre daher gleichermaßen falsch, entweder nur die christliche beziehungsweise nur die patriotische Komponente dieser Bilder zu betonen. Alle diese Werke sind spezifisch christgermanisch, indem sie im Kampf gegen Napoleon, den welschen Antichristen, eine Tod- und Auferstehungsstimmung beschwören, die sich vornehmlich auf das stützt, was Friedrich und andere Patrioten dieser Jahre als typisch deutsche Seelenhaltungen empfanden: das Germanische, Nordische, Ossianische, Mittelalterliche, Gotische, Altdeutsche, Dürerzeitliche, Huttensche und Lutherische. In all dem sahen sie Mahnmale und Garanten untergegangener, aber weiterschlummernder deutscher Kraft und Stärke, die es im Kampf gegen die französische Fremdherrschaft wiederzuerwecken gelte. Das Grab Christi oder das Hünengrab, das Kreuz von Golgatha oder das Eiserne Kreuz, die Pfeiler und Kreuzrippengewölbe gotischer Kirchen oder die Stämme und Äste der Eichbäume: in diesem Blickfeld wurde – wie schon bei Klopstock – alles austauschbar und intensivierte sich wechselseitig.

III Beginnen wir mit dem nordischsten seiner Motive: dem Hünengrab. Friedrich hat insgesamt 20 Hünengräber gemalt, also dieses Motiv besonders hochgeschätzt. Anlaß dazu waren neben den 200 Hünengräbern, die es damals noch auf Rügen und in Vorpommern gab, sicher die Gedichte des Rügensehen Strandpfarrers Ludwig Theobul Kosegarten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in denen er Rügen immer wieder als eine christgermanische Landschaft der „Grabmäler und Opfersteine“ besang.23 Wohl den besten Ausdruck dieser Gesinnung bildet sein Gedicht Das Hünengrab von 1788, das in seiner klopstockisierenden Manier bereits viele Elemente der Friedrichschen Hünengräberstimmungen vorwegnimmt. In ihm sitzt das lyrische Ich zwischen großen „moosbedeckten Steinen“ unter drei „rauschenden Eichen“ und 22 Caspar David Friedrich

gedenkt der „Helden“ der Vorzeit, die hier ihr Leben für das „Vaterland“ opferten, ja hofft darauf, daß sie eines Tages wiederauferstehen mögen, um den „Söhnen der Freien“, denen die Ausländer das Joch der „Knechtschaft“ übergeworfen haben, bei ihrem Freiheitskampf zur Seite zu stehen.24 Im Anschluß an solche Gedichte, wie auch Klopstocks Ode Der Hügel und der Hain, wo an die Stelle des Lorbeers erstmals die Eiche tritt, wurde so der Eichbaum unter den Patrioten dieser Ära immer stärker zum Sinnbild deutscher Stärke, Dauerhaftigkeit, Beharrlichkeit und Tapferkeit, wenn nicht zum deutsch-heroischen Baum schlechthin.25 Allenthalben beschwor man in dieser Zeit wieder die Erinnerung an die alten Donar- oder Donnereichen, in denen für Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende der Gott Thor gewohnt haben soll, bevor sie den frevlerischen Äxten der Bonifatius-Anhänger zum Opfer gefallen seien.26 Der Ausdruck „Treu wie deutsche Eichen“ wurde darum im Hinblick auf diese „nordischen Riesen“, in denen alle damaligen Patrioten Symbole des germanisch-deutschen Freiheitswillens sahen, geradezu sprichwörtlich. Nicht nur Klopstock, Kosegarten und die Mitglieder des Göttinger Hains, auch Johann Gottfried Herder, Friedrich Hölderlin, Christian Friedrich Daniel Schubart und dann Ernst Moritz Arndt, Theodor Körner und Ludwig Uhland besangen damals die Würde der deutschen Eichen. Kein Wunder also, daß auch bei Friedrich die Eiche häufig genug als „nordischer Riese“ erscheint, und zwar meist entlaubt, mit abgebrochenen Ästen oder mit Schnee bedeckt, um den Winter der Fremdherrschaft anschaulich zu machen. Fast die gleiche Bedeutung haben die gotischen Kirchenruinen auf Friedrichs Bildern der gleichen Jahre. Sie stehen meist in durch die Kälte des Winters erstarrten, entlaubten, schneebedeckten Eichenhainen und sind zudem mit verwüsteten Grabmälern umgeben, um auf die Schändung der Vergangenheit und zugleich die Möglichkeit eines Jüngsten Gerichts hinzuweisen. Ja, hinter einigen dieser Ruinen schimmert – wie hinter manchen Hünengräbern oder einzelstehenden Eichbäumen – ein fahler Morgenhimmel, in dem sich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft anzudeuten scheint. Und so dominiert auch hier die gleiche Tod- und Auferstehungsthematik, die für die gesamte „vaterländisch“ gesinnte Richtung dieser Jahre bezeichnend ist. Daß dabei die Ruinen stets „gotische“ Ruinen sind, mußte von den Zeitgenossen als Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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ebenso patriotisch aufgefaßt werden wie die Hünengräber und die Eichen. Schließlich galt die Gotik damals noch weithin als der germanisch-deutsche Stil im Gegensatz zum romanisch-klassizistisch-renaissancehaften Stil der „welschen“ Völker. Und in diesem Sinne muß selbst Friedrichs bekanntestes Bild dieser Jahre, das Kreuz im Gebirge oder der Tetschener Altar von 1808 gesehen werden, wo es sich um eine deutsche Wald- und Felslandschaft mit einem einsam in den Himmel ragenden Kreuz handelt, die durch einen von Friedrich selbst entworfenen neugotischen, altarähnlichen Rahmen eingefaßt wird. Für patriotisch gestimmte Betrachter war die Bedeutung dieses Bildes keineswegs rätselhaft. Bis ins letzte Detail dominiert hier das eindeutig „Teutsche“: die gotischen Pfeiler sollen wie Baumstämme wirken, die Bäume und Felsen sind unverkennbar als deutsche Bäume und Felsen dargestellt, die aufgehende Sonne hinter dem Kreuz symbolisiert die Hoffnung auf eine ideologische Morgenröte. Obendrein befindet sich im Zentrum der Predella ein weit geöffnetes Auge mit einem Strahlenkranz, das den Beschauer geradezu apodiktisch auffordert: „Wer Augen hat zu sehen, der sehe!“ So betrachtet, gehen bei diesem Bild Freiheitsverlangen und Gottesfurcht, Deutsch-Germanisches und Christliches, Patriotisches und Pietistisches eine untrennbare Synthese ein. Es ist vaterländisch im religiösen und im altdeutsch-dürerzeitlichen Sinn, indem es die Trauer um den Opfertod Christi und zugleich um das untergegangene Deutsche Reich ausdrückt. In diesem Sinne stellt es die totale Eindeutschung der alten Tod- und Auferstehungsthematik dar. Auf ihren tiefsten Sinn befragt, kommt in Bildern dieser Art ein Freiheitsverlangen zum Ausdruck, das auf dem Prinzip der revolutionären Rückumwälzung („revolutio“) zu einer besseren Vergangenheit beruht. Hier wird Freiheit vornehmlich als Wiederherstellung der altdeutschchristlichen Zustände gefeiert, das heißt als Begleiterscheinung und zugleich als Gegenbewegung zur Französischen Revolution, die sich ideologisch ebenfalls als Rückumwälzung, und zwar zu antikisch-republikanischen Vorstellungen empfunden hatte und deren radikalste Vertreter – wie Maximilien Robespierre, Louis-Antoine de Saint Just und François-Noël Babeuf – für dieselbe gleichmacherische Tugend einzutreten versuchten. Im Gefolge solcher Vorstellungen verstand auch Friedrich unter Befreiungskampf vor allem die Wiederherstellung eines 24 Caspar David Friedrich

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Caspar David Friedrich: Das Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar) (1807/08). Gal. Nr. 2197 D. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Gemäldegalerie Neue Meister in Dresden.

Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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freien, sittenreinen Deutschtums à la Tacitus, wenn auch mit einem deutlichen Einschlag protestantisch-pietistischer Spiritualisierung. Hierin äußerte sich ein kleinbürgerliches Selbstbewußtsein, das aufgrund seiner christgermanischen Tugend, ja prononcierten Keuschheit dem Adel und den Welschen, welche ihm als Inkarnationen des Gottlosen, Zynischen und Frivolen erschienen, wenn schon nicht politisch oder sozial, so doch wenigsten moralisch überlegen sein wollte. Es waren darum Männer wie Friedrich, die es als beschämend, aber logisch empfanden, daß die deutschen Fürsten und der höhere Adel mit den eingedrungenen Franzosen größtenteils bereitwillig kollaborierten, anstatt ihr nationales Rückgrat unter Beweis zu stellen. Kein Wunder also, daß sich der Freiheitswille Friedrichs wie auch der anderen Patrioten dieser Jahre immer wieder ins forciert Nationalistische überschlug und sich das letzte Heil allein von einem deutsch gebliebenen „Volk“ versprach. Doch um solche Gefühlen freien Lauf lassen zu können, mußten erst noch einige Jahre ins Land gehen. In der Zeit zwischen 1806 und 1813 trat diesem revolutionären Änderungswillen immer wieder eine strikte Zensurschranke entgegen. Sowohl die französischen Besatzungsbehörden als auch die deutschen Fürsten duldeten in diesem Zeitraum keinerlei nationale Regungen. Also sublimierten die wahren Patrioten ihre Gefühle immer wieder ins Germanische, Altdeutsche oder Protestantisch-Christliche, da sie weder ihrem Klassenhaß noch ihrem Franzosenhaß einen offenen Ausdruck verleihen konnten. Erst 1813, mit dem Ausbruch der Befreiungskriege, änderte sich diese Situation. Jetzt konnte sich alles, was bisher nur im Verborgenen geschwelt hatte, endlich offen äußern. Und es zeigte sich, daß die patriotische Gesinnung bereits so verbreitet war, daß sie immer größere Schichten in ihren Bann schlug. Tausende, ja Zehntausende wollten plötzlich das drückende Franzosenjoch abwerfen und in einen Krieg ziehen, der nicht nur Deutschland, sondern auch ihnen die erhoffte Freiheit bringen würde. Der Krieg von 1813 war deshalb in vielem ein „halber Insurrektionskrieg“, wie Friedrich Engels später an Karl Marx schrieb, in dem „die deutsche Nation seit Jahrhunderten wieder zum ersten Mal sich erhob und auswärtiger Unterdrückung in ihrer ganzen Kraft und Größe entgegenstellte“.27 Unter den patriotisch gestimmten Intellektuellen verbreitete sich daher in diesem Jahr fast die Stimmung eines Kreuzzugs für die Freiheit, 26 Caspar David Friedrich

in dem Gott auf der Seite des deutschen Heeres steht und diesem Land nach dem Sieg über die Franzosen eine neue, freiheitliche Verfassung geben wird, wie es bei Ernst Moritz Arndt heißt.28 „Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen“, sang der Lützower Jäger Theodor Körner, der in diesem Krieg sein Leben opferte, „es ist ein Kreuzzug, ’s ist ein heiliger Krieg.“29 Nationalismus, Freiheitsverlangen und religiöse Aufbruchsstimmung sind demzufolge in der Ideologie der Befreiungskrieger manchmal kaum voneinander zu trennen. Viele sprachen damals von einer einheitlichen Volksverfassung, einer einheitlichen Schulbildung, ja sogar von einer einheitlichen Tracht für alle Deutschen,30 um so schon im äußeren Erscheinungsbild auf die neu gewonnene Gemeinsamkeit hinzuweisen. Im Gegensatz zur französischen Hof- und Großstadtkultur setzten diese Schichten dabei „deutsch“ gern mit bieder, ländlich, gemütvoll, keusch, freiheitsliebend und gemeinschaftsbetont gleich, wobei manche zur Legitimation solcher Theorien bis zur Germania des Tacitus zurückgriffen. Und einer der radikalsten dieser „Vaterlandsfreunde“ war Friedrich, der damals in Dresden vor allem Körner, Arndt und den Mitgliedern des Kleistschen Phoebus-Kreises nahestand. Allerdings fühlte er sich 1813 schon zu alt, um noch selber zu den Waffen zu greifen. Dafür unterstützte er seinen Schüler Georg Friedrich Kersting bei dessen Vorhaben, sich wie Körner den Lützower Jägern anzuschließen. Auf Friedrichs Bildern dieses Jahres spürt man diesen Geist am stärksten in jener Fichtenstudie, welche die patriotische Aufschrift trägt: „Rüstet Euch heute zum Kampfe Teutsche Männer, Heil Euren Waffen.“31 Doch bereits kurz darauf wurden seine Werke wesentlich gedämpfter, da sich schon 1814, anläßlich des Ersten Pariser Friedens, deutlich abzeichnete, daß nicht die Völker, sondern die Fürsten aus diesem Kriege als Sieger hervorgehen würden. Was daher auf Friedrichs Bildern ab 1814 vorherrscht, ist eher die Trauer um die Gefallenen als die Freude über den errungenen Sieg. Dafür spricht sein Bild Gräber gefallener Freiheitskrieger aus dem Jahre 1812, auf dem vier Gräber in einer Felsenschlucht zu sehen sind, welche folgende Inschriften tragen: „Arminius“, „Friede Deiner Gruft / Retter in Not“, „Edler Jüngling Vaterlands-Erretter“ und „Des edel Gefallenen für Freiheit und Recht“. Einen ähnlichen Charakter hat das Bild Das Grab des Arminius von 1814, das wiederum einen Sarkophag in einer Felsschlucht darstellt, der diesmal die Aufschrift Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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trägt: „Deine Treue und Unüberwindlichkeit als Krieger sei uns ewig ein Vorbild“. Außerdem schwebte ihm im gleichen Jahr ein Denkmal für den 1813 gefallenen preußischen General Gerhard von Scharnhorst vor, das jedoch unausgeführt blieb. Friedrich schrieb nach dem Scheitern dieses Plans an Arndt: „Ich wundre mich keineswegs, daß keine Denkmäler errichtet werden, weder die, so die große Sache des Volkes bezeichnen, noch die hochherzigen Taten einzelner deutscher Männer. Solange wir Fürstenknechte bleiben, wird auch nie etwas Großes der Art geschehen. Wo das Volk keine Stimme hat, wird dem Volk auch nicht erlaubt, sich zu fühlen und zu ehren.“32 Doch es sollte noch schlimmer kommen. Nichts war nach 1815 so verpönt wie der Begriff „autonomes Volk“. Was jetzt triumphierte, war die weitgehende Wiederherstellung des Ancien régime. Wer gegen diese restaurative Tendenz aufmuckte und sich zu den Idealen des Befreiungskrieges bekannte, wurde daher von den Höfen und ihren Handlangern sofort als „Demagoge“ verdächtigt. So sah sich Joseph Görres, der sich aktiv für die Freiheit des Volkes eingesetzt hatte, schon sehr früh gezwungen, in die Schweiz zu fliehen. Bei anderen „Freiheitshelden“ wartete das System nur auf einen Anlaß, um energisch durchgreifen zu können. Und dieser Anlaß wurde ihm leider nur allzuschnell geboten, und zwar durch den Theologiestudenten Carl Sand, der 1819 den Hofrat August von Kotzebue ermordete, welcher ein Jahr zuvor die deutschen Universitäten – im Hinblick auf das aufmüpfige Verhalten der 1815 von ehemaligen Befreiungskriegern gegründeten Burschenschaft – als „Brutstätten der Revolution“ bezeichnet hatte. Darauf geschah, was in einer solchen Situation geschehen mußte. Nicht nur die Burschenschaft wurde verboten, sondern alles, was an die Befreiungskriege erinnerte: die schwarz-rot-goldnen Embleme der Lützower Jäger, die altdeutschen Röcke und die Bekenntnisse zu einem vereinigten Deutschland. Der Turnvater Jahn wurde noch im gleichen Jahr verhaftet und dann bis 1840 unter Polizeiaufsicht gestellt. Arndt mußte kurze Zeit später seinen Bonner Lehrstuhl aufgeben. Andere Patrioten wurden solange bespitzelt oder unter Druck gesetzt, bis sie es vorzogen, sich der Harmlosigkeit des herrschenden Biedermeier-Geistes anzupassen, sich in einen stillen Winkel zu verkrümeln oder schlimmstenfalls Deutschland zu verlassen.

28 Caspar David Friedrich

Nicht so Caspar David Friedrich. Er hatte zwar das Glück, im Jahre 1816 – als die politische Stimmung noch relativ günstig war – eine kleinere Stelle an der Dresdener Akademie zu erhalten, doch mit seinen Bildern konnte er nach 1815 keine großen Geschäfte mehr machen. Wer kaufte schon in den folgenden Jahren noch entlaubte Eichen, trotzig aufragende Felsen, gotische Ruinen oder düstere Friedhofsszenen? Die jungen Studenten hatten kein Geld für solche Bilder, und die adligen oder großbürgerlichen Sammler wandten sich lieber idyllischeren Themen zu. Aus diesem Grund verfiel Friedrich immer stärker in den Zustand der Verbitterung, der Melancholie, ja des bösen Grübelns. Dementsprechend schrieb er am 11. Juli 1816 an den Maler Johann Ludwig Lund: „Ich bin eine Zeitlang faul gewesen und fühlte mich durchaus untüchtig, etwas zu machen. Von innen heraus wollte nichts fließen; ich war leer; von außen wollte mich nichts ansprechen, ich war stumpf, und so glaubte ich denn am besten zu tun, nichts zu tun. Was nützt uns am Ende das Arbeiten, wenn nichts damit gemacht ist.“33 Aber er malte dennoch weiter, ohne sich in irgendeiner Weise zu ändern. So arbeitete er 1817 – neben Landschaften – an dem Bild Schwert als Kreuz im Gebirge, das noch völlig den Geist der Befreiungskriege zu atmen scheint, aber leider verschollen ist. Im gleichen Jahr begann er mit Plänen zur Wiedereinrichtung der Stralsunder Marienkirche, wohl seinem ehrgeizigsten neogotischen Projekt dieser Jahre, mit dem er sich zu der Gesinnung bekennen wollte, daß vor Gott alle Menschen „gleich sind“.34 Als sich dieser Plan nicht verwirklichen ließ, malte er 1818 einen gotischen Traumdom, der hoch in den Wolken schwebt und zum Teil an den Gedanken jenes deutschen Nationaldoms erinnert, den Karl Friedrich Schinkel 1814/15 für die gefallenen Helden der vergangenen Kriege errichten wollte. Doch, wie gesagt, alle diese Pläne erwiesen sich – angesichts der um ihre Throne bangenden Fürsten – als unrealisierbar. Dennoch gab sich Friedrich nicht völlig geschlagen. Das beweist unter anderem seine monumentale Klosterruine im Schnee, entstanden 1817, die mit ihren gotischen Ruinen, ihren verwitterten Eichen, ihren geborstenen Kreuzen, ihrem Trauerzug der Mönche und ihrer Eiseskälte geradezu alle Embleme einer nationalreligiösen Hoffnungslosigkeit auf einem Bild vereint, wo jedoch am Altar ein protestantischer Geistlicher mit einem weißen Bäffchen steht,

Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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2 Caspar David Friedrich: Klosterruine im Schnee (1817), Kriegsverlust

in dem sich auf völlig anachronistische Weise die Zukunft zu verkörpern scheint. Ja, auf manchen Bildern wagte Friedrich sogar, weiterhin auf unmittelbar Politisches anzuspielen. Dazu gehört vor allem die altdeutsche Tracht, die fast alle seine Figuren ab 1816 tragen. Hierzu muß man wissen, daß diese Tracht von den Fürsten höchst ungern gesehen wurde und nach 1819 in manchen Ländern und Städten, darunter Dresden, offiziell verboten wurde. Als man daher Friedrich 1820 fragte, was denn die altdeutsch gekleideten Figuren auf seinem Bild Zwei Männer in Betrachtung des Mondes eigentlich im Sinne hätten, erklärte er lakonisch: „Die machen demagogische Umtriebe.“35 Selbst die Befreiungskriegsthematik taucht auf seinen Bildern immer wieder auf. So malte Friedrich 1820 ein Gedächtnisbild für einen gefallenen Soldaten der Befreiungskriege, das jedoch leider nicht mehr existiert. Was sich dagegen erhalten hat, ist das Bild Huttens Grab aus dem Jahr 1823. Auf ihm steht in der gotischen Kirchenruine Oybin ein trauernder Burschenschaftler mit Barett, Wanderstab, Säbel und Tracht der Freiheitskriege, der sich über das Grab Huttens beugt, das nicht nur den 30 Caspar David Friedrich

Namen „Hutten“, sondern auch die Inschriften „Jahn 1813, Stein 1813, Arndt 1813, Görres 1821“ aufweist, um damit auf den „Opfertod“ dieser Männer für die deutsche Sache hinzuweisen. Fast noch aufreizender wirkt Friedrichs Bild Das Eismeer von 1821, auch Die gescheiterte Hoffnung genannt, das letztlich nur das grausige Ende einer Nordpolexpedition darstellt, jedoch auf symbolischer Ebene zugleich das Scheitern aller hochfliegenden christgermanischen Ideen der vorausgegangenen Jahre auszudrücken scheint. Die gleiche Niedergeschlagenheit bezeugt sein Bild Eiche im Schnee, das er höchstwahrscheinlich 1827 – dem Jahr von Franz Schuberts Winterreise – malte, wo sich der entlaubte Baum und die winterliche Stimmung des Ganzen ebenfalls als symbolische Repräsentationen der alle damaligen nationaldemokratisch empfindenden Patrioten bedrückenden Vereisung der politischen Zustände in Deutschland deuten ließen.36 Daß sich Friedrich mit solchen Bildern bei seinen Oberen keine Freunde machte, dürfte einleuchten. Als daher 1824 an der Dresdener Akademie die Professur für Landschaftsmalerei neu zu besetzen war, wurde er wegen seines „ungünstigen Einflusses auf die Jugend“ schnöderweise übergangen.37 Doch nicht nur aus dem Bereich des Akademischen, auch aus dem öffentlichen Bewußtsein drängte man ihn immer weiter heraus. Aber selbst das bewegte Friedrich keineswegs zum Einlenken. Er wurde im Gegenteil immer hartnäckiger, trug weiterhin seine altdeutsche Tracht und einen gewaltigen Bart, um möglichst „nordisch verschlossen“ zu wirken. Einen kurzen Auftrieb erlebte Friedrich nur noch einmal, und zwar im Jahr 1830, als es in Dresden zu Aufständen kam, bei denen sich selbst das „einfache“ Volk zu bewaffnen begann.38 Doch als sogar dieser Aufstand scheiterte, wurden die Bilder Friedrichs noch trüber und stellen mit Vorliebe Gräber, Särge, Eulen oder andere Mahnmale der Vergänglichkeit und des Untergangs dar. Das letzte Bild, das aus diesen Altersgemälden herausragt, sind seine Lebensstufen aus dem Jahre 1835. Am Strande der Ostsee, in der Nähe Greifswalds, steht hier ein greisenhafter Mann mit Stock, Barett, eisgrauem Pelz und altdeutschem Rock, der unverwandt nach Norden blickt. Außerdem sieht man einen Mann und eine Frau in biedermeierlichen Modekostümen, welche wie die von Friedrich so gehaßten Opportunisten wirken. Doch zu ihren Füßen befinden sich zwei Kinder, von denen der Junge eine kleine schwedische Fahne nach Norden reckt, als wolle er damit auf eine Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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3 Caspar David Friedrich: Lebensstufen (1835), Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister

bessere Zukunft hinweisen. Da die mittlere Generation versagt hatte, waren es jetzt die Enkel, denen Friedrich seine nie ganz versiegende Hoffnung zuwandte. Aber wer verstand im Jahre 1835 ein solches Bild überhaupt noch? Als daher Friedrich 1840 in Dresden starb, gehörte er nicht nur zu den Armen, sondern auch zu den Vergessenen seiner Zeit.

III Kommen wir zu einigen Folgerungen. Nach dem bisher Dargestellten läßt sich schwerlich leugnen, daß Caspar David Friedrich sich nur als ein vaterländisch-demokratischer und zugleich nordisch-protestantischer Maler charakterisieren läßt, für den die nationale Revolutionsstimmung zwischen 1806 und 1815 das zentrale geistige, religiöse und politische Erlebnis seines Lebens war und der in seiner Bildgebung ständig darauf reflektierte. Er tat das hauptsächlich mit symbolerfüllten 32 Caspar David Friedrich

deutschen Landschaften, in denen er Freiräume einer Sehnsucht nach nationaler Einigung und zugleich christgermanischer Beseelung sah. Das eigentliche Landleben, nämlich die Arbeitssphäre des bäuerlichen Menschen, wird dabei bewußt ausgegrenzt. Seine Landschaften gleichen eher Szenarien, die mit dem äußeren und inneren Auge eines Bürgers oder Kleinbürgers gesehen sind, dessen Hoffnungen ins Utopische übergehen. Was Friedrich mit ihnen auszudrücken versuchte, waren Gefühle der „Teutschheit“, ob nun des freiheitsliebenden Germanentums oder des pietistischen Patriotismus, die entweder getrennt erscheinen oder sich zu christgermanischen Kontrafakturen verschränken. Doch gleichviel, in welcher Form sie auch dargestellt werden, beherrschend bleibt dabei stets jene nationale Komponente, die seit Klopstock und den Dichtern des Göttinger Hains eine beachtliche Rolle im deutschen Geistesleben spielte.39 Man versuche daher nicht, wie das in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten häufig geschehen ist, Friedrich als „Inkarnation isoliertester Subjektivität“ aus dem Bereich des nationalen Gedankenguts in den Bereich einer „hermetischen Innerlichkeit“ zu entrücken.40 Friedrich ist kein Vorläufer irgendeiner Moderne oder Postmoderne. Im Gegenteil, Friedrich ist der Repräsentant eines kleinbürgerlichen „Pietismus“, einer rabiaten „Fürstenfeindlichkeit“ und zugleich eines christgermanischen „Nationalismus“.41 Was seine Gesinnung und seine Werke charakterisiert, ist die kollektive Mentalität jener deutschen Patrioten zwischen 1800 und 1820, die sich wie Johann Gottlieb Fichte und Ernst Moritz Arndt mit nationaldemokratischer Gesinnung nach einer von allen französischen Einflüssen befreiten deutschen Republik sehnten, in der wieder die bereits von Tacitus gelobte germanische „Freiheit“ und die von Martin Luther verkündete „Freiheit eines Christenmenschen“ herrschen sollte. Nur mit einer solchen Sehweise wird man dem polithistorischen Stellenwert von Friedrichs Ideologie und seiner Kunst wirklich gerecht. Nun gut, werden viele an dieser Stelle einwerfen. Was nützt uns eine solche Historisierung? Wird nicht damit der einsame Rang Friedrichs als des bedeutendsten deutschen oder gar europäischen Landschaftsmalers des frühen 19. Jahrhunderts ins Zeitgebundene oder Intentionale herabgewürdigt? Ja, reiht man nicht damit Friedrich in die Ahnenreihe jener deutschen Nationalisten ein, die – ob nun bewußt oder unbewußt Christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik

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– zur Ausbildung jenes Chauvinismus beigetragen haben, an dem später die „ganze Welt genesen“ sollte? Wohl kaum. Schließlich behält sein Nationalismus – unter dem Motto „Nieder mit den Fürsten! Es lebe das Volk“ – stets eine prononciert demokratische Komponente. Genauer gesehen, ist er noch völlig frei von jenen imperialistischen Elementen, die für den wilhelminischen oder nationalsozialistischen Nationalismus bezeichnend sind. Die Beschäftigung mit seiner Form des Nationalismus und des dahinterstehenden Konzepts einer Rückumwälzung („revolutio“) des deutschen Volkes zu seiner ursprünglichen Freiheit braucht daher nicht notwendig zu einer Kritik an Friedrichs ideologischer Grundhaltung zu führen und einem die Freude an der Betrachtung seiner Bilder zu verleiden. Im Gegenteil, ein tieferes Eindringen in den nationaldemokratischen Charakter von Friedrichs Weltanschauung könnte jedem Betrachter durchaus einen zusätzlichen Respekt für diese Bilder abnötigen. Schließlich war seine Form des Nationalismus noch eine progressive, indem sie sich gegen die autokratischen Herrschaftsformen der noch im Ancien régime verankerten deutschen Fürstenhäuser wandte. Daher bekämpften die deutschen Fürsten in den Jahren nach 1815 nichts unnachsichtiger als eine nationale Einheitssehnsucht, durch welche sie ihrer Throne verlustig gegangen wären. Wer also an der Vorgeschichte des demokratischen Denkens in Deutschland interessiert ist, sollte neben den Aufklärern, Jakobinern, Jungdeutschen und Vormärzlern auch die deutschen Patrioten der Befreiungskriege in seinen Untersuchungskreis einbeziehen, statt diese Gruppe widerstandslos den Reaktionären unter den deutschen Nationalisten zu überlassen, wie das im Wilhelminismus und im Dritten Reich geschehen ist. Schließlich ist Nationalismus nicht eo ipso ein böses Prinzip. Es kommt stets darauf an, in welcher Form er sich äußert.42 Und bei Friedrich sind in dieser Hinsicht die positiven Züge wesentlich stärker als die negativen. Seine Ideenwelt beruht weniger auf den ideologisch verbohrten Volkstumsideen des Turnvaters Jahn als auf einem ins Christgermanische gewendeten Freiheits- und Gleichheitswillen. Und das gibt seinem Nationalismus seinen geistigen Rang und seinen Bildern jenen humanistischen Mehrwert, der allen bedeutenden Kunstwerken zu eigen ist.43

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Sieg der gerechten Sache! Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld: Cäcilia Tschudi als Walküre (1813)

I

Dieses politische Denkbild hat eine völlig andere, aber zum Teil ebenso merkwürdige Vorgeschichte wie manche der vor kurzem wiederaufgefundenen Friedrich-Bilder. Und zwar spielte sie sich folgendermaßen ab. Als ich im November 1971 im Deutschen Haus der Columbia University in New York einen Vortrag über den deutschen Jugendstil- und Wandervogel-Maler Hugo Höppener, genannt „Fidus“, hielt,1 sagte mir anschließend Herr Stadlmeier, der damalige Direktor des dortigen Goethe-Hauses, daß er kürzlich in der Shepherd Gallery der Madison Avenue einen echten Fidus gesehen habe. Falls ich daran interessiert sei, solle ich doch am nächsten Tag einmal dort hingehen und mir dieses Bild ansehen. Weil ich noch nie ein Fidus-Original gesehen hatte, ging ich am folgenden Morgen selbstverständlich dorthin. Da ich viel zu früh kam, schaute ich durch die Gitterstäbe vor den Fenstern, konnte aber nirgends den besagten Fidus entdecken. Nachdem die Galerie schließlich geöffnet wurde, hörte ich von ihrem Besitzer zu meiner Enttäuschung, daß er das Fidus-Bild, welches über ein Jahr bei ihm gehangen habe, vor vier Tagen an einen deutschen Sammler in Kanada verkauft habe. „Es war ein Triptychon“, erklärte er mir, „genannt Der Tempel des heiligen Gral mit einer weiblichen Figur im Vordergrund, die ihren nackten Körper – in Form eines Astralleibs – durch die dicken Mauern zu pressen versucht, um auch zu den gralshaft Erwählten zu gehören. Das Ganze sah so ‚deutsch‘ aus, daß es keiner meiner jüdischen Kunden kaufen wollte. Daher war ich froh, als ich es endlich loswerden konnte. Doch wer sind Sie und warum sind Sie so an Fidus interessiert?“ Nachdem ich ihm erzählt hatte, wer ich bin und daß ich eine Biographie dieses seltsamen Malers geschrieben habe,2 rief er sofort seine Frau an, die an einer Dissertation über die deutsche Art nouveau-Bewegung arbeitete, möglichst schnell zu kommen, um mich kennenzulernen. Cäcilia Tschudi als Walküre

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4 Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld: Cäcilia Tschudi als Walküre (1813), Privatbesitz

Während wir auf sie warteten, sagte er plötzlich: „Ich habe oben im Magazin noch ein anderes Bild, das hier in New York niemand kaufen will. Es ist noch ‚teutonischer‘ als der Fidus, doch vielleicht interessiert Sie ja das als deutscher Kulturhistoriker.“ Wenige Minuten später kam er mit einem großen Frauenporträt, das sofort meine Neugier erregte, in den großen Galerieraum zurück. „Ich habe es im März vorigen Jahres im 36 Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld

Wiener Dorotheum aus dem Nachlaß einer Familie namens SchnorrTschudi ersteigert.3 Es ist aus der Zeit der Befreiungskriege und soll Cäcilia Tschudi als Walküre sein, gemalt von dem blutjungen Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld, der damals mit seinen beiden Brüdern, nämlich Eduard und Julius, in Wien studierte. Das war alles, was mir die Experten im Dorotheum – laut Aussagen der Familiennachkommen – über dieses Gemälde sagen konnten. Ich zeigte es später einigen meiner Kunden, welche weitgehend New Yorker Juden sind, die mir fast alle mit gleichlautenden Worten erklärten: ‚An solchen Germania- oder Teutonia-Figuren sind wir nicht interessiert. Mit dem Eichenlaubkranz im Haar, den zwei Speeren in der Hand und ihrem Bronzezeitkostüm sieht sie genauso aus wie viele Frauen, Jungmädel oder Maiden auf den Bildern der Nazizeit. Gemälde wie dieses sollte man nicht aufheben, sondern zerstören‘.“ „Wie kurzsichtig“, dachte ich und sagte ihm, daß ich es gern kaufen würde. Er war außerordentlich erfreut, diesen Ladenhüter endlich loszuwerden. Ja, in einem plötzlichen Anfall von Großmut, wollten er und seine Frau mir dieses Bild sogar umsonst geben. Doch darauf ging ich nicht ein. Und so einigten wir uns schließlich auf eine relativ geringe Kaufsumme, welche mir – angesichts der historischen Bedeutsamkeit dieses Gemäldes als eines bildkünstlerischen Ausdrucks der deutschen Befreiungskriege von 1813 bis 1815 – viel zu niedrig erschien. Aber mehr hätte ich damals ohnehin nicht bezahlen können.

II Der erste Mensch, dem ich dieses Bild zeigte, war der Direktor der polnischen Nationalgalerie Jan Bialistocky aus Warschau, der damals zugleich Präsident der Welt-Kunsthistoriker-Vereinigung war, einen Forschungsurlaub am Institute for Advanced Studies in Princeton verbrachte und Anfang 1972 in Madison einen historisch orientierten Vortragszyklus zur Methodik der Kunstgeschichte hielt. Als ich ihn in meine Wohnung einlud, war er zwar voller Bewunderung für meinen spanischen Visitatio-Engel von 1600, zeigte aber nicht das geringste Interesse für das Gemälde mit der germanischen Walküre. Und er erklärte mir auch seine Gründe dafür. Er habe das Konzentrationslager Cäcilia Tschudi als Walküre

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Mauthausen nur darum überlebt, weil er für die dortigen SSOffiziere in den Jahren 1943/44 unzählige Glückwunschpostkarten mit Motiven von Caspar David Friedrich und Hans Thoma ausgeschmückt habe. Seit jener Zeit, sagte er mit einem makabren Lächeln, habe er für alles, was spezifisch „deutsch“, „nordisch“ oder „teutonisch“ aussähe, nur noch Verachtung übrig. Der zweite Mensch, dem ich dieses Bild zeigte, war der linksorientierte Historiker Walter Grab von der Universität Tel Aviv, der 1938 wegen seines jüdischen Herkommens Wien verlassen mußte und nach Palästina gegangen war. Er war geradezu wütend, daß ich – als ein „wissenschaftlich ausgewiesener Liberaler“, wie er sich ausdrückte – ein solches Bild gekauft habe und versuchte mich zu überreden, es auf dem Dachboden zu verstecken oder einem historischen Museum zu schenken, das sich auf die Vorgeschichte des deutschen Faschismus spezialisiere und kam auch später immer wieder mit zynischen Bemerkungen darauf zurück. Der dritte Mensch, dem ich dieses Bild zeigte, war mein enger Freund Felix Pollak, ein ebenfalls aus Österreich vertriebener Jude und fanatischer Karl Kraus-Anhänger, der seit Anfang der sechziger Jahre als Lyriker und Kurator der Rare Book Collection in der Universitätsbibliothek in Madison/Wisconsin arbeitete. Aber auch er konnte – trotz vieler Höflichkeitsfloskeln und witziger Vergleiche mit heutigen Bodybuilding-Frauen – diesem Bild aufgrund seiner „teutonischen“ Attribute nicht viel abgewinnen. Der vierte Mensch, dem ich dieses Bild zeigte, war der Historiker George L. Mosse, mit dem ich seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in Madison und anderswo ständig über die Vorgeschichte des deutschen Faschismus diskutiert hatte. Als vielseitig interessierter Kulturhistoriker brachte er diesem Bild eine ähnliche Neugier entgegen wie ich. Aber auch er konnte auf Anhieb in diesem Gemälde nur eine Manifestation des deutschen Präfaschismus sehen. Obwohl Mosses Sicht der Befreiungskriege, ohne welche dieses Bild nie entstanden wäre, wesentlich differenzierter war als die von Jan Bialistocky, Felix Pollak oder gar von Walter Grab, der lange Zeit sogar in Heinrich von Kleist, wegen dessen vorübergehender Teilnahme an der reaktionären Christlichdeutschen Tischgesellschaft in Berlin, einen Antisemiten und damit Präfaschisten sah, konnte ich Mosse anfänglich nicht davon überzeu38 Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld

gen, daß dieses Gemälde der Ausdruck einer nationaldemokratischen Gesinnung sei und nichts von jenen präfaschistischen Tendenzen enthalte, wie er sie 1975 in seinem Buch The Nationalization of the Masses. Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars Through the Third Reich herausgestellt hatte.4 Daher bemühte ich mich in den folgenden Jahren, Mosse davon zu überzeugen, daß selbst der Eichenlaubkranz, die beiden Speere und das Bronzezeit-Kostüm nicht notwendig Zeichen einer präfaschistischen Gesinnung seien. Zuerst tat ich das in einer längeren Studie über Caspar David Friedrich, die in meinem Buch Sieben Arten an Deutschland zu leiden (1979) erschien, das ich im Nachwort Hans Mayer, Felix Pollak, Walter Grab und George Mosse widmete, welche wesentlich mehr unterm Faschismus zu leiden hatten als ich in meinen jungen Jahren.5 Anschließend schrieb ich meinen Aufsatz Dashed Hopes: On the Painting of the Wars of Liberation, der 1982 in einem Buch unter dem Titel Political Symbolism in Modern Europe erschien, das von Mosses ehemaligen Studenten Seymour Drescher, David Sabean und Allan Sharlin als eine Art Festschrift für ihren Lehrer herausgegeben wurde.6 Zuerst war Mosse etwas irritiert, diesen Aufsatz, in dem ich auch meine Walküre abgebildet hatte, in einem Buch zu entdecken, das ihm gewidmet war. Aber dann las er ihn und gab schließlich zu, daß ich ihn allmählich zu überzeugen beginne. Noch eindringlicher fand er die diesbezüglichen Thesen in meinem Buch Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus (1988). Daher hörte er in den folgenden Jahren auf, den Geist der Befreiungskriege als „präfaschistisch“ zu bezeichnen. Ja, in Diskussionen mit Hans Peter Herrmann, der das Phänomen des Präfaschismus bis weit in das 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen suchte,7 stellte er sich stets auf meine Seite. In einem Vortrag „Über gerechtfertigten und ungerechtfertigten Nationalismus“, den Mosse 1995 auf einer Feier zu meinem 65. Geburtstag hielt, sagte er sogar öffentlich: „I stand corrected“ und gab zu, daß selbst deutsche Patrioten wie Ernst Moritz Arndt und Johann Gottlieb Fichte zum Teil von „demokratischen“ Intentionen ausgegangen seien.8

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III

Gehen wir erst einmal auf andere zeitgenössische Darstellungen der Befreiungskriege in der deutschen Malerei ein. Im gleichen Sinne wie die politische Meinungsbildung in Deutschland in den Jahren zwischen 1806 und 1815 in zwei Richtungen tendierte, nämlich eine konservative, die sich der Führung der deutschen Fürsten anvertraute, und eine nationaldemokratische, die eher nach Freiheit und nationaler Einheit strebte, lassen sich auch in der politisch intendierten Malerei dieser Zeitspanne zwei höchst verschiedenartige Richtungen unterscheiden. Die erste Gruppe beschränkte sich hauptsächlich auf Darstellungen fürstlicher oder militärischer Schlachtenlenker, die entweder die eroberungssüchtigen Franzosen mit herrischer Gebärde aus den deutschen Staaten vertreiben oder als Sieger mit einer geradezu halbgöttlichen Aureole in ihre Residenzstädte zurückkehren. Die meisten dieser Bilder tragen Titel wie Marschall Blücher, Die Rheinüberquerung bei Caub, Gneisenau im Kreise seiner Offiziere, Erzherzog Karl in der Schlacht von Aspern oder Kaiser Franz I. nach Wien zurückkehrend.9 Fast alle diese Gemälde erinnern an die großformatigen Reiterbilder der europäischen Barocktradition, auf denen einzig und allein die geradezu übermenschliche Figur eines Kaisers, Königs oder Feldmarschalls im Mittelpunkt steht, während dem Volk, als dem ausführenden Organ ihrer Aktionen, nur eine randständige Rolle eingeräumt wird. Was auf diesen Werken vorherrscht, ist nicht ein allgemeines Freiheitsverlangen, sondern die offizielle Demonstration von Macht, von Herrschaft, von dynastischer Größe, die alle Mittel einer fürstlichen Repräsentation – ob nun in Form prächtiger Uniformen, gezückter Schwerter, glitzernder Orden sowie wohlgestriegelter Pferde – in ihren Dienst stellt, um damit den politisch überragenden Status der auf ihnen dargestellten Figuren herauszustreichen. Auf solchen Bildern werden die Befreiungskriege nicht als eine nationale Insurrektion, sondern als dynastisch-militärische Angelegenheiten abgeschildert, deren siegreichen Ausgang das Volk allein seinen Fürsten und ihren Heerführern verdankt. Einen der Höhepunkte dieser Sehweise bildet Heinrich Oliviers Bild Die Heilige Allianz von 1817, auf welchem der russische Zar, der österreichische Kaiser und der preußische König als ein Trium-

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virat auftreten, das von Gott dem Allmächtigen eingesetzt und gesegnet zu sein scheint. Die Gemälde der zweiten Gruppe haben dagegen eine völlig andere Sehweise. Sie versuchen nicht die dynastischen Interessen der machthungrigen Fürsten, sondern die Sehnsucht der breiten Massen nach persönlicher Freiheit und nationaler Einheit zum Ausdruck zu bringen. Beim Betrachten dieser Bilder hat man das Gefühl, daß sich die auf ihnen dargestellten Menschen nicht nur gegen Napoleon und seine Besatzungsarmee, sondern auch gegen die eigenen absolutistisch regierenden Herrscher wenden, die ihren Untertanen noch immer jede Art von demokratischer Repräsentation verwehren. Und zwar taten das die Maler dieser Gruppe auf zweierlei Weise: entweder indem sie den Krieg nicht von oben, aus der Perspektive der Fürsten und ihrer Heerführer, sondern von unten, aus der Perspektive der einfachen Soldaten, darstellten oder indem sie ihre Helden und Heldinnen mit germanischen oder sogenannten „altdeutschen“ Kostümen ausstaffierten, um so jene teutonische Sehnsucht nach Freiheit herauszustreichen, die bereits Tacitus in seinem Buch De origine et situ Germanorum liber gepriesen hatte.10 Während fast alle Kunsthistoriker und -historikerinnen die Porträts der Herrscher und ihrer Feldmarschälle wie auch die Szenen mit den tapferen Landwehrmännern selten ideologisch hinterfragt oder problematisiert haben, ist an den Bildern mit germanischen Motiven viel Kritik geübt worden. Die meisten solcher Gemälde sind von den über 30 Fürsten, die in Deutschland nach der Besiegung Napoleons herrschten, wegen ihrer nationaldemokratischen Gesinnung lange Zeit unterdrückt worden. Erst im Zweiten und dann im Dritten Reich wurden sie zum Teil wieder aus der Verborgenheit hervorgeholt und in einem chauvinistischen Sinne überinterpretiert. Deshalb galten sie nach 1945 weitgehend als Bilder, die bereits den Weg zum wilhelminischen und dann zum nazifaschistischen Chauvinismus geebnet hätten. Nach zwei Weltkriegen, nach Hitler, nach Auschwitz, nach der Liquidierung unzähliger Polen, Russen, Juden, Weißrussen, Ukrainer, Roma und Sinti wie auch der Verfolgung und Ermordung vieler Linker, rebellischer Christen, Homosexueller und geistig Behinderter war eine solche Perspektive nur allzu verständlich. Aber im Prozeß des Trauerns wurden die historischen Fakten, vor allem wenn sie weit zurücklagen, nur allzuoft ins Ein-

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dimensionale vereinfacht. Trauernde sind zwar oft edle Menschen, aber nicht unbedingt die besten Historiker oder Historikerinnen. Man sollte sich daher heutzutage erneut fragen: War die Sehnsucht nach einem deutschen Nationalstaat zur Zeit der antinapoleonischen Kriege wirklich nur ein fehlgeleiteter Traum? Haben nicht Träume dieser Art in England, Holland, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu höchst positiven Resultaten geführt? Und waren daher alle Deutschen, die sich seit dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches zwischen 1802 und 1806 nach der Erfüllung eines solchen Traums sehnten, wirklich nur Chauvinisten oder gar Präfaschisten? Oder stand dahinter nicht in vielen Fällen ein ideologisch gerechtfertigtes Streben, nämlich auch in Deutschland, wo viele Menschen noch immer unter dem Joch des fürstlichen Absolutismus schmachteten, endlich demokratische Reformen einzuleiten, um auch den unteren Bevölkerungsschichten ein Mitspracherecht bei politischen Entscheidungsfragen einzuräumen?

IV Um die progressionsbetonte Note dieser Freiheitssehnsucht herauszustreichen, muß man erst einmal festhalten, daß die Worte „germanisch“ oder „teutonisch“ zwischen 1806 und 1820 wesentlich unschuldiger klangen als sie heute klingen. Nach der Zersplitterung Deutschlands in Hunderte mehr oder minder autonome Territorien drückten sie eine Sehnsucht nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ aus, die sich sowohl gegen Napoleon und seine Besatzungsarmee als auch gegen die absolutistische Herrschaft der deutschen Könige und Fürsten wandte. Bei der Entstehung dieser Sehnsucht spielten hierbei auf intellektueller und kultureller Ebene drei Werke oder Legenden eine nicht zu unterschätzende Rolle: erstens Tacitus’ Germania, zweitens die Geschichte von Hermann und Thusnelda sowie drittens das Nibelungenlied. Die Germania lieferte die Grundlage für die Freiheitssehnsucht, die Hermann-Geschichte den idealen Helden für einen Befreiungskrieg gegen ausländische Eindringlinge und das Nibelungenlied den teutonischen Hintergrund für die Suche nach einer wahrhaft nationalen Identität. 42 Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld

In einem kurzen Essay wie diesem kann man selbstverständlich nicht in aller Ausführlichkeit auf die Vorgeschichte dieser drei Werke in Deutschland eingehen. Doch in gebotener Kürze sei wenigstens auf einige Beispiele aus dem späten 18. Jahrhundert hingewiesen, in denen sich bereits ähnliche Tendenzen ankündigen. Dazu gehören die Hermann-Dramen von Johann Elias Schlegel, Johann Adolph Scheibe, Cornelius von Ayrenhoff und Friedrich Gottlieb Klopstock,11 die Hermann und Thusnelda-Gemälde von Angelika Kauffmann12 und Johann Heinrich Wilhelm Tischbein sowie die zahllosen Szenen mit Motiven aus dem Nibelungenlied auf den Bildern von Johann Füßli.13 Alle diese Werke haben einen heroischen, wenn nicht gar triumphierenden Charakter. Überall begegnen wir Helden und Heldinnen, die neben einer imponierenden Muskulatur auch eine ebenso eindrucksvolle Seelenhaftigkeit zu besitzen scheinen. Die meisten dieser Figuren bewegen sich in freier Natur, uneingeengt durch jene Mauern, Torbögen oder engen Gassen, welche in den Augen der germanophilen Patrioten dieser Ära als Repräsentationen der „Romania“ galten. Am liebsten stehen sie vor mächtigen Eichbäumen, die seit den frühen Oden und Hermann-Dramen Klopstocks überall als Symbole deutscher Stärke und Ausdauer gefeiert wurden. Und zwar geschah das meist aus Protest gegen jene physiokratisch eingestellten Forstbeamten, die im 18. Jahrhundert im Dienste ihrer französisch parlierenden Fürsten viele der älteren Eichenwälder fällen ließen, um sie mit schnell wachsenden Fichten oder Tannen zu ersetzen, die einen wesentlich größeren Profit abwarfen als die langsam wachsenden Eichen. Angesichts dieser Situation wirkten schon die Gemälde und Graphiken von Pascha Weitsch und Carl Wilhelm Kolbe14 aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit ihren imposanten Eichbäumen fast rebellisch, ja wurden von vielen teutsch-bewußten Literaten, wie den Mitgliedern des Göttinger Hains, als Proteste gegen die schnöde Gewinnsucht der fürstlichen Landbesitzer interpretiert.15 Aber wenden wir uns endlich dem Gemälde Cäcilia Tschudi als Walküre von Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld zu, das den Anlaß all dieser Überlegungen bildet. Bei seiner Heldin handelt es sich weder um die Thusnelda aus der Hermanns-Geschichte noch um die Brunhild aus dem Nibelungenlied, sondern um eine Walküre. Und das ist das Frappierende an diesem Bild. Wer hat eigentlich diese Figur in die deutCäcilia Tschudi als Walküre

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sche Malerei eingeführt und welche allegorische Funktion hatte sie während der Befreiungskriege? Nach allem, was wir wissen, stammen die Walküren aus dem Bereich der nordischen oder eddischen Mythologie,16 wo sie sich im Laufe der Zeit aus dämonischen, blutsaugenden Furien in edle, wohlgestaltete Schwertmaiden im Dienste Wotans oder Odins wandelten, die entweder dem würdigeren Helden zum Sieg verhalfen oder ihn, falls er in der Schlacht oder im Duell unterliegen sollte, nach seinem Tode nach Walhall brachten. Soviel erst einmal dazu. V

Doch was wissen wir eigentlich über den Maler dieses Bilds und die auf ihm dargestellte Cäcilia Tschudi? Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld wurde 1788 in Leipzig geboren. Sein Vater war der angesehene Maler Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld, der an der Leipziger Akademie unterrichtete.17 Ludwig Ferdinand hatte zwei jüngere Brüder: Eduard Friedrich (geboren 1791) und Julius Hans (geboren 1794). Wie er selber wurden beide von ihrem Vater als Maler ausgebildet. In Kriegszeiten lebend, entwickelte Ludwig Ferdinand wie seine beiden Brüder eine besondere Vorliebe für heroische Schlachtszenen und schulte sich dabei an den muskulösen Figuren Michelangelos.18 1804, als er 16 Jahre alt war, schickte ihn sein Vater nach Wien, um dort bei dem berühmten Klassizisten Friedrich Heinrich Füger weiterzustudieren, bei dem sich auch seine beiden jüngeren Brüder seit 1810 bzw. 1811 ausbilden ließen. Doch nicht nur Füger, sondern auch zwei andere Maler, die damals in Wien lebten, beeinflußten in der Folgezeit die drei jungen Maler aus Leipzig. Der eine war Joseph Anton Koch, ein Maler großer, heroischer Szenen, der sich von 1812 bis 1816 in Wien aufhielt,19 der andere der patriotisch gesinnte Ferdinand Olivier. Letzterer machte die jungen Schnorr-Brüder auch mit Friedrich Schlegel, Adam Müller und Joseph von Eichendorff bekannt, die er regelmäßig in sein Haus einlud. Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld war daher mit romantisch-patriotischen Ideen bereits wohl vertraut, als 1813 der Befreiungskrieg begann. Vielleicht hatte er sogar schon einige Nachzeichnungen der deutschtümelnden Bilder Caspar David Friedrichs und Gerhard 44 Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld

von Kügelgens gesehen oder von Kleists Drama Die Hermannsschlacht gehört, von dem im Spätherbst 1808 in Dresden erstmals längere Partien auf einem geheim gehaltenen Treffen vorgetragen wurden.20 Wie auch andere Mitglieder der romantisch-patriotischen Bewegung in Wien unterstützte deshalb der junge Ludwig Ferdinand – nach der Niederlage Napoleons in Rußland im Jahr 1812 – im folgenden Jahr alle Bemühungen, die deutschen Lande endlich von den französischen Invasionsheeren zu befreien. Ja, er und Julius halfen sogar ihrem Bruder Eduard Friedrich, sich eine Uniform sowie ein Gewehr zu kaufen und nach Prag zu fahren, um sich dort als Freiwilliger der Deutschen Legion anzuschließen. Wie groß der patriotische Enthusiasmus aller drei Brüder war, belegen am nachdrücklichsten einige Briefe von Julius Schnorr von Carolsfeld aus dem Jahr 1813. In einem von ihnen heißt es: „Die ungeheuren Ereignisse, welche die Welt erschütterten, zogen mein Auge nun bald von der Kunst ganz ab und hinaus in die Ferne. Als Knabe schon leidenschaftlich mit Kriegsspiel und Kriegswesen beschäftigt, fortwährend angeregt durch das Studium alter und neuer Geschichte und durch Verbindungen meines Vaters mit patriotischen Männern in den Ernst der politischen Verhältnisse Deutschlands hineingezogen, erfüllten die Kämpfe um des Vaterlands Befreiung mich ganz.”21 In einem anderen Brief vom 11. Dezember desselben Jahres an den Hofrat Müller in Berlin, in welchem er diesen um eine geldliche Unterstützung für seinen Bruder Eduard Friedrich bat, beteuerte er noch einmal, daß er fast keine Zeit mehr für Privatstunden oder Porträts habe, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, da er ständig an die „Verhältnisse unseres Vaterlandes“ und das „allgemeine Wirken zum Ganzen“ denken müsse.22 Aber um nicht zu verhungern, malten Ludwig Ferdinand und Julius dann doch einige Porträts. Eins dieser Bilder ist das Porträt jener jungen Frau, das, wie bereits gesagt, 1970 auf einer Versteigerung im Wiener Dorotheum unter dem Titel Cäcilia Tschudi als Walküre angeboten wurde. Daß es sich bei dieser jungen Dame tatsächlich um eine Frau namens Cäcilia Tschudi handelt, ist aus mancherlei Gründen etwas zweifelhaft. Die einzige Cäcilia Tschudi aus dem frühen 19. Jahrhundert, die sich als realexistierende Person nachweisen läßt, ist eine „Ziehtochter“ des Ethnologen und Geographen Johann Jakob Tschudi (1818–1889), der im Jahr 1849 in Wien eine Tochter von Ludwig FerCäcilia Tschudi als Walküre

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dinand Schnorr von Carolsfeld heiratete.23 Da Johann Jakob Tschudi 1818 geboren wurde, könnte ein Porträt seiner Adoptivtochter Cäcilia kaum vor den fünfziger oder sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden sein. Dagegen spricht jedoch nicht nur der patriotische Enthusiasmus und die amateurhafte Ausführung, sondern auch der Stil dieses Bildes, der noch völlig der neoklassizistischen Malweise der Jahre zwischen 1780 und 1815 verpflichtet ist. Daher kann die Figur auf diesem Bild auch ein Familienmitglied jenes Jakob Tschudi, der während der napoleonischen Kriege als Schweizer Gesandter in Wien lebte,24 oder irgendein anderes junges Mädchen aus dieser Zeit sein, in dem die Schnorr-Tschudi-Familie später die Ziehtochter jenes Ethnologen und Geographen sah, der 1849, wie gesagt, eine Tochter von Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld geheiratet hatte.25 Doch sei dem, wie es wolle. Zuschreibungen von Gemälden wie diesem, zu dem wir keinerlei Dokumente besitzen, sind immer schwierig. Was mir dagegen wesentlich wichtiger erscheint, ist die Tatsache, daß es sich bei diesem Bild um eine Walküre handelt, was für diese Zeit absolut einmalig ist. So weit ich sehe, gibt es kein anderes deutsches Gemälde vor 1813 mit einer WalküreFigur.26 Daß sie tatsächlich eine solche Symbolgestalt darstellen soll, wird nicht nur durch die mündliche Tradition innerhalb der Schnorr-Tschudi-Familie bestätigt, sondern auch durch die zwei Speere, die sie in der Hand hält. Thusnelda und ihre Maiden tragen auf den Bildern dieser Ära keine Speere oder ähnlich furchteinflößende Waffen, um neben den heroischen Figuren Hermann des Cheruskers und seiner Krieger spezifisch „weiblich“ zu wirken. Weitere ikonographische Attribute, welche das Germanenhafte dieses Porträts herausstreichen sollen, sind die metallnen Armreifen aus der Bronzezeit, der kleine Fellrock, der Eichenlaubkranz im Haar sowie die mächtigen Eichbäume im Hintergrund, die deutlich an die Eichen Carl Wilhelm Kolbes und Caspar David Friedrichs erinnern. Andere Bildelemente, wie die klassizistischen Gesichtszüge im Stile Friedrich Heinrich Fügers und der seltsam verdrehte linke Arm, weisen darauf hin, daß es sich bei diesem Werk um das Bild eines zwar enthusiastisch inspirierten und begabten, aber äußerst jungen Malers handelt, der gerade erst zu lernen scheint, wie man sich in Ölgemälden ausdrückt.

46 Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld

Daß Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld – vielleicht sogar in Zusammenarbeit mit seinem Bruder Julius – für dieses Porträt die Figur einer Walküre wählte, läßt sich nur vor dem Hintergrund jenes Freiheitsenthusiasmus verstehen, der seinen Höhepunkt 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig erlebte, durch die der aggressive Imperialist Napoleon und seine Armee gezwungen wurden, sich nach Frankreich zurückzuziehen. Diese Walküre hat deshalb eine doppelte Bedeutung: sie ist eine Figur, welche jenen Kriegern, die sich in einem gerechtfertigten Befreiungskrieg gegen die Franzosen engagierten, zum Sieg verhelfen oder zumindest die gefallenen Helden zu irgendeiner nationalen Walhalla, wie sie später Ludwig I. von Bayern bei Regensburg an den Ufern der Donau errichten ließ, bringen soll. So gesehen, ist sie eine absolut positive Heldin. Mit ihr wollte Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld all jenen Deutschen, die dieses Gemälde sehen würden, in ihrem Kampf für eine gerechte Sache die Hoffnung auf einen Siegfrieden geben.27 Daß die junge Frau auf diesem Bild als Walküre auftritt, ist also keineswegs reaktionär, sondern eher revolutionär. Kaiser Franz I. mit einer imperialen Geste zu malen, wäre reaktionär gewesen. Im Jahr 1813 war dagegen alles, was sich an der germanischen Herkunft des deutschen Volkes orientierte, noch rebellisch, da es das Freiheitssehnen jener altdeutschen Stämme ausdrücken sollte, das bereits Tacitus bewundert hatte. Im Lichte dieser Perspektive wirkt also diese Gestalt ebenso progressionsbetont wie die germanischen Hünengräber, die gotischen Ruinen, die Eichbäume und die Männer in altdeutschen Kostümen auf den Bildern Caspar David Friedrichs oder die germanischen Priesterinnen auf den Bildern Johann Gottfried Puhlmanns, die im gleichen Zeitraum entstanden. Während die Franzosen in ihrer Revolution von 1789 den Freiheitsgeist der Republikaner unter den alten Römern gepriesen hatten, stellten die deutschen Patrioten in den Jahren 1806/15 mit der gleichen Intention die alten Germanen als heroische Vorbilder einer freiheitsliebenden Nation hin, die an ihren überlieferten Glaubensvorstellungen festzuhalten versuchten und bei ihrer Abwehr fremder Eindringlinge lieber zu den Waffen griffen, als sich unter das Joch der Sklaverei zu beugen.

Cäcilia Tschudi als Walküre

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VI Gut, das ist die historische Intention dieses Bildes. Aber können wir dieses nationale Wunschdenken nach fast 200 Jahren noch immer in dem gleichen Lichte sehen? Wie bereits zu Anfang gesagt, lassen sich die ideologischen oder persönlichen Vorurteile all jener Menschen gegen dieses Bild durchaus verstehen, die später Opfer der verschiedenen Formen des deutschen Nationalismus wurden, oder auch jener Menschen, die sich als Deutsche all jener Großverbrechen schämten, die ihre chauvinistischen Führer und willigen Gefolgsleute im 20. Jahrhundert an den Schwarzen in den deutschen Kolonien in Afrika, den Juden, den Sinti und Roma, den Polen, den Russen und anderen Menschen in Europa verübt haben. Dies ist eine psychologische Reaktion, die ich durchaus teile und auch jedem anderen zugestehe. Aber sie ist eine ahistorische, welche den zutiefst nationaldemokratischen Geist übersieht, der diesem Bild und anderen Darstellungen seiner Art zugrunde liegt. In solchen Gemälden herrscht – im Sinne eine Revolutio germanica – eine unleugbare Sehnsucht nach jener „Einigkeit und Recht und Freiheit“, wie sie später viele Vormärzler beseelte. Im Gegensatz dazu sind fast alle Kunstwerke des Zweiten oder Dritten Reiches, die sich auf germanische Motive stützten, eindeutig rassistisch oder imperialistisch. Im Vergleich zu ihrem „Furor teutonicus“ war der Nationalismus der Jahre 1813/14 nicht nur größtenteils nobel, sondern auch fortschrittsgesinnt – wenn man von einigen Fanatikern wie Friedrich Ludwig Jahn, dem Gründer der deutschen Turnerbünde, einmal absieht. Zugegeben, der Nationalismus der Befreiungskriege war in seiner Opposition zum französischen Imperialismus zutiefst deutschbewußt, aber nicht präfaschistisch. Sonst wären Heinrich von Kleist, Caspar David Friedrich, Ernst Moritz Arndt, Joseph von Eichendorff, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Jacob und Wilhelm Grimm, Ludwig van Beethoven, Carl Maria von Weber sowie der junge Heinrich Heine, welche von den gleichen patriotischen Gefühlen beseelt waren, ebenfalls Präfaschisten. Viele dieser Menschen gerieten nach 1815, als auf dem Wiener Kongreß die alte absolutistische Ordnung restauriert wurde, wegen ihrer nationaldemokratischen Gesinnungen mit den regierenden Herrscherhäusern und ihren reaktionären Handlangern in Konflikt. Ja, manche 48 Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld

von ihnen wurden aufgrund solcher Anschauungen sogar ins Gefängnis geworfen, verloren ihre Universitätspositionen oder wurden gezwungen, Deutschland zu verlassen. Angesichts dieser Entwicklung sahen sich daher die deutschen Patrioten in Wien nach 1815 vor folgende Entscheidung gestellt: sich entweder mit den Verhältnissen der Metternichschen Restauration abzufinden oder Österreich den Rücken zu kehren. Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld gab klein bei, konvertierte zum Katholizismus, wurde Mitglied der Wiener Akademie und schließlich Kurator der kaiserlichen Kunstsammlungen. Sein Bruder Julius verließ dagegen Wien im Jahr 1817, da er weder zum Katholizismus übertreten noch dem erzreaktionären Kaiser Franz I. dienen wollte. Er ging nach Rom, wo er sich der religiöspatriotischen Sankt Lukas-Gilde anschloß. Statt ein Klassizist zu werden, wie es die meisten Höfe verlangten, oder sich zu einem Biedermeier-Maler zu mausern, wie es der niedere Adel und die gehobene Bourgeoisie von ihren Porträtisten erwarteten, wurde er ein Maler christlicher und germanischer Sujets, meist nach Motiven des Nibelungenlieds, um so angesichts der gewandelten politischen Verhältnisse wenigstens einigen seiner früheren Ideale treu zu bleiben. Alle diese Ereignisse mögen dazu beigetragen haben, warum die Schnorr-Tschudi-Familie diesem Bild im späten 19. Jahrhundert den Titel Cäcilia Tschudi als Walküre oder einfach Cäcilia Tschudi gegeben hat. Um sich von dem rebellischen Geist der Freiheitskämpfer der Jahre zwischen 1813 und 1815 zu distanzieren, funktionierten sie offenbar die nationale Allegorie der zum Kampf bereiten Germanin kurzentschlossen in ein Familienbild um. Schließlich, wer war nach 1848, nachdem der zweite deutsche Freiheitskampf gescheitert war, noch an progressiven Helden oder Heldinnen interessiert? In Zeiten der Resignation oder gar Konterrevolution besteht für derartige Figuren kein Bedürfnis mehr. In solchen Perioden der Geschichte folgen die meisten Menschen lieber dem herrschenden Zeitgeist. Und einer dieser Menschen war Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld, der seinen jugendlichen Idealismus nach 1815 gegen eine Gesinnung auswechselte, die ihm ein recht komfortables Leben unter den Würdenträgern des Metternichschen Regimes ermöglichte. 1813 war es noch relativ ungefährlich, ein Rebell zu sein und deutschbetonte Helden oder Heldinnen zu malen. Doch wahrhaft „heroisch“ wäre es gewesen, auch nach 1815 Cäcilia Tschudi als Walküre

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– zusammen mit anderen Wiener Künstlern – weiterhin mit nationaldemokratischer Gesinnung für jene „Freiheit“ zu kämpfen, wie es Beethoven im Schlußsatz seiner Neunten Symphonie getan hat,28 statt den kooptierenden Versuchungen des sogenannten „Systems“ nachzugeben. Doch seien wir in seinem Falle etwas großzügig. Schließlich hat sich Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld wenigstens in den Jahren 1813 bis 1815 den antidespotisch gesinnten Freiheitskämpfern angeschlossen.29 Viele seiner Zeitgenossen haben nicht einmal das getan. Und daran hat sich auch in späteren Epochen leider wenig geändert. Die meisten Menschen wollen gar nichts verändern, das heißt fassen gar keine Vision einer besseren, gerechteren Gesellschaftsordnung, kurz: eine Utopie ins Auge, sondern begnügen sich stets mit dem politisch vorgegebenen Status quo, ohne sich ihrer eigenen Kurzsichtigkeit bewußt zu werden. Nur jene, die nicht von ihren utopischen Hoffnungen ablassen können, streben danach, positive Helden oder Heldinnen zu werden oder wenigstens politische Denkbilder solcher Figuren zu entwerfen.30

50 Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld

Adolph Menzels Fridericiana (1836–1867)

I Mit der Figur Friedrichs des Großen hat sich Menzel zeit seines Lebens, genauer gesagt über 60 Jahre lang auseinandergesetzt. Schon in seinem graphischen Zyklus Denkwürdigkeiten aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte, der aus 13 Federlithographien besteht und den er 1836 als Einundzwanzigjähriger abschloß, findet sich neben Darstellungen von Ereignissen aus der Zeit Joachims II., des großen Kurfürsten und Friedrichs I. ein Bild, das den Titel Friedrichs Ansprache an seine Generäle vor der Schlacht bei Leuthen trägt. Und zwar verfuhr Menzel dabei nicht idealisierend im Sinne der Düsseldorfer Malerschule, sondern legte den Hauptnachdruck im Gefolge des von Johann Gottfried Schadow begründeten Realismus auf das historisch Authentische der Kostüme und Waffen. Wenn auch die Komposition dieser Blätter in manchem noch etwas steif wirkt, so überbietet jedoch dieser Zyklus an Geschichtstreue alles, was es bisher an graphischen Darstellungen der brandenburgisch-preußischen Geschichte gab. Leider hatten damals viele Kritiker für diesen Realismus überhaupt noch kein Verständnis. Was sie auf Bildern dieser Art sehen wollten, war lediglich Idealisches, Sentimentales oder Heroisches. Daher wurde Menzels akribischer Realismus von vielen lediglich als die „besondere Eigenart eines jungen Künstlers“ aufgefaßt, wie Menzel später schrieb, „die mit dem Anfängerstadium meines Talents zusammenhänge“.1 Doch es gab – zum Glück – auch andere Kritiker. Und zu diesen gehörte der Berliner Historiker, Kunstwissenschaftler, Maler, Zeichner und Dichter Franz Kugler, der Menzels Bemühungen um historische Authentizität durchaus zu schätzen wußte. Anfang 1839, als Kugler gebeten wurde, eine Geschichte Friedrichs des Großen zu schreiben, schlug er darum keinen anderen als den jungen Menzel als den idealen Illustrator eines solchen Buches vor. Da sich Kugler mit diesem Vorschlag durchsetzte, erhielt Menzel von dem Leipziger Verleger Johann Jakob Weber, bei dem das besagte Buch erscheinen sollte, schon im Fridericiana

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Februar 1839 den Auftrag, zu diesem Werk 400 Illustrationen beizusteuern. Und zwar konzipierte Weber das Kuglersche Buch, wie wir zeitgenössischen Prospekten entnehmen können, als ein bürgerlichliberales Hausbuch, dessen erste Lieferungen im Jahr 1840, anläßlich der 100. Wiederkehr der Thronbesteigung Friedrichs II., möglichst termingerecht auf dem Markt erscheinen sollten. Um nicht in unnötigen Verzug zu kommen, machte sich Menzel schon im Frühjahr 1839 mit Feuereifer an die gestellte Aufgabe, das heißt studierte alle schriftlichen Quellen zur Geschichte dieses Königs, besah sich sämtliche Gemälde, Stiche und Bauwerke aus dessen Lebenszeit, ließ sich die königliche Kunstkammer zeigen, in der sich über 1 000 Fridericiana befanden, ja unternahm geradezu alles, um sich über die Lebensgewohnheiten, das Kulturleben, die militärischen Operationen sowie die damals getragenen Kostüme und Uniformen zu informieren. Noch stärker als in seinen Denkwürdigkeiten aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte sollte in diesem Buch nicht die gängige Idealisierung, sondern die historische Realität vorherrschen. Für ein historisches Werk wie die Geschichte Friedrichs des Großen, schien ihm das geradezu unabdinglich. In diesem Sinne schrieb Menzel an Weber, daß er die Absicht habe, seinen Illustrationen durch ein peinlich genaues Studium aller Quellen den Eindruck einer „größtmöglichen Authentizität“ zu verleihen.2 Daß sich Menzel gerade dieser Aufgabe mit einem solchen Eifer widmete und auf diesem Gebiet vielleicht die größte Leistung seiner gesamten Frühzeit vollbrachte, hängt sicher damit zusammen, daß er sich hier zum ersten Mal – nach seinen eher gebrauchsgraphischen Anfängen und den damit verbundenen kommerziellen Rücksichtnahmen – befreit fühlte und ihm zugleich ein Thema gestellt worden war, das seinen innersten Wünschen zutiefst entgegenkam. Daher lenkte schließlich nicht nur Nüchternheit, sondern auch anteilnehmende Einfühlsamkeit seine Zeichenfeder. Der Außenseiter, der Gnom, der verhinderte Künstler Menzel fand in diesem Friedrich II. – man könnte fast sagen „unter der Hand“ – endlich ein menschliches Leitbild, das ihn geradezu hypnotisch in den Bann zog. In ihm hatte er jene Traumfigur, jenen anderen Außenseiter und Künstler gefunden, mit dem er sich identifizieren konnte. „Friedrich über alles!“, heißt es darum in einem Brief an seinen Gönner Karl Heinrich Arnold, „mich hat nicht so bald 52 Adolph Menzel

so was ergriffen.“3 Und dieses Gefühl schlägt bei vielen seiner Illustrationen, so objektiv sich Menzel auch an die äußeren Erscheinungsformen des friderizianischen Zeitalters zu halten bemühte, ganz unverhohlen durch. Rein psychologisch gesehen, ist dieser in 400 Zeichnungen verherrlichte König zugleich ein Stück seiner selbst. In der Maske dieser Figur setzte sich Menzels „Persona“ endlich über ihre ärmliche Herkunft hinweg und trat den anderen Menschen mit einer hochgewachsenen Stattlichkeit, ja geradezu tänzerischen Grazie entgegen. So weit der psychologische Aspekt, der bei einem „gnomenhaft“ kleingebliebenen Menschen wie Menzel,4 dem es nach Anerkennung drängte, sicher nicht unwichtig ist. Aber der psychologische Gesichtspunkt allein reicht nicht aus, um der Intention und Wirkung der Illustrationen dieses Friedrichbuchs auf die Spur zu kommen. Daß ein solches Werk von seinen Zeitgenossen, und zwar sowohl ästhetisch als auch politisch als „erregend“ empfunden wurde, dazu bedurfte es noch einer Reihe weiterer Faktoren, die sich nicht ohne einen kurzen Seitenblick auf die geschichtlichen Umstände dieser Jahre verstehen lassen. Schließlich war das Jahr 1840 nicht irgendein Jahr, sondern ein historisch höchst bedeutsames. In diesem Jahr bestieg nämlich in Berlin ein Prinz den preußischen Königsthron, der sich Friedrich Wilhelm IV. nannte und an den sich ähnliche Hoffnungen knüpften wie an jenen Friedrich II., der genau 100 Jahre zuvor den gleichen Thron bestiegen hatte. Auch Friedrich Wilhelm IV. galt als geistreich, musisch gebildet sowie liberal und wurde deshalb – wie sein großer Vorgänger – von vielen als neuer Bürgerkönig, als Garant einer größeren Freizügigkeit, ja als Hoffnung des Jahrhunderts begrüßt. Vor allem die bürgerliche Klasse erhoffte sich in Preußen von ihm eine wesentliche Erweiterung ihrer Rechte und Privilegien, wenn nicht gar ein parlamentarisches Repräsentationssystem, dem eine nach englischem oder französischem Vorbild geschaffene Konstitution zugrunde liegen sollte. Deshalb wurde dem neuen König von den preußischen Liberalen immer wieder sein großer Ahn als Vorbild entgegengehalten, dessen Andenken in der relativ reaktionären Regierungszeit Friedrich Wilhelms III. eher in den Hintergrund getreten war. Allerdings ging es diesen Liberalen meist gar nicht um den realen Friedrich II., sondern um das Leitbild Friedrich schlechthin, mit dem sie ihre eigenen Ansprüche bei dem neuen Herrscher einzuklagen versuchten. Das gilt vor allem für Fridericiana

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die Bücher Friedrich der Große und seine Widersacher von Carl Friedrich Köppen und Leben und Taten Friedrichs des Großen von Friedrich Förster, die beide 1840 herauskamen und, wie auch Franz Kugler, Karl Gustav Varnhagen von Ense und Johann Jacoby, an Friedrich II. weniger den siegreichen Schlachtenlenker als den Steuerreformer, den Helfer der Armen, den Verteidiger der Volkssouveränität sowie den Garanten von Aufklärung, Toleranz und Vernunft herausstrichen.5 Und auf dieser Linie liegt auch das Friedrich-Bild des jungen Menzel, das die gleichen aufklärerischen Züge aufweist wie das seiner liberalen Zeitgenossen. In diesem Sinne schrieb er schon am 24. Februar 1839 an Weber, um diesen nicht über seine politischen Ansichten im Unklaren zu lassen, daß er in Friedrich hauptsächlich den „Mann des Volkes oder den Vater für sein Volk“ sehe, „dessen Andenken vorzugsweise dem Bürgerstande heilig ist, in welchem die Saat seiner Institutionen am meisten ins Leben fortgreifend weiterwirkt“.6 Ja, am 17. Juli des gleichen Jahrs wurde Menzel noch offener und erklärte: „Meine Intention war, den Fürsten darzustellen, den die Fürsten haßten, und die Völker verehrten, dies war das Ergebnis dessen, was er war, mit einem Wort, den alten Fritz, der im Volke lebt.“7 Menzels Friedrich-Bild entsprach also zu diesem Zeitpunkt genau jenen Hoffnungen oder auch Illusionen, welche viele der bürgerlichen Liberalen in Preußen mit dem Bilde dieses Herrschers verbanden. Statt hohenzollernfromme „Kultbilder“ zu schaffen, wie es später oft hieß, schuf er durchweg bürgerlich-liberale „Lebensbilder“, in deren Zentrum ein realistisch erträumter Wunschkönig steht, der geradewegs aus einem aufgeklärten Fürstenspiegel zu stammen scheint. Als daher das Webersche Werk unter dem Gesamttitel Geschichte Friedrichs des Großen. Geschrieben von Franz Kugler. Gezeichnet von Adolph Menzel erschien, war die Begeisterung unter den Berliner Liberalen groß und verschaffte Menzel ein weithin anerkanntes Renommee. Dennoch erhielt er keinen weiteren Auftrag, der seinen liberalen Anschauungen entsprach. Und zwar hing das weitgehend mit den innenpolitischen Spannungen in Preußen zusammen, die sich um 1842/43 so schnell zuspitzten, daß der neue König, der sich nach seiner Thronbesteigung – im Gegensatz zu seinem Vater – erst einmal liberal gegeben hatte, die Zügel wieder anzog und in der Öffentlichkeit nur noch Äußerungen duldete, die sich eindeutig zum Gedanken des 54 Adolph Menzel

Monarchismus bekannten. Von der allgemein erhofften Verfassung war deshalb in den erneut streng zensurierten Zeitungen und Zeitschriften nirgends mehr die Rede. Ja, selbst eine offene Sympathie mit den aufklärerischen Zügen Friedrichs II. galt in den Augen der Obrigkeit plötzlich als suspekt. Menzel – als guter Liberaler – sah sich daher nach diesem Zeitpunkt vor zwei Möglichkeiten gestellt: entweder zu den Radikalen überzulaufen, das heißt nach Paris, London oder Zürich auszuwandern oder in Berlin zu bleiben und abzuwarten, wie sich der Lauf der Dinge entwikkeln würde. Da ihm das Radikale im Prinzip nicht lag, blieb ihm nur die Möglichkeit, sich auf sich selbst zurückzuziehen und auf die legendären „besseren Zeiten“ zu hoffen. Um in dieser Wartezeit nicht wieder in die Rolle eines Gebrauchsgraphikers zurückzufallen und erneut Gedenkblätter oder Flaschenaufkleber zu entwerfen, war er glücklich, in den folgenden Jahren wenigstens die 436 Federlithographien zu dem dreibändigen Werk Die Armee Friedrich des Großen in ihrer Uniformierung und die 12 Holzschnitte für Eduard Langes Buch Die Soldaten Friedrichs des Großen schaffen zu können. Doch so gut diese Lithographien und Holzschnitte auch ausfielen, den Charme seiner Kugler-Zeichnungen haben sie nur in Ausnahmefällen. Es waren reine Auftragswerke, was sich auf Menzels Federführung nicht unbedingt vorteilhaft auswirkte. Aber sie verschafften ihm und den Seinen wenigstens ein leidliches Auskommen. Etwas besser innerhalb der Fridericiana der vierziger Jahre nehmen sich lediglich jene 200 Holzschnittzeichnungen aus, die Menzel zwischen 1843 und 1846 für eine neue Prachtausgabe der Werke Friedrichs des Großen schuf. Doch auch hier sind es nur jene Blätter, auf denen Menzel – wie bei den Kugler-Zeichnungen – den musischen, aufgeklärten, sich um sein Volk sorgenden Friedrich darstellte, die von einer tieferen Anteilnahme zeugen. Einen Schlußpunkt unter diese Periode setzte dann die Achtundvierziger Revolution, von der sich Menzel wie alle liberal gesinnten Vormärzler einen politischen Umschwung zu demokratischen Freiheitsrechten erhoffte. Er traf zwar nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Hessen erst am 20. März 1848 in Berlin ein, als der erste Barrikadensturm bereits vorüber war. Aber der Anblick der immer noch erregten Volksmassen, die Vertreibung des Militärs und die feierliche Aufbahrung der Märzgefallenen auf dem Gendarmenmarkt: all das setzte in Fridericiana

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Menzel eine Fülle neuer Energien frei. „Berlin hat seine Ehre furchtbar gerettet“, schrieb er drei Tage später an Arnold, „die ausdauernde Erbitterung, mit der von Bürgern und Militär hier gekämpft worden, übertrifft nach dem Zeugnis von Ausländern, die es hier miterlebt, selbst Paris.“8 Besonders begeistert war er darüber, daß sich an manchen Palästen und Häusern plötzlich Aufschriften befanden, auf denen stand: „Das Eigentum der Nation steht unter dem Schutze der Bürgerschaft“ oder „Hier wirken Männer aus dem Volk für das Volk“.9 Ja, an seinen Intimus Wilhelm Puhlmann in Potsdam schrieb er sogar, daß er jetzt „durchaus plebejisch gesinnt“ sei.10 Das einzige Bild, an dem Menzel in diesen Wochen arbeitete, ist seine berühmte Ölskizze Die Aufbahrung der Märzgefallenen. Als guter „Realist“ stellte er hier nicht das dar, was er nicht gesehen hatte, das heißt die Barrikadenkämpfe, sondern das, bei dem er selber zugegen war, nämlich den Abschied von den Opfern dieser Kämpfe. Dieses Bild war von Menzel zweifellos als ein politisches Bekenntnis zum bürgerlich-plebejischen Befreiungskampf gedacht. So gesehen, läßt es sich durchaus als ein politisches Tendenzbild bezeichnen. Aber es hat zugleich etwas Ambivalentes an sich, da es weniger die Hoffnung auf einen möglichen Sieg als die Trauer über die Gefallenen ausdrückt. Dieses Gefühl muß Menzel bereits im Herbst 1848 so stark bedrückt haben, daß er an einem siegreichen Ausgang der Revolution zu zweifeln begann. Er ließ daher dieses Bild einfach unvollendet stehen. Doch gerade in ihrem unvollendeten Zustand ist seine Aufbahrung der Märzgefallenen zu einem aufrüttelnden politischen Denkbild geworden, nämlich die damals gescheiterte Revolution zu einem späteren Zeitpunkt siegreich zu Ende zu führen.

II Wie viele der enttäuschten Sympathisanten der Revolution von 1848, die sich von den erregten „Volksmassen“ mehr als einen einmaligen Barrikadensturm und ein paar nichtswürdige „Ausschreitungen“ versprochen hatten, zog sich Menzel in den folgenden Jahren – rein vordergründig gesehen – fast völlig aus der Politik zurück und kapselte sich in jenem Bereich ein, für den sich später die Bezeichnung „Innere Emigra56 Adolph Menzel

tion“ einbürgerte. Lediglich sein Umgang mit Schriftstellern und Gelehrten scheint in dieser Zeit recht lebhaft gewesen zu sein. Und zwar wurde ihm das vornehmlich durch seine Mitgliedschaft in jener Berliner Vereinigung ermöglicht, die sich „Tunnel über der Spree“ nannte. Dieser „Tunnel“ war ein exklusiver Diskutierklub, in dem lediglich über Kunst und Kultur und nicht über jenes „Garstige“ geredet wurde, was zu den sogenannten Ausschreitungen der Revolution von 1848 geführt habe. Das sieht auf den ersten Blick wie ein Rückzug in eine nachmärzliche Idylle aus. Hatte hier Menzel nicht jenen Kreis hochgebildeter Künstler gefunden, in dem er sich wie Theodor Fontane, Emanuel Geibel, Franz Kugler, Paul Heyse und Theodor Storm endlich als ein Arrivierter fühlen konnte? Zum Teil schon. Aber genauer gesehen, blieb er neben den eben Erwähnten weiterhin ein Außenseiter. Er war weder ein Bürgerlicher noch ein Prolet, weder ein Radikaler noch ein Reaktionär, sondern immer noch jenes „kleine Männchen“, über das viele insgeheim lächelten. Es wäre daher unangebracht, im Menzel der fünfziger Jahre einen wohlintegrierten Innenseiter der oberen Zehntausend zu sehen. Dazu war er gesellschaftlich viel zu unbeholfen, ja geradezu linkisch – und huldigte obendrein nach wie vor Ansichten, die nicht unbedingt zu den offiziell vorgeschriebenen gehörten. Letztlich verzichtete er auch in diesen Jahren keineswegs darauf, an einigen seiner vormärzlichen Ideale festzuhalten, anstatt wie so mancher andere einfach zu den Reaktionären überzulaufen oder mit schopenhauerschem Pessimismus ins Unpolitische auszuweichen. Wohl der beste Beweis dafür sind seine großen Friedrich-Darstellungen der fünfziger Jahre, mit denen er sich jenen Traum erfüllte, der ihm schon während seiner Arbeit an den Kugler-Illustrationen vorgeschwebt hatte, nämlich eines Tages im Hinblick auf diesen König einen „Zyklus großer historischer Bilder malen zu können“.11 Und Menzel tat das, obwohl er sich ein solches Projekt finanziell kaum leisten konnte. Auch bei diesem Zyklus, der schnell zu einer Serie von über zehn, zum Teil recht großformatiger Gemälde anwuchs, rückte er – wie schon zehn Jahre zuvor – wiederum das Bild jenes musischen, aufgeklärten, toleranten Friedrich in den Vordergrund, der sich vor allem als ein vernünftiger und besorgter Landesvater ausgezeichnet habe. Da Menzels Glaube an die Vernunft der „Volksmassen“ im Verlauf der Achtundvierziger RevoFridericiana

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lution arg in Mitleidenschaft gezogen worden war, beschwor er also auf diesen Bildern noch einmal, ja fast noch intensiver als zuvor, seinen Wunschkönig. So gesehen, ist sein Friedrich II. ein Gegenkönig zu jenem Friedrich Wilhelm IV., den Menzel wie die meisten preußischen Liberalen als ausgesprochen „borniert“ empfand. Daher sind auch diese FriedrichBilder nach wie vor unverhohlene Tendenzbilder, auf denen er im historischen Gewande weiterhin die vormärzlichen Ansprüche der preußischen Bürgerklasse nach einer größeren „Verfreiheitlichung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse einzuklagen versuchte. In deutlichem Gegensatz zu späteren Hohenzollerndarstellungen herrscht auf ihnen keine Idealisierung oder gar Heroisierung, kein wohlfeiler Hurrapatriotismus, keine servile Untertanengesinnung, welche sich masochistisch an der Größe eines siegreichen Schlachtenlenkers berauscht, sondern eine intime, lebensvolle Realistik, die gerade das Humane, das Einfühlsame, das Mitmenschliche dieses Königs herauszustellen versucht. All dies zehrt noch von der liberalen Illusion, daß sich ein guter König wie Friedrich II. vornehmlich als „erster Diener seines States“ verstanden habe. Fast alle diese Bilder malte Menzel – entgegen seinen bisherigen Gewohnheiten – ohne vorherige Bestellung, rein aus spontanem Impuls heraus. Für ihn waren sie in erster Linie Bekenntnisbilder, mit denen er in „altpreußischer“ Gesinnung seinen Glauben an die politische „Vernunft“ bekunden wollte. So betrachtet, sind diese Friedrich-Darstellungen samt und sonders gegen den herrschenden Zeitgeist gemalt. Schließlich herrschte in diesen Jahren der Geist der Reaktion, dem jedes Bekenntnis zu politischer Aufklärung und Toleranz höchst verdächtig vorkam. Deshalb machte es Menzel mit solchen Bildern fast niemandem recht: weder den höfisch orientierten Kreisen, die weiterhin eine unpolitische, stimmungsvolle Landschaftsmalerei oder Gemälde mit einer nazarenisch-mittelalterlichen Thematik bevorzugten, noch den oppositionell-deutschtümelnden Schichten, die vor allem heroische Motive erwarteten und deshalb im Rokokogeist der friederizianischen Ära etwas Undeutsches, Französisches, wenn nicht gar Frivoles erblickten. Worauf Menzel dagegen weiterhin vertraute, war jene dünne Schicht der „Freisinnigen“, deren Reihen allerdings in diesen Jahren immer lichter wurden. Vor allem die offiziösen Kunstkritiker empfan58 Adolph Menzel

den daher Menzel zusehends als Außenseiter und ließen ihn das in ihren Schriften nur allzu deutlich merken. Den Auftakt zu dieser Friedrich-Serie bildete das schon 1849 vollendete, kleinformatige Ölbild Die Bittschrift, auf dem ein „paar Bauersleute“, wie Menzel selber schrieb, „Friedrich dem Großen, der in der Ferne geritten kommt, mit einem Anliegen aufpassen“.12 Hier ist also Friedrich jener König, auf den selbst die kleinsten Leute ihr Vertrauen setzen können. Das zweite, wesentlich bekanntere und bedeutendere Gemälde dieser Reihe trug ursprünglich den Titel Friedrich der Große unter seinen Freunden und Gesellschaftern, wird aber meist abgekürzt Die Tafelrunde genannt. Dieses Bild wurde ebenfalls schon 1849 begonnen und im folgenden Jahr vollendet. Auf ihm sitzt Friedrich wie ein Primus inter pares mit einer Reihe seiner Vertrauten, unter denen sich so erlauchte Geister wie Voltaire, La Mettrie, d’Argens und Algarotti befinden, im runden Speisesaal von Sanssouci zusammen. Im Gegensatz zum steifen Zeremoniell vieler anderer Höfe scheint an dieser „Konfidenztafel“ ein erstaunlich freier Ton geherrscht zu haben. Hier hat offenbar nur der Esprit und nicht irgendeine Rangvorstellung den Ausschlag gegeben. Während die meisten Historienmaler dieser Jahre, ob nun die Cornelius-Schüler oder die Düsseldorfer, auf ihren Bildern große, welthistorisch bedeutsame Motive bevorzugten, wirkt auf diesem Bild alles so frisch, als sei es direkt aus dem Leben gegriffen. Dieser Konversation liegt kein historisch datierbares Ereignis zugrunde, das bereits einen legendären Charakter angenommen hat. Bei ihr steht das rein Menschliche, den Betrachter zur unmittelbaren Einfühlung Auffordernde im Vordergrund. Bei den bürgerlichen Liberalen fand dieses Bind den erwarteten Beifall. Von den höfischen Kreisen wurde es hingegen recht kühl aufgenommen. Friedrich Wilhelm IV., dem Menzel die Tafelrunde zum Preis für 2 000 Taler zum Kauf anbieten ließ, würdigte ihn keiner Antwort. Er fand die Erinnerung an seinen großen Ahnen offenbar eher peinlich als schmeichelnd. So soll er schon zwei Jahre zuvor, als ihm die Kaiserkrone angeboten wurde, zu den Abgeordneten der Paulskirche – im Hinblick auf seine eigene Mediokrität – geäußert haben: „Friedrich wäre sicher ihr Mann gewesen, ich bin kein großer Regent.“13 Und so kaufte schließlich der bürgerliche „Verein der Kunstfreunde in Preußen“ dieses Bild zum gleichen Preis an. Fridericiana

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5 Adolph Menzel: Die Tafelrunde (1850), Kriegsverlust

Die gleiche Erfahrung mußte Menzel mit dem nächsten seiner Friedrich-Bilder, dem Flötenkonzert in Sanssouci, machen. Dieses Bild begann er im Jahr 1850, vollendete es jedoch erst 1852, da sich noch zwei andere Projekte, nämlich Friedrich der Große und General Fouqué und Friedrich der Große und die Tänzerin Barbarina, dazwischen schoben. Auch bei Menzels Flötenkonzert handelt es sich nicht um ein genau datierbares oder gar welthistorisch bewegendes Ereignis, sondern wie60 Adolph Menzel

derum um eine eher private, mit äußerster Einfühlsamkeit dargestellte Szene. Hier geht es um jenen Moment, als Friedrich im Konzertsaal von Sanssouci, neben einigen Musikern stehend, seine Flöte ergreift, um seiner zu Besuch weilenden Lieblingsschwester Wilhelmine eins der vielen Flötenkonzerte von Johann Joachim Quantz oder eins seiner eigenen für dieses Instrument komponierten Werke vorzublasen. Auf diesem Bild hat sich Menzel seinem Traum eines zutiefst menschlichen, aufgeklärten, musischen Herrschers wohl am rückhaltslosesten hingegeben. Wiederum scheinen auf ihm die innere und die äußere Würde dieses Königs eine einmalige Synthese einzugehen. Hier wird kein Gewaltherrscher oder geistig beschränkter Potentat dargestellt, sondern jener „Friedrich der Einzige“, wie ihn viele der deutschen Aufklärer nannten, der sich mit einer Hofgesellschaft umgab, in der Adlige und Bürgerliche, sofern sie über den nötigen Esprit oder das nötige Talent verfügten, eine geradezu utopische Gesellschaft Gleichgesinnter bildeten. Wie bei bürgerlichen Hauskonzerten oder den Versammlungen des „Tunnels“ scheinen auf diesem Bild weder Rang noch Stand, sondern lediglich Geist und Empfindung zu zählen. Dieser tendenziöse Charakter ist vielen Zeitgenossen wohlbewußt gewesen. Jedenfalls fand das Flötenkonzert, wie schon die Tafelrunde, unter den bürgerlichen Liberalen eine ungeteilte Zustimmung, ja wurde von einem Potsdamer Kunstfreund sofort für seine Sammlung angekauft, während vom Hofe wiederum kein Wort verlautete. Auch die offiziöse Kritik war von diesem Bild nicht gerade erbaut, das ihr viel zu genrehaft, viel zu idyllisch, das heißt nicht idealisch oder heroisch genug erschien. Hier werde Friedrich, erklärten ihre Vertreter, nicht wie erwartet als Herrscher, sondern lediglich als Mensch dargestellt. So schrieb etwa der einflußreiche Kritiker Max Schasler 1858 in den Dioskuren: „Menzel ist ein Feind aller Abstraktion, der nicht das Allgemeine malt, sondern das Besondere, das Persönliche, Individuelle, Zufällige“, ohne das Ganze auf die Ebene einer „höheren Charakteristik“ zu heben.15 Auch an den folgenden Bildern dieser Serie hatte die höfisch gesinnte Kritik manches auszusetzen. Sein Bild Friedrich der Große auf Reisen (1854) überging sie fast völlig. Ebensowenig Aufsehen erregte das Gemälde Friedrich der Große bei der Huldigung zu Breslau (1855), das der „Schlesische Kunstverein“ bei Menzel in Auftrag gegeben hatte. Während der Hof hier den nötigen Respekt vermißte, lehnten die LibeFridericiana

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ralen dieses Bild als zu „angepaßt“ ab. Etwas mehr Gefallen fanden die gleichen Kreise an dem Bild Erste Begegnung Friedrichs des Großen mit Kaiser Joseph II. auf der Treppe des Schlosses zu Neiße im Jahre 1769 (1857), das die „Verbindung für Kunst“ auf einem ihrer Feste verloste. Auf ihm geht es um jenen bewegenden Moment, bei dem sich zwei „Vernunftherrscher“ endlich lächelnden, ja geradezu verehrenden Auges begegnen und einen dauerhaften Frieden zwischen Preußen und Österreich besiegeln. Wesentlich vieldeutiger sind dagegen jene Friedrich-Bilder, bei denen Menzel Motive aus der Zeit des Siebenjährigen Kriegs aufgriff. Von ihnen vollendete er nur eins, während er zwei unvollendet ließ. Das Gemälde Friedrich und die Seinen beim Nachtkampf zu Hochkirch im Jahre 1758 begann er bereits im August 1850, ließ es jedoch eine Weile stehen und beendete es erst im Jahr 1856. Dieses Bild geht nicht nur im Ausmaß (2,95 x 3,78 m), sondern auch im Sujet über alles hinaus, was Menzel bis dahin gemalt hatte. Es handelt sich hier um jene Szene, als Friedrich – offenbar in hoffnungsloser Situation – plötzlich unvermutet in vorderster Schlachtreihe auftaucht, um seine Truppen erneut anzutreiben. Am unteren Bildrand sieht man einige Soldaten, die eher mühselig als begeistert einen kleinen Abhang hinaufklettern. Wie die Figur des Königs werden auch ihre Silhouetten durch den bengalisch aufflackernden Feuerschein der Schlacht fast ins Geisterhafte gesteigert. Was fehlt, ist also wiederum der idealische oder heroische Aspekt. Schließlich erlitten die Preußen bei Hochkirch, was damals noch fast jedem Preußen bewußt war, eine ihrer fürchterlichsten Niederlagen. Und das stand Menzel beim Malen dieses Bildes sicher ständig vor Augen. Was er auf ihm darstellen wollte, war nicht das Heldische, sondern das allgemeine Durcheinander, die Ausweglosigkeit, ja die hereinbrechende Katastrophe, die auch durch den persönlichen Einsatz des Königs nicht aufzuhalten war. Über die Arbeit an diesem Bild sind wir recht genau informiert. „Ich habe es“, sagte Menzel später zu Albert Hertel, „bloß aus glühender Lust zur Malerei im Großen gemalt, und zwar ohne jegliche Anregung, geschweige Bestellung, sondern sogar mit der fast sicheren Aussicht, dieses Riesenbild einer Niederlage, die damals durchaus nicht hoffähig war, niemals an den Mann zu bringen.“16 Als es sechs Jahre später endlich fertig war, wurde es im Alten Akademiegebäude Unter den Linden 62 Adolph Menzel

ausgestellt, machte jedoch keine Furore. Ebenso schwierig gestaltete sich der Verkauf dieses Bildes. „Ich habe nach dieser Ausstellung“, erklärte Menzel dem gleichen Hertel, „durch Not gezwungen, doch viel antichambrieren müssen, und das Bild für einen relativ geringen Preis an Friedrich Wilhelm IV. endlich verkauft.“17 Ja, anschließend mußte er noch das ihn demütigende Nachspiel erleben, daß dieses Bild „einer nicht hoffähigen Niederlage“ im Berliner Schloß ausgerechnet in jenem „blitzblauen Marinezimmer nach dem Hof hinaus“ aufgehängt wurde, wo bei den Hofbällen die Lakaien die „Teetassen“ reinigten. Und so sei aus seinem „Schmerzensbild“, wie Menzel sarkastisch bemerkte, schließlich eine Art „Abwaschaltar“ geworden. Wesentlich weniger Aufsehen erregte dagegen sein Friedrich-Bild Bon soir, messieurs! von 1858, bei dem Menzel – einer bekannten Anekdote folgend – jenen Moment wählte, als Friedrich zu nächtlicher Stunde das Lissaer Schloß betritt und dort zu seinem Erstaunen feststellen muß, daß dieses Schloß bereits von österreichischen Offizieren okkupiert ist, die auf sein geistreiches Auftreten, mit dem er die Situation zu meistern versucht, lediglich verblüfft reagieren. Dieses Gemälde blieb unvollendet, da es der Gemahlin des Auftraggebers, der Frau des Herzogs von Ratibor, als zu „wüst“ erschien. Sie hätte lieber jene Szene dargestellt gesehen, wie sich Friedrich im oberen Teil des Schlosses die österreichischen Offiziere vorstellen läßt, in der also das Huldigende, Repräsentative im Vordergrund gestanden hätte. Doch die eigentliche Pièce de résistance dieser Reihe, noch stärker als das Hochkirch-Gemälde, war für Menzel das Bild Ansprache Friedrichs des Großen an seine Generäle vor der Schlacht bei Leuthen im Jahre am 5. Dezember 1757, das er 1858 begann, an dem er bis 1861 weiterarbeitete, um es dann für den Rest seines Lebens, das heißt bis 1905, unvollendet in seinem Atelier stehenzulassen. Bei diesem Bild geht es um die Darstellung jenes trüben Wintermorgens, an dem Friedrich II. vor seinen Generälen die bekannte Alles-oder-Nichts-Rede hielt, welche auf den Satz hinauslief: „Nun leben Sie wohl, meine Herren; in kurzem haben wir den Feind geschlagen oder wir sehen uns nie wieder.“ Was Menzel an diesem Thema interessierte, war – wie schon bei dem Hochkirch-Bild – weniger das Heroische als das Schreckliche, das Mörderische des Krieges. Wie wir wissen, gewann zwar Friedrich diese Schlacht, aber es war letztlich ein Pyrrhussieg, da er bei dieser „Bataille“, Fridericiana

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6 Adolph Menzel: Friedrich der Große vor der Schlacht bei Leuthen am 5. Dezember 1757 (begonnen 1857, unvollendet), Berlin, Nationalgalerie, SMB, © bpk, Klaus Göken

wie er selber zu sagen pflegte, seine besten Regimenter verlor und der berühmte „Choral von Leuthen“ gegen Abend nur von einem zwar siegreichen, aber kümmerlichen Rest seiner Truppen angestimmt werden konnte. Und all dies sollte auf Menzels Bild auf höchst widerspruchsvolle Weise zum Ausdruck kommen. In einem Brief vom 1. Juli 1859 an Adolf Schöll, also noch mitten in der ersten Schaffensperiode an diesem Bild, nannte Menzel das Ganze, schon mit einem ironischen Unterton, „Fritzens Rede an seine Leute vor dem va banque von Leuthen“.18 In späteren Äußerungen wurde er diesem Bild gegenüber immer negativer, ja betrachtete es schließlich geradezu mit einem „kritischen Haß“, wie es bei Hugo von Tschudi heißt.19 Je länger Menzel daran malte, desto klarer wurde ihm, daß er all diesen Männern, von denen nur wenige die bevorstehende Schlacht überleben würden, eigentlich keine normal blickenden, sondern angstverzerrte Gesichter geben müßte. „Ich konnte sie nicht mehr sehen“, sagte Menzel später, „die gleichgültigen Fratzen. Keiner wußte, ob er die nächste Nacht noch schnarchen würde, und jeder sieht so aus, als ginge 64 Adolph Menzel

es um ein Pfund Wurscht und nicht um die bataille aux ruines!“20 Aufgrund dieser Einstellung verstrickte sich Menzel in einen unlösbaren Widerspruch seinem geliebten Friedrich gegenüber, der 1861 vielleicht sogar jenen Kreislaufkollaps auslöste, der ihn zu einer Brunnenkur in Bad Freienwalde nötigte. Als er nach seiner Rückkehr das Ganze erneut betrachtete, entschied er sich, dieses Bild einfach als gescheitert in seinem Atelier stehenzulassen. Und dort stand es dann, wie gesagt, für den Rest seines Lebens, das heißt noch weitere 45 Jahre, und zwar als ein riesiges Monument, das 3,18 x 4,24 Meter groß war und ihn durch seine weißen Flecken zwischen den bereits sorgfältig ausgeführten Partien ständig an die problematischen Aspekte der preußischen Geschichte gemahnen sollte. Der Friedrich des Flötenkonzerts, aber nicht der Friedrich von Leuthen war der Friedrich, den er schätzte. Der eine gelang ihm darum, der andere nicht. In ihrer Gesamtheit wurden diese Gemälde, allerdings ohne das Leuthen-Bild, erstmals 1863 anläßlich der hundertjährigen Wiederkehr des Hubertusburger Friedens zwischen Preußen und Österreich, der das mörderische Blutbad des Siebenjährigen Krieges endlich beendet hatte, in der Berliner Akademie ausgestellt. Das Geld, das dabei einkam, überwies Menzel den beiden letzten noch lebenden Veteranen der Armee Friedrichs II., von denen der eine 113, der andere 95 Jahre alt war und welche vom preußischen Staat als „Nationaldank“, wie Menzel am 19. Februar dieses Jahres an Wilhelm Puhlmann schrieb, monatlich lediglich „3 bzw. 2 Silbergroschen erhielten“.21 Neben den Friedrich-Bildern fallen fast alle anderen Werke, die Menzel in den fünfziger Jahren schuf, etwas ab. Selbstverständlich gibt es auch hierunter „Perlen“, aber sie sind nicht mit der gleichen Intensität, dem gleichen Engagement gemalt wie die Tafelrunde, das Flötenkonzert, das Hochkirch- oder das Leuthen-Bild. Da sein Friedrich-Bild ins Wanken geriet, geriet auch seine Existenz ins Wanken, wovon nicht nur sein körperlicher Zusammenbruch im Jahr 1861, sondern auch seine nachlassende künstlerische Produktivität ein deutliches Zeugnis ablegt. In diesen Jahren irritierte ihn an Berlin, an Preußen, wenn nicht gar an Deutschland so viel, daß seine vormärzlichen Ideale zusehends in einen unübersehbaren Widerspruch zu der ihn umgebenden Realität traten. Menzel erwog zu diesem Zeitpunkt sogar zeitweilig, „nach Frankreich überzusiedeln“.22 Jedenfalls verlief sein Leben in diesen JahFridericiana

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ren, in denen er gerade die Vierzig überschritten hatte, gar nicht so idyllisch, wie es den äußeren Anschein hat. Indem Menzel in Friedrich II. plötzlich auch den Aggressor entdeckte und damit sein letztes politisches Ideal verlor, wurde er auch anderen Dingen gegenüber skeptisch. Allerdings zog er daraus, wie schon 1842/43, nach der Vollendung der Kugler-Illustrationen, keine „radikalen“ Konsequenzen, sondern schloß abermals einen widerwillig erduldeten Kompromiß mit den herrschenden Verhältnissen und akzeptierte sogar jenen „Kartätschenprinz“, der 1858 – wegen der geistigen Zerrüttung seines Bruders – die Regentschaft übernahm und 1861 als Wilhelm I. den preußischen Thron bestieg. Dieser neue König scheint Menzel wesentlich mehr geschätzt zu haben als der ständig an seinem großen Ahn krankende Friedrich Wilhelm IV. Jedenfalls erteilte er ihm nach seinem offiziellen Regierungsantritt sofort den höchst ehrenvollen, aber zugleich problematischen Auftrag, das offizielle Krönungsbild zu malen. Und Menzel, zum Dableiben und Durchhalten entschlossen, nahm an, da eine Weigerung in diesem Fall einem radikalen Affront gleichgekommen wäre. Mit diesem Bild gab also Menzel seine bisherigen Träume eines besseren Preußen endgültig auf und arrangierte sich mit jenem Staat, in dem die Nachfrage nach Vernünftigem, Musischem, Tolerantem, Aufgeklärtem immer geringer wurde. Da Menzel ein so anspruchsvolles und großformatiges Gemälde (3,45 x 4,45 m), zu dem obendrein eine Reihe der „allerhöchsten Herrschaften“ Modell sitzen mußte, nicht in seinem häuslichen Studio malen konnte, wurde ihm für die nächsten Jahre ein Saal im Königlichen Schloß, der seit alter Zeit „Gardes du Corps-Saal“ hieß, als Atelier eingeräumt. Hier mußten ihm neben dem König und den Mitgliedern seiner Familie über 100 preußische Fürsten, Herzöge, Grafen, Hofmarschälle, Generale, Minister und ausländische Botschafter sowie alle hochgestellten Damen des Hofes nacheinander Modell sitzen. Das Skizzieren dieser Porträts sowie das Übertragen auf die Leinwand beschäftigten Menzel zwei Jahre. Öffentlich ausgestellt wurde dieses Gemälde erstmals in der Königlichen Akademie in den Weihnachtstagen 1865. Der Hof war offenbar mit dem Ganzen recht zufrieden. Auch viele Kunstkritiker sprachen der in diesem Bild zum Ausdruck kommenden „Leistung“ ihre Anerkennung aus. Selbst bei diesem Werk, 66 Adolph Menzel

schrieb ein Rezensent der Zeitschrift für bildende Kunst, wo es um ein höchst konventionelles Thema gehe, bewähre sich Menzel als „Realist“. „Geschmeichelt wird sich hier keiner fühlen“, erklärte er allerdings, dafür sei Menzels „Wahrheit“ eine viel zu „schneidende und unbestechliche“.23 Als Menzel im Dezember 1865 dieses Bild vollendete, hatte sich der politische Kurs in Preußen eindeutig ins Reaktionäre verschärft. Otto von Bismarck, der neue Ministerpräsident dieses Staates, gab schon damals zu erkennen, daß er als Mann der Tat eine „Politik von Blut und Eisen“ befürwortete, durch die Preußen zur beherrschenden Vormacht eines noch zu einigenden Deutschlands werden sollte. Und damit verschwand Menzels Traumbild eines noch aus altpreußischem Geiste genährten Staates immer weiter hinter dem Horizont realisierbarer Möglichkeiten. Wilhelm I. hatte Menzel gerade noch akzeptiert. Bismarck und seine Politik waren ihm dagegen fremd. Daher distanzierte er sich 1870/71 von dem Deutsch-französischen Krieg, so gut er konnte. Doch selbst seine Reserviertheit half ihm nicht, in der Folgezeit mit einer Fülle von Ehrungen überschüttet zu werden, die gerade das an ihm lobten, was er nie sein wollte, nämlich der bedeutendste Ruhmeskünder der preußischen Armee zu sein. Obwohl Menzel in diesen Jahren als Sujets fast nur noch Szenen aus dem Alltagsleben wählte und auf alle historischen Einkleidungen verzichtete, galt er in den Augen der landläufigen Kunstkritik vornehmlich als der Maler seiner rein patriotisch gedeuteten Fridericiana. Dies war ein Klischee, das erst durch den gründerzeitlichen und dann den wilhelminischen Chauvinismus ständig neu angeheizt wurde. So feierte ihn Ludwig Pietsch im Jahr 1874 – im Sinne der damaligen Sedan-Gesinnung – in der Gartenlaube als den „Maler des kriegerischen Preußen“24 und stellte ihn 1895 im gleichen Blatt noch einmal als jenen Maler hin, den man in seiner „kernfesten“, an „deutsche Eichen“ gemahnenden Haltung nur mit Bismarck vergleichen könne.25 Auch Hermann Knackfuß charakterisierte ihn in seiner seit 1895 in vielen Auflagen erscheinenden Menzel-Monographie als jenen Künstler, der schon in seinen Kugler-Illustrationen von 1840 die „straffe Zucht“, die „Erwartung des Kampfes“, das „todesmutige Hineinstürmen in das feindliche Feuer“ und das „heldenhafte Ausharren“ der preußischen Truppen auf überzeugende Weise herausgestrichen habe.26 Fridericiana

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Demzufolge fehlte es in der Folgezeit keineswegs an vielfachen Menzel-Ehrungen. So bekam er etwa im Jahr 1885, anläßlich seines 70. Geburtstags, in seiner eigenen Wohnung vom Kronprinzen ein persönliches Handschreiben Kaiser Wilhelms I. überreicht, weil seine Kunst, wie es darin hieß, „mit Vorliebe der Verherrlichung des preußischen Ruhmes und seiner Helden gewidmet ist, denen wir die Grundlagen der Größe des Vaterlandes verdanken“.27 Noch mehr Tamtam wurde um Menzel 1895, anläßlich seines 80. Geburtstags, gemacht. Diesmal lud ihn Wilhelm II. zuerst zu einem friderizianischen Kostümfest nach Sanssouci ein und ließ am folgenden Tag in Berlin zu seinen Ehren die Langen Kerls aufmarschieren, neben denen sich der Jubilar wie ein „Zwerg“ ausnahm. Ja, in den Krollschen Festsälen gab es am gleichen Abend eine Huldigungsfeier für Menzel, bei der ein als Friedrich der Große auftretender Schauspieler dem sich verwundert umblickenden Menzel höchstpersönlich seine Glückwünsche darbrachte. Doch nicht genug damit. Im Jahr 1898 erhielt Menzel von Wilhelm II. für die „durch seine Kunst meinem Hause geleisteten Dienste“ sogar den Schwarzen Adlerorden und wurde obendrein in den Adelsstand erhoben. Wie Menzel auf all diese Ehrungen innerlich reagiert hat, ist schwer auszumachen. Er akzeptierte sie, genoß wohl auch die Anerkennung, die man ihm zollte, rückte jedoch von den politischen Intentionen dieser Feiern immer weiter ab. So sprach er von seinen Orden gern als „all dem ganzen Kladderadatsch“.28 Als sich Menzel im vollen Ornat des Ordens vom Schwarzen Adler fotografieren lassen mußte, legte er Wert darauf, daß man auf diesem Bild auch seinen Zylinderhut sehe, um damit anzudeuten, daß er „nur ein einfacher Bürger“ sei.29 Vor allem dem jungen Kaiser gegenüber, der ihn so nachdrücklich hofierte, bewahrte er stets einen deutlichen Abstand. So ließ er die Kutsche, die ihn zum Schloß abholen sollte, manchmal stundenlang warten. Als ihn Wilhelm II. einmal nach seinem Urteil über ein Bild fragte, welches er gerade erworben hatte und das ihm offenbar ausnehmend gut gefiel, examinierte es Menzel sehr genau, sagte dann aber: „Lediglich Schund, Majestät, Schund.“30 Ebenso abfällig äußerte sich Menzel nach 1885 über seine vom Hof und seiner Kamarilla in einem preußisch-patriotischen Sinne gedeuteten Fridericiana. Auch auf die Ehre, als „Historienmaler“ angesehen zu werden, verzichtete er in diesen Jahren gern. Ja, manchmal lachte Men68 Adolph Menzel

zel geradezu tückisch, wie Axel Delmar berichtete, über all die „großen Schinken“, die „er einst zurechtgeschustert habe“.31 Anderen gegenüber äußerte sich Menzel zwar etwas vorsichtiger, aber immer noch deutlich genug über seine Alten-Fritzen-Bilder. So sagte er etwa zu Paul Lindenberg, daß er sich stets bemüht habe, diesen Friedrich II. so realistisch, „wie er war“, darzustellen, „und nicht gleichsam gereinigt und gefirnißt, für’s Schaufenster“.32 Solche frommen Exerzitien habe er lieber den üblichen Salonmalern überlassen. Selbst Friedrichs Soldaten seien auf seinen Bildern keine preußischen Musterknaben oder gar Idealgestalten eines himmelstürmenden Heroismus. Auch sie habe er so gezeichnet, wie Menzel zu dem gleichen Lindenberg sagte, „wie sie gewesen, wie sie gedrillt wurden und wie sie in den Tod gingen“.33 Daß ihm dies manchmal, wie auf dem Leuthen-Bild, nicht gelungen sei, wurmte Menzel sehr. Obwohl ihm bei diesem Bild, wie es in seinen Gesprächen mit Delmar heißt, „die Schlacht immer vor der Seele“ gestanden habe, seien die Gesichtszüge der Offiziere viel zu hoffnungsvoll oder zumindest nicht unbeteiligt oder angstverzerrt genug ausgefallen. Aus diesem Grund habe er in den letzten Jahrzehnten ein Gesicht nach dem anderen einfach „abgekratzt“. „Und wo ich nicht heranreichte“, erklärte er, „habe ich ein Modell raufgeschickt“, um diese „gleichgültigen Fratzen“ wieder „herunterzuholen“.34 Nicht einmal sein einst so innig geliebtes Flötenkonzert nahm Menzel von dieser nachträglichen Kritik aus, der eine immer tiefer gehende Desillusionierung seiner früheren Idealvorstellungen zugrunde liegt. „Betrachten Sie mal den König“, meinte er jetzt zu Delmar über dieses Bild, „Hm – es ist mir auch nicht gelungen! Der König steht da wie ein Kommis, der sonntags Muttern etwas vorflötet! Da ist er noch jung und stolz! Der dicke Gotter gehört gar nicht ins Bild und die übrigen sehen auch so hineingefabelt aus. Überhaupt habe ich’s bloß gemalt des Kronleuchters wegen. In der Tafelrunde brennt er nicht – hier brennt er!“35 Erst als Menzel eine seiner späteren, wesentlich „realistischeren“ Darstellungen Friedrichs II. in die Hand fiel, auf der von dem früheren Charme dieses Königs fast nichts übriggeblieben war, sagte er zu dem gleichen Delmar: „Sehen Sie, dieses schlaffe, feiste Gesicht und die erzwungen steife Haltung zeigen den gealterten König. Damit bin ich zufrieden.“36 Mit ähnlicher Respektlosigkeit hat sich Menzel in den letzten Jahren seines Lebens auch über die „Größen“ seiner eigenen Zeit geäußert. Vor Fridericiana

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allem Bismarck, mit dem er nur durch das „herkömmliche Händeschütteln bei Hoffesten“ und ähnlichen Anlässen „in Berührung“ gekommen sei, wie er am 16. Oktober 1894 an Hans Kraemer schrieb,37 scheint ihm überhaupt nicht zugesagt zu haben. Doch auch über Wilhelm II. findet sich in Menzels Briefen oder sonstigen Selbstzeugnissen kein einziges anerkennendes Wort. Dies waren für ihn jene „Neupreußen“, von denen sich Menzel innerlich immer weiter distanzierte. Er ließ sich daher weder von Bismarck noch vom Hof in seinen Angelegenheiten, das heißt in Fragen der Kunst, irgendetwas vorschreiben. Während diese Kreise vornehmlich Chauvinistisches von ihm erwarteten, gebärdete sich Menzel in seiner Spätzeit immer aufmüpfiger. So schickte er 1889 – ohne die geringsten Skrupel – einige seiner Werke zur großen Jubiläumsausstellung der Französischen Revolution in Paris, obwohl Bismarck eine Beteiligung deutscher Maler an dieser „anrüchigen“ Jubelfeier ausdrücklich untersagt hatte und auch der Hof bei Menzel vorstellig wurde, seine Bilder wieder zurückzuziehen. Nicht einmal als die Berliner politischen Nachrichten seine Hartnäckigkeit, welche in ihrer „Verherrlichung des Revolutionsgedankens eine Herausforderung des monarchischen Bewußtseins“ bilde, als einen Akt bezeichneten, der für alle „deutschen Patrioten tief beschämend“ sei,38 zeigte sich Menzel sonderlich beeindruckt. Im Jahr 1895, als im Rahmen der sogenannten Umsturzdebatte Forderungen laut wurden, neue Zensurbeschränkungen durchzuführen, unterzeichnete er – zum Ärger dieser Kreise – eine Petition, die sich nachdrücklich gegen jedwede Behinderung der künstlerischen Freiheit wandte.39 1896 schlug Menzel mit der gleichen politischen Unbekümmertheit, die er sich aufgrund seines gesellschaftlichen Status leisten konnte, die junge Käthe Kollwitz für ihren Weberaufstand als Anwärterin der kleinen golden Medaille vor. Ja, noch 1904, im Alter von 89 Jahren, protestierte er dagegen, sein Krönungsbild zur Weltausstellung nach St. Louis zu schicken. „Ob die Amerikaner für den Gegenstand ein besorgtes Herz haben werden“, fragte er höchst doppeldeutig, „und nicht vielleicht eines Tages ein freier Mann mit nem Stein in der Tasche die Ausstellung besuchen dürfte???“40 In seinen letzten Jahren müssen Menzel die Widersprüche seiner Existenz ständig bewußter geworden sein. Vom Hof für seine – von ihm selbst als obsolet empfundenen – Fridericiana hochgeehrt, versuchte er in diesem Zeitraum sein wohl nie ganz ersticktes liberales Gewissen 70 Adolph Menzel

wenigstens durch kleine Protesthandlungen zu besänftigen. Doch eine wirkliche Befriedigung hat ihm das alles nicht gegeben: weder die Ehren noch die Proteste. In einem seiner klarsten Momente kurz vor seinem Tod sagte er darum zu Axel Delmar über sein Flötenkonzert: „Manchmal reut’s mich, daß ich’s gemalt habe: enfin bestand die Hälfte meines Lebens aus Reue. So oder so“.41 Als ihn darauf Delmar verwundert fragte, ob solche Äußerungen auch für die Öffentlichkeit bestimmt seien, schwankte Menzel erst ein bißchen. Doch dann sagte er mit der für ihn typischen Schnoddrigkeit, um vor der Nachwelt so aufrecht und wahrheitsgetreu wie nur möglich dazustehen: „Wenn Sie mal den Mund nicht halten wollen, so ist das Ihre Sache.“42 Doch der Hof ließ sich selbst von solchen Äußerungen nicht beirren und strich Menzel weiterhin als einen hohenzollernfrommen Patrioten heraus. Als Menzel am 8. Februar 1905 starb, ließ Wilhelm II. in den folgenden Tagen zwei Soldaten vom I. Garderegiment zu Fuß vor Menzels Haus die Totenwacht halten. Danach wurde er in der Rotunde des Alten Museums aufgebahrt, wo am 13. Februar die offizielle Trauerfeier unter Anwesenheit des Kaisers und aller Ritter des hohen Ordens vom Schwarzen Adler stattfand. Der Kranz, den Wilhelm II. anschließend höchst persönlich auf Menzels Grab auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof niederlegte, trug auf seiner Schleife die lapidare Inschrift „Dem Ruhmeskünder Friedrichs des Großen und seiner Armee“. Am 6. März erklärte daraufhin Anton von Werner in seiner Funktion als wilhelminischer Akademiedirektor im Konzertsaal der Hochschule für Musik vor den versammelten „kaiserlichen und königlichen Majestäten“, daß Menzels Bedeutung hauptsächlich darin bestehe, jenen „großen König und seine Helden“ dargestellt zu haben, die das „Preußen der Zukunft“ geschaffen hätten. Neben den Illustrationen zu Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen und dem Flötenkonzert wies Werner dabei vor allem auf das Gemälde Überfall bei Hochkirch hin, das heute – als Ausdruck persönlichen Muts und militärischer Durchhaltekraft – das „Arbeitszimmer unseres Kaisers“ schmücke.43 Noch krasser hätte man Menzels Einstellung zur preußischen Geschichte kaum verkennen können. Doch wenn es um staatspolitische Manipulationen geht, geben selten die Fakten, sondern meist die ideologischen Wunschvorstellungen den entscheidenden Ausschlag.

Fridericiana

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Emanuel Leutze: Washington Crossing the Delaware (1849/50)

I Das weitaus berühmteste US-amerikanische Historienbild ist das Gemälde Washington Crossing the Delaware (1849/50) von Emanuel Leutze. Außer einer großformatigen Zweitfassung dieses Bildes, die sich seit 1897 im Metropolitan Museum of Art in New York befindet, existieren von ihm in den Vereinigten Staaten noch eine Drittfassung und mehrere Kopien, darunter eine im westlichen Flügel des Weißen Hauses.1 Außerdem wurden von diesem Gemälde in den USA unzählige Farb- und Schwarzweißabbildungen hergestellt und in gerahmter Form in vielen Verwaltungsgebäuden und Schulen aufgehängt. Und auch fast in jedem Buch zur Geschichte des US-amerikanischen Unabhängigkeitskriegs ist es abgebildet. Auf diesem Bild scheint der Gründungsmythos der Vereinigten Staaten seine eindringlichste künstlerische Ausprägung erhalten zu haben: Washington, der allesüberragende Heerführer dieses Kriegs, überquert auf ihm – trotz grimmiger Winterkälte – mit seinen Truppen am 25. Dezember 1776 den mit Eisschollen bedeckten Delaware, um die Söldnertruppen der britischen Kolonialarmee, darunter die „blinden Hessen“, aus New Jersey zu vertreiben. Was damit herausgestellt werden sollte, ist nicht nur die strategisch-geniale Kriegsführung Washingtons, sondern auch der zum Letzten entschlossene patriotische Mut und Aufopferungswillen seiner Volksmiliz, die vor nichts zurückgeschreckt sei, um ihr Land endlich von den ausbeuterischen Briten zu befreien und ihm unter dem Motto „Freedom is the Only King“ endlich die ersehnte Unabhängigkeit zu verschaffen. Daß all das mit einer unglaublichen Verve dargestellt wird, verhalf diesem Gemälde, wie gesagt, in den Vereinigten Staaten zu einem gerade beispiellosen Erfolg, mit dem kein anderes US-amerikanisches Historienbild konkurrieren konnte. Daher wurde bei allen nationalen Erinnerungsfeiern immer wieder auf dieses Bild hingewiesen2 und der heroische Geist jenes Unabhängigkeitskriegs und ihres überragenden 72 Emanuel Leutze

7 Emanuel Leutze: Washington Crossing the Delaware (1849/50), New York, Metropolitan Museum of Art © akg-images

Anführers herausgestrichen, dem die USA ihre Entstehung und ihre bis heute weiterwirkende freiheitliche Gesinnung verdankten. Wer jedoch die Bewunderer dieses Bilds in den USA befragt, aus welchem Jahr dieses Gemälde eigentlich stammt und wer es gemalt hat, erhält selten eine befriedigende Auskunft. Die meisten reagieren auf solche Fragen lediglich mit einem verlegenen Achselzucken. Obwohl also dieses Bild auch heute noch berühmt ist, weiß in diesem Lande – außer einigen Geschichtswissenschaftlern – fast keiner mehr, wann es entstanden ist und wer es gemalt hat. Selbst die US-amerikanischen Kunsthistoriker und -historikerinnen haben sich nur in Ausnahmefällen mit ihm beschäftigt, da es 1849/50 von einem deutsch-amerikanischen Maler, namens Emanuel Leutze, in Europa und nicht in der Neuen Welt gemalt wurde, der sich seine Malweise in den frühen vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts an der Düsseldorfer Akademie angeeignet hatte und demzufolge eher in die deutsche als in die US-amerikanische Kunstgeschichte zu gehören scheint. Welch seltsame Diskrepanz: das berühmteste Historienbild der USA, das alle in diesem Land lebenden Patrioten zu nationalen Hochgefühlen beflügelt, ist merkwürdigerweise gegen Ende der deutschen Washington Crossing the Delaware

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Achtundvierziger Revolution in Düsseldorf gemalt worden und hängt zum Teil mit den dortigen Aufständen enger zusammen als mit den Ereignissen des Jahres 1776 in New Jersey. Ja, sein Maler war ein geborener Deutscher, der jedoch nicht in Deutschland, sondern in den Vereinigten Staaten, und zwar vor allem durch sein Bild Washington Crossing the Delaware, berühmt wurde. All dies verlangt nach einer genaueren historischen Interpretation, um diesem Gemälde – über seinen patriotisch heroisierenden Aspekt hinaus – den Charakter eines politischen Denkbildes zu geben, den sowohl seine US-amerikanischen als auch seine deutschen Betrachter nicht übersehen sollten.

II Beginnen wir mit der Biographie dieses Malers.3 Wer war Emanuel Leutze, wo stammte er her und wie kam er eigentlich dazu, im Jahr 1849/50 in Düsseldorf das Bild Washington Crossing the Delaware zu malen? Geboren wurde er am 14. Mai 1816 in Schwäbisch-Gmünd, also ein Jahr nach dem Wiener Kongreß, durch den alle nationaldemokratischen Hoffnungen, die in Deutschland während des Befreiungskriegs gegen Napoleon aufgeflackert waren, wieder erstickt wurden. Gottlieb Leutze, sein Vater, war einer jener bürgerlichen Liberalen, der die reaktionäre Regierungsführung des württembergischen Königs Wilhelm I. unerträglich fand und sich daher 1825 entschied, mit anderen ähnlich gesinnten Schwaben in die USA, genauer nach Philadelphia, auszuwandern. Im Hinblick auf diese Entscheidung verfaßte einer seiner Freunde in diesem Jahr ein Gedicht, in dem sich folgende Zeilen finden: „Zieh hin ins Land der Freiheit; denn dort wehet / Des Glückes strahlendes Panier: / In Philadelphia, mein Freund, da gehet / Das Recht auf Stelzen nicht wie hier – / Dort gilt das Bürgerwohl – die gute Sache – / Die freie Red’. // Was im Vaterland dir nicht gediehen / Wird in der neuen Welt dich freuen. / Der freie Mensch gilt in Europa wenig; / In Columb’s Welt, da ist die Freiheit König!“4 Da Emanuels Vater bereits 1834 in Philadelphia starb, versuchte sich sein Sohn aufgrund seiner künstlerischen Begabung anfangs in Virginia, Maryland und Pennsylvania als Porträtmaler durchzuschlagen. Nachdem er einige seiner Gemälde auf der alljährlich stattfindenden Show 74 Emanuel Leutze

der dortigen Artists’ Fund Society ausgestellt hatte, ermöglichten ihm eine Reihe vermögender Patrone im Jahr 1840, seine malerische Ausbildung in Europa fortzusetzen. Nach seiner Ankunft in Amsterdam begab sich Leutze umgehend nach Düsseldorf, der damals berühmtesten Malakademie Europas, wo er gegen Ende 1841 die ersten Unterrichtsklassen besuchte, um sich als Historienmaler auszubilden. Nachdem Wilhelm von Schadow 1826 im Auftrag des preußischen Königs Friedrich Wilhelms III. die Leitung dieser Akademie übernommen hatte, wirkten dort eine Reihe namhafter Maler, darunter Karl Friedrich Lessing, Julius Hübner, Theodor Hildebrandt, Karl Sohn und Eduard Bendemann, die bis heute als die Hauptvertreter der Düsseldorfer Malerschule gelten.5 Als aufrührerischer Liberaler machte sich vor allem Lessing mit seinem Bild Hussitenpredigt von 1836 einen Namen, das sich im Sinne der damaligen jungdeutschen Bewegung gegen den katholisch-reaktionären Geist der Metternichschen Restaurationsideologie wandte und sicher von großem Einfluß auf Leutzes Konzeption seiner frühen Historienbilder, wie Columbus in Ketten (1842), Columbus vor der Königin (1843) und Oliver Cromwell und seine Tochter (1844), war.6 Kurz bevor Leutze sein Cromwell-Bild vollendete, löste er sich von der Akademie, unternahm eine längere Reise nach Süddeutschland, vor allem nach Bayern und Württemberg, und gründete anschließend sein eigenes Studio in Düsseldorf, um fortan in dieser Stadt als freischaffender Maler zu leben. 1845 heiratete er eine der dortigen Bürgerstöchter, namens Juliane Lottner, und zwar mit der Absicht, nicht wieder in die USA zurückzukehren, sondern sich in Deutschland als Maler durchzusetzen und zugleich in diesem Land als Liberaler politisch aktiv zu werden. Dafür spricht vor allem sein gesellschaftspolitisches Engagement in der deutschen Revolution von 1848/49, in der sich – nach den Weberaufständen von 1844 und den darauffolgenden Hungerrevolten – viele Liberalgesinnte für die Schaffung einer gesamtdeutschen konstitutionellen Monarchie, aber auch für republikanische oder sozialistische Ziele einsetzten. Nicht nur Leutze, auch andere Düsseldorfer Maler traten in dieser Revolution höchst aktiv für einen möglichst raschen Zusammenschluß aller deutschen Bundesländer zu einem nationalen Einheitsstaat ein. Als daher das Frankfurter Paulskirchenparlament den 6. August 1848 zum „Tag der deutschen Einheit“ erklärte, kam es auch Washington Crossing the Delaware

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in dieser Stadt zu einem national betonten Fackelzug, an dem nicht nur die Bürger und Künstler, sondern sogar die dort stationierten Soldaten teilnahmen. Karl Sohn entwarf aus diesem Anlaß die Statue einer Germania mit erhobenem Schwert und einem Banner mit dem früheren Reichsadler, die hoch über der begeisterten Menge schwebte. Neben Leutze nahmen an diesem Demonstrationszug von der Düsseldorfer Malern auch Karl Friedrich Lessing, Andreas Aschenbach, Ludwig Knaus, Johann Hasenclever, Karl Hübner sowie der revolutionär eingestellte Dichter Ferdinand Freiligrath teil. Alle diese Maler hatten sich schon vorher zu einer liberalen Künstlerorganisation zusammengeschlossen, die jetzt die Bezeichnung „Malkasten“ erhielt. Leutze, als einer der besonders enthusiastisch Gestimmten, hielt dieses Ereignis in einem Aquarell fest, welches er Das Fest der deutschen Einheit nannte und auf dem neben der begeisterten Volksmenge auch eine Fülle von Fahnen der einzelnen deutschen Bundesländer und die besagte Germania zu sehen sind. Doch wie wir wissen, verlief die deutsche Achtundvierziger Revolution – wie sie meist abgekürzt genannt wird, obwohl sie sich über einen Zeitraum von fast zwei Jahren erstreckte – nicht so, wie die deutschen Liberalen gehofft hatten. Nach den Berliner Barrikadenaufständen, den blutigen Unruhen in Wien, der Abdankung des bayerischen Königs Ludwigs I., den Guerillataktiken demokratischer Freischaren unter der Führung von Georg Herwegh und Friedrich Hecker in Baden und im Elsaß sowie den zögerlichen Verfassungsverhandlungen im Frankfurter Paulskirchenparlament erlahmte nämlich der rebellische Elan der Anfangsphase dieser Revolution wieder, zumal der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm von Abgeordneten dieses Parlaments angebotene Kaiserkrone ablehnte. Obwohl es nach der Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung in Frankfurt und des Stuttgarter Rumpfparlaments noch zu weiteren Volkserhebungen am Rhein, in Berlin, Dresden und vor allem in Baden und in der Pfalz kam, setzten sich schließlich die preußischen Truppen unter dem „Kartätschenprinzen“ Wilhelm überall mit brutalster Gewalt durch, wobei sie auch vor Standgerichten und Massenerschießungen nicht zurückschreckten. Viele Anführer der revolutionären Gruppen, wie auch eine stattliche Anzahl ihrer bürgerlichen Sympathisanten, darunter allein 80 000 Badener, gingen darauf vorübergehend, wenn nicht gar für immer ins 76 Emanuel Leutze

Schweizer oder Londoner Exil oder wanderten in die USA aus, was zu einer merklichen Schwächung der nationaldemokratischen Bewegung in Deutschland führte. Was folgte, war der sogenannte Nachmärz, in dem der Rest des liberal gesinnten Bürgertums weitgehend auf seine bisherige Aufmüpfigkeit verzichtete und sich im Zuge der einsetzenden Industrialisierung innerhalb der verschiedenen deutschen Bundesländer eher wirtschaftlichen Interessen zuwandte.

III Nun zu der Frage: wie reagierte Leutze, der wie viele seiner Gesinnungsfreunde große Hoffnungen in die Achtundvierziger Revolution gesetzt hatte, auf das klägliche Scheitern all dieser Aufstände und parlamentarischen Bemühungen? Zu seiner Ehre sei’s gesagt: er gab – im Gegensatz zu vielen anderen – keineswegs auf und hielt als guter Demokrat weiterhin an seinen liberalen Überzeugungen fest. Und den überragenden künstlerischen Ausdruck fand dieses Bemühen in seinem Bild Washington Crossing the Delaware, an dem er im Oktober 1849 zu arbeiten begann. Auf ihm versuchte er darzustellen, wie es Washington – nach großen Verlusten und trotz der militärischen Übermacht der britischen Truppen – am Weihnachtstag des Jahres 1776 gelungen war, der gegnerischen Armee durch einen unerwarteten Überfall eine empfindliche Schlappe beizubringen, was den Unabhängigkeitsbemühungen der USAmerikaner einen neuen, erheblich gesteigerten Auftrieb gegeben hatte. So gesehen, war dieses Gemälde einerseits ein Historienbild, das einen weit in der Vergangenheit zurückliegenden Vorgang wiederzugeben versuchte, andererseits ein deutlicher Appell Leutzes an seine deutschen Mitbürger, nicht von ihren revolutionären Bemühungen abzulassen und selbst in verzweifelter, ja geradezu hoffnungsloser Situation weiterzukämpfen, um auch in ihrem Land, wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wie man damals noch sagte, eine demokratische Verfassung mit allen bürgerlichen Freiheitsrechten durchzusetzen.7 Möglicherweise empfing Leutze die erste Anregung dazu von Ferdinand Freiligrath, der 1846 in seinem manifestartigen Lyrikband Ça ira, und zwar in dem Gedicht Vor der Fahrt, erklärt hatte: „Jenseits der grauen Wasserwüste / wie liegt die Zukunft winkend da! / Eine grüne Washington Crossing the Delaware

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lachende Küste, / ein geahndet Amerika! // O tapfer Fahrzeug! Ohne Schwanken / befährt es dreist die zornige Flut. // Ha, wie Kosciuszko dreist es führte! / Ha, wie Washington es gelenkt! // Ihr fragt erstaunt: Wie mag es heißen? / Die Antwort ist mit festem Ton: / Wie in Österreich so in Preußen / heißt das Schiff ‚Revolution!‘“8 Doch nicht nur die Schiffsmetapher, auch die Aufstellung von Volksmilizen riefen in Deutschland während der Achtundvierziger Revolution die Erinnerung an Washington und die Gründung der Vereinigten Staaten wach, durch die damals aus mehreren Kolonialbezirken ein nationaler Einheitsstaat geworden war. Dementsprechend spielte bei den Debatten des Frankfurter Paulskirchenparlaments die US-amerikanische Verfassung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ja, Heinrich von Gagern, ihr Präsident, wurde manchmal sogar „unser Washington“ genannt.9 Daher nimmt es nicht wunder, daß Leutze nicht nur als US-Amerikaner, sondern auch als Deutscher die Revolution von 1776 und die Revolution von 1848 als zwei durchaus verwandte Phänomene empfand, wobei die eine der anderen als Vorbild dienen sollte. Als deshalb Leutze – sicher enttäuscht über den Ausgang der Achtundvierziger Revolution, aber immer noch voller Hoffnung auf eine mögliche Demokratisierung Deutschlands nach US-amerikanischem Beispiel – sein Bild Washington Crossing the Delaware im Jahr 1851 fertiggestellt hatte, waren seine Düsseldorfer Malkastenfreunde davon so beeindruckt, daß einer von ihnen ein Gedicht verfaßte, das sich deutlich auf die Parallele zwischen diesen beiden historischen Ereignissen bezieht und in dem es unter anderem heißt: „Hört ihr Leute das Gedichte / Von dem großen Wasserfluß, / Der in der Naturgeschichte / Heißt der Delawarius. // Es geschah vor vielen Jahren, / Daß ein sich’rer Washington / über diesen Fluß gefahren / Mit viel Pferden und Kanon! // Frisch Gesellen, seid zu Hande, // Folget Eurem Washington!“10 Mit der Arbeit an diesem Bild begann Leutze im Spätherbst 1849 und war fast fertig damit, als ein Jahr später in seinem Atelier ein Brand entstand, der es teilweise beschädigte. Als er es wieder repariert hatte, wurde dieses Gemälde sowohl in Köln als auch in Düsseldorf ausgestellt, um den deutschen Liberalen weiterhin Mut zuzusprechen, sich für eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden Verhältnisse einzusetzen. Später ging es in den Besitz der Bremer Kunsthalle über, wo es 1942 bei einem britischen Bombenangriff zerstört wurde. Die zweite 78 Emanuel Leutze

Fassung dieses Bildes, die Leutze kurz darauf anfertigte, schickte er in den USA, wo sie in New York und Washington ausgestellt wurde und später als private Schenkung in das Metropolitan Museum of Art gelangte. Zwei weitere Fassungen des gleichen Bildes, eine davon unvollendet, befinden sich heute, wie gesagt, nebst vielen Kopien in mehreren US-amerikanischen Privatsammlungen oder staatlichen Gebäuden wie dem Weißen Haus.11 Während die deutschen Reaktionen – außerhalb Kölns und Düsseldorfs – aufgrund der allmählich einsetzenden nachmärzlichen Stimmung eher gedämpft ausfielen, erging sich die US-amerikanischen Presse durchgehend in Superlativen, wenn sie auf dieses Bild zu sprechen kam. Dadurch fühlte sich Leutze ermutigt, am 5. April 1852 beim Kongreß in Washington anzufragen, ob er eine weitere Version dieses Bildes im dortigen Kapitolgebäude aufhängen dürfe, erhielt jedoch keine Antwort auf seine Petition.12 Ob Leutze die US-Amerikaner mit diesem Bild zugleich auffordern wollte, seinen deutschen Landsleuten bei ihren Bemühungen um eine Demokratisierung ihres Landes zu Hilfe zu kommen, ist ungewiß. Doch daran wären, wie wir aufgrund historischer Quellen wissen, viele Menschen in Washington oder New York zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht interessiert gewesen. Selbst als Louis Kossuth, der Held der ungarischen Achtundvierziger Revolution, den Leutze bewundernswert fand, in die Vereinigten Staaten kam, um dort für die revolutionären Bemühungen seines Landes Geld einzutreiben, fand er keine Unterstützung. Also blieb auch Leutze – nach einem kurzen Abstecher in die USA im Jahr 1851 – erst einmal in Düsseldorf. Jedoch auch dort geriet er zusehends ins politische Abseits. Sein Bild Washington Crossing the Delaware wurde zwar im September 1852 in Berlin ausgestellt und erhielt sogar einen Preis, aber nicht wegen seines Themas, das in abwiegelnder Manier als „fremdländisch“ hingestellt wurde, sondern wegen seiner maltechnischen Gekonntheit. Lediglich in Düsseldorf feierten ihn einige seiner Malkasten-Freunde weiterhin als einen Freiheitskämpfer, wofür folgende Gedichtzeilen aus dem Jahr 1852 sprechen: „Und deutscher Einheit stolz Panier / Wie schwangst Du es so frei, / Wir alle danken Dir / Einheit, Malkastnerei; / Du schufst sie, und zu dieser Frist / Ist sie im ganzen Land / Was von der Einheit übrig ist. / Drum bleib im Vaterland.“13

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Doch trotz der Solidarität seiner Malkastenfreunde wurde Leutzes Stellung in Düsseldorf mit der Zeit immer prekärer. Da er weder zu den Lehrern noch zu den Schülern der dortigen Akademie gehörte, sondern als einziger der bedeutenderen ortsansässigen Maler ein eigenes Atelier besaß, ließen ihn die lokalen preußischen Behörden immer schärfer überwachen. Vor allem seine rückhaltlose Unterstützung Ferdinand Freiligraths, der seit 1848 – wegen seiner engen Freundschaft mit Karl Marx und anderen Kommunisten unter den Herausgebern der Neuen Rheinischen Zeitung – als gefährlicher „Revoluzzer“ galt und von den Malkastenmitgliedern, wohl auf Leutzes Betreiben, am 6. Juli 1850 in ihre Organisation aufgenommen worden war, erweckte den Zorn der Obrigkeit. Als darauf der konservative Akademiedirektor Wilhelm von Schadow, der diesen Dichter von Anfang an abgelehnt hatte, mit seinem Rücktritt drohte, gab Freiligrath seine Mitgliedschaft wieder auf und ging anschließend nach London, um dort erneut seinem Freund Marx nahe zu sein. Alle diese Ereignisse, ob nun diesseits oder jenseits des Atlantiks, müssen Leutze zutiefst verunsichert, wenn nicht verbittert haben. Der US-amerikanische Kongreß hatte ihn – trotz der begeisterten Aufnahme seines Washington-Bildes in der Presse – keiner Antwort gewürdigt und in den preußischen Rheinlanden wurde seine Gesinnung immer kritischer betrachtet. Sein zweites großformatiges WashingtonBild, nämlich Washington Rallying the Troops at Monmouth, an dem er im Jahr 1852 in Düsseldorf arbeitete und das er 1854 abschloß, hat daher keinen direkten Bezug mehr auf die deutsche Achtundvierziger Revolution. Es ist ein relativ traditionelles Historienbild, das an ähnliche Darstellungen kriegerischer Auseinandersetzungen in der Malerei der napoleonischen Ära erinnert. Wahrscheinlich hatte Leutze dabei eher ein US-amerikanisches als ein deutsches Publikum im Auge. Umso enttäuschter war er, daß dieses Bild in den Vereinigten Staaten keineswegs auf die erhoffte Zustimmung stieß und sogar zum Teil als unamerikanisch galt, weil es nicht den gleichen „heroischen“ Charakter wie sein erstes Washington-Bild habe. Also blieb Leutze weiterhin in Düsseldorf, zumal die dortige Malakademie, die noch immer als die beste in Europa galt, neben deutschen Studenten auch zahlreiche US-amerikanische anzog. Während diese jedoch mit nachmärzlicher Gesinnung lediglich eine gute Ausbildung als Maler anstrebten, hielt Leutze nach 80 Emanuel Leutze

wie vor an seinen liberaldemokratischen Hoffnungen fest und versuchte diese sogar in die Tat umzusetzen. Dafür spricht, daß er sich 1856 aktiv an der Gründung der „Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft“ beteiligte, die einen eindeutig nationalistischen, das heißt gesamtdeutschen Charakter hatte und damit wenigstens in dieser Hinsicht an die Bestrebungen der Achtundvierziger anknüpfte. Doch mehr war zu diesem Zeitpunkt schwerlich zu erreichen. Schließlich wurde der autoritäre Druck von Seiten der preußischen Behörden auf das gesamte Kunst- und Geistesleben in den späten fünfziger Jahren immer stärker. Nicht nur die Schriftsteller, sondern auch die Maler dieser Ära zogen sich daher in ihren Werken weitgehend in einen Stimmungslyrismus oder poetischen Realismus zurück, bei denen sie auf irgendwelche liberalen oder gar revolutionären Tendenzen bewußt verzichteten. Daher wurde aus der Düsseldorfer Akademie im Laufe der fünfziger Jahre eine professionelle Berufsschule, deren internationaler Ruhm zusehends verblaßte. Und das führte dazu, daß auch die bis dahin zahlreiche US-amerikanische Studentenschaft mit den Jahren immer kleiner wurde. Aufgrund dieser betrüblichen Situation entschied sich Leutze schließlich nach fast 20 Jahren in Deutschland, 1858 wieder in die USA zurückzukehren, wo er sich anschließend abwechselnd in Washington und New York aufhielt. Aber auch dort winkte ihm kein Glück. Sein letztes politisches Großprojekt war ein Gemälde, auf dem er sich für die Befreiung der schwarzen Sklaven einsetzen wollte. Doch bevor er dieses Bild vollenden konnte, starb er am 18. Juli 1868 in Washington.

IV Was von Leutze „bleibt“, um einen beliebten Topos aufzugreifen, ist also vornehmlich sein Bild Washington Crossing the Delaware. Letztlich geht der bis heute weiterwirkende Ruhm dieses Malers – trotz einiger vorzüglicher Porträts aus seiner Spätzeit – weitgehend auf dieses eine Gemälde zurück. Es gehört zu jenen Bildern, die alle historisch gebildeten Betrachter noch immer in dem Bewußtsein bestärken könnten, selbst in scheinbar aussichtsloser Situation nicht die Hoffnung auf einen Sieg über jene reaktionären Kräfte aufzugeben, die sich seit altersher Washington Crossing the Delaware

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jedem Progressionsbestreben mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu widersetzen versuchen. Und daß dies von einem deutschamerikanischen Maler unterstützt wurde, der seinen ehemaligen Landsleuten, als sich diese nach der gescheiterten Achtundvierziger Revolution wieder den Mächten der Reaktion unterwarfen, noch einmal Mut zusprechen wollte, dennoch weiterzukämpfen, ist höchst beeindrukkend. Während also Leutzes bekanntestes Gemälde in den USA vornehmlich als ein nationales Ruhmesbild angesehen wird, ist es für Deutschland eher ein politisches Denkbild, dem das beherzigenswerte Motto „Weitermachen auch in finsteren Zeiten“ zugrunde liegt.

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Adolph Menzels Das Eisenwalzwerk (1875) und Robert Koehlers Der Streik (1886) in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss

„Ich sitze nicht zwischen 2 Stühlen, sondern weiterhin auf dem unbequemen Holzstuhl des Sozialismus“ (Peter Weiss: Notizbücher, 1971–1980).

I In der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss werden über 100 Künstler und Kunstwerke erwähnt,1 das heißt fast mehr und oft ausführlicher als irgendwelche Schriftsteller oder gar Komponisten.2 All jene Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen, die über diese Disproportioniertheit nachgedacht haben, sind dabei zu folgenden Ergebnissen gekommen. Dieses Faktum lasse sich nur erklären, schrieben sie, wenn man bedenke, daß sich Weiss bis zu seinem 45. Lebensjahr weitgehend als Maler oder Filmemacher betätigt habe und erst dann zur Schriftstellerei übergegangen sei.3 Seine Kenntnis der Kunstgeschichte sei demzufolge wesentlich breiter gewesen als seine Kenntnis der Literatur- und Musikgeschichte. Und zwar zeige sich das selbst in seinen schriftstellerischen Bemühungen, wo er immer wieder auf Bilder oder Bildkomplexe anspiele, um seine Anschauungen so plastisch wie nur möglich hervortreten zu lassen. Schon seine Dramen, hieß es, wirkten daher manchmal wie gestellte Bilder, wobei man gern auf den Marat in der Badewanne in seinem Stück Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats (1964) hingewiesen hat, der wohl kaum ohne das berühmte Bild von JacquesLouis David in dieser Form konzipiert worden wäre. Ja, in seiner Prosa, wo Weiss auf das Hilfsmittel tableauartig inszenierter Bilder verzichten mußte, würden solche Hinweise auf bekannte Gemälde oder Skulpturen im Laufe der Jahre immer häufiger. Das gelte vor allem für seinen dreiteiligen Roman Die Ästhetik des Widerstands (1975–1981), in dem, wie gesagt, die Zahl solcher Anspielungen auf den ersten Blick kaum übersehbar sei. Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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All das trifft durchaus zu. Und zwar hängt das nicht nur mit Weiss’ genauer Kenntnis der Kunstgeschichte und ihrer Hauptrepräsentanten zusammen, sondern soll zugleich seine weitgespannte Aufarbeitung revolutionärer Tendenzen innerhalb der europäischen Geschichte – vom Pergamonaltar bis zu Pablo Picasso – besonders augenfällig machen. Obwohl es ihm dabei zentral um eine „Ästhetik des Widerstands“ im Kampf gegen den deutschen Faschismus der dreißiger und frühen vierziger Jahre ging, versäumte er keineswegs, auch auf Kunstwerke zurückzugreifen, die vor diesem Zeitraum entstanden sind und Szenen des Aufruhrs, der Revolution, aber auch der Schrecken des Krieges, der Niederlage oder gar des Untergangs thematisieren. Eine zentrale Rolle spielen hierbei Bilder wie Landschaft mit Ikarussturz (1555) von Pieter Breughel, Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid (1814) von Francisco Goya, Das Floß der Medusa (1818/19) von Thédore Géricault, Die Freiheit auf den Barrikaden (1830) von Eugène Delacroix sowie Guernica (1937) von Pablo Picasso. Die Häufigkeit solcher Erwähnungen wirkt zwangsläufig etwas bildungsüberladen, soll aber zugleich eine der dokumentarischen Hauptabsichten dieses als Roman ausgegebenen Werks unterstützen, nämlich einen verstärkten Sinn für die Geschichtlichkeit aller politischen, sozioökonomischen und kulturellen Vorgänge zu wecken, um sowohl auf zukünftige Katastrophen gefaßt zu sein als auch einen möglichen Widerstand gegen sie zu entwickeln.4 Ein besonderer Nachdruck wird dabei auf die Rolle der ausgebeuteten Arbeiterklasse während der Zeit der sogenannten industriellen Revolution und ihrer politischen Konflikte gelegt. Allerdings ging es Weiss in dieser Hinsicht nicht nur um das Verhalten dieser Klasse unterm Faschismus, sondern auch um die Vorgeschichte dieses Verhaltens, in der es neben Phasen der Anpassung, der Resignation sowie des geduldigen Hinnehmens aller körperlichen und seelischen Mühsal sogar Phasen der Arbeitsfreude wie auch Phasen des Unmuts, der Empörung, des Streiks, ja sogar der Revolution gegeben habe. Während im 1. Band der Ästhetik des Widerstands die Arbeitenden auf den Bildern älterer Maler wie Andrea Mantegna, Tommaso Masaccio, Hans Baldung genannt Grien, Matthias Grünewald, Albrecht Dürer, Hieronymus Bosch, Pieter Breughel und Francisco Goya eher beiläufig erwähnt werden (I, 86),5 setzte sich Weiss mit den Arbeiterbildern des 84 Adolph Menzel/Robert Koehler

19. Jahrhunderts wesentlich genauer und intensiver auseinander. Und zwar faßte er dabei hauptsächlich zwei Gruppen ins Auge: die russischen und die französischen Maler dieser Ära. Die Russen hätten damals auf ihren Bildern vornehmlich die „Vorgänger“ jener Menschen dargestellt, die erst in der Oktoberrevolution von 1917 „stolz und befreit“ aufgetreten seien. „Nur Erniedrigung, Unterdrückung, Gefangensein gab es in den Gemälden der russischen Realisten“, heißt es in diesem Zusammenhang, „doch in ihrer Verbundenheit mit den Menschen, die sie darstellten, in der Schilderung des Unrechts, das ihnen widerfuhr, standen sie schon auf der Seite derer, die eine Erneuerung planten. Da waren [Ilja Jefimowitsch] Repins in den Riemen hängende Kahnzieher, [Konstantin Apollonowitsch] Sawitzkys Zwangsarbeiter, die Erde beförderten zum Bau des Eisenbahndammes, [Wassili Grigorjewitsch] Perows Kinder, die durch den Schneesturm die Wassertonnen schleppten, da war [Nicolai Alexandrowitsch] Jaroschenkos von roter Glut versengter, in sich zusammengesunkener Heizer, eingesperrt in den niedrigen Ofenraum, das Schüreisen in den geschwollnen dick rotgeäderten Händen haltend.“ Wenige Sätze später heißt es: „In der Öde, der Entwertung ihres Lebens hatten sie nie was erfahren von den Revolutionen in Frankreich, von der Commune, für sie waren mittelalterliche Zeiten noch gegenwärtig“ (I, 60).6 Nicht ganz so niederdrückend empfand Weiss die Arbeiterdarstellungen in der französischen Malerei des späten 19. Jahrhunderts. Über sie heißt es: „Auch den Steineklopfern von [Gustave] Coubet war keine Erleichterung beschieden, doch ihre Arbeit im Geröll war nicht mehr geprägt von Ausweglosigkeit. Ihre Kleidung war ärmlich, zerfetzt, ihre Bewegungen aber vermittelten etwas von der Kraft der Aufstände im Februar und Juni Achtundvierzig, und war die Revolution auch niedergeschlagen worden, so glichen der Ruck, mit dem der junge Arbeiter den mit Steinen gefüllten Korb anhob, und der harte Griff des Älteren um den Hammerschaft schon wieder den Gesten beim Barrikadenbau, bei wütendem Widerstreit“ (I, 60 f.). Selbst auf den Bildern von JeanFrançois Millet, wo es sich weitgehend um in ihrer Arbeit aufgehende Bauern handelt, sah Weiss bereits eine „neue Bestimmtheit“ im Verhalten dieser Menschen (I ,62). „Er konnte die Arbeitenden nicht im Besitz einer Macht sehn, die noch utopisch war“, lesen wir im Hinblick auf diesen Maler, „aber er stellte sie hin in der Würde, die sie sich Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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erkämpft hatten. In seinen Bildern tritt ein Zwischenzustand zutage, der physische Ausdruck der Gestalten mußte den revolutionären Erfahrungen zugeschrieben werden, […] die Gewalt, zu der sie fähig waren, zeigte sich nur im Ansatz, doch indem er solches Leben hineinhob in die Salons der Gesellschaft, in dem er die verschwitzten Figuren, mit ihren erdigen Zügen, ihrem lehmigen Gewicht, wegnahm von dort, wo sie bisher anonym ausgeharrt hatten, und hinein versetzte zwischen die gepflegten Porträts, die Nymphen und Schäferinnen, tat er etwas, was dem revolutionären Anliegen gleichkam. Allein das Erscheinen solcher Gestalten mitten in den Revieren des Bürgertums war ein Schlag ins Gesicht der Connaisseure, denn diese Leute hatten draußen zu bleiben, in ihrem Schmutz, dort, wo sie hingehörten“ (1,62). Es bedrückte zwar Weiss, daß diese Arbeiter, wie auch die Grubenarbeiter Constantin Meuniers, „selten in der Geste der Gegenwehr, des Angreifens“ dargestellt wurden, aber daß sie vor den „bestürzten Beschauern“ als „neue Klasse“ auftraten, empfand er dennoch als „künstlerische Tat genug“ (I, 63). „Hinter ihnen lag eine Kette von Aufständen und Revolutionen“, heißt es dementsprechend, „und waren sie auch jedesmal wieder zurückgedrängt worden, so hatten sie jedesmal auch Erfahrungen gewonnen, und es könnte sein, daß sie beim nächsten Ansturm besser gerüstet wären. Daß sich die Maler ihnen näherten, daß sie für ihre Bilder Motive aus der Arbeitswelt suchten, zeigt, daß auch die Kunst sich von alten Verpflichtungen löste, daß sich ihr Kräfte aufdrängten, die aus dem Volk kamen, Kräfte, die artikuliert werden mußten, zunächst wieder von denen, die des vermittelnden Ausdrucks fähig waren. Die Maler verstanden diese Mahnung, sie vermochten noch nicht sie zu übertragen auf das gesamte System, in dem sie lebten, aber sie klagten an, sie hoben die Notlage hervor, sie sahn in den Arbeitenden ihre Auftraggeber, sie protestierten in ihrem Namen, sie identifizierten sich zeitweilig mit ihnen […]. Vorläufig war dies der einzig mögliche Werdegang“ (I, 63 f.). Doch trotz all dieser Einschränkungen, erklärt Heilmann, einer der Protagonisten dieses Romans, wäre es falsch, auf diese Bilder lediglich als historisch „veraltete“ zurückzublicken. Ebenso wenig dürften wir uns davon beirren lassen, sekundiert ihn sein Freund und Gesinnungsgenosse Coppi, ob diese Gemälde irgendwelchen „modernistischen“ Kunstvorstellungen entsprächen. Stattdessen sollten wir uns vornehmlich fragen, 86 Adolph Menzel/Robert Koehler

ob sie uns Einblicke in die Vorgeschichte des Sozialismus gewähren. Und auch Coppis Mutter vertritt die Ansicht, stets von der Überlegung auszugehen, ob uns derartige Bilder „ermutigen“. Gerade jetzt, sagt sie nach der Machtübergabe an Hitler und seine Gefolgsleute, sei dies im Widerstand gegen den Faschismus, „wo sich so viele von uns geschlagen geben“, dringender denn je zuvor (I, 65). Obwohl also Weiss die verschiedenen Spielarten einer expressionistischen oder surrealistischen Kunst keineswegs ablehnte, wie aus vielen anderen Stellen dieser romanhaften Trilogie hervorgeht,7 versuchte er damit einem „symbolischen Realismus“ das Wort zu reden, der sich sowohl von einer platten Auslegung des Sozialistischen Realismus als auch von den rein formalistischen Prinzipien einer nichtgegenständlichen Malerei zu distanzieren versucht und Realismus schlechthin mit Widerstandspotential gleichsetzt.

II Doch nun zu den zwei Arbeiterdarstellungen in der deutschen Kunst des späten 19. Jahrhunderts, die Weiss in scharfer Gegenüberstellung – gleichsam als Höhepunkt seiner Beurteilung solcher Bilder – an den Schluß des 1. Bandes seiner Ästhetik des Widerstands stellte: Adolph Menzels Das Eisenwalzwerk (1875) und Robert Koehlers Der Streik (1886). Unter seiner Perspektive, nämlich eine „Ästhetik des Widerstands“ zu verfassen, beurteilte er dabei das relativ unbekannte Koehlersche Bild wesentlich positiver als das berühmte Menzelsche, was viele Leser dieses Romans bei der ersten Lektüre dieses Werks sicher verstört hat, zumal es beim Erscheinen dieses Bandes im Jahr 1975 in Deutschland noch keine Abbildungen des Koehlerschen Gemäldes gab. In Menzels Eisenwalzwerk, das als eins der zentralen Bilder des späten 19. Jahrhunderts im ersten Stockwerk der Berliner Alten Nationalgalerie hängt, können Heilmann und Coppi als junge Linke lediglich eine „Apotheose der Arbeit“, das heißt ein politisch indifferentes, wenn nicht gar reaktionäres Gemälde sehen. „Zum Bildzentrum hin“, schreibt Weiss im Hinblick auf dieses Werk, „schob die Gruppe der Schmiede den glühenden Metallblock vom angehobnen Karren unter die Walze, […] rechts rasteten ein paar Männer, löffelten aus Näpfen, hoben eine Flasche zum Mund, und am linken Bildrand, mit nacktem Oberkörper, Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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8 Adolph Menzel: Das Eisenwalzwerk (1875), Berlin, Alte Nationalgalerie

wuschen sich Leute der abgelösten Schicht Hals und Haare. […] Die Schilderung dieses unaufhörlichen, verschwitzten Ineinandergreifens sagte nichts andres aus, daß hier hart und widerspruchslos gearbeitet wurde.“ Es handele sich bei dieser Darstellung nicht um „Arbeit als Vorgang der Selbstverwirklichung“, erklärt der Vater des Erzählers, „sondern um Arbeit geleistet zu niedrigstem Preis und zu höchstem Profit des Arbeitkäufers“ (I, 354). Letztlich sei auf diesem Bild die „Lobpreisung der Arbeit“ zugleich eine „Lobpreisung der Unterordnung“, heißt es apodiktisch (I, 354). Was Menzel hier „vier Jahre nach der Zerschlagung der Commune“ dargestellt habe, seien Arbeiter, deren Arbeit sich gegen ihre eigenen „Interessen“ richte. Alles gemahne an etwas „Unabwendbares“. „Bei allem Mitgefühl, das der Künstler für die soziale Lage der Arbeiter gespürt haben mochte“, lesen wir im Folgenden, seien dies Männer, die noch keine Kenntnis der damaligen sozialistischen Arbeiterbewegung gehabt hätten. Hier werde der deutsche Arbeitsmann „aus Bismarcks und Wilhelms Reich“ – noch unangefochten vom Kommunistischen Manifest – in seiner einzigen Befugnis, nämlich „wacker und treu zu sein“, dargestellt (I, 355). 88 Adolph Menzel/Robert Koehler

Das sind harte Urteile, die zwar gut in Weiss’ Konzept einer Ästhetik des Widerstands passen, das heißt einen effektiven Kontrast dazu bilden, aber letztlich historisch ungerecht sind. Weiss gibt zwar zu, daß ihn diese „Lesart“ des Menzelschen Eisenwalzwerk anfangs nicht ganz „überzeugt“ habe. Aber dann sei er im gleichen Museum, also wiederum in der Berliner Alten Nationalgalerie, auf zwei andere Werke dieses Malers gestoßen: Die Abreise König Wilhelms zur Armee (1871) und Das Ballsouper (1878), in denen er die gleichen affirmativen Züge wahrgenommen habe (I, 355), das heißt auf der einen Seite „die begeisterte Begrüßung des Kriegs, die Erziehung zum Bückling, zum Speichellekken, auf der anderen Seite die Verherrlichung schwülstiger Pracht“ (I, 356). Diese beiden Urteile sind fast noch ungerechter als das Urteil über das Eisenwalzwerk. Schließlich war Menzel kein wilhelminischer Hofmaler oder bismarckisch gesinnter Patriot à la Anton von Werner. Im Gegenteil! Schon seine Bilder über Friedrich II. aus den vierziger und frühen fünfziger Jahren, die diesen König weitgehend als VoltaireFreund, besorgten Landesvater oder musisch interessierten Flötenspieler darstellen,8 haben weder etwas Militantes noch Serviles an sich und wurden daher von den Hohenzollern lange Zeit als ins Pazifistische tendierende Geschichtsverfälschungen abgelehnt und fast ausschließlich von liberal gesinnten Kunstliebhabern angekauft.9 Ja, als Menzel 1866 ins Feld geschickt wurde, um den Sieg der Preußen über die Österreicher bildlich festzuhalten, kam er lediglich mit Zeichnungen von Verwundeten und Sterbenden auf dem Schlachtfeld von Königgrätz nach Berlin zurück. Noch renitenter verhielt er sich 1870/71, als er sich entschieden weigerte, mit den preußischen Truppen ins Feld zu ziehen, da er als Quasi-Liliputaner zu „Pferde nun einmal keine gute Figur“ mache, wie er die Regierung wissen ließ. Sein Bild Die Abreise König Wilhelms zur Armee ist daher alles andere als affirmativ zu deuten, sondern stellt mit kalter Sachlichkeit die falsche Begeisterung für diesen letztlich ungerechtfertigten Krieg dar. Ebenso mißmutig verhielt er sich Ende Januar 1871 bei der Rückkehr des inzwischen zum deutschen Kaiser aufgestiegenen preußischen Königs. Während sich die anderen Berliner Künstler vor lauter Enthusiasmus kaum zu halten wußten, versteckte sich Menzel lieber in einem dunklen Winkel des Berliner Akademiegebäudes und fütterte dort sein Lieblingsmäuschen.10 Nicht einmal seine Verehrung für die „belle France“ ließ er Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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sich ausreden, wie er am 1. April 1871 an seinen Freund Wilhelm Puhlmann schrieb. Und das waren keine leeren Worte. Als die ersten Züge mit französischen Kriegsgefangenen, unter denen sich auch farbige Turkos und Zuaven befanden, in Berlin eintrafen, war Menzel einer der wenigen, der diesen Menschen mit einer unverhohlenen Anteilnahme entgegenkam und sich sogar mit einem gewissen Mohamed-ben-Abdallah anfreundete. Dagegen hielt er sich von allen affirmativen Siegesfeiern fern. Als man ihm diese Teilnahmslosigkeit zum Vorwurf machte, schrieb er am 9. Dezember 1878 mit geradezu zynischer Gelassenheit an Friedrich Pecht, daß der „Bedarf für das patriotische Bedürfnis“ schließlich von vielen anderen durchaus „gedeckt“ werde.11 Ebenso wenig läßt sich sein Ballsouper als eine ideologische Verbeugung vor dem Hohenzollern-Regime interpretieren. Schließlich treten hier die Mitglieder der königlichen Familie, die auf der Abreise König Wilhelms zur Armee kaum zu sehen sind, überhaupt nicht auf. Doch auch den anderen Figuren, die entweder mit peinlich anmutender Freßlust über die am Kalten Büffet ergatterten Speisen herfallen oder sich mit spöttischen Mienen über die Nichtanwesenden lustig zu machen scheinen, liegen keine historisch feststellbaren Personen zugrunde. Nach den Protesten jener Hofdamen, die sich bei seinem Krönungsbild von 1865 nicht genug geschmeichelt fühlten, verzichtete Menzel in den folgenden Jahren grundsätzlich darauf, auf seinen Gemälden „irgendwelche Porträts aus Adelskreisen anzubringen“.12 Was er auf diesem Bild darstellen wollte, war eben nicht der illusionäre Schein des schönen Lebens, wie man ihn im Bereich des halb aristokratischen, halb großbürgerlichen Salonidealismus dieses Zeitraums erwartete, bei dem lediglich das Aufgehübschte im Vordergrund stand, sondern die von ihm zutiefst abgelehnte neupreußische Protzeneitelkeit. „Sind wir denn wirklich so häßlich?“, soll Kaiserin Augusta damals gesagt haben, als sie einige Menzel-Bilder in Augenschein genommen hatte.13 Schließlich schreckte Menzel vor allem im Bereich der älteren Generation keineswegs davor zurück, das Gelangweilte, Erschöpfte, Korpulente der Hofkreise in den Vordergrund zu rücken. Als er mit seinem Zeichenstift einige dieser Hofbälle und -empfänge besuchte, soll man sich in diesen Kreisen zugeraunt haben: „Vorsicht, der Menzel geht um!“ Überhaupt ließ sich Menzel gegen Ende seines Lebens kaum noch von anderen in seine Angelegenheiten dreinreden, ja wurde in seinen Ant90 Adolph Menzel/Robert Koehler

worten manchmal sogar recht bärbeißig. So schickte er einige seiner Bilder, darunter das Eisenwalzwerk, 1889 ohne die geringsten Skrupel zur großen Gedächtnissausstellung der Französischen Revolution nach Paris, obwohl Bismarck eine Beteiligung deutscher Maler an dieser „anrüchigen“ Jubelfeier ausdrücklich untersagt hatte. Nicht einmal, als die Berliner politischen Nachrichten dies als einen Akt bezeichneten, der für alle „deutschen Patrioten tief beschämend“ sei,14 zeigte sich Menzel sonderlich beeindruckt. Im Jahr 1895, als im deutschen Reichstag in Berlin Forderungen laut wurden, neue Zensurbeschränkungen einzuführen, unterzeichnete er zum Ärger der gleichen Kreise eine Petition, die sich mit allem Nachdruck gegen eine Behinderung der künstlerischen Freiheit wandte.15 Mit der gleichen Unverfrorenheit stellte er 1899 erstmals im Rahmen der Berliner Sezession aus, obwohl ihm vom Hofe aus nahegelegt wurde, sich nicht mit den vom Kaiser gehaßten „Modernen“ zu assoziieren. Ja, noch 1904, im Alter von 89 Jahren, protestierte er dagegen, sein Krönungsbild zur Weltausstellung nach St. Louis zu schicken, da dort, wie er erklärte, vielleicht eines Tages, „ein freier Mann mit nem Stein in der Tasche die Ausstellung besuchen“ könnte.16 Noch despektierlicher äußerte er sich in seinen letzten Jahren über seine Friedrich-Bilder der fünfziger Jahre. So bereute er etwa kurz vor seinem Tode, das bekannte Flötenkonzert in Sanssouci gemalt zu haben. Dagegen befriedigte es ihn, daß auf seinen Bildern Friedrichs Soldaten keineswegs wie preußische Musterknaben oder gar Idealgestalten eines weltüberwindenden Heroismus aussähen. „Ich habe sie so gezeichnet“, erklärte Menzel in einem Interview, „wie sie gewesen, wie sie gedrillt wurden und wie sie in den Tod gingen“.17 Daß ihm dies, wie auf dem Bild Ansprache Friedrich des Großen vor der Schlacht bei Leuthen, manchmal nicht gelungen sei, wurmte ihn sehr. Obwohl ihm bei der Konzeption dieses Bildes das Grauen des Krieges immer vor Augen gestanden habe, seien die Gesichtszüge der Offiziere viel zu hoffnungsvoll oder zumindest unbeteiligt und nicht angstverzerrt genug ausgefallen. Aus diesem Grunde habe er dieses Bild nie zu Ende gemalt und im letzten Jahrzehnt seines Lebens diesen Männern einfach die Augen „ausgekratzt“.18 Nicht minder kritisch beurteilte Menzel Bismarck und die Berliner Hofkreise. Für ihn, den kleinbürgerlichen Altpreußen, waren dies alles eitle, auf Ruhm und äußeren Schein bedachte Neupreußen, deren Auftreten ihn völlig kalt ließ. Ja, selbst von seinem Freund Theodor Fontane Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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rückte er in den letzten Jahren merklich ab, da ihm dessen adelsbetonte „Amouren-Geschichten“ à la Effi Briest viel zu konservativ erschienen. Daß Menzel trotz seiner „Anteilnahme am Schicksal der Arbeiter“, das sich auf vielen seiner Bilder nachweisen ließe, wie Weiss schreibt, letztendlich ein wilhelminischer Hofmaler gewesen sei, ist daher eine arge Fehleinschätzung. Zugegeben, in Menzels Eisenwalzwerk liegt „kein Streik in der Luft“, um noch einmal aus Weiss’ Notizbüchern zu zitieren.19 Aber das bedeutet nicht, daß Menzels Darstellung von Arbeitern und Handwerkern stets etwas „Hausbackenes“ habe. Die von Menzel dargestellten Arbeiter seien lediglich „tüchtig“ und „fleißig“, wie Weiss an der gleichen Stelle behauptet, das heißt atmeten den „gleichen Geist“ wie seine „Abbildungen von Kürassieren und Generälen“. Deshalb bezeichnet sie Weiss kurzerhand als „suspekt“.20 Welch ein Mißverständnis. Sobald man sich nämlich unter den vielen Vorzeichnungen zu Menzels Eisenwalzwerk umschaut, stößt man auf eine Reihe höchst eindrucksvoller Arbeitergestalten, die denen Gustave Courbets oder Jean-François Millets ideologisch und künstlerisch zumindest gleichartig, wenn nicht gar gleichrangig sind. Ja, eins seiner späteren Bilder, der Besuch im Eisenwalzwerk von 1900, wirkt in seiner Konfrontation eines Industriellen und eines Aufsichtsratsmitglieds mit der im Vordergrund stehenden riesigen Figur eines kohleschaufelnden Arbeiters durchaus aufreizend, zumal sich das Gesicht des Arbeiters nicht nur als schmerzverzerrt oder arbeitsüberlastet, sondern auch als drohend interpretieren läßt. Im Hinblick auf die Fülle der überlieferten Fakten, Gesprächsaufzeichnungen und brieflichen Äußerungen Menzels ist es demnach unangebracht, sein Eisenwalzwerk, das zu den ersten großen europäischen Industriebildern gehört,21 im Sinne von Peter Weiss als ein rein affirmatives Gemälde zu interpretieren. Daß es spätere Deutschtümler so sahen und daß es noch von „nationalsozialistischen Organisationen“ als Vorbild für die deutsche Arbeiterschaft hingestellt wurde, welche – von ihren eigenen Parteiführern inspiriert – den „Ersten Weltkrieg ins Rollen gebracht“ und darauf dem „Faschismus die Waffen geschmiedet“ hätten, wie Weiss an der gleichen Stelle behauptet (I, 356), verstößt eindeutig gegen Menzels Intention. Obendrein wäre eine solche Sicht auf das deutsche Proletariat viel zu simplistisch – und wird zudem in der Ästhetik des Widerstands von Weiss selber vielfach widerlegt. Warum versteifte sich also Weiss ausgerechnet bei der Interpretation von Men92 Adolph Menzel/Robert Koehler

9 Adolph Menzel: Studie zum Eisenwalzwerk (1873), Berlin, Alte Nationalgalerie

Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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zels Eisenwalzwerk auf eine so kurzschlüssige Sicht? Letztlich kann dies nur einen Grund haben: Sie sollte den Boden bereiten für seine darauffolgende höchst positive Darstellung des Bildes Der Streik von Robert Koehler, die den sinnvollen Abschluß des ersten Bandes dieses weitgespannten Romans bildet.

III Doch wer war eigentlich dieser Koehler, dessen Streik-Bild beim Erscheinen des ersten Bandes der Ästhetik des Widerstands im Jahr 1975 lediglich eine kleine Gruppe von Professoren und Studenten in Madison kannte? Mit dieser Gruppe sind jene Vertreter der New Left gemeint, die seit den späten fünfziger Jahren im Umkreis der University of Wisconsin eine Fülle linksgerichteter politischer Aktivitäten entwikkelten. Die meisten von ihnen waren Schüler von Historikern und Soziologen wie William Appleman Williams, Harvey Goldberg, Hans Gerth und George L. Mosse, welche sich in ihrem Haß auf den „Corporate Liberalism“ gern als „Socialists of the Heart“ bezeichneten. Ihre Publikationsorgane waren Zeitschriften wie Radical America und Studies on the Left, in denen sie sich seit 1959 von dem hysterischen Kommunistenfresser Joseph McCarthy abzusetzen versuchten, der als Senator von Wisconsin diesen Staat in den frühen fünfziger Jahren politisch in Verruf gebracht hatte. Einer der aktivsten innerhalb dieser Gruppe war Lee Baxandall, der bereits 1961 als Sechsundzwanzigjähriger in Ostberlin am Berliner Ensemble Gespräche mit Helene Weigel geführt hatte, darauf Mitte der sechziger Jahre an meinem Naturalismus-Seminar teilnahm und zu gleicher Zeit ein schnell anwachsendes Interesse für die Geschichte der Arbeiterbewegung im späten 19. Jahrhundert entwickelte.22 Im Rahmen seiner Suche nach Vertretern dieser Bewegung stieß er dabei auf Robert Koehler (1850–1917), einen Naturalisten unter den deutsch-amerikanischen Malern der achtziger und neunziger Jahre, den seine Eltern als vierjährigen Jungen bei ihrer Auswanderung von Hamburg nach Milwaukee, Wisconsin, mitgenommen hatten und der dort, in Pittsburgh und später New York – aufgrund seiner zeichnerischen Begabung – eine Lithographielehre begann, bevor er im Oktober 1873 an die Malakademie in München überwechselte und 94 Adolph Menzel/Robert Koehler

sich von Lehrern wie Franz von Defregger und Ludwig von Löfftz zum Kunstmaler ausbilden ließ. Koehlers Vater war von Beruf Maschinenschlosser, während seine Mutter als Näherin arbeitete. Daher konnten sie den jungen Robert finanziell kaum unterstützen. Doch aufgrund seiner lithographischen Arbeiten verdiente er offenbar genug, daß er es sich leisten konnte, mehrfach zwischen Milwaukee, New York und München hin- und herzupendeln, ja sogar Reisen nach England und Belgien zu unternehmen.23 Da sein Vater in Milwaukee, einem der Zentren der deutschen Sozialdemokratie in den USA, offenbar als „Freidenker“ dieser Partei angehörte, kam der junge Koehler schon früh in engen Kontakt mit den damals in all diesen Ländern höchst aktiven Arbeiterbewegungen, die sowohl sozialistischen als auch anarchistischen Parolen folgten.24 Überhaupt waren die achtziger Jahre eine Zeit höchst dramatischer sozialpolitischer Spannungen und kämpferischer Auseinandersetzungen zwischen den geradezu fürstlich auftretenden Industriellen sowie den immer stärker werdenden Arbeiterparteien und Gewerkschaften, was zu verbreiteten Aufständen und einer Fülle von Streikwellen führte, mit denen die Arbeiterorganisationen höhere Löhne und die Einführung des Zehn- bzw. Acht-Stunden-Tags durchzusetzen versuchten. Vor allem in den USA, England, Deutschland und Belgien, also jenen Ländern, mit denen Robert Koehler besonders vertraut war, nahmen diese Auseinandersetzungen oft dramatische Formen an und führten zu heftigen, wenn nicht gar blutigen Konfrontationen zwischen Arbeitern und militärischen Einsatzgruppen, zumal während dieser Jahre in mehreren europäischen Ländern eine gravierende wirtschaftliche Depression herrschte, die in Deutschland Hunderttausende von Menschen zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten zwang, so daß in mehreren Städten, wie Milwaukee, St. Louis und Cincinnati, das Deutsche zur vorherrschenden Sprache wurde. Um wieder „Law and Order“ zu schaffen, erließen daraufhin die wilhelminischen Behörden immer neue Sonderverfügungen, mit denen sie – wie dem im Jahr 1878 von Bismarck verfügten Gesetz gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ – Herr der Lage zu bleiben versuchten.25 Dennoch gaben die deutschen Sozialdemokraten in dieser „heroischen“ Phase ihrer Geschichte nicht auf, weiterhin massiv für die Rechte der ausgebeuteten und entrechteten Arbeiter einzutreten, ja schickten sogar Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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10 Robert Koehler: Der Sozialist (1885), Berlin, Deutsches Historisches Museum

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einige ihrer Führer, darunter Wilhelm Liebknecht, in die Vereinigten Staaten, um dort auf mehrwöchigen Vortragsreisen vor deutsch-amerikanischen Arbeitern, die oft zu Tausenden herbeiströmten, Geld für ihre notleidenden Genossen in Deutschland einzuwerben. 26 Eins der wenigen bildkünstlerischen Dokumente solcher Versammlungen ist das 1885 gemalte Bild Der Sozialist von Koehler, auf dem ein energisch gestikulierender Agitator, möglicherweise ein deutscher Sozialdemokrat oder gar Koehlers Vater,27 dargestellt ist, vor dem auf einem Tisch die Zeitung Sozialist liegt und der sich mit geballter Faust an ein von seiner Rede offenbar beeindrucktes Publikum von politischen Sympathisanten wendet. Dieses Bild ist „vermutlich die erste Darstellung eines aus der Arbeiterklasse stammenden Agitators“, wie Agnete von Specht schreibt,28 und wurde noch im gleichen Jahr in der National Academy of Design in New York mit der Bildunterschrift Ein deutscher Sozialist, der für seine blutrünstigen Ideen agitiert ausgestellt. Höhepunkte solcher Versammlungen und Aktionen waren 1877 der große Eisenbahnarbeiterstreik in Pittsburgh und anderen Städten, 1886 die Haymarket-Revolte in Chicago und der Bergarbeiterstreik in Charleroi in Belgien, die vielen englischen Streiks dieser Jahre, die 1889 durch die Jahrhundertfeier der Französischen Revolution in Paris ausgelösten Unruhen sowie der gleichzeitig im Ruhrgebiet stattfindende Streik der dortigen Grubenarbeiter, welche nicht nur von sozialpolitischer Bedeutung waren, sondern auch in den Künsten dieser Ära jene rebellische Bewegung in Gang setzten, für die sich schnell die Bezeichnung „Naturalismus“ einbürgerte.29 Von entscheidender Bedeutung war dabei der 1885 erscheinende und nach dem hoffnungsvollen Frühlingsmonat der Französischen Revolution benannte Roman Germinal von Émile Zola, in dem ein Bergarbeiterstreik im Nordfrankreich im Zentrum steht, der zwar scheitert, aber vielen Grubenarbeitern ein neues Selbstwertgefühl verleiht. Und in diesem Zusammenhang muß auch Robert Koehlers großformatiges Gemälde Der Streik (1,81 x 2,75 m) gesehen werden, das er nach Besuchen in England und Belgien im Jahr 1885 begann und bereits 1886 in München und dann in der National Academy of Design in New York ausstellte. Doch nicht nur das. Dieses Bild war 1889 sogar auf der Ausstellung zur Jahrhundertfeier der Französischen Revolution in Paris und 1893 auf der Weltausstellung in Chicago zu sehen.30 Alle Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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diese Ausstellungen sowie die sie begleitenden Journalberichte und ersten Abbildungen in Harper’s Weekly wie auch der Illustrierten Zeitung, der Deutschen Illustrierten Zeitung und der Publikationsreihe Moderne Kunst in Meisterholzschnitten machten dieses Bild schon um 1886/87 sowohl in den USA als auch in Deutschland recht bekannt.31 Ja, Koehlers Vater und dann er selber wurden 1889 bzw. 1901 vom Milwaukee Herald und vom Minneapolis Journal in Interviews über die genaue Datierung und Lokalisierung dieses Bildes befragt.32 Beide gaben dabei an, daß es sich bei der dargestellten Szene um einen Streik englischer Arbeiter aus den frühen achtziger Jahren handele, den der junge Koehler dort beobachtet habe, während das Bild selber erst in München entstanden sei.33 So gesehen, ist dieses Bild eins der Hauptwerke des deutschen Naturalismus der mittachtziger Jahre, als diese künstlerische Bewegung in Literatur und Malerei ihren ersten Höhepunkt erreichte. Dies ist jene Zeit, in der auch Max Liebermann seine wichtigsten naturalistischen Bilder, wie die Schusterwerkstatt (1881) und die Flachsscheuer in Laren (1887), beide heute in der Alten Nationalgalerie, gemalt hat, auf denen – neben Menzels Eisenwalzwerk und Koehlers Der Streik – in Deutschland erstmals arbeitende Menschen als Einzelpersonen oder als Kollektiv mit jener selbstverständlichen „Würde“ dargestellt wurden, mit der man bisher lediglich Mitglieder der Aristokratie, der Bourgeoisie sowie genrehaft-idyllisch gesehene Bauern ausgestattet hatte. Aber da ist noch mehr, wesentlich mehr. Auch das Streikthema gibt diesem Bild einen besonderen ideologischen Rang. Arbeitsniederlegungen waren an sich nichts Neues und lassen sich bis zu den Bergarbeiterunruhen des späten Mittelalters, den Handwerkerkrawallen des 18. Jahrhunderts sowie den Hungerrevolten der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen.34 Ein auf Industriearbeiter bezogenes Thema dieser Art taucht jedoch erst im Naturalismus der achtziger Jahre auf, und zwar zum erstenmal auf dem großen Streikbild Robert Koehlers, an das sich erst später Bilder wie On Strike (1891) von Hubert von Herkomer, Streik der Hammerschmiede (1892) von Theodor Esser,35 Strikers (1893) von Eugène Laermans und Der Menschenstrom (1895) von Giuseppe Pellizza anschlossen.36 Doch nur wenige dieser Bilder haben den gleichen künstlerischen Rang wie das von Koehler. Leider hat er selber diesem Bild keine weiteren bedeutenden Arbeiterdarstellungen folgen 98 Adolph Menzel/Robert Koehler

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Robert Koehler: Der Streik (1886), Berlin, Deutsches Historisches Museum

lassen. Das mag damit zusammenhängen, daß Koehler 1893 zum Direktor des Minneapolis College of Art and Design ernannt wurde und zugleich die Malerei der „proletarischen Milieuschilderung“, wie man diese Richtung damals in bürgerlichen Blättern abschätzig nannte, aufgrund der sich allmählich verbessernden wirtschaftlichen Situation ohnehin abebbte. Während er in den achtziger Jahren noch Bilder wie Twenty Minutes for Refreshments, The Carpenter’s Family und Her Only Support gemalt hatte, die alle im Arbeiter- oder Handwerkermilieu angesiedelt waren, läßt sich über die spätere Zeit von Koehlers Tätigkeit als Maler relativ wenig ausmachen.37 Wir wissen nur, daß sein Bild Der Streik, das offenbar niemand erwerben wollte, schließlich im Magazin des Minneapolis College of Art and Design landete, dessen Direktor Koehler bis 1914 war, welches es später der Minneapolis Society of Fine Arts vermachte. Und dort verstaubte es über 50 Jahre, ohne daß sich nach Koehlers Weggang irgendjemand darum kümmerte. Entdeckt wurde es erst wieder, wie bereits gesagt, in den späten sechziger Jahren durch den jungen Lee Baxandall, der dieses Bild von der Minneapolis School of Art, die es offenbar loswerden wollte, 1971 für Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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den Spottpreis von 750 Dollar erwarb und es anschließend in New York restaurieren ließ. Baxandall, nur fünf Jahre jünger als ich, hatte nach meiner Inszenierung von Brechts Mutter Courage und ihre Kinder im Jahr 1959/60 an der University of Wisconsin in Madison dort auf der gleichen Bühne 1970 Brechts Kaukasischen Kreidekreis in Szene gesetzt38 und sich in wenigen Jahren zu einem äußerst aktiven Marxisten entwikkelt. Als solcher übersetzte er nicht nur Brechts Die Mutter für Grove Press ins Englische, schrieb über Kuba in konkret, führte Brechts Maßnahme für den Socialist Club in Madison auf und übersetzte eine Schrift von Che Guevara, sondern gab auch die damals vielbeachteten Bände Marxism and Aesthetics (1968), Radical Perspektives in the Arts (1972) sowie mit Stefan Morawski Marx and Engels on Literature and Art (1975) heraus.39 Und in diesem Zusammenhang stieß er auch auf die Publikationen von Peter Weiss. Als bereits erfahrener Übersetzer, der die deutsche Sprache gut beherrschte, übertrug er Mitte der sechziger Jahre das Drama Der Gesang vom Lusitanischen Popanz von Weiss ins Englische. Mit ihm traf er sich erstmals 1966 in New York, nachdem Weiss kurz zuvor an einem Treffen der Gruppe 47 in Princeton teilgenommen hatte und nach New York gekommen war, weil dort gerade sein Marat/ Sade-Stück in der Inszenierung von Peter Brooks aufgeführt wurde.40 Ob Peter Weiss zu diesem Zeitpunkt das Bild von Koehler bereits kannte, wie er in der Ästhetik des Widerstands behauptet (I, 357), oder ob ihm Lee Baxandall damals einen Druck davon schenkte, den er auf eigene Kosten hatte herstellen lassen, läßt sich heute leider nicht mehr genau ermitteln, da Letzterer lange Zeit an Parkinson’s Disease litt und vor kurzem verstorben ist. Doch eine gewisse Vermittlerrolle in dieser Hinsicht hat Baxandall auf jeden Fall gespielt. Peter Weiss schreibt in seinem Roman an der Stelle, wo er auf das Koehlersche Gemälde zu sprechen kommt, daß eine Reproduktion dieses Bilds, und zwar aus der Zeitschrift Harper’s Weekly von 1886, bereits in der Wohnung der Eltern seines Erzählers in Bremen gehangen habe (I, 357). Das mag stimmen, da Reproduktionen dieses Gemäldes noch um die Wende zum 20. Jahrhundert weit verbreitet waren, mag aber genauso fiktiv sein wie vieles, was Weiss als authentische Erlebnisse oder Beobachtungen seines als autobiographisch hingestellten Erzählers berichtet. Ich würde eher dazu neigen, an der vorgeblichen Authentizität dieser Behauptung zu zweifeln. Und auch Wolfgang Abendroth hegte in einem 100 Adolph Menzel/Robert Koehler

Gespräch mit mir im Jahr 1982 – nach einer Gedächtnisveranstaltung für Peter Weiss im Marburger Erwin-Piscator-Theater – ähnliche Zweifel in dieser Hinsicht. Das gleiche tat Robert Cohen, einer der besten WeissKenner, der mir in einem Brief vom 23. August 2006 schrieb, daß er hinter diese Behauptung ein großes Fragezeichen setzen würde. Doch zurück zu dem Bild selber. Nach einer über zweiseitigen Beschreibung dieses Gemäldes, die höchst präzis formuliert ist, geht Weiss auf Seite 359 seiner Ästhetik des Widerstands schließlich in eine inhaltliche Bewertung dieses Bildes ein, die vor allem dessen politische Bedeutsamkeit herausstreichen soll. „Der Maler stand eindeutig auf der Seite der Arbeitenden“, heißt es hier, „er kannte deren Lebensbedingungen, er hatte seine Gestalten studiert, so wie auch Menzel sie studiert hatte, doch im Gegensatz zu dem preußischen Hofmaler hatte er die Arbeiter, in ihrer schweren Körperlichkeit, nicht im Bann der Warenerzeugung, sondern in ihrem Selbstbewußtsein gezeigt. Sie standen, bei ausgebrochener Kampfaktion, dem Ausbeuter gegenüber, der im Eisenwalzwerk noch unbehelligt meditieren konnte. Ihr Einhalten vor der Treppe war von der Vernunft diktiert. Ein vereinzelter Angriff wäre sinnlos gewesen, sofort zusammengeschossen worden. Das wütende Warten, die geschüttelten Fäuste waren Vorboten von Maßnahmen, die auf organisatorischem Wege getroffen werden mußten“ (I, 358). All dies wird von Weiss angesichts der historischen Situation – wie in Brechts Maßnahme – als politische „Klugheit“ gewertet. Und zwar bringt er dabei die streikenden Arbeiter irrtümlicherweise mit der rebellischen „Kundgebung der Arbeiterschaft“ in Chicago vom 1. Mai 1886, der Haymarket-Revolte, in Beziehung, die von den „Polizeitruppen“, wie er schreibt, „blutig niedergeschlagen“ worden sei (I, 359). Auch über Koehler selbst fehlten ihm offenbar bei der Niederschrift dieses Romans noch genauere Angaben. So läßt er ihn etwa 1917, als dieser inzwischen zum Akademiedirektor aufgestiegen war, „verarmt“ in Minneapolis sterben, um Koehler damit nochmals – im Gegensatz zu dem gesellschaftlichen „Emporkömmling“ Menzel – als einen rebellischen und deshalb verfemten Sympathisanten des Proletariats zu charakterisieren. Während also die meisten Bilder, die Weiss sonst in seiner Ästhetik des Widerstands als Illustrationen seiner Thesen heranzog, wie etwa das Floß der Medusa von Théodore Géricault oder das Guernica-Bild von Pablo Picasso, eher zu einem „symbolischen Realismus“ neigen,41 lobte Das Eisenwalzwerk/Der Streik

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er im Hinblick auf Koehlers Der Streik eher den krassen Naturalismus dieses Gemäldes, dem ein zutiefst rebellisches Engagement zugrunde liege. Im Gegensatz dazu erschien ihm der Menzelsche Realismus wegen seiner peniblen Abbildlichkeit viel zu objektivierend, das heißt zwar anteilnehmend, aber nicht Partei ergreifend, während er das Koehlersche Bild – wegen seiner unleugbar aufmüpfigen Züge – als einen eindrucksvollen Ausdruck der damaligen Arbeiteraufstände interpretierte, um auf die „ermutigende“ Widerstandskraft dieses Gemäldes hinzuweisen. Daß Menzel auf seinem Eisenwalzwerk zwar mit höchster Realistik eine Gruppe von Arbeitern dargestellt habe, beeindruckte ihn daher gar nicht, weil diese Arbeiter lediglich ihren vorgeschriebenen Arbeitsverpflichtungen nachgingen und sich lediglich beim Waschen oder Essen kurze Ruhepausen gönnten. All das erschien Weiss viel zu passiv, ja geradezu affirmativ. Was er als vorbildliche Kunstwerke im Kampf der Arbeiterklasse gegen die machtvolle Industriebourgeoisie gelten ließ, waren lediglich Bilder, die entweder das Leiden der unteren Klassen ins Bild zu setzen versuchten oder in denen diese Klassen ihren Unterdrükkern mit kollektiver Gewalt entgegenzutreten wagten. Und darum legte er bei der Niederschrift des ersten Bands seiner Ästhetik des Widerstands einen solchen Nachdruck auf das Bild Der Streik von Robert Koehler, das damals nur in der Erinnerung einiger Arbeiterveteranen weiterlebte sowie von Lee Baxandall und seinen Freunden hochgeschätzt wurde. Daß es kurz vor der „Wende“ von 1989 vom Ostberliner Historischen Museum im ehemaligen Zeughaus angekauft wurde, nachdem kein US-amerikanisches Museum daran Interesse gezeigt hatte, geht ebenfalls auf eine Vermittlung von Lee Baxandall zurück, über die Peter Weiss sicher hocherfreut gewesen wäre. Ja, dieses Museum kaufte zum gleichen Zeitpunkt, ebenfalls aufgrund einer Vermittlung Lee Baxandalls, das Koehlersche Bild Der Sozialist an – und zwar damals noch in der Hoffnung, damit einen wichtigen Beitrag zur künstlerischen Vorgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung geleistet zu haben.42 Möge diese Hoffnung inzwischen nicht ganz erloschen sein und möge auch die Ästhetik des Widerstands nicht den gleichen Staub ansetzen, der sich im Laufe von 50 Jahren auf dem Bild Der Streik angesammelt hatte, bevor es durch den engagierten Einsatz eines Einzelnen wieder seine frühere Eindrucksfülle als eins der bedeutendsten politischen Denkbilder des späten 19. Jahrhunderts zurückerhielt.43 102 Adolph Menzel/Robert Koehler

Der gründerzeitliche Übermensch Arnold Böcklin: Der Abenteurer (1882)

I In keiner Periode der deutschen Literatur und Malerei des 19. Jahrhunderts herrschte so viel Lust am Aggressiven wie in der Kunst der Gründerzeit. Dies allerdings lediglich auf die Ereignisse von 1870/71 zurückzuführen, wäre zweifellos etwas einseitig. Zugegeben, da war ein Krieg gewonnen worden, durch den das seit langem in über 30 autonome Bundesländer zerspaltene ehemalige Heilige Römische Reich Deutscher Nation endlich wieder eine festere Form angenommen hatte. Wer – außer den Sozialdemokraten, den katholischen Ultramontanen und einigen Altliberalen – hätte da nicht jubeln sollen? Ja, manche der besonders chauvinistisch gesinnten Hurrapatrioten konnten bei den darauffolgenden, mit großem Pomp gefeierten Sedan-Feiern in ihren Reden und Gesängen gar nicht laut genug herausposaunen, in welche politische Hochstimmung sie der Sieg über die Franzosen und die anschließende Kaiserkrönung im Spiegelsaal zu Versailles versetzt habe. Und bei solchen Anlässen wurden nicht nur vollmundige Ansprachen gehalten, sondern auch einige Salven abgefeuert und mit dem Schwert gerasselt, um sich zum neuentfachten Wehrwillen der deutschen Nation zu bekennen. Ja, manche forderten bereits zu diesem Zeitpunkt lauthals, dem neuerrichteten deutschen Reich den ihm gebührenden „Platz an der Sonne“ einzuräumen, wie es Wilhelm II. später formulierte. All das ist weidlich bekannt und braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Dahinter steht jener oft apostrophierte „Gründerrausch“, der sich nicht nur auf politischer Ebene auswirkte, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht zu einem geradezu fieberhaften Aufschwung führte. Auf allen Gebieten des Lebens war daher plötzlich von Durchsetzungsdrang, Machtverlangen, Aggressivität, ja kriegerischem Konkurrenzkampf die Rede, um sich zu einem gesteigerten Lebenswillen zu bekennen, dem das Verlangen nach nationaler und persönlicher Größe zugrunde lag. Den wortgewaltigsten Ausdruck dieses gesteigerten WilDer Abenteurer

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lens zur Macht gaben die Historiker und Philosophen dieser Ära, allen voran Heinrich von Treitschke, Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche. Statt wie die „gebildeten Menschenfreunde“ der Aufklärung und des frühen 19. Jahrhunderts weiterhin vom „ewigen Frieden“ zu träumen, schrieb Treitschke, „glaubten jetzt die Deutschen wieder an den Gott, der Eisen wachsen ließ und jene einfachen Tugenden, die bis ans Ende der Geschichte der feste Grund aller Größe der Völker bleiben“ würden, nämlich „den kriegerischen Mut, die frische Kraft des begeisterten Willens und die Wahrhaftigkeit des Hasses“.1 Mit der gleichen Emphase erklärte Lagarde in seinen Deutschen Schriften (1878): „Geistiges Leben erwacht nur durch die Notwendigkeit des Kampfes.“2 Ja, Nietzsche behauptete sogar noch nachdrücklicher: „Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt. Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge getan als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten. Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein?“3 Fast alle anspruchsvollen Schriften dieses Zeitraums waren daher voller aggressiver Polemiken oder zumindest hämischer Seitenhiebe. Ständig bekannten sich die Hauptvertreter dieser Epoche zu einem rücksichtslosen Durchsetzungsdrang sowie gesteigerten Ichbewußtsein, das all jene aus der Volksmenge herausragenden Genies auszeichne, die schon früher dem moralischen Muckertum und den verlogenen Jenseitshoffnungen stets mit unerbittlicher Härte entgegengetreten seien. Wohl das bekannteste Beispiel dafür bietet Nietzsches Kampf gegen die Sklavenmoral des Christentums, auf die jetzt eine neue Herrenmoral folgen müsse. Doch auch mit den Größen ihrer eigenen Zeit sprangen die gründerzeitlichen Eiferer ebenso rücksichtslos um. So nannte etwa Nietzsche Eugen Dühring ein „Moral-Großmaul“ und Victor Hugo einen „Pharus am Meer des Unsinns“.4 Eduard Hanslick hatte für Richard Wagner, Arnold Böcklin für Wilhelm Leibl und Anselm Feuerbach für Hans Makart kaum schonendere Namen. Manchmal fühlt man sich bei diesen gehässigen Ausfällen fast an die homerischen Helden erinnert, die ihre Gegner vor dem Kampf mit unflätigen Worten in den Kot zu ziehen versuchten, bevor sie ihnen den Todesstoß versetzten. Was dieser Einstellung zugrunde lag, die auf dem Boden des zeitgenössischen Heroenkults und der allgemeinen Kriegsschwärmerei erwuchs, waren vor allem drei Forderungen: der Wille zur Machterwei104 Arnold Böcklin

terung, die Rangerhöhung der wahrhaft Großen und die konsequente Absonderung von der sogenannten breiten Masse, welche fast die Form ethischer Postulate annahmen. Von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder anderen bürgerlich-liberalen Forderungen des frühen 19. Jahrhunderts wollten daher viele der ideologisch überspannten Sprecher dieser Ära nichts mehr hören. Nach dem Scheitern der Achtundvierziger Revolution waren sie mehr als bereit, den Weg zur Unfreiheit, das heißt zur Befehlsgewalt der großen Einzelnen, bis zum Äußersten zurückzugehen, indem sie den Willen zur Macht als den einzig entscheidenden Lebenswillen, ja als die Grundlage aller zukünftigen Ethik hinstellten. War nicht Bismarcks Auftreten Beweis genug, daß nicht das Volk, sondern der große Einzelne der entscheidende Faktor auf der politischen Bühne war? Und so kam es nicht nur bei den Politikern, sondern auch bei den Historikern, Philosophen und Künstlern nach 1871 zu einer deutlichen Selbstidentifizierung mit dem weitverbreiteten Geniekult dieser Jahre. „Leben“ bedeutete auch für sie Freiheit für die Großen und Unfreiheit für die Masse, um nicht in demokratischer „Nivellierung“ den wahrhaft Begabten die Chance zu rauben, als „Leuchttürme der Menschheit“, wie es Nietzsche formulierte, über die niedrig gesinnte Herde der „Vielzuvielen“ oder „Allermeisten“ herauszuragen.5

II Man sage nicht, daß dieser Größenwahn lediglich in den Werken Nietzsches zum Ausdruck komme, der ohnehin, wie es oft heißt, in einem zeitlosen Vakuum gelebt habe. Doch erstens war Nietzsche keineswegs ein Außenseiter dieser Ära, sondern setzte sich schon in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873 f.) mit höchst zeitgemäßen Themen auseinander, und zweitens finden sich ähnliche Äußerungen auch bei vielen anderen gründerzeitlichen Autoren. Überall liest man nach der von Bismarck erzwungenen Reichseinigung, daß der Wille zur Macht etwas Positives sei, da Macht zu gewinnen, Macht zu haben und Macht auszuüben zu den wichtigsten, die Menschen antreibenden, befriedigenden, wenn nicht gar beglückenden Gefühlsimpulsen gehöre. Als der Urtyp dieser Form der Machtausübung, wie überhaupt alles Befehlens, Unterwerfens und Vergewaltigendens, wurde dabei gern der Krieger hingeDer Abenteurer

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stellt, der im Sinne des Rechts des Stärkeren über die Schwächeren herrsche. Im Hinblick auf ihn, liest man in den Schriften dieser Jahre, erweise sich, daß der Stärkere zugleich der Höhere und damit Bessere sei. Und zwar ging dabei die ideologische Perspektive meist vom Wesen des Heroischen oder gar Übermenschlichen aus. Nicht die materielle Gewinnsucht wurde als treibende Kraft herausgestrichen, sondern ein primärer und damit unbestimmt bleibender Wille zur Macht. Daß es daneben auch einen Willen zum Überleben gibt, weiß jeder Kranke, jeder Ertrinkende. Daß es ebensogut einen Willen zur Arbeit gibt, zum Werk, weiß jeder Schaffende. Aber all das schienen viele Vertreter der Gründerzeit weder zu wissen noch wissen zu wollen. Daher interpretierten sie sogar das Werke-Schaffen zumeist als Machtausübung oder Machtgewinnung und nicht als echte Produktion. Wie heißt es bei Nietzsche in dieser Hinsicht: „Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht und den Willen zur Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche kommt. Was ist Glück? – Das Gefühl davon, daß die Macht wächst, daß ein Widerstand überwunden wird. Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit. Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.“6 Im Rahmen dieser Gesinnung ist dieses „unser“ nicht nur eine Form des von Nietzsche gern gebrauchten Pluralis majestatis, sondern zugleich der Ausdruck eines forcierten Machtwillens vieler Sprecher der Gründerzeit. Macht erschien ihnen oft als unmittelbare körperliche Züchtigung, als Grausamkeit, als Vernichtung des Lebens anderer. Deshalb erläuterten sie den von ihnen beschworenen Machttypus am liebsten an Zuständen und Personen, in denen sich Macht in brutaler Unterwerfung, ja wilder Zerstörungswut äußert. Besonders häufig wiesen sie dabei auf Gestalten wie die „schweifende blonde Bestie“ der Völkerwanderungszeit oder die gewalttätigen Condottieri der Renaissance hin, die lediglich ihr egoistisches Machtstreben im Auge gehabt hätten. Einmal auf ihre sozialhistorische Basis zurückgeführt, wirkt die Machtstreberei dieser Autoren meist wie der Wunsch und Wille jener bürgerlichen Entrepreneurs, die noch außerhalb der damaligen Machtsphäre standen, also der sogenannten Emporkömmlinge, welche sich mit Hilfe ihres ökonomischen Bereicherungsdranges jenen gleichzu106 Arnold Böcklin

stellen versuchten, die nach alter Tradition die politische Macht verwalteten, das heißt den Fürsten und der aristokratischen Oberschicht. Und zu diesen Neureichen, aber im Grunde politisch Ohnmächtigen rechneten sich auch viele der geistig Reichen unter den Gelehrten, Schriftstellern, Malern und Komponisten der siebziger und achtziger Jahre. Aufgrund der geniekultischen Verehrung, die ihnen die Gründerzeit entgegenbrachte, begannen selbst sie, Macht über Menschen, ja ein Auserwältheitsbewußtsein im Sinne der Herrschenden als ein erstrebenswertes Gut zu schätzen, zumal sie bewußt oder unbewußt ahnten, daß ihnen bei aller geistigen oder künstlerischen Überlegenheit die Anerkennung durch die wahrhaft Mächtigen innerhalb des Adels und des Militärs doch nie voll zuteil würde, da auch ihre höchsten Leistungen, gleichviel welcher Art, ob nun in Form von Dichtwerken, Gemälden, Skulpturen oder musikalischen Kompositionen, nicht ausreichen würden, eine diesen Schichten entsprechende gesellschaftliche Stellung zu erringen oder gar hoffähig zu werden. Daher liegt vielen Werken dieser Ära ein „geistiger Cäsarismus“ zugrunde, der sich gern mit der Pose des Herrscherlichen umgibt. Überall geht es in ihnen thematisch um Aufstiege, die mit dem angeborenen Recht des Stärkeren über die Schwächeren legitimiert werden, wobei man die Stärkeren des Geistes oft mit den Stärkeren der Kraft verwechselte. Vor allem in den Romanen und Novellen dieser Ära findet sich eine unübersehbare Reihe von machtbesessenen Eroberer- und Gründernaturen, für die jede ihrer Handlungen nur ein weiterer Schrittstein zu Ruhm und Größe ist. Man spürt deutlich, daß es sich hier um Werke handelt, deren Autoren sich als Schöpfer unvergänglicher Werke fühlten und von ihren Zeitgenossen als Halbgötter eingeschätzt werden wollten. Nichts schien ihnen ferner zu liegen als die Sorge um das tägliche Brot. Wie ihre Gestalten bemühten sie sich, über dem Alltäglichen stehen: machtvoll und finanziell versorgt. Für die Künstler, jene müßigen Olympier, von denen sie annahmen, daß von ihnen das Glück der gesamten Menschheit abhänge, sollten offenbar die „Tätigen – seien sie Arbeiter oder Bankiers oder Beamte“ mit ihrer Überarbeit sorgen, wie es hieß.7 Das Ergebnis dieser Haltung war ein Wille zur Macht, der sich betont „herrisch“ gab. Nur so konnte es kommen, daß sich in dem Kampf der Arbeiter gegen das Kapital, den Bismarck zwischen 1878 und 1890 mit brutalen Zwangsmaßnahmen einzudämmen versuchte, Der Abenteurer

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viele Künstler auf die Seite der nichtarbeitenden Oberschichten stellten. Sie vergaßen, daß auch sie Schaffende sind und ihr Platz eigentlich bei den Arbeitenden gewesen wäre. Was sie stattdessen anstrebten, war vornehmlich die Teilnahme an Rang und Ehre, weshalb sie weitgehend einem machtbetonten Personenkult huldigten.

III Doch nun zu der Frage: wie äußert sich diese Einstellung in den künstlerischen Werken der Gründerzeit? Wie zu erwarten, ist ihr Ideal meist die überragende Einzelfigur, der Heros, der Übermensch, der sich in einem ideologischen Niemandsland zu bewegen scheint.8 Die meisten gründerzeitlichen Helden sind so stark aus allen konkreten Lebensverflechtungen herausgenommen, daß sie wie personenhafte Vertretungen großer Ideen wirken. Ihr Charakter wird nicht durch äußere Wirkungsfaktoren bedingt, sondern scheint lediglich einem dämonischen Schicksalswillen zu gehorchen, der sich jeder empirischen Deutung entzieht. Ständig begegnet man rätselhaften Genies oder unverstandenen Einsamen, die sich mit der ganzen Kraft ihres Wesens in die Höhe recken, um auch zu den Großen der Menschheit zu gehören. Das Psychologische tritt deshalb weitgehend hinter dem Gestalthaften zurück. Ja, manche dieser Figuren sind geradezu als Monumente angelegt, die scheinbar nur um ihrer selbst willen existieren und sich vor nichts, weder einer Idee oder irgendeiner Wertvorstellung, zu legitimieren brauchen. All das bewirkte einen Antirealismus, der auf anekdotische Verknüpfungen, psychologische Motivierungen oder Einbettungen in ein bestimmtes Milieu leichterhands verzichtete, um nur das große Ich aufleuchten zu lassen. Und damit ergab sich eine ganz andere Stilebene als im vorangegangenen bürgerlichen Realismus. Um den großen Einzelnen möglichst zeitfern und erhaben darzustellen, verzichtete man auf alles, was von seiner scharf konturierten Silhouette ablenken könnte. In der gründerzeitlichen Kunst stehen daher vor allem Leidenschaften und Kraftentfaltungen im Vordergrund, nicht soziale Konflikte oder psychologische Differenzierungen. Der Rahmen, die Plastizität der Beschreibung, die Entschiedenheit der Charaktere: alles dient nur der Steigerung der 108 Arnold Böcklin

heroisierten Einzelfigur. Wenn auch Volk erwähnt wird, dann meist nur als Pöbel oder Folie, vor der sich die Hauptfigur um so größer abhebt. Selbst die Natur erscheint oft nur als großflächiger, bedeutungssteigernder Hintergrund, das heißt als Meeres-, Alpen- oder Campagnalandschaft. Im Gegensatz zur Romantik, wo die pantheistische Naturkulisse vornehmlich dazu diente, den andächtig gestimmten Lesern ihre Kleinheit und Ohnmacht vor Augen zu führen, ordnet sich jetzt alles wie ein respektvoll verharrendes Gefolge um das große Ich. Nicht die Berge oder das Meer sind das Dominierende, sondern der Mensch, der sie mit seiner mächtigen Gestalt weitgehend verdeckt und damit beherrscht. Welche Folgen sich daraus in literarischer Hinsicht ergaben, ist nicht schwer vorherzusehen.9 Ein Stil, der so stark nach Monumentalität strebte, interessierte sich weder für Idyllisch-Intimes, RealistischBeschreibendes noch für Komisch-Satirisches, sondern vornehmlich für Historisch-Bedeutsames, geistig oder körperlich Überragendes, am liebsten in der Form des Geschichtsdramas oder des Versepos. Ja, selbst die damals noch immer beliebte Novelle ist meist in der Form einer scharf konturierten und leitmotivisch genau durchdachten Prosaarchitektur angelegt, die auf jede epische Läßlichkeit verzichtet. Die Theorie dazu lieferte vor allem Paul Heyse in der folgenreichen Einleitung zu seinem Deutschen Novellenschatz (1871 f.), deren Wirkung kaum zu überschätzen ist. In ihr erklärte er, daß in jedem Werk dieser Gattung ein „bedeutendes Menschenschicksal“ im Mittelpunkt stehen müsse, das sich in einer „starken, deutlichen Silhouette“ zusammenfassen läßt. Aus diesem Grunde wandte er sich sowohl gegen ein „Übermaß an Naturschilderungen“ als auch gegen ein allzu breites Ausmalen der „biographischen Elemente“. Nicht das erzählerische Drum und Dran war Heyse wichtig, sondern die „Erregung des inneren plastischen Sinns“.10 Daher läuft seine Theorie immer wieder auf die Darstellung jener Ausnahmemenschen hinaus, die nur den „vollen Wuchs“ ihrer Persönlichkeit im Auge haben. Aus diesem Grunde wurde alles Zeitgeschichtliche, Soziale und Aktuelle, das von der großen Gestalt ablenken könnte, von ihm und ähnlich gesinnten Autoren aus der Literatur verbannt. Sie wollten Figuren darstellen, die bedingen, nicht welche, die selber bedingt sind. Die Literatur der siebziger und frühen achtziger Jahre ist demzufolge voller Usurpatoren, Bonapartisten und Gewaltnaturen, die es verstehen, durch einen geschickten Coup die Macht an sich zu reißen. Schließlich Der Abenteurer

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hatte man, wie gesagt, selbst erlebt, daß die Volksbewegung der Achtundvierziger gescheitert war, während es Bismarck, dem großen Einzelnen, scheinbar mühelos gelungen war, den alten Traum von der Einheit Deutschlands in die Tat umzusetzen. Obendrein klang vielen Geistaristokraten dieser Zeit das Treitschke-Motto „Männer machen die Geschichte“ in den Ohren.11 Doch gerade in seiner Neigung zum Bonapartistischen offenbart sich die Gebrochenheit dieses bürgerlichen Machtverlangens. Indem nämlich diese Gesellschaftsschicht nicht mehr als Klasse auftrat, sondern sich mit genialen Außenseitern identifizierte, lief das Ganze schließlich auf eine Haßliebe Bismarcks und damit auf eine Entmündigung der eigenen politischen Wünsche hinaus. So nannte zwar Nietzsche Bismarck abschätzig „Deutschlands Schneider“, der lediglich einen „Flickenteppich“ zusammengenäht habe, sprach aber zugleich voller Bewunderung von jenen „Herrennaturen“, die ihre „furchtbaren Tatzen“ auf eine noch „gestaltlose Bevölkerung“ gelegt und damit ein neues Volk zustande gebracht hätten.12 Da ihm Bismarck, dem genau dies gelungen war, noch zu nah, zu menschlich-allzumenschlich erschien, sah er solche Naturgenies, die mit dem Recht des Stärkeren über Leichen gegangen seien, lieber in Gestalten wie Alexander dem Großen, Alarich, Cesare Borgia oder Napoleon. Während wir in den Selbstzeugnissen der gründerzeitlichen Autoren eine Fülle von Belegen für derartige Anschauungen finden, läßt sich eine damit verwandte Einstellung bei den gründerzeitlichen Malern wesentlich schwerer belegen. Zugegeben, in Anselm Feuerbachs Vermächtnis (1881) herrscht ein ähnlich übersteigertes Selbstbewußtsein. Und auch Franz von Lenbach ließ sich gern als Künstlerfürst bewundern. Doch bei anderen Größen unter den Malern dieser Richtung, wie etwa Arnold Böcklin, Wilhelm Leibl und Hans von Marées, muß man sich vornehmlich an ihre Gemälde halten, um aus ihnen das spezifisch Gründerzeitliche herauszulesen. Oft genügt dafür schon ein kurzer Blick auf ihre Hauptwerke. Schließlich steht auch in ihnen nicht das Volk, sondern der große Einzelne, nicht eine pantheistisch gesehene Natur, sondern der Übermensch, nicht das allesbestimmende Milieu, sondern das Genie im Mittelpunkt. Überall begegnet man Gestalten, neben denen alles andere verschwindet, in den Hintergrund tritt oder wie auf den Heiligen- und Fürstenbildern älterer Zeiten zu Beiwerk, Schmuck oder Rahmen verblaßt. Weder Landschaft noch Interieur, 110 Arnold Böcklin

weder Historie noch Anekdote, weder Stilleben noch malerische Verschwommenheit, welche die dargestellten Menschen mit ihrer Umgebung zu einer durchgehenden Stimmung verbinden würden – nichts findet sich auf ihnen, was der großen Person im Wege stehen oder von ihr ablenken könnte. Statt dessen dominiert ein Figuralstil, der sich vor allem darum bemüht, daß uns der jeweilige Protagonist in möglichst monumentaler Ausdrucksfülle als große Persönlichkeitsoffenbarung entgegentritt. Viele der einprägsamsten Gemälde der gründerzeitlichen Maler sind deshalb Bilder von Einzelgestalten, die entweder in repräsentativer Frontalität oder in klarem, bedeutendem Profil, das heißt groß entfaltet und gewichtig in der Haltung dargestellt sind. Der Hintergrund wird meist flächig gehalten, arm an Details, und dient lediglich als Begleitung der Figur. So ist etwa auf Böcklins Gemälde Euterpe (1871) die Natur nur ein Thron, auf dem eine bildfüllende Muse sitzt. Auf seinem Schweigen im Walde (1885) sieht man eine Reiterin auf einem dämonischen Fabeltier, die in Form einer Heiligenstatue von den Bäumen des Waldes wie von einem Schrein umgeben wird. Auch die vornehme Dame auf Anselm Feuerbachs Iphigenie (1871) beherrscht mit ihren edlen Gebärden die ganze Bildfläche. Parallel dazu wirkt seine Medea (1870) wie eine Szene aus einem Drama, in dem eine Mutter mit ihrem Kind – halb Madonna, halb Tragödin – eine Göttin spielt. Alles andere gemahnt an einen Schauplatz, welcher allein dem Willen und Entschluß einer groß gesehenen Heroine unterworfen ist. Ähnliches gilt für den Heiligen Georg (1880) von Hans von Marées, der einem Reiterdenkmal in Form eines flächenfüllenden Reliefs gleicht, dessen plastisches Bild nicht einmal durch den Kampf mit dem Drachen gestört wird. Selbst auf Wilhelm Leibls Dachauerin mit Kind (1874) erscheinen die beiden Figuren – veredelt in Haltung und Gebärde wie auf einem Adelsporträt klassischer Zeiten – vor einem glatten, leeren Hintergrund. Nicht minder gründerzeitlich wirkt sein relativ realistisch gemalter Jäger (1876), an sich ein Bildnis des Freiherrn von Perfall, das jedoch eher einem Denkmal kraftvoller Männlichkeit als einem getreuen Konterfei gleicht. Sogar hier wird der Mensch nicht im Raum, sondern vor ihm, ihn beherrschend, dargestellt. Und diese Beispielreihe ließe sich beliebig fortsetzen. Immer wieder ist es die großgesehene Gestalt, die in vordergründiger Nahbildlichkeit dem Betrachter entgeDer Abenteurer

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gentritt, um ihn auf ihre Größe und Bedeutsamkeit hinzuweisen, wobei die meisten dieser Maler zu allegorischen Personifikationen neigten, um diese Bildabsicht so deutlich wie möglich herauszustellen.

IV Die Frage, welche sich daraus zwangsläufig ergibt, ist die folgende: was hat dieser heroisierende Personalstil mit der ideologischen Grundstruktur der Gründerzeit zu tun? Ist er lediglich eine Widerspiegelung des verbreiteten Bismarcks-Kults, der in diesen Jahren herrschte? Oder liegen dieser Tendenz ins Monumentalisierende auch andere Antriebskräfte zugrunde, die einer rein politischen Betrachtungsweise widersprechen würden? Beides wäre zweifellos unzureichend. So eindeutig lassen sich zeitgeschichtliche Widerspiegelungsvorgänge nur in Ausnahmefällen interpretieren. Meist, besonders bei bedeutenderen Künstlern, spielen bei der Umsetzung des Allgemeinen ins Besondere, das heißt der künstlerischen Wiedergabe des Historisch-Bedingten ins subjektiv-realisierte Einzelwerk, auch eine Reihe von Faktoren eine Rolle, die mit dem sozialen Herkommen, dem Bildungsstand, den beruflichen Möglichkeiten sowie bestimmten Ereignissen im Leben des jeweiligen Künstlers zusammenhängen und sich dementsprechend ausgewirkt haben. Das soll allerdings nicht heißen, daß man sich bei der Interpretation einzelner Kunstwerke auf das Biographisch-Individuelle beschränken sollte. Das Allgemeine, ob man es nun als Zeitstil, Ismus, Mode oder einfach als Ausdruck einer bestimmten politischen, soziologischen oder der daraus abgeleiteten ideologiegeschichtlichen Situation charakterisiert, bleibt meist doch das entscheidende Kriterium. So wäre es zwar richtig, aber einseitig, den monumentalisierenden Personalstil der Gründerzeit allein auf eine Überdrüssigkeit an der akribisch-detaillierten, oft ins Belanglose abgleitenden Malweise des bürgerlichen Realismus der fünfziger und sechziger Jahre zurückzuführen. Ebenso richtig, aber einseitig wäre es, darin eine Abwendung von der kleinbürgerlichen Bescheidenheit des vorindustriellen Zeitalters zu einer angemaßten Großbürgerlichkeit zu sehen, um von den gesellschaftlichen Oberschichten als ranggleiche Genies anerkannt zu werden. Ja, ebenso rich112 Arnold Böcklin

tig, aber gleichfalls einseitig wäre es, die Tendenz ins Heroisch-Monumentalisierende innerhalb dieser Malerei lediglich als eine ins Überzeitliche erhobene Hommage an den verbreiteten Bismarck-Kult dieser Ära zu interpretieren. Genau besehen, ist sie weder ausschließlich das eine noch ausschließlich das andere, sondern alles in allem, und zwar im individuellen Falle noch durch eine Reihe anderer Faktoren mitbedingt. Und das macht ihre Deutung so schwierig, aber auch so interessant. Beginnen wir mit den ins Monumentalisierende drängenden Elementen innerhalb der gründerzeitlichen Malerei. Sie wirken zwar besonders penetrant, ja geradezu auf eine peinliche Weise aufdringlich, lassen sich aber nicht nur als vordergründige Zeugnisse einer chauvinistischen Siegesstimmung verstehen. Genauer besehen, sollte man im Hinblick auf sie deutlich zwischen exoterischen und esoterischen Darstellungen solcher Bildmotive unterscheiden. Besonders markante Beispiele bieten dafür die Bismarck-Bilder nach 1870/71. Sie sind weitgehend exoterisch, indem sich ihre Maler, wie der Berliner Akademiedirektor Anton von Werner, bemühten, seine Gestalt, seine Physiognomie sowie seine mit Orden geschmückte Brust auf jene höchst penible Weise wiederzugeben, die noch den Stilmitteln des bürgerlichen Realismus der fünfziger und sechziger Jahre verpflichtet ist. Franz von Lenbach neigte dagegen bei seinen Kanzler-Porträts schon eher ins Verkultende, indem er trotz seiner ebenfalls realistischen Malweise vor allem das Herrisch-Blickende oder gar den ins Übermenschliche tendierenden Charakter Bismarcks herauszustreichen versuchte. Noch stärker wird dieser Zug ins Monumentalisierende dann in den BismarckTürmen von Wilhelm Kreis sowie dem Bismarck-Denkmal von Hugo Lederer, wo der Dargestellte fast wie eine allegorische Personifikation des deutschen Rolands wirkt. Doch wie steht es dagegen mit all den anderen heroischen Gestalten in der Malerei der Gründerzeit, bei denen es nicht um Bismarck, sondern um mythologische oder antikisierende Eroberer, Usurpatoren und Reichsgründer geht? Bei ihnen, wie auch bei vielen anderen monumental dargestellten Figuren dieser Ära, ist der direkte Bezug zum spezifisch Gründerzeitlichen keineswegs so offenkundig, wenn nicht gar plakativ. Ihre Hinwendung zum Geist der Gründerzeit äußert sich eher esoterisch. Daß diese Malerei in ihren Sujets häufig ins Überzeitliche tenDer Abenteurer

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dierte, bedeutet allerdings nicht, daß sie sich von der herrschenden Zeitstimmung abwandte, sondern daß sie diese zum Teil sogar noch zu übersteigern suchte, wofür auf philosophischer Ebene Friedrich Nietzsches Zarathustra (1883 f.) das beste Beispiel wäre. So gesehen, sind auch die Titanen, antiken Heroen, Ritter, Heiligenfiguren, Jäger und Wildschützen sowie die Zentaurenkämpfe und Amazonenschlachten auf den monumentalisierenden Bildern von Arnold Böcklin, Anselm Feuerbach, Wilhelm Leibl, Hans von Marées und Hans Thoma auf indirekte Weise ebenfalls Zeugnisse der gründerzeitlichen Begeisterung für jenen „Starken von oben“, wie man Bismarck gern nannte, sowie für jenen „Furor teutonicus“, der durch den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 angefacht worden war. Wie weit das manchen Malern, die lediglich „Großes“, über das Kleinliche des bürgerlichen Realismus Hinausragendes darstellen wollten, tatsächlich bewußt war, bleibt oft rätselhaft. Daher ist im Hinblick auf derartige Bilder – trotz einer relativ ähnlichen Grundtendenz – die Grenzlinie zwischen dem Exoterischen und dem Esoterischen manchmal gar nicht so leicht zu ziehen.

V Unter dieser Perspektive soll im Folgenden das Bild Der Abenteurer (1882) von Arnold Böcklin etwas genauer betrachtet werden. Auf ihm ist ein stiernackiger, herrisch blickender Krieger dargestellt, der mit seinem Harnisch und seinem Schwert wie ein Renaissance-Condottieri wirkt. Er ist so dickleibig und gepanzert, daß ihn das Pferd, welches er wie ein Sklavenhalter seine Leibeigenen zu äußerster Anstrengung zwingt, kaum zu tragen vermag. Ansonsten nimmt man auf diesem Bild nur einen mit gebleichten Knochen und Schädelresten bedeckten Boden wahr, der von Kampf und Verderben zeugt, während auf der weiten Meeresfläche hinter diesem Reiter lediglich ein zurückgelassenes kleines Segelschiff zu sehen ist. Doch all das wirkt nebensächlich. Was zählt, ist einzig und allein die siegessicher blickende Gestalt eines rücksichtslosen Brutalos, der vor nichts zurückzuschrecken scheint. Dieser Mann glaubt sich seiner Sache so sicher zu sein, daß er sogar auf ein bewaffnetes Gefolge verzichten kann. Nur er wird die anstehende große Tat vollbringen, niemand sonst. 114 Arnold Böcklin

12 Arnold Böcklin: Der Abenteurer (1882), Bremen, Kunsthalle

Wie läßt sich ein solches Bild deuten: kritisch oder affirmativ? Sollen die Knochen und Schädelreste auf die verbrecherischen, ja mörderischen Absichten dieses Gewaltmenschen hinweisen? Oder ist dieses Gemälde eine Glorifizierung jenes „Starken von oben“, der in diesen Jahren so oft verkultend dargestellt wurde? Für beide Interpretationen ließen sich gewichtige Kriterien ins Feld führen. Ist also dieses Bild eine Allegorie Bismarcks, der Recht allein aus der Erringung von Macht ableitete, ja der von vielen seiner Zeitgenossen durchaus positiv als Vertreter einer Politik empfunden wurde, die auf „Blut und Eisen“ beruhte? Oder ist er das nicht? Unter den bismarckhörigen Befürwortern einer solchen Staatsführung fand dieses Bild sicher eine ungeteilte Zustimmung. Aber hatte es Böcklin selber in diesem Sinne konzipiert oder ergab sich eine solche Ausdeutung dieses Bilds nur aus der herrschenden Zeitstimmung? Wollte er nicht eher, wie auf seinen späteren Bildern Der Krieg (1896) und Die Pest (1898), schon auf diesem Gemälde seiner Kritik an der herrschenden „Blut und Eisen“-Politik Ausdruck verDer Abenteurer

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leihen? Um all diese Fragen zu beantworten, bedarf es zwangsläufig eines kurzen Rückblicks auf die ideologische Herkunft dieses Malers, soweit sich diese aus Mangel an Selbstzeugnissen erschließen läßt. Böcklin stammte ursprünglich aus der Schweiz, verbrachte aber einen Großteil seines Lebens in Frankreich, Italien und Deutschland. 1848 hatte er sich als junger Mann in Paris – angesichts der angeblichen „Gräuel“ der ihn verstörenden Revolutionsereignisse – bewußt von der Politik abgewandt. Statt sich darauf in seiner Malweise dem vorherrschenden bürgerlichen Realismus anzupassen und einer der üblichen nachmärzlichen Porträtisten oder Landschaftsmaler zu werden, war er anschließend in seinem Bestreben, „von der langweiligen Erde fortzukommen“, nach Italien gegangen und hatte sich dort als einer der sogenannten Deutschrömer der neuidealistischen Richtung angeschlossen und, wie seine Freunde Anselm Feuerbach, Adolf von Hildebrand und Hans von Marées, bei seiner Themenwahl in scheinbarer Zeitentrücktheit vor allem antikisierende Motive aufgegriffen. Während er hierbei in den sechziger Jahren weitgehend naturhafte und intim gestimmte Sujets bevorzugte, läßt sich auf seinen Bildern der frühen Gründerzeit, die er in Berlin verbrachte, wie auf seinem Selbstbildnis mit fidelndem Tod von 1872 und seinem Selbstbildnis vor Marmorsäule und Lorbeerstrauch von 1873, eine deutliche Steigerung ins Selbstherrlich-Auftrumpfende bzw. Genialisch-Monumentalisierende nicht übersehen. Trotz seiner betonten Zeitentrücktheit schloß sich also auch Böcklin zeitweilig der spezifisch gründerzeitlichen Großmannssucht durchaus an, was ihm in den meinungsbestimmenden Kunstkreisen Deutschlands zu einem großen Ansehen verhalf. So gesehen, ist auch sein Bild Der Abenteurer von 1882 zweifellos ein Gemälde, das all jene Stilmerkmale aufweist, die Richard Hamann schon 1914 in seinem Buch Die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts und dann noch einmal in seiner Geschichte der deutschen Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus von 1925 sowie im Entwurf zum ersten Band seiner Geschichte der wilhelminischen Kultur von 1955, dem ich in mancher Hinsicht bei der Interpretation dieses Bildes verpflichtet bin, als charakteristisch für die Hauptwerke der gründerzeitlichen Malerei herauszuarbeiten versuchte. Es stellt einen übermächtigen Einzelnen als Nahfigur vor einen bedeutungssteigernden Hintergrund dar, der durch die Unbedingtheit seiner Gestalt einen Willen zur Macht 116 Arnold Böcklin

demonstriert, dem eine deutliche Absage an die bürgerlich-liberalen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zugrunde liegt. Und damit ist dieses Gemälde trotz aller ins Zeitlose stilisierten Allegorisierung doch ein politästhetisches Denkbild, indem es – gewollt oder ungewollt – das gleiche Rangbewußtsein sowie jenen Herrschaftsanspruch zum Ausdruck bringt, der auch in der gründerzeitlichen Siegesstimmung und der Verklärung des sogenannten Starken von oben zum Ausdruck kommt. Kein Wunder daher, daß gerade Böcklin zwischen 1870 und 1900 zum Lieblingsmaler all jener für einen ins Monumentale tendierenden Renaissancismus, Symbolismus und Neuidealismus schwärmenden deutschen Kunstfreunde wurde,13 die in derartigen Richtungen den Triumph eines ins Literarische überhöhten Geistes über jene Kunst des mittleren 19. Jahrhunderts sahen, die sich mit einer kleinmütigen Wiedergabe der Wirklichkeit begnügt habe, statt ins Wahrhaft-Große, Selbstherrliche, wenn nicht gar Heroische auszugreifen. Es waren deshalb anfangs lediglich altpreußische Realisten wie Adolph Menzel oder Naturalisten wie der frühe Max Liebermann, die Böcklins Bilder als „unwahr“ ablehnten. Noch schärfer, wenn auch unter impressionistischsezessionistischer Perspektive äußerte sich dann Julius Meier-Graefe 1905 in seinem Buch Der Fall Böcklin über die Bilder dieses Malers, indem er sie als Machwerke eines „unkünstlerischen Illustrators“ hinstellte,14 worauf das Ansehen Böcklins in den Augen aller an einer spezifisch „modernistischen“ Kunst interessierten Kulturmenschen, wie man damals sagte, allmählich verblaßte. Aber war dies die richtige Kritik? Wäre es nicht besser gewesen, wenn man sich schon damals mit der inhaltlichen Hintergründigkeit seiner Bildinhalte auseinandergesetzt hätte, die gerade bei einem Gemälde wie Der Abenteurer kaum zu übersehen ist? Schließlich ist dieses Bild nicht nur „unwahr“ oder „unmodern“, sondern auch politisch problematisch, indem es in seinem Streben nach „Größe“ den Weg zu jener brutalen Übermenschlichkeit zu befürworten scheint, die dann im Ersten Weltkrieg und im Dritten Reich zu höchst grausamen Konsequenzen führte. Oder war es von Böcklin tatsächlich kritisch gemeint? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort, so oft man dieses Gemälde auch betrachtet. Doch gerade macht es zu einem politischen Denkbild besonderer Art.

Der Abenteurer

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Karl Schmidt-Rottluff: ist euch nicht Kristus erschienen (1919)

I Es gibt wohl kaum einen anderen Kunst-Ismus, über den man sich in Deutschland zwischen 1910 und 1945 so erregt hat, wie über den Expressionismus. In den Dreck gezogen, als „entartet“ bezeichnet oder überschwänglich gelobt, ja in den Himmel gehoben: so schwankte das Bild des Expressionismus jahrzehntelang zwischen den ideologischen Fronten.1 Denn eine derartige Eruption politischer, künstlerischer und emotionaler Kräfte wie in dieser Richtung, die ziellos nach allen Seiten auszubrechen schien, ließ sich einfach nicht übersehen. Im Hinblick auf das Ungestüme, Wildaufflackernde, Leidenschaftliche innerhalb dieser Kunst waren alle betroffen: ob nun die Rechten oder die Linken, die Engagierten oder die Nichtengagierten, die Spießer oder die Radikalinskis. Und so konnte es kommen, daß diese Bewegung als prokommunistisch oder präfaschistisch, als reiner Kunstausdruck oder bloßer Politabklatsch, als bürgerlich-idealistisch oder bolschewistisch-aktivistisch, als soziologisch bedingtes Massenphänomen oder Ausdruck jenseitig verzückter Einzelner entweder verdammt oder hochgejubelt wurde – je nachdem welcher ideologischen Richtung man selber angehörte. Doch so hanebüchen manche dieser Urteile auch klingen, erstaunlicherweise treffen sie alle auf irgendeine Weise zu. Der Expressionismus war nun einmal ein höchst komplexes Phänomen, das sowohl künstlerisch als auch weltanschaulich schwer auf einen Nenner zu bringen ist. Wild zwischen den extremsten Gegensetzen hin- und herflakkernd, hier im rein Subjektiven, dort im rein Kollektiven, hier im rein Geistigen, dort im rein Triebhaften untertauchend und dann mit jauchzend verzückter Simultangebärde alle diese sich widersprechenden Polaritäten in eins zusammenraffend, steigerte er sich immer wieder in jene Exaltationen hinein, die gerade in ihrer absoluten Verschwommenheit so unverkennbar „expressionistisch“ wirken.

118 Karl Schmidt-Rottluff

Ihren Höhepunkt erlebten die sich an ihm entzündenden Auseinandersetzungen in den Jahren nach 1933. Da es in der Malerei – im Gegensatz zur Literatur und Musik – in den zwanziger Jahren kaum Linke oder Juden gegeben hatte, verfemten die Nazifaschisten in diesem Zeitraum vor allem die Expressionisten als „undeutsch“, das heißt als „novembristisch“ oder „kulturbolschewistisch“, was seinen schärfsten Ausdruck in der berühmt-berüchtigten Monsterschau „Entartete Kunst“ fand, die 1937 von Adolf Ziegler, Hitlers Lieblingsmaler, in München arrangiert wurde.2 Doch im gleichen Jahr kam es auch in Moskau innerhalb der dortigen deutschen Exilgruppe zu einer recht kritischen Beurteilung des Expressionismus, wofür vor allem die Aufsätze „Größe und Verfall“ des Expressionismus von Georg Lukács und Nun ist dies Erbe zuende von Alfred Kurella bezeichnend sind. Statt wie die Nazifaschisten den Expressionismus in Bausch und Bogen zu verurteilen, ging es Lukács eher darum, die ideologisch-irrationalen Komponenten dieser Bewegung zu kritisieren.3 Ja, in der in Moskau erscheinenden Exilzeitschrift Das Wort wurde sogar einigen Linken, wie Ernst Bloch, Hanns Eisler und Klaus Berger, die Chance eingeräumt, auch eine Reihe positiver Aspekte innerhalb dieser Bewegung herauszustellen.4 Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs traten jedoch solche Debatten wieder in den Hintergrund, da es jetzt selbst den kunstinteressierten Vertretern beider Lager, das heißt sowohl den Nazifaschisten als auch den Sprechern der sowjetisch-westlichen Allianz, vornehmlich um militärstrategische Gesichtspunkte ging, mit denen sie ihre politischen Ziele durchzusetzen versuchten. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als man sich wieder mit dem sogenannten kulturellen „November-Erbe“ zu beschäftigen begann, das in den dreißiger Jahren weitgehend unterdrückt worden war, kam es innerhalb derartiger „Vergangenheitsbewältigungen“ zu einem neuen Streit um den Expressionismus.5 Da sich dieser Streit ab 1947/48 innerhalb des ideologischen Klimas des Kalten Krieges abspielte, nahm er in der sowjetischen Besatzungszone sowie den drei westlichen Besatzungszonen höchst verschiedenartige Formen an. Während sich im Osten Deutschlands weitgehend die politästhetischen Ansichten Georg Lukács’ durchsetzten, was im Rahmen der sogenannten Formalismus-Debatte der frühen fünfziger Jahre zu einer erneuten Verdammung des Expressionismus führte, dem eine, wie es hieß, Überist euch nicht Kristus erschienen

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betonung „modernistischer“ Komponenten und ein dementsprechender Mangel an „Realismus und Parteilichkeit“ zugrunde gelegen habe, wurde im Westen Deutschlands – zum Teil unter dem Einfluß Gottfried Benns, der zum gleichen Zeitpunkt die formalistisch-westliche Kunst der frühen Bundesrepublik als die „Phase II“ des Expressionismus charakterisierte6 – dieser Bewegung eine immer stärkere Sympathie entgegengebracht. Allerdings ging das nur, indem man in diesen Breiten den Expressionismus aus all seinen politisch-revolutionären Verflechtungen herauslöste und in eine kunstimmanente Bewegung uminterpretierte. Und so wurde hier aus dem Expressionismus zusehends jene „Klassische Moderne“, die später zu jener „freiheitlichen Künstlerkunst“ geführt habe, wie vor allem der damals einflußreichste Kunstkritiker Werner Haftmann erklärte,7 in deren Verlauf es zu einer fortschreitenden Abstraktion und schließlich Gegenstandslosigkeit gekommen sei. Erst im Laufe der sechziger Jahre trat diese durch den Kalten Krieg bedingte ideologische Polarisierung im Hinblick auf den Expressionismus allmählich in den Hintergrund. Im Osten gab dazu vor allem Ilja Fradkin 1962 in seinem Aufsatz Vor neuen Aufgaben den ersten Anstoß, in welchem er sich dafür einsetzte, dem Expressionismus wegen seiner unübersehbaren „linken“ Tendenzen endlich die gebührende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.8 Dem wurde zwar von Alfred Kurella scharf widersprochen,9 was jedoch andere DDR-Schriftsteller, wie etwa Stephan Hermlin, nicht davon abhielt, die rein negative Beurteilung dieses Kunst-Ismus von Seiten Georg Lukács’ abzulehnen und sich für expressionistische Lyriker wie Georg Trakl und Georg Heym einzusetzen, worauf es auch hier zu einer schnell anwachsenden Reihe von Publikationen der Hauptwerke expressionistischer Autoren kam.10 Im der ehemaligen Bundesrepublik wurde ein solcher, wenn auch andersgearteter Perspektivwechsel vor allem durch die Achtundsechziger Bewegung ausgelöst. Statt den Expressionismus, wie in der DDR der fünfziger Jahre, einfach totzuschweigen oder ihm seine ideologische Unzulänglichkeit vorzuwerfen, ging man hier daran, nicht nur à la Benn oder Haftmann seine ins Abstrakte tendierende „Modernität“ herauszustreichen, sondern auch seine rebellischen, wenn nicht gar revolutionären Tendenzen in den Vordergrund zu rücken, um sich in der eigenen Aufmüpfigkeit gegen die bestehende Obrigkeit zu bestärken. Allerdings währte das, wie die Achtundsechziger Bewegung, nur wenige Jahre und 120 Karl Schmidt-Rottluff

machte dann in der westlichen Expressionismus-Forschung einer zunehmenden Verwissenschaftlichung bei der Beschäftigung mit den Werken dieser Richtung Platz. Und damit hörte der „Streit um den Expressionismus“ sowohl hüben wie drüben allmählich auf. Seit den späten siebziger bzw. frühen achtziger Jahren ist demzufolge der Expressionismus zu einem politisch unverbindlichen Relikt aus der längst vergangenen Zeit des frühen 20. Jahrhunderts geworden, das man im Bereich der Kunst- und Literaturwissenschaft lediglich strukturalistisch auseinanderklaubt, wieder zusammensetzt, auf thematische Einflüsse hin untersucht, genretheoretisch klassifiziert, biographistisch durchleuchtet und was es sonst noch an spezifisch „wissenschaftlichen“ Bemühungen gibt. Kein Zweifel, daß wir dadurch heute über den Expressionismus wesentlich mehr „wissen“ als früher. Und das ist schließlich auch ein Ergebnis. Doch der Elan, die Aggressivität, die revolutionäre Streitlust, die sich Anno dazumal an diesem offenbar widerborstigen Phänomen entzündeten, scheinen endgültig vorbei zu sein. Auch auf diesem Sektor dominiert momentan zwar ein opulentes, aber ideologisch weitgehend unverbindliches Wissensangebot, während die Frage nach der politischen oder weltanschaulichen Zielrichtung dieser Bewegung, die einmal die Welt verändern wollte, meist übergangen wird. Entgegen solchen Bestrebungen wäre es vielleicht nicht unangebracht, die Frage nach dem spezifisch „Expressionistischen“ ruhig etwas konkreter zu stellen und sich erneut mit seinem revolutionären Anspruch auseinanderzusetzen. Denn bei einer so aufmüpfigen Bewegung wie dieser liegt nun einmal ihre Relevanz – wie schon beim Sturm und Drang, den Jungdeutschen, dem Vormärz oder dem Naturalismus – weniger im ästhetisch Bleibenden oder geistig Wiederverwendbaren als im Bereich des entwicklungsgeschichtlich Bedeutsamen. Betrachten wir darum den Expressionismus einmal so, wie er sich größtenteils selber verstand, nämlich als Revolution, als Aufbruch, als Wandlung oder Erhebung – alles Worte, in denen der Wille zu einer grundsätzlichen Veränderung der politischen, sozioökonomischen und künstlerischen Verhältnisse zum Ausdruck kommt. Denn was auch immer die einzelnen Expressionisten unterscheidet, der Hang zum Extremen, Aufrührerischen, Radikalen, ja Weltumstürzlerischen ist fast allen gemeinsam. An dieser These läßt sich schwerlich rütteln. Was man bezweifeln ist euch nicht Kristus erschienen

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könnte, ist lediglich die politische Klarheit der expressionistischen Revolution. Wer allerdings solche Fragen aufwirft, kann sich nicht mit einer positivistisch ausgerichteten Betriebsamkeit begnügen, sondern muß auch sich selbst in jenen unaufhörlichen Prozeß von Fortschritt und Reaktion einbeziehen, der nun einmal alles Geschichtliche durchzieht und daher auch sämtlichen historisch orientierten Kulturwissenschaften ihre Zielrichtung vorschreibt. Betreiben wir daher die Auseinandersetzung mit dem Expressionismus, die es mit einem hochexplosiven Forschungsgegenstand zu tun hat, als eine „Veränderungs-Wissenschaft an der Front des Geschehens, in der Aktualität der jeweiligen Entscheidung, in der Tendenz-Beherrschung auf die Zukunft hin“, wie Ernst Bloch eine solche Haltung in seinem noch immer vom Expressionismus herkommenden Buch Das Prinzip Hoffnung (1955) als das Ziel einer jeden „konkret“ betriebenen Wissenschaftlichkeit umschrieben hat.11

II Dabei kommt man nicht um die Frage der zeitgeschichtlichen Determiniertheit dieser Bewegung herum. So ist oft behauptet worden, daß die revolutionäre Erregtheit des Expressionismus nur ein Spiegelbild der politischen Ereignisse zwischen 1914 und 1923, also des Kriegsausbruchs, der Novemberrevolution und der Hyperinflation der Nachkriegsjahre, sei. Eine solche These hat auf den ersten Blick manches für sich. Doch andererseits läßt sich nicht übersehen, daß bereits der Frühexpressionismus von 1910 auf einen Totalumsturz des gesamten wilhelminischen Gesellschaftssystems zielte. Dementsprechend stößt man schon in der Vorkriegsära, die von vielen Bewunderern des Expressionismus lange Zeit lediglich als die Phase der großen, unpolitischen Lyrik gefeiert wurde, in manifestartigen Aufsätzen wie Der Dichter greift in die Politik oder Maler bauen Barrikaden, welche in der Zeitschrift Die Aktion erschienen, immer wieder auf unzweideutige Bekenntnisse zu einem politischen Aktivismus, die keinen Zweifel an ihren revolutionären Absichten lassen. Doch Stimmen wie diese verhallten zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Zuge der allgemeinen 122 Karl Schmidt-Rottluff

Kriegsbegeisterung weitgehend im Leeren oder wurden von der Zensur unterdrückt. Eine politische Wirkung konnte daher der Expressionismus erst entfalten, als 1917 eine zunehmende Kriegsmüdigkeit eintrat, es zur Gründung der linksgerichteten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei kam, die ersten Streikbewegungen einsetzten, im Spätherbst dieses Jahres die russische Revolution in ihre bolschewistische Phase überging und Lenin am 28. November in seinem berühmten Funkspruch An alle zu Frieden und Völkerversöhnung aufrief. Gestützt auf die Manifeste der USPD und des Spartakus-Bundes, deren Führer größtenteils im Gefängnis saßen, traten darum in der Folgezeit immer mehr Intellektuelle und Künstler gegen die Staatsgewalt und die verbrecherische Weiterführung des Krieges auf. Allerdings waren ihre Reden, Pamphlete und Graphiken weitgehend im Geiste eines utopischen Pazifismus abgefaßt, der jede politische Konkretheit vermissen ließ und alle „Brüderlich-Gestimmten“ einfach zur Überwindung der Gewalt durch Gewaltlosigkeit aufrief. Ideologisch gesehen,12 gipfelten diese Schriften und Bildwerke meist in der Forderung nach einem internationalen Staatenbund, der sich für die Abschaffung des Kriegs einsetzen sollte, während sie in anderen Fragen entweder dem Wilsonschen VierzehnPunkte-Programm vertrauten oder die Lösung der sozialen und ökonomischen Probleme auf die Zeit nach dem Krieg vertagten. Als daher im November 1918 die Revolution tatsächlich ausbrach, erwiesen sich die expressionistisch eingestellten Intellektuellen und Künstlerkreise als viel zu schwach und obendrein viel zu utopistisch eingestellt, um sich an den politischen Auseinandersetzungen um die Macht beteiligen zu können. Denn die sich real abspielende Revolution war letztlich nur eine Zufallsrevolution kriegsmüder Soldaten, die keineswegs in ihre eigenen Vorstellungen paßte. Die meisten Soldaten wollten erst einmal mit ihren wilhelminisch gesinnten Offizieren abrechnen und dann zu ihren Familien zurückkehren – und nicht „die Welt verändern“. Auf Intellektuelle und Künstler waren diese Soldaten, die man von Kind auf in einer bewußten Bildungs- und Kulturfeindlichkeit erzogen hatte, ohnehin nicht gut zu sprechen, was eine allgemeine Solidarisierung der Revolutionswilligen von vornherein erschwerte. In dieser Situation gelang es den rechtsstehenden Mehrheitssozialdemokraten unter Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann ist euch nicht Kristus erschienen

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ohne allzu große Mühe, kurzerhand die Macht an sich zu reißen und alle linksorientierten Gruppen und Parteien, wie die Arbeiter- und Soldatenräte, den Spartakus-Bund und die USPD, mit Hilfe der Reichswehr und rechtsradikaler Freikorpsverbände Schritt für Schritt zu überrunden oder blutig niederzuschlagen. Und so scheiterte Anfang 1919 sowohl der Spartakus-Aufstand in Berlin als auch das Experiment der Münchner Räterepublik. Was sich dagegen durchsetzte, war die von der SPD beeinflußte Nationalversammlung, durch die eine bürgerlich-liberale Demokratie etabliert wurde, die alle geistidealistisch, aktivistisch, utopisch oder sozialistisch eingestellten Intellektuellen notwendig unbefriedigt lassen mußte.

III Doch nun zu der Frage: wie verhielten sich die Expressionisten während dieser für kurze Zeit ganz Deutschland erschütternden Ereignisse? Im November 1918 gingen erst einmal viele von ihnen mit fliegenden Fahnen ins revolutionäre Lager über, das heißt beteiligten sich an öffentlichen Demonstrationen, schlossen sich den Arbeiter- und Soldatenräten an, traten in die USPD oder den Spartakus-Bund ein, um so die Gunst der Stunde in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Nach Jahren des erzwungenen Schweigens und der Unterdrückung nahmen sie jetzt die Chance wahr, sich in aller Offenheit zu ihren pazifistischen, utopiegläubigen oder urkommunistischen Überzeugungen bekennen zu können. Als gute „Kommunionisten“ oder „Kommunitarier“ suchten sie plötzlich nach Kontakten zu Arbeitergruppen, gingen in politische Versammlungen, verteilten Flugblätter und stellten ihre Gemälde auf Straßen oder in Bahnhöfen aus. Ja, manche bemühten sich allen Ernstes, ihre bisherigen bohemienhaften Cliquen durch größere und straffer geführte Organisationen zu ersetzen, um endlich eine geschlossene Einheitsfront aller Kriegsgegner, aller Geistigen, aller Aufbruchsbereiten zu schaffen. Und zwar orientierten sich diese expressionistisch gesinnten Aktivisten vor allem an den kurz zuvor entstandenen Arbeiter- und Soldatenräten. So gründeten beispielweise die mit dieser Bewegung sympathisierenden Intellektuellen und Schriftsteller Ende 1918 in Berlin einen 124 Karl Schmidt-Rottluff

Politischen Rat geistiger Arbeiter. Ähnlich aktivistisch eingestellte Architekten, Maler und Kunstkritiker schlossen sich zum gleichen Zeitpunkt zu einem Arbeitsrat für Kunst, einer Art Kunst-Sowjet, zusammen, der unter der Leitung von Adolf Behne, Walter Gropius und Cesar Klein stand und dem vor allem Otto Bartning, Lyonel Feininger, Oswald Herzog, Ludwig Meidner, Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff, Bruno Taut und andere beitraten. In der wohl wichtigsten Publikation dieser Gruppe, der Schrift Ja! Stimmen des Arbeitsrates für Kunst in Berlin (1919), gibt es fast keinen Künstler, der sich nicht für eine weitgehende „Sozialisierung der Kunst“ eingesetzt hätte. Überall heißt es in ihr: weg von den Ausstellungen, den Sezessionen, den Salons, den Galerien, den verschmockten Snobs – und dafür hin zu den breiten Massen, zum Volk, um der Kunst wieder eine in die Öffentlichkeit eingreifende Funktion zu geben. Viele wollten plötzlich einfache, verantwortungsbewußte Handwerker beim „Bau eines sozialistischen Staates“ werden, wie sich Gropius ausdrückte.13 Ebenso entschieden trat Herzog in allen Fragen der Kunst für eine wesentlich engere „Verbindung mit den Führern der Unabhängigen Sozialdemokraten und Kommunisten“ ein. 14 Das gleiche tat Schmidt-Rottluff, der sich für eine kooperative „Fühlungnahme mit den Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen“ einsetzte.15 Das Ziel, das einige dabei anvisierten, waren, um Taut zu zitieren, „kommunistische Künstlergemeinschaften“, die sich der Durchsetzung eines werkbundhaften Sozialismus widmen würden. Statt sich weiterhin in den Dienst der Obrigkeit zu stellen, drangen andere Mitglieder dieses Arbeitsrats sogar darauf, altmodische Repräsentationsgebäude, wie den Berliner Dom und mehrere Museumsbauten, einfach abzureißen oder in die Luft zu sprengen, um so öffentliche Versammlungsplätze zu schaffen, wo sich jeder wie ein Arbeiter unter Arbeitern oder – im Sinne der Schlußszene von Beethovens Fidelio – wie ein Bruder unter Brüdern fühlen könne. Ähnliche Äußerungen finden sich in dem Manifest An alle Künstler (1919) der Berliner Novembergruppe, die von Malern und Bildhauern wie Rudolf Belling, Heinrich Campendonk, Moritz Melzer, Max Pechstein und Georg Tappert gegründet wurde und der sich später auch eine Reihe Schriftsteller und Komponisten anschloß. Wie in den Stimmen des Arbeitsrates wurden auch hier alle „radikalen bildenden Künstler“ aufgefordert, ihre Kräfte vornehmlich in den Dienst des einfachen Volist euch nicht Kristus erschienen

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kes zu stellen, das heißt Kulturhäuser für das Proletariat zu errichten und somit ihren Beitrag zur Überwindung jener verhängnisvollen Trennung von Arbeitern und Intellektuellen zu leisten, den auch Adolf Behne in seinem Buch Die Wiederkehr der Kunst (1919) als die wichtigste Zielvorstellung aller verantwortungsbewußten expressionistischen Künstler bezeichnete.

IV So weit, so engagiert. Doch bei genauerem Zusehen steckte – trotz nobelster Absichten – hinter vielen Bekenntnissen dieser Art noch immer jener bürgerliche Liberalismus, der bei der „Befreiung der breiten Masse“ vornehmlich seine eigene Befreiung im Auge hatte. Daher waren die Leitfiguren der expressionistischen Literatur meist hochgebildete, aber zugleich hochfrustrierte Jünglinge, Geistidealisten oder gar Dichter-Führer. So erklärte etwa Gustav Landauer: „Der Dichter ist der Führer im Chor, er ist aber auch – wie der Solotenor in der Neunten, der über die einheitlich rufenden Chormassen hinweg unerbittlichen Schwunges seine eigene Weise singt – der herrlich Isolierte.“ Statt die realexistierenden Verhältnisse ins Auge zu fassen, hieß es dementsprechend bei ihm im Folgenden voller Verachtung für einen „Patentsozialismus mit festgesetzten Einrichtungen und Methoden“: „Wir brauchen die Bereitschaft zur Erschütterung, wir brauchen die Posaune des Gottesmannes Mose, der von Zeiten zu Zeiten das große Jubeljahr ausruft, wir brauchen den Frühling, den Wahn und den Rausch und die Tollheit, wir brauchen – wieder und wieder und wieder – die Revolution. Wir brauchen den Dichter.“16 Aufgrund dieser ins Halbreligiöse gesteigerten Aufbruchsstimmung stand daher auf der Stufenleiter der expressionistischen Vorbild- und Erweckungsgestalten manchmal an höchster Stelle sogar ein neuer Messias. In ihm verschmolzen der Jüngling, der Student, der Geistige und der Dichter-Führer schließlich zu einer Gestalt, die alle Merkmale eines prophetischen Volkserweckers besitzt und mit dem Kopf bis in den Himmel zu ragen scheint. Man denke an Ernst Tollers Drama Die Wandlung (1919), dessen jünglingshafter Held durch das Grauen der Kriegsereignisse so erschüttert wird, daß sein fanatischer Patriotismus 126 Karl Schmidt-Rottluff

in eine ebenso fanatische Menschheitsliebe umschlägt, und der am Schluß, während alles Volk am Boden kniet, als der neue Messias mit prophetenhaft-visionärer Stimme die „heilige Revolution“ ausruft. Zugegeben, es gab bei Gottfried Benn, Georg Kaiser oder Carl Sternheim im Hinblick auf Religiöses auch viel zynische Schnoddrigkeit. Aber mehrheitlich überwog in den Zukunftshoffnungen expressionistischer Autoren meist das Seraphische oder Konversionslüsterne. Ein Kunstkritiker wie Ekkehart von Sydow stellte deshalb 1920 die neue „Religiosität“ geradezu ins Zentrum des Expressionismus und begeisterte sich für den „primitiven Mystizismus“ dieser Bewegung,17 während andere Sympathisanten des Expressionismus in dieser Wendung ins Transzendente im Sinne Wilhelm Worringers eine Wiedergeburt des „gotischen Menschen“ sahen.18 Daher finden sich in vielen expressionistischen Gedichten oder Dramenszenen häufig Zeilen wie „Von jungen Messiaskronen das Haupthaar umzackt“, „Gott wird überallhin wiedergeboren“, „Es leuchten die Flammenzeichen einer neuen Religion“ oder „Arbeiter / du Sohn der Magd, du Christi Bruder“.19 Vor allem der brutal ermordete Karl Liebknecht wurde von manchen Expressionisten im Sinne religiöser Litaneien häufig zum Heilsbringer, zum Messias oder zumindest zu einem gottähnlichen Menschen verklärt. Über ihn liest man: „O Christ-Präsident, am Kruzifix der Siegessäulen, / Dein Parlament die Menschen, die in Kerkern heulen. / Ave Liebknecht.“20 Ja, in anderen Gedichten dieser Art wurde Liebknecht als Heilsbringer direkt neben Lenin und Christus gestellt. Noch emphatischer klingen manche expressionistischen Gedichte, in denen die ebenfalls von rechtsradikalen Freikorpsgruppen auf brutalste Weise umgebrachte Rosa Luxemburg in den Himmel erhoben wird. Über sie heißt es in einer Hymne des jungen Johannes R. Becher, die mit der Gebärde der Kreuzabnahme und der Erhöhung ins Heiliggesprochene schließt: „Durch Welten rase ich –: / Den geschundenen Leib abnehmend vom Kreuz. / In weicheste Linnen ihn hüllend. / Triumph dir durch die Welten blase ich: / Dir Einzige!! Dir Heilige!! / O Weib!!!“21 Das gleiche religiös gestimmte Pathos herrscht in Bechers Gedichtsammlung Um Gott (1921), wo von jener „heiligen Gemeinschaft“ der Soldaten Gottes die Rede ist, die eines Tages mit biblischem Pomp ins neue Paradies marschieren wird.22 Nicht minder kommunionistisch wirkt jene seltsame Mischung aus Marxismus und ist euch nicht Kristus erschienen

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Gebet, von der sich Ernst Bloch gegen Ende seines Geist der Utopie (1918) eine allgemeine Menschheitswende versprach.23 Und auch der messianisch auftretende Gustav Landauer, der manchmal als „Expreßzionist“ charakterisiert wurde, schrieb im Hinblick auf derartige synkretistische Neigungen: „Mit jeder echten Religion war der Kommunismus verbunden; und echten Kommunismus gibt es eben nur unter Religiösen. Daher kommt es, daß es wirklichen, vernünftigen, menschenmöglichen Kommunismus heute nur noch unter versprengten religiösen Sekten gibt.“24 Aus all diesen und vielen anderen Äußerungen dieser Art geht deutlich hervor, wie radikal, aber auch wie unklar, ja nebulös die politischen Zielvorstellungen vieler Expressionisten waren. Allerdings sollte man das ihnen nicht nur als Manko anlasten, sondern auch bedenken, wie kurz die ideologische Anlaufszeit der Deutschen Novemberrevolution war. Während der Französischen Revolution von 1789 und auch der Sowjetischen Oktoberrevolution von 1917 Jahrzehnte einer aufklärerischen Propaganda vorangegangen waren, die zu einer weitgehenden Klärung der politischen Umsturzvorstellungen geführt hatten, vollzog sich die deutschen Novemberrevolution von 1918 geradezu über Nacht, und zwar ohne allzu große Beteiligung der sogenannten breiten Massen.25 Wer hinter ihr stand, waren lediglich einige Arbeiter- und Soldatenräte, Mitglieder des Spartakus-Bundes, linksgerichete unabhängige Sozialdemokraten und eben jene Intellektuellen und Künstler, die sich als massenzugewandte „Expressionisten“ ausgaben, um sich damit von jenen elitären Ästheten abzusetzen, die sich mit ihren Werken lediglich an die Haute volée der wilhelminischen Gesellschaft gewandt hätten. Aufgrund dieser gesellschaftlichen Isoliertheit beschworen viele Vertreter dieser Richtung die von ihnen umworbenen Unterklassen lediglich mit dem später oft belächelten „O Mensch“-Pathos, ihnen so schnell und so entschieden wie möglich auf ihrem Wege zu einer „besseren Menschheit“ zu folgen. Da es den meisten Expressionisten an einer realpolitischen Einsicht in die konkreten, das heißt politischen und sozioökonomischen Verwirklichungschancen einer solchen Umwälzung fehlte, landeten sie hierbei häufig bei höchst allgemein klingenden Verlautbarungen, die sich vornehmlich im Bereich des Menschlich-Universalen oder Kosmisch-Entgrenzten bewegten. Um bei solchen Exaltationen nicht jede inhaltliche Bestimmtheit zu verlieren, griffen demzu128 Karl Schmidt-Rottluff

folge viele Vertreter dieser Bewegung gern zu religiösen Bildern oder Metaphern, von denen sie sich – nach alter Tradition – eine größere Wirkungsmächtigkeit versprachen als von irgendwelchen ins Begriffliche übertragenen Abstraktionen. Außerdem hofften sie, daß sie sich dadurch den Vertretern der Unterklassen eher verständlich machen könnten als mit poetischen oder philosophischen Konzepten. Doch darin täuschten sie sich leider. Schließlich waren große Teile der Arbeiterschaft damals keineswegs mehr bibelfest, sondern hatten durch die von der SPD geförderte darwinistische Evolutionstheorie längst eine atheistische Haltung bezogen. Diesen Schichten mit biblisch überhöhten Vorstellungen beizukommen, trug deshalb kaum zu einer größeren Massenwirksamkeit ihrer Anschauungen bei.

V Aber wenden wir uns endlich dem Kernpunkt dieses Essays, dem Holzschnitt ist euch nicht Kristus erschienen (1919) von Karl Schmidt-Rottluff, zu. Was ist daran „expressionistisch“ und was macht ihn im Zusammenhang mit der deutschen Novemberrevolution zu einem politischen Denkbild? Wie fast alle Mitglieder der Künstlervereinigung Die Brücke neigte auch Schmidt-Rottluff seit 1910 zu einer plakathaft vereinfachten Darstellungsweise, die sich unter dem Einfluß Ernst Ludwig Kirchners26 und dann auch an dem 1915 von Carl Einstein herausgegebenen Buch Negerplastik orientierte.27 Als besonders geeignet bot sich dafür die lange Zeit vergessene Form des Holzschnitts an, und zwar in einer möglichst klobig vereinfachten Weise, die auf jede ästhetische Nuancierung verzichtete. Geradezu programmatisch hat sich Schmidt-Rottluff dieser Formgebung bei einem Holzschnitt von 1920 bedient, auf dem er einem geschnitzten Negerfetisch die gleiche Bedeutung wie seinem Selbstbildnis einräumte. Ja, sogar der christliche Heiland auf seinem Bild ist euch nicht Kristus erschienen von 1919 wirkt wegen seiner kantig herausgearbeiteten Mund- und Nasenpartien in typisch expressionistischer Simultaneität fast wie eine Negerstatue, was seinen Gesichtszügen etwas Eindringlich-Beschwörendes, aber zugleich Blasphemisch-Übersteigertes gibt.

ist euch nicht Kristus erschienen

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Der gleiche Simultaneindruck, bei dem nicht ohne weiteres zwischen einem politischen Appell oder einer Entwürdigung des Religiösen ins Blasphemische zu unterscheiden ist, entsteht bei diesem Bild durch die auf der Stirnfläche des Schmidt-Rottluffschen Kristus eingezeichnete Jahreszahl „1918“ sowie die am unteren Bildrand eingetragene Schriftzeile „ist euch nicht Kristus erschienen“. Daß die Jahreszahl „1918“ auf die Novemberrevolution verweisen sollte, war sicher jedem der damaligen Zeitgenossen klar. Und daß durch den Textzusatz zugleich die erhoffte Wiederkehr des Messias angedeutet werden sollte, war zweifellos vielen Kunstinteressierten der frühen zwanziger Jahre ebenfalls bewußt. Doch an wen wandte sich dieser Holzschnitt eigentlich? An die zu revolutionärer Ungeduld aufzuputschenden Arbeiter? Schließlich hatte sich Schmidt-Rottluff 1919 in der Schrift Ja! Stimmen des Arbeitsrates für Kunst in Berlin für eine möglichst enge Fühlungnahme aller expressionistischen Künstler mit den „Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen“ ausgesprochen.28 Doch interessierten sich die zu diesem Zeitpunkt so oft beschworenen Arbeiter überhaupt für eine solche Kunst? Oder war ihnen nicht alle Kunst, „weil sie vom Bürger kommt“, wie manche antiexpressionistisch eingestellten Dadaisten erklärten, von vornherein suspekt? Damit tat sich ein Zwiespalt auf, der selbst mit einer noch so engagierten Gesinnung nicht zu überbrücken war. Eine der Folgerungen, die nicht nur Schmidt-Rottluff, sondern auch eine Reihe anderer expressionistischer Künstler daraus zog, war, in eine zwar linke, aber subjektivanarchistische Haltung auszuweichen. Im Sinne dieser Einstellung schrieb Schmidt-Rottluff schon am 6. Dezember 1918 in einer Künstlerumfrage der Zeitschrift Kunstchronik und Kunstmarkt, daß er in den heute bestehenden Staaten lediglich „zufällige und zeitweilige Zusammenballungen“ sehe, also seine Kunst weder „monarchistisch-kapitalistisch“ noch „bolschewistisch-sozialistisch“ ausgerichtet sei und sich letztlich an die ganze „Menschheit“ wende.29 Bei einem derartigen Verzicht auf irgendwelche realpolitischen Perspektiven konnte es nicht ausbleiben, daß sich nicht nur er, sondern auch andere expressionistische Künstler bei ihren menschheitlich gemeinten Bildern immer wieder religiöser, das heißt allgemeinmenschlicher Bilder und Vorstellungen bedienten. Dafür spricht beispielsweise jener bekannte Holzschnitt, den Lyonel Feininger 1919 als 130 Karl Schmidt-Rottluff

13 Karl Schmidt-Rottluff: ist euch nicht Kristus erschienen (1919), Privatbesitz © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

ist euch nicht Kristus erschienen

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Logo oder Signet des Weimarer Bauhauses entwarf, auf dem eine gotische Kirche zu sehen ist, über der drei Sowjetsterne leuchten, und den er Die Kathedrale des Sozialismus nannte, um sich damit zu einer expressionistisch-bolschewistischen Bauhütten-Gesinnung zu bekennen. Die gleiche christsozialistische Ideologie liegt der Lithographie Menschen über der Welt (1919) von Conrad Felixmüller zugrunde, auf der man Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sieht, die nach ihrer Ermordung über dem Häusermeer einer Stadt wie pfingstlich Auferstandene himmelwärts schweben, wobei ihnen ebenfalls ein fünfzackiger Stern den Weg zu weisen scheint. Ich weiß, es gibt noch viele andere expressionistische Darstellungen der mit messianischen Hoffnungen begonnenen Novemberrevolution von 1918. Doch weder sie noch irgendwelche spontan durchgeführten Politaktionen, wie der Berliner Spartakus-Aufstand oder die Münchner Räterepublik, konnten verhindern, daß das Ergebnis dieser Revolution keine sozialbetonte Republik, sondern ein höchst labiles Staatsgebilde war, deren Präsident nach der Wirtschaftskrise von 1929 nur noch in der Machtübergabe an die Nazifaschisten die einzige Chance sah, eine allgemeine Anarchie zu verhindern. Daß man dafür nicht den Expressionisten die Schuld geben sollte, liegt auf der Hand. Sie waren einfach nicht genügend vorbereitet auf die Novemberrevolution von 1918 und griffen daher Ende 1918 / Anfang 1919 zu allen nur erdenklichen Ideologien, die ihnen in der Hitze des Gefechts einfielen. Daß sie sich dabei auch christlicher Bilder und Vorstellungen bedienten, sollte man ihnen deshalb nicht von vornherein verübeln. Überhaupt wäre es verfehlt, in dem darin zum Ausdruck kommenden Messianismus etwas spezifisch Religiöses zu sehen. Letztlich sind derartige Bilder eher politische Denkbilder, in denen sich zwar der noble, aber ideologisch überstürzte und daher unausgereifte Charakter vieler expressionistischer Bemühungen widerspiegelt.

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Das Gemeinsame im Trennenden Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

I Die Werke von Käthe Kollwitz und Ernst Barlach werden oft nebeneinander ausgestellt, als ob es sich hierbei um zwei wesensverwandte, ja gleichgeartete Künstler handele. Und auch im Bereich der Buch- und Aufsatztitel begegnet man diesen zwei Namen immer wieder in trauter Nachbarschaft, die auf eine enge Verbundenheit, wenn nicht gar Freundschaft zwischen diesen beiden hinzudeuten scheint.1 Besonders nach 1945, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, wurden sie von all jenen Künstlern, die zwar im Dritten Reich geblieben waren, aber zu den von den nazifaschistischen Behörden „Verfemten“ gehört hatten, wegen der „appellativen Themen der Darstellungen des Krieges und der Leiden gerade der unteren Bevölkerungsschichten“ als zwei der wichtigsten Exponenten jener „Inneren Emigration“ hingestellt,2 die sich den Forderungen der braunen Machthaber nicht unterworfen hätten, sondern in ein verbittert-widerspenstiges Abseits ausgewichen seien. Ihre Werke erregten daher in den Jahren 1946/47 innerhalb der kunstinteressierten Schichten wesentlich mehr Aufmerksamkeit als jene Gemälde, Graphiken und Skulpturen, welche die Nazis allein wegen ihrer expressionistischen Übersteigerungen, unrealistischen Abstraktheit oder gar Gegenstandslosigkeit als „entartet“ bezeichnet hatten.3 Vor allem die Sektion Bildende Kunst des bereits im Juni 1945 in Berlin gegründeten Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands setzte sich damals nachdrücklich dafür ein, daß die Werke dieser beiden Künstler umgehend in Berlin, Leipzig, Dresden, Potsdam, Rostock, Güstrow und Schwerin ausgestellt wurden.4 Allerdings sollte diese durch nichts getrübte Hochschätzung von Kollwitz und Barlach nicht lange währen. Wie wir wissen, trat in den drei westlichen Besatzungszonen schon zu Beginn des sogenannten Kalten Krieges im Spätherbst 1947 eine forcierte Entideologisierung der bildenden Künste ins Abstrakte und dann total Gegenstandslose Das Gemeinsame im Trennenden

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ein, die zu einer deutlichen Herabwürdigung alles „Realistischen“ führte, welche sogar im Dritten Reich verfemte Künstler wie Carl Hofer und Otto Dix zu spüren bekamen, die plötzlich der Nachbarschaft zum „Sozialistischen Realismus“ verdächtigt wurden. Indem die ideologische Zielrichtung im westlichen Kulturbetrieb immer stärker aus dem Antifaschistischen ins Antikommunistische überwechselte, erlebte die bisher als relativ belanglos geltende Kunst des „Modernismus“ mit einem Mal einen ungeahnten Auftrieb, der zu jenem Siegeslauf der abstrakten Kunst führte, der im Sommer 1955 auf der von Werner Haftmann eingeführten Kasseler Documenta seinen ersten Höhepunkt erlebte.5 Und diese Entwicklung schadete sogar dem Ansehen von Kollwitz und Barlach, die beide in den fünfziger Jahren westlich der Elbe jene vorbildliche Bedeutung verloren, welche sie noch kurz zuvor ausgezeichnet hatte. Was jetzt in der ehemaligen Bundesrepublik zählte, war – neben der anhaltenden antikommunistischen Propaganda des Kalten Krieges – eine forcierte Wendung ins betont Heitere im Rahmen einer sich ausbreitenden Ideologie der Nichtideologie, die sich nicht mehr mit der dunklen Last des Faschismus auseinandersetzen wollte, sondern sich dem hellen Glanz einer weltanschaulich unbestimmten „Moderne“ verschrieb. Dieser Sichtwechsel führte auf dem Gebiet der bildenden Künste zu jener betonten Farbigkeit à la Ernst Wilhelm Nay oder Willi Baumeister, die auf alle in die düstere Vergangenheit verweisenden Grautöne oder gar schwarzen Flecken verzichtete. Falls man überhaupt noch zurückblickte, dann lediglich zu jenen Vorläufern der besagten „Moderne“, bei denen sich bereits ein Hang zur Abstraktion feststellen ließ, während die angeblich ideologieverhaftete, weil „realistische“ Kunst zusehends als „obsolet“ hingestellt wurde. Durch seine Gegenständlichkeit Aufrüttelndes, an das menschliche Leid während des Krieges oder den Terror des Dritten Reichs Erinnerndes galt demzufolge immer stärker als „out“. Als „in“ empfanden dagegen die neuen Meinungsträgerschichten alles, was ins Modische, Aufgehellte, Elegante tendierte und mit Sprüchen wie „Wir sind wieder wer“ oder „Die Welt wird täglich heiterer“ angepriesen wurde, wie es in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in zeittypischen Journalen wie magnum mit einem Blick auf die üppigen Warenauslagen in den Schaufenstern der Kaufhäuser hieß.6 Und mit solchen Slogans gewann die CDU/CSU im Jahr 134 Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

1957 bei den westdeutschen Wahlen sogar die absolute Mehrheit im Bundestag. Künstler wie Kollwitz und Barlach wurden durch diese Entwicklung zwar nicht völlig entwertet, galten jedoch in den Feuilletons der Kunstkritik zusehends als sich immer ähnlicher werdende Fossilien einer Ära, an die sich die meisten Westdeutschen nicht mehr gern erinnern wollten. Demzufolge trat die nach 1945 geforderte „Vergangenheitsbewältigung“ immer stärker in den Hintergrund. Lediglich in der Protestbewegung gegen die Aufstellung einer bundesdeutschen Armee tauchten in den Jahren 1956/57 noch einmal von Kollwitz oder Barlach inspirierte Bildmotive auf. Aber selbst sie blieben wirkungslos, zumal die gegen die Remilitarisierung auftretende KPD 1956 verboten wurde und die SPD 1959 in ihrem Godesberger Programm auf eine Konsensuspolitik in Fragen Wiederbewaffnung einschwenkte. Dadurch wurden aus Kollwitz und Barlach um 1960 im westdeutschen Feuilleton schließlich Figuren, die man zwar nicht zum „alten Eisen“ warf, welche aber allmählich zu Ikonen erstarrten, denen man ideologisch nur noch einen unverbindlichen Respekt zollte und deren Werke somit ihre „eingreifende“ Funktion verloren. Im Zuge dieser Entwicklung verblaßten ihre weltanschaulichen Konturen schließlich so stark, daß sie sich in den Augen großer Teile der kulturbewußten Kreise in Künstler verwandelten, die in ihren Werken vornehmlich dem „Düsteren“ gehuldigt hätten. Ob nun Kollwitz oder Barlach: beide galten in diesem Zeitraum als Graphiker bzw. Bildhauer, deren Œuvre weitgehend auf den Ton einer bedrückenden Trauer abgestimmt sei, in der sich eine anthropologische Konstante manifestiere, die eher mit existentiellen Zuständen des „Menschseins“ als mit irgendwelchen historisch bedingten Geschehnissen zusammenhänge. Im Gefolge dieser Entwicklung wurden Kollwitz und Barlach in den Augen vieler westorientierter Kritiker und Kritikerinnen immer wesensverwandter und schließlich – von einigen Ausnahmen abgesehen – fast zu siamesischen Zwillingen der gleichen schmerzerfüllten „Daseinsgeworfenheit“, von der man sich damals ebenso nachdrücklich zu distanzieren versuchte wie von den Bestialitäten des Dritten Reichs und den Schrecken der beiden Weltkriege. Wie ideologiegefärbt diese Sehweise war, die sich bemühte, von allen Gräueln der Vergangenheit abzusehen, liegt auf der Hand. Um der in diesen Jahren weitverbreiteten WeltanDas Gemeinsame im Trennenden

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schauung der Weltanschauungslosigkeit zu huldigen, bedienten sich dabei ihre Vertreter meist irgendwelcher konservativen bis reaktionären Verschweigetaktiken, die sich als höchst effektiv erwiesen. Deshalb würde es sich empfehlen, gegen solche ins Anthropologisch-Abstrakte tendierenden Sehweisen so energisch wie möglich anzukämpfen, um nicht die politisch konkreten Bezüge in den Werken dieser zwei Künstler aus dem Auge zu verlieren. Schließlich sind sich diese beiden – trotz ihrer gemeinsamen antimilitaristischen und antifaschistischen Einstellung – gar nicht so ähnlich, wie sie gern hingestellt werden, sondern weisen in ihrer ideologischen Orientierung beträchtliche Unterschiede auf, die man nicht übersehen sollte. Gehen wir daher erst einmal auf diese Differenzen ein, um dann das Gemeinsame ihrer weltanschaulichen „Haltungen“ und politischen Denkbilder gebührend herauszustellen.

II Beginnen wir mit Käthe Kollwitz, die drei Jahre vor Barlach geboren wurde, aber ihren künstlerischen Durchbruch bereits neun Jahre vor ihm erlebte. Aus dem Milieu einer liberal-gesinnten Freien Gemeinde in Königsberg stammend, in der ihr Großvater und Vater Prediger waren, begann sie schon mit 18 Jahren an einer Künstlerinnenschule in Berlin und dann an einem ähnlichen Institut in München zu studieren, traf darauf den sozialdemokratisch eingestellten Arzt Karl Kollwitz, den sie 1891 mit 24 Jahren heiratete und mit dem sie im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg eine Wohnung bezog. Erstes Aufsehen mit ihren Werken erregte sie 1898 auf der Großen Berliner Kunstausstellung mit ihrem Graphikzyklus Ein Weberaufstand nach dem Drama Die Weber von Gerhart Hauptmann, den kein Geringerer als Adolph Menzel, der oft fälschlich für einen wilhelminischen Hofmaler gehalten wird,7 für die kleine Goldmedaille vorschlug, eine Auszeichnung, die Kaiser Wilhelm II. selbstverständlich ablehnte. Darauf wurde Kollwitz im folgenden Jahr – auf Empfehlung Max Liebermanns – als Mitglied in die Berliner Sezession aufgenommen, die sich als Gegenorganisation zu dem Veranstaltungskomitee der Großen Berliner Kunstausstellung verstand. Zur gleichen Zeit entwarf sie das Titelblatt für das Programmheft der 136 Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

sozialdemokratisch eingestellten Freien Bühne und begann mit der Arbeit an ihrem Graphikzyklus Der Bauernkrieg. 1904 erwarb sie die nötigen Grundkenntnisse für plastisches Arbeiten an der Académie Julian in Paris. Als sie 1906 für die Deutsche Heimarbeit-Ausstellung das aufreizende Plakat mit dem Bild einer abgehärmten Arbeiterin gestaltete, weigerte sich die Kaiserin, diese Ausstellung zu besuchen, ja an den Berliner Litfaßsäulen mußte dieses Bild sofort überklebt werden. Als ebenso schockierend wurden 1912 von den gesellschaftlichen Oberschichten ihre Graphiken im Simplicissimus sowie ihre Zeichnungen Weibergefängnis vor 100 Jahren und Entbindung im Frauengefängnis für die Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf “ empfunden. Auch während des Ersten Weltkriegs beteiligte sie sich an mehreren großen Ausstellungen, auf denen unter anderem ihr zum Frieden aufrufendes Bild Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden gezeigt wurde. Doch ihre große Zeit sollte erst nach der Novemberrevolution kommen. Anfang 1919 wurde ihr Mann in Berlin zum Stadtverordneten der SPD gewählt und sie als Professorin in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen. Kurz darauf arbeitete sie an Gedenkblättern für ermordete linke Politiker wie Leo Jochiges und Hugo Haase und entwarf zugleich das eindrucksvolle Gedenkblatt für Karl Liebknecht, das 1920 in hoher Auflage zu verbilligtem Preis auf einer Berliner ArbeiterKunstausstellung vertrieben wurde. Ebenso engagiert wirken ihre Werke aus den folgenden Jahren. Die bekanntesten davon sind die Graphiken für die Internationale Arbeiterhilfe (IAH), das Komitee zur RußlandHilfe, den Internationalen Gewerkschaftsbund, das Plakat gegen den Paragraphen 218 für die KPD, die Arbeiten für die Freie Volksbühne, das Plakat Nie wieder Krieg für den Mitteldeutschen Jugendtag der sozialistischen Arbeiterbewegung, das Plakat für die Deutsche Heimarbeit-Ausstellung in Berlin-Moabit sowie die Werke für die Erste deutsche Kunstausstellung in der Sowjetunion, die 1924 in Moskau, Saratow und Leningrad gezeigt wurde. Aufgrund all dieser Aktivitäten erlebte Käthe Kollwitz in diesen Jahren auf linker Seite viele Ehrungen. Anatol Lunatscharski, der sowjetische Volkskommissar für Unterrichtswesen und Volksaufklärung, lobte sie 1926 in der Prawda als „große Agitatorin“. Der Sozialistische Kulturbund bezeichnete sie ein Jahr später als hervorragende „Trösterin und Kämpferin“. Die russische Künstlerorganisation AChRR lud sie im Das Gemeinsame im Trennenden

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gleichen Jahr aus Anlaß des 10. Jahrestags der Oktoberrevolution zu einer Reise durch die Sowjetunion ein – ein Angebot, das sie dankbar annahm. Die SPD forderte sie 1928 auf, eine Postkarte zum 10. Jahrestag der deutschen Novemberrevolution zu entwerfen. Im Jahr darauf erhielt sie von der Friedensklasse der Wissenschaft und Künste den Orden Pour le Mérite. Selbst in der turbulenten Zeit kurz vor der Machtübergabe an die Nazifaschisten erlahmte ihr Einsatz für alles Linke keineswegs. 1929 entwarf sie das Plakat für den Zille-Gedenkfilm Mutter Krausens Fahrt ins Glück, an dem auch Otto Nagel und Hans Baluschek mitarbeiteten. 1931 erschien ihre Lithographie Demonstration in der Mai-Nummer der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) mit ihrer eigenhändigen Titelgebung „Wir haben eine Welt zu gewinnen. Karl Marx“. 1932 beteiligte sie sich mit mehreren Arbeiten an der Ausstellung „Frauen in Not“, die der Rote Frontkämpferbund vor nazifaschistischen Übergriffen verteidigte. Im gleichen Jahr fanden zu Ehren ihres 65. Geburtstages umfangreiche Ausstellungen ihres Œuvres in Moskau und Leningrad statt. Zum fünfzehnjährigen Bestehen der Sowjetunion schenkte sie darauf das Blatt Wir schützen die Sowjetunion der KPUdSSR. Am 18. Juli unterzeichnete sie mit Albert Einstein, Heinrich Mann, Arnold Zweig und anderen einen Aufruf zum Zusammengehen der KPD und SPD, um so einen Wahlsieg der NSDAP zu verhindern. Kurz darauf wurden ihre Bildwerke Vater und Mutter zum Andenken an ihren im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Peter auf dem Soldatenfriedhof in Roggevelde aufgestellt. Nach der Machtübergabe an Hitler und seine Gefolgsleute am 30. Januar 1933 unterzeichnete sie drei Wochen später mit ihrem Mann nochmals einen Dringenden Appell, der die SPD und die KPD zu einem solidarischen Vorgehen gegen die neuen Herren im Lande aufrief. Daraufhin wurde sie – wie Heinrich Mann – zum „freiwilligen“ Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste gezwungen und mußte auch ihr dortiges Lehramt aufgeben. In den folgenden Jahren erfuhr Kollwitz voller Erbitterung, wie sie von den NS-Behörden boykottiert wurde, wie ihre Werke nicht mehr zu Ausstellungen zugelassen wurden, wie sie wegen eines Interviews mit der sowjetischen Zeitung Iswestija von der Gestapo verhört wurde, wie ihre plastischen Arbeiten Mutter mit totem Sohn und Turm der Mütter, die nochmals das Antikriegsthema aufgriffen, unter das Ausstellungs138 Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

14 Käthe Kollwitz: Demonstration (1931), Privatbesitz © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

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verbot fielen und wie ihre bereits in Museen befindlichen Werke in den hintersten Ecken der Magazine verschwanden. Und so vereinsamte sie immer mehr, bis sie schließlich am 22. April 1945, kurz vor Kriegsende, nach der Zerstörung ihrer Berliner Wohnung, in Moritzburg bei Dresden starb.8 Wenn man alle diese Aktivitäten überschaut, ergibt sich daraus das Bild einer unermüdlichen Kämpferin für eine Welt ohne Krieg und ohne Ausbeutung der unteren Schichten der Bevölkerung. Und das verleiht ihr auf jeden Fall den Ehrentitel einer Sozialistin, wenn auch nicht in einem parteipolitischen, so doch in einem allgemein humanistischen Sinne. Wie bewußt sich Käthe Kollwitz dieser Einstellung war, geht bereits aus einer Notiz hervor, die sie im Oktober 1920 mit der für sie typischen Bescheidenheit niederschrieb: „Ich schäme mich, daß ich noch immer nicht Partei nehme und vermute fast, wenn ich erkläre, keiner Partei anzugehören, daß der eigentlich Grund dazu Feigheit ist. Eigentlich bin ich nämlich gar nicht revolutionär, sondern evolutionär. Weil man mich aber als Künstlerin des Proletariats und der Revolution preist und mich immer fester in die Rolle schiebt, so scheue ich mich nicht, diese Rolle weiter zu spielen. Ich war revolutionär. Mein Kindheits- und Jugendtraum war Revolution und Barrikade. Wäre ich jetzt jung, so wäre ich sicher Kommunistin. Es reißt auch jetzt noch mich etwas nach der Seite, aber ich bin in den fünfziger Jahren, ich hab den Krieg durchlebt und Peter und die tausend andern Jungen hinsterben sehn, ich bin entsetzt und erschüttert von all dem Haß, der in der Welt ist, ich sehne mich nach dem Sozialismus, der die Menschen leben läßt und finde, von Morden, Lügen, Verderben, Entstellen, kurzum allem Teuflischen, hat die Erde jetzt genug gesehen. […] Man hätte mich eben ganz in aller Stille lassen sollen. Man kann ja auch von einem Künstler, der noch dazu eine Frau ist, nicht erwarten, daß er sich in diesen wahnsinnig komplizierten Verhältnissen zurechtfindet. Ich hab als Künstler das Recht, aus allem den Gefühlsgehalt herauszuziehen, auf mich wirken zu lassen und nach außen zu stellen. So hab ich auch das Recht, den Abschied der Arbeiterschaft von Liebknecht darzustellen, ja den Arbeitern zu dedizieren. Ohne dabei Liebknecht zu folgen. Oder nicht?“9 Daß sie im Gegensatz zu ihrem der SPD verpflichteten Mann im Laufe der zwanziger Jahre dennoch immer stärker mit der KPD zu sympathisieren begann, ohne dieser Partei als Mitglied beizutreten, belegt 140 Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

vor allem eine ihrer Äußerungen in der AIZ, die 1927 erschien: „Es ist hier nicht die Stelle, um auseinanderzusetzen, warum ich nicht Kommunistin bin. Es ist aber die Stelle, um auszusprechen, daß das Geschehnis der letzten 10 Jahre in Rußland mir an Größe und weittragender Bedeutung nur vergleichbar zu sein scheint dem Geschehnis der großen französischen Revolution. Eine alte Welt, unterhöhlt durch einen vierjährigen Krieg und revolutionäre Minierarbeit, wurde im November 1917 zerschmettert. Eine neue Welt wurde in größten Zügen zusammengehämmert. Gorki spricht in einem Aufsatz aus der ersten Zeit der Sowjetrepublik von dem Fliegen ‚Sohlen nach oben‘. Dieses Fliegen im Sturmwind glaube ich in Rußland zu spüren. Um dieses Fliegen, um die Glut ihres Glaubens habe ich die Kommunisten oft beneidet.“ Ja, selbst nach 1933 gab sie ihre Hoffnung auf einen Sieg des Sozialismus nicht auf. Dementsprechend schrieb sie noch 1944 gegen Ende des Krieges, das heißt ein Jahr vor ihrem Tod, in einem Brief: „Darum bin ich mit ganzem Herzen für einen Schluß dieses Irrsinns und erwarte nur noch vom Weltsozialismus etwas.“10 Das war zwar wiederum kein parteipolitisches Bekenntnis, sondern blieb im Rahmen eines „Sozialismus des Herzens“, beweist aber weiterhin ihren Widerstandswillen gegen Krieg und Faschismus, dem eine „offensive Solidarität“ mit allen Unterdrückten und unsinnig Geopferten zugrunde lag, wie Jutta Held das einmal genannt hat.11

III Wie ganz anders nimmt sich dagegen der Lebenslauf von Ernst Barlach aus, um erst einmal das herauszustellen, was diese beiden Künstler trennt. Zwar besuchte auch er nach einem Studium an der königlichen Akademie der bildenden Künste in Dresden die Académie Julian in Paris, zwar beteiligte sich auch er 1889 an der Großen Berliner Kunstausstellung, zwar lebte auch er eine Zeitlang in Berlin, zog sich aber zwischendurch als eigenbrötlerischer Einzelgänger immer wieder in seine niedersächsische Heimatstadt Wedel zurück. Im Gegensatz zur frühen Kollwitz wurde er daher von den damaligen Kunstkritikern kaum beachtet. Seinen künstlerischen Durchbruch erlebte Barlach, wie gesagt, erst 1907 mit seinen Plastiken Blinder russischer Bettler und Russische Das Gemeinsame im Trennenden

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Bettlerin mit Schale, worauf er in die Berliner Sezession aufgenommen wurde und einen Vertrag mit dem Kunsthändler Paul Cassirer abschloß, der ihm für viele Jahre ein monatliches Fixum zusicherte. Nach einer Wanderung durch die Toskana mit dem Dichter Theodor Däubler, der ihn in seinen gottsucherischen Ansichten bestärkte, zog sich Barlach 1910 für den Rest seines Lebens nach Güstrow in Mecklenburg zurück, wo er in relativer Abgeschlossenheit an symbolistisch aufgeladenen Holzskulpturen, Bronzeplastiken und Graphiken arbeitete, aber auch eine Reihe ebenso symbolträchtiger Dramen verfaßte, für die er – im Zuge der Expressionismuswelle nach dem Ersten Weltkrieg – 1924 den vielbegehrten Kleist-Preis erhielt. Und wie Käthe Kollwitz wurde er zu Anfang der Weimarer Republik ebenfalls in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen, ohne allerdings dabei ein Lehramt zu übernehmen. In der Folgezeit arbeitete er weiter an seinen Plastiken und schuf außerdem eine Reihe von Holzschnittillustrationen zu Goethes Faust, vornehmlich zur Walpurgisnacht. Von politischen Aktivitäten hielt sich Barlach dagegen in den zwanziger Jahren weitgehend fern, ja bezeichnete sich immer wieder als einen „unpolitischen“ Künstler, der fast alle auswärtigen Ehrungen und Berufungen ablehnte und vornehmlich auf seiner „persönlichen Ungeschorenheit“ bestand,12 das heißt lieber in Güstrow blieb, als – trotz verlockender Angebote – nach Berlin überzusiedeln. Was ihn dennoch in die ideologischen Debatten der Weimarer Republik verstrickte, waren jene Ehrenmale, die er für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs schuf. Nachdem er diesen Krieg – wie viele der wilhelminischen Intellektuellen – anfangs durchaus begrüßt hatte, bezog er schon 1915, als er aufgrund einer Petition von Max Liebermann, Max Slevogt und August Gaul nach zweimonatiger Ausbildung zum Landsturmsoldaten aus der Armee entlassen wurde, eine weitgehend pazifistische Haltung. Und dieser Gesinnung gab er in seinem Ehrenmal für die Kieler Nikolaikirche (1922), dem Ehrenmal im Güstrower Dom (1927), dem Magdeburger Ehrenmal (1929) und dem Hamburger Ehrenmal (1931) einen zwar recht verhaltenen Ausdruck, der jedoch viele Chauvinisten, welche eher etwas „Heroisches“ von ihm erwartet hatten, dennoch gegen ihn aufbrachte. Und so wurde Barlach gegen Ende der Weimarer Republik von den nationalkonservativen und präfaschistischen Kritikern zusehends als einer jener „undeutschen“ 142 Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

15 Ernst Barlach: Ehrenmal (1929), Magdeburger Dom

Das Gemeinsame im Trennenden

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Künstler hingestellt, die nach 1933 als „entartet“ galten. Allerdings ging das nicht ohne gewisse ideologische Querellen ab, da es in seinen Werken an jener „linken“ Komponente fehlte, die viele nazifaschistische Kunsttheoretiker für besonders verdammenswert hielten. Vor allem eine Reihe junger nationalistisch gesinnter Akademiker um Fritz Hippler, Johann von Leers, Hans Weidemann und Otto Andreas Schreiber trat 1933 energisch für Barlach ein. In ihrer Zeitschrift Kunst der Nation begeisterte sich diese Gruppe für einen als „nordisch“ interpretierten Expressionismus und favorisierte neben Barlach vor allem Emil Nolde. Allerdings wurde dieses Blatt schon im Mai 1934 verboten.13 Selbst Joseph Goebbels versuchte, wenigstens Teile des Barlachschen Werks in das Dritte Reich hinüberzuretten, scheiterte jedoch am Widerspruch Adolf Hitlers und vor allem Alfred Rosenbergs, der Barlachs Gestalten, wie schon die „Stahlhelm“-Verbände nach der Aufstellung des Magdeburger Ehrenmals, wegen ihrer „breiten Gesichter“ als zu „ostisch“, „slawisch-mongolisch“, ja als „vertierte Bolschewikenfratzen“ empfand und damit als Menschen einer „niedrigen Kulturstufe“ hinstellte.14 Und so mußte sich Barlach – nach einer kurzen Turbulenzphase um sein Werk – nach 1933/34 die gleichen Demütigungen gefallen lassen wie Käthe Kollwitz. Daß er in einer Rundfunkrede vom 23. Januar 1933 gegen einen übertriebenen Nationalismus und für eine Position „geistiger Abgeschiedenheit und denkerischer Überlegenheit“ eingetreten war,15 das heißt sich für ein künstlerisches Außenseitertum eingesetzt hatte, hatten ihm die NS-Vertreter gerade noch verziehen. Daß er jedoch kurz darauf in einem Brief gegen den Ausschluß von Käthe Kollwitz und Heinrich Mann aus der Preußischen Akademie der Künste zu protestieren wagte, nahmen ihm die gleichen Herren schon eher übel. Aber nicht nur solche Äußerungen, auch Barlachs Werke betrachteten viele Nazifaschisten und „Stahlhelm“-Führer zusehends mit scheelen Augen. Seine existentiell oder halbwegs religiös empfundenen Plastiken fanden manche unter ihnen, wie gesagt, anfangs ganz leidlich, ja sogar bedeutend. Was sie jedoch erbittert ablehnten, waren Barlachs auf den Ton der Trauer gestimmte Ehrenmale für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Daher wurde sein Magdeburger Ehrenmal schon 1934 aus dem dortigen Dom herausgeholt und in der Berliner Nationalgalerie magaziniert. 1936 entfernten die zuständigen NS-Behörden sowohl 144 Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

seine als auch Käthe Kollwitz’ Werke aus der Jubiläumsausstellung der Akademie „Berliner Bildhauer von Schlüter bis zur Gegenwart“. Im selben Jahr beschlagnahmten die gleichen Behörden den Band Ernst Barlach. Zeichnungen, der 1934 beim Münchner Piper-Verlag erschienen war. 1937 wurde erst sein Ehrenmal im Güstrower Dom abgenommen, sein Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste erzwungen, seine Plastik Das Wiedersehen in der Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt und schließlich ein Großteil seiner Werke aus öffentlichen Sammlungen in die Magazine verbannt. Ja, gegen Ende dieses Jahres verfügte die Parteileitung ein allgemeines Ausstellungsverbot seiner Skulpturen und Graphiken. Nachdem man auch sein Hamburger Ehrenmal entfernt hatte, starb Barlach am 14. Oktober 1938 in Rostock und wurde wenige Tage später in Ratzeburg beigesetzt. 16 Daß sein Güstrower Domengel 1941 zu „wehrwirtschaftlichen Zwecken“ eingeschmolzen wurde, hat er zum Glück nicht mehr erlebt. Im Vergleich zu Käthe Kollwitz ist das zwar ein völlig andersgearteter Lebenslauf, der weniger im Zeichen einer ideologiegefärbten Solidarität mit den Unterdrückten und Enterbten steht, aber eine solche Anteilnahme nicht von vornherein ausschließt. Während bei Kollwitz diese Form der Haltung stets ins Sozialistische tendiert, beruht sie bei Barlach eher auf einer tiefempfundenen Mitmenschlichkeit, die weniger zum Sozialistischen als zum Existentiellen oder Numinosen neigt. Aber so wie sich Kollwitz nie wirklich parteipolitisch verhielt, wurde auch Barlach nie wirklich christlich, ja hat sich in vielen seiner mündlichen und schriftlichen Äußerungen gegen eine explizite Interpretatio christiana seiner Werke ausgesprochen. Und wegen dieser gleichermaßen unorthodoxen Haltung zeichnet sich bei näherer Betrachtung ihrer Werke doch eine Reihe von Zügen ab, bei denen es sich durchaus lohnt, bei Kollwitz und Barlach von „Gemeinsamkeit“ zu sprechen.

IV Beginnen wir mit dem persönlichen Verhältnis der beiden miteinander, das – auf den ersten Blick – keineswegs für eine besonders ausgeprägte Solidarität spricht. Kollwitz und Barlach begegneten sich zwar manchmal auf Ausstellungen oder in der Preußischen Akademie, aber ohne daß Das Gemeinsame im Trennenden

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sich daraus eine Form der Freundschaft oder auch nur näheren Bekanntschaft ergab.17 Ja, nicht einmal ein sporadischer Briefwechsel zwischen beiden läßt sich nachweisen. Vor allem bei Barlach haben diese gelegentlichen Begegnungen kaum Spuren hinterlassen. Käthe Kollwitz kommt dagegen in ihren Tagebuchblättern mehrfach auf Barlach zu sprechen. So war sie etwa, wie wir dort lesen, im Dezember 1913 von Barlachs Drama Der tote Tag „stark beeindruckt“, obwohl ihr der Inhalt zu „theosophisch“ erschien und ihr daher zum Teil „verschlossen“ geblieben sei.18 Im November 1917 besuchte sie eine Berliner Barlach-Ausstellung und empfand seine Werke als seltsam „nah“.19 Nach einer Ausstellung in der Berliner Sezession heißt es bei ihr am 20. Juni 1920: „Da sah ich etwas, was mich ganz umschmiß: das waren Barlachs Holzschnitte. Barlach hat seinen Weg gefunden und ich habe ihn noch nicht gefunden.“20 Als Kollwitz im April 1921 im Theater Die echten Sedemunds von Barlach gesehen hatte, notierte sie sich mit der gleichen Bescheidenheit: „Ein tief neidisches Empfinden, daß Barlach so viel stärker und tiefer ist als ich bin.“21 Unter dem 23. Oktober 1921 bekannte sie nach einem Treffen mit Barlach am Grabe Ernst Gauls, daß ihr nur der gerade Verstorbene von „all den Künstlern, mit denen ich seit 25 Jahren in Verbindung bin“, so „lieb wie ein Freund“ gewesen sei.22 Am 5. Februar 1930 sah sie erstmals ein Foto von Barlachs Magdeburger Ehrenmal und schrieb anschließend tief bewegt: „Ganz starker Eindruck. Der hat’s gekonnt.“23 Ebenso karg sind ihre weiteren Eintragungen zu Barlach in ihren Tagebuchblättern. Als sie Ostern 1936 erstmals das gleiche Ehrenmal im Original in den Kellerräumen des Kronprinzenpalais sah, erklärte sie: „Unmöglich natürlich für die Anhänger des Dritten Reichs, wahr für mich und viele. Gut Barlach!“24 Im Oktober 1938 nahm sie an der Trauerfeier für Barlach in Güstrow teil und zeichnete ihn dort, wie er vor der Grablegung aufgebahrt dalag. Kurz darauf heißt es: „Es ist mir manchmal, als ob der tote Barlach mir seinen Segen hinterlassen hat. Ich kann gut arbeiten. Es ist wie eine konstante Erregung, die mich überkommen hat.“25 Und dann folgte ein Jahr später noch die Eintragung, daß sich in Barlachs Werken die Form und der Inhalt stets „aufs genaueste“ gedeckt hätten und sie darum so „überzeugend“ seien.26 Das ist zwar etwas. Aber reichen solche Äußerungen aus, um das „Gemeinsame im Trennenden“ dieser beiden Künstler zu akzentuieren? Wohl kaum. Dazu sind noch eine Reihe anderer Kriterien nötig, die 146 Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

weit über das Aufdecken biographischer Bezüge oder gelegentliche Äußerungen in tagebuchartiger Form hinausreichen. Daß einem solchen Bemühen, nämlich die innere Verwandtschaft im Leben und Schaffen dieser beiden Künstler herauszustellen, scheinbar unüberbrückbare Schranken entgegenstehen, soll nicht verschwiegen werden. Schließlich war Kollwitz zeit ihres Lebens eine überzeugte Sozialistin und Barlach ein von gottsucherischen Anwandlungen heimgesuchter Eigenbrötler, der sich nur selten an politischen Aktivitäten beteiligte. Und das unterscheidet sie sicher gravierender als das Faktum, daß Kollwitz eine Frau und Barlach ein Mann war. Diesen Aspekt überbetonen zu wollen, wäre unsinnig. Nicht die Geschlechtszugehörigkeit trennt sie, sondern ihre ideologische Orientierung, die vor allem in ihren Anfängen, aber auch noch später, nicht zu übersehen ist. Kollwitz wollte mit all ihren Werken in betont engagierter Form ins gesellschaftliche Leben eingreifen, wollte anprangern, wollte aufrütteln, während sich Barlach immer wieder von der Gesellschaft in seine ichbezogene Einsamkeit zurückzog, um dort Gestalten eines in geradezu urmenschlichen Situationen ringenden Daseinskampfes darzustellen. Und doch wurden beide – aufgrund ihrer zutiefst mitmenschlichen Einstellung – durch den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und den hereinbrechenden Faschismus zu „Haltungen“ gezwungen, die im Laufe der Jahre ihre anfängliche Unterschiedlichkeit verloren. Zugegeben, Kollwitz blieb eine unorthodoxe Sozialistin und Barlach ein um die tiefsten Fragen der Menschheit Ringender. Aber gerade das verpflichtete sie zugleich, auch in ihren Werken zu den Grundproblemen ihrer Ära Stellung zu beziehen. Denn was bedeutet schon „Sozialistin“ oder „Ringender“, wenn solchen Einstellungen keine weltanschauliche „Haltung“ zugrunde gelegen hätte,27 die über einen bloßen Salonsozialismus oder eine im Numinosen bleibende Religionsempfindung hinausgegangen wäre? Allerdings blieb Barlach dabei meist im Bereich eines urmenschlich-bäuerlichen Lebens, während Kollwitz bei ihren Gestalten – von der frühen Graphikfolge Bauernkrieg einmal abgesehen – fast immer die Arbeiter ihrer unmittelbaren Umgebung abzubilden versuchte. Doch ob nun Bauern oder Arbeiter: in beiden dieser Klassen sahen sie vornehmlich Unterdrückte und Ausgebeutete, denen von den Oberschichten immer wieder ein gesellschaftlicher „Fortschritt“ vorgegaukelt wurde, der jedoch nie recht vom Fleck gekommen Das Gemeinsame im Trennenden

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sei. Und diese gesellschaftliche Schieflage erlebten Kollwitz und Barlach mit besonderer Intensität zwischen 1914 und 1918, als man diese Bevölkerungsschichten auf die Schlachtfelder eines mörderischen Raubkrieges schickte, auf denen Hunderttausende ihr Leben lassen mußten. Wie schwer Kollwitz an dem angeblichen „Heldentod“ ihres zweitgeborenen Sohnes Peter litt, ist aufgrund ihrer vielen MutterSohn-Darstellungen allgemein bekannt. Aber auch Barlach, obwohl er diesen Krieg ungeschoren überlebte, konnte das Trauma dieser Jahre nur schwer überwinden, wie seine fünf Ehrenmale für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs beweisen, die verwandten Werken von Kollwitz im Laufe der Zeit immer ähnlicher wurden. Und der Kopf eines dieser Werke, nämlich des Güstrower Ehrenmals, an dem Barlach ab 1926 arbeitete und das ein Jahr später, nämlich am 29. Mai 1927, seinen Platz im Ostjoch der Nordkapelle des Güstrower Doms fand, trägt bekannterweise die Gesichtszüge von Käthe Kollwitz.28 Was Barlach veranlaßte, der für diesen Ort vorgesehenen Figur, die einem schwebenden Engel zu gleichen scheint, ausgerechnet die Gesichtszüge von Käthe Kollwitz zu verleihen, ist nicht eindeutig zu entschlüsseln. Schließlich standen sich die beiden ja gar nicht so nah, wie schon im Vorangegangenen ausgeführt wurde. Barlach selber hat sich 1928 in dieser Hinsicht nur einmal höchst lapidar geäußert, indem er zu Paul Schurek sagte: „In den Engel ist mir das Gesicht von Käthe Kollwitz hineingekommen. Rein zufällig, nicht beabsichtigt. Übrigens, ganz nebenbei, ist die Kollwitz ja wohl eine Ehrung wert.“29 In diesen Sätzen drückt sich sowohl eine Ferne als auch eine innere Verwandtschaft aus. Schließlich, was hat sein „Domengel“ – wie Barlach diese Figur immer wieder genannt hat,30 wobei er es offen ließ, ob es sich dabei um eine männliche oder eine weibliche Figur handele – mit den kämpferischen oder zumindest protestierenden Gestalten von Käthe Kollwitz zu tun? Eines schon: nämlich die unübersehbaren Gesichtszüge von Käthe Kollwitz selber. Und damit gab Barlach – über jeden ins Zeitlose weisenden Jenseitsbezug hinaus – dieser Figur eine zeitpolitische Gegenwärtigkeit, die zwar auf den Raum der relativ düsteren Nordkapelle des Güstrower Doms beschränkt blieb, aber in seinem Œuvre dennoch ein unübersehbares Novum bildete. Von dem Moment an, als diese Figur dort aufgehängt wurde, war Barlach kein weltentrückter Grübler, Ringender oder Ekstatiker mehr, sondern wurde, wie auch durch sein Magdeburger 148 Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

16 Ernst Barlach: Der Kopf des Güstrower Domengels (1927), Gottorf, SchleswigHolsteinisches Landesmuseum

Ehrenmal von 1929, an dem er kurz nach seinem Güstrower Domengel zu arbeiten begann, ein Künstler, der wegen seines bekennerischen Pazifismus – wie Käthe Kollwitz – ins Zentrum der politästhetischen Debatten der späten Weimarer Republik rückte. Während Barlach bis in die Mitte der zwanziger Jahre innerhalb der kunstinteressierten Schichten der Bourgeoisie ein relativ beliebter Das Gemeinsame im Trennenden

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Künstler war, warf ihm jetzt der rechte Flügel der gleichen Bourgeoisie, der nach wie vor an der „Schmach von Versailles“ litt und immer stärker mit der nazifaschistischen Bewegung zu sympathisieren begann, plötzlich Vaterlandsverrat oder gar „kulturbolschewistische“ Tendenzen vor. Und damit geriet er – gewollt oder ungewollt – mit seinen Werken zusehends in die Nähe jener Kunst, für die sich Käthe Kollwitz und andere „Linke“ einsetzten. Mit einem Mal galt auch er in den Augen der ständig zahlreicher werdenden Nationalkonservativen und Präfaschisten als ein ehrvergessener „Nestbeschmutzer“, der den „heldisch“ gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs nicht den erforderlichen Respekt entgegenbringe und sich damit in die Herde jener artvergessenen Bolschewiki und Juden einreihe, welche die Revolution von 1918 angestiftet hätten und damit Schuld an der schmählichen Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg seien.31 Was folgte, war – seit dem allgemeinen Rechtsruck der Bourgeoisie während der Weltwirtschaftskrise – vorauszusehen. Wer nach der legalen Machtübergabe an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 als nicht parteigenehm galt, wurde nicht nur im Bereich der Politik, sondern auch im Bereich der Kultur unterdrückt, ausgewiesen oder eingekerkert. Und zu diesen Verfemten gehörten auch Kollwitz und – nach einigen innerparteilichen Streitigkeiten – sogar Barlach. Sie wurden, wie gesagt, aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen und mit Ausstellungsverboten belegt, die sie zu einem Leben der Inneren Emigration verurteilten.32 Daraus erwuchs zwar keine Freundschaft, aber doch eine Gesinnungssolidarität zwischen beiden, die bis zu Barlachs Tod im Jahr 1938 währte. Aufgrund dieser Situation wurden ihre Werke immer ähnlicher. Kollwitz war gezwungen, selbst in ihrem halbverborgenen Atelier auf allzu offenkundige sozialistische Tendenzen zu verzichten. Und auch Barlach wich nach 1933 bei seinen Gestalten wieder in frühere allgemein-menschliche Grundsituationen aus. Doch selbst in diesen Werken, die nach 1945 erstmals öffentlich ausgestellt wurden, unterdrückten sowohl Kollwitz als auch Barlach keineswegs ihre humanistisch-anklagende Grundhaltung, die sich – ideologiegeschichtlich betrachtet – als eindeutig antifaschistisch charakterisieren läßt. Demzufolge wurden beide nach 1945 im Bereich der bildenden Künste als die wichtigsten Vertreter einer widersetzlichen Inneren Emigration herausgestellt. Zu Anfang legte man dabei auf die ideologischen 150 Käthe Kollwitz und Ernst Barlach

Differenzen zwischen Kollwitz und Barlach keinen allzu großen Nachdruck. Erst nach Beginn des Kalten Krieges wurde im Westen, wie erwartet, bei Kollwitz nicht mehr die sozialistische, sondern die mütterliche Komponente ihres Schaffens betont. Im Osten, vor allem nach der Gründung der DDR, stießen sich dagegen führende SED-Vertreter bei Barlach eher an den religiösen Zügen seiner Gestalten, mit denen sich auch Bertolt Brecht nicht recht anfreunden konnte. Dennoch bezeichnete er im Januar 1952 in seinen Notizen zur Ostberliner Barlach-Ausstellung diesen Künstler wegen der ihm imponierenden bäuerlichen Gestalten als einen der „größten Bildhauer“, den „wir Deutschen gehabt haben“.33 Ja, in manchen seiner Gestalten sah Brecht sogar eine „menschliche Substanz“ und ein „gesellschaftliches Potential“, das über jede „Entrechtung und Erniedrigung“ einen unleugbaren „Triumph“ davontrage.34 Mögen auch vielen der heutigen Betrachter von Kollwitz’ und Barlachs Werken – aus Unkenntnis der historischen Situation, in der diese Werke entstanden – sowohl die sozialistischen als auch die bäuerlich-kraftvollen Züge ihrer Figuren unwichtig erscheinen, was sie sicher weiterhin beeindrucken wird, ist ihre „Haltung“, die sich weder zu kriegerischen noch zu faschistischen oder anderen räuberischen Zwecken mißbrauchen läßt, sondern neben ihrer künstlerischen Vollendung vor allem durch ihre unbeirrbare Mitmenschlichkeit überzeugt. Dies sind Werke, denen noch immer das Postulat zugrunde liegt: „Da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern“,35 wie es in Rainer Maria Rilkes Gedicht Archaischer Torso Apollos heißt.36

Das Gemeinsame im Trennenden

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Manfred Hirzel: Lotte Danziger (1932)

Im Rahmen der Vorarbeiten zu dem Buch Die Kultur der Weimarer Republik, an dem ich seit Mitte der siebziger Jahre mit Frank Trommler arbeitete, suchte ich im November 1977 in Westdeutschland mehrere Kunstgalerien auf, in denen ich noch unbekannte Bilder der Neuen Sachlichkeit vermutete. Schließlich wollte ich in dem geplanten Band, der im darauffolgenden Jahr in der Nymphenburger Verlagshandlung erscheinen sollte,1 nicht nur bereits Altvertrautes, ja fast schon kanonisch Gewordenes, sondern auch möglichst Neuartiges abbilden. Als eine der einschlägigen Galerien in dieser Hinsicht bot sich dabei die Münchner Galerie von Abercron an, die sich damals besonders nachdrücklich für die Wiederentdeckung der Malerei der Neuen Sachlichkeit einsetzte. Als ich Herrn von Abercron von meinem Projekt erzählte, zeigte er sich sofort interessiert und führte mich in das Hinterzimmer seiner Galerie, wo sich seine wertvollsten Stücke befanden. Drei davon erregten sofort meine Neugier. Das erste war das mir schon bekannte Porträt Oskar Maria Grafs von Rudolf Schlichter, das zweite ein Männerporträt von Christian Schad, das Ludwig Bäumer darstellte, und das dritte das Bildnis einer jungen Frau von einem Maler namens Manfred Hirzel, von dem ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Das Gespräch, das sich angesichts dieser drei höchst eindrucksvollen Bilder zwischen dem Galeriebesitzer und mir entwickelte, klingt mir noch heute in den Ohren nach. „Diese drei Porträts kann ich hier in München schwer verkaufen“, sagte Herr von Abercron, „dazu sind die hiesigen Sammler zu konservativ, wenn nicht gar reaktionär eingestellt. Selbst für den Urbayern Graf erwärmt sich hier niemand. Die meisten Münchner nehmen ihm immer noch übel, daß er ein Linker war und 1933 ins Exil gegangen ist. Das verzeihen ihm viele bis heute nicht. Aber die Zeit für dieses Bild wird sicher noch kommen. Bis dahin muß ich Geduld haben und dann das Lenbach-Haus überreden, es für seine Sammlung anzukaufen. Christian Schad dagegen steht zwar momentan hoch im Kurs, aber wer will schon ein Porträt des Kommunisten Ludwig Bäumer kaufen, der sich 1919 in Bremen für die Gründung einer Roten Räterepublik eingesetzt hat? Auch dafür sind meine Münchner 152 Manfred Hirzel

Klienten nicht zu haben. Was bleibt, ist also das Hirzel-Bild, das ich aus dem Nachlaß dieses Malers erstanden habe.2 Seine zwei Aktbilder, die aus dem gleichen Nachlaß stammen, gingen relativ gut ab. Aber das Bild einer jungen Jüdin, gemalt von einem jüdischen Maler, der vor seiner Namensänderung Hirschel hieß, dafür hat noch niemand Interesse gezeigt. Der Schlichter und der Schad wären am besten in Museen aufgehoben. Aber den Hirzel, den ich hier doch nicht an den Mann bringen kann, könnte ich Ihnen recht billig überlassen. Dann wäre er wenigstens in sachkundigen Händen. Für die beiden anderen Bilder müßte ich mindestens 150 000 Mark bekommen – und das geht sicher weit über ihr finanzielles Limit hinaus. Den Hirzel könnten Sie dagegen für 10 000 Mark haben.“ Das fand ich zwar auch sehr teuer, aber die Faszination dieses Bildes wurde immer größer, je länger ich es betrachtete. Dennoch zögerte ich, es zu kaufen, und sagte Herrn von Abercron, daß ich zwar sein Angebot sehr großzügig fände, mir aber das Ganze noch einmal überlegen müsse. Kurz darauf sah ich in der Berlinischen Galerie ein anderes Bild von Hirzel, und zwar seine Rosi Mein von 1929. Da mich dieses Bild ebenso beeindruckte wie das Münchner Bild, rief ich noch am gleichen Abend Herrn von Abercron an und bat ihn, mir seinen Hirzel, auf dem eine gewisse Lotte Danziger abgebildet war, gegen Vorauszahlung in etwa vier bis fünf Wochen nach Madison zu schicken, wo ich ab Weihnachten wieder zu erreichen sei. Kaum hatte ich es dort aufgehängt, besuchte mich mein Freund George L. Mosse, blieb verwundert vor dem Bild stehen und sagte dann spontan: „Das ist ja ein Gemälde von jenem Hirzel, der kurz vor 1933 eine ganze Reihe jüdischer Frauen in Berlin porträtiert hat.“ Und je länger ich mit ihm über dieses Bild redete, desto intensiver wurde mir seine historische Dimension bewußt. Während ich anfangs – als Liebhaber und Kunsthistoriker – in diesem Porträt vornehmlich ein unbekanntes Meisterwerk der Neuen Sachlichkeit gesehen hatte, verschob sich seine Aussagekraft in meiner Wahrnehmungsweise immer stärker ins Politische. Wer war eigentlich dieser Hirzel, fragte ich mich, und was ist mit ihm nach 1933 geschehen, nachdem er dieses Bild 1931 gemalt hatte? Ist er etwa wie Felix Nußbaum ebenfalls den SS-Schergen zum Opfer gefallen? Und wer war Lotte Danziger und wie hatte sie den Regimeumbruch von 1933 überlebt? All das war mir plötzlich ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger als die ästhetische Lotte Danziger

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17 Manfred Hirzel: Lotte Danziger (1931), Privatbesitz

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Qualität und stilgeschichtliche Zuschreibung dieses Bilds. Und so wurde vor meinem inneren Auge aus einem malerisch höchst gekonnten und menschlich anziehenden Porträt zusehends ein politisches Denkbild, hinter dem sich immer neue Bedeutungsebenen eröffneten. Über Lotte Danziger konnte ich nichts Genaueres erfahren. Ein solcher Name war in den zwanziger Jahren, als fast ein Drittel aller deutschen Juden in Berlin lebte, höchstwahrscheinlich unter den deutschjüdischen Frauen ebenso verbreitet wie Lotte Breslauer, Lotte Posener oder Lotte Krakauer. Wer war also diese Frau? War sie nach 1933 ins Exil ausgewichen oder war sie in Auschwitz umgekommen? An sich gab es nur eine von diesen zwei Möglichkeiten. Als ich mich zwei Jahre später vorübergehend in New York aufhielt, schlug ich in meinem Hotelzimmer sofort das Telephonbuch auf und war erfreut und bestürzt zugleich, als ich dort den Eintrag „Lotte Danziger“ fand. Anfangs wollte ich sie sofort anrufen, zögerte jedoch dann. Was hätte ich denn sagen sollen, falls mich die alte Dame gebeten hätte, mir doch sofort ihr Porträt zu schenken, auf dem sie noch in ihrer jugendlichen Schönheit zu sehen wäre? Aber vielleicht hätte sich ja auch eine ganz andere Lotte Danziger gemeldet, voller Haß auf alles Deutsche und nur noch in der Gegenwart lebend. Also schlug ich das Telephonbuch wieder zu. Ein Jahr später, als ich wieder nach New York kam, schlug ich das Telephonbuch erneut unter dem Buchstaben „D“ auf. Es gab zwar noch einige Danziger, aber keine Lotte mehr. Das stimmte mich traurig, aber ich war zugleich froh, dieses Gemälde weiter behalten zu haben und nahm mir vor, es später einmal in einer Publikation bekannt zu machen. Und dieser Augenblick ist jetzt, nach etwas mehr als 30 Jahren. Wer auch die mir unbekannte Lotte Danziger gewesen sein mag, mögen ihre Nachkommen, falls es solche noch gibt, diesen meinen kleinen Beitrag als eine ehrlich gemeinte Hommage an ihre Ahnin empfinden. Doch nun zu dem Maler dieses Bildes. Wer war eigentlich Manfred Hirzel, dessen Name in fast keinem der einschlägigen Werke zur Malerei der Neuen Sachlichkeit auftaucht, obwohl er dies schon seit langem verdient hätte? Woran liegt das? Das hängt sicher nicht nur mit seinem Judentum zusammen, sondern hat auch eine Reihe anderer Gründe. Alles, was wir über ihn wissen, sind seine Lebensdaten und ein paar seiner Bilder, die sich heute in der Berlinischen Galerie, im Kunstmuseum in Winterthur und in den Hull Museums Collections befinden. GeboLotte Danziger

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ren wurde er am 13. Februar 1905 unter dem Namen Hirschel in Lodz. 1910 kam er mit seinen Eltern nach Berlin, wo er die Schule besuchte und dann vorübergehend in einem Buchladen und im Kunsthandel tätig war. 1925 wandte er sich unter der Anleitung von Willy Jaeckel und Ludwig Meidner der Malerei zu. Anschließend führte ihn Franz Lenk, einer der Hauptvertreter der Neuen Sachlichkeit, 1927 in die malerische Technik der alten Meister des frühen 16. Jahrhunderts ein, die damals auch Otto Dix faszinierte. Ein Jahr später scheint er sechs Monate lang bei Emil Orlik, einem der Großmeister der Porträtkunst dieser Jahre, in die Lehre gegangen zu sein. Nach dieser Lehrzeit stellte er 1928 einige seiner frühen Bilder erstmals im Salon Wasservogel in Berlin aus. Darauf wandte er sich fast ausschließlich der Porträtmalerei zu, verstarb jedoch schon im August 1932 als Siebenundzwanzigjähriger.3 Ob kurze Zeit später sein Atelier von einigen rechtsradikalen „Anarchisten“ zerstört wurde, wie Daniella Luxembourg im Jahr 2004 behauptete,4 läßt sich nicht genauer verifizieren. Das ist ungefähr alles, was sich zu Hirzels Biographie und seinen Aktivitäten als junger Maler ermitteln läßt. Wir wissen nicht einmal genau, wann er seinen Namen „Hirschel“ in „Hirzel“ änderte. Diese Namensänderung spricht zwar für ein nachdrückliches Assimilationsbemühen, aber irgendwelche menschlichen oder ideologischen Rückschlüsse lassen sich daraus bei dem derzeitigen Informationsstand nicht ziehen. Das einzige, woran wir uns halten können, sind daher einige seiner Porträts, die von irgendwelchen Privatsammlern angekauft wurden und später in Museumsbesitz übergingen. Umständlichen Recherchen zufolge, handelt es sich dabei um folgende drei Bilder. Eins davon, auf dem eine 1928 porträtierte junge Berliner Jüdin, namens Rosi Mein zu sehen ist, hängt heute, wie gesagt, in der Berlinischen Galerie. Ein anderes, lediglich als „Melitta“ bezeichnet, befindet sich im Kunstmuseum Winterthur.5 Und das dritte, das in den Hull Museums Collections aufbewahrt wird und von 1931 stammt, stellt ein „Fräulein Voss“ dar.6 Alle drei sind malerisch von höchster Qualität und sollen Hirzel aufgrund dieser und anderer Bildnisse den Ehrennamen eines „Holbein der Neuen Sachlichkeit“ eingetragen haben.7 Im Vergleich zu vielen anderen Porträts dieser Jahre vermeiden diese Bilder alles Klischeehafte, das heißt verzichten auf alles, was man damals in journalistischer Manier als die typische „neue Frau“ der zwanziger 156 Manfred Hirzel

Jahre hinstellte. Sie akzentuieren eher das Individuelle als das ModischErwünschte und weichen auch in ihrer dezenten Farbgebung von dem in dieser Ära herrschenden Zeitgeschmack ab, der sich oft wesentlich krasserer Mittel bediente. Ein viertes, inzwischen bekannt gewordenes Hirzel-Porträt von 1929 stellt den nachdenklich blickenden Graphiker und Designer Georg Goedecker dar, der an einem Tisch sitzt und sich gerade zu überlegen scheint, was er in sein Notizbuch schreiben oder zeichnen soll. Es gehörte längere Zeit einem Privatsammler in New York,8 wo sich vielleicht noch weitere Hirzel-Porträts befinden, von denen sich jüdische Familien, die nach 1933 aus Deutschland vertrieben wurden, nicht trennen konnten und lieber ihre Familienporträts als irgendwelche anderen Besitztümer ins Exil mitnahmen. Daß man überhaupt wieder auf Hirzels Bilder aufmerksam wurde, geht vor allem auf drei Ausstellungen zurück. Die erste wurde von der Kölner Galerie von Abercron veranstaltet und nannte sich schlichtweg „Neue Sachlichkeit“. Neben Gemälden von Gustav Wunderwald standen in ihr elf Bilder von Hirzel im Mittelpunkt. Außerdem konnte man sich in ihrem Katalog auch über die wichtigsten Lebensdaten Hirzels informieren.9 Die zweite lief unter dem Titel Die dreißiger Jahre. Schauplatz Deutschland und war im Laufe des Jahres 1977 zwischen Februar und September sowohl im Münchner Haus der Kunst als auch im Essener Folkwang-Museum und im Zürcher Kunsthaus zu sehen.10 Beide Ausstellungen hingen weitgehend mit dem in diesen Jahren – nach der langen Vorherrschaft der abstrakten und gegenstandslosen Kunst in Westdeutschland – neu erwachenden Interesse an der Malerei der Neuen Sachlichkeit zusammen, das sich auch in mehreren Publikationen niederschlug. Allerdings lag diesem Interesse nicht mehr jene rebellische Ausrichtung zugrunde, welche die Achtundsechziger Bewegung oder die Münchner Gruppe um die Zeitschrift Tendenzen ausgezeichnet hatte, die im Gegenzug zum Siegeslauf der häufig ins Nichtssagende übergehenden Abstraktion für einen neuen „Realismus“ in der Malerei eingetreten waren. Sie wollte eher, zum Teil bewußt nivellierend, sowohl die „Kontinuitäten und Diskontinuitäten“ in der gegenstandslosen sowie realistischen Malerei dieses Jahrzehnts herausstellen, wie Golo Mann in seinem Vorwort zum Katalog dieser Ausstellung schrieb.11 Das Ergebnis war dementsprechend ein relativ buntes Durcheinander höchst verschiedener künstlerischer Bemühungen. Schließlich Lotte Danziger

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lassen sich politische und künstlerische Richtungen nie auf ein bestimmtes Jahrzehnt reduzieren, was ebenso töricht wäre, als wenn man sie auf eine bestimmte Generationsabfolge zurückführen wollte. Doch sei dem, wie es wolle. Interessant in unserem Zusammenhang ist lediglich, daß auf dieser Ausstellung zum ersten Mal seit 1932 drei Hirzel-Bilder einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurden: ein Liegender weiblicher Akt (1930), ein Mädchen mit Katze (1931) und seine Lotte Danziger (1931).12 Den Liegenden Akt und die Lotte Danziger hatte die Galerie von Abercron, das Mädchen mit Katze die Hamburger Galerie Brockstedt zur Verfügung gestellt. Das war relativ viel für einen damals noch weithin unbekannten Maler. Schließlich waren die berühmteren Maler dieses Zeitraums, wie etwa Karl Hofer, Lyonel Feininger, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Conrad Felixmüller und Franz Radziwill, auf dieser Ausstellung ebenfalls nur mit jeweils drei Bildern vertreten. Allerdings war damit keine „Ehrenrettung“ Hirzels verbunden. In der Katalogeinleitung über ihn hieß es lediglich recht nichtssagend: „Manfred Hirzel gehörte zu der um 1930 künstlerisch am Beginn stehenden Generation. Im Gegensatz zu anderen knüpfte er an die Neue Sachlichkeit an, vollzog aber eine Wendung zum Ungezwungenen, entspannt Natürlichen, ohne deshalb etwas von der Präzision zu opfern. Vor allem die Mädchenbildnisse lassen etwas von der Unbefangenheit spüren, die die nach dem Ersten Weltkrieg aufgewachsenen jungen Leute entwickelt hatten.“11 Und das war alles. Noch oberflächlicher hätte man Hirzel kaum charakterisieren können. Eine weitaus engagiertere Gesinnung lag dagegen der dritten Ausstellung dieser Art zugrunde, welche Daniella Luxembourg unter dem Titel Lonely Prophets. German Art from 1910–1930 im Oktober 2007 in ihrer Londoner Galerie veranstaltete, in der neben einem vorzüglichen Porträt Karola Nehers (1930) von Rudolf Schlichter auch Hirzels Porträt von Georg Goedecker zu sehen war. Hier lag der Akzent eindeutig auf den politischen Aspekten jener betont zeitbezogenen Maler des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, die später von den Nazifaschisten auf brutalste Weise unterdrückt worden seien. Daniella Luxembourg stammte ursprünglich aus Israel und hatte an der Hebrew University in Jerusalem studiert. Danach war sie – aufgrund ihrer ausgedehnten Kunstkenntnisse – mehrere Jahre für das weltweit bekannte Auktionshaus Sotheby in Israel und in der Schweiz tätig gewesen. Im 158 Manfred Hirzel

Jahr 2004 hatte sie sich schließlich entschlossen, in der Londoner Old Bond Street eine eigene Galerie zu gründen. Ihr Blick auf die Kunst der Weimarer Republik und die darauffolgende Unterdrückung aller fortschrittlichen Bemühungen war schon aufgrund ihres Herkommens wesentlich schärfer als der vieler Kuratoren, die in den siebziger und achtziger Jahren in Westdeutschland Ausstellungen der Malerei der Neuen Sachlichkeit arrangierten. Zweifellos ging es ihr als Galeriebesitzerin auch um finanzielle Aspekte. Dennoch stand hinter ihrer Verkaufsschau zugleich die politische Absicht, wieder jenen Malern mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, welche die Nazifaschisten als „entartet“ bezeichnet hatten und die man, ob nun als Juden oder Linke, nach den Schrecknissen der Vergangenheit nicht nur als ästhetisch bedeutsame, aber unpolitische „Modernisten“ aufwerten solle, ohne zugleich ihren ideologiegeschichtlichen Stellenwert mitzubedenken.14 Mit all dem bisher Gesagten soll Manfred Hirzel nicht der Rang eines Großmeisters der deutschen Kunst während der kurzen Zeitspanne zwischen 1928 und 1932 zugesprochen werden. Dazu reichen die wenigen Bilder, die sich von ihm erhalten haben, nicht aus. Aber es sollte auch nicht vergessen werden, welch hohe Begabung diesen jungverstorbenen Maler auszeichnete, dessen Porträts fast die gleiche Qualität wie ähnliche Bildnisse von Otto Dix und Christian Schad aufweisen, die sich heute einer allgemeinen Anerkennung erfreuen. Das gilt vor allem für seine Rosi Mein, sein Fräulein Voss und seinen Georg Goedecker. Was seine Lotte Danziger, die er gegen Ende seines kurzen Lebens malte, darüber hinaus so eindrucksvoll macht und ihr den Charakter eines politischen Denkbildes verleiht, ist Folgendes: zum einen ihre jüdischen Gesichtszüge und zum anderen die Jahreszahl, die sich auf dem rechten unteren Bildrand befindet, nämlich das Jahr 1931. Damit wird jedem historisch bewußten Betrachter deutlich vor Augen geführt, zu welchem Zeitpunkt dieses Bild entstanden ist und welche Konsequenzen sich für Hirzel in Deutschland ergeben hätten, falls er nicht bereits 1932 gestorben wäre. Kurzum, je länger man dieses Bild betrachtet und über der Attraktivität dieser jungen Berliner Jüdin nicht die darunterstehende Jahreszahl übersieht, desto mehr erweist sich dieses Porträt als ein politisches Denkbild, das an all die politischen Schrecknisse erinnert, welche Menschen ihrer Herkunft schon kurze Zeit später an den Rand ihrer ExiLotte Danziger

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stenz drückten. In diesem Fall überlebte die hier abgebildete Frau höchstwahrscheinlich die späteren Pogrome bzw. Vernichtungslager der Nazifaschisten und konnte eine Zuflucht in den Vereinigten Staaten finden. Aber wie vielen, vielleicht auch ihr, ist dies nicht gelungen. Und so ist die Datierung und Monogrammierung dieses Bildes nicht nur ein altmeisterlicher Zug, der an die Malerei der Dürer- und Holbein-Zeit gemahnt, sondern erweist sich zugleich als ein Mahnmal, nie das Schicksal all jener Menschen zu vergessen, die nach 1933 in Deutschland zu den Entarteten oder gar Auszurottenden gehörten.

160 Manfred Hirzel

John Heartfields Hitler-Satiren (1932–1943)

I Kein Buch, das sich mit politischen Denkbildern beschäftigt, kann auf John Heartfields Hitler-Satiren verzichten. Er war lange Zeit der bekannteste Vertreter der politischen Fotomontage, dessen satirische Collagen in den mittdreißiger Jahren von allen Gegnern des Nazifaschismus als besonders massenwirksam begrüßt wurden. Doch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs verblaßte Heartfields Ansehen in den westlichen Demokratien wieder relativ schnell, da hier im Zuge des Kalten Krieges nicht mehr der Nazifaschismus, sondern der Kommunismus als der politische Hauptgegner galt. Selbst die Tatsache, daß viele der antifaschistischen Künstler der dreißiger Jahre, und zwar Paul Dessau, Hanns Eisler, Louis Fürnberg, Lea Grundig, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Ernst Hermann Meyer, Anna Seghers, Alex Wedding, Friedrich Wolf, Arnold Zweig und last but not least John Heartfield, Juden waren, die man nach 1933 aus Deutschland vertrieben hatte, spielte jetzt in den Augen der ideologischen Gefolgsleute eines Joseph McCarthy, John Foster Dulles und Konrad Adenauer keine Rolle mehr. Doch wer steckte eigentlich hinter diesem undeutsch klingenden Namen und warum schloß sich dieser Mann in den zwanziger Jahren der Kommunistischen Partei Deutschlands an? John Heartfield kam am 19. Juni 1891 als Helmut Herzfeld in Berlin zur Welt. Sein Vater war Franz Herzfeld, der unter dem Namen Franz Held als Schriftsteller für die SPD tätig war und sich auch als Dramatiker versuchte, während seine Mutter, geborene Alice Stolzenberg, in einer Textilfabrik arbeitete.1 Als sein Vater 1895 wegen einer antichristlichen „Blasphemie“ ins Gefängnis kommen sollte, floh er mit seiner Familie in die Schweiz, wo er jedoch keine Aufenthaltsgenehmigung bekam, worauf die Herzfelds nach Österreich gingen. Dort wurde der kleine Helmut, da sein Vater 1899 in eine Nervenklinik eingeliefert wurde, erst von Adoptiveltern großgezogen und besuchte dann Fachhochschulen für Graphik und Hitler-Satiren

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Reklame in München und Berlin. 1914 half ihm Else Lasker-Schüler, dem Einberufungsbefehl zu entgehen, indem sie ihm empfahl, einen Nervenzusammenbruch vorzutäuschen. Danach arbeitete er 1916 mit seinem Bruder Wieland Herzfelde und George Grosz an dem antimilitaristischen Blatt Neue Jugend. Während der Arbeit an diesem Journal entwickelte Heartfield die Methode der Fotomontage, indem er aus bereits bestehenden Fotos und Druckbildern bestimmte Teile ausschnitt und diese auf satirische Weise neu arrangierte. Obwohl er hierbei auch von einigen Werken des italienischen Futurismus angeregt wurde, den damals vor allem Herwarth Walden (Georg Lewin) und der Berliner „Sturm“-Kreis propagierten, war diese Form des künstlerischen Ausdrucks weitgehend Heartfields eigene Erfindung.2 Doch neben dem italienischen Futurismus übte auch der deutsche und französisch-schweizerische Dadaismus, der in der Schlußphase des Ersten Weltkriegs von sich reden machte, auf den jungen Heartfield einen gewissen Einfluß aus. Der Entschluß, seinen Namen im Jahr 1915 aus Helmut Herzfeld in John Heartfield zu ändern, geht vor allem darauf zurück, um damit, wie George Grosz, seinen Widerwillen gegen die antibritische Propaganda der wilhelminischen Kriegsführung zum Ausdruck zu bringen. Im Umkreis der Berliner Dada-Bewegung, zu der vor allem Raoul Hausmann, Richard Hülsenbeck, Wieland Herzfelde, Hanna Hoech und George Grosz gehörten, galt Heartfield aufgrund seiner Fotomontagen vor allem als der „Monteur-Dada“. Grosz, der zu diesem Zeitpunkt sein engster Freund war, stellte ihn zu diesem Zeitpunkt mehrfach als einen der grimmigsten Feinde der herrschenden Oberklassen dar.3 Während sich einige Anhänger des Berliner Dadaismus dieser Bewegung nur aus Jux angeschlossen hatten, das heißt um sich in romantisch-liberaler Tradition über die Welt der Spießbürger lustig zu machen, entschieden sich John Heartfield, Wieland Herzfelde und George Grosz im Zuge der Novemberrevolution von 1918 immer entschiedener für eine linkspolitische Orientierung und schlossen sich schließlich am letzten Tag dieses Jahres der von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Karl Radek gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands an. Nach dem gescheiterten Spartakus-Aufstand im Januar 1919 arbeiteten alle drei im Sinne ihrer neuen politischen Überzeugungen an revolutionär gestimmten Blättern wie Der blutige Ernst, Jedermann sein eige162 John Heartfield

ner Fußball und Die Pleite. In diesen Journalen stellte Heartfield – neben Agitprop-Parolen und dadaistischen Satiren – auch seine Fotomontagen in den Dienst einer aufrührerischen Gesinnung. Ihr Hauptziel war, die sozialdemokratische Regierung unter Friedrich Ebert als eine konterrevolutionäre Bande bürgerfreundlicher Philister bloßzustellen, die mit Hilfe rechtsradikaler Freikorpsgruppen sowie kaisertreuer Überreste der ehemaligen Reichswehr versuche, die schon im Krieg ausgepowerte Arbeiterklasse erneut auf gewaltsamste Weise zu unterdrücken. Alle drei Journale wurden daher von den Behörden der neuen Obrigkeit sofort verboten – und George Grosz sowie die Heartfield-Brüder entgingen nur mit Mühe der drohenden Verfolgung oder gar Erschießung. Nach diesen konterrevolutionären Maßnahmen der Ebert-Regierung, mit denen der sozialdemokratische Wehrminister Gustav Noske und seine Gefolgsleute wieder „Ruhe und Ordnung“ hergestellt hatten, entschieden sich die meisten der ehemaligen Rebellen, „Vernunftrepublikaner“ zu werden und ihren Frieden mit dem Status quo zu schließen. Nicht so die Herzfeld-Brüder. Sie blieben weiterhin politisch aufmüpfig und bemühten sich – im Gegensatz zu der sich seit 1923 ausbreitenden „Neuen Sachlichkeit“ – weiterhin um die Schaffung einer antibürgerlichen Gegenkultur. Wieland Herzfelde versuchte das mit der Gründung seines Malik-Verlags, der sich in seinen Publikationen weitgehend in den Dienst der KPD stellte. Und auch John Heartfield arbeitete für diesen Verlag, indem er die Umschläge für die dort herauskommenden Werke von Ilja Ehrenburg, Fjodor Gladkow, Maxim Gorki, Wladimir Majakowski, Sergej Tretjakow, Oskar Maria Graf, Franz Jung, Franz Carl Weiskopf, John Dos Passos, John Reed und Upton Sinclair entwarf. Zugleich wurde er auf vielen anderen Ebenen aktiv. So arbeitete er mit George Grosz und Rudolf Schlichter von 1923 bis 1927 an dem satirischen KPD-Blatt Der Knüppel, stattete 1929 das Buch Deutschland, Deutschland über alles von Kurt Tucholsky mit fotografischen Illustrationen aus, beteiligte sich an der Gründung einer linken Künstlerorganisation, die sich „Die rote Gruppe“ nannte, schloß sich der kommunistisch orientierten Assoziation revolutionärer bildender Kunst (ASSO) an, entwarf Kostüme und Bühnendekorationen für das Erwin Piscator-Theater am Berliner Nollendorfplatz und lieferte eine Reihe satirischer Fotomontagen für die Arbeiter-IllustrierteHitler-Satiren

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Zeitung, die von Willi Münzenberg im Rahmen der Internationalen Arbeiterhilfe herausgegeben wurde.

II Heartfields berühmteste Hitler-Karikaturen in Form der von ihm entwickelten Fotomontagen, die in ihrer Radikalität weit über alles hinausgingen, was vorher in satirischen Blättern wie Kladderadatsch oder Simplicissismus üblich war, erschienen in der Arbeiter-IllustriertenZeitung oder AIZ, wie sie abgekürzt hieß. Diese Zeitung, die 1931 eine Auflagenhöhe von 500 000 Exemplaren pro Tag hatte, brachte zwischen 1930 und 1938 fast jeden Monat eine, das heißt insgesamt rund 250 der Heartfieldschen Fotomontagen heraus.4 Die erste dieser Fotomontagen erschien nach den berühmt-berüchtigten Septemberwahlen des Jahres 1930, in der sechs Millionen Deutsche – aufgrund der im Oktober 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise – für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei gestimmt hatten, die dadurch zur zweitstärkten Fraktion im deutschen Reichstag anwuchs. Obwohl Heartfield bereits seit den mittzwanziger Jahren an der NSDAP und anderen Parteien im rechten Lager Kritik geübt hatte, hatte er sich lange Zeit – neben der Arbeit für den Malik-Verlag – vor allem darauf konzentriert, Collagen zu entwerfen, welche den heroischen Geist der deutschen Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen jene bürgerlichen Parteien und die hinter ihnen stehenden finanzstarken Industriellen zum Thema hatten. Auch in der Folgezeit ließ Heartfield keineswegs von solchen Themen ab, attackierte jedoch ab 1930 zugleich jene reaktionären Kreise, die in ihrer politischen Propaganda die ökonomische Krise vor allem dazu ausnutzten, den unteren Bevölkerungsschichten eine schnelle wirtschaftliche Gesundung zu versprechen, um so eine Mehrheit im Reichstag zu erringen. Um diesen Machinationen wirksam entgegenzutreten, schuf Heartfield daher nach diesem Zeitpunkt immer häufiger Fotomontagen, in denen er die Nazifaschisten als Marionetten in den Händen jener reichen Industriellen darstellte, welche ihnen ihre Wahlkampagnen finanzierten, um nicht bei einem Sieg der Kommunisten ihre Fabriken und Investitionskapitalien zu verlieren. 164 John Heartfield

Angesichts all dieser leicht zu durchschauenden Demagogie von rechts wurden Heartfields Fotomontagen – in Überstimmung mit den programmatischen Erklärungen der KPD – von Monat zu Monat immer „konkreter“. Sie versuchten die Leser und Leserinnen der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung darüber aufzuklären, daß die NSDAP – im Gegensatz zu ihren parteipolitischen Parolen – keineswegs eine Arbeiterpartei, sondern eine Partei sei, hinter der vor allem jene Industriellen und Junker ständen, die bereits den Ersten Weltkrieg angezettelt hätten. Während sich bürgerlich-liberale Blätter über Hitler und seine Anhänger noch 1929/30 lediglich auf arrogante Weise mokierten, das heißt wie das Berliner Tageblatt diese „bayerischen Hofbräuhaus-Rowdies“ auf die Seiten ihrer Ulk-Beilage verbannten, nahm Heartfield bereits zu diesem Zeitpunkt in aller Schärfe den höchst gefährlichen Charakter dieser Bewegung aufs Korn, indem er vor allem die repressiven, militaristischen, kriegstreiberischen Ziele der NSDAP herausstellte. Empört über solche Darstellungen, attackierten ihn daher einige SA-Männer auf den Straßen von Berlin und warfen ihn sogar zweimal aus dem Omnibus.5 Auf Heartfields erster Satire dieser Art von 1930 geht es um zwei, tief im Ozean schwimmende Haie, die mit einem Dollarzeichen, dem Hakenkreuz sowie mit Zylindern, dem Statussymbol der reichen Industriellen, ausgestattet sind. Dazu paßt die Inschrift „Mit Gott für Hitler und Kapital“, um auf die enge Allianz zwischen dem Kapitalismus und der NSDAP hinzuweisen, die sich angesichts der Bedrohung von links zu einer „Union der festen Hand“ zusammengeschlossen hätten. Auf der Fotomontage Geisterstunde vom gleichen Jahr sieht man den vom Vollmond hell erleuchteten Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, auf dem sich eine Fülle prominenter Führergestalten aus dem rechten Lager versammelt hat, zu denen Franz von Papen, der Kronprinz aus dem Hause Hohenzollern sowie einige Reichswehrgeneräle, Marineoffiziere, Freikorpsführer, Industriemagnaten und last but not least auch Adolf Hitler gehören, der sich in seiner SA-Uniform eifrigst bemüht, trotz seines niedrigen sozialen Status ebenfalls wie einer der Großkopfeten zu wirken. In der Folgezeit setzte sich Heartfield immer nachdrücklicher mit der ökonomischen Misere in Deutschland auseinander, durch die ein Millionenheer von arbeitslosen Angestellten und Arbeitern entstanden Hitler-Satiren

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war. Um der nazifaschistischen Propaganda, die diesen Schichten mit pseudosozialistischen Slogans vor allem „Brot und Arbeit“ versprach, möglichst wirksam entgegentreten zu können, bediente sich Heartfield dabei folgender Strategien: zum einen entwarf er weiterhin positive Bilder deutscher Arbeiter, um dieser Klasse Vorbilder in ihrem Kampf gegen ihre Ausbeuter zu geben, zum anderen stellte er die Repräsentanten der aristokratischen und großbürgerlichen Schichten, die Hitler und seine Partei lediglich unterstützten, weil sie Angst vor den Kommunisten hatten, als kalt berechnende Strategen dar. Auf seinen Satiren aus dem Jahr 1932 erscheint demzufolge Hitler vornehmlich als eine Puppe oder ein Hampelmann in den Händen der Oberklasse, das heißt der Landjunker und der einflußreichen Industriellen, die sich zu diesem Zeitpunkt von dem alternden, willensschwachen Paul von Hindenburg abwandten und ihre politische Sympathie zusehends jenem martialisch auftretenden Hitler schenkten, in dem sie einen wesentlich aggressiveren Garanten in ihrem Ankampf gegen die KPD sahen. Heartfields bekannteste Hitler-Satiren aus diesem Jahr, als die Konfrontation zwischen den Nazifaschisten und den Kommunisten ihren Höhepunkt erreichte, stellen daher Hitler weitgehend als einen doppelzüngigen Schreihals, Schmierenschauspieler oder Helfershelfer der Großbourgeoisie dar, der einerseits den breiten Massen Wohlstand und völkische Gesundung verspricht, während er andererseits die gleichen Kreise unterstützt, die Deutschland in den für die Mehrheit seiner Bevölkerung verhängnisvollen Ersten Weltkrieg geführt hätten. Und er wies zugleich darauf hin, daß diese Kreise bereits einen Zweiten Weltkrieg ins Auge faßten, um so ihre finanziellen Verluste im Rahmen der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise wieder wettzumachen, die sich gerade in Deutschland, noch mehr als in anderen marktwirtschaftlich organisierten Ländern, als besonders profitschädigend ausgewirkt hatte. Eine dieser Fotomontagen erschien in der AIZ am 17. Juli 1932 unter dem Titel Adolf – der Übermensch schluckt Gold und redet Blech, auf der man einen finster blickenden und unattraktiven Hitler mit einem von Röntgenstrahlen durchleuchteten Brustkorb sieht, in dessen Speiseröhre eine Fülle von Goldmünzen nach unten rutscht, um so auf jene Wahlgelder hinzuweisen, welche die Rhein-Ruhr-Industriellen diesem „Kommunistenfresser“ nach ihrem Treffen mit ihm am 27. Januar 166 John Heartfield

18 John Heartfield: Adolf – der Übermensch schluckt Gold und redet Blech (1932) © The Heartfield Community of Heirs / VG Bild-Kunst, Bonn 2011

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dieses Jahres zugeschustert hatten. Die gleiche satirische Entlarvung liegt jener Fotomontage zugrunde, welche die AIZ am 16. Oktober 1932 unter der Überschrift Millionen stehen hinter mir. Der Sinn des Hitlergrußes herausbrachte. Auf ihr erhebt Hitler seinen rechten Arm in der üblichen SA-Manier, aber nicht um sein Volk zu begrüßen, sondern weil ein riesiger, anonymer Industrieller hinter ihm steht, der ihm gerade einen Packen Tausendmarkscheine für seine Wahlkampagnen in die Hand drücken will. Hier wird also Hitler nicht als ein großmäuliger Demagoge wie auf der Fotomontage vom 17. Juli, sondern als ein Lakai der ökonomischen Powerelite angeprangert, die ihn für seine rechtsradikale Propagandatätigkeit mit den nötigen Finanzspritzen unterstützt. Die dritte von Heartfields Satiren dieser Art vom 21. August 1932 stellt Hitler als einen neuen Wilhelm II. dar, der nicht nur dessen Vorliebe für protzig aussehende Uniformen teilt, sondern sogar seinem Schnurrbart die alte Kaiserform gegeben hat. Und zwar trägt das Ganze den Titel S. M. Adolf. Ich führe euch herrlichen Pleiten entgegen, womit Heartfield auf sarkastische Weise den damals noch bekannten Ausspruch Wilhelms II. „Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen“ paraphrasieren wollte, auf den schließlich der Tod von Millionen Soldaten und die schmähliche Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg gefolgt waren. III

Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 die Macht übergeben wurde, floh Heartfield umgehend in die Tschechoslowakei, wo er für den von seinem Bruder Wieland neugegründeten Malik-Verlag sowie die weiterhin von Willi Münzenberg herausgegebene Arbeiter-Illustrierte-Zeitung aktiv wurde. Und auch hier, in Prag, zögerte Heartfield keineswegs, in seinen Satiren für die AIZ, die ab 1935 im Sinne der von den Kommunisten propagierten Volksfrontpolitik unter dem Titel Volks-Illustrierte erschien, so scharf, wenn nicht noch schärfer als vor 1933 gegen Hitler vom Leder zu ziehen. Auf einer dieser Fotomontagen, die am 7. Juni 1933 in der AIZ unter dem Titel Mit seinen Phrasen will er die Welt vergasen erschien, sehen wir einen mit Engelsflügeln ausgestatteten Hitler, der einen Palmzweig 168 John Heartfield

19 John Heartfield: Werkzeug in Gottes Hand? Spielzeug in Thyssens Hand (1933) © The Heartfield Community of Heirs / VG Bild-Kunst, Bonn 2011

in der rechten Hand hält, hinter dem sich ein Schwert verbirgt. Um die darin zum Ausdruck kommende satirische Absicht noch deutlicher zu machen, hat Hitler einer ebenfalls dargestellten weißen Friedenstaube einen Maulkorb aufgesetzt und zieht an einer dünnen Schnur eine kleine Kanone hinter sich her. Auf einer anderen Fotomontage aus dieser Zeit hat Hitler eine Gießkanne in der Hand, um einen riesigen EichHitler-Satiren

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baum, an dem statt Eicheln Patronen hängen, mit dem nötigen Wasser zu versorgen. Ebenso eindrucksvoll ist Heartfields Satire vom 28. August 1933, auf der Hitler unter dem Titel Werkzeug in Gottes Hand? Spielzeug in Thyssens Hand von einem der ihm besonders wohlwollenden Rhein-Ruhr-Stahlmagnaten wie ein Stehaufmännchen, das man sowohl aufrichten als auch wieder fallenlassen kann, an einer Strippe hochgezogen wird.6 Ja, auf einer anderen Fotomontage stellte er Hitler als einen jener apokalyptischen „Untoten“ dar, der rücksichtslos über ein mit nackten Leichen übersätes Schlachtfeld reitet, um die Leser der AIZ vor der Gefahr eines Zweiten Weltkriegs zu warnen, der von Hitler und seinen Beratern bereits vorbereitet werde. Neben derartigen Warnungen vor der kriegslüsternen Ideologie der Nazifaschisten versuchte Heartfield seine Leserschaft zugleich weiterhin darüber aufzuklären, daß die NSDAP keineswegs eine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei sei. Dafür spricht unter anderem seine Fotomontage Mimikry vom 19. April 1934, also einen Tag vor Hitlers Geburtstag, auf der Joseph Goebbels seinem Führer aus taktischen Gründen einen Vollbart umbindet, um ihm damit das Aussehen von Karl Marx zu verleihen. Außerdem sieht man auf diesem Bild nicht nur einen deutschen Adler, ein Hakenkreuz und eine Goethe-Büste, sondern auch das kommunistische Hammer-und-Sichel-Emblem, als ob das Dritte Reich bereits ein klassikfreundlicher Staat der Arbeiter und Bauern sei. Auf einer anderen Fotomontage aus der gleichen Zeit steht Hitler, wie in Grimms Märchen Schneewittchen und die sieben Zwerge, als eine alte, häßliche Königin vor einem Spiegel und glaubt, nicht nur die schönste, sondern auch die mächtigste Herrscherin in ihrem Hoheitsbereich zu sein. Und auch in den folgenden Jahren stellte Heartfield Hitler immer wieder als einen gefährlichen Kriegsantreiber dar, der sein Messer wetzt, um den französischen Hahn abzuschlachten, oder der seine Truppen nach Spanien schickt, um dem faschistischen Generalissimo Francisco Franco zu helfen, jene Internationalen Brigaden niederzumachen, welche die demokratisch gewählte Regierung zu verteidigen suchten. Daß Heartfields Fotomontagen in Münzenbergs Arbeiter-IllustrierteZeitung bzw. Volks-Illustrierte in Berlin scharfe Gegenreaktionen auslösen würden, war vorauszusehen. Die dortigen Machthaber nahmen seine Attacken keineswegs auf die leichte Schulter und intervenierten 170 John Heartfield

bereits 1934 durch ihren Botschafter in der Tschechoslowakei bei der dortigen Regierung, möglichst umgehend dafür zu sorgen, Heartfields politische Satiren aus der Prager Galerie Mánes zu entfernen, wo sie im Rahmen einer Internationalen Satire-Ausstellung zu sehen waren.7 Da sich eine Reihe tschechischer, sowjetischer und französischer Künstler anläßlich dieser Ausstellung mit Heartfield solidarisierten,8 entschieden sich die dortigen Behörden, nur sieben seiner 35 ausgestellten Werke zu entfernen. Weil jedoch trotz oder auch wegen dieser Maßnahmen Heartfields Werke auf der internationalen Ebene immer bekannter wurden, verlangten die NS-Behörden schließlich im Jahr 1938 von der tschechischen Regierung sogar, ihn in ihre Hände auszuliefern. 9 Obwohl die Beneš-Regierung diesen Antrag ablehnte, entschloß sich Heartfield, um weitere Komplikationen und auch Bedrohungen seines Lebens zu vermeiden, am 7. Oktober 1938 von Prag nach London zu fliegen, wohin sich sein Bruder Wieland schon ein Jahr vorher begeben hatte. Während seinem Bruder nicht erlaubt wurde, sich für längere Zeit in England aufzuhalten und dieser daraufhin in die USA floh, konnte Heartfield in England bleiben. Allerdings wurde er dort 1940 – als „Alien Enemy“ – mit vielen anderen deutschen Exilanten in einem Lager interniert, aus dem er erst wieder nach London zurückkehren konnte, als er ernsthaft krank wurde. Anschließend arbeitete er für verschiedene Londoner Verlagshäuser und betätigte sich zugleich als Graphiker für die Publikationen des Freien Deutschen Kulturbunds. Heartfields Satiren auf Hitler und das Dritte Reich, die er in dieser Zeit – meist weiterhin in Form von Fotomontagen – schuf, wirken bei weitem nicht mehr so provokativ wie die aus seiner Berliner und Prager Zeit. Obwohl der Krieg zwischen England und Deutschland, der im September 1939 begonnen hatte, in England ein starkes Ressentiment gegen alles Deutsche hervorgerufen hatte, stießen Heartfields politkünstlerische Bemühungen in London dennoch auf beachtliche Schwierigkeiten. Und das hatte vor allem drei Gründe: 1. seine Internierung im Jahr 1940, 2. sein darauffolgender Krankheitszustand sowie 3. das weitverbreitete Mißtrauen vieler Engländer gegenüber jedweder Kritik an Nazideutschland, der kommunistische oder linksliberale Tendenzen zugrunde lagen. 1939 konnte er noch einige seiner Hitler-Satiren in Hulton’s National Weekly und in Reynold’s News, einem Wochenblatt der englischen Gewerkschaftsbewegung, unterbringen. Ja, es war ihm Hitler-Satiren

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sogar noch möglich, in der Londoner Arcade Gallery unter dem Titel One Man’s War Against Hitler einige seiner Fotomontagen auszustellen und die Bühnendekorationen für ein Anti-Hitler-Stück im Londoner Arts Theatre zu entwerfen. So „frei“ konnte er sich als Linker erst wieder in der Schlußphase des Zweiten Weltkriegs betätigen. Dafür spricht vor allem sein 1943 publizierter Sammelband antifaschistischer oder sogenannter liberaler Literatur, der unter dem Und sie bewegt sich doch erschien. Auf seinem Umschlag sieht man Hitler als einen Affenmenschen, der auf einer Weltkarte sitzt. Außerdem trägt er einen Stahlhelm auf dem Kopf, ein Armband mit einem Hakenkreuz und hält ein langes Schwert in seiner rechten Hand. Obwohl Heartfields Satiren aus diesem Zeitraum nicht mehr so aggressiv wirken wie jene, die er zwischen 1930 und 1938 geschaffen hatte, als er sich noch der Unterstützung linker Exilgruppen in Prag erfreute, sind sie immer noch wesentlich polemischer als alle britischen Hitler-Karikaturen aus der Anfangszeit des Zweiten Weltkriegs. Die bekannteren unter diesen Satiren waren weitgehend Pamphlete in der Form von Kinderbüchern wie Adolf in Blunderland (1940) von James Byrenforth und Max Kester, Truffle-Eaters: Pretty Stories and Funny Pictures (1940) von Oistros sowie Struwwelhitler. A Nazi Story Book (1941) von Doktor Schrecklichkeit, einem Pseudonym für Robert und Philip Spence. Die Bilder der meisten dieser Bücher lehnten sich entweder an Alice in Wonderland von Lewis Carroll oder den Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann an. Im Gegensatz zum tödlichen Ernst der Heartfieldschen Kritik wurden sie auf ihren Umschlägen lediglich als „Amusing Political Parodies“ angeboten. Im Struwwelhitler zum Beispiel erscheint der deutsche „Führer“ als „Adolf-Head-in-the-Air“ oder als „Fidgety Adolf “, der mit anderen „Nasty Boys“, wie Gebell (Goebbels) und Rippentropf (Ribbentrop), herumhängt. Alle diese Strolche haben lange Fingernägel, struppige Haare und verhalten sich älteren Menschen völlig respektlos gegenüber. Verglichen mit Aunt Britannia, dem englischen Premierminister Neville Chamberlain oder Onkel Sam, den Hauptvertretern der westlichen Zivilisation, haben sie überhaupt keine Manieren. Obwohl in den Texten dieser Bücher auch auf einige politische Ereignisse, wie den Beginn des Zweiten Weltkriegs und die NS-Konzentrationslager, hingewiesen wird, bemühten sie sich, vor allem, „hilariously funny“„ zu sein. Statt wie auf Heartfields Fotomon172 John Heartfield

tagen zwischen 1930 und 1938 Hitler als einen höchst gefährlichen Kriegsantreiber, Gewaltherrscher und Mörder darzustellen, wirkt er in den englischen Satiren inmitten der in ihnen dargestellten „High Society“, in der weitgehend die britische „Decency“ herrscht, wie eine lächerliche Anomalie. Lediglich die Cartoons von David Low sind in dieser Hinsicht etwas aggressiver, obwohl es auch auf ihnen vornehmlich um den Kontrast zwischen dem anglo-amerikanischen Liberalismus und dem infantilen Streben der Deutschen um gesellschaftliche Rangerhöhung geht.10

IV Kurzum: im kulturpolitischen Klima Englands während des Zweiten Weltkriegs ergaben sich für einen linken Satiriker wie Heartfield nur wenige Chancen, in einem aggressiven Sinne antifaschistisch aktiv zu werden.11 Und auch nach dem Kriegsende änderte sich daran fast nichts. Im April 1949, kurz nachdem er in Southhampton seinen Bruder Wieland getroffen hatte, der sich gerade auf dem Weg von New York nach Ostberlin befand, um dort am Aufbau eines neuen Deutschland mitzuwirken, entschied sich daher auch John Heartfield, nach Deutschland zurückzukehren. Er tat das schließlich am 31. August 1950, indem er erst nach Prag flog und dann mit dem Zug nach Leipzig fuhr, wo er die nächsten sechs Jahre verbrachte. Allerdings verhinderten ihn 1951/52 zwei Herzanfälle so aktiv zu werden, wie er eigentlich wollte. Obendrein erhielt sein linker Enthusiasmus einen gewissen Dämpfer durch die Auswirkungen der sogenannten FormalismusDebatte in der Anfangszeit der DDR, die sich vor allem gegen eine Weiterführung „avantgardistischer“ künstlerischer Techniken, darunter auch seiner Art der Fotomontage, wandte. Erst als ihn 1956 Bertolt Brecht, Bodo Uhse, Stephan Hermlin und Wolfgang Langhoff zum Mitglied der Ostberliner Akademie der Künste vorschlugen, wurde Heartfield wieder etwas bekannter. Darauf zog er 1957 nach Ostberlin um, wo die Akademie der Künste im gleichen Jahr eine eindrucksvolle Ausstellung seiner Werke unter dem Titel „John Heartfield und die Kunst der Fotomontage“ veranstaltete und er zugleich den Nationalpreis der ostdeutschen Regierung erhielt. In den folgenden Jahren fanHitler-Satiren

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den Ausstellungen seiner Werke nicht nur in der DDR, sondern auch in Moskau, Peking, Warschau, Prag, Brünn, Budapest und anderen Städten der Ostblockländer statt. Zugleich erhielt er in diesen Ländern eine Fülle von Auszeichnungen für seinen Kampf gegen Hitler und den Nazifaschismus. Am 26. April 1968 starb Heartfield in Ostberlin. Erst nach seinem Tode wurden seine Werke auch im Westen etwas bekannter. In der ehemaligen Bundesrepublik geschah das vornehmlich im Zuge der linksliberalen Welle der frühen sechziger Jahre sowie der durch die studentische Achtundsechziger Bewegung gewaltsam vorangetriebenen sogenannten Vergangenheitsbewältigung. Hier war die erste Ausstellung von Heartfields Werken 1967 in Frankfurt am Main zu sehen. Weitere Ausstellungen dieser Art folgten 1969 in Westberlin und Stuttgart, 1977 in Hamburg, 1978 in Marburg und 1980 in Hannover, die weitgehend durch die linke Elefantenpresse arrangiert wurden. Auch die linksorientierte Zeitschrift Tendenzen unter der Herausgeberschaft von Richard Hiepe, in der 1968 der erste Aufsatz über Heartfield in Westdeutschland erschien,12 trug zu einem weiteren Bekanntwerden Heartfields in der BRD bei. In den siebziger Jahren war daher Heartfields Name unter allen kulturpolitisch Interessierten sowohl in der DDR als auch in der BRD gleichermaßen bekannt. Erst nach 1980, als sich im Westen das Interesse am Nazifaschismus allmählich von den antifaschistischen Widerstandskämpfern zu den jüdischen Opfern des Dritten Reichs verschob, verblaßte der Name „Heartfield“ wieder etwas, obwohl auch er zu den aus Deutschland vertriebenen Juden gehört hatte. Aber er war eben ein „Linker“ gewesen – und das wurde ihm jetzt von den mit der CDU/CSU sympathisierenden Schichten wieder übelgenommen.

V Demzufolge sind Heartfields Fotomontagen heutzutage bei weitem nicht mehr so berühmt wie im Rahmen des Ostblocks in den späten fünfziger Jahren oder in Westdeutschland während der Zeit der Studentenrevolte in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren. Lediglich die künstlerische Qualität seiner Werke wird weiterhin geschätzt. Hierfür spricht etwa das 1992 erschienene Heartfield-Buch von David 174 John Heartfield

Evans sowie die Heartfield-Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art vom folgenden Jahr. Dagegen fanden viele Historiker die politischen Implikationen seiner Hitler-Satiren seit dem Zusammenbruch des Ostblocks recht bedenklich. Schließlich interpretierten sie danach den deutschen Faschismus immer weniger als ein Phänomen, das weitgehend mit den sozioökonomischen Veränderungen im Zuge der Weltwirtschaftskrise nach 1929 zusammenhängt, sondern betteten ihn eher in jenen kulturpsychologischen „Sonderweg“ ein, der in Deutschland die Form eines militanten Patriarchalismus, einer chauvinistischen Fremdenfeindlichkeit sowie einer ungezügelten antisemitischen Aggressivität angenommen habe, wie das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bereits Lord Robert Vansittart und Henry Morgenthau im Rahmen ihrer Kollektivschuldtheorie behauptet hatten. Den Nazifaschismus als eine Schutzmaßnahme des Monopolkapitalismus hinzustellen, wie das Heartfield und viele andere Linke, einschließlich eines Vertreters der Frankfurter Schule wie Max Horkheimer, getan hatten, wurde dagegen von den meisten Historikern, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Literaturkritikern und Kunsthistorikern zusehends als eine höchst einseitige, ja krude Analyse dieses Phänomens hingestellt, welche die rassistischen, massenpsychologischen, pseudoreligiösen, mythologisierenden und andere derartige Komponenten dieses Phänomens ungebührlich übersehe. Kein Zweifel, den Aufstieg Hitlers zur Macht in den Jahren zwischen 1930 und 1933 lediglich vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und der finanziellen Unterstützung einiger Industriemagnaten zu sehen, wäre etwas simplistisch. Eine solche Sehweise haben bereits Henry Turner und Jim Mason vor Jahrzehnten abgelehnt. Man sollte daher selbst als Sozialhistoriker ruhig zugeben, daß es auch andere Gründe waren, die Hindenburg – nach längerem Zögern – schließlich dazu bewegten, am 30. Januar 1933 Hitler die Macht zu übergeben. Dennoch wäre es nach wie vor durchaus angebracht, immer wieder daran zu erinnern, daß dabei nicht nur ideologische und nationalpsychologische Überlegungen mitgespielt haben, sondern auch der ökonomische Faktor von zentraler Bedeutung war. Und in dieser Hinsicht hatten Heartfields Satiren, auf denen Hitler als eine Marionette in den Händen jener allgewaltigen Industriellen bloßgestellt wird, denen es vornehmlich um eine ununterbrochene Ausbeutung der Arbeiterklasse Hitler-Satiren

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sowie um möglichst profitable Militäraktionen ging, durchaus eine wichtige Funktion, nämlich die Unterschichten der Gesellschaft vor den Machenschaften der Oberen und ihrer politischen Helfershelfer zu warnen. Es mag schon stimmen, daß Heartfields Fotomontagen bei derartigen Aufklärungsbemühungen manche Aspekte des Nazifaschismus und seiner inneren Bindung an den Kapitalismus übertrieben haben. Dennoch steckt selbst in seinen Übertreibungen stets eine tiefere Wahrheit. Es ist daher nicht unangebracht, ihm den gleichen Rang wie anderen bedeutenden politischen Satirikern der letzten 200 Jahre, ob nun William Hogarth, Honoré Daumier, Thomas Theodor Heine oder George Grosz, zuzusprechen. Er riskierte sogar sein Leben, indem er Hitler auf seinen politischen Denkbildern als einen Kriegstreiber, Mörder und Lakaien im Dienste der reichen Industriellen hinstellte. Und da niemand abstreiten kann, daß Hitler all dies durchaus war, verfehlte fast keine seiner Fotomontagen ihr Ziel. Daß Hitler auch andere Dimensionen hatte, soll damit keineswegs geleugnet werden. Aber das gehört auf ein anderes Blatt.13

176 John Heartfield

Pablo Picassos politische „Wende“ Sein Guernica-Bild (1937)

Picasso ist ein Phänomen ohnegleichen. Obwohl für ein kunstgeübtes Auge fast jedes seiner Werke sofort als ein „echter Picasso“ zu erkennen ist, herrscht in seinem kaum überschaubaren Œuvre eine stupende Vielfalt von Motiven, stilistischen Verschiedenheiten und künstlerischen Herstellungspraktiken. Da gibt es Gemälde, Zeichnungen und Lithographien, Theatervorhänge und Linolschnitte, Drahtplastiken und Töpfereien, aus Bronze gefertigte Monumentalplastiken und aus schrottreifen Eisenteilen zusammengesetzte Figuren – und vieles andere mehr. Unter seinen Händen schien alles, auch das Älteste, eine neue Form anzunehmen. Ja, er war manchmal mit echter oder vorgetäuschter Naivität stolz darauf, wenn man ihn als Artifex, Schnellmaler oder Hokuspokuskünstler bezeichnete. Und er war ebenso stolz auf die bravourösen stilistischen Wandlungen in seinem Werk. Schließlich hatte er als Fünfzehnjähriger in Barcelona relativ „akademisch“ angefangen, war dann nach der Jahrhundertwende in Paris zu einer symbolistisch orientierten Malweise übergegangen, in der sich eine blaue und eine rosa Periode unterscheiden läßt, bis ihn der Kubismus, und zwar in seiner analytischen und seiner synthetisierenden Form in seinen Bann zog. Doch nicht genug damit. Während sein Freund Georges Braque sein Leben lang an diesem Stil festhielt, überraschte Picasso nach 1918 seine frühen Bewunderer mit einer streng klassizistischen Malweise, ohne dabei seine „modernistischen“ Neigungen völlig aufzugeben. Ja, und dann ließ er sich in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren von den französischen Surrealisten anregen, in seinen Bildmotiven zusehends in die Welten des Schlafs, des Traums, der orgiastischen Verzükkung, kurz: des Unbewußten unterzutauchen. Wenn hinter all diesen Wandlungen keine geniale vorwärtstreibende Kraft gesteckt hätte, sähe dieser künstlerische Werdegang recht anpassungsbereit, ja geradezu mitläuferhaft aus. Schließlich finden sich die gleichen oder ähnliche Wandlungen auch in den Werken vieler anderer, wenn auch wesentlich unbedeutenderer Maler dieser Ära. Ein solches Das Guernica-Bild

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Verhalten läßt sich entweder als Opportunismus oder als wahre Zeitgemäßheit definieren. Allerdings sind die Grenzen zwischen diesen beiden Haltungen manchmal recht fließend. Schließlich liegen solchen Wandlungen häufig nicht nur persönliche Entscheidungen, sondern auch marktbedingte Verschiebungen zugrunde. Und das trifft vor allem auf jenen Zeitraum zwischen 1900 und 1930 zu, als das Progressionsbetonte innerhalb der bildenden Künste von der offiziösen Kunstkritik weniger in den inhaltlichen als in den stilistischen Wandlungen gesehen wurde. Hier ging es nicht mehr wie ehedem um den Beweis akademischen oder gar altmeisterlichen Könnens, sondern um das sogenannt Avantgardistische, das oft mit dem jeweils Modischen gleichgesetzt wurde. Und das ehemalige Wunderkind Picasso überbot in diesem Zeitraum seine jeweiligen Konkurrenten innerhalb der verschiedenen Kunst-Ismen lediglich mit besseren, aber nicht mit andersgearteten Leistungen. Er war der ästhetische Matador, dessen Bekanntheitsgrad bei den bürgerlichen Kunstfreunden und Sammlern von Jahr zu Jahr zunahm und ihm schließlich – im Bereich der Malerei und Graphik – einen geradezu unüberbietbaren Weltruhm verschaffte. Von einem politischen oder sozialen Engagement ist dagegen in all diesen Jahrzehnten in seinem Œuvre fast nichts zu spüren. Zugegeben, es gibt auf den Bildern seiner frühen blauen Periode auch einige abgearbeitete Büglerinnen und bettelnde Blinde zu sehen, doch sonst sind seine Gemälde dieser Jahre fast ausschließlich mit Trinkern, Gauklern, Tänzerinnen, Landstreichern, Clochards und anderen gesellschaftlichen Randexistenzen bevölkert. Unter ideologiekritischer Perspektive betrachtet, könnte man diese Themenwahl als außenseiterischen Anarchismus bezeichnen. Mehr ist es nicht. Schließlich hat Picasso damals weder politisch agitierende noch arbeitende Menschen dargestellt. Wo sich Porträtähnlichkeiten zu erkennen geben, handelt es sich meist um Figuren seines Pariser Boheme-Milieus, das heißt um Spanier, Juden, kleine Kunsthändler oder andere Außenseiter wie er selbst, aber nicht um Franzosen, die sich einer bestimmten Gesellschaftsklasse zuordnen ließen. Letztlich geht es immer um Gestalten, welche sich in dieser Stadt vornehmlich als Künstler, Akrobaten, Vagabunden, Gelegenheitsarbeiter, Flaneure – kurz: als Fremdlinge aufhielten. Und da dieses Figurenensemble keine soziale Identität, kein Klassenbewußtsein besaß, ließ sich mit ihm auch keine politische Haltung verbinden. 178 Pablo Picasso

Auch in den zwanziger Jahren traten bei Picasso in dieser Hinsicht kaum gravierende Änderungen ein. Er blieb weiterhin ein Fremdling in Paris, wenn auch jetzt in deutlich arrivierter Form. Er heiratete eine bildschöne russische Tänzerin, genoß seinen steigenden Ruhm, leistete sich einen Privatsekretär, ging Liebschaften ein, kaufte sich ein kleines Schlößchen außerhalb von Paris, ohne sich groß für die politischen und sozialen Spannungen dieser Ära zu interessieren. Während andere ehemalige Kubisten, wie Fernand Léger und Diego Rivera, in diesem Zeitraum zu einer sozialbetonten Malerei übergingen, blieb Picasso bis in die frühen dreißiger Jahre im „gesicherten Raum des liberalen Bürgertums“1 und beschäftigte sich mit subjektiver Monomanie – außer seiner Ehekrise – fast ausschließlich mit stilistischen Problemen. Und daran änderten auch die Anregungen, die er von einigen französischen Surrealisten empfing, nicht viel, die ihn – im Gegenteil – noch tiefer in seine subjektiven, zumeist erotischen Obsessionen verstrickten. Jedenfalls finden sich weder in seinen schriftlichen Äußerungen noch auf seinen Bildern oder Graphiken dieser Jahre irgendwelche Hinweise auf das, was damals im öffentlichen Leben in Paris an politischen Entscheidungen anstand. Immer wieder ging es Picasso nur um seine eigene Person und seine eigene Kunst, wobei er – wie manche Surrealisten – den erotischen Akt immer stärker mit dem künstlerischen Schaffensakt gleichsetzte. Dennoch wich er dabei – im Gegensatz zu anderen spanischen Malern wie Salvador Dali oder Juan Miró – bildkünstlerisch nie ins Mythologisch-Abstruse oder gar Gegenstandslose aus, sondern bewahrte sich trotz mancher Abstraktionen stets einen unmittelbaren Bezug zu den dargestellten Menschen und Dingen. Während Dali und Miró, wie auch viele französische Surrealisten, die Welt der Realität um 1930 entweder total verfremdeten oder in nicht mehr zu deutende Linien- und Farbgespinste auflösten, blieb Picasso stets „Realist“, der nicht der Versuchung eines bloßen Materialfetischismus oder irgendwelchen Formen eines ausdruckslosen Ästhetizismus erlag. Und das war ein guter Ansatzpunkt, warum er sich neben seiner privaten Kunst- und Egowelt in den mittdreißiger Jahren, als sich die politischen Spannungen plötzlich dramatisch zuspitzten, auch für die realen Probleme der sozialen Welt zu interessieren begann. Den entscheidenden Anlaß dazu bot für ihn der Beginn des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936, der Das Guernica-Bild

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mit einem Militärputsch des Generals Francisco Franco in SpanischMarokko begonnen hatte. Picasso, der bisher lediglich privat-anarchistische Neigungen kultiviert hatte, war über die Grausamkeiten der Francoschen Kriegsführung so empört, daß er sich Anfang 1937 dazu hinreißen ließ, an einer Folge von 18 Aquatinta-Radierungen zu arbeiten, der er den Titel Traum und Lüge Francos gab und die in ihrer plakativen Direktheit einerseits an Francisco Goyas Bilderfolge Schrecken des Krieges, andererseits an volkstümliche Bilderbögen oder Comic Strips erinnern.2 Auf ihnen sieht man monströse Stiere, die den zu Boden gestürzten Pferden die Gedärme aus dem Leib reißen, aber auch menschliche Leichen sowie klagende Mütter, die voller Verzweiflung die Hände zum Himmel recken. Den Erlös dieser Serie spendete Picasso einem Hilfsfond für das republikanische Spanien, ja stellte obendrein den durch den Krieg in Not geratenen spanischen Kindern weitere 300 000 Francs zur Verfügung. Nun, all das traf keinen Armen. Dennoch sind diese spontanen Spendenaktionen sowie die politische Radikalität seiner gegen Franco gerichteten Radierungen etwas qualitativ Neues in Picassos Leben und Schaffen. Zum ersten Mal ergriff er, der bisher als unpolitischer Außenseiter in Frankreich gelebt hatte, Partei für etwas, ja solidarisierte sich mit dem einfachen, notleidenden spanischen Volk gegen einen klerikalfaschistischen Militärdiktator, der eindeutig die Interessen der oberen Klassen in Spanien vertrat. Und Picasso beließ es nicht bei dieser anklagenden Bilderfolge. Als am 26. April 1937 die kleine Stadt Guernica im Baskenland von deutschen Flugzeugen angegriffen wurde, die dem Faschisten Franco bei seinen mörderischen Attacken gegen die Reste der republikanischen und internationalen Brigaden zu Hilfe gekommen waren, war Picasso über dieses Bombardement so enragiert, daß er sich entschloß, die brutale Zerstörung Guernicas in den Mittelpunkt jenes Bildes zu stellen, das die noch immer amtierende republikanische Regierung bei ihm für jenen Pavillon bestellt hatte, mit dem sie sich im gleichen Jahr an der Pariser Weltausstellung beteiligen wollte. Mit der Arbeit an diesem Bild, das inzwischen eins der berühmtesten Gemälde des 20. Jahrhunderts geworden ist, begann Picasso am 1. Mai 1937. Nachdem er zahlreiche Entwürfe dafür angefertigt hatte, entschloß er sich zu einer halb realistischen, halb kubistischen Malweise, die in der Darstellung klagender Frauen, am Boden liegender Leichenteile sowie 180 Pablo Picasso

20 Pablo Picasso: Guernica (1937), Madrid, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2011; Bildquelle: akg-images / Erich Lessing

eines drohenden Stierkopfs und eines sich aufbäumenden Pferds noch zum Teil an die Bilderfolge Traum und Lüge Francos erinnert. Das Ungewöhnliche dieses Bildes ist – neben seiner furchteinflößenden Szenerie – nicht nur seine fahle Farbgebung, die sich auf Schwarz-, Grau- und Weißtöne beschränkt, sondern auch sein ausladendes Großformat von dreieinhalb Metern Höhe und fast acht Metern Breite. Ausgestellt wurde es erstmals, wie vorher abgemacht, im Juni 1937 im Spanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung. Über die allegorische Bedeutung der einzelnen Bildmotive ist inzwischen viel geschrieben und viel gestritten worden.3 Während auf Picassos Stierkampfszenen der Stier meist die geschändete Kreatur symbolisiert, ist er hier eindeutig die Verkörperung der Brutalität und das Pferd das sich verzweifelt aufbäumende Volk. Jedenfalls hat sein GuernicaBild in diesem Sinne auf viele Menschen gewirkt und ist zugleich für zahlreiche Mahn- und Gedenkbilder anderer sozialkritisch engagierter Künstler zum Vorbild geworden, ja gilt inzwischen als das Zentralbild aller Malerei, die sich damals in den Dienst einer antifaschistischen oder schlechthin antikriegerischen Agitation stellte. Obwohl dieses Gemälde 1937 auf der Pariser Weltausstellung die nötige Sensation verursachte, hat Picasso in den folgenden Jahren kein weiteres Bild dieser Art gemalt. Er beschränkte sich stattdessen wieder auf die ihm vertraute Motivwelt: Frauen- und Kinderdarstellungen, Das Guernica-Bild

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Außenseiterexistenzen, Tiere, halbwegs mythologische Szenen – und doch spürt man, wie der Schrecken, den die mörderischen Aktionen Francos in ihm ausgelöst hatten, in fast allen dieser Bilder weiterwirkte. Ständig geht es auf ihnen um dieselben Motive: Katzen zerrupfen wehrlose Hühner, verzweifelte Frauen weinen oder zerbeißen das Taschentuch zwischen den Zähnen, während neben den Fruchtschalen der Stilleben grausig bleckende Totenköpfe liegen. Und zwar gilt das besonders für jene Werke, die Picasso während des Zweiten Weltkriegs schuf. Die deutsche Militärregierung ließ ihn zwar in Paris als Spanier ungeschoren und auch Franco stellte keinen Auslieferungsantrag. Schließlich war Picassos internationales Prestige inzwischen so angewachsen, daß man jedes unnötige Aufsehen vermeiden wollte. Angegriffen wurde er zwischen 1940 und 1944, also während der deutschen Besatzungszeit, an sich nur von jenen Franzosen, die sich bei den Deutschen als Kollaborateure Liebkind zu machen versuchten. Demzufolge sahen gegen Kriegsende, als sich die deutsche Niederlage immer deutlicher abzuzeichnen begann, viele Pariser Linksintellektuelle, die noch immer sein Guernica-Bild vor ihrem inneren Auge hatten, in ihm jenen Künstler, der „aufs Wirksamste den Geist des Widerstands versinnbildlicht habe“, wie es kurz nach der Befreiung von Paris im August 1944 in der kommunistischen Wochenzeitung Les Lettres Françaises hieß. Ja, am 5. Oktober des gleichen Jahres trat Picasso demonstrativ in die Kommunistische Partei ein, um sein politisches Engagement auch nach außen hin zu demonstrieren. „Malerei ist nicht dazu da, die Appartements zu schmücken,“ erklärte er jetzt in der Zeitung L’Humanité unter dem Eindruck der durch die spanischen und deutschen Faschisten ausgelösten Kriege, „Sie ist eine Waffe zum Angriff und Verteidigung gegen den Feind.“ Diese Äußerungen führten nach 1945 dazu, daß rechtsradikale Pétain-Anhänger in Paris gegen die Ausstellung seiner Bilder protestierten, während die Kommunisten ihn gern als politisches Aushängeschild ihrer Kulturpolitik benutzten. Und Picasso schürte diese Konflikte in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, indem er in der kommunistischen Parteizeitung L’Humanité Porträtzeichnungen von Stalin und Maurice Thorez, dem Vorsitzenden der französischen KP, veröffentlichte und zugleich an mehreren von den Kommunisten in London, Breslau (Wrocław) und Rom veranstalteten Friedenskonferenzen teilnahm, die 182 Pablo Picasso

sich gegen den von den USA 1946/47 eingeleiteten Kalten Krieg wandten. Und er tat das, obwohl er kein Reisemensch war und bisher alle Einladungen in Länder außerhalb Frankreichs abgelehnt hatte. Durch die unzähligen Friedenstauben, die er in dieser Zeit zeichnete, wurde Picasso bei vielen dieser Konferenzen, mit denen die Sowjetunion die Gefahr eines Dritten Weltkriegs abzuschwächen versuchte, nicht nur als Künstler, sondern auch als Friedenskämpfer für viele Linke immer stärker zu einer politischen Leitfigur. Sie sahen in ihm nicht nur den Maler jenes großformatigen Gemäldes Das Beinhaus, das Picasso 1944/45 nach dem Bekanntwerden der nazifaschistischen Liquidierungslager gemalt hatte, oder jenes Bildes, dem er 1951 den Titel Massaker in Korea gab, auf dem eine Gruppe archaisch Gepanzerter ein Blutbad unter nackten Müttern mit Kindern anzurichten beginnt, sondern zugleich eine überragende Symbolfigur jener schlechthinnigen Friedensbereitschaft, mit der er allen faschistischen und imperialistischen Weltmachtvorstellungen mit den Mitteln seiner Kunst entgegenzutreten versuchte. Die politischen Erwartungen an Picasso waren also im linken Lager zu diesem Zeitpunkt groß. Doch außer den vielen Friedenstauben, die er in diesen Jahren zeichnete und lithographierte,4 schuf Picasso zwischen 1945 und den frühen fünfziger Jahren, von dem Korea-Bild einmal abgesehen, keine Werke mehr, die sich mit der monumentalen Größe oder politischen Intensität seines Guernica-Bildes vergleichen lassen. Außer einem unorthodoxen Linken wie John Berger5 hat sich in der geradezu unüberschaubaren Picasso-Literatur selten jemand gefragt, woran das liegt. Hatte Picasso, der bekennende Kommunist, bis zum Ende seines langen Lebens als politische Symbole nichts anderes zu bieten als Friedenstauben? Warum hat ihm die französische KP oder irgendeine Partei der sogenannten Ostblockländer keine Aufträge gestellt, warum sind die kommunistischen Kulturtheoretiker nicht in einem konstruktiven Dialog mit ihm getreten? Ich fürchte, das hängt weitgehend mit der Besonderheit seiner Malweise zusammen. Schließlich darf man nicht vergessen, daß 1947 in Moskau Andrej Schdanow jene berüchtigte Formalismus-Debatte ausgelöst hatte, die alle linken Künstler wieder den relativ engen Restriktionen des auf dem Allunionskongreß von 1934 verkündeten „Sozialistischen Realismus“ unterwerfen sollte. Da jede Abweichung von den Richtlinien dieser Kulturpolitik als Das Guernica-Bild

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„westlicher Modernismus“, wenn nicht gar „Dekadenz“ angeprangert wurde, geriet auch Picasso nach 1947 in eine prekäre Zwischenposition. Während er als Friedenskämpfer, wie gesagt, von allen kommunistischen Parteien in Ost und West hochgeehrt wurde, scheuten die gleichen Parteien wegen seiner „modernistischen“ Malweise davor zurück, irgendwelche Aufträge an ihn zu vergeben oder seinen Werken durch großangelegte Ausstellungen einen breiteren Wirkungskreis zu verschaffen. Um auf die deutsche Situation sprechen zu kommen, führte das in der BRD und der DDR der mittfünfziger Jahre zu folgenden Konsequenzen. Als Werner Haftmann, der damalige Papst der abstrakten Malerei, 1955 in Kassel die erste Documenta eröffnete,6 hing links neben seinem Rednerpult ein surrealistisch verzerrtes Picasso-Porträt und rechts eine schwarze Leinwand mit einigen grünen Strichen. Und Haftmann entblödete sich nicht zu bemerken, daß auf dem linken Bild noch eine menschliche Nase zu erkennen sei, was er auf den programmatischen Realismus des Kommunisten Picasso zurückführte, während das rechte Bild eine Demonstration der westlichen Freiheit sei, da es sich jeder Festlegung auf eine konkrete Realität und damit politischen Indienstnahme entziehe, das heißt sich gegen eine solche Zumutung von vornherein „sperre“, wie Theodor W. Adorno damals gesagt hätte. Doch auch im Osten kam es zu derartigen Konfrontationen. Als etwa Bertolt Brecht, der große Stücke auf Picasso hielt, wie wir seinem Arbeitsjournal entnehmen können,7 Picassos Friedenstaube auf den Bühnenvorhang seines Theaters am Schiffbauerdamm heftete und für ein Plakat desselben Theaters eine Graphik Picassos verwendete, auf der im Zeichen einer internationalen Solidarität menschliche Masken in vier verschiedenen Hautfarben zu sehen waren, fanden Kulturfunktionäre wie Alfred Kurella solche Logos oder Embleme – trotz aller Lippenbekenntnisse zu dem Kommunisten Picasso – viel zu „formalistisch“.8 Ähnliches spielte sich in Frankreich ab. Auch hier wurde Picasso mit seinen politästhetischen Tendenzen weitgehend allein gelassen. Er glaubte zwar immer noch, in einem sozialpolitischen Sinne zu handeln, indem er das uralte, bis auf die Römerzeit zurückgehende Töpferhandwerk in Vallauris durch eigene Entwürfe neu belebte oder indem er sich – nach sozialistischen Vorstellungen – das „Kulturelle Erbe“ anzueignen versuchte, das heißt höchst verschiedenartige Versionen bekannter 184 Pablo Picasso

Werke von Lukas Cranach, El Greco, Eugène Delacroix, Diego Velázquez, Gustave Courbet, Édouard Manet und Jacques-Louis David malte oder zeichnete. So hat er etwa die Meninas von Velázquez über fünfzigmal variiert. Überhaupt wurde Picassos Arbeitseifer in den fünfziger und sechziger Jahren ständig größer. Fast jeden Tag entstanden in dieser Zeit mehrere Werke. Aber da man ihn nicht politisch forderte, nahm die Motivwelt seiner Werke zusehends ab. Schließlich waren es gegen Ende seines Lebens nur noch die Dinge seiner persönlichen Umgebung – also das Haus in Südfrankreich, der Garten, seine Partnerinnen, irgendwelche Kinder oder Tiere – die er darstellte. Und auch sie wurden mit den Jahren immer weniger. Ganz zuletzt waren es fast nur noch Bilder, welche von seinen sexuellen Ängsten und Obsessionen zeugten, die sich allerdings bei den heutigen Käufern seiner Gemälde und Graphiken einer besonderen Gunst erfreuen. Allerdings sollte man dabei nicht die Trauer oder Resignation übersehen, die auf diesen Bildern waltet. Dies sind nicht nur Bilder eines gealterten Mannes, der an seiner nachlassenden Potenz litt, sondern auch Bilder eines auf sich selbst, auf seine Privatheit zurückgeworfenen Künstlers, der zwischen die Räder des linken Kulturkampfes geriet. Wie ganz anders hätte sich möglicherweise Picassos Kunst entfaltet, wenn er in seiner letzten Lebensphase irgendwelche Großaufträge, wie jenen für das Guernica-Bild, erhalten hätte. Nichts gegen eine Auftragskunst von Seiten sozialbetonter Parteien! Schließlich sind einige der größten Kunstwerke, wie die Athene des Phidias und die Fresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle auf diese Weise entstanden, während alleingelassene Künstler oft in ihrer eigenen Subjektivität erstickten. Mokieren wir uns daher nicht mehr über eine mögliche „Auftragskunst“, wie das im Zeichen einer Ideologie der individuellen Vogelfreiheit oft geschehen ist. Fordern wir lieber die zuständigen Stellen auf, Aufträge an Künstler zu vergeben, politische Denkbilder unserer eigenen Zeit oder Wunschbilder einer besseren Zukunft zu entwerfen. Nun, nicht jeder Künstler ist so „genial“ wie Picasso. Aber die Idee, die hinter solchen Vorstellungen steckt, sollte nicht aufgegeben werden.9

Das Guernica-Bild

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Otto Pankok und Jo Pieper Zigeunerbilder (1931–1953)

I Fast jedes Bild, auf dem Zigeuner dargestellt sind, ist ein politisches Denkbild. Schließlich wurde diese Menschengruppe, die ursprünglich aus dem nordindischen Punjab stammte und im Mittelalter – über den Vorderen Orient herkommend – in Europa eingewandert war, von der Mehrheit der dortigen alteingesessenen Bevölkerung wegen ihres nomadischen Charakters als fremdländisch, asozial, arbeitsscheu, unmoralisch, betrügerisch, wenn nicht gar kriminell veranlagt empfunden und dementsprechend verachtet, verfolgt oder umgebracht. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation sind die Zigeuner seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts urkundlich nachweisbar.1 Wie in anderen europäischen Ländern wurden sie zuerst als „exotisch“ angegafft und dann von aufgebrachten Bauern möglichst schnell wieder vertrieben, ja im Jahr 1500 auf dem Augsburger Reichstag von Kaiser Maximilian I. ausdrücklich als „rechtlos“ und damit „vogelfrei“ eingestuft. Doch auch später erging es ihnen nicht besser. Wohin die Zigeuner auch kamen, überall wurden sie weggejagt, geschlagen, ausgepeitscht und in Einzelfällen sogar aufgehängt, gerädert oder gevierteilt. Selbst ein „Humanist“ wie Sebastian Münster nannte sie 1544 in seiner Cosmographia universa – ohne die geringste Achtung vor ihrer Menschlichkeit – ein „wüst und unflätig Volk, das sonderlich gern stiehlt“, „kein Vaterland hat“, müßig im „Lande umherzieht“ und „wie ein Hund lebt“.2 Nicht einmal ein sogenannter Frühaufklärer wie Christian Thomasius ließ irgendein gutes Haar an ihnen und charakterisierte sie 1702 in einem seiner Traktate kurz und bündig als ein „betrügerisches Geschmeiß“.3 Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte in Preußen und in Österreich eine etwas „liberalere Gesetzgebung und tolerantere Grundeinstellung“ den herumziehenden Zigeunern gegenüber ein.4 Der preußische König Friedrich II. und der im Wien amtierende Kaiser Joseph II. versuchten sogar, sie „seßhaft“ zu machen und in tüchtige, arbeitssame 186 Otto Pankok und Jo Pieper

Bürger zu verwandeln, was jedoch meist scheiterte, da es die Zigeuner auch weiterhin vorzogen, sich als wandernde Musikanten, Pferdehändler, Schausteller, Zirkusunternehmer, Bärenführer, Messerschleifer, Wahrsagerinnen und Kleinhändler durchzuschlagen. Wegen dieser Lebensweise wurden sie von den Bauern bis weit ins 19. Jahrhundert als „Zieh-Gauner“ oder „Tagediebe“ beargwöhnt bzw. als „ehrlose Strolche“ vertrieben. Dagegen läßt sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb einiger bohemienhaft orientierter Künstlerkreise – wegen der Naturverbundenheit und freizügigen Lebensweise dieser herumstreuenden Bevölkerungsgruppe – eine gewisse, gegen die fortschreitende Verstädterung und Bürokratisierung opponierende „Zigeunerromantik“ beobachten.5 Ja, manchmal wurden diese beiden Schichten, die Bohemiens und die Zigeuner, sogar miteinander gleichgesetzt. So erschienen etwa Henri Murgers Scènes de la vie Bohème (1851) in Deutschland unter dem Titel Pariser Zigeunerleben. Aufgrund dieser Einstellung wurde in den folgenden Jahrzehnten – vor allem im Bereich der Musik – das Leben der Zigeuner zusehends ins Antibürgerliche romantisiert. Dafür sprechen nicht nur zeitweilig äußerst beliebte Operetten wie Der Zigeunerbaron (1885) von Johann Strauß, sondern auch die vielen Zigeunerweisen in der Violinliteratur dieses Zeitraums, die vor allem im österreichisch-ungarischen Bereich eine sinnliche Leichtlebigkeit suggerieren sollten. Doch die Realität des Zigeunerlebens sah in Deutschland selbst in diesen Jahren ganz anders aus. Die Mehrheit der Bevölkerung betrachtete diese Menschengruppe weiterhin mit vielen, bereits seit Jahrhunderten stereotyp verfestigten Vorurteilen. So hieß es etwa im Jahr 1884 in Meyers Konversationslexikon ohne jede Romantisierung: „Was den Charakter der Zigeuner anbelangt, so sind dieselben leichtsinnig, treulos, furchtsam, der Gewalt gegenüber kriechend, dabei rachsüchtig, in höchstem Grade zynisch und da, wo sie glauben, es wagen zu können, anmaßend und unverschämt. Alle sind dem Betteln ergeben, gestohlen wird besonders von Weibern und Kindern; offener Straßenraub ist fast ohne Beispiel.“6 Und auch in Pierers Konversationslexikon lesen wir 1893: „Zerstreut und unachtsam, ist der Zigeuner klug und verschmitzt, lernt aber äußerst schwer durch methodischen Unterricht. Er ist sehr begehrlich; üppig und verschwenderisch, arbeitsscheu, leichtsinnig, lügenhaft.“7 Wie eh und je wurden daher die Zigeuner vor allem von der Zigeunerbilder

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Landbevölkerung weiterhin als Asoziale und Vagabunden behandelt, ja als „Schädlinge“ bekämpft und mit Hilfe der Polizei aus ihren Ortschaften vertrieben, zumal sich ihre Zahl nach 1900 durch Kinderreichtum und Zuwanderung aus dem Balkanbereich schnell vermehrte. Ja, nach 1909 war die sogenannte Zigeunerplage sogar Anlaß zu mehreren Reichstagsdebatten, was zu einer Reihe juristischer Anweisungen zur Bekämpfung des „Zigeunerunwesens“ führte. Noch schärfer schritten in der Weimarer Republik manche der lokalen Behörden gegen die Zigeuner ein. Immer wieder setzten die maßgeblichen Stellen diese Bevölkerungsschicht mit Asozialen, wenn nicht gar Kriminellen gleich, worauf man Tausende von ihnen unter Polizeiaufsicht stellte, ihnen Fingerabdrücke abnahm und ihnen den Besitz von Waffen untersagte. Im Gefolge dieser Maßnahmen wurde im April 1926 eine „Ländervereinbarung zur gemeinsamen und gleichartigen Bekämpfung der Zigeuner im Deutschen Reich“ erlassen, um so ihr „gefährliches Herumstreunen“, wie es hieß, besser überwachen zu können. Und damit waren bereits die Grundlagen gegeben, die dann zur gnadenlosen Ausrottung der Zigeuner im Dritten Reich führten.

II Selbst in der Kunst der spätwilhelminischen Ära und dann der Weimarer Republik finden sich nur wenige Ausnahmen, in denen eine positivere Sicht der Zigeuner zum Ausdruck kommt. Wohl die bekanntesten Beispiele innerhalb der expressionistischen Malerei und Graphik sind dafür die Bilder Otto Müllers. Obwohl Müllers Mutter offenbar keine Zigeunerin war, wie man früher oft angenommen hat, sondern als arme Dienstmagd ihr Leben fristete und in einer Notsituation den kleinen Otto einer mit Gerhart Hauptmann verwandten Familie zur Adoption überlassen hatte, hat Müller selber gern mit seiner angeblichen Zigeunerabstammung kokettiert. Ivo Hauptmann, der Sohn Gerhart Hauptmanns, schrieb daher später über ihn, als Müller bereits erwachsen war, um ihn als Zigeuner zu charakterisieren: „Er war völlig ungepflegt. Seine schwarzen Haare hingen ungeordnet über sein Gesicht. Die Augen waren dunkel, schräg nach oben gerichtet die äußeren Augenwinkel.“8 Nachdem sich Müller als junger Maler der Dresdner Künstler188 Otto Pankok und Jo Pieper

gemeinschaft „Die Brücke“ angeschlossen hatte, charakterisierte ihn Erich Heckel ebenfalls als einen Mann mit einer „Mähne dichten, schwarzen Haares und auffallend braungefärbter Haut“, der wie ein zigeunerhafter „Bohemien“ aussehe.9 Wie viele Brücke-Künstler orientierte sich Müller, wohl unter dem Einfluß Ernst Ludwig Kirchners, erst an sogenannter „primitiver“ Kunst und wandte sich dann der Darstellung von Zigeunern zu, in deren „Mitte“ er sogar zeitweilig lebte.10 Und zwar spielten für ihn die Zigeuner fast die gleiche Rolle wie die „Tahitianer im Werke Gauguins“.11 Er sah in ihnen Leitbilder einer ungestillten Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, indem er sie entweder – inmitten einer paradiesisch gesehenen Natur – in ungezwungener Nacktheit darstellte oder, wie auf seiner Zigeunermadonna (1919), ins Religiöse verklärte. Besonders bekannt wurden jene Farblithographien nach Motiven dieser Art, die er 1927 in seiner Zigeunermappe zusammenfaßte. Während die Kunstsammler der Weimarer Republik wegen der malerischen Wohlgefälligkeit solcher Darstellungen von diesen Bildern keineswegs schockiert waren, zogen die Gemälde und Graphiken Müllers nach 1933 sofort den Zorn der Nazifaschisten auf sich, die sie als „fremdrassig“ empfanden und daher als „entartet“ bezeichneten. Demzufolge wurden im Laufe der dreißiger Jahre sämtliche Werke Müllers, der 1930 verstorben war, aus allen öffentlichen Sammlungen entfernt und entweder „verauktioniert“ oder vernichtet. Eine ähnlich zentrale Rolle spielten die Zigeuner im Œuvre Otto Pankoks, der sich bis weit in die fünfziger Jahre, wenn auch in wesentlich engagierterer Form, mit ihnen auseinandersetzte. Pankok hatte sich unter dem Einfluß Vincent van Goghs von Anfang an, das heißt seit den frühen zwanziger Jahren, in seinen Bildmotiven vornehmlich den Unterdrückten und Verarmten, ob nun Bettlern, Obdachlosen, Kleinbauern, Dienstboten oder abgemagerten Greisen, zugewandt und war dabei gegen Ende der zwanziger Jahre auch auf die in Deutschland lebenden Zigeuner gestoßen. Und zwar fand er seine Modelle seit 1931 vor allem unter jenen Zigeunern, die in der Nähe Düsseldorfs – im sogenannten Heinefeld – in anarchischer Freizügigkeit in einem „Zigeunerlager“ lebten, das auf ihn – in expressionistischer Tradition – wie ein „Reservat des Unbürgerlichen“ wirkte.12 Statt jedoch die Lebensweise dieser Menschen, wie Otto Müller, im Sinne eines „MärZigeunerbilder

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chens der Naturverbundenheit“ darzustellen,13 malte und zeichnete Pankok, der sich sein Atelier in einem alten Hühnerstall einrichtete, die dort lebenden Zigeuner so, wie sie sich selber sahen, nämlich als extreme Außenseiter in einer Welt der kapitalistischen Raffgier, der sie bewußt den Rücken kehrten und ihre Besitzlosigkeit zwar als bedrückende Armut, aber zugleich voller Stolz als Voraussetzung einer freiheitlichen Ungebundenheit empfanden. Im Gegensatz zu den „ewigen Spießern“ sah er in ihnen in einer Zeit der zunehmenden Versachlichung und Verknöcherung des Lebens in festgefahrenen Bahnen die „schwarzen Lieblinge der Freiheit“, die sich allen staatlichen Integrationsbemühungen mit tiefstem Mißtrauen zu widersetzen versuchten.14 Dennoch romantisierte sie Pankok keineswegs. Im Gegenteil, er nahm zugleich die Kehrseite dieser bedürfnislosen Freiheit, das heißt „die Einsamkeit, das Ausgestoßensein, die Melancholie und die abgründige Trauer“ wahr, die sich in ihren Gesichtern widerspiegelte.15 Und Pankok mußte sogar erleben, was er anfangs noch nicht ahnen konnte, wie man diese Menschen nach 1933 behandelte, als die Nazifaschisten, welche das Heinefeld in ein großes Aufmarschgelände verwandeln wollten, die Bretterbuden der dortigen Zigeuner rücksichtslos niederrissen und die in ihnen hausenden Menschen in einen „stacheldrahtumzäunten Pferch“ einsperrten.16 Doch die Wut der neuen Herren richtete sich nicht nur gegen die Zigeuner, sondern auch gegen ihn selber, der es gewagt hatte, diesem „minderwertigen Geschmeiß“, wie es die braunen Horden nannten, eine künstlerische Bildwürdigkeit zu verleihen. Daher sah sich Pankok schon bald darauf Hausdurchsuchungen ausgesetzt, ja wurde unter Polizeiaufsicht gestellt und erhielt 1936 ein ihn mit Strafen bedrohendes Arbeitsverbot. Trotzalledem ließ er sich nicht völlig unterkriegen, sondern malte und zeichnete bis in die Kriegsjahre hinein weiterhin Bilder notleidender Zigeuner und Juden, die er weitgehend bei Freunden versteckte. Besonders eindrucksvoll darunter sind seine Zigeunerbilder Kind auf dem Rock, Raklo und Ringela, Gaisa, Dinili, Speena, Herteli schimpft, Violinspieler und Strubbelkopf Ehra, die in manchem den Darstellungen ärmlicher Figuren in den Werken Ernst Barlachs aus der gleichen Zeit an künstlerischer Qualität in nichts nachstehen. Obwohl sich Barlach und Pankok nie begegneten, fühlten sie sich in ihrer antifaschistischen Gesinnung wenigstens brieflich zutiefst verbunden. Beide lit190 Otto Pankok und Jo Pieper

21 Otto Pankok: Zigeunerjunge mit Mütze (1943)

ten darunter, daß man das „Deutsche“ in der Kunst durch die Gewaltmaßnahmen der NS-Kulturpolitik auf einen oberflächlichen Heroismus und eine ebenso oberflächliche ländliche Idyllik reduziert habe, während man ihre Werke, in denen sie auch die Existenz und das Leiden der unteren Bevölkerungsschichten zu thematisieren versuchten, als „undeutsch“, wenn nicht gar „entartet“ bezeichnete, um dadurch solche Bilder nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Als daher Barlach 1938 starb, war es Pankok, der, wie Käthe Kollwitz, den eben Verstorbenen auf dessem Totenlager malte bzw. zeichnete. Daß man zum gleichen Zeitpunkt 56 seiner eigenen Werke aus öffentlichen Sammlungen entfernte und sie entweder verauktionierte oder vernichtete, traf ihn weniger. In all dem sah er sich eher bestätigt, nämlich daß er mit seiner Kunst genau das Gegenteil von dem wollte, was die Nazifaschisten den ihnen hörigen Künstlern abverlangten. Zigeunerbilder

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Obwohl Pankok von führenden NS-Kunstkritikern, darunter Friedrich Wilhelm Herzog und Wolfgang Willrich sowie dem SS-Blatt Das schwarze Korps, mehrfach öffentlich als „Kulturbolschewist“ angegriffen wurde, obwohl sein Graphikzyklus Die Passion wegen „philosemitischer“ Tendenzen sowohl bei einem Verlag in Berlin, in der Druckerei in Düsseldorf und in seiner Wohnung beschlagnahmt wurde, obwohl man einen nach diesem Zyklus gedrehten Film mit all seinen Kopien vernichtete, obwohl einige seiner Zigeunerdarstellungen auf der Münchner Ausstellung Entartete Kunst als offener Affront gegen alles Deutschbewußte angeprangert wurden,17 malte und zeichnete Pankok dennoch in der Folgezeit, so gut es eben im Geheimen ging, unverdrossen weiter. Neben dem Zyklus Jüdisches Schicksal entstanden dabei auch eine Reihe weiterer Zigeunerbilder, wie das Zigeunermädchen von 1937 sowie der Zigeunerjunge mit Mütze von 1943, in deren Gesichtszügen er den Ausdruck der Trauer, des Zorns und der Anklage zusehends verstärkte. Schließlich trat all das, was er schon 1933 befürchtet hatte, in den folgenden Jahren auf erschreckende Weise tatsächlich ein. „Wir hörten die Kinder schreien“, schrieb er später, „und die Mütter schluchzen unter den Peitschen der braunen Henker. Wir sahen, wie man auf den Straßen die Sterbenden mit Fäusten in die armen Gesichter schlug, daß sie den uniformierten Lumpen die Trottoire reinigten mit ihren letzten vergehenden Kräften. Der Mord stand über uns als ein schwarzer Koloß und nahm den ganzen Raum des Himmels ein über der Welt.“18

III Mit welcher Vehemenz die Nazifaschisten nach 1933 gegen ihre Feinde vorgingen, ist allgemein bekannt. Erst waren es die Kommunisten und andere „Volksschädlinge“, die sie unbarmherzig folterten und einsperrten, dann waren es die Juden und die Zigeuner, welche sie mit der gleichen Härte unterdrückten und schließlich „ausrotteten“. Während jedoch über die antikommunistischen und antisemitischen Gewaltmaßnahmen der SA und der SS bereits eine geradezu unübersehbare Fülle dokumentarischer Berichte vorliegt, hat sich die deutsche Publizistik und wissenschaftliche Forschung nach 1945 über die antiziganistischen Terrormaßnahmen der gleichen NS-Organisationen lange Zeit ausge192 Otto Pankok und Jo Pieper

schwiegen und ist erst in jüngster Zeit etwas genauer darauf eingegangen.19 Auf seine realgeschichtlichen bzw. ideologiegeschichtlichen Ursachen befragt, hatte diese Nichtbeachtung mehrere Gründe. Erstens haben von den rund 24 000 Zigeunern, die 1933 in Deutschland lebten, nur wenige die gnadenlose Liquidierung durch die Nazifaschisten überlebt. Zweitens besaßen diese wenigen Überlebenden – im Unterschied zu den Kommunisten und den Juden – keine schriftliche Bildung und konnten daher die deutsche Öffentlichkeit nicht durch Selbstbiographien oder andere Dokumente auf ihr grausiges Schicksal während des Dritten Reichs aufmerksam machen. Und drittens blieben auch in der Nachkriegszeit viele der älteren antiziganistischen Vorurteile weiterhin virulent und verhinderten dadurch, daß diesen Menschen im Zuge der oft beschworenen „Vergangenheitsbewältigung“ die gleiche Anteilnahme wie den anderen Opfern des Nazifaschismus entgegengebracht wurde. Deshalb wissen wir erst seit den neunziger Jahren etwas genauer, wie gnadenlos die NS-Einsatzgruppen mit den deutschen Zigeunern und dann – nach Beginn des Zweiten Weltkriegs – mit den auf dem Balkan und in Osteuropa lebenden Zigeunern umgesprungen sind. Die SS hatte sich mit ihnen schon seit 1931 befaßt und sie als rassisch minderwertige „Untermenschen“ hingestellt. Aufgrund dieser Sehweise wurden auf ihr Geheiß nach der im November 1937 in Berlin erfolgten Gründung einer Rassenhygienischen Forschungsstelle unter der Leitung von Robert Ritter 24 000 genealogische Gutachten über alle in Deutschland lebenden Zigeuner oder Zigeunermischlinge angefertigt, um den antiziganistischen Ausschaltungsmaßnahmen einen „wissenschaftlich fundierten“ Anstrich zu geben.20 Nachdem die NS-Behörden die Zigeuner nach 1933 und dann verstärkt nach 1936 systematisch „zusammengehordet“ und schließlich in mit Stacheldraht umzäunte „Zigeunerlager“ überführt und sterilisiert hatten, diente diese Gutachtertätigkeit – meist unter dem Vorwand „vorbeugender Verbrechensbekämpfung“ – weitgehend als die entscheidende Grundlage für die darauffolgenden Deportationen in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald, Mauthausen, Neuengamme, Sachsenhausen und Ravensbrück.21 Ab Oktober 1939 wurden auch die bisher noch nicht inhaftierten Zigeuner in Sammellagern eingesperrt und kurz darauf ins Generalgouvernement abgeschoben, wo sie, wie in Lodz oder inzwiZigeunerbilder

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schen errichteten Konzentrationslagern, die niedrigsten Arbeiten übernehmen mußten. Seit dem Sommer 1941, also nach dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion, wurden zudem von den erwähnten Einsatzgruppen allein in Südrußland über 100 000 von ihnen durch Massenerschießungen umgebracht.22 Ähnlich erging es einer Unzahl rumänischer und ungarischer Zigeuner, aber auch Zigeunern aus Holland, Belgien, Frankreich und Norwegen. Auch sie wurden nach Lodz deportiert oder im Konzentrationslager Chelmno vergast. Anfang 1943 befahl Heinrich Himmler, sämtliche noch nicht inhaftierten Zigeuner im Gebiet des Dritten Reichs sowie in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten nach Auschwitz-Birkenau zu überführen.23 Fast alle der in das dortige Konzentrationslager abtransportierten Zigeuner starben in den folgenden zwei Jahren an Unterernährung, Seuchen, Mißhandlungen sowie sogenannten medizinischen Humanversuchen oder wurden kurzerhand ins Gas geschickt. Nach vorliegenden Schätzungen fielen etwa 500 000, darunter rund 25 000 aus Deutschland und Österreich stammende Zigeuner, diesen rassistischen Ausrottungsmaßnahmen zum Opfer. Als Rechtfertigung dieser Verfahrensweise wurden sie von ideologisch überfanatisierten Nazifaschisten – nach den Juden – immer wieder als die „zweitwichtigste fremdrassige Gruppe in Deutschland“ hingestellt.24 Doch nicht nur ihre angebliche „Blutsfremdheit“ wurde ihnen angelastet. Ebenso oft stößt man in den Schriften der für diese Liquidierungspolitik verantwortlichen Rassenbiologen auf all jene älteren Vorurteile den Zigeunern gegenüber, mit welchen man sie schon seit Jahrhunderten ausgegrenzt hatte. Immer wieder hieß es, sie seien im Prinzip asozial, arbeitsscheu, betrügerisch, kulturlos, hemmungslos triebhaft, wurzellos, kriminell veranlagt, nomadisch und zudem durch ständige Inzucht erblich belastet, das heißt ließen sich nicht in den deutschen Volkskörper einzugliedern. Und das kam in den Augen all jener, die solche Thesen aufstellten, letztlich einem Todesurteil gleich.

IV Trotz dieser geradezu unfaßbaren Terrormaßnahmen, denen etwa 70 Prozent aller in Zentral- und Osteuropa lebenden Zigeuner zum Opfer 194 Otto Pankok und Jo Pieper

fielen, kam es während des Dritten Reichs fast nirgends, nicht einmal in den Werken der literarischen Inneren Emigration zu irgendwelchen versteckten Sympathieerklärungen für diese unbarmherzig zu Tode gehetzten Menschen. Im Gegensatz zu den Kommunisten, den Juden oder auch den aus religiösen Gründen Verfolgten, wie den Mitgliedern der Bekennenden Kirche und den Ernsten Bibelforschern, die durchaus mit vereinzelten Freunden rechnen konnten, nahm sich niemand der eingesperrten und schließlich ermordeten Zigeuner an. Und zwar hing das mit ganz realen Gründen zusammen. Wie wir wissen, hatten die Zigeuner einerseits fast ausschließlich unter sich gelebt und waren als umherziehende Wandersippen von der einheimischen Bevölkerung weitgehend gemieden worden. Anderseits wirkten ihnen gegenüber, wie gesagt, noch immer all jene Vorurteile weiter, denen sie schon vor der Herrschaft der Nazifaschisten ausgesetzt waren. Demzufolge waren die Zigeuner nach 1933 weitgehend auf sich selbst gestellt. Für sie gab es keine kommunistischen Genossen, die ihnen bei der Flucht über die Grenze geholfen hätten, wie das Anna Seghers in ihrem Roman Das siebte Kreuz (1941) darstellte. Für sie gab es keine Christen, die sich wie Ernst Wiechert für den verhafteten Martin Niemöller einsetzten. Für sie gab es keine rechtsstaatlich denkenden Deutschen, die ihre jüdischen Freunde nach 1942 in ihren Wohnungen versteckten. Die Zigeuner waren und blieben Außenseiter, denen niemand half und die sich daher den Nazischergen ohne irgendwelche Solidaritätsbekundungen von Seiten der deutschen Bevölkerung wie Schlachttiere hilflos ausgeliefert sahen. Um so mehr sind jene Künstler zu bewundern, die wenigstens in ihren Werken das Bild dieser Menschen für die Nachwelt zu bewahren versuchten. Allerdings waren es so wenige, daß diese selbst nach 1945 kaum wahrgenommen wurden. Allein Otto Pankok gelang es, mit einigen seiner Zigeuner-Holzschnitte und -Lithographien eine breitere Öffentlichkeit, wenn auch nur für wenige Jahre, auf das Schicksal dieser Menschengruppe hinzuweisen. Und da es so wenige derart mitfühlende Künstler gab, soll im Folgenden wenigstens auch jener Jo Pieper erwähnt werden, der es – wahrscheinlich unter dem Einfluß Pankoks – wagte, gegen Ende des Dritten Reichs auch die Zigeuner in seine Bildmotive aufzunehmen und der auch nach Kriegsende weiterhin Zigeunerbilder malte. Im Gegensatz zu dem weitaus berühmteren Pankok, Zigeunerbilder

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für den bereits 1961 wegen seines „gesellschaftskritischen Realismus“ Otto Nagel in Ostberlin eine große Ausstellung arrangierte und für den Günter Grass 1997 zu Ehren seines ehemaligen Lehrers eine Otto-Pankok-Stiftung gründete, wissen wir über sein Leben und Werk herzlich wenig. Er wurde 1893 in Recklinghausen geboren und versuchte, sich in den zwanziger Jahren als junger Maler sowohl mit Porträts als auch mit Landschaften und Genreszenen im Stil einer plakathaft vereinfachten Neuen Sachlichkeit durchzusetzen. Um 1930 gehörte er mit Otto Dix und Gert Wollheim zu einem Kreis junger rheinischer Maler, der sich häufig in der bekannten Düsseldorfer Künstlerkneipe von Johanna Ey traf, deren Porträt er 1931 malte. In den dreißiger Jahren war er mit dem Bielefelder KP-Mitglied Paul Jagenburg befreundet, der nach einer sogenannten Schutzhaft gegen Emde 1934 wieder aus dem Gefängnis kam und dann einige „freie“ Jahre erlebte, bevor er zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert wurde. Um 1935 malte Pieper sogar ein Bild von Jagenburgs Frau Grete und vermachte ihm zugleich einige seiner anderen Bilder. Eins dieser Bilder, das wahrscheinlich 1938 entstand, stellt in Aquarellfarben ein junges Zigeunerpaar dar, das nicht gerade glücklich in die Zukunft blickt. Dennoch versuchte Pieper diesen beiden Menschen einen würdevollen Ausdruck zu verleihen. Statt wie Pankok zur gleichen Zeit vor allem das Gehetzte oder Zornig-Aufbegehrende dieser Menschengruppe darzustellen, ging es ihm – der seine Bilder stets mit „Jo Pieper“ unterzeichnete, um nicht mit einem anderen Maler namens Josef Pieper verwechselt zu werden – eher darum, die innere Gefaßtheit dieser beiden Menschen herauszukehren.25 Auch dieses Bild ist daher vor dem Hintergrund der dreißiger Jahre ein politisches Denkbild, indem es gerade die von den Nazifaschisten gehaßten und von vielen anderen Deutschen gemiedenen Zigeuner durch ihren ernsten Gesichtsausdruck, ihre liebevoll wiedergegebene Kostümierung und die lebhafte Farbigkeit des Ganzen zu einem Gegenbild jener rassistischen Borniertheit macht, der diese Bevölkerungsschicht seit eh und je ausgesetzt war und die im Dritten Reich lediglich ihre letzte, tödliche Auswirkung erfuhr. Und es spricht auch für Pieper, daß er sich 1945 sofort der antifaschistisch orientierten westfälischen Sezession anschloß.26 1946 verhalf ihm der ähnlich eingestellte Paul Jagenburg zur ersten Ausstellung seiner 196 Otto Pankok und Jo Pieper

22 Jo Pieper: Zwei junge Zigeuner (um 1938), Privatbesitz

Werke in Bielefeld. Auch in den folgenden Jahren malte Pieper weiterhin positive Zigeunerbilder, auf denen diese Menschen mit ihren Kappen und Kopftüchern sowie ein paar Töpfen und Krügen vor ihren bescheidenen Wanderwägelchen sitzen. Ja, eins dieser Zigeunerbilder ist sogar noch heute als Kunstdruck über die AllPoster-Gesellschaft zu beziehen. Später stieg Pieper zum Vorstand und zum Jurymitglied des Rheinländischen Künstlerbundes auf und wirkte zugleich als Dozent an der Folkwangschule. 1971 starb er in Essen.

V Was es in diesem Zusammenhang noch kurz darzustellen gilt, ist lediglich das beschämende Weiterwirken des Antiziganismus in der Zeit nach 1945, vor dem sich die Bilder von Otto Pankok und Jo Pieper um so eindrucksvoller abheben. Wie allgemein bekannt, machte nach der Zigeunerbilder

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Einstellung der Spruchkammerverfahren die sogenannte Vergangenheitsbewältigung, vor allem in der ehemaligen Bundesrepublik, bis weit in die fünfziger Jahre kaum Fortschritte. Während viele der früheren Nazifaschisten nach einer gewissen Karenzzeit wieder angesehene Positionen in der westdeutschen Gesellschaft einnehmen konnten, erfuhren die meisten Überlebenden der NS-Konzentrationslager keine nennenswerte Unterstützung. Nachdem man sie 1945/46 erst einmal als die „Helden der ersten Stunde“ gefeiert hatte, wurden sie dadurch im Zuge des Kalten Krieges und des schnell einsetzenden „Wirtschaftswunders“ erneut zu gesellschaftlichen Randexistenzen. Während ehemalige deutsche Juden sowie religiös Verfolgte noch am ehesten mit Wiedergutmachungsleistungen rechnen konnten, wagten andere Gruppen, wie die Kommunisten oder Homosexuellen, von denen viele ebenfalls in Konzentrationslagern waren, wegen der neu einsetzenden Diffamierung dieser Menschengruppen kaum noch, von ihrer Inhaftierung im Dritten Reich zu sprechen. Ja, die wenigen Zigeuner, die in Auschwitz-Birkenau oder anderen Konzentrationslagern gegen Ende des Krieges befreit wurden, stellten nur in den seltensten Fällen irgendwelche Restitutionsanträge, um nicht auf sich aufmerksam zu machen, und versuchten so unbemerkt wie nur möglich in der deutschen Bevölkerung unterzutauchen. Doch damit hörte ihre prekäre Lage keineswegs auf. Durch den Zuzug anderer Zigeuner aus mehreren europäischen Staaten, wo sie ebenfalls nicht gern gesehen wurden, kam es in der BRD während der fünfziger und sechziger Jahre wieder zu neuentfachten Vorurteilen gegen das „betrügerische Unwesen der Zigeuner“, die zwar nicht mehr die gleiche tödliche Konsequenz wie im Dritten Reich hatten, aber dennoch eine fatale Kontinuität aufwiesen.27 So wurden etwa gegen Robert Ritter, Eva Justin, Sophie Ehrhardt und Ottmar von Verschuer, welche den Nazifaschisten vor 1945 durch ihre rassenbiologischen Forschungen die ideologischen Grundlagen für die Zigeunerausrottung geliefert hatten, keinerlei gerichtliche Verfahren eingeleitet. Im Gegenteil, alle vier konnten nach 1945 als Ärzte oder Professoren weiterhin tätig sein.28 Eine ähnliche Kontinuität läßt sich unter den Regierungsbeamten feststellen. Dafür spricht, daß in den fünfziger Jahren ausgerechnet jener Josef Eichberger, der an vielen Zigeunerdeportationen während des Dritten Reichs beteiligt war, wegen seiner „besonderen Kenntnis 198 Otto Pankok und Jo Pieper

auf diesem Gebiet“ zum Leiter der „Zigeuner“-Abteilung der Bayerischen Staatspolizei berufen wurde.29 Doch nicht nur das. Mehrere Bundesländer richteten zudem sogenannte Landfahrerzentralen ein, deren Hauptaufgabe nach wie vor die „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ war.30 Wie eh und je wurde in den Polizeiakten dieser Zeit mehrfach darauf hingewiesen, daß „zigeunerische Personen“, weil sie zumeist auf der „sehr niedrigen Stufe eines primitiven nomadisierenden Naturvolks“ stehengeblieben seien, weitgehend „kriminell und asozial“ seien und daher „oft mit dem Gesetz in Kontakt“ geräten.31 Deshalb sahen sich viele Zigeuner nach wie vor allen erdenklichen polizeilichen Schikanen ausgesetzt. Wer als Angehöriger dieser Bevölkerungsgruppe auf eine „bürgerliche Seßhaftigkeit“ verzichtete und als Vertreter eines „fahrenden Volks“ auftrat, mußte selbst jetzt noch damit rechnen, abgeschoben oder eingesperrt zu werden. Und fast niemand trat für sie ein. Wieder war es in den frühen fünfziger Jahren vor allem Otto Pankok, der gegen „die Feindschaft kommunaler Behörden und die schlechten Wohnverhältnisse“ protestierte, mit denen sich beispielsweise die letzten überlebenden Zigeuner in dem Zigeunerlager Höherweg bei Düsseldorf abfinden mußten.32 Er schrieb dazu 1952 unter dem Titel Die Zigeuner im heutigen Deutschland: „So wies man ihnen in meiner Stadt dieselben mit dichtem Stacheldraht umzogenen Lagerbaracken als Unterkunft zu, in denen sie unter den Nazis eingeschlossen waren. Hier lebt noch ein großer Teil heute in Schmutz und in primitiven Verhältnissen. Was Hitler bei den Zigeunern nicht gelungen war, sie auszurotten, geschieht heute langsam aber stetig durch die neue, und wie man sich einbildet, zivilisiertere Epoche.“33 Und bei diesen Zuständen sollte es noch lange Zeit bleiben. Ja, die Zigeunerfeindlichkeit verschärfte sich sogar noch, als nach der sogenannten Wende von 1989 wegen der widrigen Zustände in einigen Balkanstaaten viele Zigeuner Zuflucht in der neuen Bundesrepublik suchten. Seit dieser Zeit sind „Diskriminierung, Gewalt und Verlust von Rechten wieder zu alltäglichen Phänomenen geworden“, erklärten jene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen,34 die seit 1990 für diese Menschengruppe eintraten und darauf drangen, im Hinblick auf sie nicht weiter die verächtliche Bezeichnung „Zigeuner“ zu gebrauchen, sondern sie in einem ethnisch-neutralen Sinne als Sinti und Roma zu bezeichnen. Unter liberal eingestellten Intellektuellen läßt sich daher in Zigeunerbilder

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den folgenden Jahren eine zunehmende Sympathie für diese Bevölkerungsschicht beobachten. Und auch an Publikationen gegen den Antiziganismus fehlt es keineswegs.35 Doch mit wohlmeinenden Schriften allein lassen sich festgefahrene Vorurteile gegen „Fremdes“ nicht abbauen. So sind zwar – nach den entsprechenden Meinungsumfragen – Franzosen, Österreicher und US-Amerikaner in der BRD relativ gern gesehen, während die Mehrheit der deutschen Bevölkerung Polen, Türken und vor allem den Sinti und Roma, deren Zahl inzwischen auf 100 000 angewachsen ist, noch immer ein beträchtliches Mißtrauen entgegenbringt.36 Inwieweit diese Ausländerfeindlichkeit weiterhin bestehen oder sogar noch zunehmen wird, läßt sich nicht vorhersehen. Das hängt weitgehend von der Verbesserung oder Verschlimmerung der wirtschaftlichen Verhältnisse ab. Eine tiefgehende ökonomische Krise könnte auch für die Roma und Sinti erneut gefährlich werden, wie es die Weltwirtschaftskrise nach 1929 und die davon profitierenden Nazifaschisten nur allzu deutlich bewiesen haben.

200 Otto Pankok und Jo Pieper

Fidus: Das Haupt des Führers (1941)

I Die Werke des Malers und Graphikers Fidus, der mit bürgerlichem Namen Hugo Höppener hieß, sind heutzutage nur noch wenigen kunstinteressierten Menschen vertraut. Sonst kennt sie fast niemand mehr. Und wer einmal durch Zufall auf sie stößt, lehnt sie meist als „kitschig“ ab. Doch eine solche Charakterisierung sagt über ihre historische Bedeutsamkeit wenig aus. Schließlich sollten wir uns für ältere Kunstwerke nicht nur aus formalästhetischen Gründen interessieren, sondern auch ihre politische und gesellschaftliche Bedeutsamkeit ins Auge fassen. Und für eine solche Betrachtungsweise bieten sich die Werke von Fidus auf eine geradezu penetrante Weise an. Schließlich war er in seinen Anfängen, das heißt zwischen 1895 und 1914, einer der bekanntesten deutschen Künstler, der vor allem durch seine Graphiken, Buchillustrationen und Postkarten relativ schnell zu einem der wirkungsmächtigsten Vertreter jener Lebensreform- und Wandervogelbewegung aufstieg, die in weiten Kreisen der bürgerlichen Jugend eine begeisterte Anhängerschaft fand. Doch mit dem Abflauen dieser Bewegungen in den zwanziger Jahren verblaßte der rasch errungene Ruhm dieses Künstlers wieder. Daß er sich in diesem Zeitraum den Vertretern des Präfaschismus anschloß und 1932 sogar in die NSDAP eintrat, nahm damals außer einer kleinen Clique aus alten Tagen fast niemand mehr wahr. Ja, daß Fidus nach 1933 alles versuchte, sich bei den Größen dieser Partei anzubiedern, von denen ihnen die meisten wegen seiner theosophisch-nudistischen Anfänge als reichlich „verschroben“ ablehnten, blieb ebenso unbeachtet. Selbst als er 1941 dem von ihm zutiefst verehrten Adolf Hitler sein gerade vollendetes Bild Das Haupt des Führers zuschickte, winkte dieser indigniert ab und verbot ihm sogar, davon Postkarten herzustellen. Wahrscheinlich fand Hitler dieses Bild in seiner halbwegs grotesken Stilisierung nicht „heroisierend“ und damit für den wahren Geist seiner weltgeschichtlichen Mission nicht repräsentativ genug. Der hinter ihm Das Haupt des Führers

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aufschwebende Adler wird ihm möglicherweise gefallen haben, aber nicht die verkrampft zusammengeballte Faust und der fast ans Wahnwitzige grenzende Blick seiner Augen. Doch gerade durch diese Übersteigerungen ist dieses Bild zu einem der aufschlußreichsten politischen Denkbilder der NS-Ära geworden, da sich mit ihm belegen läßt, wie groß die Anziehungskraft der Hitler-Bewegung war und wie sie gerade idealistisch-schwärmerische Naturen, wie Fidus, die nie über die realen Konsequenzen ihrer utopistischen Hoffnungen nachdachten, in ihren Bann zu ziehen verstand.

II Und dabei hatte diesem Mann in seinen Anfängen nichts ferner gelegen als die Politik. Auf seinen frühen Bildern sieht man fast ausschließlich idealgesinnte Gestalten in magisch verzauberten Hainen oder kostbar verzierten Weiheräumen, die sich fest an den Händen halten und zugleich traumverloren ins Unendliche starren. Und zwar immer so nackt wie möglich, scheinbar entschwült und doch zutiefst erotisch, mit weit aufgerissenen, telepathisch vergeistigten Augen und jugendlichen Edelleibern, auf denen selbst das kleinste Schamhärchen verzeichnet ist. Sinnlich-Übersinnliches verbindet sich hier zu jenen textilscheuen Höhenmenschen, die so typisch für das vom Jugendstil inspirierte „Lebenspathos“ sind. Im Gegensatz zu Malern wie Gustav Klimt, Ferdinand Hodler und Ludwig von Hofmann stieg dabei der „Volkserzieher“ Fidus bewußt ins Populäre ab. Seine Kunst war nicht für die Salons und Galerien, sondern für jene muffigen Bürgerstuben gedacht, wo die Postkarte eines nackten Mädchens den ganzen Frühling ersetzen mußte. Für diese ans Licht drängenden Schichten mit ihren verklemmten Seelen und unklaren Gefühlen war Fidus der Maler einer sehnsüchtigen Hoffnung nach dem Schönen, Edlen und Reinen, das sich bei ihm in traumhaft nackter Form offenbarte. Hier erschien ihnen bisher Verbotenes endlich in erlaubter Form, als „Kunst“, und sie gaben sich der Wirkung dieser halb ästhetischen, halb psychologischen Verführung geradezu blindlings hin. Die ersten Anregungen zu dieser Gesinnung und zugleich künstlerischen Darstellungsweise empfing der junge Fidus 1892 von dem Natur202 Fidus

apostel Karl Wilhelm Diefenbach, der im Isartal eine vegetarisch lebende Landkommune gegründet hatte, wo er einer Gruppe von Sonnenanbetern das Zeichnen beizubringen versuchte.1 Nach der Bekanntschaft mit diesem sonderbaren Heiligen wurde auch Fidus zum totalen Drop-out, ließ sich eine lange Hippie-Mähne wachsen und verschrieb sich voller Begeisterung dem Vegetarismus, der Lichtgläubigkeit, der naturgemäßen Lebensweise, dem Nudismus, ja geradezu allen Diefenbachschen Vorstellungen. Doch ebenso bedeutsam wurde für ihn kurz darauf die Bekanntschaft mit Wilhelm Hübbe-Schleiden, dem Führer der deutschen theosophischen Bewegung, der die Zeitschrift Die Sphinx herausgab, in der er sich ebenfalls für den Vegetarismus und zugleich einen allgemeinen Weltfrieden einsetzte. Unter seinem Einfluß begann sich Fidus immer stärker mit eidetischen Mental-Phantasmagorien zu beschäftigen, die sich jeder rationalen Interpretation entziehen und sich direkt an den „Lichtgeist“ theosophisch erleuchteter Betrachter wenden sollten, von denen er sich, wie Hübbe-Schleiden, eine Regeneration der gesamten Menschheit erhoffte. Als ihn darauf sein theosophischer Mentor als Illustrator der Sphinx mit nach Berlin nahm, schloß sich Fidus dort sofort einem Kreis junger Künstler und Intellektueller an, der sich ähnlichen Ideen hingab und zu dem vor allem Franz Evers, Melchior Lechter und Willy Pastor gehörten. Da es ihn jedoch mehr ins Ländliche zog, knüpfte er zugleich enge Beziehungen mit dem Friedrichshagener Dichterkreis an, der sich im Osten Berlins in der märkischen Kiefernheide angesiedelt hatte und zu dessen Mitgliedern vor allem Wilhelm Bölsche, Heinrich und Julius Hart, Gustav Landauer, Wilhelm Spohr und Bruno Wille zählten. Bei seinen dort entworfenen Gemälden und Zeichnungen handelt es sich thematisch zumeist um dekorativ verästelte Kiefernwälder, die er mit märchenhaften Naturwesen und kindlichen Nackedeis bevölkerte. Allenthalben hüpft man hier „mit Sonne im Herzen“ auf immergrünen Wiesen herum, rekelt sich wohlig im sonnenwarmen Gras oder bläst auf einer Pansflöte. Durch diese Darstellungen wurde vor allem die Münchner Zeitschrift Die Jugend auf ihn aufmerksam, für die Fidus 1896 und 1897 je 15 Zeichnungen anfertigte, die ihn in weiteren Kreisen bekannt machten. Doch dieser Zeitschriftenruhm allein genügte ihm nicht. Wie Diefenbach und Hübbe-Schleiden wollte er unmittelbar ins Leben eingreiDas Haupt des Führers

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fen und seine Ideen auch in die Tat umsetzen. Er beteiligte sich daher in den späten neunziger Jahren an fast allen damaligen Reformbewegungen, darunter dem pantheistisch orientierten Giordano Bruno-Bund und der von den Brüdern Hart gegründeten Neuen Gemeinschaft, die von seinen Friedrichshagener Freunden unternommen wurden. Wie viele anspruchsvolle Idealisten dieser Jahre schloß er sich dabei als künftiger Volkserzieher zusehends jener Richtung der „Fortschrittlichen Reaktion“ an,2 die sich aus dem „materialistischen Sumpf “ des späten 19. Jahrhunderts wieder zu einem idealistisch beseelten Höhenreich aufzuschwingen versuchte. Im Sinne dieser Bestrebungen bemühte sich auch Fidus fortan um eine neue Einheit von Leben und Kunst, einen neuen Stil, eine neue Religion, ein neues Volksgefühl an, um dem in grauer Alltäglichkeit versinkenden bürgerlichen Leben wieder einen Zug ins Schöne, Erhabene und Verinnerlichte zu geben. Was ihm dabei im Gefolge der allgemeinen Lebensreformbewegung besonders am Herzen lag, waren weiterhin der Vegetarismus und die Nacktkultur, aber auch die Tabak- und Alkoholabstinenz sowie eine durchgreifende Sexualreform. Aus diesem Grunde schloß er sich 1904 vorübergehend einer von dem Schweizer Josua Klein gegründeten Spiritistenkommune am Walensee bei Zürich an, wo man sich theosophischen Seancen und einer Art erotischer „Dauerkose“ hingab. Als sich diese Kommune wieder auflöste, gründete Fidus im Jahr 1912 in Woltersdorf bei Friedrichshagen seinen St. Georgs-Bund, um selber in den Rang eines Gurus aufsteigen zu können und seine allmählich wachsende Anhängerschaft mit lebensreformerischen Flugschriften, Büchern, Druckmappen und Postkarten zu versorgen, was er als einen Kampf gegen den „Drachen des Materialismus“ empfand. Doch um dabei nicht ins sektiererische Abseits zu geraten, knüpfte er zum gleichen Zeitpunkt enge Beziehungen zur Wandervogel-Bewegung an, die einen wesentlich breiteren Wirkungskreis hatte und ebenfalls eine „neue Ehrlichkeit“ unter den Geschlechtern herbeizuführen versuchte, ja wie Fidus die in „Luft und Licht gebräunte und turnerisch gestählte Nacktheit“ als die höchste „unserer deutschen Tugenden“ hinstellte.3 Als sich daher die Freideutsche Jugend am 11. und 12. Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner traf, um die hundertjährige Wiederkehr der sogenannten Befreiungskriege zu feiern, ließ Fidus an alle Tagungsteilnehmer sein Widmungsblatt Hohe Wacht verteilen, 204 Fidus

auf dem eine Phalanx schwertumgürteter, nackter Jünglinge zu sehen ist, die sich zu einem heroisch gesinnten Schutz- und Trutzbündnis zusammenschließen. Durch alle diese Aktivitäten blieb Fidus auch in diesen Jahren relativ bekannt, obwohl er auf seine illustrative Tätigkeit im Sinne der Lebensreform-Bewegung allmählich verzichtete und sich dafür zusehends auf ein bildnerisches „Großschaffen“ konzentrierte. Manche seiner bisherigen Anhänger, die ihn vor allem als Diefenbach-Fidus schätzten, waren von dieser Wendung ins Feierlich-Erhabene etwas enttäuscht. Doch je verblasener ihn diese Gruppen fanden, umso mehr lernten ihn jetzt die Anhänger der Völkischen Opposition und der Freideutschen Jugend schätzen. Als daher im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, stand Fidus, der bisher Unpolitische, bereits mitten in der nationalkonservativen Bewegung. Das soll nicht heißen, daß er in den allgemeinen Hurrapatriotismus einstimmte. Als weltfremder Idealist sah Fidus in diesem Krieg keinen Kampf der Mitrailleusen und Kanonen, sondern eine riesige Waberlohe, in der sich das deutsche Wesen endlich zu seiner angestammten Lichtgestalt verklären würde. Statt realistische Kriegsszenen zu malen, faßte er deshalb eine rein deutsche, das heißt artgemäß-heroische Kunst ins Auge. So entwarf er schon in den ersten Kriegswochen ein Monumentalporträt, das er schlichtweg Germania nannte. Darauf konzipierte er 1915 mehrere Bilder eines zürnenden oder warnenden Michael, die er als hochgemute Streiter gegen die materialistischen Geldsäcke mit völkischen Hakenkreuzsymbolen versah. Ja, noch 1917/18 arbeitete er an einem streng blickenden Fridericus Rex und einem rolandhaften Bismarck, in denen er die wichtigsten Symbolfiguren des preußischen Heroismus sah. Bei einer so hochgespannten Erwartung muß der Ausgang des Ersten Weltkriegs für Fidus wahrhaft niederschmetternd gewesen sein. Er saß daher für einige Jahre recht vereinsamt und verbittert zwischen seinen unverkäuflichen, heroisch gemeinten Großwerken herum, vertrieb weiterhin seine Postkarten und ließ seine Anhänger mit Lichtbildervorträgen durch die Lande reisen, um nicht völlig vergessen zu werden. Von dem alten St. Georgs-Bund blieb nach 1918 nicht viel übrig. Dennoch behielt Fidus den Verlag dieses Bundes bei, da er sonst überhaupt keine Verbreitungsmöglichkeiten für seine Kunst mehr gehabt hätte. Wie bei vielen idealistisch gesinnten Sektierern schlug dieses Gefühl des VerDas Haupt des Führers

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kanntseins auch bei ihm im Laufe der zwanziger Jahre in einen geradezu lächerlichen Größenwahn um. Daß man ihn kaum mehr beachtete, legte er weitgehend als eine sorgfältig geplante Totschweigetaktik aus, die er als den besten Beweis für die Wichtigkeit seiner „Sendung“ empfand.4 Und einige seiner alten Freunde unterstützten Fidus in dieser Haltung. So stellte ihn etwa Bruno Wille 1925 in der Schönheit als universalen Künstler und Lebensreformer unmittelbar neben Michelangelo, Goethe und Beethoven.5 Arno Rentsch nannte Fidus in der gleichen Zeitschrift einen „Einsamen“, dessen Bilder nur „Ungewöhnliches, Tiefes, nicht für die Gasse Gemeintes“ enthielten.6 Magnus Weidemann erhob ihn in der Freude zu einer der wichtigsten Führergestalten der Gegenwart, in der sich „echtes deutschrassiges Edeltum“ und „kühnes Siegfriedsleuchten gegen fremde Tücke, Gier, Verstellung und Ichsucht“ manifestiere.7 Ähnliche Beweihräucherungen finden sich in den FidusSonderheften der Schönheit (1919/20), Die Jüngsten (1920/21), Junge Menschen (1921) und Bergfeuer (1929). Sowohl die offizielle als auch die offiziöse Kunstkritik, die erst unter expressionistischem und dann unter neusachlichem Vorzeichen stand, schwieg sich dagegen weitgehend über ihn aus. Die Schuld an diesem tödlichen Schweigen gab Fidus, wie so viele Gegner der sich allmählich demokratisierenden Weimarer Republik, vor allem den „vaterlandsvergessenen“ Sozis und Juden, denen er mit der von allen „völkisch“ Gesinnten unterstützten Dolchstoß-Parole entgegentrat. Seine Schriften dieser Jahre sind dementsprechend voller Ausfälle gegen die proletarisch-jüdische Kunstdiktatur, den expressionistisch-dadaistischen Pazifismus und die zynische Kälte der Neuen Sachlichkeit. Um sich all dem entgegenzustellen, betonte er auch auf seinen Bildern immer stärker das spezifisch Deutsche, wenn nicht gar „Arische“. Als typischer Schrumpfgermane, der selbst nur von mittelgroßer Statur war und obendrein viel kränkelte, schwärmte er in steigendem Maße für alles Blonde, Helle, Blauäugige, Gesunde, Strahlende, Athletische, Lichtvolle und Hochgewachsene, in denen sich das artgemäß Deutsche am reinsten verkörpere. Konfrontiert mit der Tatsache, daß seine frühere „Gemeinde“, die noch immer diefenbachisch-theosophischen oder anthroposophischen Idealen anhing, mit den Jahren immer kleiner wurde, spielte er sich jetzt gern als spezifisch „nordischer“ Mensch auf, prahlte mit seinen vier Nordlandreisen und betonte, daß er 206 Fidus

nie in Rom oder Paris, diesen „welschen“ Städten, gewesen sei. Um diese Gesinnung auch nach außen hin zu bekunden, trat er schon 1929 dem von Alfred Rosenberg gegründeten Kampfbund für deutsche Kultur bei, schwärmte zugleich öffentlich für Erich Ludendorff, den die Nazifaschisten 1925 bei der Wahl zum neuen Reichspräsidenten als ihren Kandidaten aufgestellt hatten, und wurde am 1. Mai 1932 Mitglied der „Hitler-Partei“. Allerdings stimmte Fidus nicht in allen Punkten mit den ideologischen Vorstellungen der NSDAP überein. So hat er trotz seiner antisemitischen Einstellung und seines Germanenkults den Blutsfimmel der NS-Bewegung nie recht teilen können. Eine rein biologische Determiniertheit war ihm als früheren Theosophen einfach zu „materialistisch“. Als „Künstler alles Lichtbaren“, wie er sich in Berufsangaben gern bezeichnete, legte er den Hauptakzent seines Denkens stets auf das Geistige, das Charismatische, die Aura oder das Götterelektron, wie es Jörg Lanz von Liebensfels genannt hatte, das sich nur mystisch verstehen lasse. Jakob Feldner schrieb daher 1928 anläßlich der ersten Gesamtausstellung der Fidusschen Werke in Berlin in aller Offenheit: „Völkischen oder gar Rassefanatikern behagte er nicht, weil er das Volk als geistige Einheit, höchstens als werdende Rasse (aber nicht als blutsmäßige Schicksalsgemeinschaft) auffaßte.“8 Und auch Fidus selber polemisierte in seiner Flugschrift Zum Rassen- und Klassenstreit (1925) sowie dem Manuskript Den Rasse-Raßlern (1928) mehrfach gegen die falsche Utopie der „Reinrassigkeit“. Wie schon Heinrich Driesmans in seinen Wahlverwandtschaften der deutschen Blutsmischung (1901) sah er in den Deutschen eher ein Mischvolk, dessen Bestes nicht in seinem Blut, sondern in seiner Geistesrichtung zum Durchbruch komme. Und so konnte er, wie schon Houston Stewart Chamberlain, selbst Jesus in aller Naivität als einen „arischen Helden“ bezeichnen, der sich rein dem „Geiste“ verschrieben habe.9 Nicht die „Blaublondheit“ sei das Entscheidende, betonte er immer wieder, sondern jene „christgermanische“ Innerlichkeit, deren höchste Qualifikation eine seelische Durchsonntheit sei, aus der sich einmal das Licht eines neuen Weltentags entwickeln werde.10

Das Haupt des Führers

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III Aber auch der Umschwung von 1933 brachte für Fidus nicht die erhoffte Wende. Er teilte in diesem Punkte das Schicksal all jener alten Völkischen, Wandervögel, Freikörperkultur-Anhänger oder Ariosophen, die von den Nazifaschisten als rivalisierende Gruppen entweder verboten oder höchst ungnädig toleriert wurden. So mußte Fidus etwa erleben, daß man seine kurz zuvor erschienene Schrift Die Zukunftsehe wegen ihres „unzüchtigen Gedankenguts“ schon im März 1933 auf den Index setzte. Nicht besser erging es später den drei Drude-Romanen (1920–1926) seiner Gesinnungsfreundin Gertrud Prellwitz. Als er dagegen bei Bernhard Rust, dem neuernannten Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Einspruch erhob, wurde er freundlich, aber bestimmt abgewiesen. Auch seine Vorträge, die er 1933 in Hannover hielt, erwiesen sich als wenig erfolgreich, da er keine Nacktbilder mehr zeigen oder verkaufen durfte. Überhaupt scheinen ihn die NS-Behörden als zu „sexuell-liberalistisch“ empfunden zu haben.11 Daß die „Büttel der Nacktzensur“, schrieb er daraufhin am 17. Brachet 1933 empört an Gertrud Prellwitz, nicht „zwischen Schmutz und Aufartung unterscheiden können“, sei geradezu „haarsträubend“. Unrealistisch wie er war, hatte sich Fidus das „Neue Reich“ als einen Staat vollendeter Lichtmenschen vorgestellt, in dem ein „Künstler“ wie Hitler den Ton angeben würde. Als sich dieser Traum nicht erfüllte, war er völlig konsterniert. Dennoch gab er in den folgenden Jahren keineswegs auf, sich bei den neuen Machthabern anzubiedern. Immer wieder hoffte Fidus, daß es „im größeren mit Hitler und uns vorangehen wird“, wie er in einem seiner Briefe vom 2. Lenzing 1934 an Gertrud Prellwitz erklärte. Auch in einem Schreiben an Otto Damaschke, den früheren Bodenreformer, vom 18. Hornung 1934 heißt es verzweifelt optimistisch: „Trotzdem erwarte ich noch alles von dem Künstlermenschen Hitler! Heil ihm! Lichtdeutsch grüßend Ihr Fidus.“ Doch immer wieder wurde er enttäuscht. Besonders ungehemmt äußerte sich diese Erbitterung in den Briefen an Prellwitz, in denen er kein Blatt vor den Mund nahm. Hier trotzte er einmal cholerisch auf: „Deutschlands Frühling ist ja auch ausgebrochen und solcher ist ja nicht nur sanftfächelnd, sondern knickt auch Äste. Ich laß mich nicht knicken, wenn die jüngsten Mitläufer ‚in 208 Fidus

Kultur‘ auch uns ‚alte Rauschebärte‘ als ‚wilhelminisch verknöchert‘ abtun und Rosenberg uns, selbst auf Anregung, nicht beisteht.“ Doch selbst in diesem Brief rang er sich am Schluß zu einer gewissen Zukunftshoffnung durch und schrieb: „Es wäre ja auch gelacht, wenn ‚meine Zeit‘ nicht endlich kommen würde, nachdem ich Vorkämpfer für alles war, was heute die ‚neue Weltanschauung‘ sein soll, und nachdem ganz folgerichtig das ‚wilhelminische Regime‘ mich nicht beachtete und das jüdische mich ächtete! Wenns nunmehr nicht flutscht, dann ist ‚mein Reich nicht von dieser Welt‘.“ Fidus tat daher wahrlich alles, damit es diesmal wirklich „flutschte“. Er ging mit seinem Bild Spatenwacht (1930) hausieren, das er als ein Loblied auf den Reichsarbeitsdienst ausgab. Er wurde Mitglied der Rosenbergschen NS-Kulturgemeinde in Woltersdorf, die aus dem bisherigen Kampfbund für deutsche Kultur hervorgegangen war. Er schuf Porträts, in denen er seinen bisherigen Stil weitgehend verleugnete und sich dem gängigen NS-Stil anschloß. Er malte eine Weltesche (1934), auf der die drei urarischen Nornen Urd, Werdandi und Skuld zu sehen sind, die er mit Hakenkreuzfahnen versah und als Ausdruck „nordischer Tatreligion“ anzupreisen versuchte. Er entwarf einen Zyklus der vier Jahreszeiten (1934), der trotz seiner Freikörperkultur-Tendenzen eine spezifisch „bäuerliche“ Note hat. Er gab seinem alten Sturmgebet von 1894, auf dem sich ein nackter Jüngling der Sonne entgegenstreckt, 1938 den neuen Titel Sturmgebet über sudetendeutschem Land. Er nannte seine theosophisch gemeinten Altarbilder der Jahrhundertwende plötzlich „Entwürfe für Thinghallen“. Er schrieb mehrfach Bittbriefe an Hitler und seinen Propagandaminister Joseph Goebbels. Er versuchte den Reichsbauernführer Walther Darré für seine „völkischen Spielbauten“ zu gewinnen. Ja, er trat geradezu allen NS-Gruppen und -Zellen bei, die es überhaupt gab, um seine „nordische“ Gesinnung unter Beweis zu stellen. Doch wohin er sich auch wandte, überall stieß er auf verschlossene Türen oder kalte Schultern. Demzufolge ging es ihm finanziell bald ebenso schlecht wie in den Jahren der Weltwirtschaftskrise nach 1929. „Als Künstler säße ich seit zwei Jahren ganz auf dem Trockenen“, schrieb er am 2. Lenzing 1934 an Gertrud Prellwitz, „wenn nicht kleine ausländische Aufträge kämen.“ Welche Groteske. Ein Künstler, der unbedingt als Nazi anerkannt werden wollte, aber von Auslandsaufträgen leben Das Haupt des Führers

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23 Fidus: Sturmgebet über sudetendeutschem Land (1938), Privatbesitz © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

mußte! In den zwanziger Jahren habe er nur gegen „Jüdlinge“ anzukämpfen gehabt, schrieb er am 15. Ostermond des gleichen Jahres an Prellwitz, heute müsse er sich auch noch gegen „Stammeseigene und politisch Gleichstrebende verteidigen“. Und so war er in dieser Zeit sogar für kleine Aufträge, wie die Illustrationen für den Lorcher astrologischen Kalender, äußerst dankbar. Aber es sollte noch schlimmer für ihn kommen. In den mittdreißiger Jahren setzte nämlich von Seiten der NSDAP eine scharfe Kampagne gegen alle früheren Theosophen ein. Dafür spricht vor allem das Buch Entlarvte Dunkelmänner (1936) von Hans Sturm, in welchem die Theosophie als eine jüdische Geheimorganisation angeprangert wurde, hinter der sich wie bei den Freimaurern, Bolschewisten und Anthroposophen die schon von Rosenberg entlarvten „Weisen von Zion“ zu verstecken suchten. Sturm zog daher scharf über Helena Petrowna Blavatsky und Annie Besant, die beiden Begründerinnen dieser Bewegung, her, deren Hauptziel nicht eine meditative Versenkung in das All, son210 Fidus

dern ein gleichmacherischer Internationalismus und damit eine allgemeine „Rassenvermischung“ gewesen sei. Noch erboster äußerte er sich über den von Fidus hochgeschätzten „Sexualbolschewisten“ C. W. Leadbeater, der wie der Jude Wilhelm Reich und der Kommunist Anatol Lunatscharki sogar für den „Geschlechtsverkehr zwischen Kindern“ eingetreten sei, um so die gesamte Erde in ein allgemeines Rassenchaos zu stürzen.12 Auch die deutschen Theosophen, und zwar selbst jene, die sich „heute als begeisterte Bejaher des Dritten Reichs“ aufzuspielen versuchten, wurden von Sturm kurzerhand als „Rassenverräter“ angeprangert,13 die man endlich vor Gericht stellen solle. Während es in diesem Buch vorwiegend um Rudolf Steiner, Hugo Vollrath und Eugen Heinrich Schmitt ging, wurde Fidus von Wolfgang Willrich in seinem Aufsatz Volk und Rasse (1935) und dann in seinem Buch Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art (1937) ausdrücklich mit Namen erwähnt und mit anderen verfemten Künstlern wie Ernst Barlach, Käthe Kollwitz und Alfred Kubin als „volksfremd“ eingestuft. Was ihm Willrich vorwarf, war vor allem das „Indisch-Theosophische“ und die damit verbundenen „Lichtregionen und Tempeldünste“.14 Willrich fällte daher folgendes Gesamturteil über Fidus, das weitgehend den von Rosenberg ausgehenden Anschauungen entsprach: „Fidus ist trotz seiner ehrlichen Bemühungen um alle Lebensreformen, Volksgesundheit, Rassegedeihen und sonstige arisch-germanischen Heilswege leider ein Opfer von Okkultbeeinflussungen, die er in Jugendjahren empfing, ein tragischer Fall, der künstlerisch sich ausprägt in übermäßigen Seheraugen, Bekennerhaltungen bei oft eigentümlich substanzloser Formsprache. Die ‚kommende deutsche Weihekunst‘ (um mit Fidus zu reden) bedarf aber völliger Gesundheit und geistiger Klarheit und künstlerisch blutvoller Kraft, um Vollmenschen, nicht nur Schwärmer, zu erheben.“15 Als Fidus daher 1936 einen Antrag auf Einführung seiner „Neugermanischen Schrift“ stellte, wurde dieser ohne jede Begründung abgelehnt. Ein noch größeres Fiasko erlebte er im gleichen Jahr anläßlich des Nürnberger Reichsparteitags. Einer der alten Fidus-Anhänger hatte dort eine Ausstellung seiner Gemälde und Graphiken in der Städtischen Kunsthalle geplant. Doch Hitler war von den bereits eingetroffenen Altartafeln und Monumentalporträts so „angewidert“, daß er befahl, alle Bilder sofort nach Berlin zurückzuschicken. Das Haupt des Führers

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Als ihm Fidus darauf einen Beschwerdebrief schickte, erhielt er keine Antwort. Überhaupt wurde seine Lage von Jahr zu Jahr immer gefährdeter. Seine engsten Freunde gaben sich deshalb alle Mühe, ihn in verschiedenen hochtönenden Aufsätzen als den nordischsten aller nordischen Künstler anzupreisen, um ihn so vor der allgemeinen Diffamierungswelle zu bewahren. So verteidigte ihn etwa Karl Bückmann schon 1935 gegen die ersten Angriffe von Seiten Wolfgang Willrichs und stellte in der Zeitschrift Gesetz und Freiheit, die vor 1933 unter dem Titel Deutsche Freikörperkultur erschienen war, die heroischen Gestalten der Fidusschen Schwertwache als mahnende Symbole des „völkischen Wehrwillens“ hin.16 Anstatt Fidus mit „entarteten“ Künstlern wie Emil Nolde, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee und Max Beckmann in einen Topf zu werfen, wie das Willrich in seinem Aufsatz Volk und Rasse vom gleichen Jahr getan habe, feierte Bückmann den Woltersdorfer Meister – trotz einiger „unkeuscher“ Züge – als einen wahrhaft volkhaften Maler, dem durchaus „leben- und kraftstrotzende“ Gestalten gelungen seien.17 1936 schrieb Erich Griebel unter dem Titel Fidus, der getreue Deutsche in der Zeitschrift Die Mark, daß Fidus schon im März 1931 auf den „kommenden Führer“ gehofft habe und deshalb durchaus zu den „alten Kämpfern“ gehöre. Um ihn noch nazistischer einzufärben, stellte er Fidus unmittelbar neben Paul de Lagarde und Houston Stewart Chamberlain, die selbst Hitler als seine Vorkämpfer anerkenne.18 Ähnlich drückte sich im gleichen Blatt Hermann Teistler aus, indem er ihn ebenfalls ins „Nordische“ stilisierte und erklärte: „Schon in der ersten Zeit seines Schaffens begegnen wir germanischen Gedanken in ganz persönlicher Färbung. Nordische Zeichen und Formen geben seinen Werken eine besondere Eigenart. Seine Menschen sind nordisch nach Gestalt und Gesicht. Daß Germanische ist so mit seiner Kunst verwachsen, daß selbst Luzifer nordische Züge trägt.“19 Damit war Fidus erst einmal für eine Weile gerettet. Wie eh und je träumte er demzufolge weiterhin von nordischen Tempelbauten mit urarischen Altarbildern, um dem deutschen Volke endlich echte „Wallfahrtsorte“ einer „neugermanischen Kultur“ zu geben.20 „In der Politik sind alle Künstler so einfältig wie Parsifal“, soll Hitler einmal über solche Maler und Architekten gesagt haben.21 Das Jahr 1938, in dem Fidus seinen siebzigsten Geburtstag feiern konnte, verlief deshalb relativ 212 Fidus

ruhig. Er war sogar kühn genug, im Oktober dieses Jahres in einer Galerie gegenüber der Reichskanzlei in Berlin eine Gesamtausstellung seiner Werke zu veranstalten und sich in ihrem Prospekt als „Mitschöpfer der Jugendbewegung“ und „Überwinder der Speckbäuchigkeit in jeder Hinsicht“ feiern zu lassen.

IV Doch wirklich „beflügelt“ in seinen nordischen Weihestimmungen fühlte sich Fidus erst wieder nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939. Hingerissen von der allgemeinen Begeisterung über die siegreichen Blitzkriege der nächsten 12 Monate hielt er am 8. Oktober 1940, am Abend seines zweiundsiebzigsten Geburtstags, in Berlin einen Lichtbildervortrag unter dem Titel Volkhafte Großkunst aus nordischem Geist, in dem er noch einmal die Bedeutsamkeit seiner Gesinnungs- und Weihekunst für die zukünftige „seelisch-geistige Volksgemeinschaft“ herausstrich.22 Ja, im Frühjahr 1941 machte er sich sogar daran, ein Aquarell und dann ein Ölbild mit dem Titel Das Haupt des Führers zu entwerfen, das in der Gendarmerieschule von Alexandrowo, einer Stadt im Reichsgau Wartheland, aufgehängt werden sollte. „Heil dem Retter Deutschlands! Möge ihm sein ‚Haß‘ (auf die Juden) zum Guten ausgehen“, schrieb er am 31. Mai dieses Jahres in einem Brief an Gertrud Prellwitz, in dem er ihr von den Fortschritten seiner Arbeit am Haupt des Führers berichtete. Ja, er bemühte sich zu diesem Zeitpunkt sogar um eine persönliche Aussprache mit Hitler, die dieser jedoch ablehnte. Obendrein mußte er zu seiner Demütigung erleben, daß ihm Hitler, wie gesagt, das zur Ansicht geschickte Porträt, welches ihm sicher zu „mystisch“ erschien, wieder zurückschickte und seinem seltsamen Verehrer sogar die Verbreitung von Postkarten dieses Bildes untersagte.26 Dieser Schlag traf Fidus so schwer, daß er zeitweilig an starken Depressionen litt und sein „verfehltes Leben“ beklagte.27 Doch schon im Herbst 1942 raffte er sich wieder auf und begann aufs Neue zu hoffen, sich innerhalb des Dritten Reichs doch noch als „nordischer“ Künstler durchsetzen zu können. Und darauf kam es zu einer der merkwürdigsten Grotesken seines an seltsamen Ereignissen nicht gerade armen Das Haupt des Führers

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24 Fidus: Das Haupt des Führers (1941) © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

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Lebens. Fidus stellte nämlich das Haupt des Führers nicht stillschweigend in die Ecke, sondern ließ doch Fotos sowie Kohledrucke davon machen und verkaufte diese heimlich im Untergrund an seine Freunde, obwohl ihm „der Führer, dieser Retter Deutschlands, ja Befreier Europas, die Genehmigung hierfür nicht gegeben habe“, wie er im Hartung 1942 mit „lichtdeutschem Gruß“ erklärte.28 Zugleich ereiferte er sich weiterhin über jene Kulturbonzen und Schreibtischmenschen, die trotz ihrer Parteizugehörigkeit überhaupt keinen Sinn für das „Nordische“ in seiner Kunst hätten. „Während ich abgelehnt werde“, schrieb er am 15. Hornung 1942 an seinen Gesinnungsgenossen Guntram Erich Pohl im Hinblick auf Hitlers Lieblingsmaler Adolf Ziegler, „wärmen die ‚Beauftragten‘ pomadisierte ‚Göttinnen‘ und ‚Urteile des Paris‘ auf. Die Offiziellen bringen keinen eigenen Kunstgedanken zuwege, nur bestenfalls politische Tendenz, die ja auch in Funk und Film geleistet werden kann. Doch Kritik ist ja nicht erlaubt, zumal an diesen!“29 „Und Sowas nennt uns ‚nordische‘ und ‚weltanschauliche‘ (d. h. lebenserneuernde!) Vorkämpfer ‚unzeitgemäß‘!“, erklärte er kurz darauf in einem anderem Schreiben an den gleichen Pohl, „so auf den Kopf gestellt haben ja nicht einmal die ‚Systemjuden‘ die Begriffe; sie erdrosselten nur ‚ehrlich‘ ihre volkhaften Gegner! Aber sie stampften doch nicht unsere ‚Kunstgaben‘ der ‚Schönheit‘ ein, wie die Barbaren nach 1933!“30 „Viele Vorkämpfer des Heutigen klagen mir dasselbe“, heißt es in einem Brief vom 20. Gilbhart aus dem gleichen Jahr. Was Fidus den offiziellen Kulturverwaltern des Dritten Reichs besonders zur Last legte, war ihre epigonenhafte Vorliebe für Altmeister wie Wilhelm Leibl und Hans Thoma sowie ihre Begeisterung für einen langweiligen, längst abgestandenen Klassizismus. All das fand er weder nordisch noch nationalsozialistisch, sondern lediglich kleinbürgerlich. Er forderte daher seinen Freund Pohl am 15. Hornung 1942 auf, endlich einmal in einem Aufsatz die drei wirklich „nordischen“ Maler, nämlich „Fahrenkrog den Germanisch-Titanischen, Stassen den GermanischRomantischen und Fidus den Germanisch-Mystischen“, herauszustreichen, um die nazihaft „Verengten“ auf ihre eigentlichen „Vorkämpfer“ aufmerksam zu machen. Und diesen Aufsatz, der den Titel Fidus. Der nordische Lichtgläubige. Eine kleine Werbeschrift trug, schrieb Pohl dann auch, konnte ihn aber in keiner Zeitschrift unterbringen. Das Haupt des Führers

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Doch letztlich blieben all diese Bemühungen vergeblich. NS-Größen wie Wolfgang Willrich und Adolf Ziegler waren mit solchen Argumenten nicht zu überzeugen, geschweige denn zu gewinnen. Und so klagte Fidus weiterhin über sein „verfehltes Leben“. „Mein Großschaffen“, schrieb er am 27. Lenzing 1942 an Pohl, „wird wohl nur ein hinterlassener Entwurf bleiben, wie bei Runge und K. D. Friedrich. Es scheint das Schicksal der wirklich ‚Nordischen‘ zu sein.“ Auch in einem Brief an Johannes Aff beschwerte er sich erbittert, daß die „NS-KunstFührung“ sein Schaffen als „weichen Jugendstil“ ablehne und nicht einmal seine Schwert- und Spatenwachen als „nordische Aufartungsbilder“ zu schätzen wisse.23 Ja, in einem Schreiben an Gertrud Prellwitz vom 3. Ostermond 1942, das sie kurz vor ihrem Tod erreichte, nannte er sich noch einmal den großen „Unzeitgemäßen“, den man in jedem der „drei Reiche“, dem wilhelminischen, dem jüdischen und dem nationalsozialistischen, verkannt habe. Am meisten wurmte ihn allerdings die Verkennung durch die Nazifaschisten. „Wie viele unserer Geist-Genossen“, schrieb er im gleichen Brief ressentimentgeladen, „wurden gerade im ‚Reiche unserer Erfüllung‘ verfolgt oder mindestens abgedrosselt.“ Wohl den letzten Auftrieb erfuhr Fidus im Jahr 1943, als ihm Hitler anläßlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstags plötzlich den Professorentitel verlieh und ihm eine kleine Ehrenrente aussetzte, da die NSFührungsschichten nach den militärischen Rückschlägen, die mit der Niederlage bei Stalingrad eingesetzt hatten, wieder jeden Freund gebrauchen konnten. Und Fidus jubelte auf wie ein Kind. „Ich nehme dies als Hoffnung“, schrieb er am 3. Julmond 1943 an Bednarski, „daß ich wenigstens nach dem Kriege endlich volkhaft Großschaffen dürfte. Solange ist Siegen dringlicher.“ Er freute sich sogar noch, als die angloamerikanischen Bombenflugzeuge einige der deutschen Dome und Kirchen zerstörten, in denen man sich lange genug „gegen die neue nordische Glaubenskultur“ gesträubt habe.24 Schließlich würde mit jeder Kirche, die dort in sich zusammenbrach, wie er erklärte, jener Platz geschaffen, auf dem er nach dem Krieg seine nordischen Tempel bauen wollte.

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V Umso furchtbarer muß für ihn das Erwachen aus diesen wahnwitzigen Träumereien im Frühjahr 1945 gewesen sein. Diesmal schien sich Fidus endgültig geschlagen zu geben. Er dämmerte eine Weile dumpf vor sich hin, zweifelte an Gott und Welt, rang sich aber dann noch einmal zu seinen alten Phantasmagorien durch. So schrieb er am 12. Neblung 1947 – inzwischen ostzonaler Bürger geworden – an Hermann Wöhler, daß er wieder mit architektonischen Plänen beschäftigt sei, um dem deutschen Volke „recht ‚viele‘ Tempel-Innere“ zur „kommenden Verwirklichung“ zu hinterlassen. Ja, in besonders verzückten Momenten verglich er sich mit dem alten Tizian oder dem alten Rembrandt, die auch erst im hohen Alter ihre größten Werke geschaffen hätten. Selbst seinen ideologischen Ansichten versuchte er – mehr oder minder – treu zu bleiben. Vor allem auf den späten Postkarten an seine Enkelkinder nannte er sich immer wieder „bodentreu, selbstgetreu, also rassetreu“ und weigerte sich, den Kult des Germanentums im Gefolge der SED als eine „Erfindung von Junkern und Kapitalisten“ zu entwerten.25 Sogar seine Illustrationen zu Wilhelm Schwaners Germanenbibel verschickte er bis zum Januar 1948 weiterhin mit „nordischem Gruße“. Die politische Wirklichkeit übersah er geflissentlich. Allerdings mußte er sich in den Jahren 1946 und 1947 auf die Serienproduktion von Lenin- und Stalin-Bildern einstellen, welche die sowjetische Militärkommandantur bei ihm in Auftrag gegeben hatte, um überhaupt weiterleben zu können. Hierüber wurde freilich in Woltersdorf kein Wort verloren. Als Fidus daher am 23. Februar 1948, als Achtzigjähriger starb, taten seine engsten Freunde immer noch so, als ob die Sowjetische Besatzungszone nur eine vorübergehende Fiktion sei. Die große Totenfeier im Werkraum des Fidus-Hauses, die man mit Gedichtvorträgen, Gesängen und Weihereden zelebrierte, wurde von allen Teilnehmern als die „Feier der Lichtgeburt des Meisters Fidus“ empfunden.26 Als wäre politisch und sozioökonomisch überhaupt nichts geschehen, versuchte man hier in einem lichtgläubigen Vakuum weiterzuexistieren, in dem die Zeit absolut stillesteht. Bei dem Namen „Fidus“ dachten diese Kreise nicht an das Hier und Jetzt, sondern lediglich an die Ewigkeit. Darauf wurde es für längere Zeit still um diesen Namen. Erst 1963 zur Fünfzigjahrfeier des Treffens auf dem Hohen Meißner veranstalteDas Haupt des Führers

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ten einige ehemalige Wandervögel in der Stadtschule Allendorf eine kleine Fidus-Ausstellung. Etwas aktiver setzte sich Edwin Wilhelmi für ihn ein, der vor allem die Weltvegetarierbünde auf ihn aufmerksam zu machen versuchte. 1968 gab es zum hundertsten Geburtstag des Meisters einige Zeitungsnachrufe, von denen jedoch lediglich die von Hans Scholz und Ekkehard Hieronimus von Interesse sind.27 Auch Hilde Altmann-Reich tat ihr Bestes, durch kleinere Publikationen das Gedächtnis an ihren Vater wachzuhalten.28 Noch reservierter verhielt sich die wissenschaftliche Forschung dem Phänomen „Fidus“ gegenüber. Einige Historiker untersuchten seine Beziehung zum Wandervogel und zum Präfaschismus,29 andere setzten ihn mit dem Gedankkreis der „Fortschrittlichen Reaktion“ um 1900 in Beziehung.30 Die Kunstgeschichtler schwiegen sich dagegen über Fidus weitgehend aus. Wer ihn in diesem Bereich erwähnte, lobte lediglich seine frühen Kinderzeichnungen und bedauerte, daß er später im „Dienst zeitgebundener Reformbewegungen“ zum Maler nordischer Motive geworden sei, wenn auch ohne „Ahnung der politischen Konsequenzen, die daraus erwachsen“ könnten, wie Hans H. Hofstätter beschönigend schrieb.31 Auch die Jugendstil-Forschung verhielt sich Fidus gegenüber recht zurückhaltend.32 Das gleiche gilt für das Ausstellungswesen, wo man ihn höchstens als Kuriosum würdigte.33 Wer sich dagegen für ihn begeisterte, waren – von einigen Theosophen, Wandervögeln und Vegetariern34 einmal abgesehen – die Hippies der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. In diesen Schichten empfand man seine Werke durchaus als ideologische Pendants zur Vita Siddharti und Morgenlandfahrt eines Hermann Hesse oder den kurze Zeit ebenso beliebten, mit theosophisch-nacktkultischen Bildern ausgestatteten Büchern eines Khalil Gibran. Vor allem einige US-amerikanische Underground-Blätter waren um 1970 plötzlich voll von seinen frühen Zeichnungen.35 Denn auf ihnen fanden ihre Herausgeber so manches, wofür auch sie schwärmten: Art-Nouveau-Ornamente, nackte Jugendlichkeit, unberührte Natur, Symbolisch-Indisches, zum Mystischen neigende Religiosität, eine mehr oder minder versteckte Erotik und eine neuromantische Gefühligkeit, in denen sie wichtige Ansätze zur Überwindung der heutigen Industriezivilisation sahen. Die strenge Wissenschaft begnügte sich dagegen, falls sie seine Werke überhaupt erwähnte, meist mit der Vokabel „Kitsch“. Doch 218 Fidus

damit verharmlosten sie, wie gesagt, das Phänomen „Fidus“ lediglich. Schließlich waren nicht nur seine, sondern auch andere Proteste gegen die verheerenden Folgen der steigenden Industrialisierung und damit Vergroßstädterung der sogenannten modernen Welt häufig von der Gefahr umlauert, irgendwelchen Regressionen ins Mythische oder offen Reaktionäre zu verfallen. Angesichts solcher Rückfälle sollte man in Zukunft einen Künstler wie Fidus ruhig etwas ernster nehmen. Schließlich war dieser Mann kein skurriler Einzelfall oder ein sektiererischer Sonderling, sondern ein sozialgeschichtliches Phänomen ersten Ranges. Wenn man also zu einem stichhaltigen Urteil über seine Kunst gelangen will, wäre es sinnlos, nur nach ästhetisch gelungenen Bildern Ausschau zu halten. Was sie bedeutsam macht, ist ihre innere Verflochtenheit mit der politischen Entwicklung Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn nur eine solche Sehweise hebt Fidus über das Individuell-Besondere hinaus und macht ihn zum Repräsentanten eines ganz bestimmten ideologischen Entwicklungsstrangs, der gern mit dem Stichwort „verblasener oder geistig umnebelter Idealismus“ umschrieben wird. Schließlich ist Fidus trotz seines äußeren Habitus, seiner Sandalen und langen Haare, die er zu seiner Identitätshilfe heranzog, zeit seines Lebens einer der typischen halbgebildeten Kleinbürger geblieben. Ja, es ist geradezu die Komik dieser Figur, daß er diesen Zusammenhang nicht durchschaute. So griff er zwar ständig ins Arsenal des Heroischen und Urweltlichen zurück, verkaufte jedoch diese übermenschlichen Bildinhalte in Form von Postkarten oder Druckmappen, als ob es sich dabei um Warenhausartikel handele. Immer wieder war er darauf bedacht, daß sich keine Absatzstockungen ergaben und alles richtig „flutschte“. Demzufolge war er notwendig gezwungen, sich den jeweils führenden Schichten anzubiedern, sei es das wohlhabende Bürgertum der Jahrhundertwende, seien es die Präfaschisten der Weimarer Republik oder die späteren Führer des Dritten Reichs. Trotz seiner reformbetonten Friedrichshagener Anfänge gelang es Fidus nicht, das pseudoidealistische Verblendungssyndrom seiner weltanschaulichen Zielvorstellungen zu durchschauen und eine realistisch begründete Alternative zu den von ihm abgelehnten gesellschaftspolitischen Verhältnissen zu entwickeln. Er blieb stets Bestandteil des herrschenden „Systems“, das auch Millionen späterer NS-Parteigenossen als das ihre empfanden. Das Haupt des Führers

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Man sollte daher selbst bei der Betrachtung seiner frühen Bilder keineswegs vergessen, wie anfällig eine solche Weltabgewandtheit für irgendwelche demagogischen Parolen ist, die aus strategischen Gründen oft recht positiv klingen, aber in ihren Fernzielen höchst mörderische Auswirkungen haben können. Daher sind die Bilder, die Fidus schon im Ersten Weltkrieg und dann noch verstärkt seit den zwanziger Jahren schuf, nicht nur symbolische Repräsentationen einer theosophischen Lichtgläubigkeit, sondern auch höchst bedenkliche politische Denkbilder, in denen die idealistische Verblasenheit und dann die politische Verführbarkeit eines Künstlers zum Ausdruck kommt, der sich nie mit den konkreten politischen und sozioökonomischen Verhältnissen seiner Umwelt auseinandergesetzt hat. Für ihn war alles nur Seele, nur Geist, nur Licht. Und so sah er schließlich selbst in Hitler vor allem einen „Künstlermenschen“ und malte ein Haupt des Führers, in dem das in besonders mystisch verklärender Form zum Ausdruck kommen sollte.36

220 Fidus

Auf andere Art so große Hoffnung Otto Nagel: Junger Maurer von der Stalin-Allee (1953)

I Wer – außer einigen alten Ostberlinern – erinnert sich heute noch an Otto Nagel, der in der Frühzeit der DDR als Maler und Präsident der Akademie der Künste einmal eine beachtliche Rolle gespielt hat? Ja, wer erinnert sich überhaupt noch an die großen Hoffnungen, mit denen dieser Staat im Jahr 1949 als ein antifaschistisches „Bollwerk des Sozialismus“ gegen die kurz zuvor entstandene westorientierte Bundesrepublik gegründet worden war? All diese Erwartungen sind durch den weiteren Verlauf der Weltgeschichte so schmählich gescheitert, daß selbst ein von seinen besten Künstlern und Kulturverantwortlichen befürworteter Staat wie die DDR heute nicht mehr von seinem Anfang, sondern nur noch von seinem Ende im Jahr 1989 beurteilt wird. Zugegeben, einige seiner Künstler, die sich wie Bertolt Brecht, Hanns Eisler und Anna Seghers in der Anfangszeit dieses Staates für den dort praktizierten Sozialismus engagierten, werden aufgrund ihres künstlerischen Ranges von linksliberalen Intellektuellen selbst in der marktwirtschaftlich „globalisierten“ Welt von heute noch immer hochgeschätzt. Aber von der Mehrheit der anderen, ob nun Künstlern wie Paul Dessau, Friedrich Wolf oder Arnold Zweig, geschweige denn Bruno Apitz, Johannes R. Becher, Willi Bredel, Fritz Cremer, Louis Fürnberg, Otto Griebel, Hans Grundig, Stephan Hermlin, Hans Marchwitza, Ernst Hermann Meyer, Ludwig Renn, Willi Sitte und Erich Weinert, hört man fast gar nichts mehr. Und zu diesen kaum noch Beachteten gehört auch ein Maler wie Otto Nagel. Dabei wäre gerade er ein gutes Beispiel dafür, daß es in den Anfangsjahren der DDR unter den maßgeblichen Vertretern der dortigen Kunst und Kulturpolitik nicht nur stalinistische Doktrinäre oder in allen Regimen zu findende Mitläufer, sondern auch zutiefst überzeugte Sozialisten gegeben hat, die – nach dem Terror des Nazifaschismus und den Schrecken des durch ihn angestifteten Zweiten Weltkriegs – in der Junger Maurer von der Stalin-Allee

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DDR einen antifaschistischen Gegenstaat sahen, in dem jene gesellschaftlichen Oberschichten, die für all diese Gräuel verantwortlich seien, keinen politischen und wirtschaftlichen Einfluß mehr haben würden. Und dieses gesellschaftliche Verantwortungsbewußtsein und diese Friedenssehnsucht nannten sie „Sozialismus“. Allerdings gehörten dazu nicht viele, da die Nazifaschisten nach 1933 alle älteren sozialistischen Kulturorganisationen, die in der Weimarer Republik entstanden waren, gnadenlos zerschlagen hatten. Die meisten ihrer Hauptvertreter sowie auch manche ihrer bürgerlichen Sympathisanten waren darum, wie wir wissen, ins Exil geflohen. Angesichts der überwältigenden innen- und außenpolitischen Erfolge des Hitler-Regimes sowie der stalinistischen Praktiken innerhalb der Sowjetunion hatten jedoch einige von ihnen im Laufe der dreißiger Jahre ihren Glauben an die Zukunft des Sozialismus verloren. Selbst ehemals Linkengagierte gingen daher nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht alle in den Ostteil des gespaltenen Deutschlands, sondern blieben lieber im Ausland, da ihnen auch die westalliierten Besatzungszonen, in denen seit 1947/48 erneut der Antikommunismus herrschte, nicht geheuer vorkamen.1 Was die Rückkehrer allerdings im Osten vorfanden, war eine weitgehend zerstörte Industrie und eine ausgehungerte Bevölkerung, die nichts mehr von irgendwelchen „sozialistischen“ Parolen, die auch die Nazifaschisten propagandistisch ausgeschlachtet hatten, hören wollten. Unterstützt wurden diese ehemaligen Exilanten lediglich von jenen aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern befreiten Antifaschisten oder jenen Linken, die während des Dritten Reichs verfemt im Untergrund gelebt hatten. Aber auch das waren nicht übermäßig viele, von denen manche obendrein ihren älteren Überzeugungen abgeschworen hatten. Sich in einer solchen Situation, das heißt ohne eine vorangegangene, selbst die sogenannten breiten Massen erfassende gesellschaftliche Revolution an den Aufbau eines sozialistischen Staates zu wagen, setzte also bei den wenigen Überzeugten eine geradezu übermenschliche Einsatzbereitschaft voraus. Und zu diesen Wenigen gehörte auch der nach seiner Unterdrückung und Verfemung innerhalb des Dritten Reichs wieder auftauchende Otto Nagel, der sich bereits in den zwanziger Jahren den Kommunisten angeschlossen hatte und jetzt auf die Erfüllung seiner lange Zeit gehegten, aber brutal unterdrückten Träume hoffte. Er 222 Otto Nagel

trat daher erst im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und dann innerhalb der SED rückhaltslos für den Aufbau eines neuen Deutschlands ein, indem er nicht nur viele Reden hielt, sondern auch einige der wichtigsten politischen Denkbilder derartiger Hoffnungen malte, mit denen er die unter dem Nazifaschismus irregeführte Jugend für die sozialistischen Ziele der DDR zu gewinnen hoffte.

II Eine solche Einstellung hatte bei diesem Künstler weder etwas mit politischer Blindheit noch mit willfährigem Opportunismus zu tun, sondern ergab sich geradezu zwangsläufig aus seinem bisherigen Lebenslauf, der in vieler Hinsicht bemerkenswert ist. Otto Nagel wurde am 27. September 1894 als fünftes Kind des Tischlers Friedrich Karl Nagel im Berliner Arbeiterbezirk Wedding geboren, besuchte schon als Halbwüchsiger sozialdemokratische Versammlungen, auf denen er August Bebel und Paul Singer hörte, und wurde 1908 Mitglied der Arbeiterjugend.2 Nach dem Schulabschluß arbeitete er erst als Lackiererlehrling und dann als Transportarbeiter. 1912 trat er in die SPD ein. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs schloß er sich der Gruppe um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an und beteiligte sich an pazifistischen Demonstrationszügen. Ab 1917 engagierte er sich für die USPD, worauf er von den preußischen Behörden zwangsrekrutiert wurde. Als er daraufhin den Kriegseinsatz verweigerte, verurteilte man ihn in Bonn zum Dienst in einem Strafbatallion. Im November 1918 trat er erst dem dortigen Arbeiter- und Soldatenrat bei und kehrte dann nach Berlin zurück. Nach dem gescheiterten Spartakus-Aufstand im Januar 1919 arbeitete er wieder als Transportarbeiter, begann jedoch zugleich in seiner freien Zeit, sich im Zeichnen und in der Ölmalerei auszubilden. Bereits 1920, nachdem er in die KPD eingetreten war, stellte er erstmals eigene Werke auf der Berliner Arbeiter-Kunstausstellung aus, wo er Käthe Kollwitz kennenlernte, die einen tiefen Eindruck auf ihn machte. Kurz darauf entschied er sich, freischaffender Künstler zu werden. Neben Käthe Kollwitz förderten ihn zu diesem Zeitpunkt vor allem Hans Baluschek, Adolf Behne und Heinrich Zille. Außerdem knüpfte Junger Maurer von der Stalin-Allee

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Nagel Beziehungen zu El Lissitzky und Erwin Piscator an, beteiligte sich an der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH), wurde Mitglied der Roten Gruppe und gründete das Rote Kabarett, an dem sich vor allem Ernst Busch, Hanns Eisler, Egon Erwin Kisch und Erich Weinert beteiligten. Im September 1924 reiste er erstmals mit einer Kollektivausstellung seiner Werke nach Moskau, wo er unter anderem von Anatol Lunatscharski empfangen wurde. Ein Jahr später zeigte er die gleiche Sammlung in Leningrad und heiratete dort eine junge sowjetische Schauspielerin. Noch linksaktiver wurde Nagel in den folgenden Jahren, in denen er weiterhin im Berliner Bezirk Wedding wohnte und arbeitete. Nicht nur, daß er sich für die Gesellschaft der Freunde des Neuen Rußland engagierte, er wurde zugleich Mitarbeiter der von Willi Münzenberg herausgegebenen Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) sowie der Roten Fahne und gab mit Heinrich Zille das gesellschaftskritische Blatt Eulenspiegel heraus. 1929 unternahm er seine dritte Reise in die Sowjetunion und arbeitete anschließend mit Hans Baluschek, Käthe Kollwitz und Heinrich Zille an dem Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück, der das Berliner Arbeiterelend zum Thema hatte. 1930 nahm er eine enge Verbindung zur Assoziation revolutionärer bildender Künstler (ASSO) auf. In der Folgezeit organisierte er im Wedding, während dort bereits die Straßenkämpfe zwischen der SA und den Rotfrontgruppen tobten, sowohl eine Zille- als auch eine Kollwitz-Ausstellung und begleitete außerdem die Letztere nach Moskau und Leningrad. Und in all diesen Jahren, in denen sich Nagel für alle linksgerichteten Tendenzen in den bildenden Künsten einsetzte, malte und zeichnete er zugleich eine geradezu unübersehbare Anzahl von Bildern, auf denen er hauptsächlich arme, leidende, erbitterte, aber auch aufbegehrende Menschen aus dem Berliner Wedding darstellte. Auf ihnen sieht man Bettler, Prostituierte, Asylanten, Penner, Witwen, Trinker, Ausgesperrte, Arbeiter und Jungkommunisten, und zwar ohne jede bürgerlich-bohemienhafte Anbiederung oder groteske Übertreibung, wie das bei vielen Malern der Weimarer Republik, darunter selbst George Grosz und Otto Dix, üblich war. Hier malte ein Arbeiter für Arbeiter, der keinen Ehrgeiz hatte, in den Nobelgalerien des Berliner Westens ausgestellt zu werden, wo in diesen Jahren vornehmlich spätexpressionistische, neusachliche oder abstrakte Bilder zu sehen waren. Nagel ging es nicht um 224 Otto Nagel

„Kunst“, sondern um eine möglichst wirklichkeitsgetreue Wiedergabe jener Menschen, die durch ihren geringen Lohn gezwungen waren, in den Hinterhöfen und Seitenstraßen des Berliner Nordens zu hausen.3 Und da er selbst im Wedding geboren und großgeworden war, gelang ihm das wie sonst fast keinem anderen Künstler dieser Jahre, nicht einmal Baluschek, Kollwitz oder Zille, die bei aller Anteilnahme an den Lebensumständen der Berliner Arbeiterfamilien letztlich doch Bürger blieben. Daß ein solcher Künstler wie Otto Nagel – wegen derartiger Bilder, seiner Sowjetreisen und seiner Mitgliedschaft in der KPD – den Nazifaschisten ein Dorn im Auge sein mußte, konnte daher nicht ausbleiben. Demzufolge wurden schon im Frühjahr 1933 bei ihm Haussuchungen durchgeführt und er danach vorübergehend inhaftiert. 1934 erhielt er von den NS-Behörden Ausstellungsverbot, was ihn nicht daran hinderte, im gleichen Jahr eine Zille-Kollwitz-Nagel-Ausstellung in Amsterdam und Den Haag zu organisieren. Darauf wurde er erneut verhaftet, aber wieder entlassen. 1935/36 kam er für kurze Zeit in das Konzentrationslager Sachsenhausen und wurde danach unter Polizeiaufsicht gestellt. 1937 fielen 27 seiner Werke der Aktion „Entartete Kunst“ zum Opfer. Trotz ständiger Überwachung bemühte sich Nagel, dennoch seinen engen Kontakt zu Barlach, Behne und Kollwitz aufrechtzuerhalten. Auf seinen Gemälden und Zeichnungen während des Zweiten Weltkriegs bevorzugte er hauptsächlich Altberliner Motive, die er anderen Menschen durch private Atelierausstellungen zugänglich zu machen versuchte.4 Nach der Zerstörung seiner Wohnung im Wedding zog er gegen Kriegsende nach Rehbrücke bei Potsdam, wo er eine vorläufige Unterkunft fand.

III Wie nach all diesen Aktivitäten und Erfahrungen zu erwarten, beteiligte sich Otto Nagel im Juni 1945 umgehend an der Gründung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, wurde Vorsitzender dieses Bundes im Landesverband Brandenburg und veranstaltete schon im Herbst 1945 Gedenkausstellungen der Werke von Käthe Kollwitz, die kurz zuvor verstorben war. 1946 ließ er sich als Junger Maurer von der Stalin-Allee

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Abgeordneter in den brandenburgischen Landtag wählen und nahm zugleich enge Kontakte zu Johannes R. Becher und Bernhard Kellermann auf, die beide führende Positionen im Präsidium des Kulturbunds hatten. Ein Jahr später wurde er Mitglied des Deutschen Volksrates und bekam anschließend in Anerkennung seines Lebenswerks von den sowjetzonalen Behörden den Professorentitel verliehen. Im Herbst 1949 begrüßte er die Gründung der DDR und begann darauf an einem Zyklus von Bildern zu arbeiten, den er Menschen unserer Zeit nannte. Wie viele der älteren linksengagierten Künstler, sah er sich dabei völlig neuen Darstellungsweisen gegenüber. Während er 30 Jahre lang fast ausschließlich „Elendsbilder“ aus dem Berliner Proletarierleben gemalt und gezeichnet hatte, wurde er plötzlich mit der Aufgabe konfrontiert, in seiner Kunst vornehmlich jene Menschen herauszustellen, die inmitten der allgemeinen Nachkriegsmisere nicht zögerten, sich für den Aufbau eines neuen, das heißt antifaschistisch-sozialistischen Deutschlands einzusetzen. Allerdings kam ihm dabei eins zustatten. Während anderen älteren Linken, die sich bisher in ihrer Kritik an den ausbeuterischen Taktiken des Kapitalismus vor allem sogenannter avantgardistischer Stilmittel bedient hatten, diese Umstellung relativ schwer fiel, gelang Nagel, da er schon vorher ein „Realist“ war und auch jetzt ein solcher blieb, dieser Wechsel aus dem Kritischen ins Positiv-Gestimmte etwas leichter. An seinen Werken gab es daher in diesen Jahren für die Vertreter der von Andrej Schdanow angestoßenen „Formalismus“-Debatte innerhalb der Sowjetunion und der DDR nichts auszusetzen. Sie paßten in ihrer Wendung aus dem Düsteren ins Hellgestimmte, Aufbauwillige genau in jenes Konzept eines Sozialistischen Realismus, dessen Richtlinien bereits 1934 auf dem Ersten Allunionskongreß der UdSSR-Schriftsteller festgelegt worden waren und hauptsächlich auf einer schärferen Akzentuierung von „Parteilichkeit“ und „Realismus“ beruhten. Diese beiden Konzepte fand Nagel nach all dem, was er in seinem Leben durchgemacht hatte, völlig selbstverständlich. Er stimmte daher mit den Kulturverantwortlichen innerhalb der SED, deren Mitglied er ohne Zögern geworden war, weitgehend überein, daß nach der Beseitigung der unwürdigen Verhältnisse unterm Kapitalismus jetzt die Zeit der Elendsmalerei endgültig vorbei sei und es beim Aufbau des Sozialismus in der Kunst vornehmlich darum gehen müsse, vorbildliche Menschen, sogenannte „Positive Helden“, das heißt mit Prämien ausgezeich226 Otto Nagel

nete Aktivisten sowie linksengagierte Künstler, darzustellen. Und Nagel widmete sich dieser Aufgabe, indem er – nach seinen Ruinenbildern von 1945 – vor allem Porträts der für den Aufbau des Sozialismus vorbildlichen Menschen malte. Davon zeugen vor allem seine 1949 entstandenen Bilder Neubauer, Neubäuerin, Neulehrerin, Arbeiterstudenten, Jungpioniere sowie das Bildnis des Schriftsteller Bernhard Kellermann. Ein Jahr später malte er den als „Helden der Arbeit“ ausgezeichneten Aktivisten Adolf Hennecke, der bereits 1949 als ostdeutscher Stachanow-Arbeiter einen der ersten sowjetzonalen Nationalpreise erhalten hatte. Alle diese Menschen blicken zwar auf seinen Bildern nicht übermäßig optimistisch in die Zukunft, aber ihre Gesichter strahlen dennoch eine Willenskraft aus, die der Größe der gestellten Aufgabe angemessen ist. Und damit vermeiden sie alles „Schönfärberische“, das eine Reihe anderer Bilder des Sozialistischen Realismus aus diesen Jahren, wie etwa die eines Rudolf Bergander, Arno Mohr und Walter Womacka, zum Teil recht forciert erscheinen läßt. Der gleichen Haltung entspricht Nagels entschiedene Ablehnung jener pseudosozialistischen Befürworter des „Klassischen Erbes“, für das unter anderem N. Orlow am 21. und 22. Januar 1951 in seinem Artikel Wege und Irrwege der modernen Kunst in der Täglichen Rundschau eingetreten war, der den ostdeutschen Malern eine Schulung an der idealistischen Sehweise der großen Werke der deutschen Kunst von Albrecht Dürer bis Anselm Feuerbach und Max Klinger, ja selbst der impressionistisch-schönen Gemälde Claude Monets empfohlen hatte, statt sich in ihren Werken lediglich an die „unschöne“ Darstellungsweise von Künstlern wie Lea Grundig, Theo Otto und Käthe Kollwitz zu halten. Daraufhin hatte Nagel im gleichen Blatt am 15. Februar 1951 einen Beitrag unter dem Titel Die Kunst – eine Waffe des Volkes einrükken lassen, in dem er sich für einen „kämpferischen Optimismus“ engagierte, der zwar nicht wieder – wie in der älteren Elendsmalerei – das bewußt Unschöne überbetonen solle, aber sich zugleich bemühen würde, jeder falschen Heroisierung oder Idealisierung aus dem Wege zu gehen. Ja, er war dabei selbst vor einer Kritik der „oberflächlichen Äußerungen“ eines SED-Funktionärs wie Wilhelm Girnus nicht zurückgeschreckt, der am 13. Februar 1951 im Neuen Deutschland in seinem Artikel Wo stehen die Feinde der deutschen Kunst? ebenfalls für eine engere Anlehnung an das Klassische Erbe in der Kunst eingetreten war. Junger Maurer von der Stalin-Allee

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25 Otto Nagel: Junger Maurer von der Stalinallee (1953), Berlin, Märkisches Museum © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

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Ihren Höhepunkt erreichte die von Nagel befürwortete Darstellungsweise in dem damals oft abgebildeten Gemälde Junger Maurer von der Stalin-Allee, das im Jahr 1953 entstand.5 Vor in die Höhe ragenden Baugerüsten steht hier ein junger Bauarbeiter, der zwar ebenfalls nichts Anfeuerndes hat, aber schon durch seine nahbildliche Größe und seinen ernsten Gesichtsausdruck wie ein Repräsentant jener Arbeiter wirkt, die bisher in den Hinterhöfen der Berliner Elendsviertel wohnen mußten und für die jetzt endlich große, helle Wohnungen entlang eines Prachtboulevards gebaut wurden, wo sie sich endlich – im Rahmen eines Arbeiter- und Bauernstaats – als vollgültige Menschen fühlen sollten. Die darin zum Ausdruck kommende Zukunftshoffnung läßt sich im Hinblick auf Nagel nicht als doktrinärer Stalinismus abqualifizieren, sondern hängt aufs Engste mit Nagels eigenen Lebenserfahrungen zusammen. Nachdem er solange das Arbeiterelend im Berliner Wedding erlebt hatte, sah er in dieser Allee den ersten Durchbruch zu wesentlich besseren Daseinsbedingungen für jene „Unterdrückten und Enterbten“, in denen die gesellschaftlichen Oberschichten bisher nur schlechtbezahlte Arbeitssklaven gesehen hatten. Und das macht dieses Gemälde zu einem der eindrucksvollsten politischen Denkbilder für jene sozioökonomischen Hoffnungen, die in der Frühzeit der DDR mit dem „Aufbau des Sozialismus“ verbunden waren.

IV Doch andererseits ist dieses Gemälde zugleich ein politisches Denkbild im Hinblick auf den Bau der Stalin-Allee, deren Arbeiter am 17. Juni 1953 gegen die von der Regierung dieses Staats am 13. und 14. Juni des gleichen Jahres verhängten Normerhöhungen protestierten, was nicht nur dort, sondern in den folgenden zwei bis drei Tagen auch in anderen DDR-Städten eine Streikwelle auslöste, die nur durch den Einsatz der Kasernisierten Volkspolizei und des sowjetischen Militärs wieder eingedämmt werden konnte. Wie sich noch heute nachlesen läßt, hatte die SED bereits im Juli 1952 einen „beschleunigten Kurs“ beim Aufbau des Sozialismus in der DDR beschlossen, der zwar der bis dahin brachliegenden Schwerindustrie zugute gekommen war, aber zu erheblichen

Junger Maurer von der Stalin-Allee

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Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmittel- und Konsumgütern geführt hatte. Doch das war noch längst nicht alles, wodurch es zu einem steigenden Unmut in der Bevölkerung der DDR gegen die Regierungsführung gekommen war. Schließlich hatte es 1952 – bedingt durch schlechte Witterungsverhältnisse – in der DDR eine katastrophale Mißernte gegeben. Außerdem hörten viele Menschen in diesem Staat, daß es in Westdeutschland mit Hilfe des Marshall-Plans, der dieses Land im Zuge des Kalten Kriegs in ein „Bollwerk gegen den Kommunismus“ verwandeln sollte, zu einem wirtschaftlichen Aufschwung gekommen war, der unter der Mehrheit der DDR-Bürger und -Bürgerinnen Gefühle der Zurücksetzung und des Neids erweckte. Und da die Grenzen zwischen Ost- und Westdeutschland immer noch offen waren, wanderten demzufolge immer mehr Menschen in den Westen ab, wo es vor allem für Facharbeiter erheblich bessere Arbeits- und Lebensbedingungen gab. Kein Wunder daher, daß sich die Zustände in der DDR von Monat zu Monat zusehends verschlechterten, zumal sich die westlichen Radioanstalten, darunter vor allem der Westberliner RIAS, mit allen Mitteln der psychologischen Kriegsführung bemühten, den Ostdeutschen ein geradezu paradiesisches Bild von den Verhältnissen im Westen vorzugaukeln. Kurzum: aufgrund dieser sich geradezu dramatisch zuspitzenden Situation entschlossen sich viele Bauarbeiter in der Stalin-Allee am Morgen des 17. Juni 1953, die Arbeit niederzulegen und in Demonstrationszügen gegen die verhängten Normerhebungen zu protestieren, worauf es zu Brandstiftungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, bei denen fast 50 Polizisten verletzt wurden. Darauf verkündete der ostdeutsche Ministerpräsident Otto Grotewohl bereits um 14 Uhr des gleichen Tags über den DDR-Rundfunk, daß alle Normerhöhungen wieder zurückgenommen würden und stellte zugleich die Gewaltausbrüche der vorangegangenen Stunden vornehmlich als „das Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen“ hin, denen der RIAS-Sender die nötige ideologische Unterstützung geliefert habe, um so eine Weiterführung des friedlichen Aufbaus des Sozialismus in der DDR zu verhindern. Durch diese Rede wie auch den Einsatz von Polizei und sowjetischem Militär hörten in 230 Otto Nagel

Berlin bereits am nächsten Tag die gewalttätigen Auseinandersetzungen wieder weitgehend auf, während sie an anderen Orten der DDR noch zwei Wochen weiter anhielten. Was sich in diesen Unruhen, die schon kurz darauf in den westlichen Medien als ein allgemeiner „Volksaufstand“ oder eine „gewaltlose Revolution“ hochgespielt wurden,6 zum Ausdruck kam, war letztlich die weiterbestehende Diskrepanz zwischen der Minderheit der aus dem Exil sowie den Gefängnissen und Konzentrationslagern der NS-Zeit zurückgekehrten Kommunisten, linken Sozialdemokraten und den mit ihnen sympathisierenden Intellektuellen und Künstlern einerseits und der Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung andererseits, die wegen der Engpässe in der Versorgung und den Normerhöhungen neidisch nach Westdeutschland hinüberschielte. Außerdem äußerte sich in ihnen auch ein latenter, wenn nicht gar offener Haß auf alles „Russische“, der dieser Bevölkerung schon im Ersten Weltkrieg und dann noch verstärkt durch die Nazifaschisten anerzogen worden war. Man sollte sich daher hüten, diese Unruhen, denen ein höchst komplexes Zusammenspiel mehrerer Faktoren zugrunde lag, einfach monokausal als einen allgemeinen „Volksaufstand“ zu charakterisieren. Neben einem gerechtfertigten Unmut über einige Fehler der Regierung und einem üblen Randalierertum, das sich keine Gedanken über die politischen Konsequenzen solcher Ausschreitungen machte, gab es zu diesem Zeitpunkt auf Seiten der alten Genossen sowie der inzwischen zum Sozialismus bekehrten Nazifaschisten auch eine offene Unterstützung der SED-Regierung. Vor allem die alten Genossen, die endlich nach einer langen Periode der Unterdrückung in „ihrem Staat“ leben wollten, schielten nicht nach Westdeutschland hinüber, wo wieder die Monopolherren das Sagen hätten und sich bemühten, alles Linke als im schlechten Sinne utopistisch und damit totalitär hinzustellen. Ja, die marxistisch Geschulten im Osten gaben zu diesem Zeitpunkt sogar zu, immer noch nicht genug zur Aufklärung der sogenannten breiten Massen über die Vorteile des Sozialismus getan zu haben. So schrieb etwa selbst Bertolt Brecht, der manchen Maßnahmen seiner Regierung recht kritisch gegenüberstand, nach den Ereignissen des 17. Juni 1953 in seinen Buckower Elegien: „Heut Nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend / Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und / Sie waren gebrochen. / / Unwissende! Schrie ich schuldbewußt.“7 Junger Maurer von der Stalin-Allee

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Und zu diesen Getreuen, die sich auch in einer Krisensituation wie am 17. Juni 1953 nicht in ihren seit Jahrzehnten gehegten Hoffnungen beirren ließen, gehörte auch Otto Nagel. Ob sein Bild Junger Maurer von der Stalin-Allee, das er 1953 malte, vor oder nach dem 17. Juni dieses Jahres entstanden ist, spielt daher keine entscheidende Rolle. Nagel stand sowohl davor als auch danach treu zu seiner Partei und wurde deshalb im gleichen Jahr von seiner Regierung zum Vorsitzenden des Verbandes bildender Künstler der DDR ernannt. Ja, drei Jahre später trug man ihm sogar die Präsidentschaft der Deutschen Akademie der Künste in Ostberlin an, die er bis 1962 innehatte. Nach vielen weiteren Ehrungen und umfassenden Ausstellungen seiner Werke sowie der Veröffentlichung seiner Zille- und Kollwitz-Monographien in den Jahren 1955 und 1963 starb er am 12. Juli 1967 in Ostberlin. Mit ihm verlor die DDR-Führung einen ihrer getreuesten Anhänger, dessen Gemälde und Zeichnungen für jeden, der sich einen Sinn für den widerspruchsvollen Verlauf der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewahrt hat, nach wie vor politische Denkbilder sind, in denen sich erst viel Leid und dann „auf andere Art so große Hoffnung“ widerspiegelt, wie das sein bürgerlicher, in den zwanziger Jahre zum Kommunismus bekehrter Weggefährte Johannes R. Becher einmal genannt hat.8

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Anselm Kiefer: Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch (1977)

„Ich arbeite mit Symbolen, die unser Bewußtsein mit der Vergangenheit verbinden. Diese Symbole schaffen eine simultane Kontinuität und wir erinnern uns an unsere Ursprünge“ (Anselm Kiefer).

I Die höchst unterschiedlichen Gemälde, Holzschnitte, Objekte, Installationen, Buchprojekte, übermalten Fotografien und Multimedia-Zusammenstellungen Anselm Kiefers haben es seinen Kritikern und Interpreten anfangs nicht leicht gemacht, darin eine klar erkennbare Absicht, geschweige denn ein spezifisches Programm oder ein abgeschlossenes System zu erkennen. Die meisten fanden sie erst einmal „verwirrend“ oder „rätselhaft“, zumal er selber, wenn er aufgrund seiner steigenden Berühmtheit interviewt wurde, meist in relativ allgemein gehaltene Äußerungen auswich. Das Einzige, was dabei klar wurde, war seine Weigerung, mit seinen Werken irgendwelche Zukunftshoffnungen zu erwecken oder gar politische Handlungsanweisungen zu geben. „Ich trage nichts bei“, sagte er in einem dieser Interviews, „das würde ja wieder bedeuten, daß es eine Vorstellung gäbe, den Plan eines Hauses, wohin man einen Stein tragen könnte. Ich trage nichts bei, ich leiste keinen Beitrag.“1 Doch gerade in dieser Verweigerungshaltung fanden all jene, die nach 1980 anfingen, Essays und schließlich sogar Bücher über ihn zu schreiben, endlich einen epistemologischen Hebel, mit dem sie sein Gesamtwerk auf einen durchgehenden Nenner zu bringen versuchten. Und dieser Nenner war für sie die damals geradezu flächendeckend grassierende „Postmoderne“. Wegen der bewußt chaotischen Bedeutungsfülle dieses Begriffs, mit der man sich von allen bisherigen linear verlaufenden „Meisterdiskursen“, sprich: Fortschrittspostulaten distanzieren wollte, glaubten seine Interpreten, in Kiefers vielgestaltigem, sich Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch

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jeder klaren Aussage verweigerndem und damit antiutopischem Œuvre eine der eindrucksvollsten Manifestationen jener bewußt antiideologischen Einstellung gefunden zu haben, die man unter Absehung aller realpolitischen oder gesellschaftswissenschaftlichen Aspekte in geistesgeschichtlicher Manier unter dem Begriff „Zeitgeist“ zu subsumieren versuchte. Eins der bezeichnendsten Beispiele derartiger Anschauungen ist das Buch Fire on the Earth. Anselm Kiefer and the Postmodern World (1990) von John C. Gilmour. Mit mannigfachen Hinweisen auf die im Rahmen der postmodernen Diskurse immer wieder zitierten Denker Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Mircea Eliade, Antonin Artaud, Gilles Deleuze, Felix Guattari, Jacques Derrida, Michel Foucault und Jean-François Lyotard2 wurde hier Kiefers Werk als ein bewußter Affront gegen die inzwischen angeblich obsolet gewordene „modernistische“ Obsession mit dem Avantgardistischen, Erklärbaren, Repräsentativen, das heißt Politisch-Eingreifenden, in abstrakt philosophischer Manier als ein Œuvre hingestellt, das sich allen plausiblen Erklärungsversuchen von vornherein entziehe. In ihm herrsche, wie es immer wieder heißt, jener postmoderne „Pluralismus“, der eher an Nietzsches Dionysos-Kult, Artauds Theater der Grausamkeit, Heideggers Rückgriff auf Ontologisches sowie Eliades Schamanismus als an jene aufklärerischen Bestrebungen erinnere, sich weiterhin um eine Deutung oder gar Veränderung der politischen Verhältnisse zu bemühen, wodurch bei Kiefer letztlich alles auf die postmoderne Vorstellung des „tragic man“ hinauslaufe.3 Ähnlich, wenn auch wesentlich differenzierter ging später Gerhard Richter in seinem Buch Ästhetik des Ereignisses (2005) auf derartige Fragen ein, der zwar Kiefers Werk ebenfalls auf rein philosophischer Ebene, das heißt unter Auslassung aller gesellschaftswissenschaftlichen Gesichtspunkte ins Auge faßte, aber auch die geschichtsphilosophische Sehweise Walter Benjamins in seine Interpretationen einbezog,4 statt sich wie Gilmour mit einer klischeehaften Gegenüberstellung von Moderne und Postmoderne zu begnügen. Doch der Begriff „Postmoderne“ hatte sich inzwischen seit der Mitte der achtziger Jahre auf internationaler Ebene so massiv durchgesetzt, daß auch einige Museumskustoden annahmen, wenn sie ihre Vorworte zu den von ihnen veranstalteten Kiefer-Ausstellungen schrieben, nicht auf diesen Terminus verzichten zu können, um damit auf die „Zeitgemäßheit“ dieses Künstlers hinzuweisen. So legten etwa Massimo Cac234 Anselm Kiefer

ciari und Germano Celant in den Einleitungen des Katalogs ihrer in Mailand stattfindenden Kiefer-Ausstellung den Hauptakzent vornehmlich auf Kiefers Absage an jede Form eines „binären“ Denkens sowie seine Nähe zu Heideggers Ontologie, kurzum: seine antihistorische und damit undialektische Sehweise, entweder weil sie wirklich daran glaubten oder sich zumindest gezwungen sahen, nochmals die bereits verfestigte These zu wiederholen, daß dieser Künstler im Sinne postmoderner Kontinuitätsvorstellungen die geschichtlichen Prozesse weitgehend ins Mythisch-Zeitlose „transfiguriere“.5 Etwas konkreter äußerte sich dagegen Mark Rosenthal anläßlich der von ihm 1987 in Philadelphia arrangierten Kiefer-Ausstellung, indem er in seinen Kataloghinweisen auch auf das spezifisch „Deutsche“ in Kiefers Werken einging. Doch letztlich überwog selbst bei ihm jene bereits begrifflich eingeschliffene Sehweise, vor allem Kiefers Abneigung gegen alles „Narrative“ und damit seine Nähe zur Postmoderne hervorzuheben. Was dadurch entstehe, sei ein Vorstellungskomplex, der zwangsläufig „ambiguous and paradoxical“ wirke.6 Und zwar stützte sich Rosenthal dabei auf ein Gespräch mit Kiefer im Dezember 1986, bei dem ihm dieser versichert habe, daß es ihm als Maler in seinen Werken nie um grundsätzliche „Wahrheiten oder irgendwelche Ausflüge ins Historisch-Repräsentative, sondern eher um philosophische oder mythisch-eingefärbte Aspekte“ gegangen sei.7

II Alle diese Äußerungen treffen im Hinblick auf den damals herrschenden „Zeitgeist“ durchaus zu. Solchen Charakterisierungen soll daher im Folgenden nicht grundsätzlich widersprochen werden. Aber sie sind letztlich viel zu abstrakt, um der verwirrenden Vielfalt des Kieferschen Œuvre wirklich gerecht zu werden. Zugegeben, viele seiner Werke sind tatsächlich „rätselhaft“, das heißt sperren sich gegen Interpretationsbemühungen, in ihnen einen konkret faßbaren Bedeutungsgehalt auszumachen. Aber gerade darin sahen die selbsternannten Sprecher der Postmoderne jene paradigmatischen Beispiele, mit denen sie ihre – im Sinne der verbreiteten Posthistoire-Stimmung – ins Unkonkrete und damit Antiutopische ausweichenden Theorien zu untermauern verHoffmann von Fallersleben. Die Etsch

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suchten. Sie übersahen jedoch hierbei weitgehend, daß sich in Kiefers Œuvre auch Werke befinden, deren Motive sich auf eine höchst „realistische“ Weise mit der deutschen Geschichte befassen, statt wie in anderen Phasen seines Schaffens eher die Materialaspekte oder das Anthropologisch-Mythisierende in den Vordergrund zu rücken. Damit ist vor allem jene Periode gemeint, in der sich Kiefer in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren fast ausschließlich mit Themen der deutschen Geschichte beschäftigte und eine Reihe von Gemälden schuf, die einen durchaus konkreten Inhalt haben und keineswegs im ideologischen Vakuum einer postmodernen Unverbindlichkeit angesiedelt sind, was ihnen die Aussagekraft wahrhaft politischer Denkbilder verleiht. Dazu gehören vor allem folgende Gemälde der Jahre zwischen 1973 und 1988: Deutsche Geisteshelden (1973), Der Nibelungen Leid (1973), Notung. Ein Schwert verlieh mir der Vater (1975), Sieg fried vergißt Brunhilde (1975), Martin Heidegger (1975), Unternehmen Attila (1975), Varus (1976), Wege der Weltweisheit – die Hermannsschlacht (1977), Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch (1977), Die Weltesche (1980), Kyffhäuser (1980), Brunhilde schläft (1980), Dein goldenes Haar, Margarethe (1981), Die Meistersinger (1981), Balders Träume (1982), Nürnberg (1982), die Reichskanzlei-Bilder (1982–1984), Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland (1983), Yggdrasil (1985), Midgard (1985) und Die Rheintöchter (1988). Alle diese Bilder liegen – entwicklungsgeschichtlich gesehen – genau auf der Schnittlinie zwischen der in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren durch die westdeutschen Linksliberalen und die studentischen Achtundsechziger angestoßenen „Vergangenheitsbewältigung“ sowie der um 1980 in der ehemaligen Bundesrepublik einsetzenden neokonservativen Welle, die schließlich zu einem zunehmenden Interesse an jenen aus Frankreich und den USA überschwappenden poststrukturalistischen und postmodernen Richtungen führte,8 die in ihren internationalen, ja schließlich globalisierierenden Tendenzen dazu beitrugen, sich von den konkreten Ereignissen der eigenen Nationalgeschichte abzuwenden und sich eher mit ontologischen, anthropologischen, ahistorischen, das heißt epistemologischen oder kognitiven Aspekten des „Menschseins“ a priori zu beschäftigen. Angesichts dieser zwei Richtungen sind die Versuche, Kiefers Werke für die Postmoderne in Beschlag zu nehmen, nicht ganz falsch, aber ein236 Anselm Kiefer

seitig. Im Sinne des postmodernen Denkens wird zwar in ihnen, selbst auf Bilder wie Varus oder Kyffhäuser, eine realpolitische Kritik an den Verfehlungen der deutschen Geschichte im Sinne linksliberaler, sozialistischer oder auch adornistischer Anschauungen explizit vermieden, aber zumindest in diesem Zeitraum doch immer wieder auf Phänomene hingewiesen, die bei der Entstehung des deutschen Nationalismus, ja Chauvinismus und schließlich Nazifaschismus eine wichtige Rolle gespielt haben. Allerdings verfuhr Kiefer dabei als Künstler – im Gegensatz zu George Grosz oder John Heartfield – keineswegs satirisch, sondern blieb bei seinen Motiven weitgehend im Bereich des Andeutenden, wenn nicht gar Rätselhaft-Verschlüsselten, statt für eine Überwindung der nationalistischen Verfehlungen Partei zu ergreifen. Daher gehen seine Motive zwar teilweise auf die linkskritischen Vergangenheitsbewältigungstendenzen der Jahre zwischen 1965 und 1975 zurück, werden aber meist in eine philosophisch gefärbte Gesamtschau der deutschen Geistesgeschichte eingebettet, die in ihrer sychronistischen Art eher an die ahistorische Kollektivschuldtheorie eines Henry Morgenthau bzw. Robert Vansittart oder die spätere These vom „deutschen Sonderweg“ als an bestimmte gesellschaftswissenschaftliche Ableitungsbemühungen erinnert. Worum es Kiefer bei all den eben aufgezählten Bildern ging, war nicht der Versuch, das dialektische Widerspiel von Fortschritt und Reaktion in der deutschen Geschichte darzustellen, sondern irgendwelche seinshaften oder mythischen Urkräfte innerhalb dieser Geschichte herauszuarbeiten, die im Laufe der Jahrhunderte ständig gefährliche Urständ gefeiert hätten. Von der nordischen Mythologie über Hermann den Cherusker, das Nibelungenlied, die Befreiungskriege gegen Napoleon, das Lied der Deutschen, die Kyffhäuser-Verehrung bis hin zu Richard Wagners Ring-Tetralogie und die Bauten Albert Speers reiht sich bei ihm in den Jahren zwischen 1973 und 1988 eine Bilderfolge aneinander, der stets die gleiche Intention zugrunde liegt, und zwar in all diesen Manifestationen der nordisch-deutschen Vergangenheit weniger historisch-konkrete Ereignisse oder bestimmte Kunstwerke, sondern eher „Gleichnisse“ zu sehen, die weder rein positiv, noch rein negativ, sondern nur als komplex ineinandergreifende Phänomene zu verstehen seien, in denen sich die höchsten Ambitionen der Deutschen im Laufe ihrer Geschichte zumeist ins Aggressive, wenn nicht gar BarHoffmann von Fallersleben. Die Etsch

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barische verkehrt hätten. Daher sind Nietzsche und Wagner für ihn zwar Vorläufer Hitlers, aber zugleich deutsche Geisteshelden, bei deren Anschauungen man oft nicht zwischen gut und böse unterscheiden könne. Ja, in manchem erinnert diese Sehweise fast an Äußerungen Thomas Manns, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in seiner bekannten Rede Deutschland und die Deutschen erklärt hatte, daß man „nicht einfach zwischen einem ‚guten‘ und einem ‚bösen‘ Deutschland unterscheiden könne, ja, daß das böse zugleich das gute sei, das gute auf Irrwegen und im Untergang“.9 Eine solche Sicht der deutschen Geschichte, die schon nach 1945 mehrfach auf Widerstände gestoßen war, mußte gegen Ende der siebziger Jahre zwangsläufig zu heftigen Debatten über den ideologischen Aussagewert solcher Gemälde führen.10 Vor allem auf Seiten weiterhin linksliberal eingestellter Kritiker wurden Kiefer anfangs, wie 1980 auf der Biennale in Venedig, mehrfach Vorwürfe gemacht, daß auf seinen Bildern keinerlei progressionsbetonte Gegenbilder zu den fatalen Folgen des deutschen Nationalismus zu sehen seien und er demzufolge – gewollt oder ungewollt – lediglich den sich in diesem Zeitraum erneut verstärkenden neofaschistischen Tendenzen Vorschub leiste. Doch damit verfehlte man die Intention dieser Bilder. Zugegeben, auf ihnen herrscht keine Verdammung, aber auch keine Ehrenrettung des Nazifaschismus der dreißiger und frühen vierziger Jahre. Stattdessen versuchen sie im Sinne des damals einsetzenden postmodernen Denkens jeder „durchsichtigen Ideologiekritik“ aus dem Wege zu gehen.11 Was sie darstellen, ist lediglich, wie gesagt, die untrennbare Verschachtelung des Historischen mit dem Mythischen, des Guten mit dem Bösen, des kulturgeschichtlich Bedeutsamen mit seiner ideologischen Verballhornung, wenn nicht gar fatalen Auswirkung in der politischen Praxis. Und in dieser Hinsicht sind sie durchaus „konkret“ und lassen sich nicht allein als Manifestationen der Postmoderne gegen das inzwischen angeblich anachronistisch gewordene „Projekt der Moderne“ aufbieten.12 Genauer gesehen, gilt das für fast alle Bilder der hier behandelten Werkgruppe. Daher wäre es töricht, Kiefers Interesse an der Edda oder der germanischen Mythologie von vornherein eine faschistoide Tendenz unterzuschieben. Solche Werke oder Anschauungsweisen hatten zu ihrer Zeit eine ganz andere Funktion als jene, für welche sie die Germanenschwärmer um 1900 oder später die Nazifaschisten mißbrauch238 Anselm Kiefer

ten. Das gleiche gilt für das erstmals in der Befreiungskriegsära popularisierte Nibelungenlied sowie das im Vormärz entstandene Lied der Deutschen, die in den Jahren zwischen 1815 bis 1848 noch weitgehend in einem nationaldemokratischen und nicht in einem nazifaschistischen Sine verstanden wurden. Ja, selbst Wagner konnte nicht vorhersehen, daß seine Meistersinger von Nürnberg später Hitlers Lieblingsoper wurde oder seine tragisch endende Revolutionsoper Der Ring des Nibelungen eine chauvinistische Germanenschwärmerei auslöste. So gesehen, greifen Kiefers Bilder dieser Schaffensphase immer wieder Motive auf, bei denen keine postmoderne Beliebigkeit im Vordergrund steht, sondern die, wie gesagt, höchst schlüssig auf den nicht im voraus zu erahnenden Kausalnexus zwischen Ursache und Wirkung verweisen sollen, um so den Betrachter zum Nachdenken über seine kulturpolitische Herkunft anzuregen und ihn zugleich daran zu erinnern, daß auch seine eigenen Handlungen oder Werke unvorhersehbare Wirkungen haben können.

III Dafür wenigstens ein Beispiel, und zwar das Bild Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch, an dem sich dieser innere Zusammenhang zwischen progressiver Intention und reaktionärer Verfälschung besonders exemplarisch darstellen läßt. Der Kopf dieses relativ obskuren Dichters, von dem heute nur noch sein Lied der Deutschen bekannt ist, taucht bei Kiefer erstmals auf einem aus 31 Teilen zusammengesetzten Holzschnitt auf, den er zusätzlich mit Acryl und Schellack übermalte und Wege der Weltweisheit – die Hermannsschlacht nannte. Auf diesem ästhetischen Konstruktum sind in bunter Mischung folgende deutsche Politiker, Militärs, Dichter und andere Geistesgrößen abgebildet: Immanuel Kant, Alfried Krupp, Alfred von Schlieffen, Helmuth von Roon, Jakob Böhme, Eduard Mörike, Annette von Droste-Hülshoff, Adalbert Stifter, Otto von Bismarck, Jean Paul, Joseph von Eichendorff, Stefan George, Conrad Ferdinand Meier, Carl von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte, August Hoffmann von Fallersleben, Christian Dietrich Grabbe, Heinrich von Kleist, von Groitzsch, Hermann der Cherusker, Friedrich Hölderlin, Friedrich Gottlieb Klopstock, Ludmilla Assing, Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch

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26 Anselm Kiefer: Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch (1977), Privatbesitz

Georg Herwegh, Horst Wessel, Leo Schlageter, Walter Flex, Ferdinand Freiligrath und Gottfried Keller. Und in der Mitte dieses Bildes sieht man zwischen all diesen Köpfen einen brennenden Holzstoß, welcher von einer Reihe von Bäumen umgeben ist, der wie auf dem Bild Varus an die Schlacht im Teutoburger Wald erinnern soll. Außerdem spannt sich über das Ganze ein spinnenartiges Geflecht schwarzer Linien, um so auf die innere Verflochtenheit all dieser Köpfe mit jenem Ereignis innerhalb der deutschen Geschichte hinzuweisen, in dem der deutsche Nationalismus seinen ersten und zugleich grundlegenden Durchbruch erlebt habe. So weit, so einleuchtend. Verwirrend ist lediglich, daß Kiefer damit zugleich „Wege der Weltweisheit“ zum Ausdruck bringen wollte. Die „Wege“ sieht man wohl. Aber worin besteht eigentlich die „Weltweisheit“ all dieser Köpfe und ihres Bezugs zur Hermannsschlacht? Nach Kiefers Meinung offensichtlich nur in der Einsicht, daß bestimmte historische Ereignisse in ihren Folgeerscheinungen innerhalb einer sich über Jahrhunderte hinziehenden Nationalgeschichte 240 Anselm Kiefer

sowohl positive als auch negative Konsequenzen haben können, ja zum Teil innerlich miteinander verbunden sind. Das ist nicht viel. Dennoch sollte man sich hüten, eine solche Sehweise unter ideologiekritischer Perspektive von vornherein als pluralistische Unverbindlichkeit und damit in einem schlechten Sinne als „postmodern“ zu charakterisieren. Dahinter steht – gerade bei diesem frühen Bild von 1973 – noch eine halbwegs dialektische Perspektive. Statt sich jedoch hierbei mit einer Betrachtungsweise zu begnügen, die auf klaren, das heißt bipolaren Gegensätzen beruht und in der deutschen Geschichte lediglich progressive bzw. reaktionäre Tendenzen aufzuspüren versucht, will Kiefer damit zu Recht auf die zum Teil untrennbare Verflochtenheit dieser beiden Grundeinstellungen hinweisen. Und als ein besonders instruktives Beispiel dieser Art griff er dafür in den folgenden Jahren noch dreimal den Fall „Hoffmann von Fallersleben“ auf. Das erste Werk dieser Art ist das Bild Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch von 1977, auf dem man inmitten abstrakter Malkonglomerate einen relativ positiv wirkenden Männerkopf sieht, der eine Krone zu tragen scheint, die allerdings nur aus der weiß eingezeichneten Inschrift „Hoffmann von Fallersleben“ besteht. Außerdem befindet sich am rechten unteren Bildrand auf einem kaum erkennbaren Flußgefälle noch die in schwarzen Buchstaben hingeschmierte Inschrift „Die Etsch“. Ein historisch gebildeter Betrachter könnte das als den Gegensatz zwischen der weißen und der schwarzen Linie innerhalb der deutschen Geschichte deuten. Die eine Inschrift würde dementsprechend auf die durchaus gerechtfertigte Freiheitssehnsucht innerhalb des 19. Jahrhunderts hinweisen, der auch Hoffmann von Fallersleben – neben Georg Herwegh und Ferdinand Freiligrath – seine Stimme lieh, die andere Inschrift würde dagegen auf sein Lied der Deutschen anspielen, durch das er, wie viele spätere Kritiker behauptet haben, vor allem wegen der Zeilen „Von der Maas bis an die Memel, / Von der Etsch bis an den Belt“ einem chauvinistischen Ausdehnungsdrang Vorschub geleistet habe. Doch so leicht lassen sich diese beiden Tendenzen nicht auseinander dividieren. Während viele Deutsche, falls sie überhaupt über die historischen Hintergründe dieses Lieds nachdenken, die in diesem Lied ausgedrückte Sehnsucht nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ durchaus gerechtfertigt finden, lehnen sie die Zeilen „Von der Maas bis an die Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch

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Memel, / Von der Etsch bis an den Belt“ nach ihrer nazifaschistischen Indienstnahme zum Zwecke imperialistischer Gelüste entschieden ab, weshalb die erste Strophe dieses Lieds, in der sich diese beiden Zeilen befinden, heute nicht mehr gesungen werden darf. All das ist nach den Ereignissen der zwei Weltkriege und des Dritten Reichs durchaus verständlich. Aber dafür sollte man Hoffmann von Fallersleben nicht verantwortlich machen. Als er dieses Gedicht als ein sprachwissenschaftlich interessierter Germanist im Jahr 1841 verfaßte, hatte er dabei einen Staat im Auge, der nicht mehr auf dynastischen, sondern sprachlichen Grenzziehungen beruhen sollte. Und das wollte er mit den vier Flüssen Maas, Memel, Etsch und Belt andeuten. Ein solches Konzept war damals im Sinne der sogenannten kleindeutschen Lösung gemeint, mit der die Liberalen eine großdeutsche Lösung verhindern wollten, die auch die polnischen, tschechischen und ungarischen Teile Preußens und Österreichs in den deutschen Staatsverband einbezogen hätte. Auch daß Hoffmann von Fallersleben dem Text dieses Gedichts die Haydnsche Kaiserhymne unterlegte, deutet in die gleiche liberale Richtung, das heißt wandte sich gegen ein preußisches Vormachtsstreben innerhalb des noch zu schaffenden deutschen Reichs.13 Demzufolge kann man Hoffmann von Fallersleben keineswegs irgendwelcher chauvinistischen Tendenzen bezichtigen. All dies scheint Kiefer offenbar gewußt zu haben, sonst hätte er sich nicht weiter höchst intensiv mit diesem Dichter beschäftigt. Obendrein paßte Hoffmann von Fallersleben genau in seine Art der „Vergangenheitsbewältigung“, die sich nicht mit simplistischen Diffamierungen begnügte, indem sie immer weitere Bereiche der deutschen Geschichte kurzerhand in die sogenannte braune Soße einzurühren versuchte. Schließlich gehörte Hoffmann von Fallersleben eher zu den Opfern als den Tätern dieser Geschichte. Wie wir wissen, hatte er sowohl mit seinen Unpolitischen Liedern (1840 f.) als auch mit seinem Lied der Deutschen (1841) die preußischen Behörden dermaßen brüskiert, daß sie ihm nicht nur seine Breslauer Professur entzogen, sondern ihn sogar des Landes verwiesen, weshalb er lange Zeit stellenlos blieb und erst 1860 in Corvey als Bibliothekar eine schlecht bezahlte Unterschlupf fand. Wie aus einem Gespräch Kiefers mit Mark Rosenthal hervorgeht,14 scheint Kiefer auch Hoffmanns Schicksal als eines verfolgten Außenseiters von Anfang an lebhaft interessiert zu haben. Dafür spricht jenes 242 Anselm Kiefer

Hoffmann von Fallersleben-Buch, an dem er 1978, also kurz nach der Vollendung des Bilds Die Etsch, arbeitete und das 1980 in Groningen herauskam. Es besteht aus 41 Fotografien eines gefängnisähnlichen Raums, in dem auf einem schneebedeckten Boden eine an BeuysObjekte erinnernde Badewanne steht, die mit Eis gefüllt ist, das allmählich schmilzt, worauf an der Wasseroberfläche ein kleines, spielzeugähnliches Schlachtschiff auftaucht, das anschließend kentert und wieder verschwindet, während sich am Schluß erneut das Eis ausbreitet. Was damit angedeutet werden soll, ist einerseits das Außenseitertum dieses deutschen Freiheitssängers, andererseits die fatale Wirkung seines, wenn auch noch so liberalen Deutschlandlied, das im Ersten Weltkrieg von den nationalistisch verblendeten Langemarck-Soldaten sowie später von den ein „Großdeutschland“ anstrebenden Nazifaschisten in einem imperialistischen Sinne ausgelegt wurde. Diese inhaltliche Intention wird in diesem Fotobuch noch dadurch unterstrichen, indem sich die Kenner seines Œuvre daran erinnern, daß Kiefer bereits 1975 ein Bild unter dem Titel Operation Seelöwe gemalt hatte, auf dem ebenfalls das gleiche kleine Schlachtschiff in einer Badewanne zu sehen ist, um damit auf Hitlers Plan hinzuweisen, 1940 nicht nur Frankreich, sondern auch England zu erobern. Als letztes Bild dieser Motivkette vollendete Kiefer in den frühen achtziger Jahren dann noch sein Bild Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland, um damit nochmals auf das Lied der Deutschen hinzuweisen, das dieser am 26. August 1841 auf dieser Insel, die damals noch zu England gehörte, verfaßt hatte und von dem der liberale Verleger Julius Campe, der ihn dort besuchte, so beeindruckt war, daß er dem Autor sofort vier Louisd’r auf den Tisch legte, nach Hamburg zurücksegelte und das Ganze bereits fünf Tage später in seinem Verlag als Einzeldruck herausbrachte, da er sich von diesem Lied eine die vormärzlichen Freiheitsfreunde anfeuernde Ausstrahlungskraft versprach. Und diese Wirkung hatte es in den folgenden Jahren auch, während es im kleindeutschen Hohenzollernreich nach 1871 wegen der Erwähnung der Etsch, mit der man die Österreicher brüskiert hätte, wieder weitgehend unterdrückt wurde und erst am 11. August 1922, anläßlich einer offiziellen Feierstunde des Verfassungstags, vom sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur deutschen Nationalhymne erhoben wurde.5 Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch

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All das wird jedoch auf dem Bild Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland bewußt ausgespart. Auf ihm befinden sich keine jener Inschriften mehr, die Kiefer vorher häufig verwendet hatte, um den Betrachtern derartiger Bilder erklärende Hinweise auf seine Intention zu geben. Hier sieht man lediglich eine Fülle grau-gelber Streifen, die auf den ersten Blick den Eindruck einer Meereslandschaft im Abendlicht erwecken. Aber bei genauerem Hinsehen entdeckt man, daß diese gestreifte Fläche auch eine mit metallnen Bolzen zusammengehaltene Bretterwand sein könnte. Wahrscheinlich wollte Kiefer damit einerseits noch einmal auf das Ausgesperrtsein Hoffmann von Fallerslebens hinweisen und andererseits jenes Meer darstellen, wo sich jene steil aufragende Insel befindet, die einst ein Sinnbild des deutschen Nationalismus war und nach 1945 zu einer Bombing Range für die britische Royal Air Force wurde. Doch sei dem, wie es wolle. Was auf diesem Bild überwiegt, ist weniger das Historische als der Beuyssche Materialfetischismus bzw. die postmoderne Ausklammerung einer inhaltlichen Verbindlichkeit. Und so schütteln viele Betrachter dieses Bilds, wenn sie es in der Sammlung Marx im Berliner Hamburger Bahnhof sehen, meist nur den Kopf, da ihnen das Ganze zu kryptisch verschlüsselt erscheint. Das soll nicht heißen, daß selbst dieses Gemälde kein politisches Denkbild ist. Das ist es durchaus, aber letztlich nur für jene Menschen, die mit der Tatsache vertraut sind, daß Hoffmann von Fallersleben auf dieser Insel das Lied der Deutschen verfaßt hat und die zugleich die diesem Bild vorangegangenen anderen Kieferschen Werke kennen, welche ähnlichen oder zumindest verwandten Themen gewidmet sind, die auf das geradezu untrennbare Ineinander von Intention und Wirkung sowie einen gerechtfertigten und einen ungerechtfertigten Nationalismus hinweisen sollen.

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Spiegel-Bilder Michael Mathias Prechtl: Denker Nietzsche – Täter Hitler (1981)

I Als am Montag, dem 8. Juni 1981, der neue Spiegel erschien, waren sicher viele seiner Leser verblüfft, daß auf seiner Titelseite ein SepiaAquarell von Michael Mathias Prechtl abgebildet war, auf dem ein mit einem Revolver hantierender Hitler als Ausgeburt des mit einer mächtigen Denkerstirn ausgestatteten Nietzsche zu sehen war. Schließlich waren jene „Meinungsträgerschichten“, wie der Spiegel seine Leser damals bezeichnete, gewohnt, jede Woche das jeweils Aktuellste, wenn nicht gar das Skandalträchtigste geboten zu bekommen. Nun, Aufsehen erregend, wenn nicht gar blasphemisch, war dieses Bild schon. Aber was war daran zu diesem Zeitpunkt besonders aktuell? Um diese Frage sinnvoll beantworten zu können, muß man zwangsläufig auf die politische Grundtendenz des Spiegel in diesen Jahren eingehen, die weitgehend von seinem Besitzer und Herausgeber Rudolf Augstein vorgegeben wurde. Wie wir wissen, war der Spiegel in den fünfziger und frühen sechziger Jahren zwar nicht das einzige, aber das profilierteste Oppositionsorgan gegen die Adenauersche Restaurationspolitik und alle sich daraus ergebenden revisionistischen Strömungen gewesen. Und dadurch war er zu einem wichtigen Faktor innerhalb der politischen Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik geworden. Seine Fans rekrutierten sich damals weitgehend aus den Reihen jener freischwebenden Intelligenz, die ihn gern als ein „kritisches Nachrichtenmagazin“,1 als „Blatt des militanten Nonkonformismus“2 sowie der „unbedingten Unabhängigkeit“3 herausstrichen. Und sein Herausgeber sowie seine Redakteure taten selbstverständlich alles, dieses Image, auch nachdem Adenauer längst das Zeitliche gesegnet hatte, so lange wie möglich in voller Leuchtkraft zu erhalten und verkauften den Spiegel bis in die frühen achtziger Jahre hinein als ein nicht zu übersehendes „Sturmgeschütz der Demokratie“, wie sich Rudolf Augstein ausdrückte,4 das heißt als ein Organ der kritischen Distanz, der furchtlosen Wahrheitsvermittlung, Denker Nietzsche – Täter Hitler

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27 Michael Mathias Prechtl: Denker Nietzsche – Täter Hitler (1981)

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der undoktrinären Parteilosigkeit und wie all die schönen Worte der „westlichen Freiheit“ damals lauteten.5 Trotz seiner nationalbewußten Tendenz wandte sich Augstein dabei stets in aller Schärfe gegen jedweden Versuch, auch den Nazifaschismus in die deutsche Geschichte zu reintegrieren. So trat er zwar irgendwelchen unziemlichen Schmähungen Friedrichs des Großen oder Otto von Bismarcks mit politisch ausgewogenen Urteilen entgegen, rückte aber diese Gestalten keineswegs in eine unmittelbare Vorläuferschaft des Dritten Reichs. An Hitler und seinen Gefolgsleuten ließ er dagegen kein gutes Haar. Im Hinblick auf ihn blieb er stets bei einer klaren Ablehnung, um so jede historische Legendenbildung von vornherein zu unterbinden. Das gleiche gilt für seine scharfe Kritik an Richard Wagner, den Hitler immer wieder als einen seiner wichtigsten Vorläufer hingestellt hatte. Ihm widmete er daher anläßlich der 100-Jahrfeier von Bayreuth am 1. März 1976 unter dem Titel Die Götter dämmern volle zwanzig Seiten,6 da er hier seiner Faschismuskritik freien Lauf lassen konnte. Die Vertreter der „Privatfirma Wagner & Co.“, erklärte er, seien Opportunisten vom „kräftigsten Kaliber“ gewesen, die genau gewußt hätten, daß zu einem „erfolgreichen Marketing“ auch eine „Ideologie“ gehöre und hätten darum den deutschen Nationalismus auf unverschämteste Weise in Kapital umgesetzt. Das mag auf „Wagner & Co.“ zum Teil durchaus zutreffen. Aber auch auf Nietzsche? Was war an ihm im Jahr 1981 besonders aktuell und zugleich kritikwürdig? Dazu ist ein kurzer Rückblick auf die spannungsreiche Wirkungsgeschichte dieses Philosophen seit 1933 erforderlich. Wie wir wissen, haben viele Nazifaschisten, angefangen mit Alfred Bäumlers Nietzsche als Philosoph und Politiker (1931) bis hin zu Alfred Rosenbergs Friedrich Nietzsche (1944), nicht nur Wagner, sondern auch Nietzsche häufig als Vorläufer Hitlers herausgestrichen, wobei sie vor allem auf Nietzsches Gegnerschaft zum Liberalismus, Parlamentarismus, Sozialismus wie überhaupt zu allen demokratischen Gleichheitsparolen eingegangen waren. Sie hatten in Nietzsche in erster Linie den Vorboten eines männlichen Kriegerethos und rassischer Züchtungsvorstellungen gesehen, die in dem von Hitler gegründeten Reich lediglich die Tat umgesetzt werden müßten.7 Dagegen zögerten in den dreißiger Jahren einige Linke, wie Arnold Zweig und Ernst Bloch, keineswegs, auch auf anderen Bestandteile in Denker Nietzsche – Täter Hitler

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Nietzsches Denken hinzuweisen. Doch ihre Stimmen waren wieder schnell verhallt. Was sich in diesem Lager im Ankampf gegen den Nazifaschismus durchsetzte, war vor allem die Nietzsche-Kritik von Seiten Georg Lukács’. Er stellte Nietzsche als den wirkungsmächtigsten Vertreter eines lebensphilosophisch gefärbten Irrationalismus hin, der jede Art des Fortschritts, der Aufklärung, der Frauenemanzipation und vor allem des Sozialismus als „Instinktentartung“ hingestellt habe. Lukács sah in Nietzsche lediglich einen Philosophen, durch den – mit Parolen wie „der böse Mensch ist Rückkehr zur Natur“, „alle großen Männer waren Verbrecher“ sowie „das nächste Jahrhundert wird im Kampf um die ErdHerrschaft“ im Zeichen des „Terrorismus der neuen Barbaren“ stehen – eine „demagogische Pseudorevolution“ in Gang gekommen sei, die in der Folgezeit durch die Schriften von Ludwig Klages, Ernst Jünger, Alfred Bäumler und Alfred Rosenberg zum Durchbruch einer „präfaschistischen und dann faschistischen Lebensphilosophie“ geführt habe, welche den zentralen Gegenmythos zum „sozialistischen Humanismus“ bilde.8 Diese Sicht Nietzsches war dann in der DDR, vor allem durch Lukács’ Buch Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler (1955) – trotz dessen Diffamierung nach dem von ihm unterstützten Ungarnaufstand im Jahr 1956 – zur maßgeblichen Meinung in den Ostblockstaaten geworden und hatte dort eine weitere Auseinandersetzung mit Nietzsche verhindert. Im Westen setzten dagegen in Anlehnung an Walter Kaufmann, Gottfried Benn und Martin Heidegger schon bald nach 1945 Bemühungen ein, Nietzsche aus der Umklammerung durch den Nazifaschismus zu befreien und ihm wieder einen bedeutsamen Platz in der Reihe der deutschen Philosophen einzuräumen. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Nietzsche kam es in der ehemaligen Bundesrepublik erst innerhalb der Liberalisierungswelle der sechziger Jahre, die dann in die studentische Achtundsechziger Bewegung einmündete. Unter Bezugnahme auf Franz Mehring und Georg Lukács tauchten jetzt im Verlauf der sogenannten Vergangenheitsbewältigung plötzlich auch hier erst vereinzelt und dann immer häufiger Äußerungen zu Nietzsche auf, in denen er als ein maßgeblicher Vorläufer Hitlers hingestellt wurde. Allerdings behauptete sich diese Sicht nur wenige Jahre und wurde ab 1973/74 – nach dem Abflauen der linken Anschauungen im Rahmen der Achtundsechziger Bewegung, die vor allem seinen Haß auf den 248 Michael Mathias Prechtl

Sozialismus angeprangert hatte – allmählich von einer Neuverklärung Nietzsches abgelöst, was zu einer merklichen Aufwertung aller von ihm in Gang gesetzten antirationalistischen Tendenzen führte. Indem sich viele der früheren Neuen Linken von ihren bisherigen basisdemokratischen Ansichten distanzierten und damit auf jeden Kollektiv- oder Solidaritätsbezug verzichteten, mußte ihnen die betont subjektivistische Komponente in Nietzsches Schriften immer sympathischer erscheinen.9 Jetzt hieß es in ihren Schriften nicht mehr vom „Ich zum Wir“, sondern vom „Wir zum Ich“. Statt sich weiterhin an irgendwelchen „Meisterdiskursen“ zu orientieren, die schon Nietzsche abgelehnt habe, sei man wesentlich besser beraten, behaupteten sie, sich ohne irgendwelchen Theorieballast den eigenen Instinkten hinzugeben, das heißt – im Gegensatz zu Fortschrittsaposteln wie Hegel und Marx – nur den subjektiven Lebenswillen im Auge zu behalten.10 Und damit geriet das gesamte Projekt der sogenannten „Moderne“, dem die linke bis linksliberale Vision einer aufgeklärten und somit mündig gewordenen Menschheit zugrunde gelegen hatte, die sich in gesamtgesellschaftlicher Form über sich selbst verständigt, zusehends unter Beschuß. Was sich dafür um 1980 als Gegenbegriff einstellte, war jene „Postmoderne“, die jetzt allerdings nicht mehr wie noch 10 bis 15 Jahre zuvor im Sinne Leslie A. Fiedlers als eine popkulturelle Anpassung an die Massenmedien, sondern als eine Lebensweise verstanden wurde, die sich vornehmlich an Kriterien wie Spontaneität und Ellbogenfreiheit, das heißt anarchischer Willensdurchsetzung auszurichten versuchte. In dieser Postmoderne stand also eher das Romantisch-Mythische, Existentialistische, Erotisierende, wenn nicht gar Traumhafte oder Halluzinatorische als das durch die Vernunft Abgeklärte im Vordergrund. Was man damit ein für allemal beseitigen wollte, war jene auf der puren Zweckrationalität beruhende moderne oder auch modernistische Kultur der „Hirnis“, wie es in Anlehnung an die damals gängige Szenesprache hieß, der man mit einer sensibilisierenden, kreativitätserwekkenden, wunschanreizenden Ichgesinnung entgegentreten müsse, welcher das oft mißverstandene Motto „The Personal is the Political“ zugrunde gelegt wurde. Eine wirkungsvolle Schützenhilfe erhielt diese Richtung durch jene poststrukturalistische bzw. postmoderne Denkrichtung, die zu diesem Zeitpunkt – aus Frankreich kommend – auch auf Westdeutschland Denker Nietzsche – Täter Hitler

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übergriff, welche eine zunehmende Enthistorisierung sowie Entgesellschaftung bewirkte, was zu einer immer stärkeren Abwendung von jenem „Projekt der Moderne“ führte, an dem vor allem Jürgen Habermas festzuhalten versuchte. Und im Rahmen dieser Richtung, deren französische Hauptvertreter ebenfalls weitgehend enttäuschte Linke waren, die sich in Paris nach der gescheiterten Mairevolte von 1968 auf Probleme der Ichhaftigkeit zurückgezogen hatten, war auch Nietzsche wieder zu Ehren gekommen. Statt weiterhin auf marxistische oder maoistische Konzepte zu schwören, orientierte sich etwa Michel Foucault jetzt bei seiner genealogischen Zurückführung bestimmter Begriffsbildungen immer deutlicher an von Nietzsche vorgegebene Muster, während Jacques Derrida behauptete, daß ein mit den Augen Heideggers gesehener Nietzsche durchaus subjektdifferenzierende Potentiale enthalte. Ähnliche Denkmuster finden sich gleichzeitig in den USA bei Paul de Man, der Nietzsche vornehmlich als einen Wortkünstler interpretierte, der sich nie an überindividuelle Wahrheiten gehalten habe. Kurzum: alle diese Postmodernisten benutzten Nietzsche – jenseits aller politischen Aspekte – vornehmlich zur Unterstützung ihrer eigenen methodologischen Sehweisen, um sich damit im Gegensatz zu Lukács von allen älteren Meisterdiskursen abzusetzen.11 Daß dieses neue Interesse für die Schriften Nietzsches – neben manchen durchaus frappierenden Einsichten – auch in der ehemaligen westdeutschen Bundesrepublik höchst problematische Auswirkungen hatte, belegen etwa die um 1980 erscheinenden Essays von Gerd Bergfleth, die er 1984 in seinem Sammelband Zur Kritik der palavernden Aufklärung zusammenfaßte. In ihnen wurden alle sogenannten Fortschrittskonzepte à la Ernst Bloch als westlicher Kosmopolitismus diffamiert und damit, wie in den Schriften Armin Mohlers, unter wiederholter Berufung auf Nietzsche als unziemliche Überfremdung alles wahrhaft Deutschgestimmten hingestellt.12 Mit solchen Thesen unterstützte Bergfleth, ob nun direkt oder indirekt, einen „revisionistischen“ Kurs, wie er zu gleicher Zeit auch in Blättern wie Wir selbst, Aufbruch, Criticon und Mut gefährliche Urständ erlebte. Soviel zu den Wandlungen innerhalb der Nietzsche-Rezeption seit dem nazifaschistischen Zugriff auf diesen Philosophen. Während die Linken und die Linksliberalen wegen der gewaltsam überzogenen Indienstnahme Nietzsches durch Bäumler, Rosenberg und Konsorten 250 Michael Mathias Prechtl

sowie der Kritik an Nietzsche von Seiten der Marxisten und der Achtundsechziger Bewegung zeitweilig geglaubt hatten, daß damit der „Fall Nietzsche“ ein für allemal klargestellt sei und man sich nicht weiter mit ihm beschäftigen müsse, vollzog sich also um 1980 in der BRD eine Nietzsche-Renaissance unter postmodernistischem wie auch halbwegs nationalbetontem Vorzeichen, die eine Reihe höchst fragwürdiger Aspekte aufwies. Und diesem ideologischen Sichtwechsel hofften einige der übriggebliebenen Linksliberalen wie auch Vertreter des hart umkämpften „Projekts der Moderne“ zu diesem Zeitpunkt auf ihre Weise entgegenzutreten. Einer dieser Autoren war Rudolf Augstein, der am 8. Juni 1981 seinen Spiegel dazu benutzte, dieser Form der Nietzsche-Renaissance so entschieden wie möglich Paroli zu bieten.13 Im Gegensatz zu einigen US-amerikanischen und westdeutschen Kunsthistorikern14 und Germanisten,15 die dem heraufziehenden Postmodernismus auch einige positive Seiten abzugewinnen versuchten, wandte er sich vor allem gegen jene „Nietzsche-Renaissance“, welche von den französischen „Neuen Philosophen, Antimarxisten und Strukturalisten“ ausgehe, deren Adepten plötzlich auch in Westdeutschland unter der Parole „Keine Macht für niemand“ diesen Philosophen zu ihrem Kronzeugen erhoben hätten.16 Und er tat dies, wie zu erwarten, mit journalistischer Bravura, um damit seinen Lesern, wie schon manche seiner linken und linksliberalen Vorgänger,17 die Augen für die präfaschistischen Tendenzen in Nietzsches Werk zu öffnen, die man nicht übersehen dürfe. Was er daher an Nietzsches Schriften besonders nachdrücklich akzentuierte, waren das „Herrenmenschen- und Eroberertum, die Verachtung und Ausrottung unwerten Lebens sowie die barbarische Kriegsschwärmerei“,18 um damit all jene französischen, US-amerikanischen und westdeutschen Autoren zu brüskieren, die solche Aspekte bewußt zu übersehen versuchten. Im Gegensatz zu den betont verharmlosenden Sehweisen der „Neuen Philosophen“ stellte Augstein deshalb in aller Schärfe Nietzsches Haß auf alles Liberale und Sozialgesinnte sowie dessen Hoffnung auf die Heraufkunft einer stärkeren Rasse heraus, ja schreckte dabei keineswegs davor zurück, auf die vielen „Gemeinsamkeiten“ zwischen Nietzsche und Hitler hinzuweisen. Dementsprechend heißt es bei ihm: „Beider Ziel war ein Handeln in großem Maßstab. Beide glaubten an eine Denker Nietzsche – Täter Hitler

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Bestimmung, der sie alles andere opfern müßten, und sei es ihr Leben. Beide zielten auf eine Erdregierung, beide durch eine höhere Rasse. Beider Handlungsziel erstreckte sich auf Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende. Beide sahen sich zuerst in der Rolle eines Vorläufers, eines Propheten, für den, der da kommen wird. Beide glaubten, nicht lange zu leben, glaubten sich in Eile. Beide eigneten sich Amateurkenntnisse an, die sie dann ohne hinlängliche Absicherung in ihre tägliche Arbeit hineintrugen. Beide laborierten mit Dietika und Ernährungstheorien. Beide hatten zu Freundinnen meist ältere oder betuchte Gönnerinnen. Bei beiden war der Drang zu einem regelmäßigen Sexualleben schwach, falls überhaupt ausgebildet. Beide, Nietzsche wie Hitler, wollten ihre persönliche Katastrophe mit einem kosmischen Weltbrand à la Wagners Götterdämmerung in eins setzen.“19 In diesen Gleichsetzungen werden zwar in journalistischer Manier die politischen Aspekte in Nietzsches Schriften auf eine nicht ganz überzeugende Weise mit einer Reihe psychologisch-biographischer Züge vermischt, aber die Grundtendenz bleibt trotzdem klar: Nietzsche und Hitler wollten beide, wie Augstein behauptet, einer „höheren Rasse“ auf sozialdarwinistische Weise den Weg zur Erderoberung bahnen, um damit – unter Berufung auf das altindische „Gesetzbuch des Manu“ – einer „Herrenklasse“ zur Herrschaft zu verhelfen und so die weitere Ausbreitung jener niedriggesinnten Untermenschen zu vereiteln, die nur darauf bedacht seien, sich den unwürdigen „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ hinzugeben. Beider Ziel sei gewesen, daß wieder Übermenschen, wie Alexander der Große, Alarich, Cesare Borgia oder Napoleon, und nicht die massenhaften Tschandalas oder Plebejer in Fragen der Politik und Kultur ans Ruder kämen. Und zur Erringung dieses Ziels seien ihnen alle Mittel, auch die der Gewalt und Ausrottung, recht gewesen. Das ist eindeutig. Dennoch war Augstein nicht so uneinsichtig, sich mit solchen Gleichsetzungen zufrieden zu geben. Als Abschreckungsparolen waren sie ihm schon wichtig, um so einer weitgehenden Entpolitisierung Nietzsches entgegenzutreten und weiterhin die unleugbar präfaschistischen Züge in Nietzsches Schriften herauszustellen. Aber Augstein war zugleich klug genug, gegen Schluß seines provokanten Essays auch auf die Unterschiede dieser beiden Gestalten hinzuweisen. Schließlich sei der eine ein einsamer, zu seinen Lebzeiten kaum beachte252 Michael Mathias Prechtl

ter Denker und der andere ein massenzugewandter Täter gewesen, dem die politische Praxis das Wichtigste war. Daher schloß Augstein seinen Spiegel-Artikel mit dem Satz: „Der ‚Dynamit‘, wonach Nietzsche lechzte, war der Täter Hitler. Er, der Schreibtischtäter Nietzsche, war es nicht.“20

II All das und noch viel mehr muß man als historisch gebildeter Mensch wissen, um Michael Mathias Prechtls Titelblatt zu der Spiegel-Nummer vom 8. Juni 1981 in seiner Aktualität und politästhetischen Tiefendimension richtig zu verstehen. Ich weiß, das ist viel verlangt. Aber ohne eine derartige Kenntnis bleibt sein Denkbild Denker Nietzsche – Täter Hitler notwendig vordergründig, wenn nicht gar in einem schlechten Sinne plakativ. Augstein wußte sicher genau, warum er dieses Denkbild ausgerechnet bei Prechtl bestellte. Schließlich war dieser Künstler in der langen Durststrecke abstrakter oder gegenstandsloser Malerei und Graphik seit der Mitte der fünfziger Jahre, als man allen aktuellen Themen bewußt aus dem Wege gegangen war, einer der wenigen „Realisten“ geblieben, der trotz seiner geradezu altmeisterlichen Malweise nie das Politisch-Aktuelle aus dem Auge verloren hatte. Statt sich dem Siegeslauf der Documenta-Kunst anzuschließen, die mehr und mehr ins Unverbindliche abgedriftet war,21 hatte er sich schon 1960 zu einem durch die Nazifaschisten ins Exil vertriebenen Maler wie Max Beckmann bekannt22 und sich dann an der Graphik Albrecht Dürers orientiert, ohne jemals ins Unkonkrete auszuweichen. Ja, 1964 war er dazu übergegangen, Bertolt Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe zu illustrieren und weitere „Bilder zu Bertolt Brecht“ für die Neue Münchner Galerie Richard Hiepes anzufertigen, der kurz zuvor mit deutlicher Kampfansage an die gegenstandslose Malerei die gesellschaftskritische Kunstzeitschrift Tendenzen gegründet hatte. Ein Jahr später hatte Hiepe, der linksgerichtete Autor des Buchs Die Kunst der neuen Klasse,23 in seiner Galerie Prechtls Bilderserie Intime Sitten- und Kulturgeschichte des Abendlandes ausgestellt, in der Prechtl in seiner nun schon voll ausgebildeten politischen Sehweise dazu übergangen war, zwar zum Teil groteske, aber nichtsdestotrotz linkskritische Kommentare zu den Denker Nietzsche – Täter Hitler

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bedeutendsten Gestalten und Ereignissen der letzten zweieinhalbtausend Jahre aufs Papier zu bringen. Darauf hatte Prechtl 1968 die Ausstellung „Cranach und Picasso“ organisiert, die ihm das „Lob“ Picassos einbrachte.24 Doch nicht genug damit. Im Juni 1969 illustrierte Hiepe nicht nur die Nummer 58 seiner Zeitschrift Tendenzen mit vier Graphiken Prechtls, darunter dem Bild Marx bei der Arbeit am Kapital von 1966,25 sondern ließ auf ihrem Titelblatt die Zeichnung Die Polizei von Athen prügelt die Jünger des Sokrates vom Jahr zuvor abbilden, auf der Prechtl den geprügelten Demonstranten die Gesichtszüge von Fritz Teufel und Rainer Langhans, den beiden damals bekanntesten Westberliner Kommunarden, gegeben hatte. All das spricht letztlich für sich selbst. Durch derartige Aktionen und Bilder war Prechtl zeitweilig – neben Fotomonteuren wie John Heartfield und Klaus Staeck – zu einer Ikone der Achtundsechziger Bewegung geworden. Wenn auch sein linkskritischer Elan in der Folgezeit etwas nachließ, verzichtete Prechtl in den siebziger Jahren keineswegs darauf, weiterhin politische Denkbilder zu zeichnen oder zu malen, denen jenes von Brecht stets geforderte „eingreifende Denken“ zugrunde lag. So entwarf er etwa 1971 für die New York Times ein positives Porträt Willy Brandts, dem kurze Zeit später 20 weitere politische und literarische Porträts für das gleichen Blatt folgten, wobei das höchst kritische von Richard Nixon durchaus Furore machte. Ein Jahr später begann seine Zusammenarbeit mit der linksgerichteten Büchergilde Gutenberg, für die Prechtl in den siebziger Jahren nicht nur Oskar Maria Grafs Das bayerische Dekameron, sondern auch Gustav Reglers Die Saat illustrierte. All das erregte zwar nicht mehr soviel Aufsehen wie seine Zeichnungen der Achtundsechziger Zeit, bewahrte ihn aber – im Gegensatz zu manchen anderen „Realisten“ der Jahre nach 1968 – vor einem völligen Vergessenwerden. Die auf konkrete Aktualität bedachte Spiegel-Redaktion beauftragte ihn daher 1980, das kritische Titelblatt für das Heft Der Papst in Luthers Land zu entwerfen, das eine bundesweite Beachtung fand. Aber Prechtls eigentlicher Durchbruch als „Denkmaler“ erfolgte erst mit dem Spiegel-Titelblatt Denker Nietzsche – Täter Hitler am 8. Juni 1981. Seitdem wurde er von den „Liberalen“ immer höher eingeschätzt, während ihn die CSU-Kreise in Bayern und auch andere Konservative als politischen Störenfried, wenn nicht gar Nestbeschmutzer hinstellten. 254 Michael Mathias Prechtl

Schließlich war für sie Nietzsche – nach der nazifaschistischen Vereinnahmung sowie der darauffolgenden Schweigeperiode bzw. linkskritischen Diffamierung – inzwischen wieder in den Rang eines höchst bedeutsamen Philosophen aufgestiegen, dem man sogar in den USA und in Frankeich die nötige Ehrerbietung erweise. Einen solchen überaus sensiblen, von inneren Widersprüchen zerrissenen Denker mit Hitler in Beziehung zu setzen, hielten sie für ein unehrbietiges Sakrileg. Was diese Kreise dabei übersahen, war die zwangsläufige Vereinfachung, die derartigen politischen Denkbildern zugrunde liegt. Während man in akademisch gehaltvollen Aufsätzen, ja sogar journalistischen Artikeln auch auf politische und denkerische Subtilitäten und Unterschiede eingehen kann, wirkt ein gemaltes oder gezeichnetes politisches Denkbild stets etwas plakativ, wenn nicht gar krud. Das ist seine Schwäche, aber auch seine Stärke. Es „überzeichnet“ nun einmal meist auf eine unziemliche Weise seine ideologische Absicht, um das nötige Aufsehen zu erregen. Mit solchen Bildern muß man also nicht notwendigerweise übereinstimmen. Sie wollen „Gegenbilder“ zu vorgefaßten Meinungen sein und damit zu weiterführenden Auseinandersetzungen anregen. Welche Gesinnung dem Nietzsche und Hitler gewidmeten Denkbild zugrunde lag, wurde allen an politischer Kunst Interessierten in den folgenden Jahren immer augenfälliger. Dafür sorgten nicht nur Prechtls weitere Titelbilder für den Spiegel, die unter anderem Sigmund Freud (1984), Ludwig dem II. (1986), Heinrich Heine (1997) und Theodor Fontane (1998) gewidmet waren, sondern auch seine in Bayern als skandalös empfundenen Plakate Lolas Floß (1983) und Das Oktoberfest. Einhundertfünfzig Jahre Bayerischer National-Rausch sowie seine provokanten Entwürfe für die Ausmalung des Nürnberger Rathaussaals, die Prechtl nach massiven Angriffen von Seiten konservativer Politiker wieder zurückzog. Außerdem arbeitete er in diesem Zeitraum an halb humoristischen, halb politischen Illustrationen zu Das Leben des Lazarillo von Tormes (1983), Thomas Morus’ Utopia (1895), Das Leben des Benvenuto Cellini (1994) und Voltaires Candide (1989) für die Büchergilde Gutenberg, die nie ihren gesellschaftskritischen Impetus verleugnen. Es war daher höchst zutreffend, daß Christoph Stölzl dem von ihm herausgegebenen Band, der vor allem Prechtls Bilder seiner Intimen Sitten- und Kulturgeschichte des Abendlandes enthielt, den Titel DenkmaDenker Nietzsche – Täter Hitler

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lerei gab.26 In einem in diesem Band abgedruckten Interview betonte Prechtl ausdrücklich, daß er aus politischen Gründen nie eine „Scheidelinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ gezogen habe, aber zugleich stets bemüht gewesen sei, der „Gefahr bloßer kabarettistischer Effekte aus dem Wege zu gehen“. Ebenso wenig habe er sich, wie er ebenfalls erklärte, mit irgendwelchen nichtssagenden Abstraktionen zufrieden gegeben. Um diese Einstellung auch graphisch auszudrücken, ließ er in diesem Band eine Federzeichnung abbilden, auf der er schon 1972 dargestellt habe, daß die in den fünfziger Jahren beliebte Gegenstandslosigkeit innerhalb der „informellen Malerei“ auf eine Schnapsidee des „volltrunkenen Rembrandt“ zurückgehe. Doch da es Prechtl in diesen Jahren, in denen die Kohl-Regierung in Westdeutschland einen betont reaktionären Kurs einschlug, nicht nur um aktuelle Parodien, unter anderem auf Franz Joseph Strauß und Hans Filbinger, ging, sondern er sich auch weiterhin zu seinen politischen Leitbildern bekennen wollte, schuf er zugleich ein eindrucksvolles Porträt von Karl Marx, Friedrich Engels, Heinrich Heine, Oskar Maria Graf, Carl von Ossietzky, Bertolt Brecht, Pablo Picasso und Heiner Müller nach dem anderen. Alle diese Bilder erschienen dann in dem im Jahr 2001 von Kai Artinger herausgegebenen Sammelband Prechtls Welttheater, dem eine diesem Künstler gewidmete Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin vorausgegangen war. In diesem Band betonte Prechtl unter Berufung auf das Käthe Kollwitz-Motto „Ich will wirken in dieser Zeit“ und unter scharfer Ablehnung aller von ihm als „undemokratisch“ hingestellten „L’art pour l’art“-Tendenzen noch einmal seinen „gesellschaftskritischen Ansatz“,27 gab jedoch gleichzeitig zu, daß die „klaren Feindbilder und die Vision eines vom Elend erlösenden Sozialismus“, die in den sechziger und siebziger Jahren „noch lebendig“ gewesen seien, heute allmählich verblaßten.28 Dennoch bekannte er sich weiterhin zu einem „gesellschaftskritischen Zweifel“, ohne den jede ernsthafte Kunstbemühung zwangsläufig sinnlos sei. Hermann Glaser, der ehemalige linksliberale SPD-Kulturreferent der Stadt Nürnberg stellte daher in seinem Beitrag zu diesem Band, dem er den Titel Denkmaler in reflexionsarmer Zeit gab, Prechtl als einen aufmüpfigen „Realisten“ hin, welcher der „Börse des International Style“ keine Beachtung geschenkt habe. Prechtl, heißt es bei ihm, habe in der Kunst nie eine „elitäre Aktie“ gesehen,29 sondern mit seiner 256 Michael Mathias Prechtl

„Mimesis-Qualität“ die politischen Erscheinungen und Gestalten stets auf eine wahrhaft konkrete Weise wiedergegeben.30 Eine ähnliche Haltung Prechtl gegenüber bezog der Argument-Herausgeber Wolfgang Fritz Haug in seinem Essay Prechtls Brecht, in dem er ebenfalls betonte, daß alle Bilder dieses Künstlers nicht ohne den politischen „Widerstand“ zu verstehen seien, der hinter ihnen stehe.31 Daß derartige Aussagen besonders auf Prechtls Hitler-Darstellungen zutreffen, versteht sich von selbst. Das erste dieser Bilder erschien am 22. Juni 1974 in der New York Times, auf dem ein finster blickender Hitler in Hamlet-Pose einen Totenschädel betrachtet, das zweite auf dem hier interpretierten Spiegel-Titelblatt von 1981. Anschließend ließ Prechtl das Hitler-Motiv nicht wieder los. 1989 stellte er unter dem Titel Original und Fälschung – in unübersehbarer Anspielung auf den Film The Great Dictator – Charlie Chaplin und Hitler nebeneinander. 1991/92 entwarf er für eine Inszenierung von Richard Wagners Der Ring des Nibelungen im Dortmunder Opernhaus die jeweils erforderlichen Werbezeichnungen. Auf dem Plakat Sieg friederich sieht man Cosima und Siegfried Wagner, neben denen ein zwergenhafter Nietzsche mit einer Peitsche in der Hand steht. Dagegen ringt auf dem Plakat zur Götterdämmerung Winifred Wagner verzweifelt die Hände, während Hitler – inmitten einer Feuerbrunst – die unter ihm liegende Eva Braun mit einer Pistole bedroht. Auch das wirkt zweifellos etwas „plakativ“, versucht aber wiederum, wie auf dem Bild Denker Nietzsche – Täter Hitler, keine „Scheidelinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ zu ziehen, um so in denkmalerischer Form auf jene Figuren und Werke hinzuweisen, die später dem nazifaschistischen Ungeist zugute gekommen seien.32

Denker Nietzsche – Täter Hitler

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Wandlungen der Leipziger Schule Von Wolfgang Mattheuer bis Neo Rauch (1973–2010)

„Wenn deine Sache nicht nur deine Sache ist, wird ein Zeitbild entstehen“ (Wolfgang Mattheuer).

„Mein Malen ist in erster Linie ein ausgesprochen selbstbezogenes Unterfangen, das mich in seiner Komplexität kokonartig einspinnt und für die Dauer des Schaffensprozesses aller Außenbindungen enthebt“ (Neo Rauch).

I Solange die deutsche Teilung bestand, erfreute sich der DDR-Maler Wolfgang Mattheuer selbst im westlichen Kunstbetrieb einer relativ ungeteilten Beliebtheit. Trotz der krassen Gegenständlichkeit seiner Bilder sahen viele der dortigen Feuilletonisten und Publizisten in ihm einen ostdeutschen Künstler, der sich nicht der damals als „platt“, wenn nicht gar als „totalitaristisch“ geltenden Doktrin des Sozialistischen Realismus gebeugt habe, sondern sich einer symbolistisch überhöhten, ja fast surrealistischen Darstellungsweise bediene, die sich in ihren Motiven als durchaus „widersetzlich“ interpretieren lasse. Statt mit forciertem Optimismus lediglich „positive Helden“ zu malen, wie es im Hinblick auf die DDR-Malerei oft pauschalisierend hieß, gehe es auf seinen Bildern immer wieder um Konfliktsituationen, mit denen Mattheuer auf die nur allzu offenkundigen Mängelerscheinungen innerhalb des SED-Regimes hinzuweisen versuche. Mit anderen Worten: seine Bilder wurden im Westen häufig als Zeugnisse eines gegen die erdrükkende Kollektivgesellschaft der DDR aufbegehrenden Künstlers hingestellt, der jene individuelle Eigenart zu verteidigen suche, die weitgehend auf der westlichen Ideologie der Ideologielosigkeit und dem damit verbundenen Durchsetzungs- und Bereicherungsdrang des Einzelnen beruhe.1 258 Von Wolfgang Mattheuer bis Neo Rauch

28 Wolfgang Mattheuer: Der übermütige Sisyphos und die Seinen (1976) © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

Und zwar stützten sich die bundesrepublikanischen Kritiker dabei meist auf folgende Beispiele, mit denen sie diese, der psychologischen Kriegsführung zwischen den beiden deutschen Teilstaaten verpflichtete Sehweise zu untermauern versuchten. Zu Anfang wurden innerhalb dieser Beweisführung gern Mattheuers Maskenbilder der frühen siebziger Jahre herangezogen, mit denen er sich, wie es oft hieß, bereits als junger Mann bemüht habe, seinen Widerwillen gegen die vom DDRStaat erzwungene gesellschaftliche Konformität zum Ausdruck zu bringen. Ebenso beliebt war es längere Zeit, immer wieder auf sein angeblich antisozialistisch gemeintes Bild Die Ausgezeichnete (1973) hinzuweisen, auf dem eine gealterte Arbeiterin, die sich offenbar als Wandlungen der Leipziger Schule

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„Aktivistin“ hervorgetan und eine Prämie erhalten hat, mit verhärteten Gesichtszügen teilnahmslos vor sich hinblicke, statt sich über die ihr erwiesene Ehrung zu freuen.2 Weitere Beispiele dieser von ideologischer Schadenfreude geprägten Sehweise bilden die damaligen westlichen Interpretationen seines Bildes Hinter den sieben Bergen (1973), auf dem eine von Autos befahrene Straße zu sehen ist, die sich bis zu einer im Hintergrund ansteigenden Hügellandschaft erstreckt, über der eine an Eugène Delacroix’ 1830 gemaltes Revolutionsbild Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden gemahnende Frauengestalt zu schweben scheint, die allerdings statt der Trikolore und eines Gewehrs einen verwelkten Blumenstrauß und ein paar bonbonfarbige Luftballons in den Händen hält. Hierin sahen einige Kritiker diesseits der Elbe selbstverständlich die im Westen aufleuchtende Figur der „Freiheit“, obwohl das Ganze von Mattheuer selbst als eine Allegorie des Prager Frühlings von 1968 gemeint war.3 Politisch ebenso opportun war es zeitweilig im Westen, in Mattheuers Sisyphos-Bildern der siebziger Jahre, ob nun Die Flucht des Sisyphos (1972), Der übermütige Sisyphos (1973), Sisyphos behaut den Stein (1973) oder Der übermütige Sisyphos und die Seinen (1976), lediglich Gleichnisse für die Sinnlosigkeit alles menschlichen Tuns, das heißt dystopische Reaktionen auf die von der SED pausenlos propagierte Aufbauarbeit des Sozialismus zu sehen, obwohl auf ihnen sowohl das kollektive Vergnügen, den gewaltigen Stein einfach den Abhang hinunterzustoßen, als auch die künstlerische Umformung dieses Steins in eine geballte Faust durchaus positiv dargestellt sind.4 Schon diese wenigen Beispiele lassen erkennen, wie zielgerichtet derartige Interpretationen waren. Immer wieder ging es in ihnen mehrheitlich darum, schon den frühen Mattheuer vor allem als einen untergründigen Kritiker des SED-Regimes zu charakterisieren. Aufgrund dieser Sehweise wurde ihm sogar sein massiver Realismus verziehen, der im Westen lange Zeit als ein Anathema jeder wahrhaft „freien“, das heißt ins Eigenschöpferisch-Abstrakte übergehenden künstlerischen Ausdrucksweise galt.5 Doch wenn es um politideologische Auseinandersetzungen ging, spielten damals – im Zuge des Kalten Kriegs zwischen Ost und West – Momente einer tieferschürfenden Wahrheitsfindung oft nur eine relativ untergeordnete Rolle. Um also den eigentlichen Intentionen der Mattheuerschen Bilder auf die Spur zu kommen, die manchmal – trotz ihrer scheinbar plakativen Formgebung – recht verschlüsselt 260 Von Wolfgang Mattheuer bis Neo Rauch

sind, empfiehlt es sich, erst einmal auf seine besondere Art des „Realismus“ einzugehen, die weder dem herkömmlichen Abbildrealismus noch den Empfehlungen des 1934 auf dem Moskauer Allunionskongreß verkündeten Sozialistischen Realismus entspricht, sondern – trotz vieler ihm ähnlicher Vorläufer symbolisch aufgeladener Darstellungsweisen – in seinem Œuvre eine höchst eigenwillige Form angenommen hat.

II Im Gegensatz zur parteiamtlichen Malerei der frühen DDR, die sich weitgehend darum bemühte, positive Leitbilder des sozialistischen Aufbaus zu entwerfen, ging es bereits dem jungen Mattheuer – wie dem gleichaltrigen Heiner Müller auf literarischem Gebiet – trotz seiner Bejahung des SED-Regimes vor allem darum, nicht der zweckoptimistischen Tendenz ins Schönfärberische zu verfallen, sondern eher im Sinne einer konstruktiven Kritik auf die „objektiven Schwierigkeiten“ beim Aufbau des Sozialismus hinzuweisen. Neben seiner Vorliebe für das dialektisch vorwärtsweisende Denken eines Bertolt Brecht beeinflußten ihn dabei auch die ins Utopische ausgreifenden Thesen Ernst Blochs, bei dem er Mitte der fünfziger Jahre in Leipzig Vorlesungen gehört hatte.6 Sein „Realismus“ besaß daher von Anfang an den Charakter des Anstachelnden, um jenseits der bereits vorgenommenen ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen auf das noch nicht Erreichte vorwegzugreifen. Obwohl er wie Otto Nagel ebenfalls Arbeitersohn war und mit den politischen Zielsetzungen des 1949 auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone gegründeten Arbeiter- und Bauernstaats, der sich Deutsche Demokratische Republik nannte, durchaus übereinstimmte, sah er seine künstlerlische Hauptaufgabe darin, sich nicht mit dem bereits Realexistierenden abzufinden, sondern darüber hinaus die zukunftsverheißenden Möglichkeiten einer wahrhaft sozialistischen Umgestaltung aller menschlichen Verhältnisse zu beschwören. Als echtem Utopiker erschien ihm die Gegenwart noch immer als eine prekäre Zwischenzeit, in der jedoch jene hoffnungsvolle, wenn auch gefährdete „Fähre zwischen Eiszeit und Kommune“ endlich in Gang gekommen sei, wie es in Heiner Müllers Drama Der Bau von 1965 einmal heißt.7 Wandlungen der Leipziger Schule

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Dementsprechend sind auf Mattheuers frühen Bildern viele seiner Figuren nicht nur DDR-Bürger, sondern zugleich Menschheitsallegorien, die auf jenen bereits in der Antike begonnenen dialektischen Fortschritt innerhalb der Geschichte hinzuweisen versuchen, der noch längst nicht an seinem Ziel angekommen sei, sondern weiterhin im Zeichen des Blochschen „Noch-Nicht“ stehe. Und diesem Anspruch entspricht auch seine künstlerische Gestaltungsweise. Mit Rückgriffen auf ältere deutsche Maler wie Albrecht Dürer, Lukas Cranach, Matthias Grünewald und Hans Baldung Grien, aber auch in Anlehnung an Maler der jüngsten Vergangenheit, wie Max Beckmann, Carl Hofer, Otto Pankok, Fernand Léger und vor allem Pablo Picasso,8 entwickelte er eine Form des Realismus, die sich als Widerspiegelung einer dialektisch begriffenen Wirklichkeit verstand, welche also in den weiterhin bestehenden Konflikten nicht nur das Dunkle, Verzagende oder gar Defätistische, sondern zugleich die Potentiale einer besseren Zukunft herauszuarbeiten versuchte. Daß ihm das – bei der Größe der gestellten Aufgabe und der ihm begegnenden Mißverständnisse – nicht immer gelang, sei durchaus zugegeben. Aber da, wo er, wie auf seinen frühen Sisyphos-Bildern, dieser Absicht einen überzeugenden Ausdruck verlieh, schuf er politische Bekenntnis- oder Denkbilder, wie sie in dieser Eindringlichkeit damals nicht gerade häufig anzutreffen sind. Worum es also diesem Künstler inmitten einer sich in den siebziger und achtziger Jahren auch in der DDR ausbreitenden Konsum- und Massenmedienwelt zutiefst ankam, war das Bemühen, mit seinen Gemälden und Holzschnitten weiterhin hochkulturelle und dementsprechend anspruchsvolle Kunstwerke zu schaffen, mit denen er aufgrund ihrer realistisch-allegorischen Formgebung im Sinne der KollwitzMaxime „Ich will wirken in dieser Zeit“9 möglichst breite Schichten der Bevölkerung, einschließlich der Industriearbeiter, zum Nachdenken über ihre eigene Lage zu bewegen hoffte. Denn letztlich ging es ihm weniger um eine selbstgenügsame Kunst als um die gesellschaftliche Wirklichkeit, an deren Umbau er, so gut er es vermochte, mitarbeiten wollte. Statt im westlichen Sinne lediglich ein auf seine persönliche Eigenart bedachter „Nur-Künstler“ zu sein, faßte Mattheuer bei seinem Schaffen fast ausschließlich gesamtgesellschaftliche Themen ins Auge, um den auf seinen Bildern dargestellten Hoffnungen wie auch kritischen Einwänden einen in die soziale Praxis eingreifenden Bezug zu verlei262 Von Wolfgang Mattheuer bis Neo Rauch

hen.10 „Nur die spannungsvolle Reibung zwischen Übereinstimmung und Protest, zwischen Ja und Nein schärft den Blick für Wahrheiten und stimuliert zu realistischer Kunst“, notierte er sich 1975.11 Die jenseits der Elbe hochgespielten „Installationen“ eines Joseph Beuys sagten ihm daher wenig oder nichts. Er fand sie lediglich „trist und banal“.12 Auch gegenstandslose oder surrealistische Gemälde erschienen ihm unwichtig.13 „Von einer Kunst, die sich nur mit sich selbst beschäftigt, halte ich nicht viel“, erklärte er einmal in einem Interview.14 Ihm ging es stets um eine Kunst, der ein „politisch soziales Engagement“ zugrunde liegt, das heißt „die sich einmischt in die Dinge der Welt“.15

III Daß Mattheuer diesen Anspruch nicht in die gesellschaftliche Wirklichkeit umsetzen konnte, hat vielerlei Gründe. Davon sollen hier wenigstens einige angeführt werden. Er, der wie so viele der sozialistischen Utopiker 1956 erst mit der Kruschtschowschen Entstalinisierungspolitik sowie der darauffolgenden „Tauwetter“-Stimmung und dann mit dem Prager Frühling von 1968 sympathisiert hatte, mußte im Laufe der siebziger und achtziger Jahre erleben, wie sich die DDR – trotz des weiterhin propagierten „Aufbaus des Sozialismus“ – immer stärker in Richtung einer marktorientierten Industrie-, Medien- und Konsumgesellschaft entwickelte, in der eine mögliche Wendung ins „Vermenschlichte“ im Sinne seiner utopischen Hoffnungen zusehends ins Hintertreffen geriet. In all diesen Tendenzen sah Mattheuer nicht nur eine fortschreitende Versachlichung der bisherigen sozialistischen Ideale, denen lange Zeit die Hoffnung einer Wendung ins Bildungsbetonte und Hochkulturelle im Sinne der Marxschen Pariser Manuskripte und des Blochschen Prinzip Hoffnung zugrunde gelegen hatte, sondern zugleich eine falsch verstandene „Liberalisierung“ und damit allmähliche Annäherung an den „Technikfetischismus“ und die „kapitalistische Unterhaltungsindustrie“ des Westens, die durch ihren Verzicht auf alles „Utopisierende“ lediglich die „Lust am Konsumieren“ erhöhten.16 Was ihn dabei – neben dem nachlassenden Interesse an hochkulturellen Bildungsbemühungen – besonders erbitterte, war die im Zuge dieser Entwicklung gewaltsam um sich greifende Verhäßlichung der einstmals Wandlungen der Leipziger Schule

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naturgegebenen Schönheit weiter Bereiche der DDR, in der ohne Rücksicht auf irgendwelche ökologischen Schäden einfach „brutal“ drauflos gewirtschaftet werde. Überall breite sich die Öde einer Industrielandschaft aus, überall sehe man neue „Großschlote“ in den Himmel ragen, schrieb er voller Empörung.17 Allerorten herrsche bloß noch das Prinzip der maximalen Sollerfüllung im Rahmen einer ins Ökonomistische depravierten Weltanschauung, wie er das in besonders krasser Form auf seinem Bild Oh, Caspar David zu brandmarken versuchte, auf dem eine Landschaft mit dem aufgeschütteten Abraum eines ausgekohlten Tagebaus zu sehen ist. Selbst der von vielen anderen DDR-Künstlern begrüßte Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker im Jahr 1971 erfüllte Mattheuer nicht mit neuen Hoffnungen. „Real existierende Sozialisten“, notierte er sich im August dieses Jahres, „die alles wirklich Neue in Idee und Form und alle dazugehörigen Überspitzungen und Verrücktheiten fürchten, jedoch die durch die kapitalistische Vermarktung und Handhabung abgeschliffene und im Produkt angewandte Form und Idee akzeptieren und begehren und dann in Lizenz nachbauen, bauen schließlich eine lizensierte Konsumgesellschaft, basislos und mangelgeplagt.“18 Und das war noch ziemlich nüchtern formuliert. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und dann noch verstärkt in den achtziger Jahren wurde seine Kritik am realexistierenden Sozialismus in der DDR nicht nur in seinen privaten Aufzeichnungen, sondern sogar bei manchen seiner öffentlichen Auftritte immer nachdrücklicher, so daß sich die Behörden der Staatssicherheit schließlich bemüßigt fühlten, selbst ihn, der immerhin zu den renommiertesten bildenden Künstlern der DDR gehörte, von zuverlässigen Informanten überwachen zu lassen.19 Wie erbittert Mattheuer in diesem Zeitraum über das Scheitern seiner sozialistischen Hoffnungen war, belegen vor allem jene privaten Notate, die nach der Wende von 1989 ans Licht der Öffentlichkeit kamen,20 in denen er sogar an seinem früheren Vorbild Brecht sowie an dem arroganten „Großbürgersohn“ Stephan Hermlin Kritik zu üben begann,21 den „Personenkult“ innerhalb der kommunistischen Parteien verurteilte22 und ab 1986 erklärte, daß im „Kampf der Systeme“ der ökonomisch stärkere Westen – wegen der östlichen Fehlentwicklung – höchstwahrscheinlich den Sieg davontragen werde.23 Obwohl ihn die SED in Anerkennung seiner früheren Gesinnung und zugleich seines 264 Von Wolfgang Mattheuer bis Neo Rauch

steigenden internationalen Renommees weiterhin hofierte, ihm Auslandsreisen erlaubte und ihm sogar 1986 noch einen Nationalpreis erster Klasse verlieh, entschloß sich Mattheuer schließlich im Oktober 1988, seinen Austritt aus der SED zu erklären. Als Grund für diese Entscheidung gab er Folgendes an: „Ich kann nicht jubeln und kann auch nicht Ja sagen, wo Trauer und Resignation, Mangel und Verfall, Korruption und Zynismus, wo bedenkenloser, ausbeuterischer Industrialismus so hochprozentig das Leben prägen und niederdrücken und wo programmatisch jede Änderung heute und für die Zukunft ausgeschlossen wird. Mit aller Vernunft und selbstkritischem Zweifel eines geborenen Proletariers: Ich kann das Gewordene nicht anders sehen und bezeichnen.“24 Und dieser Überzeugung gab er auch auf seinen Bildern dieser Jahre den entsprechenden verbitterten Ausdruck. Dafür sprechen vor allem Gemälde wie Verlorene Mitte (1985), Geh’ aus Deinem Kasten (1985), Der Nachbar, der will fliegen (1984), Nach Sonnenuntergang (1987), Panik (1987) und Ausbruch (1988), bei denen es sich weitgehend um Nachtszenen, verzweifelte Fluchtversuche aus brennenden Häusern oder einengenden Schrebergärten, schreckenerregende Leichenteile sowie die Darstellung eines am Boden zerschmetterten Ikarus geht, die im Sinne politischer Denkbilder fast ausschließlich um das Motiv der gescheiterten Hoffnung kreisen. Es war daher nur konsequent, daß sich Mattheuer im Spätherbst 1989 den Leipziger Montagsdemonstrationen anschloß, wo er sogar einen Aufruf verlesen wollte, der sich vor allem dagegen wandte, im Sozialismus nur das „kleine Glück der Nische“ zu sehen und sich weiterhin mit „qualmenden und stinkenden Industrien“ zufrieden zu geben.25 Ja, er erklärte darauf im Dezember 1989 im Sächsischen Tageblatt sogar, daß er jetzt – nach dem gescheiterten marxistisch-leninistischen Experiment in der DDR und der Sowjetunion – keinen Grund mehr dafür sehe, die „Einheit der Deutschen in einem Staat in der europäischen Gemeinschaft“ abzulehnen.26

IV Doch schon wenige Monate später, nachdem er Ende 1989 mit seinem Linolschnitt Ikarus erhebt sich dieser Hoffnung einen spontanen Ausdruck verliehen hatte, sank der Pegel seiner utopischen Erwartungen Wandlungen der Leipziger Schule

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29 Wolfgang Mattheuer: Angekommen (1991), Privatbesitz © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

auf einen durchgreifenden Neuanfang wieder auf den Nullpunkt zurück. Denn von den „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl den Ostdeutschen versprochen hatte, war nach der im Oktober 1990 durchgeführten „Wiedervereinigung“ schon bald keine Rede mehr. Was sich dagegen in den sogenannten Neuen Bundesländern breit machte, war all das, was Mattheuer schon in den siebziger und achtziger Jahren in der DDR als eine Verfälschung des Sozialismus empfunden hatte, nämlich ein popkultureller Medienfetischismus, ein unverbindlicher Kunstzirkus, ein technologischer Neuerungswahn sowie eine fortschreitende Rücksichtslosigkeit in ökologischer Hinsicht, was ihn ebenso stark, wenn nicht noch stärker bedrückte als in den Jahren zuvor. Und 266 Von Wolfgang Mattheuer bis Neo Rauch

so blieben auch seine Werke, ob nun Gemälde oder Holzschnitte, weiterhin politische Denkbilder einer gescheiterten Hoffnung. Dafür spricht beispielsweise sein Holzschnitt Angekommen von 1991, auf dem Mattheuer die Rekapitalisierung der DDR durch die plötzlich überall auftauchenden Reklameschilder darzustellen versuchte. Auf anderen Bildern der folgenden Jahre sieht man eingedunkelte Landschaften, grinsende, sich im Kreise bewegende Maskenträger, verwirrende Labyrinthe, schreiende Männer sowie einen an den Strand gespülten Mann. Ebenso trostlos wirkt jenes Bild, das er im Jahr 2002, also kurz vor seinem Tod, schuf und dem er den Titel Nichts Neues im neuen Jahrhundert gab, auf dem eine Gruppe schablonenhaft wiedergegebener Menschen neben einem am Boden liegenden Leichnam zu sehen ist. Auf diesen Bildern, wie auch auf seinem Gemälde Große Konfusion von 1993, hat sich die Utopie endgültig in eine Dystopie verkehrt, in der es keine Sisyphos-, Prometheus- oder Ikarus-Gestalten mehr gibt. Ursula Mattheuer-Neustädt beschloß daher schon im Jahr 1993 ihre Monographie über ihn mit dem Satz: „Der ersehnte Aufbruch ist gekommen, aber das ersehnte Erdenglück ist fern, wie je.“27 Schließlich mußte Mattheuer, wie so viele der früheren DDR-Künstler und -Künstlerinnen, die sich bis in die siebziger Jahre hinein noch als hartnäckige Sendboten eines kulturrevolutionären Sozialismus verstanden hatten, in den frühen neunziger Jahren erleben, daß selbst sie im Zuge eines erbittert geführten „Kunststreits“ oder „Stellvertreterkriegs“ von den übereifrigen Wendejournalisten in West und Ost – unter Berufung auf die damals gängig werdende Chaostheorie und die ebenso beliebten Postmoderne-Konzepte – als Vertreter eines hoffnungslosen Stalinismus oder als ideologische Betonköpfe hingestellt wurden, denen man keine Träne nachzuweinen brauche.28 Während sich andere seiner bisherigen Gesinnungsfreunde angesichts dieser Entwicklung mit dem Satz trösteten: „Wir sind zwar ohne Illusionen, aber nicht ohne Erinnerungen an unsere Träume“,29 verharrte Mattheuer weiterhin in einer widerwilligen Abseitshaltung, in der er sich weder irgendwelchen Ostalgie-Gefühlen noch der Hoffnung hingab, daß auf die Befreiung in den Kapitalismus eine Wendung ins Andere, Bessere, Kulturvollere und damit Menschenwürdigere erfolgen würde. So gesehen, blieb er einer der letzten Vertreter der sogenannten Leipziger Schule des Realismus, der auch nach der Wende weiterhin politische Denkbilder, wenn auch Wandlungen der Leipziger Schule

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in dystopischer Verkehrung schuf. Da jedoch auch in Dystopien, wie in jeder ernsthaften, grundsätzlichen Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, fast immer ein utopischer Veränderungswille steckt, sind selbst seine letzten Bilder, so düster oder hoffnungslos sie auch wirken, im Sinne seiner Maxime „Trotz alledem“ durchaus Mahnmale einer nie erlöschenden Sehnsucht nach etwas Anderem als dem in der Wirklichkeit Vorgegebenen. Und darum sind sogar sie weiterhin Bekenntnisbilder, die inmitten der ins Mediengerechte verflachten Eventkultur der Nachwendezeit durchaus einen weltanschaulichen Rang aufweisen.

V Von anderen Malern, die aus der Leipziger Schule des Realismus hervorgegangen sind, läßt sich das leider nicht mit der gleichen Eindeutigkeit behaupten. So erfreut sich zwar der wesentlich jüngere Neo Rauch, der als Schüler von Arno Rink aus der gleichen Schule stammt, neuerdings eines von Jahr zu Jahr zunehmenden Ansehens,30 aber bemüht sich nicht mehr, auch politische Denkbilder zu schaffen, sondern hat sich in seinen Motiven – betont „absichtslos“ – fast ausschließlich auf den privaten Bereich seiner ins Surrealistische verfremdeten Kindheitserinnerungen und nächtlichen Träume zurückgezogen. Seine Bilder, wie etwa die im Jahr 2007 entstandenen Gemälde Para, Die Fuge, Paranoia, Goldgrube, Die Flamme und Warten auf Barbaren, zwingen uns zwar auch zum Nachdenken,31 aber sie verfremden ihre Motive so weit, daß sie nicht wieder aus der Verfremdung zurückkehren, wie Brecht gesagt hätte, sondern uns wegen der Willkürlichkeit ihrer Figurenkombinationen weitgehend ratlos lassen. Bei ihm herrscht auf allen seiner Gemälde eher das Kryptisch-Verschlüsselte, Halluzinatorische, wenn nicht gar Apokalyptische vor, das zwar oft äußerst veristisch wiedergegeben wird, aber trotz seines „Realismus“ keine konkret-gesellschaftskritischen Momente enthält. Was bei Mattheuer – bei aller allegorischen Einkleidung – stets verständlich bleibt, wirkt bei Rauch fast durchgehend uninterpretierbar. Seine Bildinhalte gehen meist in einem Strudel von Assoziationen unter, aus dem sich kein klar erkennbares Bild einer realen oder gewünschten Wirklichkeit ergibt, sondern wo fast alles durchgehend im „Gewebe seiner persönlichen Ikonographie“ 268 Von Wolfgang Mattheuer bis Neo Rauch

befangen bleibt, wie er es selber 1997 in einem Gespräch mit Klaus Werner anläßlich einer Ausstellung seiner Bilder in der Leipziger Galerie EIGEN + ART formulierte.32 Doch gerade dieser Verlust an überpersönlichen Bezügen wird von seinen ideologiefeindlichen Kritikern gern als Ausdruck einer malerischen „Posthistoire“-Einstellung gerühmt, in der von den „einstigen Emblemen einer oder gleich mehrerer Weltordnungen nur noch leere Zeichen übrig geblieben“ seien.33 Noch eindeutiger hätte man auf Seiten von Vertretern derartiger Anschauungen das erwünschte Ende des politischen Denkbildes kaum umschreiben können. Doch inzwischen sollte sich herausgestellt haben, daß die Geschichte auch nach ihrem vorgeblichen „Ende“ unaufhaltsam voranschreitet. Und deshalb wird es auch weiterhin politische Denkbilder geben. Ja, vielleicht gehören auf eine verquere Weise schon Rauchs Werke dazu, da sie in einer an Gemälden mit gegenständlichen Themen dürftigen Zeit, in welcher in der bildenden Kunst weitgehend das Abstrakte oder Skurrile vorherrscht, trotz aller Ichbezogenheit wenigstens am Realismus festzuhalten versuchen. Und damit könnten sie zu Vorboten einer möglichen Renaissance politischer Denkbilder werden. Schließlich mangelt es nicht an aktuellen Konflikten oder Krisen, an denen sich eine solche Malerei entzünden könnte.

Wandlungen der Leipziger Schule

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Anmerkungen

Die Idee, ein Buch über politische Denkbilder zu schreiben, kam mir bei der Lektüre der Thought Images (2007) von Gerhard Richter. Für die finanzielle Beihilfe zur Drucklegung dieses Buches bin ich dem Dekan des College of Letters & Science an der University of Wisconsin in Madison (USA) zu Dank verpflichtet. Bei der Computerisierung und Bildbeschaffung war mir wiederum Adam Woodis eine große Hilfe. Caspar David Friedrichs christgermanische Denkbilder im Umkreis der Befreiungskriegsthematik (1806–1835) 1 Vgl. Spiegel, Nr. 37, vom 8. September 1974, S. 124–127. 2 Vgl. Caspar David Friedrich: Romantic Landscape Painting in Dresden, London 1972. 3 Eine vollständige Dokumentation dieses Streits findet sich in: Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen. Hrsg. von Sigrid Hinz, Berlin 1968, S. 135– 195. 4 Ebd., S. 224, 222. 5 Kunst und Altertum, Heft 2, 1817, S. 5–62 und 133–162. 6 Ebd., S. 46 7 Mathilde Boisserée: Sulpiz Boisserées Briefwechsel nebst Aufzeichnungen, Bd. II, Stuttgart 1862, S. 276. 8 Blätter für literarische Unterhaltung, 1820, S. 359. 9 Vgl. Oskar Beyer: Die unendliche Landschaft. Über religiöse Naturmalerei und ihre Meister, Berlin 1922, und Helmut Rehder: Die Philosophie der unendlichen Landschaft, Diss. Heidelberg 1929. 10 Vgl. Patriotische Kunst aus der Zeit der Volkserhebung 1813. Hrsg. von Konrad Kaiser, Berlin 1953, und die Bibliographie zu dem Band: Befreiungskriege. Erläuterungen zur deutschen Literatur. Hrsg. von Kurt Böttcher, Berlin 1973, S. 213–215. 11 Helmut Börsch-Supan und Karl Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973, S. 59. 12 Vgl. u. a. Eduard Beaucamp: Mystiker, Prediger, Romantiker? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 46, vom 23. Februar 1974. 13 Vgl. u. a. Klaus Lankheit: Die Frühromantik und die Grundlagen der „gegenstandslosen“ Malerei. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 1951, S. 55 ff., und R. Rosenblum: Caspar David Friedrich and Modern Painting. In: Art and Literature, 10, 1966, S. 134–146. Anmerkungen

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14 Vgl. Bürgerliche Revolution und Romantik. Natur und Gesellschaft bei Caspar David Friedrich. Hrsg. von Berthold Hinz et al., Gießen 1976. 15 Ebd., S. 66. 16 Ebd., S. 133. 17 Caspar David Friedrich. 1774–1840, Hamburg 1974, S. 77. 18 Am besten in seinem Vortrag „Ein Versuch über Caspar David Friedrichs Werdegang“, den er 1974 auf der Greifswalder Friedrich-Konferenz hielt. 19 Vgl. Hasko Zimmer: Auf dem Altar des Vaterlandes. Religion und Patriotismus in der deutschen Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1971, S. 11–70. 20 Vgl. mein Aufsatz: Back to the Roots. The Teutonic Revival from Klopstock to the Wars of Liberation. In: From the Greeks to the Greens. Images of the Simple Life. Hrsg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand, Madison 1989, S. 48–62. 21 Vgl. Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften, Bd. II, Hamburg 1840, S. 310. 22 Vgl. den Brief vom 24. November 1808. In: Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen (wie Anm. 3), S. 21 f. 23 Ludwig Theobul Kosegarten: Gedichte, Bd. I, Leipzig 1788, S. 155. 24 Ebd., Bd. I, S. 384 ff. 25 Vgl. den Beitrag „Eiche“ in: Reallexikon der deutschen Kunstgeschichte, Bd. IV, Stuttgart 1958, Sp. 905–921. 26 Vgl. Paul Reinhold Wagler: Die Eiche in alter und in neuer Zeit, Berlin 1891, S. 40 ff. 27 MEW, Bd. XIV, S. 31. 28 Ernst Moritz Arndt: Blick aus der Zeit auf die Zeit, Germanien 1814, S. 6. 29 Theodor Körner: Werke. Hrsg. von Hans Zimmer, Leipzig o. J., Bd. I, S. 89. 30 Vgl. Ernst Moritz Arndt: Über Sitte, Mode und Kleidertracht, Frankfurt 1814. 31 Vgl. Sigrid Hinz: Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen (wie Anm. 3), Nr. 623. 32 Ebd., S. 25. 33 Ebd., S. 30. 34 Ebd., S. 35. 35 Ebd., S. 220. 36 Während Helmut Börsch-Supan und Karl Wilhelm Jähnig in ihrem Buch „Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen“ (wie Anm. 11), dieses Bild als symbolische Überwindung des Heidnischen durch das Christentum interpretierten (S. 414), zog J. Leighton 1990 in seinem Aufsatz „The Winter Landscape“ im Katalog der Friedrich-Ausstellung der Londoner National Gallery bei der Deutung solcher Bilder – unter Berufung auf die Aufsätze von Hans-Joachim Kunst: Die politischen und gesellschaftlichen Bedingtheiten der Gotikrezeption bei Friedrich. In: Bürgerliche Revolution und Romantik. Natur und Gesellschaft bei Caspar David Friedrich. Hrsg. von Berthold Hinz, Gießen 1976, S.17–41, und K. L. Hoch: Caspar David Friedrich, Ernst Moritz Arndt und die sogenannte Demagogenverfolgung. In: Pantheon, 46, 1986,

272 Anmerkungen

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S. 72–75 – auch die Beziehungen Friedrichs zu der „patriotic and democratic movement“ dieser Jahre heran (S. 49). Vgl. Gerhard Eimer: Caspar David Friedrich und die Gotik, Hamburg 1963, S. 20, Gertrud Fiege: Caspar David Friedrich, Reinbek 1977, S. 44–62, und Jost Hermand: Das offene Geheimnis. Caspar David Friedrichs nationale Trauerarbeit. In Ders.: Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979, S. 37. Vgl. Sigrid Hinz: Caspar David Friedrich (wie Anm. 3), S. 58 ff. Vgl. Jost Hermand: Die deutschen Dichterbünde von den Minnesängern bis zum PEN-Club, Köln 1998, S. 51–65. Vgl. schon die Kritik an solchen Konzepten in dem Band: Bürgerliche Revolution und Romantik (wie Anm. 14), S. 5. Ebd., S. 132. Vgl. George L. Mosse: Über gerechtfertigten und ungerechtfertigten Nationalismus. In: Responsibility and Commitment. Ethische Postulate der Kulturvermittlung. Festschrift für Jost Hermand. Hrsg. von Klaus L. Berghahn, Robert C. Holub und Klaus R. Scherpe, Frankfurt a. M. 1996, S. 87–99. Erstfassung unter dem Titel „On the Difficulty of Dealing with the National Cultural Heritage: Caspar David Friedrich’s Germano-Christian Allegories. In Nicholas Vazsonyi (Hrsg.): Searching for Common Ground. Diskurse zur deutschen Identität 1750–1871, Köln 2000, S. 105–126.

Sieg der gerechten Sache! Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld: Cäcilia Tschudi als Walküre (1813) 1 2 3 4 5 6 7

Gedruckt erschien dieser Vortrag unter dem Titel: Meister Fidus. From JugendstilHippie to Aryan Faddist. In: Comparative Literature Studies 12,3, 1975, S. 288– 307. Vgl. mein Buch: Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1972, S. 55–128. 587. Kunstauktion. Hrsg. von der Dorotheum-Kunstabteilung, Wien 1970, S. 13 und Illustration 87. Vgl. George L. Mosse: The Nationalization of the Masses: Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars Through the Third Reich, New York 1975. Vgl. mein Buch: Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979, S. 143. Political Symbolism in Modern Europe. Hrsg. von Seymour Drescher, David Sabean and Allan Scharlin, New Brunswick 1982, S. 216–238. Als Beispiel dieser Sehweise vgl.: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Hans Peter Herrmann, Frankfurt a. M. 1996.

Anmerkungen

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8 George L. Mosse: „Ist der Nationalismus noch zu retten?“ Über gerechtfertigten und ungerechtfertigten Nationalismus. In: Responsibility and Commitment. Ethische Postulate der Kulturvermittlung. Festschrift für Jost Hermand. Hrsg. von Klaus L. Berghahn, Robert C. Holub und Klaus R. Scherpe, Frankfurt a. M. 1996, S. 37–48. 9 Vgl. meinen Aufsatz: Dashed Hopes: The Painting of the Wars of Liberation. In: Political Symbolism in Modern Europe (wie Anm. 6), S. 226 f. 10 Tacitus: Germania. Hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1971, S. 3–12. 11 Vgl. Richard Kuehnemund: Arminius or the Rise of a National Symbol in Literature, Chapel Hill 1953, S. 54–86. 12 Vgl. Bettina Baumgärtel: Angelika Kauffmann, Düsseldorf 1998, S. 397. 13 Vgl. Gert Schiff: Füßli: „Sivrit, ein beßrer Achilleus“. In: Die Nibelungen. Bilder von Liebe, Verrat und Untergang. Hrsg. von Wolfgang Storch, München 1987, S. 125–139. 14 Vgl. Annemarie Hürlimann: Die Eiche, heiliger Baum der deutschen Nation. In: Waldungen, Die Deutschen und ihr Wald. Hrsg. von Bernd Weyergraf, Berlin 1987, S. 62–73, Jost Hermand: Das offene Geheimnis. Caspar David Friedrichs nationale Trauerarbeit. In Ders.: Sieben Art an Deutschland zu leiden (wie Anm. 5), S. 20–22, Simon Schama: Landscape and Memory, New York 1995, S. 100– 119, Peter Albrecht: Die Eiche – ein Baum wie andere auch? In: Nichts als Natur und Genie. Pascha Weitsch und die Landschaftsmalerei in der Zeit der Aufklärung. Hrsg. von Reinhold Wex, Braunschweig 1998, S. 51–64, und meinen Aufsatz: Zwischen Pascha Weitsch und Caspar David Friedrich. Carl Wilhelm Kolbes Eichendarstellungen. In: Carl Wilhelm Kolbe (1759–1835). Künstler, Philologe, Patriot. Hrsg. von Norbert Michels, Petersberg 2009, S. 123–132. 15 Vgl. mein Buch: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins, Frankfurt a. M. 1991, S. 44 f. 16 Vgl. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, Stuttgart 1984, S. 456–458. 17 Vgl. zu ihm Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld: Meine Lebensgeschichte. Hrsg. von Otto Werner Förster, Leipzig 2000. 18 Vgl. Hans Wolfgang Singer: Julius Schnorr von Carolsfeld, Bielefeld 1911, S. 6–8. 19 Vgl. Julius Schnorr von Carolsfeld 1794–1872. Hrsg. von Herwig Guratzsch, Leipzig 1994, S. 17. 20 Vgl. meinen Aufsatz: Das offene Geheimnis (wie Anm. 14), S. 11. 21 Zit. in Petra Trenkmann: Julius Schnorr von Carolsfeld. Zeichnungen bis 1827, Diss. Greifswald, 1985, S. 35. 22 Ebd. 23 Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXXVIII, Leipzig 1894, S. 750. 24 Nach einer Information der Museen der Stadt Wien vom 21. Dezember 1999. 25 Für Hilfe bei der Aufklärung dieser höchst verwickelten Sachverhältnisse bin ich vor allem Stephan Seeliger (München), Gerd Spitzer (Dresden), Wilhelm 274 Anmerkungen

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Deutschmann (Wien) und Martin R. Tanzwirth (Wien) verpflichtet. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Freiburger Dissertation „Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld (1788–1853)“ von Alexander Graf Strasoldo-Graffemberg von 1986, S. 32 und 226. Grimms Wörterbuch weist im Bereich der Literatur unter dem Stichwort „Walküre“ als ersten Eintrag auf Heines Gedichte „Valkyren“ von 1851 hin. Vgl. Bd. XXVII, München 1991, S. 1255. Dabei ist von den Walküren bereits in der 18. und 19. Szene in Klopstocks Drama „Hermanns Tod“ (1787) mehrfach die Rede. Schon in Klopstocks „Hermanns Schlacht“ (1769) verkündet die „Lanze“ den „nahen Sieg“, während sich die „Sieger“ mit „Eichenlaubkränzen“ schmücken. Vgl. Sämtliche Werke, Bd. VI, Leipzig 1854, S. 51. Auch die Mitglieder des Göttinger Hains setzten sich bei ihren Treffen in freier Natur Eichenlaubkränze auf. Eine noch größere Rolle spielen die „Siegerkränze aus Eichenlaub“ in den Gedichten der Befreiungskriegsära. Vgl. Annemarie Hürlimann: Die Eiche (wie Anm. 14), S. 65. Ja, noch im Jahr 1832, beim Hambacher Fest, trugen die dort Versammelten Eichenlaubkränze auf dem Kopf, um damit ihren auf „Einigkeit und Recht und Freiheit“ drängenden Nationalgeist auszudrücken. Vgl. meinen Aufsatz: „Weitermachen“ auch in „wüsten Zeiten“. Beethovens Klaviersonate op. 111. In: Archiv für Musikwissenschaft 56, 1999, S. 85–100. Daß Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld auch 1815 noch zu den „Freiheitskämpfern“ gehörte, beweisen seine Gemälde „Tellsprung“ und „Geßlers Tod“, die am 22. September 1998 unter der Nummer 152 im Wiener Dorotheum versteigert wurden. Englische Erstfassung unter dem Titel: Victory for the Just Cause! Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld: Cäcilia Tschudi as a Valkyrie (1813). In: Heroes and Heroism in German Culture. Essays in Honor of Jost Hermand. Hrsg. von Stephen Brockmann und James Steakley, Amsterdam 2001, S. 1–14.

Adolph Menzels Fridericiana (1836–1867) 1 2

3 4

Zit. in: Adolph Menzel. Zeichnungen. Hrsg. von Werner Schmidt, Berlin 1955, S. 60 f. Vgl. hierzu auch Françoise Forster-Hahn: Adolph Menzel’s „Daguerreotypical“ Image of Frederic the Great. A Liberal Bourgeois Interpretation of German History. In: Art Bulletin, 1977, S. 260 ff., und Dies.: Preußen. Legende und Wirklichkeit, Berlin 1983, S. 87 ff., sowie Gisold Lammel: Adolph Menzel. Fridericiana und Wilhelminiana, Dresden 1988, S. 12–19 und 32–81. Zit. in Gustav Kirstein: Das Leben Adolph Menzels, Leipzig 1919, S. 49. Vgl. Max Liebermann: Die Phantasie in der Malerei. Schriften und Reden, Berlin 1983, S. 131, und mein Buch: Adolph Menzel mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1986, S. 14.

Anmerkungen

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Vgl. Françoise Forster-Hahn: Adolph Menzel’s „Daguerreotypical“ Image of Frederic the Great (wie Anm. 2), S. 87 f. Adolph Menzels Briefe. Hrsg. von Hans Wolff, Berlin 1914, S. 21. Ebd., S. 32. Zit. in Paul Heidelbach: Adolph Menzel und Kassel. In: Hessenland 23, 1905, S. 126 f. Ebd., S. 127. Ebd., S. 132. Adolph Menzels Briefe (wie Anm. 6), S. 49. Ebd., S. 141. Zit. in Adolph Menzel. Realist – Historist – Maler des Hofes. Hrsg. von Hans Christian Jensen, Kiel 1981, S. 15. Vgl. hierzu auch mein Büchlein: Adolph Menzel. Das Flötenkonzert in Sanssouci. Ein realistisch geträumtes Preußenbild, Frankfurt a. M. 1985. Max Schasler: Über Idealismus und Realismus in der Historienmalerei. In: Dioskuren 3, 1853, S. 143 f. Eine ähnliche Kritik äußerten die „Dioskuren“ an Menzels Historienbildern 1856, S. 115, und 1864, S. 463, wo Menzels Malweise „Absonderlichkeit“ und „Unschönheit“ vorgeworfen wurde. Albert Hertel: Erinnerungen an Menzel. In: Süddeutsche Monatshefte, 1911/12, S. 786 f. Ebd., S. 787. Zit. in Werner Deetjen: Adolph Menzel und Adolf Schöll. In: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 35, 1904, S. 34. Hugo von Tschudi: Aus Menzels jungen Jahren. In: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 36, 1905, S. 226. Axel Delmar: Die kleine Exzellenz. In: Die Woche, 1905, Nr. 7, S. 280. Adolph Menzels Briefe (wie Anm. 6), S. 199. Zit. in Ottomar Beta: Gespräche mit Adolph Menzel. In: Deutsche Revue 23, 1898, Bd. III, S. 50. Zeitschrift für bildende Kunst 1, 1866, S. 25 Gartenlaube, 1874, S. 271 f. Gartenlaube, 1895, S. 784. Hermann Knackfuß: Adolph von Menzel, Bielefeld 1915, S. 112. Vgl. Kunstchronik, 1886, S. 190. Zit. in Paul Lindenberg: Es lohnte sich gelebt zu haben. Erinnerungen, Berlin 1941, S. 296. Zit. in Paul Meyerheim: Adolph Menzel. Erinnerungen, Berlin 1906, S. 149. Zit. in Joachim von Kürenberg: Menzel, die kleine Exzellenz, Berlin 1935, S. 249. Zit. in Axel Delmar: Die kleine Exzellenz (wie Anm. 20), S. 280. Ebd. Zit. in Paul Lindenberg: Es lohnte sich gelebt zu haben (wie Anm. 28), S. 306. Ebd. Zit. in Axel Delmar: Die kleine Exzellenz (wie Anm. 20), S. 280.

276 Anmerkungen

36 37 38 39 40 41 42 43

Ebd. Ebd. Kunstchronik, 1889, S. 506. Kunstchronik, 1895, S. 284. Zit. in Gustav Kirstein: Das Leben Adolph Menzels (wie Anm. 3), S. 89. Zit. in Axel Delmar: Die kleine Exzellenz (wie Anm. 20), S. 280. Ebd. Anton von Werner: Rede bei der Trauerfeier der Königlichen Akademie der Künste für Adolph Menzel, Berlin 1905, S. 11.

Emanuel Leutze: Washington Crossing the Delaware (1849/50) 1 Vgl. Barbara S. Groseclose: Emanuel Leutze, 1816–1868. A German-American History Painter. Diss. Wisconsin-Madison 1973, und Dies.: Emanuel Leutze, 1816–1868. Freedom Is The Only King, Washington 1976, S. 83 f. 2 Anläßlich der 200-Jahrfeier der US-amerikanischen Revolution war im Smithsonian Institute in Washington eine solche Ausstellung zu sehen. 3 Vgl. hierzu und zum Folgenden vor allem Barbara S. Groseclose: Emanuel Leutze. Freedom Is The Only King (wie Anm. 1), S. 13–62, und Moritz Blanckarts: Emanuel Leutze. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig 1883, Bd. XVIII, S. 500–502. 4 Josef Epple: Vermischte Gedichte, Privatdruck, Schwäbisch-Gmünd 1826. 5 Vgl. hierzu u. a. Wolfgang Hütt: Die Düsseldorfer Kunst und die demokratische Bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg, März 1958, S. 383– 403. 6 Vgl. Karsten Fitz: The Düsseldorf Academy of Art, Emanuel Leutze, and GermanAmerican Transatlantic Exchange in the Mid-Nineteenth Century. In: Amerikastudien. American Studies 52,1, 2007, S. 20–26. 7 Vgl. dazu u. a. Mark Thistlethwaite: The Image of George Washington. Studies in Mid-Nineteenth Century American History Painting, New York 1979, David Hackett Fischer: Historiography. Images and Interpretations of the Event. In Ders. (Hrsg.): Washington’s Crossing, New York 2004, S. 425–457, und Barbara S. Groseclose: „Washington Crossing the Delaware.“ The Political Context. In: American Art Journal 7,2, 1975, S. 70–78. 8 Ferdinand Freiligrath: Werke, Weimar 1962, S. 83 f. 9 Vgl. Barbara S. Groseclose: Emanuel Leutze. Freedom Is The Only King (wie Anm. 1) S. 65. 10 Zit. in ebd., S. 66. 11 Vgl. ebd., S. 83 f. 12 Vgl. ebd., S.40. 13 Zit. in ebd., S. 66.

Anmerkungen

277

Adolph Menzels Das Eisenwalzwerk (1875) und Robert Koehlers Der Streik (1886) in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss 1 Vgl. in dem von Alexander Honold und Ulrich Schreiber herausgegebenen Buch: Die Bilderwelt des Peter Weiss, Berlin 1995, vor allem den Aufsatz von Nina Badenberg: Kommentiertes Verzeichnis der in der „Ästhetik des Widerstands“ erwähnten Künstler und Kunstwerke, S. 163–230. 2 Vgl. Robert Cohen: Bio-Bibliographisches Handbuch zu Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, Hamburg 1989, S. 25–60. 3 Vgl. Jochen Vogt: Peter Weiss, Reinbek 1987, S. 64 ff. 4 Vgl. meinen Aufsatz: Das Floß der Medusa. Über Versuche, den Untergang zu überleben. In Karl-Heinz Götze und Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Die „Ästhetik des Widerstands“ lesen. Über Peter Weiss, Berlin 1981, S. 112–120. 5 Zitiert wird im Text nach der Erstausgabe der „Ästhetik des Widerstands“. 6 Vgl. dazu auch Peter Weiss: Notizbücher 1971–1980, Frankfurt a. M. 1981, Bd. I, S.346–350. 7 Vgl. Jost Hermand: Obwohl. Dennoch. Trotzalledem. Die im Konzept der freien Assoziation der Gleichgesinnten aufgehobene Antinomie von ästhetischem Modernismus und sozialistischer Parteilichkeit in der „Ästhetik des Widerstands“ und den sie begleitenden „Notizbüchern“. In Alexander Stephan (Hrsg.): Die „Ästhetik des Widerstands“, Frankfurt a. M. 1983, S. 79–103. 8 Vgl. Françoise Forster-Hahn: Adolph Menzel’s „Daguerreotypical“ Image of Frederic the Great: A Liberal Interpretation of German History. In: Art Bulletin, 1977, S. 242–261, und Jost Hermand: Adolph Menzel: Das Flötenkonzert in Sanssouci. Ein realistisch geträumtes Preußenbild, Frankfurt a. M. 1984. 9 Vgl. Jost Hermand: Adolph Menzel, Reinbek 1986, S.79–102. 10 Vgl. ebd., S. 81. 11 Ebd., S. 83. 12 Ebd., S. 91. 13 Ebd., S. 91. 14 Zit. in Kunstchronik, 1889, S. 506. 15 Kunstchronik, 1895, S. 284. 16 Zit. in Gustav Kirstein: Das Leben Adolph Menzels, Leipzig 1919, S. 89. 17 Zit. in Axel Delmar: Die kleine Exzellenz. In: Die Woche, 1905, Nr. 7, S. 280 f. 18 Ebd., S. 280. 19 Peter Weiss: Notizbücher (wie Anm. 6), Bd. I, S. 197. 20 Ebd., S. 197. 21 Vgl. Klaus Türk: Mensch und Arbeit. 400 Jahre Geschichte der Arbeit in der bildenden Kunst. In: Die Eckehart G. Grohmann Collection an der Milwaukee School of Engineering, Milwaukee 2002, S. 22. 22 Vgl. Lee Baxandall: New York Meets Oshkosh. In Paul Buhle (Hrsg.): History and the New Left, Madison, Wisconsin 1950–1970, Philadelphia 1990, S. 127–133.

278 Anmerkungen

23 Vgl. dazu allgemein Peter C. Merrill: Robert Koehler: Artist in Milwaukee. In: Hennepin County Historical Society (Minnesota) 47, Nr. 3, Summer 1988, S. 3 ff., und Agnete von Specht: Robert Koehlers Gemälde „Der Streik“ als Historienbild. In Dies. (Hrsg.): Streik. Realität und Mythos, Berlin 1992, S. 157 ff. 24 Vgl. Carol Poore: German-American Socialist Literature. 1865–1900, Bern 1982. 25 Heidi Beutin, Wolfgang Beutin, Holger Malterer und Friedrich Mülder (Hrsg.): 125 Jahre Sozialistengesetz, Frankfurt a. M. 2004. 26 Vgl. meinen Aufsatz: „Ein Blick in die Neue Welt“ (1887). Wilhelm Liebknechts Bericht über seine USA-Reise im Jahr 1886. In Wolfgang Beutin, Holger Malterer und Friedrich Mülder (Hrsg.): „Eine Gesellschaft der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit“. Beiträge zur Tagung zum 100. Todestag Wilhelm Liebknechts, Frankfurt a. M. 2001, S. 29–44. 27 Vgl. Lee Baxandall: „The Socialist“, Oshkosh 1976, S. 4. 28 Agnete von Specht: Robert Koehlers Gemälde „Der Streik“ (wie Anm. 23), S. 40. 29 Vgl. Richard Hamann und Jost Hermand: Naturalismus, Berlin 1959, S. 7 ff. 30 Vgl. Agnete von Specht: Robert Koehlers Gemälde „Der Streik“ (wie Anm. 23), S. 157. 31 Ebd., S. 61. 32 Ebd., S. 163 f. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 9–26. 35 Vgl. ebd., S. 70. Das Bild von Theodor Esser wird dort als „verschollen“ angegeben, befindet sich jedoch im Chazen-Museum der University of Wisconsin in Madison. 36 Ebd., S. 66–78. 37 Vgl. Peter C. Merrill und Agnete von Specht (wie Anm. 23). 38 Vgl. hierzu auch Lee Baxandall: The Americanization of Bert Brecht. In: Brecht heute – Brecht today. Jahrbuch der Internationalen Brecht-Gesellschaft 1, 1970, S. 150–167. 39 Vgl. Lee Baxandall: New York Meets Oshkosh (wie Anm. 22), S. 131 f. 40 Vgl. dazu Peter Weiss: Notizbücher 1960–1971, Frankfurt a. M. 1982, Bd. II, S. 493. 41 Vgl. Jochen Vogt: Peter Weiss (wie Anm. 3), S. 54. 42 Nach dem Ankauf dieses Bildes vom Deutschen Historischen Museum in Berlin wurde es dort 1992 erstmals anläßlich der Ausstellung „Streik. Realität und Mythos“ (vgl. Anm. 23) und 2002 im Berliner Gropius-Bau gezeigt (vgl. http:// archiv.tagesspiegel.de/archiv/01.08.2002/151428.asp). 43 Erstfassung unter dem Titel „Arbeiterbilder. Adolph Menzels ‚Eisenwalzwerk‘ und Robert Koehlers ‚Der Streik‘“ in Margrid Bircken, Pieter Mersch und HansChristian Stillmark (Hrsg.): Ein Riß geht durch den Autor. Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss, Bielefeld 2009, S. 38–58.

Anmerkungen

279

Der gründerzeitliche Übermensch Arnold Böcklin: Der Abenteurer (1882) 1 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Leipzig, 3. Aufl., 1882 ff., Bd. I, S. 449. 2 Paul de Lagarde: Deutsche Schriften, Leipzig 1878, S. 127. 3 Friedrich Nietzsche: Werke in zwei Abteilungen, Leipzig 1910 ff., Bd. VI, S. 67 f. 4 Ebd., Bd. VIII, S. 117. 5 Ebd., Bd. VIII, S. 149. 6 Ebd., Bd. VIII, S. 218. 7 Ebd., Bd. VI, S. 59. 8 Vgl. hierzu und zum Folgenden Richard Hamann und Jost Hermand: Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus. Bd. I, Gründerzeit, Berlin 1965, S. 64 ff. 9 Vgl. meinen Aufsatz: Zur Literatur der Gründerzeit. In Ders.: Von Mainz nach Weimar. Studien zur deutschen Literatur, Stuttgart 1969, S. 211–249. 10 Paul Heyse: Gesammelte Werke, Berlin 1882 ff., Bd. II, S. 81. 11 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte (wie Anm. 1), Bd. I, S. 28. 12 Friedrich Nietzsche: Werke (wie Anm. 3), Bd. VIII, S. 218. 13 Vgl. u. a. Hermann Meissners Buch: Arnold Böcklin, Berlin 1898, in dem er Böcklin neben Max Klinger als den größten lebenden deutschen Künstler bezeichnete (S. 110). 14 Alfred Julius Meier-Graefe: Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Stuttgart 1905, S. 258.

Karl Schmidt-Rottluff: Ist euch nicht Kristus erschienen (1919) 1 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. meinen Aufsatz: Expressionismus als Revolution. In Ders.: Von Mainz nach Weimar. Studien zur deutschen Literatur, Stuttgart 1969, S. 289–355. Vgl. Jost Hermand: Kultur in finsteren Zeiten. Nazifaschismus. Innere Emigration. Exil, Köln 2010, S. 77 f. Georg Lukács: „Größe und Verfall“ des Expressionismus. In Ders.: Probleme des Realismus, Berlin 1955, S. 146–183. Vgl. meinen Aufsatz: Interdisziplinäre Zielrichtungen der Expressionismus-Forschung. In: Michigan Germanic Studies 11, 1976, S. 107–120. Vgl. Dieter Schlenstedt: Doktrin und Dichtung im Widerstreit. Expressionismus im Literaturkanon der DDR. In Birgit Dahlke, Martina Langermann und Thomas Taterka (Hrsg.): LiteraturGesellschaft DDR, Stuttgart 2000, S. 33–103. Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955). In Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Schuster, Bd. VI, Stuttgart 2001, S. 208–220. Vgl. Werner Haftmann: Malerei im 20. Jahrhundert, München 1954, S. 117– 214. Ilja Fradkin: Vor neuen Aufgaben. In: Kunst und Literatur 1, 1962, S. 1–5.

280 Anmerkungen

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Alfred Kurella: Den Blick nach vorn, auf das Neue richten! In: Ebd., S. 111–118. Vgl. Dieter Schlenstedt: Doktrin und Dichtung (wie Anm. 5), S. 81 ff. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Berlin 1955, Bd. II, S. 201. Vgl. Richard Hamann und Jost Hermand: Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus. Bd. V, Expressionismus, Berlin 1975, S. 229 f. Ja! Stimmen des Arbeitsrates für Kunst in Berlin, Berlin 1919, S. 32. Ebd., S. 44. Ebd., S. 90. Gustav Landauer: Der werdende Mensch, Potsdam 1921, S. 363. Ekkehart von Sydow: Die deutsche expressionistische Kultur und Malerei, Berlin 1920, S. 11. Wilhelm Worringer: Formprobleme in der Gotik, München 1911. Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Hrsg. von Kurt Pinthus, Hamburg 1957, S. 229. Die Aktion 9, 1919, S. 62. Menschheitsdämmerung (wie Anm. 19), S. 287. Johannes R. Becher: Um Gott, Berlin 1921, S. 61. Ernst Bloch: Geist der Utopie, Leipzig 1918. Gustav Landauer: Der werdende Mensch (wie Anm. 16), S. 62. Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: Bertolt Brechts „Trommeln in der Nacht“. Die „schäbigste“ Variante aller möglichen Revolutionsdramen? In Ders.: Die Toten schweigen nicht. Brecht-Aufsätze, Frankfurt a. M. 2010, S. 19–26. Vgl. Lothar-Günther Buchheim: Die Künstlergemeinschaft Die Brücke, Dresden 1957. S. 224. Vgl. meinen Aufsatz: Artificial Atavism. German Expressionism and Blacks. In Reinhold Grimm und Jost Hermand: Blacks and German Culture. Madison, Wisconsin 1986, S. 65–86. Ja! Stimmen des Arbeitsrates für Kunst in Berlin (wie Anm. 13), S. 90. Kunstchronik und Kunstmarkt vom 6. Dezember 1918, S. 90.

Das Gemeinsame im Trennenden Käthe Kollwitz und Ernst Barlach 1

2 3

Vgl. hierzu Schriften wie die von Elmar Jansen: Ernst Barlach. Käthe Kollwitz. Berührungen, Grenzen, Gegenbilder, Berlin 1989, Käthe Kollwitz und Ernst Barlach. Das ist alles ohnemaßen wirklich. Hrsg. von Werner Meyer und Anett Rekkert, Göppingen 2004, sowie Ernst Barlach und Käthe Kollwitz im Zwiegespräch. Hrsg. von Martin Fritsch, Berlin 2006. Vgl. Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik in Deutschland. 1945–1949, Berlin 1981, S. 362. Vgl. Jost Hermand: Kultur im Wiederaufbau. 1945–1966, München 1986, S. 94–101. Anmerkungen

281

4 Vgl. Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik (wie Anm. 2), S. 215. 5 Vgl. meinen Aufsatz: Freiheit im Kalten Krieg. Zum Siegeszug der abstrakten Malerei in Westdeutschland. In Hugo Borger, Ekkehard May und Stephan Waetzoldt (Hrsg.): ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, Köln 1991, S. 135–162. 6 Vgl. mein Buch: Kultur im Wiederaufbau (wie Anm. 3), S. 297. 7 Vgl. Jost Hermand: Adolph Menzel, Reinbek 1986, S. 123. 8 Vgl. zum Vorangegangenen auch die chronologischen Übersichten bei Ilse Rauhut: Chronik Käthe Kollwitz. 1867–1945, Berlin 1965, und Georg Bussmann (Hrsg.): Käthe Kollwitz, Frankfurt a. M. 1973. 9 Zit. in Georg Bussmann: Käthe Kollwitz (wie Anm. 8), S. 91. 10 Zit. in ebd., S. 94. 11 Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik (wie Anm. 2), S. 69. 12 Zit. in Elmar Jansen (Hrsg.): Ernst Barlach. 1870–1938. Werke. Meinungen, Berlin 1985, S. 18. 13 Vgl. Ernst Piper: Ernst Barlach und die nationalsozialistische Kunstpolitik. Eine dokumentarische Darstellung zur „entarteten Kunst“, München 1983, S. 16 und 81. 14 Vgl. ebd., S. 32–58. 15 Ebd., S. 13. 16 Vgl. zum Vorangegangenen vor allem Elmar Jansen: Ernst Barlach (wie Anm. 12). 17 Vgl. hierzu und zum Folgenden noch einmal das eindringliche Buch von Elmar Jansen: Ernst Barlach. Käthe Kollwitz. Berührungen, Grenzen, Gegenbilder, Berlin 1989. 18 Zit. in Elmar Jansen: Ernst Barlach. 1870–1938 (wie Anm. 12), S. 76. 19 Ebd., S. 76. 20 Ebd., S. 77. 21 Ebd., S. 77. 22 Ebd., S. 77. 23 Ebd., S. 77. 24 Ebd., S. 77. 25 Ebd., S. 78. 26 Ebd., S. 78. 27 Vgl. zum Begriff „Haltung“ auch mein Buch: Nach der Postmoderne. Ästhetik heute, Köln 2004, S. 11 ff. 28 Vgl. hierzu den Aufsatz von Friedrich Möbius: Verkündigungsengel. Schmerzensmutter, Epochensymbol. Studie zur Wirkungsgeschichte von Ernst Barlachs Güstrower Ehrenmal. In: Weimarer Beiträge 23, 1977, H. 7, S. 66–101. 29 Zit. in ebd., S. 73. 30 Vgl. ebd., S. 68. 31 Vgl. dazu auch meinen Essay: Außer der Zeit, gegen die Zeit. Die Größe Ernst Barlachs. In: Junge Welt vom 24. Oktober 2008, S. 10–11.

282 Anmerkungen

32 Vgl. hierzu das Kapitel „Innere Emigration“ in meinem Buch „Kultur in finsteren Zeiten. Nazifaschismus. Innere Emigration. Exil“, Köln 2010, S. 197 ff. 33 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, Bd. VIII, S. 521. 34 Ebd., S. 521. 35 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, Frankfurt a. M. 1955, Bd. I, S. 557. 36 Erstfassung in Heidi Beutin, Wolfgang Beutin und Heinrich Bleicher-Nagelsmann (Hrsg.): Ernst Barlach (1870–1938). Sein Leben, sein Schaffen, seine Verfolgung in der NS-Diktatur, Frankfurt a. M. 2009, S. 279–292.

Manfred Hirzel: Lotte Danziger (1931) 1 Vgl. Jost Hermand und und Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978. 2 Nach einer Mitteilung der Hull Museums Collection vom 6. September 2010 erwarb die Galerie von Abercron in München dieses und andere Hirzel-Bilder 1973 von einer Schwägerin Manfred Hirzels, die sie 1932 nach dessem Tod geerbt hatte. 3 Vgl. http://webcache.googleusercontent.com/search?qOchache:3AwnT.umblaetterer. Lonely Prophets. German Art from 1910–1930. In: Telegraph, 25. September 2007. 4 Ebd. 5 Nach einer Mitteilung des Kunstmuseums Winterthur vom 6. September 2010 kam dieses Bild 1934 als Geschenk von Hans Sulzer in das dortige Museum. 6 Die Hull Museums Collection kaufte dieses Bild im April 1977 von der Picadilly Gallery. Vorher gehörte es Hirzels Schwägerin und war 1973 von der Galerie Abercron in München angekauft worden. 7 Vgl. dazu den Nachruf auf Manfred Hirzel in der „Berliner Morgenpost“ vom 15. Januar 1933, der mit E. C. unterzeichnet ist. 8 Vor etwa 10 bis 12 Jahren wurde mir dieses Bild auf der Kölner Kunstmesse für 150 000 Mark angeboten. Als ich dem betreffenden Händler von meinem „Lotte Danziger“-Bild erzählte, wollte er mir 200 000 Mark dafür geben. Aber ich winkte ab. 9 Neue Sachlichkeit. Zwölf Maler zwischen den Kriegen. Hrsg. von Wilko und Ursula von Abercron, Köln 1975, S. 6–11. 10 Die dreißiger Jahre. Schauplatz Deutschland. Hrsg. von Günter Aust, Erika Gysling-Billeter, Dieter Honisch und Paul Vogt, München 1977. Außer den drei hier gezeigten Hirzel-Bildern war im gleichen Jahr sein Gemälde „Bau am Berliner Alexanderplatz“ (1930) in der Bremer Kunsthalle zu sehen. Vgl. Umwelt 1920. Das Bild der städtischen Umwelt in der Kunst der Neuen Sachlichkeit. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Bernhard Schnackenburg, Bremen 1977, Nr. 17. 11 Die dreißiger Jahre (wie Anm. 10), S. 3. Anmerkungen

283

12 Ebd., S. 85. 13 Ebd., S. 83. 14 Vgl. http://www.telegraph.co.uk/culture/art/artsales/3668132/Art-sales-Thedegenerates-who-frightened-the-nazis

John Heartfields Hitler-Satiren (1932–1943) 1 Vgl. Wieland Herzfelde: John Heartfield. Leben und Werk dargestellt von seinem Bruder, Dresden, 2. Aufl., 1970, S. 7–9. 2 Ebd., S. 17–19, und Roland März (Hrsg.): John Heartfield. Der Schnitt entlang der Zeit. Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Interpretationen, Dresden 1981, S. 29–31. 3 Zu Heartfields Aktivitäten in der Dada-Bewegung vgl. Roland März: John Heartfield (wie Anm. 2), S. 33–102, George Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein, Reinbek 1950, S. 183, und Franz Jung: Der Torpedokäfer, Neuwied 1977, S. 113– 114. 4 Vgl. die detaillierte Bibliographie der „AIZ“ in Friedrich Pfäfflin: Die Fotomontagen John Heartfields in der „Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“ (1930–1936) und der „Volks-Illustrierte“ (1936–1938). In John Heartfield: Krieg im Frieden. Fotomontagen zur Zeit 1930–1938, München 1973, S. 108–135, und David Evans: John Heartfield. Arbeiter-Illustrierte-Zeitung and Volks-Illustrierte 1930–1938, New York, 1992. 5 Vgl. Michael Töteberg: John Heartfield, Reinbek 1976, S. 59. 6 Zur Mánes-Affäre vgl. Wieland Herzfelde: John Heartfield (wie Anm. 1), S.75– 81, und Roland März: John Heartfield (wie Anm. 2), S. 331–350. 7 Vgl. dazu den Artikel Louis Aragons in dem Pariser Blatt „Commune“ im Mai 1935, den Heartfield-Essay von Paul Westheim vom 24. April 1935 im „Pariser Tageblatt“ und das Heartfield-Buch, das Sergej Tretjakow 1936 in Moskau publizierte. Als sich Georg Lukács 1938 in das „Wort“ über die künstlerische Form der Fotomontage negativ äußerte (S.124–125), verteidigte sie Ernst Bloch umgehend im nächsten Heft der gleichen Zeitschrift (S. 114). 8 Vgl. dazu auch das Buch „Das politische Plakat“ (1939) des NS-Kritikers Erwin Schockel, in welchem er dem Juden Heartfield, wie allen Juden, vorwarf, nur ein Nachahmer zu sein und keine neuen Werte aufstellen zu können (S. 188). 9 Fast das gleiche Motiv findet sich schon bei George Grosz, der 1923 in seinem Band „Abrechnung folgt!“ unter dem Titel „Stinnes und sein Präsident“ ebenfalls einen Rhein-Ruhr-Industriellen angeprangert hatte, der Friedrich Ebert wie einen Hampelmann an einem Strick in die Höhe zieht (Nr. 41). 10 Vgl. meinen Aufsatz: Hitler im Film. Über Charlie Chaplins „The Great Dictator“. In Jost Hermand: Angewandte Literatur. Politische Strategien in den Massenmedien, Berlin 1996, S. 61–62. 11 Vgl. Richard Carline: John Heartfield in England. In: Photomontages of the Nazi Period: John Heartfield, New York 1977, S. 129–133. 284 Anmerkungen

12 Richard Hiepe: Der Brecht der modernen Kunst. Zum Tode John Heartfields am 26. April 1968. In: Tendenzen 9, 1968, S. 88–89. 13 Erstdruck auf Englisch unter dem Titel „John Heartfield or The Art of Cutting Out Hitler“ in Klaus L. Berghahn und Jost Hermand (Hrsg.): Unmasking Hitler. Cultural Representations of Hitler from the Weimar Republic to the Present, Oxford 2005, S. 59–80.

Pablo Picassos politische „Wende“ Sein Guernica-Bild (1937) 1 2 3 4 5 6 7 8

9

Wilfried Wiegand: Pablo Picasso in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1973, S. 17. Günter Metken: Pablo Picasso. Eine Ausstellung zum hundertsten Geburtstag, München 1981, S. 5. Vgl. die Bibliographie zum „Guernica“-Bild auf Wikipedia. Vgl. Picasso: Grafik gegen den Krieg. Hrsg. von Rainer Diederich und Richard Grübling, Weinheim 1988, Abb. 27–36. John Berger: Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso, Reinbek 1973, S. 171 ff. Vgl. Documenta. Kunst des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Arnold Bode et al., München 1955, S. 15–25. Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. Hrsg. von Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1973, S. 117. Vgl. Über Malerei. Ein Gespräch zwischen Bertolt Brecht, Hermann Besenbruch, Fritz Cremer, Alfred Kurella, Herbert Sandberg und Gustav Seitz. In: Bertolt Brecht. Über die bildenden Künste. Hrsg. von Jost Hermand, Frankfurt a. M. 1983, S. 203 f. Rede im September 2008 bei der Eröffnung des Picasso-Saals im Hauptgebäude der ver.di-Gewerkschaft in Berlin.

Otto Pankok und Jo Pieper Zigeunerbilder (1931–1953) 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. Heinz Mode und Siegfried Wölfling: Zigeuner. Der Weg eines Volkes in Deutschland, Leipzig 1968, S. 11. Zit. in Joachim S. Hohmann: Geschichte der Zigeunerverfolgung in Deutschland vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1981, S. 13. Zit. in Heinz Mode und Siegfried Wölfling: Zigeuner (wie Anm. 1), S. 11. Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 113 ff, und Nicholas Saul: Gypsies and Orientalism in German Literature and Anthropology in the Nineteenth Century, London 2007, S. 20–46. Meyers Konversationslexikon, 1884, S. 904. Pierers Konversationslexikon, 1893, Sp. 1553/54. Anmerkungen

285

8 Zit. in Lothar-Günther Buchheim: Die Künstlergemeinschaft Die Brücke, Dresden 1957, S. 261. 9 Zit. in ebd., S. 264. 10 Ebd., S. 272. 11 Ebd., S. 272. Vgl. dazu auch allgemein Gerhard Baumgartner und Tayfun Begin (Hrsg.): Roma und Sinti. „Zigeuner“-Darstellungen der Moderne, Krems 2007. 12 Vgl. Rainer Zimmermann: Otto Pankok. Das Werk des Malers, Holzschneiders und Bildhauers, Berlin, 2. Aufl., 1972, S. 41. 13 Ebd., S. 42. 14 Zit. in ebd., S. 44. 15 Zit. in ebd., S. 44. 16 Ebd., S. 45. 17 Vgl. ebd., S. 45. 18 Ebd., S. 83. 19 Vgl. u. a. Joachim S. Hohmann: Geschichte der Zigeunerverfolgung in Deutschland (wie Anm. 2), Frankfurt a. M. 1981, Verband der Roma in Polen (Hrsg.): Das Schicksal der Sinti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau, Warschau 1994, Sybil Milton: „Holocaust: The Gypsies“. In W. S. Parsons et al. (Hrsg.): Genocide in the Twentieth Century, New York 1995, S. 209–264, Michail Krausnick: Wo sind sie hingekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma, Gerlingen 1995, Romani Rose (Hrsg.): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 1995, Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genocid. Die nationalsozialistische Lösung der „Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, Susan Tebbutt (Hrsg.): Sinti und Roma in der deutschsprachigen Gesellschaft und Literatur, Frankfurt a. M. 2001, und Heike Krokowski: Die Last der Vergangenheit. Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung auf deutsche Sinti, Frankfurt a. M. 2001. 20 Angelika Königseder: Sinti und Roma. In Wolfgang Benz et al. (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, S. 730 f. 21 Vgl. u. a. Martin Luchterhandt: Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der „Zigeuner“, Lübeck 2000. 22 Vgl. Michael Zimmermann: Rassenutopie (wie Anm. 19), S. 56. 23 Vgl. nochmals Martin Luchterhandt: Der Weg nach Birkenau (wie Anm. 21). 24 Vgl. R. Krämer: Rassische Untersuchungen an der „Zigeuner“-Kolonie Altengraben (Westf.). In: Archiv für Rassen-und Gesellschaftsbiologie 31,1, 1937, S. 36. 25 Auf der Rückseite einer Kohlezeichnung mit einer Darstellung von drei Arbeitern. 26 Vgl. Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik in Deutschland 1945–49, Berlin 1981, S. 269. 27 Vgl. Daniel Strauß: „Antiziganimus“. In Susan Tebbutt: Sinti und Roma (wie Anm. 19), S. 107. 28 Sybil Milton: Verfolgung der Überlebenden. in: Ebd., S 58 f.

286 Anmerkungen

29 Vgl. ebd., S. 60. Vgl. auch Joachim S. Hohmann: Geschichte der Zigeunerverfolgung (wie Anm. 2), S. 199, und Ders.: Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie, Frankfurt a. M. 1991. 30 Vgl. Sybil Milton: Verfolgung der Überlebenden (wie Anm. 28), S. 61. 31 Vgl Joachim S. Hohmann: Geschichte der Zigeunerverfolgung (wie Anm. 2), S. 183. 32 Sybil Milton: Verfolgung der Überlebenden (wie Anm. 28), S. 55. 33 Pankok-Archiv. Auszüge aus dem Text befinden sich im Ausstellungskatalog der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf. „Ach Freunde, wohin seid ihr verweht?“ Otto Pankok und die Düsseldorfer Sinti, Düsseldorf 1993, S. 26. 34 Vgl. Sybil Milton: Verfolgung der Überlebenden (wie Anm. 28), S. 62. 35 Vgl. Fußnote 19. 36 Vgl. Wilfried Schubarth: Fremde als Sündenböcke. In: Spiegel Spezial, 1991, S. 47, und Christina Kalkuhl und Wilhelm Solms (Hrsg.): Antiziganismus heute, Seeheim 2005.

Fidus: Das Haupt des Führers (1941) 1 Vgl. hierzu die wesentlich detaillierteren Ausführungen in Janos Frecot, Johann Friedrich Geist und Diethart Kerbs: Fidus, 1868–1948. Zur ästhetischen Funktion bürgerlicher Fluchtbewegungen, München 1972, und Jost Hermand: Meister Fidus. Vom Jugendstil-Hippie zum Germanenschwärmer. In Ders.: Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1972, S. 55–127. 2 Vgl. Richard Hamann und Jost Hermand: Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus. Bd. III. Stilkunst um 1900, Berlin 1967, S. 24–202. Vgl. hierzu auch Marina Schuster: Fidus – ein Gesinnungskünstler der völkischen Kulturbewegung. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871– 1918. Hrsg. von Uwe Puschner et al., München 1996, S. 634–650. 3 Fidus: Zu meinem Bilde „Hohe Wacht“. In: Junge Menschen 2, 1921, S. 88. 4 Fidus: Mein „Lichtgebet“ und seine Geschichte. In: Rund um den Drömling 2, 1927, S. 65. 5 Bruno Wille: Der Künstler-Philosoph der Zukunftsehe. In: Schönheit 21, 1925, S. 99–106. 6 Arno Rentsch: Fidus, der Lichtgläubige. In: Schönheit 16, 1919/20, S. 7 und 13. 7 Magnus Weidemann: Fidus. In: Freude. Monatshefte für deutsche Innerlichkeit 1, 1924, S. 433 und 438. 8 Fidus: Erste Gesamtausstellung, Berlin 1928, S. 6. 9 Brief vom 3. Scheiding 1930 an Guntram Erich Pohl. Dieser sowie alle weiteren Briefe von und an Fidus werden nach den Originalen im Archiv des deutschen Wandervogels auf Burg Ludwigstein bei Witzenhausen zitiert. 10 Fidus: Zum Rassen- und Klassenstreit, Berlin 1925, S. 4.

Anmerkungen

287

11 12 13 14 15 16 17 18

19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

35 36

Brief vom 15. Hornung 1942 an Guntram Erich Pohl. Hans Sturm: Entlarvte Dunkelmänner, Berlin 1936, S. 38. Ebd., S. 36. Wolfgang Willrich: Säuberung des Kunsttempels, München 1937, S. 132. Ebd., S. 133. Karl Bückmann: Fidus. In: Gesetz und Freiheit, 1935, S. 285. Ebd., S. 282–284. Erich Griebel: Fidus, der getreue Deutsche. In: Die Mark. Zeitschrift für Heimatpflege, Wandern und Deutsches Volkstum 2, Mai 1936, S. 42. Fast die gleichen Argumente finden sich in seiner Schrift: Fidus’ lichtgläubiges Schaffen. Ein Streifzug durch sein Leben und Werk, Berlin 1938. Hermann Teistler: Woltersdorf und sein Kulturkreis. In: Die Mark 2, Mai 1936, S. 38. Fidus: Meine „Meisterjahre“ in Woltersdorf. In: Ebd., S. 40. Vgl. Arno Breker: Paris, Hitler et Moi, Paris 1970, S. 1. Vgl. Janos Frecot et al.: Fidus (wie Anm. 1), S. 207. Brief vom 19. Scheiding 1941 an Johannes Aff. Brief vom 3. Ostermond 1942 an Gertrud Prellwitz. Auf Postkarten an seinen Enkel Andreas aus dem Jahr 1947. Nach Dokumenten im Archiv des deutschen Wandervogels auf Burg Ludwigstein. Hans Scholz: Mit lichtdeutschem Gruß. In: Tagesspiegel vom 8. Oktober 1968, und Ekkehard Hieronimus: Zeichner einer Generation. In: Hannoversche Presse vom 8. Oktober 1968. Vgl. Hilde Altmann-Reich: Ein Kreuz über weißem Flieder. In: Steglitzer Heimat 7,2, 1962, S. 59. Vgl. George L. Mosse: The Crisis of German Ideology, New York 1964, S. 84–86. Vgl. Richard Hamann und Jost Hermand; Stilkunst um 1900 (wie Anm. 2), S. 71, 134, 164, 176, 186 und 196. Hans H. Hofstätter: Geschichte der europäischen Jugendstilmalerei, Köln 1963, S. 164 und 176. Vgl. Jost Hermand: Jugendstil. Ein Forschungsbericht, Stuttgart 1965, S. 48. Vgl. den Katalog der Ausstellung „Jugendstil-Illustration in München“, München 1969, S. 88 ff. Vgl. die lobende Erwähnung in Georg Hermann: 100 Jahre deutsche VegetarierBewegung, Obersontheim 1968, wo es heißt: „Eine germanische Weihe lag über diesem Haus, ein göttlicher Friede erfüllte die Räume, als wir im Angesicht der Kunstwerke unser Früchtemahl einnahmen“ (S. 35). Vgl. meinen Aufsatz: Meister Fidus (wie Anm. 1), S. 123. Im ersten Teil stark verkürzte und im zweiten Teil erheblich erweiterte Fassung meines Aufsatzes: Meister Fidus (wie Anm. 1).

288 Anmerkungen

Auf andere Art so große Hoffnung Otto Nagel: Junger Maurer von der Stalin-Allee (1953) 1

2 3

4 5

6

7 8

Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: Der Kalte Krieg in der Literatur. Über die Schwierigkeiten bei der Rückgliederung der deutschen Exilautoren und -autorinnen nach 1945. In Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivistische Rückschau, München 1995, S. 581– 606. Vgl. zum Folgenden u. a. Gerhard Pommeranz-Liedke: Otto Nagel und Berlin, Dresden 1964, S. 6 ff., und Erhard Frommhold: Otto Nagel. Zeit. Leben. Werk, Berlin 1974, S. 18 ff. Vor allem Heinrich Zille betonte im Jahr 1924 in seinen Geleitworten zu einer Kollektivausstellung Otto Nagels die „düsteren“ und zugleich „anklagenden“ Züge der Nagelschen Werke. Zit. in Gerhard Pommeranz-Liedke: Otto Nagel und Berlin (wie Anm. 2), S. 15. Vgl. Otto Nagel: Berliner Bilder. Vorwort von Richard Hamann, Berlin 1955. Um die ästhetische Überlegenheit der modernistischen Kunst des Westens gegenüber dieser Art des „Realismus“ herauszustreichen, wurde daher im Westen gerade an diesem Bild ein „deutlicher Qualitätsverlust“ moniert. Vgl. etwa Karin Thomas: Zweimal deutsche Kunst nach 1945. 40 Jahre Nähe und Ferne, Köln 1985, S. 48. Vgl. hierzu u. a. Arnulf Baring: Der 17. Juni 1953, Bonn 1957, Torsten Diedrich: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR, München 2003, Guido Knopp: Der Aufstand des 17. Juni 1953, Hamburg 2003, und Hubertus Knabe: Der 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, München 2004. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, Bd. IV, S. 1010. Vgl. Johannes R. Becher: Auf andere Art so große Hoffnung. Berlin 1951.

Anselm Kiefer: Hoffmann von Fallersleben. Die Etsch (1977) 1 2

3 4 5

Klaus Gallwitz: Über Räume und Völker. Ein Gespräch mit Anselm Kiefer, Frankfurt a. M. 1999, S. 159. John C. Gilmour: Fire on the Earth. Anselm Kiefer and the Postmodern World, Philadelphia 1990, S. 5. Ähnliche Sehweisen finden sich bei Matthew Biro: Anselm Kiefer and the Philosophy of Martin Heidegger, Cambridge 1998, und Nicole Fugman: The Gestalt Change of Postmodern Critique. Anselm Kiefer’s Spatial Historiography. In: New German Critique 75, 1998, S. 90–108. Ebd., S. 175. Gerhard Richter: Geschichte zwischen Flug und Flucht bei Anselm Kiefer. In Ders.: Ästhetik des Ereignisses. Sprache – Geschichte – Medium, München 2005, S. 57–74. Massimo Cacciari und Germano Celant: Anselm Kiefer, Mailand 1997, S. 5. Anmerkungen

289

6 Mark Rosenthal: Anselm Kiefer, Chicago 1987, S. 10. 7 Ebd., S. 10. 8 Vgl. Robert C. Holub: Crossing Borders: Reception Theory, Poststructuralism, Deconstruction, Madison 1992. 9 Vgl. Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen. In Ders.: Essays. Hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 1996, Bd. V, S. 279. Vgl. dazu auch Jost Hermand und Wiegand Lange: „Wollt Ihr Thomas Mann wiederhaben?“ Deutschland und die Emigranten, Hamburg 1999, S. 21. 10 Vgl. dazu u. a. Klaus Wagenbach: Anselm Kiefer. „Neue Wilde“: teutonisch, faschistisch? In: Freibeuter, Nr. 5, 1980, S. 138–147, und Bazon Brock: The End of the Avant-Garde? And so the End of Tradition. Notes on the Present „Kulturkampf “ in West Germany. In: Artforum 19,10, 1981, S. 62–74. 11 Vgl. Gerhard Richter: Geschichte zwischen Flug und Flucht (wie Anm. 4), S. 60. 12 Vgl. Sabine Schütz: Anselm Kiefer. Geschichte als Material, Köln 1998. 13 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Zersungenes Erbe. Zur Geschichte des Deutschlandliedes. In Ders.: Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979, S.62– 74. 14 Vgl. Mark Rosenthal: Anselm Kiefer (wie Anm. 6), S. 49. 15 Jost Hermand: Zersungenes Erbe (wie Anm. 13), S. 68.

Spiegel-Bilder Michael Mathias Prechtl: Denker Nietzsche – Täter Hitler (1981) 1 Vgl. Hans Dieter Jaene: Der Spiegel. Ein deutsches Nachrichtenmagazin, Frankfurt a. M. 1968, S. 12. 2 Le Monde. Zit. in ebd., S. 10. 3 Verlagsdirektor Becker. Zit. in ebd., S. 10. 4 Rudolf Augstein. In ebd., S. 9. 5 Vgl. Jost Hermand: Kultur im Wiederaufbau. 1945–1965, München 1986, S. 36 ff. 6 Die Götter dämmern. In: Spiegel, 1. März 1976, S. 134–153. Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: Ehre in Blech. Deutsche Feiern im Spiegel des „Spiegels“. In Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.): Deutsche Feiern, Wiesbaden 1977, S. 165 f. 7 Vgl. hierzu allgemein Steven E. Aschheim: The Nietzsche Legacy in Germany. 1890–1990, Berkeley 1992, S. 232–307. 8 Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Berlin 1955, S. 253. 9 Vgl. Jost Hermand: Die Kultur der Bundesrepublik. 1965–1985, München 1988, S. 483–506. 10 Ebd., S. 481. 11 Vgl. hierzu Robert C. Holub: Friedrich Nietzsche, New York 1995, S. 163.

290 Anmerkungen

12 Gerd Bergfleth: Zur Kritik der palavernden Aufklärung, München 1984, S. 181– 185, wo unter Berufung auf Friedrich Nietzsche, Georges Bataille und Martin Heidegger dem „aufklärerischen, säkularisierten Judentum“ vorgeworfen wird, „keinen besonderen Sinn“ für das zu haben, „was deutsche Eigenart ist“ und zugleich alle linken Gleichheitstheorien als „Plattwalzungstendenzen“ diffamiert werden. Ähnliche Thesen finden sich später in dem Nachwort unter dem Titel „Nietzsche redivivus“ des von Gerd Bergfleth herausgegebenen Bands: Georges Bataille. Wiedergutmachung an Nietzsche, München 1999 (S. 299–396). Vgl. hierzu auch Steven E. Aschheim: The Nietzsche Legacy in Germany (wie Anm. 7), S. 306–307. 13 Rudolf Augstein: Ein Nietzsche für Alternative und Grüne? In: Spiegel, 8. Juni 1981, S. 156–184. 14 Heinrich Klotz: The History of Postmodern Architecture, Cambridge 1988. 15 Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986. 16 Rudolf Augstein: Ein Nietzsche für Alternative und Grüne? (wie Anm. 13), S. 156. 17 Vgl. u.a. Richard Hamann und Jost Hermand: Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus. Bd. I, Gründerzeit, Berlin 1967, S. 58 ff. 18 Rudolf Augstein: Ein Nietzsche für Alternative und Grüne (wie Anm. 13), S. 156. 19 Ebd., S. 164–166. 20 Ebd., S. 184. 21 Vgl. meinen Aufsatz: Freiheit im Kalten Krieg. Zum Siegeszug der abstrakten Malerei in Westdeutschland. In Hugo Borger, Ekkehard Mai und Stephan Waetzoldt (Hrsg.): ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, Köln 1991, S. 135–162. 22 Vgl. Prechtls Welttheater. Bilder und Zeichnungen zur Geschichte und Literatur. 1958–2001. Hrsg. von Kai Artinger, Wolfratshausen 2001, S. 8. 23 Richard Hiepe: Die Kunst der neuen Klasse, München 1973. 24 Prechtls Welttheater (wie Anm. 22), S. 298. 25 Tendenzen, Nr. 58, 1969, S. 64–65. 26 Michael Mathias Prechtl: Denkmalerei. Hrsg. von Christoph Stölzl, München 1986, S. 11. 27 Ebd., S. 291. 28 Ebd., S. 295. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 9–11. 31 Ebd., S. 53. 32 Wie sehr die „Spiegel“-Redaktion Prechtl bis zu seinem Tode schätzte, beweist ihr gegen die CSU gerichteter Nachruf auf ihn. Vgl. Spiegel, 23. März 2003, S. 210.

Anmerkungen

291

Wandlungen der Leipziger Schule Von Wolfgang Mattheuer bis Neo Rauch (1973–2010) 1 Eine eher „objektive“ Sicht auf Mattheuers Werke boten dagegen Uwe M. Schneede und Heinz Schönemann in ihrem Mattheuer-Buch, das 1978 in Hamburg erschien. 2 Mattheuer selbst sah in ihr dagegen 1973 eher eine „ganz alltägliche Frau“, die „stolz, aber auch leicht verschämt“ sei. Vgl. Wolfgang Mattheuer: Äußerungen. Texte. Grafik, Leipzig 1990, S. 38. 3 Vgl. sein Gedicht „Hinter den sieben Bergen“. In: Ebd., S. 19. 4 Vgl. dazu Mattheuer selbst in ebd., S. 38 f. Vgl. auch das Buch von Ursula Mattheuer-Neustädt: Bilder als Botschaft – Die Botschaft der Bilder. Am Beispiel Wolfgang Mattheuer. Ein Essay in zwei Teilen, Leipzig 1997, in denen diese Bilder als „Bekenntnisse zur Notwendigkeit positiver Utopie, zur Hoffnung auf die Erfüllbarkeit des Menschheitstraumes einer friedlichen, glücklichen Menschheit“ interpretiert werden (S. 78), sowie den Essay „Zeit des Sisyphos“ von Peter Arlt in dem Buch: Meine Sonnen heißen „Trotz alledem“. Erinnerung an Wolfgang Mattheuer. Hrsg. von Ursula Mattheuer-Neustädt et al., Leipzig 2007, S. 69–75. 5 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Freiheit im Kalten Krieg. Zum Siegeszug der abstrakten Malerei in Westdeutschland. In Hugo Borger, Ekkehard Mai und Stephan Waetzoldt (Hrsg.): ’45 und die Folgen. Kunstgeschichte eines Wiederbeginns, Köln 1991, S. 135–162. 6 Vg. Ursula Mattheuer-Neustädt: Bilder als Botschaft (wie Anm. 4), S. 60, 94, 141, und Wolfgang Mattheuer: Äußerungen (wie Anm. 2), S. 95. 7 Heiner Müller: Werke. Hrsg. von Frank Hörnigk, Bd. III, Frankfurt a. M. 2000, S. 376. 8 Vgl. Ursula Mattheuer-Neustädt: Bilder als Botschaft (wie Anm. 4), S. 56. 9 Vgl. ebd., S. 175. 10 Vgl. Wolfgang Mattheuer: Äußerungen (wie Anm. 2), S. 33, 63, 95. 11 Ebd., S. 62 f. 12 Ebd., S. 221. 13 Ebd., S. 33. 14 Ebd., S. 174. 15 Ebd., S. 174. 16 Ebd., S. 97, 99, 138. 17 Ebd., S. 169. 18 Ebd., S. 75. 19 Vgl. Ursula Mattheuer-Neustädt: Bilder als Botschaft (wie Anm. 4), S. 13. 20 Vgl. Fußnote 2. 21 Wolfgang Mattheuer: Äußerungen (wie Anm. 2), S. 27, 115, 126. 22 Ebd., S. 135. 23 Ebd., S. 215. 24 Ebd., S. 228. 292 Anmerkungen

25 26 27 28

29 30 31 32 33

Ebd., S. 239. Ebd., S. 243. Ursula Mattheuer-Neustädt: Bilder als Botschaft (wie Anm. 4), S. 183. Vgl. ebd., S. 118 f., wobei sie allerdings Eduard Beaucamp als rühmliche Ausnahme herausstrich (S. 130). Dieser schrieb später, daß Mattheuer auf seinen Bildern nicht nur die „DDR-Verhältnisse“, sondern das „Debakel der modernen Zivilisation“ schlechthin im Auge gehabt hätte. Vgl.: Meine Sonnen heißen „Trotz alledem“ (wie Anm. 4), S. 136. Vgl. das Kapitel „Auswirkungen der Wende“ in meinem Buch: Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, S. 267–275. Vgl. die Liste der Rauch-Ausstellungen in Neo Rauch: Para, Köln 2007, S. 113 f. Ebd., S. 107, 112. Zit. in ebd., S. 84. Vgl. Deutschland, ein Wintermärchen. In: Süddeutsche Zeitung vom 13. Januar 2006, S. 11.

Anmerkungen

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Bildnachweise

akg-images 7, 20 Berlin, Alte Nationalgalerie 9 Berlin, bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte 6, 18, 19 Berlin, Deutsches Historisches Museum 10, 11 Berlin, Märkisches Museum 25 Berlin, Rainer Zimmermann: Otto Pankok. Das Werk des Malers, Holzschneiders und Bildhauers (1972) 21 Bonn, VG Bild-Kunst © 2011 13, 14, 18, 19, 20, 23, 24, 25, 26, 28, 29 Bremen, Kunsthalle 12 Chicago, Mark Rosenthal: Anselm Kiefer (1987) 26 Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister 1 Gottorf, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum 16 Hamburg, Spiegel-Archiv 27 Leipzig: Ursula Mattheuer-Neustadt: Bilder als Botschaft (1997) 28 Madison, Archiv des Verfassers 4, 13, 14, 15, 17, 22, 23, 29 München, Janos Frecot et al.: Fidus, 1868–1948. Zur ästhetischen Funktion bürgerlicher Fluchtbewegungen (1972) 24 Wikipedia 2, 3, 5, 8 Falls im Hinblick auf die in diesem Buch abgebildeten Kunstwerke irgendwelche Rechtsnachfolger übersehen oder nicht ausfindig gemacht werden konnten, bitte ich diese, sich beim Verlag zu melden und ihre Ansprüche geltend zu machen.

294 Bildnachweise

JOST HERMAND

DER KUNSTHISTORIKER RICHARD HAMANN EINE POLITISCHE BIOGR APHIE (1879–1961)

Richard Hamann (1879–1961) war einer der bedeutendsten deutschen Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Er begründete das Marburger Bildarchiv und war zeitweiliger Vorsitzender des Kunsthistorikerverbandes. In den langen Jahren seiner Lehrtätigkeit von 1911 bis 1957 und in seinen zahlreichen Publikationen trat er stets energisch für die Durchsetzung einer leistungsbetonten Sachkultur ein und verwarf jedes gesellschaftliche Rangbewußtsein im Sinne personenkultischer Vorstellungen. Da er dieses Konzept selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in West- und Ostdeutschland vertrat, geriet er zusehends zwischen die Fronten des Kalten Kriegs und wurde dementsprechend an den Rand gedrängt. Jost Hermand versucht, dieser langanhaltenden Verfemung entgegenzutreten und das Vorbildliche der ideologischen »Haltung« Hamanns herauszustellen. Vor dem Hintergrund der zeitpolitischen Ereignisse entwirft er eine Biographie Richard Hamanns, der selber alles Ichbe tonte abgelehnt hätte. Deshalb wird der Hauptakzent vor allem auf Hamanns vielfältige Bemühungen gelegt, unter dem Motto »Theoria cum praxi« einer progressionsbetonten Kunst- und Kulturpolitik für Jedermann den Weg zu bereiten. 2009. 228 S. 40 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-20398-6

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Jost Hermand

Kultur in finsteren Zeiten naZifascHismus, innere emigr ation, exil

In fast allen politischen Debatten der Zeit zwischen 1933 und 1945 hat der Begriff Kultur eine zentrale Rolle gespielt. Während es dabei in der Inneren Emigration und im Exil fast ausschließlich um hochkulturelle Vorstellungen ging, sind die Nationalsozialisten auf diesem Sektor stets von strategischen Gesichtspunkten ausgegangen. Sie boten jeder Bevölkerungsschicht – trotz aller vorgeblichen Volksgemeinschaftskonzepte – das ihnen Gemäße: der Bildungsbourgeoisie die Werke der klassischen Tradition und den sogenannten breiten Massen eine sie von den mörderischen Fernzielen der NSDAP ablenkende Unterhaltungskultur, deren wichtigstes Ziel es war, sie bei guter Laune zu halten. Jost Hermand zeigt in seinem neuen Buch, daß dieses Kalkül maßgeblich zu jener Erfolgsgeschichte des Nazifaschismus beigetragen hat, die für die Nachgeborenen bis heute ein bestürzendes Phänomen ist. Ihre Gegner in der Inneren Emigration und im Exil – ohne Zugang zu den auf Breitenwirkung zielenden Massenmedien und daher im Bereich der randständigen höheren Künste bleibend – blieben dagegen relativ wirkungslos und konnten erst im Zuge der sogenannten Vergangenheitsbewältigung nach dem Dritten Reich die nötige Anerkennung finden und damit eine Wirkung entfalten. 2010. 337 S. Mit 53 S/w-Abb. Gb. Mit SU. iSbN 978-3-412-20604-8

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