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German Pages [403] Year 2022
Grundorientierungen Philosophischer Praxis
Dirk Rustemeyer
Poetik der Reflexion Heidegger im Lichte der frühromantischen Philosophie
https://doi.org/10.5771/9783495999684 .
https://doi.org/10.5771/9783495999684 .
https://doi.org/10.5771/9783495999684 .
Dirk Rustemeyer
Poetik der Reflexion Heidegger im Lichte der frühromantischen Philosophie
https://doi.org/10.5771/9783495999684 .
© Titelbild: Dirk Rustemeyer
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-49231-4 (Print) ISBN 978-3-495-99968-4 (ePDF)
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1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999684 .
Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Fugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anderer Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
1 Fernblicke und Rückblicke
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19
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26
3 Diesseits von Kosmos, Gott, Subjekt und Methode . . . .
32
4 Entchristianisierung der Tradition
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42
5 Kunst als höchste Art des Zeichens . . . . . . . . . . . .
51
6 Absolute Bilder . . . . . . . . . . . 6.1 Ding und Werk . . . . . . . . 6.2 Rhetorik und Bildlichkeit . . . 6.3 Evokation des Anfangs . . . . .
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57 57 60 63
Schwebende Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
2 Heidegger im Kontext
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1 Seitenblick I . . . . . . . 1.1 No forms: Bildlichkeit 1.1.1 Seele . . . . . . 1.1.2 Natur . . . . . 1.1.3 Literatur . . . . 1.2 Islands . . . . . . . . 1.3 Grids . . . . . . . . 1.4 Wort-Bild . . . . . . 1.5 Intensität . . . . . .
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73 73 73 78 81 84 89 96 102
2 Seitenblick II . . . . . . . 2.1 Orte . . . . . . . . . 2.2 Feldkapelle . . . . . . 2.3 Bauen, Malen, Denken
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105 105 109 117
5 https://doi.org/10.5771/9783495999684 .
Inhaltsverzeichnis
3 Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Wesen und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Welcher Nietzsche? . . . . . . . . . . . . . . . . .
125 125 127
4 Fugen und Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Sprache und Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . 4.2 Hörendes Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138 138 143
Andere Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
1 Fülle des Sinns oder Askese der Reflexion? . . . . . . . .
149
2 Sprache denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
3 Tragik des Zeichens und Gewalt der Lektüre . . . . . . .
158
4 Philosophie und Roman 4.1 Arabesken . . . . . 4.2 Lucinde . . . . . . 4.3 Logos und Liebe . .
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163 163 170 176
5 Ideen und Sterne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
II. Arabesken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
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Gedehnte Zeit
Fiktionen statt Fugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187
1 Mythos als Reflexionform I
187
. . . . . . . . . . . . . . .
2 Wirkliches und Imaginäres . . . . . . . . . 2.1 Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kunst des Indirekten . . . . . . . . . . 2.3 Dschinnistan, oder Das Lachen der Feen 2.4 Vom Land zu Schiff . . . . . . . . . .
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194 194 200 202 205
3 Logos, Lust und Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . .
210
4 Mythologica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
218
5 Zauber der Mytho-Poetik
. . . . . . . . . . . . . . . .
224
6 Mythos als Reflexionsform II . . . . . . . . . . . . . . .
228
7 Imaginäre Grenzen: Philosophie und Mythologie
. . . .
233
8 Verlangsamung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238
6 https://doi.org/10.5771/9783495999684 .
Inhaltsverzeichnis
9 Kraft der Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Nachbarschaften stiften
241
Reflexion statt An-Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245
1 Differenz und Distinktion
. . . . . . . . . . . . . . . .
245
2 Diesseits der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246
3 Diskretes und Unendliches . . . . . . . . . . . . . . . .
250
4 Wie wir sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
5 Bildmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
262
6 Reflexion und Gedächtnis
. . . . . . . . . . . . . . . .
266
Abwesendes statt Unverborgenes . . . . . . . . . . . . . . .
271
1 Vom Sein zum Anderen
. . . . . . . . . . . . . . . . .
271
2 Rätsel des Sichtbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
276
3 Gesicht und Mode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
279
4 Poetik des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
282
5 Ästhetik der Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . .
288
6 Venus vor dem Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . .
292
7 Sehnsucht
294
Unsichtbare Gesichter
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tanzende Identitäten
Symbolisches statt Seiendes . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
1 Tanz zur Musik der Zeit
. . . . . . . . . . . . . . . . .
303
2 Rhetorik des Beweises . . . . . . . . . . . . . . . . . .
306
3 Inszenierungen von Evidenz . . . . . . . . . . . . . . .
323
4 Reflexionskunst
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
332
5 Phänomen, Erfahrung und Fiktion . . . . . . . . . . . .
337
Epilog: Kain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
1 Verstehen und Lichten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
2 Zorn der Welt
354
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Inhaltsverzeichnis
3 Diabolische Paradoxien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
358
4 Jenseits von Eden 4.1 Schuld . . . 4.2 Wahl . . . . 4.3 Abraxas . .
. . . .
361 361 366 369
5 Rhetorik des Zorns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
376
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
381
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
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8 https://doi.org/10.5771/9783495999684 .
Einleitung
Wohl kein Philosoph des 20. Jahrhunderts ist ähnlich umstritten wie Martin Heidegger. Kontroversen entzünden sich an seinem Ver such einer Überwindung der Metaphysik ebenso wie an politischen Konnotationen seiner Denkfiguren und Begriffe. Zustimmung oder Ablehnung stehen einander oft schroff gegenüber. Dieser Konstella tion möchte dieses Buch ausweichen. Unbestritten, sogar von seinen Gegnern, stellt Heideggers Philosophie eine Herausforderung für alle Bestrebungen dar, den Voraussetzungen und Alternativen neuzeitli cher Auffassungen von Denken, Freiheit oder Sprache auf den Grund zu gehen. Heideggers Arbeit in der werkbiographischen Phase nach »Sein und Zeit« war von einer Auseinandersetzung mit Positionen der Zeit um 1800 inspiriert, die an Konsequenz – und Einseitigkeit – kaum ihresgleichen hat. Seine Entwicklung eines neuen philosophi schen Vokabulars, sein Stil der Kritik an wesentlichen Positionen neuzeitlicher Philosophie, seine Sicht auf die vorklassische und klas sische griechische Philosophie oder seine Auseinandersetzung mit Technik, Wissenschaften und Künsten verdanken Wesentliches seiner Rezeption der Lyrik Friedrich Hölderlins. Heideggers Weg in eine dichtende Philosophie lenkt den Blick auf eine Weichenstellung zu Beginn der »modernen« Kultur. Vor allem seine späteren Texte lese ich als eine Denkbewegung hin zu einer Poetik der Reflexion. Unabhängig davon, wie man den Erfolg von Heideggers Bemühungen bewerten mag, ist die Idee, Philosophie als Poetik der Reflexion aufzufassen, von großer Aktualität und Tragweite. Sie betrifft den epistemischen Anspruch philosophischer Begriffe und wirft die Frage auf, worin der spezifische Weltbezug philosophischer Überlegungen bestehen kann. Reflexionen, die auf der Grenze von Welt und Ich balancieren, schaffen Offenheit durch symbolische Interventionen, die Selbst und Welt, Wirkliches und Imaginäres in der Resonanz symbolischer Artefakte erscheinen las sen. Menschliche Kultur wurzelt, davon ist bereits Giovanni Battista Vico überzeugt, im Poetischen. Ideen und Fiktionen lassen Wirkliches
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Einleitung
zutage treten.1 Von Darstellungen hängt alles ab – der Rhythmus der Welt wie die Lebendigkeit des Geistes, der Reichtum von Kulturen und die Gliederungen des Wirklichen. Poetik, in Vicos Sinne, faßt die fundamentale Struktur menschlicher Gesellschaften als kulturelle Ordnung ins Auge. An Vicos Anspruch muß eine Poetik der Reflexion im Horizont der modernen Kultur sich bewähren. Seit jeher fordern poetische Darstellungen die Praxis der Philo sophie heraus.2 Für die »moderne« Philosophie ist besonders die kurze Phase des frühen Idealismus und der Frühromantik eine Herausforde rung geblieben, der poetischen Natur des Denkens im Horizont von Aufklärung und Idealismus gerecht zu werden. Gedanken Friedrich Hölderlins, Friedrich Schlegels oder Novalis’ wecken noch heute Skepsis im Blick auf so manche Theorie des Wissens, die seit dem 18. Jahrhundert Gehör gefunden hat. Welt und Ich bilden unendli che Korrelate schöpferischer Tätigkeit. Von daher gewinnen Kunst werke ihre Bedeutung, erscheint in ihnen doch die Verschränkung von Allgemeinem und Besonderem, Unendlichem und Endlichem, Bewußtsein und Wirklichkeit.3 Fragen nach dem Bewußtsein, der Natur und den Zeichen – nach Begriffen, Zahlen, Bildern, Gedichten, Liedern, Märchen, Mythen, Theaterstücken und Romanen – stimu Vico, G.B.: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker [1744]. Bd. I. Hamburg 1990, S. 109, auch S. 104. 2 Platon entfaltet Philosophie als Literatur, Montaigne betrachtet Schreiben und Reflektieren als zwei Aspekte desselben Vorgangs. Vgl. Montaigne, M.d.: Essais [1572–1592]. Frankfurt/M. 1998. Literaten wie Fernando Pessoa betonen, daß, je genauer die Komposition der Zeichen, die unsere Aufmerksamkeit fesseln, desto unendlicher die Innerlichkeit des Ichs erscheint; desto fremder, doch ebenso unendlich, begegnet zugleich die Welt. Vgl. Pessoa, F.: Der Mann aus Porlock [1934]. In: Ders.: Orpheu. Schriften zur Literatur, Ästhetik und Kunst. Frankfurt/M. 2015, S. 5–9. Paul Celan betrachtet Gedichte als aktive Konzentrationen, in denen die Welt sich öffnet. Vgl. Celan, P.: Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Prei ses. Darmstadt, am 22. Oktober 1960. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. III. Frank furt/M. 19922, S. 185–202. Von Caspar David Friedrichs Bildern bis zu Agnes Martins Malerei setzt sich eine Auffassung fort, Reflexion als Kunst des Indirekten zu betrei ben, wie »mit dem Rücken zur Welt«. Martin, A.: Writings/ Schriften. Hrsgg. v. D. Schwarz. Winterthur 19915, S. 47. 3 Pionierarbeit bei der Erschließung des Textraumes und der systematischen Rele vanz frühromantischen Denkens hat Manfred Frank geleistet. Vgl. Ders.: ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt/M. 1997. – Das »moderne« literarische Potential der Romantik blieb lange Zeit unter ihrer vorherrschenden Kritik verschüttet. Karl-Heinz Bohrer sieht es insbesondere in den Motiven der Reflexivität des Kunstwerks und des Phantastischen bewahrt. Vgl. Ders.: Die Kritik der Romantik. Frankfurt/M. 1989. 1
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Einleitung
lieren gelenkige Konstellationen von Unterscheidungen, bevor sie in akademische Disziplinen zerlegt und in Methoden gezwängt werden. Grenzen zwischen Wissenschaften, Philosophie und Künsten bleiben flüssig. Manchen Anhängern des Projekts der Moderne mit seinen epistemischen, politischen und moralischen, aber auch rechtlichen, ökonomischen oder ästhetischen Rationalitätsmaßstäben mag eine solche Praxis befremdlich scheinen. Selten, und dann meist von Außenseitern wie Friedrich Nietzsche oder Walter Benjamin, wurde seit den Tagen der Frühromantik darauf zurückgegriffen. Obskur erscheint, was sich der Ordnung der Unterscheidungen nicht fügt, die das Land der Vernunft, in Kants Worten, vom Ozean des Scheins trennt. Vernunftgläubiger Protektionismus solcher Art gelingt um den Preis, Reflexionen abzuwehren, die so geschmeidig wie attrak tiv, einladend und charmant, aber auch ungestüm und sprunghaft, scheinbar willkürlich und ironisch, oft leidenschaftlich und nicht selten elegant daherkommen. Gewiß, manchmal wirken sie auch unverständlich, esoterisch und erratisch. Ob sich ausmachen läßt, wo die Grenze zwischen funkelnder Schöpferkraft und selbstvergessener Weltabwendung verläuft, ist eine der Fragen, die in diesem Buch verhandelt werden. Jedenfalls wird sich von der Singularität der Phänomene fesseln lassen, wer sich auf eine Poetik der Reflexion einläßt. Kein Beispiel ist wie das andere; jede Erscheinung fordert eine auf sie abgestimmte Herangehensweise. Methodische Ansprüche der Wissenschaften mit dem Ideal einer Gleichbehandlung aller Phänomene bleiben außen vor. Logik bietet kein unbezweifelbares Paradigma der Reflexion. Zei gen, nicht Begründen ist der Modus von Evidenz, um die es poetischer Reflexion zu tun ist. Sorge um die Welt ist kein dominierendes Motiv. Nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, sondern wegen der Struktur von Reflexion. Trifft, was Agnes Martin über Maler sagt, nicht auch auf Philosophen zu? »Es liegt nicht in der Rolle eines Künstlers sich um das Leben zu sorgen, sich für die Erschaffung einer besseren Welt verantwortlich zu fühlen. Das ist eine sehr ernstliche Ablenkung.«4 Unter Künstlern und Philosophen charakterisiert das nicht unbedingt die Mehrheitsmeinung. An keinem Philosophen des 20. Jahrhunderts sind kontroverse Auffassungen von der Weltverant wortlichkeit philosophischer Reflexion wohl schärfer zu sehen als an Martin, A.: Schönheit ist das Geheimnis des Lebens [1989]. In: Agnes Martin. Hrsgg. v. F. Morris und T. Bell. München 2015, S. 158.
4
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Einleitung
Martin Heidegger.5 Philosophische Faszinationskraft besitzen dessen Texte freilich vor allem wegen der Verschränkung von Sprache und Reflexion, die sich auf Friedrich Hölderlin beruft. Heideggers Anspruch auf einen Neubeginn des Denkens wird deutlicher, wenn man sich Alternativen der literarisch-philosophi schen Szene der Frühromantik und des Idealismus um 1800 zur schließlich durchsetzungsstärkeren Bewußtseins-, Transzendentaloder Wissenschaftsphilosophie vergegenwärtigt. Zugleich ist die Einseitigkeit von Heideggers Anknüpfung aufschlußreich. Seine Fixierung auf die Lyrik Friedrich Hölderlins blendet andere Varian ten zeitgenössischen Denkens, vor allem diejenige Friedrich Schle gels, ebenso aus wie manche philosophische Überlegung Hölder lins. Heideggers Umgang mit Hölderlins Texten wirft Licht auf die Frage, wie er seine Lektüren pointiert, strategisch anordnet und als Modell eigener Textproduktion behandelt. Vergleiche mit dem Denk- und Schreibstil Friedrich Schlegels können dabei helfen, Heideggers Idee von Philosophie zu erhellen. Von einer Lektüre Heideggers ausgehend, läßt sich die Frage nach einer Rhetorik philo sophischen Schreibens präzisieren. Im Gegenlicht einer von Schlegel inspirierten Universalpoesie erscheint Heideggers Weg von radikaler Konsequenz, aber keineswegs alternativlos. Von Schlegels Poetik bleibt seine Denkgeste in wichtigen Hinsichten unterschieden. Solche Unterschiede herauszuarbeiten hilft, idealistische und frühromanti sche Poetik-Vorstellungen zu rehabilitieren, ohne Verengungen einer weltabgekehrten Frühromantik-Deutung zu erliegen. Für beides bie tet die Lektüre von Heideggers Texten Anhaltspunkte. Bewegt Heideggers Denken sich im Laufe der Zeit immer mehr in Sprach-»Fugen«, lädt Schlegels Poetik zum Entwerfen von »Ara besken« ein. Arabesken verbinden in zweckfreien Konstellationen zwanglos Verschiedenes zu Ähnlichem. Unbekümmert um Gattungen oder Hierarchien, verleihen sie Singularitäten Gestalt, ohne etwas benennen oder repräsentieren zu wollen. F. Schlegel, Novalis und Höl derlin verstehen den menschlichen Geist als schöpferische Tätigkeit,
5 Für George Steiner gibt es in der gesamten Geschichte des abendländischen Den kens seit Sokrates keinen Philosophen, der mehr polarisiert hätte. In seinen Augen hängt diese Provokation mit Heideggers Verschränkung von Denk- und Schreibstil zusammen, die er als »Poetik« des Denkens charakterisiert. Vgl. Ders.: Martin Heidegger. Eine Einführung [1978]. München 1989, S. 50, 54ff.
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Einleitung
die verwandelt, was sie berührt.6 Weit davon entfernt, moralische Regeln zu propagieren oder kritische Gegenentwürfe zur Welt anzu bieten, verstricken Arabesken diejenigen, die sie ziehen, ganz und gar in die Wirklichkeiten einer Welt. Obwohl sie nicht auf anderes ver weisen, sind sie alles andere als bloß ornamental.7 Ihre schöpferische Qualität verhilft Wirklichem zur intelligiblen Form. Arabesken zeigen konkrete, weltzugewandte Wirklichkeitsformen. Strenge Ansprüche einer Kritik des Bestehenden erheben sie so wenig, wie sie eine Logik des Allgemeinen ins Besondere hineindeuten.8 Ihr das Gegebene übersteigende Potential liegt in der lebendigen Kraft einer Reflexion, die etwas in anderen Perspektiven zeigt, statt es bestimmend zu ordnen. Von Friedrich Schlegel borge ich das Konzept der Arabeske, um Facetten einer philosophischen Poetik zu entfalten, die einen anderen Bezug zu Positionen des Idealismus und der Frühromantik akzentuieren als Martin Heidegger. Auf diese Weise hoffe ich, das Motiv einer Poetik der Reflexion als ein philosophisches Konzept attraktiv zu machen, das auf eine Weichenstellung der modernen Kultur zurückweist und dafür wirbt, Philosophie als symbolische Praxis der Reflexion in Darstellungen zu betreiben. Arabesken bilden eine poetologische Alternative zu Heideggers Topos der »Fuge«. Bei dieser Alternative geht es um den fundamentalen Zusammenhang zwischen Denkweisen und Darstellungsformen als einer lebendigen Reflexionspraxis. Arabesken bieten mehr an als bloß eine andere stilistische Form, denselben Gedanken auszudrücken. In Arabesken zu denken bedeutet, sie anzufertigen, und sie anzufertigen führt die
6 »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheim nißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisiere ich es«, heißt es bei Novalis 1798. Ders.: Vorarbeiten [1798]. In: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Das philosophisch-theoretische Werk. Darmstadt 1999, Nr. 105, S. 334. 7 Werner Busch bringt aus kunstgeschichtlicher Perspektive die frühromantische Arabeske mit dem Ende der traditionellen Ikonographie in Verbindung. Vgl. Busch, W.: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deut schen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin 1985. Was für die Philosophie gilt, zeigt Busch an Kunstwerken: Die Arabeske wird zu einer »Reflexionsform«. Ebenda, S. 13. 8 Hegel wirft der romantischen Denkweise und Kunstauffassung deshalb sowohl eine »prosaische Objektivität« vor, die das Wirkliche im Gewöhnlichen beläßt, als auch einen selbstgefälligen Subjektivismus, der sich mit Witz zum »Meister der gesamten Wirklichkeit« erheben möchte. Vgl. Ders.: Vorlesungen über die Ästhetik [1818, 1820/21, 1823, 1828/29], Bd. II. Werke Bd. 14. Frankfurt/M. 1983, S. 222.
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Einleitung
Reflexion auf nichtzufällige, aber weder logische noch teleologische Weise durch den phänomenalen Reichtum der »Welt«. Die ersten drei Kapitel dieses Buches untersuchen unter dem Leitbegriff der »Fuge« Heideggers Anknüpfung an Hölderlin und die Alternativen, die im Denken Friedrich Schlegels bereitliegen. Die folgenden Kapitel arbeiten, unter dem Leitbegriff der »Arabeske« und jeweils orientiert an Schlüsselbegriffen Heideggers, Alternativen zu Heideggers Text- und Reflexionsstrategie aus. Wie eine Arabeske ver binden die Kapitel dieses Buches Motive, Begriffe, Mythen, Theorien und Kunstwerke. Der Charakter einer Poetik der Reflexion verändert sich, wenn wir Fiktionen betrachten, statt in Fugen zu sprechen, Reflexionen betreiben, statt uns dem An-Denken zu widmen, Weisen der Anwesenheit des Abwesenden untersuchen, statt von Unverbor genheit zu reden oder das Spiel von Symbolen verfolgen, statt uns vom Seienden wegzudenken. Zu den wichtigsten Ideen, die in der abendländischen Kultur hervorgebracht wurden, gehören die Ideen der Freiheit und der Person. Welche Kraft sie über Jahrtausende bewahren, zeigt sich nicht zuletzt in Mythen, die zu immer neuen Auslegungen einla den. Heideggers Mythos der »Seinsgeschichte« versucht, die jüdischchristlich geprägte Auslegungstradition durch das Denken eines »anderen Anfangs« zu ersetzen. Dieser Versuch führt in eine Lichtung des Sinns, in der grundlegende Einsichten über die symbolische Natur des Menschen verlorengehen, der sich, wie Heidegger in »Sein und Zeit« selbst herausgearbeitet hat, immer wieder in eine Welt hinein »entwerfen« muß. Wie von selbst führt das Ziehen von Arabesken auf eine Frage, die sich anhand von Heideggers allmählicher Lösung aus der »Phäno menologie« stellt: Wie läßt sich die »wirkliche« Welt beschreiben, um sie möglichst gut zu »verstehen«, wenn sie doch immer in bestimmter Weise und Perspektive »erscheint«? Vor dem Hintergrund einer Poe tik der Reflexion könnte ein Antwortversuch lauten: Möglicherweise, indem wir Darstellungsformen entwickeln, die Wirkliches als virtuel les Exemplarisches phänomenal aufscheinen lassen. Exemplarisches, wird es nicht auf eine bloß repräsentative Auswahl von Fällen unter Regeln reduziert, zeigt seinen Reichtum nicht zuletzt in Gestalt von Fiktionen. Zwar hat Heidegger sich auf Hölderlins Lyrik berufen, aber den Weg in die Fiktion – in die Künste – gescheut. Diese Scheu in Frage zu stellen könnte vielleicht dazu beitragen, Phänomenologie auch als eine Kunst zu betreiben, die etwas über die Welt lehren
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Einleitung
kann, indem wir die erscheinende Welt in sorgfältigen Darstellungen so gestalten, daß sich in symbolischen Artefakten exemplarisches Verschiedenes zur virtuellen Einheit einer Idee gruppiert. Ideen haben ihren Ort in der Mitte zwischen Bewußtsein und Welt. Weder Wesen noch Tatsachen, beginnen auf ihnen, in Schlegels Worten, Reflexionen zu »schweben«. Skepsis gegenüber Versuchungen, einer universellen Vernunft in den Sattel zu helfen, bedeutet für eine Poetik der Reflexion nicht, vor der Welt und dem Schicksal des Menschen, zum Sinn verurteilt zu sein, die Augen zu verschließen. Man muß Kants Transzendental philosophie nicht übernehmen, um die Vehemenz zu bewundern, mit der er die Idee der Freiheit ins Zentrum der Frage nach dem Menschen und der modernen Gesellschaft stellt. Bei allen Unter schieden zwischen Kants Philosophie und einem auf Idealismus und Frühromantik zurückgehenden Denken – das im Falle Hölderlins, Novalis’ und Friedrich Schlegels auf einer intensiven Auseinander setzung mit Kant beruht – kommt eine Poetik der Reflexion hierin mit Kants Idee überein. Was es heißt, frei zu sein, beantwortet sich aus der Perspektive einer Poetik der Reflexion nicht durch Verweis auf Verstandesformen, Vernunftgesetze oder moralische Begründungen. Eher geht es um singuläre Konstellationen, Situationen, Geschichten, Mythen, Affekte und multiple Bedeutungszusammenhänge, durch die Menschen und Ideen sich miteinander verbinden.
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I. Fugen
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Anderer Anfang
1 Fernblicke und Rückblicke So »fremd wie ein stillgelegter Weg«, notiert Martin Heidegger 1932, seien ihm frühere Arbeiten wie »Sein und Zeit« geworden.1 Sprache rückt in den Mittelpunkt seines Interesses. Nicht Aussage sätze oder Urteile, ein dichtendes Sagen erscheint ihm als Modell philosophischen Sprechens und eigentlichen »Denkens«. Friedrich Hölderlins späte Lyrik wählt Heidegger als Bezugspunkt. Neben dem idealisierten Dichterphilosophen Hölderlin akzeptiert er ein zig noch Friedrich Nietzsche als Gesprächspartner auf Augenhöhe. Befremden gegenüber früheren Texten spiegelt das Bemühen um einen (über)geschichtlichen Blick.2 Während sich der geschichtliche Denkhorizont weitet, um die Philosophie von Grund auf zu erneuern, schrumpft die Gegenwart beinahe zur Bedeutungslosigkeit.3 Aus- und 1 Heidegger, M.: Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931–1938). Gesamtausgabe Bd. 94. Frankfurt/M. 2014, S. 19. 2 Als »weltblinde(s) Hinausdenken über den nächsten Welthorizont« hat Günther Figal den Stil dieser Betrachtungen charakterisiert. Figal, G.: Die andere Seite der Phi losophie. Zu Heideggers Schwarzen Heften. In: Journal Phänomenologie 45 (2016), S. 101–118, hier S. 116. – Vgl. auch Pöggeler, O.: Philosophie und Politik bei Heidegger. Freiburg, München 19742. – »Ekel vor dem vulgären Politisieren« gesteht auch Fritz Heidegger ein. Brief von Fritz Heidegger an Martin Heidegger vom 21. Dezember 1931. In: Homolka, W./Heidegger, A. (Hrsg.): Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger. Freiburg, Basel, Wien 2016, S. 23. Unhistorisches Denken hält er aber für verfehlt, weil es den Blick auf jeweils konkrete, zeitabhängige Möglichkeiten verstelle. Vgl. Brief von Fritz Heidegger an Martin Heidegger vom 2. April 1933. In: ebenda, S. 32f. – Reinhard Mehring sieht bei Heidegger eine systematische Unfähigkeit zu analytischem politischen Denken. Vgl. ders: »Das Jüdische« in der Metaphysik. Heideggers schwarze Stellen im Rahmen der Gesamtausgabe. In: Seubert, H./Neuge bauer, K. (Hrsg.): Auslegungen. Von Parmenides bis zu den Schwarzen Heften. Frei burg, München 2017, S. 137–166. 3 Brief von Martin Heidegger an Elisabeth Blochmann vom 30. März 1933: »So erfahre ich das Gegenwärtige ganz aus der Zukunft. Nur so kann eine echte Teilnahme wachsen u. jene Inständigkeit in unserer Geschichte, die freilich Vorbedingung für ein
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Fernblicke verlangen den Rückblick auf die Anfänge abendländischen Denkens, um über das historisch Gewesene hinwegzuschauen. Als Seher empfindet er sich, der zugleich den ersten Anfang und das viel leicht Zukünftige ins Auge faßt, das zu benennen doch unmöglich ist. Was dazwischen liegt, die Wirklichkeit der modernen Gesellschaft, will demnach auf seine Voraussetzungen hin betrachtet, aber nicht eigens analysiert werden. Wenig verwunderlich also, daß er auch nach dem Krieg an dieser Perspektive festhält.4 Eine so unhistorische wie geschichtsfixierte Zeitvorstellung prägt die Philosophie des »Seyns«.5 Wie auf einer doppelt belichteten Fotografie durchdringen ein ander eine Zeitlandschaft und eine Begriffstopographie, ohne daß diese beiden Aspekte aus dem jeweils anderen schlüssig erklärt wer den könnten. An dieser Beobachtung einer Doppelbelichtung des Bildes, das Heidegger sich macht und das seine Leser sich von ihm machen, setze ich meine Überlegungen an. Im Werk Heideggers finden sie sich ebenso, wie sie die Auseinandersetzungen um seine Philosophie prägen. Statt die Bilder gegeneinander auszuspielen oder den Versuch zu unternehmen, sie miteinander in Einklang zu bringen, rekonstruiere ich Heideggers Philosophie als Weg in eine Poetik der Reflexion, in deren Mittelpunkt Fragen der Bildlichkeit und Zeitlichkeit stehen. Was Heidegger mit seinem Rückgriff auf Hölderlin vorschwebt, ist eine neue Grundlegung des »Denkens«. Weder Beschreibung noch Analyse oder Urteil soll philosophische Reflexion sein, vielmehr durch eine schöpferische Transformation der wahrhaftes Wesen bleibt./ Demgegenüber muß in aller Ruhe jenes überall aufschie ßende u. allzu eilige Mitlaufen mit den neuen Dingen hingenommen werden.« Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann. Briefwechsel 1918–1969. Hrsgg. v. Joachim W. Storck. Marbach 1989, S. 60 (Hervorhebung im Original). 4 Am 27. Juni 1950 schreibt er in einem Brief an Hannah Arendt: »Seynsgeschichte ist überhaupt nicht Geschichte im Sinne des Geschehens eines Wirkungszusammen hangs.« Dabei ist Heidegger durchaus bewußt, daß er nichts von »Politik« versteht. »Im Politischen bin ich weder bewandert noch begabt«, gesteht er Hannah Arendt (12. April 1950). In: Hannah Arendt/Martin Heidegger. Briefe 1925–1975. Hrsgg. von Urszula Ludz. Frankfurt/M. 20134, S. 112, 95. 5 Mit dem im Deutschland der 1930er Jahre vorherrschenden Geschichtsbild, das Christopher Clark als »transhistorisch« charakterisiert, weist sie Ähnlichkeiten auf. Geschichte als lineares Geschehen tritt hinter der Vorstellung zurück, die eigene Iden tität als tiefe Kontinuität im Doppelhorizont einer fernen Vergangenheit und einer fernen Zukunft zu erblicken, die einer Wiederholung des vergangenen Ursprungs gleicht. Vgl. Clark, Chr.: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. München 20184, S. 189ff. Dabei war dieses Zeitgefühl des NS-Regimes durchaus nicht kohärent.
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Sprache gelingen. Richard Rorty, für den die Arbeit an innovativen Vokabularen ebenfalls grundlegende Bedeutung hat, charakterisiert dessen Sprache als Kampf um Laute, Wörter und Bedeutung.6 In dieser Figur von Reflexion hält die Zeit inne. An der Zeitlichkeit des Bewußtseins findet sie ebensowenig Halt wie an derjenigen der phänomenal erscheinenden Welt. Um so interessanter wird die Frage, ob und wie sich dabei ein Zugang zur Welt bewahren oder sogar intensivieren läßt.7 Für Heidegger bedeutet philosophische Reflexion Verzicht auf normative oder praktische Ambitionen. »Philosophie hat als diese keinen Auftrag, für die allgemeine Menschheit und Kultur zu sorgen Vgl. Rorty, R.: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/M. 1989, S. 190. Wer sich mit einem moralisch fokussierten Blick Heideggers Denken nähert oder an politischen Urteilen interessiert ist, erschwert sich den Zugang zu der herausfor dernden Reflexions- und Zeitfigur, an der Heidegger arbeitet. Kaum etwas wider streitet einem Verständnis von Heideggers Begriff des »An-Denkens« mehr als psy chologische Erklärungen oder moralische Urteile. – Ist, wer philosophische Bedenken gegen die »Moral« hegt, »vor dem Gerichtshof des Faktums der Vernunft schuldig« zu sprechen? Vgl. Markus Gabriel: Heideggers antisemitische Stereotypen. In: Homolka, W./Heidegger, A. (Hrsg.): Heidegger und der Antisemitismus. A.a.O., S. 220–231, hier S. 228. – Peter Trawny ist bei der These, Heidegger sei von dem Text »Die Protokolle von Zion« beeinflußt gewesen, so weit gegangen, die Einforderung philologischer Belege dafür als »pseudophilologische(n) Einwand« beiseite zu schie ben. Ders.: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Frank furt/M. 20142, S. 120. Im Bewußtsein, daß, zumindest in Deutschland, jeder, der als »Antisemit« gilt, »moralisch und politisch erledigt« ist, wählt Trawny eine Interpre tationsstrategie, die aus dem Nichtgesagten ein Indiz für eigentlich Gemeintes her ausliest. Vgl. ebenda, S. 13. Jean-Luc Nancy hat diesen Umgang mit philologischen Standards aufgenommen und zugespitzt: »Von woher nimmt Heidegger diese Gestalt? Ganz einfach: aus dem banalsten, vulgärsten, trivialsten und verschlammtesten Dis kurs, den Europa seit langem im Schlepptau führt und der sich seit etwa dreißig Jahren mit der miserablen Veröffentlichung der ›Protokolle der Weisen von Zion‹ ausgestattet hat. (...) Die Frage, ob Heidegger diese grobe und groteske Fälschung gelesen hat, stellt sich nicht. (...) Heidegger weiß genau, was er tut. Er macht sich den banalen Müll zu seinen höheren Zwecken zueigen.« Nancy, J.-L.: Heideggers Banalität. In: Trawny, P./ Mitchell, A.J. (Hrsg.): Heidegger, die Juden, noch einmal. Frankfurt/M. 2015, S. 11– 42, hier S. 28. – Vgl. dazu Cohen-Halimi, M./Cohen, F.: Der Fall Trawny. Zu den Schwarzen Heften Heideggers. Wien, Berlin 2016, S. 28f., 39, 41, 45.; außerdem Precht, O.: Irrsal und Wirrsal. Vom Fall Trawny zum Fall Heidegger. In: ebenda, S. 67–90, hier S. 68. – Was seine Haltung gegenüber der Zwischenkriegszeit, seine im weiteren Sinne politischen Ansichten oder seine Informationslage aus Zeitungen anbelangt, war Heidegger, meint Thomas Meyer, »Durchschnittsvolksgenosse«. Vgl. Meyer, Th.: Heidegger aus der Sicht eines Ideenhistorikers. In: Homolka, W./ Heidegger, A. (Hrsg.): Heidegger und der Antisemitismus. A.a.O., S. 300–309. 6
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und gar kommenden Geschlechtern die Sorge um das Fragen ein für allemal abzunehmen oder auch nur durch verkehrte Geltungsansprü che zu beeinträchtigen. Sie ist, was sie sein kann, nur als Philosophie ihrer ›Zeit‹.«8 Sie steht jenseits von Gut und Böse. Diese Überzeugung verbindet Heideggers Denken mit demjenigen Friedrich Nietzsches. Von wo aus beginnt der Philosoph seine Arbeit, wenn er zwar in der Welt zu sprechen anhebt, aber auf ein »Seyn« zielt, das nicht von dieser Welt ist? »Seyn« versteht Heidegger als etwas höchst Gegenwärtiges, wenngleich nichts einfach Gegebenes oder Gewese nes, weder Kosmos noch Schöpfung. An die Gegenwart richtet es den Anspruch, in eine Zukunft aufzubrechen, die zugleich Wahrheit des Vergangenen wäre. Zwar wird die Besinnung auf das Seyn als Erinnerung an die Anfänge griechischer Philosophie durchgeführt, gibt sich aber als Vorbereitung der Ankunft des vergessenen Seyns aus: als des Anderen des weltlich Seienden.9 Heidegger bettet seine Perspektive in eine Textstrategie ein, die dem philosophischen Wort mehr Gewicht einräumt als dem, worüber die Sprache spricht. Phi losophie tritt als Poetik eines sagenden Denkens der Dichter auf, die durch die Sprache eine Resonanz des Unsagbaren evozieren möchte. Als Anderes des Seienden leuchtet dieses Unsagbare aus der Leere des Bestimmten in der Sage des Philosophen hervor. Kontrastierend dazu wird eine onto-theologische Tiefengrammatik abendländischer »Metaphysik« beschworen, die auf verhängnisvolle Weise philosophische und wissenschaftliche Überzeugungen ebenso imprägniert habe, wie sie in politische, ökonomische oder weltan 8 Heidegger, M.: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) [1923]. In: Gesamtausgabe Bd. 63. Frankfurt/M. 19952, S. 18. – Heidegger habe, meint Klaus Held, »von Hause aus unpolitisch« gedacht. Held, K.: Heidegger und das »Politische«. In: Homolka, W./ Heidegger, A. (Hrsg.): Heidegger und der Antisemitismus. A.a.O., S. 257–268, hier S. 263. Heidegger, M.: Nietzsches Wort »Gott ist tot« [1943]. In: Ders.: Holzwege [1950]. Frankfurt/M. 19806, S. 205–263, hier S. 253. 9 Vor dem Hintergrund dieser Figur, die Heideggers Denken seit den 1930er Jahren beherrscht, hat Karl Löwith die Übernahme des Rektorats 1933 charakterisiert: »Was sich in Heideggers Aufruf offenbart, ist eine entschiedene Bereitschaft, an das geschichtliche Schicksal als solches zu glauben. Der ›Augenblick‹ schien gekommen, wo eigentliche Geschichte, ein Seinsgeschick im emphatischen Sinne geschah und wo man augenblicklich sein mußte. Von Platons Frage nach dem gerechten Staatswesen ist bei Heidegger keine Rede. Er denkt in verwirrter und verwirrender Weise ›geschichtlich‹ und zugleich völlig unpolitisch, weil sich sein geschichtliches Denken kritiklos verstiegen hat.« Löwith, K.: Denker in dürftiger Zeit [1953]. Göttingen 19653, S. 51.
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schauliche Systeme eingewandert sei. Weil es in diesem Modell des Vorgestellten und Seienden kein Geheimnis, nichts Anderes oder wirklich Fremdes, sondern allenfalls noch Unbekanntes gibt, sagt Heidegger von diesem Seienden, es sei vom »Seyn« »verlassen«. Beliebiges Innerweltliches kann an die Stelle des Göttlichen treten. Nihilismus ist die Möglichkeitsbedingung für Vergötzungen aller Art in einer entgötterten Welt.10 Kein Wert darf beanspruchen, absolut zu sein. Deshalb gibt es keinen Standpunkt in der Welt, um die Welt mit ihren eigenen Maßstäben zu be- oder zu verurteilen. Im Kontrast zu Max Webers Soziologie werden die Fluchtpunkte von Heideggers Denken besonders klar. Wie der Philosoph Heidegger arbeitet auch der Soziologe Weber an einer Theorie abendländischer Rationalisierung und der Situation des Menschen in der entgötterten Moderne. Statt angesichts der Vielfalt der Werte zu resignieren, plä diert Weber dafür, mit wissenschaftlichen Methoden Konsequenzen einzelner Wertoptionen zu ermitteln. Im Vergleich wird Verglichenes nicht bloß gleich; vergleichend prüfen wir Optionen des Handelns, die wir ergreifen, ohne deren Folgen ganz zu überschauen oder um deren absolute Geltung zu wissen.11 So liegt »die Würde der ›Persönlichkeit‹ darin beschlossen, daß es für sie Werte gibt, auf die sie ihr Leben bezieht«, aber »die Geltung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicher lich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft«.12 Hat die moderne Welt für die Menschen ihren objektiven Sinn verloren, ist es an der Person, die Welt denkend zu ordnen, um einem objektiv sinnlo sen Ereignisstrom ausschnitthaft subjektive Bedeutung zu verleihen. Heidegger zieht aus der Rekonstruktion abendländischer Ratio nalität komplementäre Konsequenzen. Menschen darf nicht sugge 10 Solche erkennt er auch in der nationalsozialistischen Weltanschauung, wenn er von einer »Vergötzung« des Völkischen zum »Unbedingten« spricht. Heidegger, M.: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) [1936–1938]. In: Gesamtausgabe Bd. 65. Frankfurt/M. 20033, S. 117. 11 Webers Wissenschaftslehre mündet in eine Theorie der Politik. »Betrieb« oder »Maschine« erscheinen ihm als unausweichliche Formen moderner Partei-Politik. Vgl. Weber, M.: Politik als Beruf [1919]. In: Ders.: Gesammelte Politische Schriften. Tübin gen 19885, S. 505–560. 12 Weber M.: Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 19887, S. 146–214, hier S. 152 (Hervorhebungen im Original).
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riert werden, die Geschichte in ihre eigenen Hände nehmen zu können. Alles ist nichtig, außer der Reflexion auf das Verhängnis. Längst ist die Welt in die Apokalypse übergegangen, und der Platz der Götter ist verwaist. Grauenhafte Positivität verlangt den Menschen einen erbarmungslosen Optimismus des Machens ab. »Scheu« sei etwas, das in der modernen Welt keinen Platz habe.13 Der andere Anfang wäre ein solcher, der dem anzudenkenden verlorenen Anfang mit »Scheu«, ohne Bestimmungs- oder Urteilsabsicht, begegnet. Einzelne wären vielleicht zu solcher Scheu in der Lage, falls es ihnen gelingt, Versuchungen des Vorstellens und Mitmachens zu widerste hen. Der Standort, den das Dasein einnimmt, um eines solchen Denkens fähig zu werden, ist weniger ein Standort in der Welt als ein Verhältnis zur Welt. »Dieser Standort, der sich selbst erst Raum und Zeit neu gründet, ist das Da-sein, auf dessen Grunde erstmals das Seyn selbst ins Wissen kommt, als die Verweigerung und damit als das Er-eignis.«14 Wissenschaft hält Heidegger für ungeeignet, aus dem Schicksal abendländischen Denkens herauszufinden, denn über alle politischen oder weltanschaulichen Systeme hinweg sei sie Teil eines internationalen Betriebs, der sich beliebigen Zwecken dienstbar macht.15 Heidegger sucht nach einem innerweltlich noch möglichen Ort philosophischen Sprechens, indem er seine Gedanken wie im Echo von Hölderlin- oder Heraklit-Texten formuliert. »Ein anderes näm lich ist es, historisch ein Bild der Vergangenheit für die jeweilige Heidegger, M.: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 131. Ebenda, S. 140 (Hervorhebung im Original). 15 »Die ›völkische‹ ›Organisation‹ ›der‹ Wissenschaft bewegt sich auf derselben Bahn wie die ›amerikanische‹, die Frage ist lediglich, auf welcher Seite die größeren Mittel und Kräfte zur schnelleren und vollständigen Verfügung gestellt werden, um das ungeänderte und aus sich auch unveränderbare Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft seinem äußersten Endzustand entgegen zu jagen ...« Ebenda, S. 149 (Hervorhebung im Original). – Von Illusionen, die er 1933 hegte, um die Universität im philosophi schen Geiste neu zu begründen, hat Heidegger sich fünf Jahre später verabschiedet. »Die ›Universitäten‹ (...) werden zu reinen und immer ›wirklichkeitsnäheren‹ Betriebsanstalten, in denen nichts zur Entscheidung kommt. Den letzten Rest einer Kulturdekoration werden sie nur so lange behalten, als sie vorerst noch zugleich Mittel zur ›kulturpolitischen‹ Propaganda bleiben müssen. Irgendein Wesen von ›universi tas‹ wird sich aus ihnen nicht mehr entfalten können: einmal, weil die politisch-völ kische Indienstnahme solches überflüssig macht, sodann aber, weil der Wissen schaftsbetrieb selbst ohne das ›Universitäre‹, d.h. hier einfach ohne den Willen zur Besinnung, weit sicherer und bequemer in Gang zu halten ist.« Ebenda, S. 155f. (Her vorhebung im Original). 13
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Gegenwart herzustellen, ein anderes, geschichtlich zu denken, d.h. das Gewesene als das schon wesende Kommende zu erfahren.«16 Vor einem Versinken in mystischer Nacht möchte das »Denken« sich schützen, indem es das »Dunkle«, den anderen Anfang, das, was vor seinem eigenen Ursprung als urteilendes Sprechen und logisches Ordnen liegt, hütet.17 Unsagbarem nähert es sich im Modus artikulierten Schweigens.18 Dem Anderen dieser Welt gilt seine Auf merksamkeit. Deutsche sind – wie Heidegger selbst, der sich in der Nachfolge der großen, einsamen und verkannten Rufer Hölderlin und Nietzsche sieht, nicht des deutschen Volkes – aufgerufen, gegen das überall verbreitete Denken und gegen die Welt zu denken. Das »Deut sche« leuchtet Heidegger in der Lyrik Hölderlins entgegen.19 Roman tische Dichtung und Philosophie rücken an die Stelle eines zweiten, anderen Anfangs im Horizont einer seinsverlassenen, ihres eigentli chen Anfangs nicht mehr bewußten Welt. Heraklit und Hölderlin respondieren einander wie Exponenten dieses anderen Anfangs. Statt vom Sinn eines in die Welt sich entwerfenden Daseins ist nun von einer Wahrheit des Seins die Rede, die sich verbirgt oder offenbart. Ein aktiver Gestus macht einem passiven Platz, der auch darin zum Ausdruck kommt, daß nun »Denken« sich in die Sprache hineinverlagert und von dieser gesprochen wird.20 Versucht wird 16 Heidegger, M.: Der Anfang des abendländischen Denkens. Heraklit. Sommerse mester 1943. In: Gesamtausgabe Bd. 55. Frankfurt/M. 19943, S. 1–181, hier S. 11. 17 Vgl. ebenda, S. 32. 18 Vgl. Heidegger, M.: Logik. Heraklits Lehre vom Logos. Sommersemester 1944. In: Gesamtausgabe, Bd. 55. A.a.O., S. 183–402, S. 383. 19 Das »Deutsche« unterscheidet Heidegger vom »Nationalen«. »Die Idee der Nation ist jene Vorstellung, in deren Gesichtskreis ein Volk sich auf sich selbst als eine irgendwoher gegebene Anlage stellt und sich zum Subjekt macht, dem alles Objektive, d.h. nur im Lichte seiner Subjektivität erscheint.« Nationen können sich in Konkurrenz zu anderen wähnen und zu tyrannischer Ungeduld im Erreichen selbstgesetzter Ziele neigen. Dichter und Denker hingegen wären das »wartende Volk«, dem alle herr schaftlichen Ambitionen abgehen. »Wir können somit nicht Deutsche werden, also nicht Dichtende und Denkende, also nicht die Wartenden, solange wir dem Deutschen nachjagen im Sinne eines Nationalen.« Heidegger, M.: Feldweg-Gespräche [1944/1945]. Gesamtausgabe Bd. 77. Frankfurt/M. 20072, S. 233, 235f. – Diese Bemerkungen schreibt Heidegger am 8. Mai 1945. 20 »Nach ›Sein und Zeit‹«, konstatiert Karl Löwith 1953 im Blick auf die Entwicklung von Heideggers Philosophie, »wird die Freiheit des Selbst nicht mehr als die Freiheit eines Sein-könnens, sondern als die eines Sein-lassens bestimmt und demgemäß wird das entschlossene Verhalten zu einem ›Sich-nicht-verschließen‹ umgestimmt.« Löwith, K.: Denker in dürftiger Zeit, a.a.O., S. 15 (Hervorhebung im Original).
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eine Geste aktiver Passivität, die in eine Aufmerksamkeit mündet, die das »Denken« als Resonanz auf eine Welt hervorkommen läßt, die zu bestimmen es nicht mehr unternimmt. In seinen »Feldweg-Gesprä chen« charakterisiert Heidegger die Haltung des »Weisen« – des Phi losophen im Unterschied zum Forscher und zum Gelehrten – dadurch, ein »Suchender« zu sein, der das »Wesen des Denkens wahrhaft fin den« möchte, ohne daß es sich bei diesem Finden um ein »Entdecken« handeln könnte.21 Es gilt, die »Bindung an alles Thematische« zu lösen.22 Dieser Gestus zielt auf eine Reflexion, die ihre mimetische Verbundenheit mit dem Reflektierten abstreift und sich als in sich schwingende Sprachbewegung erfährt. »Sie wollen«, sagt die Figur des »Forschers« zum »Weisen«, »ein Nicht-Wollen im Sinne der Absage an das Wollen, damit wir uns durch diese Absage hindurch auf das gesuchte Wesen des Denkens, das nicht ein Wollen ist, ein lassen können oder uns wenigstens hierzu bereit machen.« Sie haben, erwidert der »Weise«, »etwas Wesentliches gefunden.«23 Begriff und Anschauung laufen leer, wenn es um das »Denken« geht. Im »Wort«, nicht im Begriff, »verweilt« etwas »in der Weite seines Sagbaren«.24
2 Heidegger im Kontext So eng Heideggers Seyns-Philosophie mit seinem übergeschichtli chen Zeit-Bild zusammenhängt, so wenig singulär ist seine Diagnose der Gegenwart. Eine Faszination für das Andere der Vernunft und die Neigung, Geschichte als Tragödie zu betrachten, verbindet sein Bild der Moderne mit demjenigen mancher Zeitgenossen. Doch ver zichtet Heidegger auf Erklärungen. Sein Schlüssel ist ein poetischer: Denken, das auf sich reflektiert, um seinen eigenen verhängnisvollen Möglichkeiten zu entkommen, muß seine genuine Form, die Sprache, in Zustände freien Schwingens versetzen. Heideggers Anderes kann deshalb kein konkretes Anderes, insbesondere kein Ereignis sein, in dem sich das Schicksal der Welt wie in einem Brennglas zeigt – auch nicht im Negativ, als das bestimmte Andere des anderen 21 22 23 24
Heidegger, M.: Feldweg-Gespräche. A.a.O., S. 80. Ebenda, S. 75. Ebenda, S. 107. Ebenda, S. 117.
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2 Heidegger im Kontext
Anfangs.25 Ohne auf transzendentale Strukturen oder universelle Logik zu vertrauen, glaubt Heidegger an ein menschheitsgeschichtli ches Geschehen, das sich hinter dem Rücken denkender und handeln der Menschen vollzieht. Hoffnungen auf Fortschritt und Aufklärung dürfen sich daran nicht knüpfen.26 Unterschiede politischer Systeme verschwimmen. Mit seiner Skepsis gegenüber der »Demokratie« steht Heidegger in einer Reihe soziologisch oder geschichtsphilosophisch geschulter Beobach ter unterschiedlicher Weltanschauung, denen Differenzen zwischen Kapitalismus (USA), Kommunismus (UdSSR), Faschismus (Deutsch land, Italien, Spanien) und europäischer Nachkriegsdemokratie weni ger auffallen als Gemeinsamkeiten.27 Unter dem Titel der »Industrie gesellschaft« verhandeln Soziologen einen epochalen Strukturwandel moderner Gesellschaften, für den politisch-ideologische Ordnungen eher sekundär sind. Analysen der Tiefenstruktur industrialisierter und bürokratisierter Gesellschaften prägen das soziologische Denken des 20. Jahrhunderts. Max Weber betrachtet den bürokratischen Rationalismus in jedwedem politischen System als unentrinnba
Für Adorno hingegen blieb »Auschwitz« Symbol einer gattungsgeschichtlichen Tragik, auf das sich konkret als Ort und Geschehen des Grauens verweisen läßt. 26 Vielleicht liegt darin ein konservativer Zug vor allem des deutschen Denkens der Zwischenkriegszeit, der Heidegger mit Jünger, Spengler oder Adorno verbindet. Vgl. Zimmerman, M.E.: Heidegger’s Confrontation with Modernity: Technology, Politics, and Art. Indiana 1990. – Zum Kreis der Vertreter einer »Konservativen Revolution« läßt Heideggers sich mit seiner eher unpolitischen Haltung kaum zählen. Vgl. dagegen Mehring, R.: Martin Heidegger und die »Konservative Revolution«. Freiburg, Mün chen 2018, S. 33. Vgl. zum Kontext Greiffenhagen, M.: Das Dilemma des Konserva tismus in Deutschland. Frankfurt/M. 1986 sowie Mohler, A.: Die Konservative Revo lution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Darmstadt 19944. 27 1946 ist Heidegger verbittert über das Lehrverbot, das ihm auferlegt wird, während viele tief in das Terrorsystem des Dritten Reiches verstrickte Nationalsozialisten in bürgerliche Berufe zurückkehren. Wie unverkrampft das möglich war, zeigt beispiels weise die Personalrekrutierung Rudolf Augsteins beim SPIEGEL. So assistierte Georg Wolff, zusammen mit Horst Mahnke in Reinhard Heydrichs SD tätig, Augstein noch beim Heidegger-Interview 1966 und führte Interviews mit Max Horkheimer. Vgl. Hachmeister, L.: Heideggers Testament. Der Philosoph, der Spiegel und die SS. Berlin 2014; Wolff, G. (Hrsg.): Wir leben in der Weltrevolution. Gespräche mit Sozialisten. München 1971. Oder Hans Globke: Der Mitverfasser und Kommentator der Nürn berger Rassegesetze war von 1953 bis 1963 Chef des Bundeskanzleramtes unter Kon rad Adenauer. »Demokratie« gilt Heidegger vor diesem Hintergrund als Decknamen für »planetarischen Schwindel«. Heidegger, M.: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942–1948). Gesamtausgabe Bd. 97. Frankfurt/M. 2015, S. 146. 25
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res Schicksal.28 Ungetröstet, gepfercht ins »stahlharte Gehäuse der Hörigkeit«, fristet der moderne Mensch sein Leben. Längst erstarrt die abendländische Kultur, wie Oswald Spengler glaubt, zur Zivili sation, in der traditionslose Großstadtnomaden in fluktuierenden Massen dem Anorganischen entgegentaumeln.29 Egozentrisch rei men Menschen des 20. Jahrhunderts sich eine Fiktion vom Sinn der Geschichte zusammen, um das Leben zu ertragen. Ihnen gerät die Welt zum Schauspiel. Erzählungen vom Fortschritt erscheinen Theodor Lessing als frommer Wahn.30 Weitgehend besteht Einigkeit darüber, daß der Kapitalismus die Welt in eine Fabrik verwandelte. An der »bürgerlichen Klasse« liest Georg Lukács die »Öde eines Zynismus« ab, in der das »nackte Dasein« seines Verfalls inne wird und seiner »Nichtigkeit« ins Auge blickt.31 Theodor Adorno und Max Horkheimer rücken in ihrer Kritik der »Massenkultur« die Vereinig ten Staaten und Hitler-Deutschland in große Nähe. Industrialisierte Kultur, autoritärer Staat und Propaganda werden beinahe zu Synony men.32 Karl Jaspers spricht von einer »Verwandlung des Planeten in eine einzige Fabrik«, in der das Individuum »aufgelöst in Funktionen« sein Leben fristet.33 Bei allen Unterschieden zwischen »Bolschewis mus«, »Faszismus« und der »abnehmende(n) Freiheit Amerikas« sei überall eine »Typisierung des Menschen« zu beklagen.34 Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchen Anthropologen und Soziologen wie Arnold Gehlen oder Hans Freyer Grund züge technikbasierter »Industriegesellschaften« herauszuarbeiten. Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung oder Verschiedenheiten politischer Systeme existieren, fügen sich jedoch in ein Bild planetarischer Veränderungen, die es niemandem erlauben, sich den Vgl. Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 19765, Kapitel III, § 5, S. 128f. 29 Vgl. Spengler, O.: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte [1922]. München 19889, S. 45. 30 Vgl. Lessing, Th.: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen [1919]. München 1983, S. 12, 63, 83. 31 Lukács, G.: Geschichte und Klassenbewußtsein [1923]. Darmstadt 198810, S. 151, 192; Ders.: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1920]. Frankfurt/M. 1988, S. 31ff. 32 Vgl. Horkheimer, M./Adorno, Th.W.: Dialektik der Aufklärung [1947]. Frank furt/M. 1978, S. 108ff.; auch Horkheimer, M.: Autoritärer Staat [1942]. In: Ders.: Gesellschaft im Übergang. Frankfurt/M. 1972, S. 13–35. 33 Jaspers, K.: Die geistige Situation der Zeit [1932]. Berlin, New York 19795, S. 22, 43. 34 Ebenda, S. 99. 28
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2 Heidegger im Kontext
Zumutungen der Moderne zu entziehen.35 Eine ähnliche Perspektive hatte Ernst Jünger bereits vor dem Krieg eingenommen. In der Gestalt des »Arbeiters« sieht Jünger einen, wie Michel Foucault später sagen wird, neuen Machttypus heraufziehen. Illusionslos und restlos in eine maschinenhafte Ordnung eingebunden, leben Menschen in einer nachbürgerlichen Welt.36 Sei es melancholisch – wie bei Max Weber –, sei es heroisch – wie bei Ernst Jünger – oder skeptisch – wie bei Arnold Gehlen und Helmut Schelsky –, Menschen in modernen Gesellschaften scheinen aus dem Traum, moralisch kompetente freie Subjekte zu sein, erwachen und sich in das Geflecht organisierter Erwartungen einfügen zu müssen. Ralf Dahrendorfs Analyse der deutschen Gesellschaftsgeschichte erblickt im Nationalsozialismus den brutalen Vollzug einer sozialen Revolution, die Deutschland den Weg in die westliche Modernität bahnte.37 Eine Generation später arbeitet Niklas Luhmann diese Beobachtungen zu einer Theorie sozialer Systeme aus, in der Politik nur ein Funktionssystem neben anderen ist.38 In der Diagnose einer technisch gestalteten Welt kommen solche Beobachtungen der Industriegesellschaft mit Heideggers Blick auf die »Technik« weitgehend überein. Von Technik ist bei ihm als »Ge-stell« die Rede, das die »äußerste Gefahr« für den Menschen wie für das Sein darstellt.39 Beklagt wird ein weltgeschichtlicher Moral erscheint darin als Schema, das die Menschen mit Zumutungen konfrontiert, die sie womöglich überfordern. Vgl. Freyer, H.: Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie. Hrsgg. v. E. Üner. Weinheim 1987; Ders.: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1955; Gehlen, A.: Urmensch und Spätkultur [1956]. Frankfurt/M. 19774; Ders.: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen [1957/1961]. Reinbek bei Hamburg 1986; Ders.: Moral und Hypermoral [1961]. Wiesbaden 19814. – Spätere Generationen, denen solche Erfahrungen erspart blieben, greifen wieder auf Moral zurück, um die Vorgänger-Generation politisch zu kritisieren. Ihr Vertrauen gilt einer formalen Vernunft, die sich in sprachlicher Argumentation, moralischen Diskursen, rechtlichen Absicherungen und demokratischer Öffentlichkeit niederschlägt. Wie kein anderer hat JürgenHabermasdiesespolitisch-moralischeVernunftvertrauenvielerMeinungsführer in der Bundesrepublik Deutschland philosophisch artikuliert. Vgl. vor allem Ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M. 1981; Ders.: Faktizität und Geltung. Frankfurt/M. 1992. 36 Vgl. Jünger, E.: Der Arbeiter [1932]. Stuttgart 1982. 37 Vgl. Dahrendorf, R.: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland [1968]. München 19754, S. 416. 38 Vgl. exemplarisch Luhmann, N.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997; Ders.: Theorietechnik und Moral. Frankfurt/M. 1978. 39 Heidegger, M.: Die Technik und die Kehre [1950/1962]. Pfullingen 19858, S. 32. 35
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Vorgang der Technisierung, Verwissenschaftlichung und organisierten Planung. Ähnlich konstatieren Horkheimer und Adorno eine Tragödie im Schicksal der Vernunft, die im Mythos technifizierten Wissens unterzugehen drohe. Was bei kritischen Theoretikern »instrumentelle Vernunft« heißt, ist von Heideggers »Ge-stell« in der Sache kaum zu unterscheiden.40 Denken, das dem Verhängnis ins Auge schaut, soll nicht Gegebenes wissenschaftlich erkennen oder sich für politische Ziele engagieren; in aller Radikalität muß es gegen sich selbst denken, um dessen eingedenk zu werden, was sich den Registern der Begriffe nicht fügt.41 In Frage steht, was Einzelnen zugemutet werden darf. Demo kratie, so Jaspers, sei in bloßem Betrieb steckengeblieben, dem eine weitgehend entpolitisierte Öffentlichkeit gleichgültig zuschaue. Er glaubt an die Macht moralisch wohlgesinnter und engagierter Einzelner, den Institutionen Freiheitschancen abzuringen.42 Worin »Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge, die er (Francis Bacon, DR) im Sinne hat, ist patriarchal: der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. (...) Technik ist das Wesen dieses Wissens.« Horkheimer, M./Adorno, Th.W.: Dialektik der Aufklärung. A.a.O., S. 8. 41 Adorno scheut sich nicht, diesen Anspruch, der ihn mit Heidegger verbindet, mit schrillem moralischen Pathos aufzuladen, das auch gegen Heidegger gemünzt ist: »Erheischt negative Dialektik die Selbstreflexion des Denkens, so impliziert das handgreiflich, Denken müsse, um wahr zu sein, heute jedenfalls, auch gegen sich selbst denken. Mißt es sich nicht an dem Äußersten, das dem Begriff entflieht, so ist es vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte.« Adorno, Th.W.: Negative Dialektik [1966]. Frankfurt/M. 1975, S. 358. Für Heidegger ist das »Äußerste« das »Seyn«. – Erwartungen protestierender Studenten der 68er-Bewegung nach politischer Orientierung begegnet Adorno mit Befremden. Vgl. Wiggershaus, R.: Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung. München 1988, S. 676ff. – Auch in der folgenden Generation der »Frankfurter Schule« blieb Heidegger ein Lieblingsgegner, der die moralische Integrität des eigenen Denkens wie im Negativ bestätigen sollte. Noch 1989 bezichtigt Jürgen Habermas in seinem Vorwort zu Victor Farias Buch »Heidegger und der Nationalsozialismus« Heidegger einer mangelhaften politisch-moralischen Gesinnung und moniert den »autoritären Gestus« von dessen Denken. Habermas ergreift die Gelegenheit zur Heidegger-Kritik im Vorwort zu einem polemisch angelegten Buch, dessen »fragwürdige Methode« Habermas wohl bewußt ist. – Habermas, J.: Heidegger – Werk und Weltanschauung. Vorwort zu V. Farias: Heidegger und der Nationalsozia lismus. Frankfurt/M. 1989, im spanischen Original 1987, S. 11–37, hier S. 37. Vgl. dazu Vietta,S.:HeideggersKritikamNationalsozialismus.Tübingen1989,hierbes.S. 9,19,46. 42 Vgl. Jaspers, K.: Wohin treibt die Bundesrepublik? München 1966. 40
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Heidegger und Jaspers sich trotz ihres gemeinsamen philosophischen Sendungsbewußtseins unterscheiden – was aber auch Jaspers von einer skeptischen Soziologie der Moderne trennt –, sind das Ver trauen in die Kraft der Moral und der Optimismus, an denen Jaspers festhält.43 Sein Appell richtet sich an die »skeptische Generation«, der Helmut Schelsky heilsame Distanz gegenüber politischer Glau bensbereitschaft und ideologischer Aktivität attestiert hatte.44 Wohl fahrtsstaaten begründen einen Konformismus neuer Art, der, wie Schelsky im Vorwort zur Neuauflage seines Buches 1975 festhält, die moralisch aufs neue begeisterte Jugend der 68er-Generation empört.45 In seiner Beschäftigung mit Kant hatte Heidegger eben die Grundlagen »praktischer Vernunft« kritisiert, auf die Jaspers und die
43 Jaspers sieht in Heideggers Rektoratsrede das »bisher einzige(.) Dokument eines gegenwärtigen akademischen Willens«. Ihn stört nicht der Erneuerungsanspruch, sondern der Stil der Rede, die Jaspers doch zu »zeitgemäß« und »ein wenig forciert« findet. Einige Formulierungen hätten auch einen »hohlen Klang« – aber, so schreibt er in einem Brief an Heidegger vom 23.8.1933: »Alles in allem bin ich froh, daß jemand so sprechen kann, daß er an die echten Grenzen und Ursprünge rührt.« Martin Heidegger/Karl Jaspers. Briefwechsel 1920–1963. Hrsgg. von W. Biemel und H. Saner. Frankfurt/M., München Zürich 1990, S. 155. 44 Vgl. Schelsky, H.: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend [1957]. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984. 45 Anders als in Deutschland herrschte im intellektuellen Milieu Frankreichs nach 1945 größere Unbefangenheit in der Rezeption politisch vermeintlich kontaminierter Philosophen wie Nietzsche und Heidegger. Kein politisches oder moralisches Tabu stand der Lektüre ihrer Texte im Wege, wie Jacques Derrida rückblickend erzählt. Vgl. Derrida, J.: »Ich habe Adorno nie intensiv gelesen« [2001]. In: taz vom 15.7.2013. Deutsche Aversionen gegenüber Heidegger und dessen Philosophie nach 1945, ver mutet Derrida in einem Diskussionsbeitrag auf dem Heidelberger Heidegger-Kollo quium vom 5. und 6. Februar 1988, wurzelten auch in dem Umstand, daß man »Heidegger in Deutschland seit dem Krieg wenig gelesen hat.« In: Derrida, J./Gada mer, H.-G./Lacoue-Labarthe, Ph.: Heidegger. Philosophische und politische Trag weite seines Denkens. Das Kolloquium von Heidelberg. Hrsgg. v. M. Calle-Gruber. Wien 2016, S. 53. In demselben Kontext führt Hans-Georg Gadamer Heideggers Schweigen über die Bedeutung von Auschwitz sowie über seine eigene politische Ver antwortung darauf zurück, sich sehr bald innerlich von einer Revolution distanziert zu haben, die dekadent geworden sei. Vgl. ebenda, S. 42. – Den Faschismusverdacht gar in einer vermeintlichen deutschen Tradition des metaphysischen Antisemitismus von Luther über Kant und Hegel bis Nietzsche zu verankern, generalisiert die politi sche Kritik an Heideggers Philosophie ungewollt ins Seinsgeschichtliche. Vgl. Di Cesare, D.: Heidegger, die Juden, die Shoah. Frankfurt/M. 2016, S. 291f.
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zweite Generation der Frankfurter Schule bauen.46 Kants Philosophie bleibt für Heidegger die Kontrastfolie, zu der er sein eigenes Denken in Beziehung setzt.
3 Diesseits von Kosmos, Gott, Subjekt und Methode Die Wendung von der Daseinshermeneutik in »Sein und Zeit« zu einer Philosophie des »AnDenkens« an das »Seyn« führt Heidegger von der Beschäftigung mit zeitgeschichtlichen Fragen ebenso weg, wie sie ihn von politisch-moralischen Ambitionen auf Kritik abhält. Im An-Denken löst die Reflexion raum-zeitliche Koordinaten auf, und innerweltliche Bedeutungen schmelzen ab. »Fugen« halten in der Schwebe, was sich Urteilen entzieht. In Dichtungen sprachlich Gefüg tes läßt Leser oder Hörer auf etwas blicken, was in direkter Weise unsagbar, doch als Unsagbares (an)denkbar bleibt. Worte sind wie ein »Riß der Lichtung –, deren Offenes erst alles ›Bedeuten‹ gründet«.47 Heideggers Sprachschöpfungen bilden das Zentrum seiner Reflexionspoetik.48 Zu eingespielten Denkfiguren schaffen sie Abstand, denn Heidegger sieht das metaphysische, vor allem das neuzeitliche Denken in einem magischen Dreieck gefangen. War die Vgl. Heidegger, M.: Kant und das Problem der Metaphysik [1929]. Frankfurt/M. 19915; Ders.: Vom Wesen der menschlichen Freiheit [1930]. Gesamtausgabe Bd. 31. Frankfurt/M. 19942. 47 Heidegger, M.: Überlegungen VII-IX (Schwarze Hefte 1938/39). Gesamtausgabe Bd. 95, Frankfurt/M. 2014, S. 307 (Hervorhebung im Original). 48 Die unterschiedliche Auffassung von Sprache und philosophischem Sprechen cha rakterisiert eine Differenz zwischen Heidegger und Jaspers einerseits, Heidegger und Arendt andererseits. Für Jaspers ist Heideggers immer radikaleres Sprechen nicht nachvollziehbar, weil er Sprache als Mittel der Verständigung begreift, Heidegger hingegen eben darin einen Verfall der Sprache erkennen will. Arendt zeigt für Heideggers Vorgehen viel größeres Verständnis, da sie sein Verständnis von »Den ken« mitvollzieht. »Ich stolpere«, schreibt Jaspers am 6. August 1949 an Heidegger, »mit ihren Sätzen noch fortwährend. Das Sinnmaterial, mit dem Sie philosophieren, ist mir, in der Unmittelbarkeit der Sätze ergriffen, oft unannehmbar. Manche ihrer zentralen Worte kann ich nicht verstehen. Sprache als ›Haus des Seins‹ – ich sträube mich, wo alle Sprache mir nur Brücke scheint.« Martin Heidegger/Karl Jaspers. Brief wechsel 1920–1963. A.a.O., S. 179. An Hannah Arendt schreibt Heidegger am 6. Februar 1951: »So kommt es noch dahin, daß wir im Sagen eines Tages das ganz Unverständliche wagen müssen, ohne uns um die immer handgreiflicher um sich greifende Verständlichkeit zu kümmern.« Hannah Arendt/Martin Heidegger. Briefe 1925–1975. A.a.O., S. 124. 46
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Gründung der Reflexion in einer absoluten Ordnung, sei es in der Ordnung des antiken Kosmos, sei es im christlichen Schöpfergott, erst einmal unglaubwürdig geworden, oszilliert ein haltsuchendes Den ken zwischen den Polen von Ich, Natur und Methode. Das Ich – oder Denken – wird auf transzendentale Strukturen universeller Urteils formen hin befragt. Methoden sollen den Bezug des Denkens auf seine Gegenstände garantieren. Schließlich sollen diese Gegenstände, unter dem Titel der Natur, von einer Art sein, deren Ordnung den Strukturen des Denkens und der Ordnung der Methode entspricht. Jeder Punkt treibt die Reflexion auf die jeweils anderen zurück. Kein Weg führt zurück zur Schöpfungsordnung oder zum Kosmos. »Metaphysik« ist ebenso am Ende, wie die »Wissenschaften« keine Alternative zu ihr bieten. Ein neuer Anfang muß gemacht werden. Alles kommt darauf an, eine Sprache zu entwickeln, die sich in ihrem Gebrauch zu reflektierter Erfahrung entfaltet und Halt in sich selbst findet. Dieses Bestreben führt aus den Kontexten geläufiger – auch philosophischer – Verständlichkeit heraus. Um anders zu denken, muß sich die Konstellation der Begriffe verändern. Abgrenzungen von der Fachsprache entspricht eine Distanz zur Umgangssprache wie zur öffentlichen Sprache.49 Heidegger konzentriert sich auf die »eigentliche« Sprache der Philosophie. Gegenüber dem öffentlichen Sprachgebrauch war Heidegger nicht unempfindlich. Im Rahmen seiner Nietzsche-Vorlesung 1939 konstatiert er einen »metaphysischen« Wandel der Öffentlichkeit. In allen modernen Gesellschaften, den »sogenannten auto ritären und angeblich demokratischen«, sei sie einer technisch-politischen Einrichtung und »machtmäßigen Gestaltung« unterworfen. Heidegger, M.: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis [1939]. In: Gesamtausgabe Bd. 47, Frankfurt/M. 1989, S. 72. Seine frühere Analyse des »Man« erweitert sich zu einer Diagnose der medial zugerichteten und politisch instrumentalisierten Öffentlichkeit. Vor allem der Rundfunk macht die Sprache zu einem politischen »Planungswerkzeug«. Vom Medium des Denkens verkommt sie zu Reklame und Propaganda. Vgl. ebenda, S. 78, 106f. Heißt es in »Sein und Zeit« über das »Man«: »die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet«, so gilt dies in besonderem Maße von Stereotypen propagandistischer Meinungsbildung. Heidegger, M.: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 197915, S. 118. – Vgl. hingegen Klemperer, V.: LTI [1947]. Leipzig 199312, der die brutale Funktionsweise propagandistischer Sprachmanipula tionen dokumentiert. Nationalsozialisten wie Ernst Krieck erkannten Unvereinbar keiten zwischen NS-Ideologie und Heideggers Sprache. Vgl. Krieck, E.: Germanischer Mythos und Heideggersche Philosophie. In: Volk im Werden 2 (1934), S. 247–249. Wiederabgedruckt in: Denker, A./Zabarowski, H. (Hrsg.): Heidegger und der Natio nalsozialismus I. Dokumente. Heidegger-Jahrbuch 4. Freiburg, München 2009, S. 193–195. Im Rückblick auf sein Rektorat nimmt er 1945 für sich in Anspruch, in 49
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Für diese Experimente spielt die Figur der »ontologischen Diffe renz« eine wichtige Rolle. »Die ontologische Differenz ist das Nicht zwischen Seiendem und Sein. Aber sowenig Sein als das Nicht zum Seienden ein Nichts ist im Sinne des nihil negativum, sowenig ist die Differenz als das Nicht zwischen Seiendem und Sein nur das Gebilde einer Distinktion des Verstandes (ens rationis).«50 Um die sem Nichts näherzukommen, hilft die Lyrik Hölderlins. Sie erschließt das »Wesen« der Dichtung auf einzigartige Weise, da Hölderlin »das Wesen der Dichtung eigens zu dichten« vermag. Der »Dichter des Dichters« zwinge zur Entscheidung, »ob und wie wir die Dichtung künftig ernst nehmen«,51 in der das Wesen des Menschen sich bekun det. Mensch zu sein heißt, zu bezeugen, wer er ist und »für das Bekundete in der Bekundung einzustehen«.52 »Dasein« wird, was es ist, im »Bekunden«: »Der Mensch ist der, der er ist, eben in der Bekun dung des eigenen Daseins.«53 Bekunden muß er seine »Zugehörigkeit zur Erde. Diese Zugehörigkeit besteht darin, daß der Mensch der Erbe seinen Nietzsche-Vorlesungen »geistigen Widerstand« gegen das Regime geleistet zu haben, indem er den Faschismus als radikale Gestalt des Nihilismus charakterisierte. Heidegger, M.: Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken. In: Ders.: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Gesamtausgabe Bd. 16. Frankfurt/M. 1983, S. 420. – Rita Casale hat zur Charakterisierung des Stellenwertes von Nietzsche für Heidegger die Metapher des Holzwurms verwendet. Vgl. Casale, R.: Heideggers Nietzsche. Geschichte einer Obsession. Bielefeld 2010, S. 30. – Immerhin spricht Heidegger in seiner Nietzsche-Vorlesung 1940 davon, die »Macht der Weltanschau ung« habe das »Wesen der Metaphysik in ihren Besitz genommen«, diese vollende eine »unbedingte, durch nichts mehr verstörte und verwirrte Herrschaft über das Sei ende«. Heidegger, M.: Nietzsche: Der europäische Nihilismus. Gesamtausgabe Bd. 48. Frankfurt/M.1986, S. 332. – Dafür, daß es sich bei dieser Äußerung um mehr als eine retrospektive Selbstrechtfertigung handeln könnte, spricht ein Bericht Walter Biemels. Vgl. Biemel, W.: Bericht eines Zeitzeugen zu den Seminaren Heideggers 1942–1944. In: Denker, A./Zabarowski, H. (Hrsg.): Heidegger und der Nationalso zialismus II. A.a.O., S. 367–370, hier S. 369. – Um regimefreundliche Äußerungen handelt es sich gewiß nicht, auch wenn sie vielleicht nicht gar so riskant und mutig waren, wie Heidegger gegenüber Elisabeth Blochmann später behauptet. »Ich glaube nicht, daß damals sonstwo in Deutschland u. in der Welt solche Dinge gewagt wur den.« Brief Martin Heideggers an Elisabeth Blochmann vom 3. März 1947. In: Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann. Briefwechsel 1918–1969. A.a.O., S. 93. 50 Heidegger, M.: Vom Wesen des Grundes [1929/1931]. Frankfurt/M. 19958, S. 5. 51 Heidegger, M.: Hölderlin und das Wesen der Dichtung [1936]. In: Gesamtausgabe Bd. 4. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt/M. 19962, S. 33–48, hier S. 34. 52 Ebenda, S. 36. 53 Ebenda.
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ist und der Lernende in allen Dingen. Diese aber stehen im Wider streit.«54 Dazu ist dem Menschen die Sprache gegeben, die das Dasein einem »Offenbaren« aussetzt, das »als Seiendes den Menschen in sei nem Dasein bedrängt und befeuert und als Nichtseiendes täuscht und enttäuscht.«55 Übernahmen dessen, was gewesen ist und in das jedes Dasein »geworfen« wird einerseits, Entwürfe davon, woraufhin des sen Möglichkeiten jeweils eröffnet werden andererseits, geschehen in der Sprache. »In ihr kann das Reinste und Verborgenste ebenso wie das Verworrene und Gemeine zu Wort kommen.«56 Weil der Mensch in allem »Erbe« ist, ist er in allem »Lernender«: Zu übernehmen, was wir »sind«, heißt, es uns anzuverwandeln und zu übertragen. Wie Dasein sprechend Welt erschließt, entscheidet über seine eigentlichen Möglichkeiten. Mithin ist die Reflexion auf Sprache von höchster Bedeutung und die Gefahr, ihrem Schein zu erliegen, so groß. »Die Sprache ist nicht nur ein Werkzeug, das der Mensch neben vielen anderen auch besitzt, sondern die Sprache gewährt überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen.«57 Sie eröffnet genuine Möglichkeiten des »Hörenkönnens«.58 Ohne sie gäbe es weder Gegenwart noch Welt. Im Horizont der Sprache rückt das Dasein in den »Bereich der Entscheidung darüber, ob wir uns den Göttern zusagen oder ob wir uns ihnen versagen.« Es gilt die »Verantwortung eines Schicksals« zu übernehmen.59 Im Vergleich zu »Sein und Zeit« verlagert sich der Akzent vom Dasein auf die Weise, wie Verstehen und Erschlossenheit als sprachliches Geschehen gelingen. Anders als der späte Wittgenstein faßt Heidegger dazu nicht die Sprache des Alltags – die Sprache des »Man« – ins Auge, sondern die Sprache der Dichtung. Damit beschreitet er den komplementären Weg zu Rudolfs Carnaps Philosophie einer reinen Sprache der Wis senschaften.60 Wittgenstein, Carnap und Heidegger stehen für drei Optionen, Sprache radikal zu denken. Indem Heidegger den Akzent auf die Dichtung legt, bringt er sich auf Distanz zum lebensweltlichen wie zum wissenschaftlichen Spre chen. Ausgeschlossen ist damit, daß die Betrachtung der poetischen 54 55 56 57 58 59 60
Ebenda. Ebenda, S. 36f. Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 37f. Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 40. Vgl. Carnap, R.: Der logische Aufbau der Welt [1928]. Hamburg 1998.
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Sprache, wie Ludwig Wittgenstein von seinem Vorgehen sagt, eine »grammatische« ist.61 Gedichte erschließen sich kaum zureichend über Grammatik oder Gebrauch. Wittgenstein stellt den »Nimbus« des Denkens infrage, den Heidegger pflegt.62 Sprache, die »feiert« und sich von alltäglichen Gebrauchsweisen losreißt, führt in die Irre metaphysischer Spekulation. Dennoch stimmen Wittgenstein und Heidegger darin überein, Sprache als grundlegende Form des Denkens und Zur-Welt-Seins zu betrachten. »Und eine Sprache vorstellen«, schreibt Wittgenstein, »heißt, sich eine Lebensform vor stellen.«63 In-der-Welt-Sein und Zur-Welt-Sein bedeuten für das »Dasein« – oder für das »du«, das Wittgenstein in seinem Text immer wieder adressiert –, in einer Sprache zu leben, über die kein Denken hinausgelangt, da es sich selbst erst im sprachlichen Ausdruck bemerkt. Sofern es sich von seiner sprachlichen Form jedoch unter scheiden und dieser gegenüber Selbstständigkeit beanspruchen will, gerät es, meint Wittgenstein, auf Abwege. Was Heidegger als Sprache des »Man« in »Sein und Zeit« charakterisiert, dem das philosophische Sprechen sich gerade entwinden müsse, gilt Wittgenstein als Maß gelingenden Sprachgebrauchs. Jedoch steckt in Wittgensteins Auffas sung von Philosophie als Sprachtherapie auch die Einsicht, daß Spra chen und Lebensformen bewegliche Ordnungen sind. Gewohnheiten des Sprechens verändern sich. Warum also sollten »Sprachspiele« nicht auf eine Weise gespielt werden, die neue Weisen des Wortge brauchs ausprobiert, um das Denken auf andere Fragen zu führen? Weder zielt Dichtung auf eine Schilderung von Seiendem noch auf eine Verständigung über Sachverhalte, ja überhaupt nicht auf eine Beschreibung von Weltlichem. Sie stiftet, im Sinne der »ontolo gischen Differenz«, das »Nicht« als ein Bleibendes, das sich zwar in Welt, doch nicht als Welt zeigt. »Dichtung ist Stiftung durch das Wort und im Wort. Was wird so gestiftet? Das Bleibende.«64 Bleibendes gleicht nicht etwa einem in der Zeit dauernden Seienden. Meßbare Zeit- und Raumverhältnisse implodieren ebenso wie Namen und Bedeutungen im gestifteten Nichts. Stiftung ist das Gegenstück zur Aussage oder zum Modell der Referenz. Weil es nur qua »Stiftung« 61 Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen [1958]. Frankfurt/M. 1977, Nr. 90, S. 72. 62 Ebenda, Nr. 97, S. 74 und Nr. 80, S. 116. 63 Ebenda, Nr. 19, S. 24. 64 Heidegger, M.: Hölderlin und das Wesen der Dichtung. A.a.O., S. 41.
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eröffnet werden kann, ist das Bleibende gerade das »Flüchtige«. An ihm erst kann sich zeigen, was zeitlich als Vergangenes oder Zukünf tiges kommt und geht. Es ins Wort zu bannen heißt, in der Zeitlichkeit der Welt innezuhalten. Für diesen Gedanken, der Heideggers Sprachund Geschichtsdenken verbindet, zieht er zwei Zeilen Hölderlins heran: »So ist schnell/ Vergänglich alles Himmlische; aber umsonst nichts.«65 Was Heidegger Hölderlins Text zuschreibt, beschreibt min destens ebenso sein eigenes Schreiben: »[I]ndem der Dichter das wesentliche Wort spricht, wird durch diese Nennung das Seiende erst zu dem ernannt, was es ist. So wird es bekannt als Seiendes. Dichtung ist worthafte Stiftung des Seins.«66 Darin geht es um die »feste(.) Gründung des menschlichen Daseins auf seinen Grund.«67 Dieser Grund des Daseins ist selbst dichterisch. Dichten eröffnet ein Sprechen, das keine Gliederung nach Vorher und Nachher, Grund und Folge kennt. So dient Dichtung als Resonanzraum für Unter scheidungen, die sich als Differenz zum Seienden und zum Denken bemerkbar machen. Ins Wort zu rufen heißt auch, angerufen zu werden von dem, was gerufen ist. Das Geschichtlichsein und das Gesprächsein des Men schen – »Erbe« und »Lernender« zu sein in allen Dingen – führt zum Nennen der »Götter«. Kommen die Götter ins Wort, erscheint eine Welt.68 Menschen werden in Anspruch genommen, herausgefordert, mit Fragen konfrontiert, die sie nötigen, »Lernende« zu sein, um ihr »Erbe« zu übernehmen. Woraufhin sie sich entwerfen, »ist« das, durch das sie in Anspruch genommen werden – ohne es je ganz aus sich heraus gesetzt zu haben. Dieses Etwas zu »nennen« ist etwas anderes, als eine Sache zu bezeichnen, bedeutet es doch immer auch, sich zu entscheiden. »Indem die Götter unser Dasein zur Sprache bringen, rücken wir erst ein in den Bereich der Entscheidung darüber, ob wir uns den Göttern zusagen oder ob wir uns ihnen versagen.«69 Von Göt tern, im Plural, ist die Rede, weil der Ansprüche viele sind. Im Lichte dieser Vielheit und der unterschiedlichen Möglichkeiten, Ansprüche ins Wort zu bringen, erscheint der Monotheismus des einen Gottes um so rätselhafter. Wird dieser Gott nicht zu einem Gedanken gestei 65 66 67 68 69
Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 42. Ebenda, S. 40. Ebenda.
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gert, der fragwürdige Logifizierungen zu einem ersten Grund oder zu einer allmächtigen, allwissenden und allgütigen Instanz provoziert, die an der ursprünglichen Erfahrung des Menschen, von etwas in Anspruch genommen zu werden, das er weder geschaffen hat noch dem er sich entziehen kann, vorbeigeht? Monotheismus mündet in die Entgötterung der Welt und in metaphysische Trostlosigkeit. Wie im Echo kommt im philosophisch-poetischen Wort eine »wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit« zur Erfahrung,70 die eine Alter native zum logischen Denken des Nichts als bloßer Negationsfigur bildet. Erfährt ein Dasein das Nichts, wird es vor sich selbst gebracht, weil ihm alles bestimmt Andere entgleitet. Diese Denkfigur beschreibt eine alogische Reflexion, der jed wedes teleologische Moment fehlt. Sie zielt auf einen Schwebezu stand, bei dem das Welt- und Selbstverhältnis in bestimmter Unbe stimmtheit gehalten wird. Anders als in Hegels Dialektik muß ein Mechanismus der Negation vermieden werden, ließe dieser doch die Reflexion wiederum ins Konkrete umschlagen. Resultat der Relation ist nicht etwa eine doppelte Unbestimmtheit, die sich im Werden des Bestimmten aufheben und weiterbestimmen muß, sondern die Erfah rung der Transzendenz des Daseins als eines Hinausgewiesenseins über alles bloß Bestimmte.71 Als Relation, die von ihren bestimmt unbestimmten Relata gelöst wird, ist sie als Form zugleich Inhalt, der seine Zeitlichkeit verliert. Heideggers Abschied von der Logik beinhaltet einen Abschied von der Zeitlichkeit der Reflexion als einer inhaltlich imprägnierten und darin geschichtlichen. Geschichtliches, Sprachliches und Existentielles sind bei Hölder lin wie bei Heidegger miteinander verflochten, um einem Denken auf den Weg zu helfen, das sich den Fallstricken von Logik und Bewußt seinstheorie, wie sie im Deutschen Idealismus durchgespielt wurden, entziehen will. Hölderlins Weg führt ihn gleichwohl nicht in ein Denken des Nichts, sondern der geschichtlichen Fülle, die allerdings weniger als Wahrheitsgeschehen erzählt und erklärt als vielmehr in poetischen Wortfindungen und fragmentarischen historischen Bezügen verwahrt wird. Wohl entwickelt Heidegger seine Überlegun gen in Bezugnahme auf Hölderlin, doch bieten seine Texte keine »Interpretationen« von Gedichten oder philosophischen Fragmenten. Kommentare solcher Art würden Hölderlins Sprachkunstwerke wie 70 71
Heidegger, M.: Was ist Metaphysik? [1929]. Frankfurt/M. 198112, S. 32. Vgl. ebenda, S. 40.
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Seiendes behandeln, das auf wissenschaftliche Einordnung wartet. Philosophie, die sich an der Sprach-Form von Hölderlins später Lyrik schult, will dieser nicht die Wahrheit sagen. Getrieben ist sie von dem Versuch, in ihrer eigenen Form dieser Lyrik ähnlich zu werden. Sie weiß um die Notwendigkeit, ihr eigenes Sprechen erst in mimetischer Differenz zu einem anderen – demjenigen Hölderlins – beginnen zu können. Die »Sage« des Philosophen ist indirekt. In seiner Interpretation von Hölderlins Philosophie hat Die ter Henrich Heidegger ein systematisches Mißverstehen Hölderlins vorgehalten. Weder zeichne er dessen Position im Kontext der zeit genössischen Philosophie genau genug, noch erlaube es ihm sein Metaphysikbegriff, Hölderlins gedankliche Leistung angemessen ein zuschätzen. Schließlich stehe sein Begriff des Daseins der Erfassung von Hölderlins Gedanken einer Selbstbeziehung im Wege – abgese hen davon, daß Heidegger Hölderlins Hymnen zu wörtlich lese.72 Nur erhebt Heidegger nicht den Anspruch, Hölderlin nach literatur wissenschaftlichen oder philosophiegeschichtlichen Maßstäben zu interpretieren.73 Aus verstreuten philosophischen Texten rekonstru iert Henrich Hölderlins Verhältnis zu Spinoza, Kant, Fichte, Jacobi, Schelling und Hegel. Vor allem eine genaue Lektüre von »Seyn, Urtheil, ...« führt ihn zu einer Deutung, die Hölderlins Begriff des »Seyns« als Antwort auf Spinozas und Jacobis Gedanken eines jeder Erfahrung vorausgehenden Unbedingten versteht, das einer rationalen Operation entspringt. Darin zeigt sich ein fundamentales Dilemma urteilender Vernunft. Je stärker sie analytische Potentiale des Urteils ins Spiel bringt, desto mehr muß sie einsehen, daß sie an etwas gefesselt bleibt, das sie nicht beherrscht.74 »Ich« taucht bei Hölderlin als Ur-teilung des Seyns auf – eines Seins, das als Relat dieses Ichs wiederum unterscheidbar wird und in bezug auf das ein »Ich« sich mit seinem Anderen relationiert. Entscheidend an Hölderlins Figur ist, diese Beziehung als nicht-deduktiven Zusam menhang aufzufassen, der sich prozessual entfaltet und im Leben 72 Vgl. Henrich, D.: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Den ken (1794–1795). Stuttgart 20042, S. 19, 134, 520, 578, 615, 653, 769. 73 Gleiches läßt sich gegenüber einer Kritik geltend machen, die einerseits Dieter Henrichs Interpretationsleistung vorhält, Hölderlins Lyrik zu wenig Aufmerksamkeit zu widmen, und die andererseits Heidegger Mißverständnisse oder Fehlinterpreta tionen von Hölderlins Gedichten ankreidet. Vgl. Bojda, M.: Hölderlin und Heidegger. Wege und Irrwege. Freiburg, München 2016, z.B. S. 106, 364f. 74 Vgl. Henrich, D.: Der Grund des Bewußtseins. A.a.O., S. 82f.
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Gestalt gewinnt.75 Dichtung wird zu der sprachlichen Form, die solchen Prozessen Kontur verleiht und so die Arbeit philosophischer Reflexion vollendet, weil das ursprüngliche Seyn sich theoretischer Rekonstruktion per se verschließt. In seinem Roman »Hyperion« gestaltet Hölderlin das Zusammenspiel von Seyn, Prozeß, Leben und Dichtung literarisch. Allgemein wird der Gedanke in der Besonderheit einer Darstellung und in der Individualität einer literarischen Figur, in der sich exemplarisch das Ganze indirekt reflektiert und dem Leser zugänglich wird.76 Autor und Leser finden durch die Vermittlung des Romans in ihrer nun artikulierten Unvordenklichkeit denkend zuein ander. Nun gleicht die Grundfigur, die Henrich aus Hölderlin herausinterpretiert, der Figur, die Heidegger nach Henrichs Ansicht in Hölderlin hineininterpretiert. Beide Lesarten sprechen Hölderlin hohe Bedeutung zu, die sie aus dessen Neufassung eines subjektphi losophischen Theorieprogramms ableiten. Henrich wie Heidegger halten Hölderlins Gedanken für tief, Identität und Differenz in einem Unbedingten zu fundieren, das sich logisch-deduktiven Ableitungen ebenso wie begrifflichen Benennungen verweigert, ohne deswegen in seiner exzeptionellen Bedeutung für alle Bestimmtheiten völlig undenkbar zu sein. Schließlich: Henrich wie Heidegger betonen die Verschränkung des »Seyns« mit Sprache und Geschichtlichkeit, auch mit der besonderen Rolle eines reflektierenden Denkens, dessen Leistungen einer sorgfältigen Sprache bedürfen, die kaum die Termi nologie traditioneller Philosophie übernehmen darf. Nimmt Henrich seine Deutungsarbeit mit philologischer Akribie in Angriff, nähert Heidegger sich Hölderlin literarisch. Er »dichtet« den Dichter der Dichter, weil er in der Dichtung das Wesen einer neuen Philosophie zu erkennen meint.77 Wie wenig Heidegger an einer philologisch-historischen Ortsbe stimmung Hölderlins gelegen ist, zeigt auch seine Vorlesung über Hegels »Phänomenologie des Geistes«. Nur einmal ist von Hölderlins Nähe zu Hegel die Rede, und zwar mit der knappen Beobachtung, in Hegels Begriff des Äthers schwinge die Grundbedeutung mit, Vgl. ebenda, S. 104f. Vgl. ebenda, S. 517. 77 Heideggers Hölderlin-Rezeption fügt sich damit in eine lange Tradition ein, die dessen Dichtung jeweils eigenen Lektüreinteressen dienstbar macht. Vgl. Ott, K.-H.: Hölderlins Geister. München 20192, bes. S. 63ff. 75
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die Hölderlin diesem Begriff beimesse.78 Hölderlins Nichtberücksich tigung in Heideggers Hegel-Kommentar läßt ihn als Alternative zur begriffslogischen Rekonstruktion eines Absoluten, wie Hegel sie vornimmt, und zur Distanzierung von Logik und Dialektik, wie Heidegger sie sucht, um so präsenter wirken.79 Auf die Vorrede, in der Hegel auf die Darstellungsform der »Phänomenologie des Geistes« zu sprechen kommt, geht Heidegger nicht ein. Dort wird die Dramatur gie erläutert, mit der die »Phänomenologie« eine Bildungsgeschichte erzählt, die eine begriffliche Transformationsreihe vorführt, die sich am Ende mit ihrem Anfang logisch wie zeitlich zusammenschließt. Die Erzählung liefert den Kontext für die Bewegung des Begriffs. Dieser Erzählgestus ermöglicht es, im Verlauf der Darstellung die Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins mit Welthaltigkeit – mit Geschichte – anzureichern. Form gewinnen Welt und Erfahrung als Erzählung. Darin legen sich Bestimmungen auseinander, um sich in neuen Figuren wieder zusammenzufügen. Rationalität tritt zutage, weil es Einheit ohne Differenz nicht geben kann. Hölderlins Lyrik verweigert ein solches Darstellungsmodell, da es eine Logizität der Welt suggeriert, indem sie diese im Text erzeugt. Heidegger und Höl derlin möchten eine zirkuläre Zeitvorstellung vermeiden. Heideggers Hegel-Interpretation schenkt der literarischen Form von Hegels Dar stellung keine Beachtung, die doch der Form des Gedankens nicht äußerlich ist. Als Bildungsgeschichten ähneln einander Hölderlins »Hype rion« und Hegels »Phänomenologie«, während sie ein anderes Ver ständnis des Absoluten zum Ausdruck bringen: Hegels Logizität der Reflexion steht Hölderlins Poetik der Erfahrung gegenüber. Hölder lins Lyrik korrespondiert Hegels Prosa der Welt. Besingt der Dichter eine versunkene griechische Welt, richtet der Philosoph sich in der zerklüfteten modernen Gesellschaft ein. Ihre Reflexionen sind aufs engste mit der literarischen Gestalt ihrer Texte verbunden. Heidegger blendet diese Gemeinsamkeit mit Hölderlins wie Hegels Verständnis der Philosophie als einer Arbeit erzählender – poetischer – Darstel lung mit seinem eigenen Projekt einer »Seynsgeschichte« ebenso aus 78 Vgl. Heidegger, M.: Hegels Phänomenologie des Geistes [1930/31]. Gesamtaus gabe Bd. 32. Frankfurt/M. 19973, S. 177. 79 Nach einer Formulierung Ernst Tugendhats sei Heideggers Denken von einer »grundsätzlichen Aversion gegen das Logische geleitet«. Vgl. Ders.: »Das Sein und das Nichts«. In: Durchblicke. Festschrift für Martin Heidegger. Frankfurt/M. 1970, S. 132–161, hier S. 156.
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wie Differenzen zwischen Hegel und Hölderlin, die sich etwa an einem Vergleich der »Phänomenologie des Geistes« mit dem »Hyperion« hätten zeigen lassen. Heideggers eigene Erzählung von der Seyns vergessenheit verfährt zum einen narrativ, indem sie sich als Quint essenz der Geschichte der »Metaphysik« präsentiert; zum anderen glaubt sie eine Alternative in philosophisch-poetischen SprachFügungen zu finden, die der Logik des Begriffs durch ihre Nähe zur Lyrik ausweichen. Heideggers Wort-Denken entspricht eine Skepsis gegenüber dem Text. Verbindet Heidegger mit Hölderlin die Suche nach einer Reflexion, die nicht logisch zurichtet, was sie ergreift, weil, worauf sie ausgeht, nur in emphatischer Erfahrung anzuverwandeln wäre, bleibt diese Reflexion aus Hegelscher Perspektive im Wider spruch zu einer Wirklichkeit, der sie ein Anderes entgegenstellt, das sich nicht in die Welt verwickeln will.
4 Entchristianisierung der Tradition Heidegger erweitert seine Überlegungen zur Dichtung mit der Begriffsfigur von Ereignis und Geviert.80 Sich in ein nicht bestim mendes Verhältnis zur Sprache zu bringen, nennt Heidegger die »Versammlung in das Ereignis«.81 Dabei kehrt sich das Verhältnis von Sprechendem und Sprache als Ausdrucksmittel um. Nicht der Spre cher, die »Sprache spricht«.82 Um zu erfahren, wie Sprache spricht, gilt es, exemplarisch Gesprochenes zu betrachten. »Rein Gesprochenes ist das Gedicht.«83 Georg Trakls »Ein Winterabend« wird herange zogen, um Gesprochenes vorzuführen. Das »Gesuchte« »liegt im Dichterischen des Gesprochenen.«84 Wichtiger als die »Schönheit der gebrauchten Bilder«85 ist die Kraft, Leser oder Hörer in ein Verhältnis der Nähe und Ferne zu rücken. Trakls Gedicht beginnt mit den folgenden beiden Zeilen: »Wenn der Schnee ans Fenster fällt,/ Lang die Abendglocke läutet«. »Dichterisch« an ihnen ist in Heideggers 80 Vgl. Heidegger, M.: Die Sprache [1950]. In: Ders.: Unterwegs zur Sprache. Pful lingen 19868, S. 9–34. 81 Ebenda, S. 12. 82 Ebenda. 83 Ebenda, S. 16. 84 Ebenda, S. 19. 85 Ebenda, S. 18.
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Augen, daß im Nennen von Abend, Schneefall oder Glockengeläut etwas ins Wort gerufen wird. »Das Nennen ruft. Das Rufen bringt ein Gerufenes näher.«86 Um diese Nähe, die doch keine räumliche Nähe von Seiendem ist, handelt es sich im Falle »dichterischen« Sprechens. Spürbar wird sie mehr als geistige Atmosphäre oder reiches Metaphernfeld denn als konkretes Bild. Heideggers Sprechen wiederum ruft das Dichterische des Gedichts ins Wort und stiftet eine Nähe zur poetischen Sprache, die genuin philosophische Reflexionen – »Denken« – tragen soll. Literaturwissenschaftliche Kommentare oder Einordnungen des Gedichtes, sei es ins Werk Georg Trakls, sei es in die zeitgeschichtliche Umwelt des Textes, bleiben dafür belanglos.87 Die »Nähe« bleibt wesentlich »Ferne«, weil es sich nicht um Anwesendes nach der Art des Seienden handelt. Von allen ande ren Weisen des Aussagens ist ein solches Sprechen unterschieden. Dichterische Worte nennen, um Leser oder Hörer »einzuladen«, sich darauf zu besinnen, daß »Dinge die Menschen angehen.«88 Was die ses »Angehen« bedeutet, erschließt die Begriffsfigur des »Gevierts« von Himmel, Erde, Sterblichen und Göttlichen. »Die Vier sind ein ursprünglich-einiges Zueinander.«89 Haus und Tisch im Gedicht stehen für die Bindung der Sterblichen an die Erde. Schneefall »bringt sie unter« den verdämmernden Himmel. Glockengeläut »bringt sie vor« das Göttliche. Innerhalb dieses Gefüges »weilen« die ins Wort gerufenen Dinge. Sie halten das Gefüge ihrer Unterscheidungen in der Balance, ohne Konkretes zu beschreiben oder einen Handlungsverlauf wiederzugeben. »Im Nennen sind die genannten Dinge in ihr Dingen gerufen. Dingend ent-falten sie Welt, in der die Dinge weilen und so je die weiligen sind.«90 Durch das Wort Unterschiedenes – Himmel und Erde, Sterbliche und Göttliches – wird »geschieden, aber nicht getrennt«.91 Im Grunde wird es nur unterschieden, um das Nichtunterschiedensein ins Denken zu »rufen«. Mensch und Welt entfalten einen Resonanzraum, dessen Schwingungen und Bedeutungen sich eher zwischen unterschiedenem Ebenda, S. 21. Gerade weil Heidegger keine literaturwissenschaftlichen Analysen betreibt, ist seine Herangehensweise an das lyrische Material aufschlußreich. Vgl. dagegen Emil Kettering: NÄHE. Das Denken Martin Heideggers. Pfullingen 1987, S. 184. 88 Heidegger, M.: Die Sprache. A.a.O., S. 22. 89 Ebenda. 90 Ebenda, S. 22. 91 Ebenda, S. 24. 86 87
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Seienden – wie Tisch und Glocke, also Dinghaftem – als in ihnen manifestieren. Das Geviert hält Beziehungen in der Schwebe einer nicht zu entscheidenden Unterschiedenheit. Bezüge zwischen Seiendem, Welt und Mensch geben eine Mitte frei, durch die sie überhaupt zu unterscheiden und, wie im Gedicht, ins Verhältnis zu bringen sind. »Sie durchgehen einander.«92 Trennendes – der »Schied« – wirkt – »waltet« – fundierend zwischen dem Unterschiedenen. »In der Mitte der Zwei, im Zwischen von Welt und Ding, in ihrem inter, in diesem Unter waltet der Schied.«93 Heidegger entzieht Worten ihre umgangssprachliche Bedeutung und verschiebt sie in ein eigenes Sprach-Gefüge. »Das Wort Unter-Schied wird jetzt dem gewöhnlichen und gewohnten Gebrauch entzogen. Was das Wort ›der Unter-Schied‹ jetzt nennt, ist nicht ein Gattungsbegriff für vielerlei Arten von Unterschieden. Der jetzt genannte Unter-Schied ist nur als dieser Eine. Er ist einzig.«94 Sprache artikuliert, indem sie Eigenschaften des Begriffs abstreift, Singuläres. Um das Einzige ist es Heidegger zu tun, das »innig« Welt und Dinge zusammen- und auseinanderhält. Einzig ist, was sich der Zahl und dem Zählen ebenso entzieht wie den Ordnungen seiender Entitäten. Im »Er-eignis« wird Einziges zum Einfachen, denn weder ist es ein Ganzes mit Teilen noch Substanz mit Eigenschaften. In dieser Singularität ist der ereignete Unter-Schied weder von der Art des innerweltlich Seienden noch von der Art verstandesmäßiger Distinktion. Es ist der lebendige Mittelpunkt von Welt und Mensch, darin begriffliche, logische oder wahrnehmungs basierte Differenzen untergehen. Erfahren im Vollzug denkenden Unter-Scheidens, »ist« er niemals benennbar oder empirisch an der Welt zu entziffern. Insofern zielt das Denken des »Schieds« auf ein Absolutes, das im Denkvollzug je Einzelner als Erfahrung des Denkens mit sich selbst wirklich wird. Heidegger charakterisiert diese vibrierende Offenheit reflexiver Erfahrung als zarte Schwingung, die sich im philosophischen Wort auftut: »Denn die Sprache ist die zarteste, aber auch die anfälligste, alles verhaltende Schwingung im schwebenden Bau des Ereignisses. Insofern unser Wesen in die Spra che vereignet ist, wohnen wir im Ereignis.«95 Diese Poetik resonanz 92 93 94 95
Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 25. Heidegger, M.: Identität und Differenz [1957]. Pfullingen 19786, S. 26.
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hafter Reflexion weist eine genuine, im Jetzt innestehende Zeitlichkeit auf. Ihre Gliederung geschieht eher rhythmisch als logisch.96 Denken, das sich darauf richtet, dieses Absolute, das »Eröffnen« von Welt, zu »denken«, darf sich an keinen konkreten Weltzustand binden, sich nicht im Beschreiben von Gegebenem verausgaben oder zu Urteilen aufschwingen – es muß sich dem Ereignen, dem Sprechen der Sprache, mit höchster Aufmerksamkeit überlassen. Heideggers Abwendung von der phänomenalen Welt hat in dieser Auffassung ihren Grund. »Der Unter-Schied ist weder Distinktion noch Relation. Der Unter-Schied ist im höchsten Fall Dimension für Welt und Ding. Aber in diesem Fall meint ›Dimension‹ auch nicht mehr einen für sich vorhandenen Bezirk, worin sich dies und jenes ansiedelt. Der UnterSchied ist die Dimension, insofern er Welt und Ding in ihr Eigenes er-mißt. Sein Er-messen eröffnet erst das Aus und Zu-einander von Welt und Ding.«97 »Innigkeit« faßt ein Verhältnis ins Auge, das sich nicht nur einer linearen Zeit, sondern auch einer Raummetaphorik entzieht, wie sie der Rede vom »Zwischen« noch anhaften mag. Räumliches suggeriert Verhältnisse, die sich in absoluten Koordinaten messen – statt »ermessen« – lassen und deshalb auch zu beurteilen oder zu vergleichen sind. »Innig« hingegen ist verbunden, was in seinem Bestimmtsein durch das konkrete Verhältnis zu etwas ande rem bestimmt wird, ohne daß dieses Verhältnis aus absoluten oder formalen Regeln abzuleiten wäre. Etwas zu »ermessen« verlangt, es nicht zu »messen«, also mit einem externen Maßstab zu vergleichen. Im Ermessen erscheint Singuläres, das niemals ein Gleichgültiges sein kann. Deshalb nimmt es Menschen in Anspruch. Ermessenes wird zum Maß, das kein Maßstab ist. Heideggers Bezugnahme auf das Dichterische eröffnet eine genuin philosophische Reflexion, die sich auf das Literarische am poetischen Wort nicht einläßt. Was Literatur wesentlich ausmacht, ihr fiktionaler, dramaturgischer und imaginäre Welten entwerfender Charakter, bleibt eher unberücksichtigt. Reine Schwingungen der 96 Wenn Jacques Derrida später seine Idee einer Différance verfolgt, indem er die vermeintliche Identität des Logos durch dekonstruktive Lektüren aufsprengt, zerstreut in der Schrift wie in der Zeit und inszeniert als Echo eines historischen Tiefenraumes, übernimmt er in mancher Hinsicht Heideggers Überlegungen zu einer Poetik der Reflexion, wie sie exemplarisch an dessen Umgang mit Hölderlin oder Trakl hervortreten. Vgl. Derrida, J.: Die Stimme und das Phänomen [1967]. Frankfurt/M. 1979; Ders.: Die Schrift und die Differenz [1967]. Frankfurt/M. 1976. 97 Heidegger, M.: Die Sprache. A.a.O., S. 25 (Hervorhebung im Original).
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Reflexion würden mit Welthaltigkeit und Anschauung, Phantasie und Vergleichen imprägniert. Dadurch geraten, trotz des Rückgangs auf Hölderlins Dichtungs-Philosophie, wichtige Anliegen frühromanti scher Denker und Schriftsteller aus dem Blick, die den Akzent gerade auf eine welterschließende, wenn nicht weltverändernde Kraft poe tischer Darstellungen legen. Heideggers Beschäftigung mit Georg Trakls Gedichten beispielsweise blendet aus, was diese an Weltbezü gen aufweisen: Von den Schrecken des Krieges, die in Gedichten wie »Grodek« Ausdruck finden, oder der Verzweiflung des Sanitäters Trakl, der 1914 entsetzt und hilflos das Leiden der Verwundeten beob achtet, findet sich in Heideggers Lektüre nichts.98 Andererseits ist Heideggers Entscheidung für Trakls »Winterabend« aufschlußreich: Er nimmt auf ein Gedicht Bezug, das kein Grauen des Krieges thema tisiert, sondern eine gedankliche Öffnung der Welt vollzieht. Und er tut es, indem er den Bedeutungsraum des Gedichtes verschiebt. Diese Verschiebung weg von einer christlichen Lesart ins Seynsgeschichtli che ist exemplarisch für Heideggers eigenes Philosophieverständnis. Mitunter verfällt Heideggers Sprache selbst in einen frommen Duktus. »Im Gesprochenen des Gedichtes west das Sprechen. Es ist das Sprechen der Sprache. Die Sprache spricht. Sie spricht, indem sie das Geheißene, Ding-Welt und Welt-Ding, in das Zwischen des Unter-Schieds kommen heißt. Was so geheißen wird, ist zur Ankunft aus dem Unter-Schied in diesen befohlen.«99 Erfahrungen, die im Modus dichterischen oder philosophischen Sagens zu machen sind, gleichen religiösen Zuständen. »Mit etwas, sei es ein Ding, ein Mensch, ein Gott, eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt.«100 »Fugen« der dichterisch-philosophischen Sprache gewähren eine Empfängnis, der sich fügt, wer sie erfährt. Je reiner diese Empfängnis ist, desto mehr lichtet sich in ihr die Welt für ein Denken, das sich wiederum in seinen reinsten Möglichkeiten im Angesicht eines vergessenen Anfangs selbst zu empfangen bereit 98 Ludwig Wittgenstein, der Georg Trakl 1914 eine großzügige mäzenatische Schen kung zukommen ließ, fand dessen Gedichte zwar unverständlich, doch im Ton beglü ckend. Vgl. Rath, N.: Trakls »Grodek« – die verweigerte Sinngebung. In: Kalmenzone, H. 8 (2015), S. 33–38, www.kalmenzone.de/wordpress/hefte/ [letzter Abruf 31.08.2021]. 99 Heidegger, M.: Die Sprache. A.a.O., S. 28. 100 Heidegger, M.: Das Wesen der Sprache [1957/1958]. In: Ders.: Unterwegs zur Sprache. A.a.O., S. 157–216, hier S. 159.
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wird. »Lichtet« solche Empfängnis das Seiende, wird der Denker zum »Wächter«, der das »Haus des Seins« hütet, indem er die Sprache aus der Grammatik »befreit«.101 Verheißung dieser Befreiung ist die Möglichkeit des Menschen, »im Namenlosen zu existieren« – also ohne verdinglichende Bezeichnungen des Seienden auf den Anspruch des Seins hören zu können.102 Philosophische Reflexion soll religiöse Erfahrung ablösen und überwinden. Heideggers Lektüre von Trakls Gedicht »Ein Winterabend« zeigt, wie er versucht, Abstand zur jüdisch-christlichen Tradition zu gewinnen. Ein Winterabend Wenn der Schnee ans Fenster fällt, Lang die Abendglocke läutet, Vielen ist der Tisch bereitet Und das Haus ist wohlbestellt. Mancher auf der Wanderschaft Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden. Golden blüht der Baum der Gnaden Aus der Erde kühlem Saft. Wanderer tritt still herein; Schmerz versteinerte die Schwelle. Da erglänzt in reiner Helle Auf dem Tische Brot und Wein.
Trakls Zeilen legen es nahe, das wohlbestellte »Haus« als Kirche aufzufassen. Diese Lesart sieht Heidegger zwar in der dritten Strophe gegeben, in der vom Tisch offenbar als dem Altar-Tisch die Rede ist. In den ersten beiden Strophen liest er »Haus« jedoch als »Wohnstatt«. Schnee falle ans Fenster eines jeden Hauses.103 Die Zeilen »Vielen ist der Tisch bereitet/ Und das Haus ist wohlbestellt« deutet er folgendermaßen: »Die beiden Verszeilen sprechen wie Aussagesätze, als ob sie Vorhandenes feststellten. Das entschiedene ›ist‹ klingt so. Dennoch spricht es rufend. Die Verse bringen den bereiteten Tisch und das wohlbestellte Haus in jenes dem Abwesen zu-gehaltene Anwe
101 102 103
Heidegger, M.: Über den Humanismus [1946]. Frankfurt/M. 19818, S. 5f. Ebenda, S. 10. Heidegger, M.: Die Sprache. A.a.O., S. 18f.
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sen.«104 Aus der An- und Abwesenheit Christi während der Messe wird das An- und Abwesen des im Unter-Schied »innig« Gefügten. Christliche Bezüge entfallen, während zugleich die genuine Transzen denz der Welt in der Welt im Vollzug des Gottesdienstes nachklingt. Trakl hält Perspektive, Ort und Beschreibung ebenso in der Schwebe wie Bedeutungen einzelner Worte. Was heißt es, die Abend glocke läute »lang«, »wenn der Schnee ans Fenster fällt«? Läutet sie länger oder empfinden diejenigen, die sie hören, das Läuten als längerwährend? Bezieht sich das Motiv des bereiteten Tisches und des Ankommens derjenigen, die auf »dunklen Pfaden« wandern, auf die Ankunft Jesu Christi in der Weihnachtsnacht? Bildet die Geburt Christi das immer wiederkehrende Motiv des »Winters« für diejenigen, die auf das Läuten der Glocke hören? Ist die Zeitlosigkeit dessen, worüber das Gedicht spricht, Ausdruck der Zeitlosigkeit des Heilsgeschehens, das sich immer wieder ereignen muß? Wer ist der Wanderer? Berichtet die erste Zeile der dritten Strophe davon, ein Wanderer trete in das Haus ein – oder wäre »Wanderer tritt still herein« als Imperativ oder als Einladung zu lesen, der uns – jeden Wanderer – auffordert, über die Schwelle zu treten, um die Ankunft wirklich werden zu lassen? Gnade, Brot und Wein sind Worte, die jeweils einen profanen, theologischen oder juristischen Wortsinn aufweisen können. Gnade widerfährt jemandem, der kein Recht hat, sie zu verlangen. Sie ist Ausdruck der Souveränität – des weltlichen Herrn oder, in einer bestimmten Auslegung, Gottes. Brot und Wein, Grundnahrungsmittel in alter wie in neuer Zeit, sind zugleich christ liche Symbole der Transsubstantiation als Kernelemente der Messe. Warum ist die »Helle«, von der die vorletzte Zeile des Gedichtes spricht, »rein«? Wäre eine »reine« Helle überhaupt eine solche, die menschliche Augen wahrzunehmen vermöchten? In hellem Licht zeigen sich Dinge der Welt scharf und klar. Reine Helle weckt Assoziationen einer anderen Art von Licht, das weniger Dinge in ihren Farben und Umrissen sichtbar macht, als daß es die Welt in eine grundlegend andere Beleuchtung taucht, die sich vielleicht dem Denken oder Empfinden, weniger jedoch einem leiblichen Sehen erschließt. Im Johannesevangelium 8, 12 ist von Jesus Christus als dem Licht der Welt die Rede: »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.« Ihm zu folgen heißt für Christen, die 104
Ebenda, S. 21.
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Schwelle zu überschreiten, die Glauben bedeutet, und diesem Licht zu folgen. Lesern zeigt Heidegger sich als »Erbe« einer Tradition, die bis an die Ursprünge der europäischen Kultur, Literatur und Kunst zurück reicht. Diese Tradition wird auf eine Weise beerbt, daß sie sich aus einer dominant theologisch-religiösen Deutung ebenso löst wie aus wissenschaftlichen Verständnisweisen des innerweltlich Seienden. So wie Sprache mehr und anderes bedeuten soll als die Fähigkeit menschlicher Lebewesen zur Verständigung, distanziert Heidegger sich von einer religiösen Auslegung des Ursprungs der Sprache oder der Welt als einer mit Worten strukturierten Ordnung, die sich auf das Johannes-Evangelium berufen kann.105 Bloße Negation dieser Tradition jedoch kann nicht der Kern einer philosophischen Umschrift sein. Vielmehr versucht Heidegger, das komplexe und mehrdeutige sprachliche Gewebe dieser Tradition, die Trakl in seinem Gedicht erbt und verdichtet, in ein anderes Licht zu rücken, indem das Sprechen des Philosophen die dichterische wie die religiöse Sprache anders leuchten läßt. Beispielhaft dafür ist die Umfärbung des semantischen Feldes im Blick auf die Rolle des Schmerzes und der versteinerten Schwelle in Trakls Versen. Das Wort »versteinerte« »nennt Wesendes, das schon gewesen. Im Gewese des Versteinerns west allererst die Schwelle. Die Schwelle ist der Grundbalken, der das Tor im ganzen trägt. (...) Die Schwelle trägt das Zwischen.«106 Und der Schmerz? »Der Schmerz reißt. Er ist der Riß. Allein er zerreißt nicht in auseinanderfahrende Splitter. Der Schmerz reißt zwar auseinander, er scheidet, jedoch so, daß er zugleich alles auf sich zieht, in sich versammelt. Sein Reißen ist als das versammelnde Scheiden zugleich jenes Ziehen, das wie der Vorriß und Aufriß das im Schied Auseinandergehaltene zeichnet und fügt. Der Schmerz ist das Fügende im scheidend-sam melnden Reißen. Der Schmerz ist die Fuge des Risses.«107 Vom Schmerz, den der sterbende Christus am Kreuz erleidet, ist hier sowenig die Rede wie von Petrus, dem Felsen, auf dem die Kirche erbaut ist. Schmerz – Christi Opfertod am Kreuz – und Kirche – Petrus – weisen bei Trakl auf eine Schwelle hin, die über das Schicksal der Menschen entscheidet. Wer sie überquert und in das 105 106 107
Vgl. ebenda, S. 14f. Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 27.
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Haus Gottes eintritt, wird dem Schmerz in gewisser Weise gerecht, den Christus erlitt. Für ihn, der Christi Opfer annimmt, »blüht der Baum der Gnaden«, wie es in der zweiten Strophe heißt. Heideggers Kommentierung hält christliche Bedeutungsspuren fest, ersetzt sie jedoch durch die Rede von der »Sprache« und der Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem: »Der Schmerz ist der Unter-Schied selber.«108 Stillschweigend wird die Umwendung des religiösen in einen philosophischen Konnotationsraum vorgenommen. Zutreffend weist Heidegger anthropologische oder psychologische Deutungen des »Schmerzes« zurück.109 Warum nicht auch religiöse? Vielleicht, weil diese sich nicht zurückweisen lassen, liegen sie doch auf einer ver gleichbaren Deutungsbahn wie Heideggers Lesart? Mit christlichen Vorstellungen verbindet Heideggers Denken die Aufmerksamkeit für eine Offenheit der Welt in der Welt, die auf eine Haltung desjenigen verweist, der dieser Offenheit entsprechen muß, wenngleich er sie nicht herstellen kann. Ein gleiches Vorgehen verfolgt Heidegger im Blick auf die letzten beiden Gedichtzeilen »Da erglänzt in reiner Helle/ Auf dem Tische Brot und Wein«. Er liest: »Wo erglänzt die reine Helle? Auf der Schwelle, im Austrag des Schmerzes. Der Riß des Unter-Schieds läßt die reine Helle glänzen. Sein lichtendes Fügen ent-scheidet die Auf-Heiterung von Welt in ihr Eigenes.«110 Unerwähnt bleibt die Eucharistie. Stattdessen ist allgemein von »Sterblichen« und »Göttli chen« die Rede: »Brot und Wein sind die Früchte des Himmels und der Erde, von den Göttlichen den Sterblichen geschenkt.«111 Das göttliche Licht, das Christus in die Welt bringt, wird zur Helle, in der Seiendes sich lichtet. An die Stelle Gottes im christlichen Bedeutungskosmos tritt das Sein. Erlösung und Gnade verwandeln sich ins »Ereignis« der Sprache, die den Menschen in sein »Eigenes« bringt. »Das Geläut der Stille ist nichts Menschliches. Wohl dagegen ist das Menschliche in seinem Wesen sprachlich. Das jetzt genannte Wort ›sprachlich‹ sagt hier: aus dem Sprechen der Sprache ereignet. Das so ereignete, das Menschenwesen, ist durch die Sprache in sein Eigenes gebracht.«112 Sprache ersetzt in Heideggers Sprach-Fuge Religion; philosophisches 108 109 110 111 112
Ebenda. Vgl. ebenda. Ebenda, S. 28. Ebenda. Ebenda, S. 30.
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5 Kunst als höchste Art des Zeichens
Andenken tritt an die Stelle des Gebets. »Das sterbliche Sprechen ist nennendes Rufen, Kommen-Heißen von Ding und Welt aus der Ein falt des Unter-Schiedes.«113 Heideggers Philosophie kultiviert ein Sprechen der Sprache, das die christliche Vorstellung einer Anwesen heit Gottes beerbt: »Die Sterblichen sprechen, insofern sie hören. Sie achten auf den heißenden Ruf der Stille des Unter-Schiedes, auch wenn sie ihn nicht kennen.«114 Nach dem Gewesensein aller Götter wird Philosophie zur absoluten Religion, die sich vor allem im dich terischen Wort offenbart.
5 Kunst als höchste Art des Zeichens Von der Kunst – gemeint ist Hölderlins Dichtung – spricht Heidegger als der »höchste(n) Art des Zeichens«, ermöglicht sie doch »das zei gende Erscheinenlassen des Unsichtbaren«.115 Philosophische Wert schätzung der »Dichtung« und insbesondere der Lyrik Friedrich Hölderlins findet sich auch bei Ernst Cassirer. Ein Vergleich beider Perspektiven erhellt die Besonderheit von Heideggers Weg in eine »poetische« Reflexion. Vor einem weitgespannten kulturgeschichtlichen Horizont erläutert Cassirer die Entfaltung dessen, was er eine »symbolische Form« nennt: »Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungs gehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinn tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Ebenda. Ebenda, S. 32. 115 Heidegger, M.: Hölderlins Erde und Himmel [1959]. In: Gesamtausgabe Bd. 4. A.a.O., S. 152–181, hier S. 162. 113
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Kraft.«116 Geistiges und Sinnliches werden durch symbolische Formen so verschränkt, daß sie zwischen Ausdruck und Erfahrung, Innenwelt und Außenwelt, Ich und Anderen, Bleibendem und Wandelbarem einerseits zu unterscheiden erlauben und andererseits jede solche Unterscheidung – als Unterscheidung von Verschiedenem – unter laufen. Cassirer betrachtet die Sprache als fundamentales Zeichensys tem und gattungsgeschichtlich wie ontogenetisch primäre Symbol welt. Aus der Sprache heraus entfalten sich andere symbolische Formen. Ohne Symbole – und ohne Sprache – keine »Welt« im Sinne einer gegliederten Bedeutungsgesamtheit. Um verständlich zu sein, muß Welt symbolisch entfaltet werden. Nichts anderes tut die Philosophie, wenn sie sinnbildende Leistungen verschiedener symbo lischer Formen untersucht. Anders als Heidegger steht Cassirer nicht in Versuchung, in den neuzeitlichen Wissenschaften einen Verfall des Denkens zu erblicken, da in seiner Sicht die Wissenschaft mit anderen symbolischen Formen koexistiert. Jede dieser Symbol-Wel ten erzeugt neue Differenzierungsformen, Inhalte, Wahrnehmungen und Denkmöglichkeiten. Bleibt im Mythos die Bedeutung konkreter Zeichen mit deren Materialität verschmolzen und insofern unmittel bar anschaulich, vollzieht die Religion eine Unterscheidung zwischen Zeichen und – transzendenter – Bedeutung. Nun wohnen Götter nicht länger in den (Zeichen) Dingen; sie ziehen sich auf die Position referentieller Bedeutungen zurück. Dadurch wird der Weg frei für eine Auffassung der Zeichen als bloßer Zeichen: Die Kunst etabliert vorrangig das Bild als Bild, das für sich zu betrachten ist, ohne ihm transzendente Bedeutung zuzumuten. Hier befreit sich das Zeichen von jeder Bindung an repräsentierende oder transzendente Funktio nen. Menschliches Bewußtsein nähert sich Kunstwerken nicht mehr andächtig in frommer Verehrung einer darin real anwesenden Heilig keit oder im sehnenden Bezug auf einen transzendenten Referenten. An deren Stelle tritt die Kennerschaft derjenigen, die Bilder als beson dere Zeichenformen zu unterscheiden und zu vergleichen wissen.117 Hingegen vollziehen die mathematisierten Wissenschaften einen Bruch mit aller Anschaulichkeit, indem sie Erfahrungen allgemeinen Gesetzen unterwerfen. Anders als der Mythos, der in seinen Erklä 116 Cassirer, E.: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissen schaften [1921/1922]. In: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 19948, S. 169–200, hier S. 175f. 117 Ebenda, S. 190.
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rungsansprüchen doch an die komplexe Koexistenz einzelner Dinge, deren Ähnlichkeiten und Relationen in Raum und Zeit anknüpft, bringen Wissenschaften Erfahrung in die Form quantitativer – und damit abstrakter – Größenverhältnisse. Welt braucht nicht mehr verständlich zu sein, um wissenschaftlich erkannt zu werden. Um Bedeutung jedoch ist es Heidegger ebenso wie Cassirer zu tun. Niemand vermag in einer rein technisch-wissenschaftlichen Welt zu leben. Deshalb richten beide ihre Aufmerksamkeit auf die Sprache als die nicht hintergehbare symbolische Form primären ZurWelt-Seins. Philosophie, die »denkende Betrachtung des Seins«,118 steht vor der Aufgabe, Leben und Form in je konkreten symbolischen Vermittlungen zu explizieren. Unweigerlich unterliegen aber auch philosophische Sprach-Zeichen einer Abstraktion, die aller Begriffs werdung innewohnt. Zwischen Begriff und Sache verschwindet jede Ähnlichkeit. Welche sprachlichen Möglichkeiten bleiben also der Phi losophie, wenn sie der konstitutiven Bedeutung von Sprache für Welt innewird, ohne über eine Sprache zu verfügen, die an ursprüngliche Sinnbildungsleistungen heranreicht? Im Umgang mit diesem Problem verfolgen Heidegger und Cas sirer unterschiedliche Strategien. Versucht Heidegger, über philoso phische Reflexionen im Ausgang von Gedichten – oder auch nur von Zeilen aus Gedichten – einen Bedeutungsraum philosophisch aufzuschließen, der in der Sphäre des Begrifflichen verschüttet bleibt, schlägt Cassirer den Weg kulturgeschichtlicher Rekonstruktionen ein. Heideggers Sprach-Denken sieht sich genötigt, das begriffliche Repertoire selbst umzuformen und eigene Sprach- und Denkfiguren zu erschaffen. Seine Wortverschiebungen gleichen religiösen Arte fakten, wie Cassirer sie charakterisiert, darin, durch Sprach-Formen hindurch auf ein unbestimmtes Anderes des Bestimmten andenkend bezogen zu sein, um sich von ihm ergreifen zu lassen. Sprache bleibt auf die jeweilige Gegenwart des Vollzugs angewiesen. Bedeutungs räume, die sie evoziert, finden an nichts Weltlichem einen Gegenhalt. Sie gewinnen auch keine Dauer als diskrete Denkbestimmungen. Heideggers Redeweise verwirklicht sich als Zustand, Praxis und übende Erfahrung: als Haltung oder Meditation, wie sie auch Gläubi gen im Gottesdienst angemessen wäre. Hingegen bleiben Cassirers Sprache und Arbeitsprogramm in engerer Nähe zu den Wissenschaf 118
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ten. Gleichwohl ist auch für Cassirer Friedrich Hölderlins Lyrik von überragender Bedeutung. Ohne bloß Mittel zur Verständigung oder Instrument zur Bezeichnung von Sachverhalten sein zu müssen, darf sich das Wort in der Dichtung in die Innerlichkeit des Subjekts zurückwenden, »um zum reinen Spiegel dieser Innerlichkeit zu werden«.119 Spiegelungen des Inneren eines Bewußtseins versteht Cassirer als eine Art Reso nanzgeschehen, das durch den »eigenen Klang- und Gefühlswert« lyrischer Worte ausgelöst wird.120 Klang und Ton verschaffen dem Wort eigenes Leben.121 »Bewegtheit« und »Dynamik des Gefühls« sind genuine Qualitäten dichterischer Sprache. Im Raum des Geisti gen setzen sie sinnliche Reflexionsweisen frei. Wie kein anderer habe Hölderlin solche Dichter-Worte gefunden: »Die höchsten lyrischen Kunstwerke – in der deutschen Poesie etwa die vollkommensten Dich tungen Hölderlins –, zeigen am meisten diese doppelte Fügung: die vollendete Geistigkeit, die sich zugleich den vollendeten Körper, den ihr schlechthin-gemäßen, sinnlichen Ton und Rhythmus geschaffen hat.«122 Stimmlich-musikalische, rhythmische und klingende Dimen sionen der Sprache in deren sinnstiftenden Leistungen zu würdigen, ist auch Heidegger ein Anliegen: »Daß die Sprache lautet und klingt und schwingt, schwebt und bebt, ist ihr im selben Maße eigentümlich, wie daß ihr Gesprochenes einen Sinn hat. Aber unsere Erfahrung dieses Eigentümlichen ist noch arg unbeholfen ...«123 »Spiegel« der Innerlichkeit eines Bewußtseins ist sie kaum, würde sie in diesem Verständnis doch ihre lichtende Kraft im Blick auf das Seyn einbüßen. Cassirer nähert sich Hölderlin durch eine historisch-systemati sche Rekonstruktion der Verankerung von dessen Denken im Kontext des Deutschen Idealismus.124 Ihm erschließt sich die Lyrik als zugleich inhaltliche und formale Antwort auf philosophische Implikationen von Fichtes Konzept der Tathandlung, Schellings Philosophie der Mythologie und Hegels Begriffsdialektik. Cassirer möchte rekonstru ieren und erläutern, wie Form und Inhalt der Texte Hölderlins mitein ander zusammenhängen und eine geschichtlich-kulturelle Konstel Ebenda, S. 191. Ebenda. 121 Ebenda. 122 Ebenda, S. 191f. 123 Heidegger, M. Das Wesen der Sprache. A.a.O., S. 205. 124 Vgl. Cassirer, E.: Hölderlin und der deutsche Idealismus [1917]. In: Ders.: Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist (1924). Darmstadt 1971, S. 113–155. 119
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lation zum Ausdruck bringen. Über das »Allgefühl« zu sprechen und die »Tragik« in der Auffassung Hölderlins von Menschenwelt und Natur zu verstehen, verlangt von der Sprache der Philosophie, die Grenze zum Lyrischen weder zu überschreiten noch komplexe lyrische Bedeutungsnuancen deutend zuzuspitzen. Hölderlins »lyri sche(s) Weltgefühl«, schreibt Cassirer, muß »allen ideellen Gehalt (...) in einen einzigen Moment zusammendrängen, und ihn in einer fest umrissenen Gestalt, in einem einzelnen Gebilde verkörpern.«125 Folgt man probeweise Cassirers Lesart, kann bei der Lektüre von Heideggers Hölderlin-Deutungen der Eindruck aufkommen, diese suchten mit ihren sprachlichen Konstellationen den »Moment« Höl derlins in einer Sprache des »Seyns« zu evozieren – und damit der historischen und systematischen Kontextualisierung zu entziehen, um den lyrischen »Moment« ins Terrain der Philosophie zu transfe rieren und dort zu reaktivieren. Doch konvergieren Cassirers und Heideggers Perspektiven in der Behauptung einer bewegten Ruhe als des Zentrums von Hölderlins Denken. Spricht Heidegger von der »unendliche(n) Ruhe, in der alle Kräfte und Bezüge regsam sind«126, sieht Cassirer das Ziel der lyrischen Form in einer Gestalt, die das Fließen der Naturformen zum Stillstand bringt: »Seine (Hölderlins, DR) lyrische Form führt ihn zu einem Punkt, an dem Bewegung und Ruhe sich miteinander zu durchdringen scheinen: an dem die reinste Empfindung für die Natur und für das seelische Geschehen gerade dort hervorbricht, wo das Fließen der Naturgestalten und der seelischen Gestalten gleichsam zum Stillstand gebracht ist.«127 Verweist Cassirer auf singuläre Qualitäten der Dichtung, macht Heideggers Sprache sich der Dichtung ähnlich, weil sie den Reflexi onsraum, von dem auch Cassirer spricht, als eigentliches Ziel denken der Anstrengung erkannt zu haben glaubt. Bildähnliche Qualitäten der Sprache sollen auf eine Weise forciert werden, daß sie erfahrbar machen, was sich referentiell doch nicht sagen läßt. Sprache zieht eine Unterscheidung, die sie auf sich selbst zurückverweist und, in doppelter Abgrenzung von Innen- und Außenreferenz, die Sphäre der Zeichen zum eigentlichen Refugium philosophischer Reflexion aufwertet. Da solche philosophisch-poetische Rede nichts darstellen will, verzichtet sie aber auch auf eine genuine Möglichkeit der Künste: 125 126 127
Ebenda, S. 148. Heidegger, M.: Hölderlin und das Wesen der Dichtung. A.a.O., S. 41. Cassirer, E.: Hölderlin und der deutsche Idealismus. A.a.O., S. 147.
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die Imagination und Fiktionalisierung von Wirklichem zu etwas Exemplarischem, anhand dessen Menschen ihr eigenes Leben reflek tieren können. In Heideggers Auffassung vom Bildcharakter der Sprache kommt ein Verständnis von Bildlichkeit zum Tragen, das auf religiöse Bilder zurückverweist. Was aus Sicht Hegels im Entwicklungsgang des Geistes auseinandergetreten war – Religion, Kunst und Philosophie –, um im Begriff des Absoluten reflexiv – logisch, geschichtlich und begrifflich – vermittelt zu werden, zieht Heideggers Sprach-Denken in der Unmittelbarkeit nichtbegrifflicher Denkerfahrungen wieder zusammen. Religion, Kunst und Philosophie bilden für Hegel »drei Reiche des absoluten Geistes«; sie sind »nur durch die Formen unterschieden, in welchen sie ihr Objekt, das Absolute, zum Bewußtsein bringen.«128 Unterscheiden lassen Religion, Kunst und Philosophie sich durch den Begriff des Absoluten, in dem sie zugleich getrennt und verbunden sind. Auf die Form des Begrifflichen jedoch möchte Heidegger verzichten, um eine Sphäre ursprünglicheren Denkens freizulegen. Eine poetische Transformation der Sprache soll die Wahrheit des Begrifflichen bewahren, ohne den Begriff als Operator klassifizierenden Unterscheidens zu benutzen. Abzulesen ist diese Textstrategie daran, wie Heidegger Substantive in Verbform setzt – »die Dinge dingen«, »Welt weltet« – oder neue Bedeutungsfelder um altbekannte Worte aufspannt, beispielsweise Fuge und Stiftung, Welt und Erde. Begriffe verwandeln sich durch diese Umschrift in Prozesse, die an die klassische Position der Wesen treten.129 Kunst, in Gestalt der Lyrik einiger weniger Dichter, wird insofern resakralisiert, als sie zur Form avanciert, in der das Absolute zwar nicht begriffen, wohl aber erfahren werden kann. Würde es sich gänzlich der Erfahrung entziehen, gliche es einem bloß Ausgedachten.
Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik [1835–1838], Bd. I. Werke Bd. 13. Frankfurt/M. 1986, S. 139 (Hervorhebung im Original). 129 Vgl. Friedman, M./Seppi, A.: Die Falte(n) der Sprache(n). Zur Einführung. In: dies. (Hrsg.): Martin Heidegger: Die Falte der Sprache. Wien, Berlin 2017, S. 7–35. 128
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6 Absolute Bilder 6.1 Ding und Werk Wenn die philosophische Sprache ihrem Wesen nach bildlich ist, kann sie so wenig bloßes Abbild des Wirklichen wie dessen normatives Idealbild sein. Heidegger behandelt die Sprache wie ein absolutes Bild. Materiell als Schrift, sinnlich-klanglich in der Stimme und intelligibel als Resonanzraum des Denkens, spiegelt die Sprache das Seiende einer Welt im Anderen – dem »Sein« – des Seienden. Nur die Sprache vermag im radikalen Sinne Bild lebendigen Denkens zu sein. Am deutlichsten wird diese Sichtweise, wenn Heidegger nicht über ein Gedicht, sondern über ein Bild spricht. Anders als Hölderlins oder Trakls Verse bietet van Goghs Gemälde »Ein Paar Schuhe« Betrachtern konkrete Sichtbarkeitswerte an. Es kommt, zumindest auf den ersten Blick, einem »Seienden« näher. Heideggers philoso phische Transformation des Van-Gogh-Gemäldes erscheint darum in größerem Kontrast zum Referenzwerk, als dies bei den Sprach-Kunst werken Hölderlins oder Trakls der Fall ist. Gemeinsam ist diesen Übungen der Vollzug einer Bildlichkeit, die zum wesentlichen Mittel philosophischer Denk-Arbeit wird. Anhand eines Gemäldes erzeugt Heidegger mit sprachlichen Mitteln ein Bild des Denkens, indem er van Goghs malerische Dar stellung eines Paars Schuhe in eine Erzählung verwandelt.130 In seinen Arbeiten ist diese Konstellation von Bild und Sprache ebenso wie seine Vorgehensweise singulär. Meyer Schapiro hat Heideggers vermeintliche Bildanalyse einer scharfen Kritik unterzogen, indem er ihren unwissenschaftlichen Charakter als philosophische Ignoranz deutet. Im Mittelpunkt von Schapiros Kritik steht der Nachweis, daß es sich bei den abgebildeten Schuhen keineswegs, wie Heidegger sagt, um Bauernschuhe handelt, sondern um van Goghs eigene Schuhe, die er in Paris 1886/87 vermutlich getragen hat. Gesehen hat Heidegger das Gemälde 1930 in Amsterdam.131 Heideggers Umgang mit van 130 Vgl. Heidegger, M.: Der Ursprung des Kunstwerks [1935/36]. In: Ders.: Holz wege. A.a.O., S. 1–72. 131 »He (Heidegger, DR) has retained from his encounter with van Gogh’s canvas a moving set of associations with peasants and the soil, which are not sustained by the picture itself. They are grounded rather in his own social outlook with its heavy pathos of the primordial and earthy.« Schapiro, M.: The Still Life as a Personal Object – A
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Goghs Gemälde, resümiert Schapiro, zeige nicht etwa das Wesen des Kunstwerks; er vernichte geradezu den Charakter des Werkes als eines Gemäldes. In Heideggers Rede werde die spezifische Bildlichkeit des Gemäldes irrelevant. Es mache keinen Unterschied, ob Heideggers Beschreibung auf van Goghs Bild oder ein tatsächliches Paar Schuhe verweise: »I find nothing in Heidegger’s fanciful description of the shoes pictured by van Gogh that could have been imagined in looking at a real pair of peasants’ shoes.«132 Auf den Gesichtspunkt, was die Schuhe und das Malen dieser Schuhe für van Gogh selbst bedeuteten, gehe Heidegger mit keinem Wort ein. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive mag Meyer Schapiros Verdikt begründet sein.133 Ein solches Urteil erschwert jedoch den Blick auf die – überdeutlich vorgetragene – Weise des schreibenden Denkens, die Heidegger hier praktiziert, um sein philosophisches Sprechen dem dichterischen Wort mit Hilfe der sprachlichen Reso nanz eines Gemäldes ähnlich zu machen. Was Schapiro als Verfehlen der Bildlichkeit des Bildes kritisiert, läßt sich auch als Strategie lesen, die Idee von Bildlichkeit als einer Poetik der Reflexion systematisch zu erweitern und auf die Transformation von Gemälden in Sprachund Denkbilder zu beziehen. Schapiro hat recht mit dem Hinweis, es sei Heidegger nicht primär um van Goghs Gemälde gegangen. Hingegen ist es ihm gerade um die Evokation einer Bildlichkeit als genuin philosophischer Reflexionsform zu tun, die etwas anderes ist als Kunst oder philosophische Ästhetik.
Note on Heidegger and van Gogh (1968). In: Ders.: Theory and Philosophy of Art: Style, Artist, and Society. New York 1977, S. 135–141, hier S. 138. 132 Ebenda. 133 Wenngleich es einer bildphänomenologischen Annäherung vielleicht wenig Rechnung trägt, die ihrerseits kunstwissenschaftliche Herangehensweisen zu berei chern vermag. In den Augen Gottfried Boehms illustriert Meyer Schapiros Kritik einen »unbefriedigenden Zustand der Diskussion«. Heideggers Begrifflichkeit biete sehr wohl Anregungen für kunstwissenschaftliche Bildanalysen, indem sie dem Charakter des Kunstwerks als eines Ereignisses Rechnung trage und auf die produktive Differenz zwischen begrifflichen und bildlichen Sinngefügen aufmerksam mache. Hingegen hält auch Boehm Heideggers Bildanalyse im Kunstwerk-Vortrag für unzureichend, weil sie dem Gemälde eine bloß illustrierende Funktion zuweise. »Heideggers Beschrei bung ist, im Lichte seiner eigenen Einsichten, im Grunde zu eng und zu literarisch.« Vgl. Boehm, G.: Im Horizont der Zeit. Heideggers Werkbegriff und die Kunst der Moderne. In: Biemel, W./Herrmann, F.-W.v. (Hrsg.): Kunst und Technik. Gedächt nisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Frankfurt/M. 1989, S. 255– 285, hier S. 256, 272.
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Heideggers Vortrag entfaltet ineinander verschränkte Beziehun gen zwischen Werk, Künstler und Kunst. Auf diese Weise soll ein Denken in den Blick geraten, das ein Wahrheitsgeschehen zur Erfah rung bringt. Kunstwerke eignen sich, meint Heidegger, in besonde rer Weise als Ausgangspunkte philosophischer Reflexion, weil sie von allen anderen Dingen in der Welt verschieden sind. Geläufige Dingbegriffe – Merkmalsträger, Einheit von Empfindungsmannigfal tigkeiten oder Stoff-Form-Verhältnisse – scheitern an Kunstwerken, obwohl diese doch zumeist auch eine Art von Ding sind. Widmet der erste Teil des Vortrags sich dieser Verschiedenheit und einer kritischen Sichtung überkommener Dingbegriffe, richtet sich der Gedankengang sodann auf den Symbolcharakter des Kunstwerkes: »Das Werk ist Symbol.«134 Es dient nämlich nicht – wie »Zeug«-Dinge – zu etwas; es »offenbart Anderes; es ist Allegorie«.135 Hans-Georg Gadamer macht auf den weitreichenden Anspruch dieser Sichtweise und den werksystematisch zentralen Stellenwert dieses Vortrags aufmerksam. Heideggers Text unterläuft die philosophische »Ästhetik«, wie sie sich in der Subjektivitäts- und Bewußtseinsphilosophie im Anschluß an Kant und Baumgarten ergeben hatte. Ebenso tritt er jedweder Genie-Ästhetik entgegen. Vielmehr gesteht er dem Kunstwerk eine Bedeutung zu, die eingespielte Feldaufteilungen der akademischen Philosophie beiseite räumt und im Werk eine Möglichkeit der DenkErfahrung aufsucht, die an den Grund jedweder Reflexion heran führt.136 Zwischen bloßen »Dingen« – wie Steinen – und »Werken« – Seiendem, das zum Kunstwerk gestaltet ist – ist das »Zeug« angesie delt: Um-zu-Dinge wie Mäntel oder Schuhe, die in ihrem alltäglichen Vertrautsein selten in Frage stehen. Für das Verständnis der Welt des Daseins ist »Zeug« wichtig, da sich in dessen Zuhandenheit ein lebensweltliches Sinnganzes konkret materialisiert. Nach Zeug zu fragen, setzt voraus, es nicht zu gebrauchen, sondern in den Blick zu bringen. Dazu, meint Heidegger, eignen sich in vorzüglicher Weise Werk-Dinge wie Bilder. Sie zeigen etwas, indem sie sich als etwas zei gen, das zeigt. Also geht er daran, »ohne eine philosophische Theorie
Heidegger, M.: Der Ursprung des Kunstwerks. A.a.O., S. 4. Ebenda. 136 Vgl. Gadamer, H.-G.: Die Wahrheit des Kunstwerks [1960]. In: Ders.: Neuere Philosophie I. Hegel, Husserl, Heidegger. Tübingen 1987, S. 249–261. 134
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einfach beschreiben« zu wollen, was es mit Zeug auf sich hat.137 Im Grunde, behauptet Heidegger, brauche er für diese Beschreibung gar keinen Anschauungsgegenstand. Schuhe sind schließlich jedermann bekannt. Unwichtig sei also, ob seine Beschreibung sich auf ein reales Paar oder auf ein gemaltes Paar Schuhe beziehe. Allenfalls, gibt der Text vor, würde es die Arbeit erleichtern, eine bildliche Darstellung zu Hilfe zu nehmen, in diesem Falle ein Bild van Goghs. Merkwürdig an dieser Bemerkung ist, daß dazu der Vortrag entweder vor van Goghs Gemälde – bzw. einer Reproduktion des Gemäldes – hätte gehalten oder dem publizierten Text des Vortrags eine Reproduktion hätte beigegeben werden müssen. Das Beispiel in seiner Rede – das Bild, von dem Heidegger sagt, es sei eigentlich überflüssig – kommt nur in Heideggers Worten zur Erscheinung. Für Leser bleibt es ima ginär, solange sie nicht das Gemälde aufsuchen oder eine Reproduk tion heranziehen, also etwas tun, worauf der Text verzichtet. Insofern ist das Gemälde tatsächlich überflüssig – jedoch nur im Sinne eines Gemäldes, nicht hingegen im Sinne eines Bildes, das die philosophi sche Rede Heideggers anstiftet und das Leser oder Hörer von Heideggers Vortrag sich mit Hilfe von dessen Worten vage vorstellen. Für Heideggers Umgang mit Bildlichkeit ist dies kein Mangel, es ist entscheidend: Bilder, die er »stiftet«, sollen nichts darstellen oder Dargestelltes ausdeuten; ihre Aufgabe ist es, einen Resonanzraum des Denkens herzustellen, der an nichts anderem zu kontrollieren ist, weil er nichts repräsentiert. Bilder, die lediglich etwas abbilden, genügen philosophischen Ansprüchen an Bildlichkeit nicht, nämlich etwas zu zeigen, das als poetische Reflexionsbewegung erst im Vollzug seiner Artikulation Gestalt gewinnt. Um das zu erreichen, muß, was Gedanke werden will, Sprache geworden sein. Heideggers Sprache bemüht sich deshalb um das Aufzeigen der Zusammenhänge zwi schen Sprach-Form und Gedanken-Form als Bildlichkeit.
6.2 Rhetorik und Bildlichkeit Von einer »Poetik« der Reflexion spreche ich lieber als von einer »Rhetorik«, weil Heideggers Zugang zur Rhetorik durch seine Inter pretationsweise Aristotelischer und Platonischer Texte geprägt ist. 137
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Diese Interpretation ermöglicht ihm die Distanzierung von einer platonischen Konzeption des Bildes, die sein eigenes Unternehmen entweder hätte bereichern oder aber, jedenfalls im Blick auf dessen Singularität, in Frage stellen können. Ein anspruchsvoller Begriff der Rhetorik zielt auf den unvermeidlich bildlichen Modus von – unter anderem philosophischer – Reflexion. Heinrich Niehues-Pröbsting zeigt, wie eng Philosophie und Rhetorik seit Platon miteinander verflochten sind.138 In der neuzeitlichen Philosophie jedoch setzte sich, zumindest auf der Oberfläche, tendenziell eine Geringschätzung der »Rhetorik«, überhaupt eine Abwertung der Form philosophischer Rede gegenüber einem Gedachten durch. Um bloße Ästhetik oder Verstehenskunst ist es der Rhetorik nicht zu tun, wenn Reflexion immer auch heißt, die Form des Sprechens mit dessen Inhalt zu verschränken. Heideggers Umgang mit Sprache als »poetisch« – oder »rhetorisch« – zu bezeichnen, steht zu dessen eigenem Begriff der Rhetorik in einem Spannungsverhältnis. Im Rahmen der AristotelesVorlesung, die Heidegger 1924 hält, befaßt er sich mit der Rhetorik des Aristoteles. Er liest sie unter den systematischen Gesichtspunk ten von »Sein und Zeit«. Sie gilt ihm als »die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanders«.139 Weil er die Alltäglichkeit der Rede in den Fokus rückt, stehen Rhetorik und funktionales Sprechen – Gerede – im Vordergrund, nicht die lite rarische Inszenierung philosophischen Schreibens und Sprechens. »Die Rhetorik ist nichts anderes als die Auslegung des konkreten Daseins, die Hermeneutik des Daseins selbst.«140 Bedeutung komme der aristotelischen Rhetorik zu, weil sie zum erstenmal systematisch Affekte und deren Bedeutung für Stimmungen bei der Meinungsbil dung untersucht.141 Platon liest Heidegger von Aristoteles aus, dessen Denken er wiederum von seiner eigenen Philosophie des Daseins aus erschließt. Das Verhältnis zwischen Platon und Aristoteles versteht er als Präzi sierung. Was bei Platon noch unscharf geblieben sei, habe Aristoteles
138 Vgl. Niehues-Pröbsting, H.: Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie. Frankfurt/M. 1987. 139 Heidegger, M.: Sein und Zeit. A.a.O., S. 138. 140 Heidegger, M.: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie [1924]. Gesamt ausgabe Bd. 18. Frankfurt/M. 2002, S. 110. 141 Vgl. Niehues-Pröbsting, H.: Überredung zur Einsicht. A.a.O., S. 250f.
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radikalisiert und wissenschaftlich gedacht.142 Demnach wäre Platons Philosophie eine Präfiguration besser durchgebildeter aristotelischer Einsichten. Beide wiederum würden, weil sie das Sein des Seienden nicht angemessen fassen, in der »Metaphysik« steckenbleiben, die erst von ihm, Heidegger selbst, überwunden werden kann. Diese Geste ist ein Musterbeispiel für – heroische – »Rhetorik«. Platons Konzept der Dialektik findet Heidegger ungenügend, allenthalben sieht er »Anzeichen einer grundsätzlichen Verworrenheit und Unklar heit«.143 Statt in der »Dialektik« Platons genuine Form philosophi scher Reflexion wahrzunehmen, deren Entfaltung – auch in der Gestaltung philosophischer Texte – wesentlich rhetorisch verfahren muß, wertet Heidegger sie als noch nicht überwundene Grenze ab. »Aristoteles sah die immanenten Grenzen der Dialektik, weil er radi kaler philosophierte.«144 Dieses Urteil hängt auch damit zusammen, daß Heidegger Platons »Idee« als Zahl versteht.145 Weil Platon sich in einen Kampf mit der Sophistik verstrickt habe, die er mit der Rhetorik identifiziert hätte, »gelang es ihm nicht, zu einem positiven Verständnis der Rhetorik zu kommen. Dazu kommt erst Aristoteles, der sah, daß diese Art der Rede im alltäglichen Leben ihren Sinn hat ...«146 Aristoteles’ Rhetorik vom Denken des Daseins aus und Platons Philosophie von dieser Aristoteles-Deutung aus zu lesen, erschwert es Heidegger, Verwandtschaften zwischen Platons literari scher philosophischer Reflexion – seiner rhetorischen Textstrategie, in der unter anderem eine durchgestaltete Auseinandersetzung mit der sophistischen Rhetorik vorkommt – und seiner eigenen Poetik der Reflexion zu erkennen. Heidegger spricht mehr »über« Rhetorik, als daß er sie als Form seiner eigenen Reflexion wahrnimmt, obgleich sein Denken des »Seins« nicht ohne Verformungen der Sprache aus kommt. Besaß in »Sein und Zeit« die Rede Vorrang vor der Sprache, kehrt sich dieses Verhältnis später um.147 Nun nähern Sprache – vor Vgl. Heidegger, M.: Platon: Sophistes [1924/25]. Gesamtausgabe Bd. 19. Frank furt/M. 1992, S. 11f. 143 Ebenda, S. 198. 144 Ebenda, S. 199. 145 Vgl. ebenda, S. 212. 146 Ebenda, S. 219. 147 Vgl. Niehues-Pröbsting, H.: »Ein erstes Stück rechtverstandener Logik«. In: Kop perschmidt, J. (Hrsg.): Heidegger über Rhetorik. Tübingen 2009, S. 155–178, hier S. 168. 142
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allem die philosophische Sprache, wie Heidegger sie betreibt – und Dichtung sich einander an. Heideggers Texte zu lesen verlangt, deren poetische Struktur – ihre Bildlichkeit – ernstzunehmen, auch und gerade, wenn er über Bilder spricht. Nicht nur ist Heideggers Sprechen über Sprache mitunter bildlich – »Sprache ist das Haus des Seins« –, vor allem seine Spätphilosophie entwirft ein Bild »der« abendländi schen Philosophie. Seine einseitige Sicht auf Platon erschwert es ihm, dessen präzise Unterscheidungen zwischen philosophischen und nichtphilosophischen Bildern zu nutzen. Philosophische Bilder zeich nen sich dadurch aus, daß sie mehr sind als bloße Bilder: Sie weisen in ihrer Form auf ihre Bildlichkeit – auf ihre Unterschiedenheit von Abbildern und auf ihre Natur als Bilder – hin. Deshalb ist der Ort der Reflexion auf Bilder für Platon weniger das künstlerische Artefakt als die philosophische Rede über künstlerische oder andere Bilder im Medium des Textes, der sich als inszeniertes Bild lebendiger Rede präsentiert. In Frage steht mithin nicht nur, ob Philosophen sich Bilder machen; entscheidend ist, welche Bilder sie sich machen und ob diese Bilder ihre Bildlichkeit reflexiv bezeugen. Ohne Bild käme es jeden falls nicht zum Heideggerschen Topos einer übergeschichtlichen Unverborgenheit, auch wenn diese Unverborgenheit in keinem Bild aufscheint, das im landläufigen Sinne etwas darstellt. In seinem Kunstwerk-Vortrag kommt Heidegger Platons philosophischem Bild verständnis näher als ihm lieb ist, weil er seine eigene Rede als phi losophische Transformation eines Gemäldes anlegt und von diesem unterscheidet.
6.3 Evokation des Anfangs Schapiros Kritik an Heideggers Ausführungen übersieht den poeti schen Charakter des Vortrags. Ein kunstwissenschaftlich geschulter Bildbegriff erweist sich als unvereinbar mit Heideggers Versuch einer Evokation schwebender Reflexionen als Ins-Werk-Setzen des Wahren. Abgesehen davon, daß Schapiros Kritik schon mit der Bemerkung ins Leere läuft, das Gemälde van Goghs sei für den philosophischen Gedanken Heideggers nicht notwendig, erscheinen Zweifel angebracht, ob das, was Heidegger tut, anders als unter Bezugnahme auf ein Bild sinnvoll wäre. Tatsächlich geht er auf Einzel heiten des Gemäldes kaum ein. Weder erwähnt er dessen Bildmaße
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(37,5 x 45 cm), noch scheinen ihn Malweise oder bildphänomenolo gische Details des Farbauftrags näher zu interessieren. Ebensowenig wird diskutiert, warum er dieses Bild und keine andere von van Goghs Schuhdarstellungen auswählt.148 Seine angeblich theoriefreie Beschreibung stößt sich von dem Gemälde eher ab, als daß sie diesem phänomenal viel Aufmerksamkeit schenkt. Grund dafür sei, daß erst die philosophische Beschreibung »erfahren« lasse, »was das Zeugsein des Zeuges in Wahrheit ist.«149 Schuhe zu vergegenwärtigen oder im Bild anzuschauen, verhilft demnach nicht zu philosophischer Erfahrung, wohl aber das Bemerken der Differenz zwischen ZeugDing, Bild und philosophischer Rede. So wenig wie Wahrnehmungen kommt aber ein denkendes Bemühen um das Eidos »Schuhe« im Ausgang von Wahrnehmungen dem nahe, was Kunstwerke leisten oder Philosophie erstrebt. Phänomenologie, die sich an Bewußtseins leistungen oder an Beschreibungen von Wahrnehmungen orientiert, bedarf demnach einer Revision in Richtung auf eine Philosophie, die im und durch das Beschreiben Erfahrungen ermöglicht, die den Blick auf Wahrheit als Unverborgenheit führen. Philosophische Bilder entstehen durch Verschiebungen sinnlicher Wahrnehmungen von Kunstwerken in philosophische Darstellungen. Nur in diesem Zusammenhang wird die eigentümlich schwe bende Erscheinung der Schuhe im Bildraum erwähnt: Wo diese Schuhe stünden, werde nicht deutlich, van Goghs Bildraum bleibe unbestimmt. Hörer oder Leser sollen sich ein Bild, aber nicht unbe dingt das Bild van Goghs vorstellen. Anschauungen des Originalbildes eröffnen philosophisch interessierten Lesern die Chance, Heideggers Vorgehensweise, die mit der An- und Abwesenheit des Van-GoghGemäldes arbeitet, genauer zu verstehen. Dazu müssen sie der Rheto rik des Vortrags folgen, die Abwesenheit des Bildes so ernst nehmen, daß sie dessen Anwesenheit als etwas Abwesendes herbeiführen, um auf diese Weise den Kontrast zwischen Bild und Rede bzw. Text zu erfahren. Denn dieser inszenierte Kontrast trägt wesentlich zu dem philosophischen »Bild« bei, das Heidegger sprechend und schreibend Zwar malte van Gogh mehrere Bilder von Schuhen, doch ist das von Heidegger herangezogene Referenzgemälde in seiner bestimmten Unbestimmtheit hinsichtlich der Behandlung des Bildraumes besonders markant. Van Goghs Gemälde weist durch aus Merkmale auf, die Heideggers Gedankengang inspirieren. Meyer Schapiro hat diesen Umstand in seiner Kritik ignoriert, wie Jacques Derrida herausgearbeitet hat: Die Wahrheit in der Malerei. Wien 1992, S. 364. 149 Heidegger, M.: Der Ursprung des Kunstwerks. A.a.O., S. 18. 148
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evoziert, um es als Form der Reflexion zu behandeln, die in die Unverborgenheit ruft, was weder bestimmend zu sagen noch sinnlich zu sehen ist. Aus der im Bild durchaus anzutreffenden Unbestimmtheit ent wickelt Heidegger seine »Beschreibung«, mit kräftigen Bildern und in offensichtlichem Kontrast zum Sichtbaren des Bildes. Das mythi sierende Bild einer bäuerlichen Welt wird beschworen. Assoziationen des Ursprünglichen und Geborgenen, des Naturhaften und Sich-demSchicksal-Fügenden treten plastisch hervor. Auch daß Heidegger umstandslos die Schuhe einer »Bäuerin« zuschreibt, ist ein solches fiktionalisierendes Element, dem nichts im Bild zur Grundlage dient. Bereits im Bildtitel, den Heidegger nennt, springt dieses Vorgehen ins Auge: Das Gemälde trägt den Titel »Ein Paar Schuhe« – von »Bauernschuhen«, wie Heidegger es nennt, ist keine Rede, und auch die gemalten Schuhe lassen nicht erkennen, ob sie einer Bäuerin oder einem Bauern, geschweige denn einem Stadtbewohner gehören. Bildraum und philosophischer Bedeutungsraum stehen in unüberseh barem Kontrast. Heideggers Wortfeld kombiniert die »Mühsal der Arbeits schritte« mit der »derb-gediegenen Schwere des Schuhzeugs«, der »Zähigkeit des Ganges durch die weithin gestreckten und immer glei chen Furchen des Ackers«, der »Einsamkeit der Feldwege«, »klagloses Bangen um die Sicherheit des Brotes«, »Beben in der Ankunft der Geburt« oder dem »Zittern in der Umdrohung des Todes«. Alles in allem sei die Bäuerin, die hier imaginiert wird, »behütet«, gehören sie und ihr Zeug doch zur »Erde«.150 Der Bäuerin, räumt Heidegger ein, sei das kaum bewußt: »[A]ll dieses sehen wir vielleicht nur dem Schuhzeug im Bilde an.«151 Die »Welt« der Bäuerin ersteht in der philosophischen Transformation des Gemäldes. Mit van Goghs Gemälde verfährt Heidegger kaum anders als mit Hölderlins oder Trakls Gedichten. Sein »Sagen« »reißt« diese in die vermeintliche Helle philosophischen Denkens. Damit lenkt er den Blick weg von Weltphänomenen und hin zu einer sprachlichen Sphäre der Bildlichkeit, an der philosophische Reflexionen Halt suchen. Aus seiner Sicht gibt es keine andere Möglichkeit, Wahrheit zu erfahren, als sich im Medium philosophischen Schreibens in eine jähe Unmit telbarkeit zu versetzen, die am besten durch künstlerische Werke 150 151
Ebenda, S. 18f. Ebenda, S. 19.
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angestoßen werden kann, weil diese den Philosophen »anderswo« hinbringen. Nur im eigenen Denken läßt ein solches Anderswo sich erfahren. »Jäh« muß es sich ereignen. Innerweltliche Zeit- und Raum bezüge stürzen in dieser »jähen« Zeitlichkeit ein. »Das Zeugsein des Zeuges wurde gefunden. Aber wie? Nicht durch eine Beschreibung und Erklärung eines wirklich vorliegenden Schuhzeugs; nicht durch einen Bericht über den Vorgang der Anfertigung von Schuhen; auch nicht durch das Beobachten einer hier und dort vorkommenden wirklichen Verwendung von Schuhzeug, sondern nur dadurch, daß wir uns vor das Gemälde van Goghs brachten. Dieses hat gesprochen. In der Nähe des Werkes sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen.«152 Weder Beschreibung noch Erklärung eines empirisch Vorkom menden also, stattdessen ein sich In-die-Nähe-Bringen, das, voll bracht von einem »Wir«, das doch Heidegger selbst ist, und das unvermittelt, augenblicklich und ohne Vorbereitung – »jäh« – in ein Anderswo versetzt. Dieses Anderswo ist nicht das Werk, das »Symbol«. Es ist gar kein Ort in der Welt, sondern bedarf der Stiftung durch den sprechenden Philosophen, der für sich in Anspruch nimmt, »das Erfahren« »gesagt« zu haben.153 Was hier dem Bild entrissen und ins Sagen gebracht worden ist, nennt Heidegger die Unverborgenheit. In ihr tritt kein konkretes Seiendes, nichts überhaupt empirisch Auf zuweisendes, weder im Bild noch außerhalb des Bildes, in die Helle des Denkens, vielmehr »das allgemeine(.) Wesen(.) der Dinge«.154 Singuläre Eröffnungen des Anderen einer Welt in der Welt lassen ihre Bedeutung – ihre »Wahrheit« – nicht daran bemessen, ob sie durch etwas belegt oder aus etwas abgeleitet sind. Maßstab ihrer Geltung ist, ob sie sich in der Erfahrung des Daseins mit seiner Welt bewähren. »Die im Werk sich eröffnende Wahrheit ist aus dem Bisherigen nie zu belegen und abzuleiten.«155 Der Wert von Kunstwerken ergibt sich aus der Differenz, die sie zu dieser Welt eröffnen, um sie im jähen Innehalten innerweltlicher Raum-Zeit-Bezüge reflexionsfähig zu machen. Das Erfahren muß gesagt werden. Gehört es zu den Eigentümlichkeiten künstlerischer »Werke«, durch ihre geschaffene Gestalt eine je singuläre – und darum prinzi 152 153 154 155
Heidegger, M.: Der Ursprung des Kunstwerks. A.a.O., S. 20. Ebenda. Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 61.
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piell wissenschaftlich unzugängliche – »Offenheit« in die jeweilige Welt zu bringen, dann kann auch Heideggers Schreiben für sich beanspruchen, ein »Werk« zu sein, das sich denen Hölderlins, Trakls oder van Goghs zur Seite stellt, ja eigentlich diesen erst zu genuinem Werk-sein verhilft. Philosophische Rede brächte den schlummernden gedanklichen Gehalt der Werke zum Erwachen. Heideggers »Sage« wird zum Vollzug absoluter Bilder des unsagbaren Absoluten. Dem entspricht, daß Heidegger in der Dichtung – in der Sprach-Kunst – die genuine Form der Kunst überhaupt erblickt: »Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung.«156 Einsamkeit und ein nur wenigen Ein geweihten zugängliches Verständlichwerden spricht Heidegger den Werken zu – und stilisiert dies zugleich zum Charakteristikum seines eigenen Schreibens. Was über die Werke im Kunstwerkvortrag gesagt wird, trifft auf Heideggers Texte ebenso zu und ist in diesem Sinne für seine Arbeitsweise aufschlußreich: »[J]e reiner das Werk selbst in die durch es selbst eröffnete Offenheit des Seienden entrückt ist, um so einfacher rückt es uns in diese Offenheit ein und so zugleich aus dem Gewöhnlichen heraus.«157 Erst dadurch werde die Entschlossenheit des Daseins, von der »Sein und Zeit« spricht, verständlich – nämlich nicht als Aufraffen eines agierenden Subjekts, sondern als Sichüber lassen an ein jeweils neu zu eröffnendes Wahrheitsgeschehen.158 Auf anderes ist ein Werk weder reduzierbar noch durch etwas erklärbar, noch definiert es sich durch kausale Wirkungsketten inner halb des Seienden. Bei seinen Bewahrern – denjenigen, die sich auf die besondere Weise, Welt zu eröffnen, einlassen – entfaltet es zwingende Kraft: Sie müssen sich zu der Differenz des Werkes verhalten. »Die aufgehende Welt bringt das noch Unentschiedene und Maßlose zum Vorschein und eröffnet so die verborgene Notwendigkeit von Maß und Entschiedenheit.«159 Bedeutungen und Orientierungsroutinen werden durchbrochen, indem Werke Bedeutungen verrücken: »Dieser Verrückung folgen, heißt: die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten, um in der im Werk geschehenden
156 157 158 159
Ebenda, S. 58. Ebenda, S. 52f. Vgl. ebenda, S. 53. Ebenda, S. 49.
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Wahrheit zu verweilen.«160 Werke nötigen zu einem orientierenden Fragen und Sichverhalten, zu einem »Wollen« oder »Sicheinlassen des existierenden Menschen in die Unverborgenheit des Seins.«161 Dasein geht über sich hinaus, weil ihm Welt in der »Lichtung« des Seienden fragwürdig und unheimlich geworden ist. Um sich selbst reflexiv zu erfassen, muß es sich einer Offenheit aussetzen. Wirklich ist diese Offenheit, insofern Werke innerweltlich Geschaffenes sind, das sich von allen Arten des sonstigen Seienden unterscheidet. Ihre Singula rität zeigt sich darin, »Anfang« zu sein, ohne Kausalität zu werden. »Immer wenn Kunst geschieht, d.h. wenn ein Anfang ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an.«162 Indem das Werk nur »in den Bereich (gehört, DR), der durch es selbst eröffnet wird«, erscheint es als absolute Differenz im Reflex des durch »es selbst« Unterschiedenen. Rein unterscheidungslogisch wäre diese Differenz nicht zu verstehen, entspringt sie doch dem je Konkreten, an dem sie zutage tritt. Aristoteles’ Unterscheidung von Stoff und Form sowie deren ursachenlogische Erweiterung durch die Unterscheidung von Bewirkendem und Telos gewinnt hier eine andere Signatur. Stoff (z.B. Silber), Form (z.B. Schale), Bewirken der (z.B. Silberschmied) und Woraufhin (z.B. Trinkgefäß) werden in einem Etwas so unterscheidbar, daß sie als Ursachen in ihm untergehen und die Reflexion auf das Bestimmenwollen – auf das Denken – sich selbst als schwebende Differenz zum in ihr und durch es Unterschiedenen auf eine Weise erfährt, daß es sich als Erfahrung philosophisch ausspricht. Denken wäre, als je konkreter Vollzug, so singulär wie sein Anlaß oder »Grund«. Es gehört »sich selbst«, jedoch auf andere Weise als der Vollzug einer selbstreferentiellen Operation wie der des Cartesianischen »Cogito«. Weil diese Reflexion nicht leer im Sinne Descartes’ sein kann, sondern Anhaltspunkte braucht, werden Singularitäten wie Kunstwerke wichtig. Einerseits gehören sie in die Welt, andererseits eröffnen sie eine absolute Differenz zur Welt, wenn sie zum Anlaß philosophischer Reflexionen werden. Die Figur eines selbstbezüglichen Verhältnisses nimmt in Heideggers Blick auf Kunstwerke eine andere Kontur an als die Figur einer zirkulären Reflexion des Denkens. Werke gehören in den Bereich, den sie selbst eröffnen, indem sie ein verständliches Etwas werden, 160 161 162
Ebenda, S. 52f. Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 63.
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dessen Verständlichkeit auf ein Dasein verweist, das sein Verhältnis zur Welt expliziert. Daß es hierbei nicht etwa um spezifische Artefakte der Kunst geht, für die van Goghs Gemälde repräsentativ wäre, macht Heidegger klar, indem er sein Van-Gogh-Beispiel um dasjenige eines griechischen Tempels erweitert. Heidegger verzichtet darauf, von einem bestimmten Tempel zu sprechen oder auf eine Abbildung zu referieren. Nur von einem »griechischen Tempel« ist die Rede. Jedermann hat eine zumindest vage Vorstellung von solchen Bauwerken. Das genügt, um zu verste hen, was sie tun – und nicht im gewöhnlichen Sinne »sind«. Der Tempel »steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales«, er »umschließt die Gestalt des Gottes« und »sammelt ... die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall« dem Menschen zur »Gestalt eines Geschickes« werden.163 Am Tempelwerk zeigt sich der Fels – der Stoff, in klassischer Terminologie – als solcher, nicht als bloßes Material. Glanz und Leuchten des Steins reflektieren die »Weite des Himmels«. Das Tempelwerk trotzt der Natur und bringt diese selbst zur Erscheinung.164 Stoff erscheint als »Erde«, die »Welt«, als Ordnung des Unterscheidbaren, trägt. Anders als die Terminologie von Stoff und Form hebt die Begrifflichkeit von Erde und Welt hervor, daß ihr Verhältnis die Situation des Daseins bestimmt. Es handelt sich weniger um kategoriale Reflexionsbegriffe als um existenziale Bezüge. Im Wechsel von der Aristotelischen Begrifflich keit in die Rede von Welt und Erde meldet sich der Anspruch auf die Überwindung der Metaphysik. »Welt« bedarf der Auslegung im Horizont geschichtlicher Verweisungen. Was ein Tempel oder eine christliche Kirche eröffnen, ist von der endlichen Unendlichkeit sinn hafter Verweisungen imprägniert, die durch das Bauwerk aufgerufen sind. Menschen bietet sich anhand solcher Werke die »Aussicht auf sich selbst«.165 Abstrakte Begriffe scheitern an der Bestimmung von »Welt«, da deren Gefüge weder mengenlogisch noch definitorisch zu bestimmen ist. »Welt ist nicht die bloße Ansammlung der vorhande nen abzählbaren oder unabzählbaren, bekannten und unbekannten Dinge. Welt ist aber auch nicht ein nur eingebildeter, zur Summe
163 164 165
Ebenda, S. 27. Ebenda. Ebenda, S. 28.
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des Vorhandenen hinzu vorgestellter Rahmen.«166 Eher handelt es sich um ein qualitatives Ganzes, in dem das Dasein seine Geschicht lichkeit, Geworfenheit und Entschlossenheit, seine Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit realisiert. »Indem eine Welt sich öffnet, bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge.«167 Beide, Welt und Erde, befinden sich in einem wesenhaften »Streit«, der ihre Komplementarität und Differenz aushält und aus trägt. Als Streit wiederum wird er sichtbar im und durch das Werk. Im Werk zeigt sich der Streit von Erde und Welt als Bildlichkeit, die Offenheit herstellt und Reflexion stimuliert. Im Bild philosophischen Sprechens erscheint eine Reflexionsfi gur, deren Bildlichkeit Erfahrung fundiert. Heideggers Poetik muß die Phänomene – das Sich-Zeigende – erzeugen, auf das »Denken« sich gründet, statt von Gegebenem seinen Ausgang zu nehmen, um es in seiner Gegebenheitsweise zu beschreiben oder zum Eidos zu ent falten. Vielleicht wäre sogar davon zu sprechen, daß Heidegger Erfah rung erschreibt statt beschreibt. Damit hängt zusammen, daß aus sei ner Sicht Erfahrung erst dann in die Nähe eines Wahrheitsgeschehens gelangt, wenn sie sich nicht anmaßt, der Welt gegenüberzustehen. Denn das hieße, sich der Illusion des Cartesianischen »Cogito« oder der Kantischen Erkenntnisauffassung anzuschließen und die Welt zum »Bild« zu machen, das ein »System« des Seienden präsentiert. Statt denkende Reflexion in Bewegung zu versetzen, erstarrt im Bild das Seiende zum System der Unterschiede und bietet sich Kalkülen der Forschung und Technik an. »Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist. Wo es zum Weltbild kommt, vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen. Das Sein des Seienden wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden.«168 Vom Bild dieses neuzeitlichen Verständnisses, das aufs engste mit der Idee wissenschaftlichen Wissens und politi schen Handelns verschwistert ist, ist philosophische Bildlichkeit zu unterscheiden. »Wahrheit«, um die es ihr geht, bleibt darum von Ebenda, S. 30. Ebenda. 168 Heidegger, M.: Die Zeit des Weltbildes (1938). In: Ders.: Holzwege. A.a.O., S. 73–110, hier S. 87f. 166 167
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Wissenschaft und Wissen verschieden. Sie bringt zum Schweben, was sich sonst als Unterschied verhärtet.
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1 Seitenblick I 1.1 No forms: Bildlichkeit 1.1.1 Seele Heideggers Terminologie von »Erde« und »Welt« reformuliert Aris totelische Grundbegriffe, die auf Unterscheidungen von Bestimm tem abzielen. Dient Aristoteles die Unterscheidung zwischen Stoff und Form einerseits als heuristische Differenz, um Verhältnisse des Bestimmtseins und der Ursache zu beschreiben, akzentuiert er ande rerseits die »Form« als das Bestimmende gegenüber dem »Stoff«. Statt als Referenzpunkt der Zuordnung von Aussagen und Eigenschaften im Sagen zu fungieren, gewinnen »Formen« höhere Qualität.1 Wird »Form« mit »Seele« in Verbindung gebracht, charakterisiert sie ein Prinzip des Lebendigen, des Wahrnehmens und Denkens.2 Vor allem ist die Seele in der Lage, nicht nur sinnliche, also von Wahrnehmungs dingen herrührende Erkenntnis zu erlangen, sondern intellektuelle, auf Allgemeines gerichtete Erkenntnis zu erreichen.3 Vernünftiges und Sinnliches werden in der Seelen-Form unterschieden. Die Seele ist Ort der Formen in deren Möglichkeit und zugleich Vermögen der Selbsterkenntnis.4 Um in die Tätigkeit des Denkens hineinzufinden, benötigt die Seele Vorstellungsbilder. Über diese bezieht das Denk vermögen sich auf materielle Dinge, ordnet diese stofflosen Formen der sinnlichen Welt jedoch urteilend im Blick auf Allgemeines.5 Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Hamburg 19913, VII. Vgl. Aristoteles: Über die Seele. Hamburg 1995, II, 2, 414a. 3 Vgl. ebenda, II, 6, 417b. 4 Vgl. ebenda, III, 4, 429a. 5 »Die Vorstellungsbilder sind nämlich wie die Wahrnehmungsobjekte, nur ohne die Materie. Die Vorstellung ist verschieden von Bejahung und Verneinung (im Urteil). Das Wahre und das Falsche ist eine Verknüpfung von Begriffen (Vernunftinhalten).« Ebenda, III, 9, 432a. 1
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Der Status des Bildlichen wird ambivalent: Einerseits rückt es in eine zentrale Position, andererseits erscheint es abgewertet. In der Philosophie des Christentums wird die Figur weiter ausgearbeitet, wie exemplarisch bei Augustinus zu sehen ist. Wahrnehmung und Gedächtnis verschaffen dem Denken Vorstellungsbilder, doch »etwas anderes schaue ich im Geist, gemäß dem mir jenes Werk gefällt und wovon her ich, wenn es mir mißfiele, Kritik übte. Wir urteilen daher über diese Dinge gemäß jener Form, und sie erkennen wir durch den Anblick unseres vernunftbegabten Geistes.«6 Nun kennt der Geist zwar solche Bilder, nicht jedoch sich selbst. Zwar ist er sich selbst gegenwärtig, aber nicht als Bild: In keinem Bild erkennt er ein Spiegel-Bild seiner selbst. Der Grund der Reflexion entzieht sich der Reflexion, doch ermöglicht gerade dieser Entzug dem Denken die Reflexion auf sich.7 In solcher Reflexivität erübrigt sich ein »Ich« als Reflexionspol. Dank und mittels der Reflexion auf den Entzug des Bildes entsteht bei Augustinus eine autoreferentielle Figur ohne »Selbst« im neuzeitlichen, vor allem im Cartesianischen Sinne. Sein bildtheoretisches Argument kommt Heideggers Bestreben entgegen, dieses Konzept des Selbst zu überwinden, ohne auf einen Begriff Gottes zurückzugreifen. Statt auf ein Fundament führt der Reflexions vollzug auf eine Leerstelle, die eine existentielle Erfahrung fundiert, ohne (Selbst)Erkenntnis zu begründen. »Also ist er (der Geist, DR) sich als ganzer gegenwärtig, und es gibt weiter nichts zu suchen; es ist nämlich nichts mehr da, was gesucht wird, nur noch der Geist ist da, der sucht.«8 Dieser Mangel bewahrt den Geist davor, sich zum Grund des Bestimmens aufzuwerfen, und hilft ihm, sich in Demut zu üben. Als urteilender Vollzug ist der Geist etwas anderes denn als Bild; er erscheint in der Differenz zu seinen Bildern. »Und nicht erkenne er sich, als ob er sich noch nicht kännte, sondern von dem, was er als anderes kennt, soll er sich wegkennen.«9 Sein des Geistes ist Selbstgegenwart ohne Bestimmtheit. Denken, wird Martin Heidegger später auf ähnliche Weise sagen, das zum An-Denken wird, gibt sich als bestimmender Grund auf und wird zur Resonanz seines Absehens vom Bestimmen der Formen des Seienden. Schickt Thomas von Aquin sich an, die christliche Philosophie im Blick auf Augustinus und Aristoteles – beziehungsweise die 6 7 8 9
Augustinus, A.: De trinitate. Hamburg 2001, IX, S. 69. Vgl. ebenda, X, S. 99f. Ebenda, X, S. 105. Vgl. ebenda, X, S. 113, 115.
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Herausforderungen eines radikalen Aristotelismus – zu ordnen, spie len intelligible Bilder wiederum eine Rolle. Statt durch Ähnlichkeit mit Materiellem erlangt der Geist demnach Erkenntnis durch intel ligible Bilder des Körperlichen. Reine intelligible Formen sind Men schenseelen wegen ihrer Inkarniertheit in den Stoff des Leibes nicht zugänglich. Engeln kommen Seelen nicht gleich. Aber die christliche Philosophie deutet, weil sie »Form« als »Seele« versteht und in die Ordnung des Geschaffenen integriert, das Ganze der Schöpfung als kontinuierliche Stufenfolge – von den Engeln über die Menschen und die Tiere bis zu den Pflanzen und zur unbelebten Natur. Alles steht mit allem in Beziehung, wenngleich nicht in gleichwertigen Relationen. Menschenseelen brauchen Bilder, um diese Relationen zu erkennen. Hingegen verfügen sie über keine Bilder vom reinen Geist. Gott ist Wirkursache der Seele, ohne ihr einzuwohnen. Von Gott gibt es folglich kein »Wissen«, weshalb alles mögliche Wissen entsprechend unvollkommen bleibt. Thomas’ Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen bezeichnet auch die Grenze des Bildlichen. Weil diese Grenze für die Konzeption der Seele, des Vernünftigen und des Erkennens ebenso zentral ist wie für die Vorstellung der Schöpfungsordnung, ist es für die Reflexion der Seele wichtig, von der unmöglichen Überschreitung dieser Grenze zu wissen – und damit zugleich die Grenze zu bestä tigen. Zu erkennen vermag die Seele Körperliches wiederum nicht aus diesem selbst heraus, sondern weil Gott sie mit eingeborenen Formen versorgt.10 Thomas wendet diesen Gedanken schöpfungslo gisch: Intelligible Bilder, durch die eine Seele denkt, werden durch ein intelligibles Prinzip verursacht. Gott, als intelligible Ursache der Formen, die das Denken in sich antrifft, flößt solche Bilder der Seele aber nicht direkt ein. Vielmehr muß die Seele sich Bilder über den Weg der Wahrnehmung von Körperlichem verschaffen, so daß die Reflexion des Weges der Bilder auf die Differenz zu Gott als erster Ursache verweist.11 Wissen gründet in und verweist auf Glauben: auf Gott. Denken erscheint in diesem Lichte als Tätigkeit einer Seele, die von Bildern abhängig bleibt, ohne mit ihnen zusammenzufallen. Sie gewährleisten den Bezug zu Materiellem und deuten zugleich auf eine 10 Vgl. Thomas von Aquin: Fünf Fragen über die intellektuelle Erkenntnis. Hamburg 1977, S. 9f. 11 Vgl. ebenda, S. 16f.
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Ordnung hin, die nicht aus der Form der Bilder abzuleiten ist. Dieser Bezug auf ein Nicht-Bildliches im Bild führt zu einer Unterscheidung, welche die Stoff-Form-Differenz in eine schöpfungsontologische Dif ferenz zwischen Gott und Welt verwandelt. Die Seele markiert die Grenze zwischen Stoff und Form, Körper und Geist, Welt und Gott: die Form des Bildlichen als einer paradoxen Differenz, die beide Seiten der Unterscheidung zugleich trennt und verbindet. Für ein Denken, das sich selbst mit der Fähigkeit des Trennens und Verbindens sowie mit der Suche nach Allgemeinem im Besonderen gleichsetzt und in der Differenz von Stoff und Form verankert, ist diese Unterscheidung eine absolute Grenze – das Denken ebenso ermöglichend wie auf ewig von seinem Gedachten, sei es dem Körperlichen, sei es der reinen Intelligibilität Gottes, trennend. Noch Kants Kritik der Urteilskraft wiederholt diese Figur, inso fern es hier um die Überbrückung der Differenz zwischen zwei Erkenntnisstämmen, Begriff und Erfahrung, und damit um die Schlie ßung des Systems der Erkenntnis zu tun ist. Thomas’ Unterscheidung der zwei Reiche von Philosophie und Theologie, Wissen und Glauben, wiederholt sich bei Kant im Anspruch der Philosophie, für den Glau ben Platz zu schaffen, indem das Wissen sich über seine Grenzen selbst belehrt.12 Was die Urteilskraft vermittelt, ist das Problem der Bildlichkeit als der verschränkten Differenz von Wahrnehmung und Denken, Intelligiblem und Empirischem. In der Entfaltung dieser Differenz entspringen für Menschen »Welt« und Erfahrung. Wo Augustinus und Thomas die Aristotelische Unterscheidung zwischen Stoff und Form mit Hilfe des Begriffs der Seele schöpfungstheologisch ordnen, verlegt Kant die Differenz in die Vernunftnatur menschlichen Denkens. Geht es Augustinus und Thomas um eine Reflexionsfigur, die aus den Bildern des Körperlichen und Sinnlichen auf ein Nichtbild liches und einen absoluten Ursprung zurückverweist, behandelt Kant diese Figur unter dem Titel einer Vernunftidee. Die von Augustinus und Thomas verwendete Unterscheidungstextur wird nach Innen, auf die Seite des Bewußtseins, gespiegelt. Dort tritt sie als reine, bildlose, aber begrifflich organisierte Form auf. Welt erscheint als Produkt regelgeleiteter Bestimmungstätigkeit, die a priori, in universellen Formen des Denkens, verankert ist. An die Stelle von Kosmos und Schöpfung rückt das Gesetz. Vor ihm haben Bilder kein Eigenrecht. Vgl. Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft [1781]. In: Werke in sechs Bänden, Bd. II. Darmstadt 1983, B XXIX.
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In dieser Tradition tritt ein dominantes Interesse an der Form des Bestimmens hervor. Bildliches erhält einen zwar unverzichtbaren, aber doch abgeleiteten Status. Vorrangig ist die Bestimmung der Möglichkeit des Bestimmens und damit der Bestimmung des Ortes menschlichen Denkens in der Ordnung des Ganzen. Folglich neigen Versuche, dieser Philosophie der Form eine nicht im Bestimmen aufgehende Reflexion gegenüberzustellen, dazu, den bildlichen Cha rakter der Reflexion aufzuwerten. Meister Eckhart hat in seiner Philosophie der Seele ein radikales Konzept der Bildlichkeit entwickelt, das der Logik binären Unterschei dens von Stoff und Form entrinnen möchte und in manchen Zügen auf Heideggers Philosophie vorausweist. Eckhart sucht nach einer Alternative zum Denken der Relation. Sein Argument stützt sich auf ein Bild: das Verhältnis von Auge und Holz. Zweifellos fügt der Blick des Auges, der auf das Holz fällt, diesem weder etwas hinzu, noch nimmt er ihm etwas weg. Auge und Holz können wir unterscheiden, denn unser Auge schaut auch anderes an und bleibt Auge. Doch im aktualen Anschauen »bleiben beide, was sie sind und werden doch ... so sehr eins, daß man in Wahrheit sagen kann: Auge-Holz, und das Holz ist mein Auge.«13 Schauen wir gar Nichtmaterielles, also Geistiges an, »so könnte man in Wahrheit sagen, im aktualen Sehen bestünden das Holz und mein Auge aus einem einzigen Sein.«14 Im Bezug selbst entsteht eine Einheit, die gegenüber dem Unterschiedenen fundamental ist. Gott ist weder Wirkursache der Seele noch Vernunftidee, er ist, im strengen Sinne, die Einheit des Unterschiedenen als Bild. Bilder sind als Bilder kein Seiendes wie anderes. Sie stiften Bezüge und stellen Einheit her. Anstatt bloß zu repräsentieren, was verschieden ist, bringen sie hervor, was als Unterscheidbares eins ist. Für Meister Eckhart ist diese Einheit des Vielen das Sein, von dem her Verschiedenes unterschieden wird. Das Modell von Ganzem und Teilen scheitert an dem Gedanken eines schöpferischen Prozesses, aus dem heraus entsteht, was unterschie den und zu unterscheiden ist. Entsprechend muß die Seele sich selbst Formen geben. Sich gestaltend, wird sie, was sie ist. Meister Eckharts Theorie der Seele und des Bildes ist Heideggers Akzentuierung des Seins gegenüber dem Seienden verwandt. Bis 13 Meister Eckhart: Deutsche Predigten 48. Zitiert nach Flasch, K.: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. München 2010, S. 248. 14 Ebenda.
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zu einem gewissen Grade wertet auch Heidegger das Moment des Bildlichen durch seine starke Akzentuierung der Sprache auf. Wo in seinen Schriften die begriffliche Unterscheidungstextur dieser Tra dition hindurchschimmert, richtet sein Bestreben sich darauf, Unter scheidungen zu verschieben, umzuschreiben und das »Bild« anders zu denken, um Welt nicht zum Bild erstarren zu lassen, ohne das Denken, wie bei Augustinus, in eine Abhängigkeit von Gott zu rücken. An die Stelle apriorischer Regeln oder eines trennenden und verbinden den Denkvermögens tritt die Suche nach Worten, die Erfahrungen allererst hervorbringen. Darin bekundet sich am deutlichsten der Anspruch, aus der mittelalterlichen Tradition der »Onto-Theologie« auszuscheren. Erfahrung soll als etwas in den Blick treten, das wir machen müssen – als etwas zu Stiftendes. Kunstwerke erweisen sich dabei als hilfreich, weil an ihnen die Singularität der Konstitution von Erfahrung als einer Inszenierung von Differenz zutage tritt. Von sich aus bringen sie philosophische Einsicht nicht hervor. Sie begegnen weniger als Entitäten, die zu verstehen oder zu interpretieren wären, denn als »Risse« in der »Welt«, die ein Ordnungsgeschehen anders »fügen«. Die Rede des Philosophen entfaltet sich darum nicht im Bestimmen der Anschauungen, sondern im Verschieben dessen, was die Ordnung des Kunstwerkes freigibt, indem es im philosophischen Sagen verwandelt wird. Das Werk als Artefakt bleibt stumm. Der philosophische Akt gleicht einer Transsubstantiation des stofflich Konkreten ins Geistige. Reflexion stößt sich vom phänomenal Begeg nenden ab. Das »Sagen« des Philosophen wird auf diese Weise zu Form und Inhalt des Denkens in dessen Vollzug. Erscheinendes, Wahrnehmung und Erscheinenlassen fallen zusammen, ähnlich Auge und Holz bei Meister Eckhart.
1.1.2 Natur Logisch betrachtet, markiert in der Tradition des Form-Denkens die Seele das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte der Unterscheidung von Stoff und Form: Voraussetzung der Unterscheidung, deren Prinzip und Kraft des Zusammenhangs des Unterschiedenen. Bildlichkeit gewinnt insofern eine Schlüsselfunktion für die Tätigkeit der Seele, als sie es ist, mit deren Hilfe Sinnliches (Stoff) und Intelligibles (Form) ineinander gespiegelt werden. Soll der Begriff der »Seele« Probleme einer begrifflichen Ordnung der Vermittlung von Stoff und Form, Sinnlichem und Intelligiblem, Zeitlichem und Ewigem lösen,
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weist der Ausdruck »Bildlichkeit« auf eine Funktion hin, die weder substantiell noch begrifflich oder logisch behandelt werden darf. »Seele« und »Reflexion« erhalten in diesem Zusammenhang einen anderen Akzent. Diese Verlagerung erlaubt es, Unterscheidbares aus der Einheit eines lebendigen Prozesses heraus zu verstehen. Alfred North Whitehead bringt in seinen naturphilosophischen Überlegun gen diesen Gedanken mit der modernen Physik in Verbindung. Mit Heidegger stimmt Whitehead darin überein, Probleme der »Metaphysik« und ihrer »christlich«-theologischen Umformung philosophisch reformulieren zu wollen. Er beschreitet dazu den Weg einer naturphilosophischen Transformation und symboltheore tischen Wendung klassischer Begriffsfiguren. Das schärft den Blick für die Singularität personaler Weltoffenheit, auf die zeichenvermit telte Natur der Reflexion und auf das Ganze des Sinns, innerhalb dessen Reflexion und Unterscheidung überhaupt möglich werden. Whiteheads Kosmologie beerbt romantische Motive. Seine Refor mulierung des Seelen-Konzepts öffnet die philosophische Reflexion ebenso für naturwissenschaftliche wie für künstlerische Ordnungs formen. Darin deuten sich Alternativen zu Heideggers Modell der Reflexion an. Whiteheads Vorschlag entsubstantialisiert die Seele und macht sie zum Koinzidenzpunkt von Raum und Zeit. »Die Lehre von der dauerhaften Seele ist genau die irrelevante Antwort auf das Problem, welches uns das Leben stellt. Dieses Problem ist: Wie kann es Originalität geben?«15 Führt der Seelen-Begriff wegen seiner Nähe zu Wahrnehmung und Denken nicht von ungefähr direkt in die neuzeitliche Theorie des Subjekts und des Bewußtseins, möchte der Physiker diese Konnotation vermeiden. Denn die konstitutive Funktion der »Seele« für das Ganze des Universums läßt sich auch ohne eine Terminologie des Subjekts beschreiben, wenn wir die Funk tion ins Auge fassen, für die der Terminus »Seele« häufig steht. Statt Form und Stoff, Zeit und Raum als komplementäre Koordinaten zu begreifen, die ein Bestimmtes – ein Seiendes – beschreiben, erscheint Einzelnes als Aspekt des Ganzen, das zugleich alles »ist«, was sich begrifflich unterteilen läßt. Der Ausdruck »ist« wird zur Chiffre für einen Moment, in dem Zeit und Raum koinzidieren. »Das Geschöpf vergeht und ist unsterblich.«16
15 16
Whitehead, A.N.: Prozeß und Realität [1929]. Frankfurt/M. 19952, S. 203. Ebenda, S. 164 (Hervorhebung im Original).
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Schwebende Reflexion
Auf dem Boden der Physik und Mathematik entwirft Whitehead eine Alternative zu binären begrifflichen »Formen«, die Fragen nach alternativen Darstellungsweisen von Besonderem aufruft. Reflexionsfähige Einzelne entstehen, ebenso wie Gesellschaft und Kultur, erst im evolutionären Stadium symbolischer Ordnungen, die Zeit, Raum und Wahrnehmungen nach eigenen Regeln strukturieren. Unmittelbarkeit wird durch indirekte Relationierungen mit je eigenen Kontrasten und Verknüpfungen überformt. Für ein symbolisch organisiertes Wesen wie den Menschen ist »Wirkliches« eine symbolisch geformte Ordnung, zu der es selbst sich symbolisch in Beziehung setzt, um auf diese Weise auch einen symbolischen Bezug zu »sich« selbst zu erzeugen.17 In symbolischen Kontrasten entstehen individuelle Gestaltungen des Ganzen – des Universums wie der Kultur –, deren Identität – deren Bestimmtheit – realisierte Differenz »ist«. Nun aber müssen Symbole, die Funktionen des Bildlichen erfüllen, in ihrer jeweiligen und unterschiedlichen Weise betrachtet werden, wie sie Identität und Differenz je anders herstellen. Was Meister Eckhart generell das Bild nennt, führt im Lichte von Whiteheads Überlegungen zur Frage nach der Eigentümlichkeit von Zeichenfunktionen, deren realitätsschaffende Kraft von ihrer materiellen Existenz nicht unabhängig ist. Künstlerische Darstellungsweisen bieten andere Möglichkeiten als Wissenschaften, mit Hilfe ihrer Zeichen eigene Ordnungen von Unterscheidungen zu entfalten. Ohne auf begrifflich Allgemeines zu zielen, gehen sie von Besonderem aus. Ihr Allgemeines nimmt häufig die Gestalt einer metaphorischen Übersetzung an, eines Appells an Leser, Hörer oder Betrachter bzw. eines Kontrastes zu Gewohntem. Dabei bedienen sie sich genuin bildlicher Mittel: des Arrangements von Zeichen und Symbolen, die selbst »nichts« sind als schöpferische Unterscheidungen und Verbindungen dessen, was sie symbolisch hervorbringen. Auf diese Weise nehmen sie das klassische Problem der Seele auf und wenden es zugleich um: Bildlichkeit rückt nun in die Position der Seele, weil sie der symbolisch geformte Spiegel ist, der Unterschiedenes in ein nicht kategorial geordnetes Verhältnis wechselseitiger Hervorbringung versetzt. »Hinter« den Zeichen gibt es nichts, sowenig wie ein Denken »vor« den Zeichen.
Vgl. ebenda, S. 314ff. – Außerdem Ders.: Kulturelle Symbolisierung [1927]. Frankfurt/M. 2000.
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1.1.3 Literatur Im Feld der Sprache eröffnet vorzugsweise die Literatur Möglichkei ten, auf Grenzen begrifflicher Distinktionen zu reflektieren. Modell haft dafür steht die Erzählung. Auch philosophische Überlegungen können in die Form der Erzählung schlüpfen, um die Systematik ihrer Begriffe mit der Geschichte des Denkens und der Bewegung der Gedanken zusammenzubringen. Hegel oder Hölderlin sind dafür prominente Beispiele. Selbst Heidegger, dessen Sprach-Denken auf den ersten Blick die Erzählform scheut, stützt sich auf eine starke Erzählung, wenn er sein Denken als Überwindung der Metaphysik und die Metaphysik als Verfall europäischer Vernunft charakterisiert. Reflexionen, die an den verlorenen Anfang der Philosophie erinnern und dessen Neubeginn evozieren, dürfen aber gerade keine Literatur werden. Insofern stehen Heideggers Denk-Fugen im Kontrast zu seiner Rahmenerzählung vom Elend der Metaphysik. Ein Beispiel mag die literarische Funktion des Bildlichen vor Augen führen, die Heidegger vermeiden möchte. Es zeigt, wie die begriffliche Unter scheidungskette von Gedanke, Wort und Welt sich in einer literari schen Erzählung auflöst. Man kann das Beispiel als Komplementär stück zur philosophischen Meistererzählungen über das Werden des Geistes lesen, wie Hegel sie in der »Phänomenologie des Geistes« vorgelegt hat. Hermann Hesse schildert in seiner Erzählung »Siddharta« den Weg eines Menschen, der Schritt für Schritt aus den innerweltlichen Ordnungen von Unterschieden und Relevanzen herausfindet, um des »Ganzen« des Lebens auf nichtbegriffliche Weise innezuwerden. Siddhartas Weg ist als Folge von Gestaltungen des Lebens notwendig, ohne einer Logik im Wechsel der Phasen und Erfahrungen zu gehor chen. Am Ende seines Lebensweges spricht Siddharta zu seinem alten Gefährten Govinda, der noch immer auf der Suche nach Wissen ist: »Worte aber kann ich nicht liefern. Darum sind Lehren nichts für mich, sie haben keinen Geruch, keinen Geschmack, sie haben nichts als Worte. Vielleicht ist es dies, was dich hindert, den Frieden zu finden, vielleicht sind es die vielen Worte. Denn auch Erlösung und Tugend, auch Sansara und Nirwana sind bloße Worte, Govinda.«18 Gedankliche Unterscheidungen zeigen nichts über die Ordnung der Welt, weil diese Ordnung ein Prozeß ist, bei dem alles Einzelne das 18
Hesse, H.: Siddharta [1922]. Frankfurt/M. 1980, S. 131.
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Ganze vollzieht, aber nicht ist. Aufmerksame Reflexivität, die zu dieser Einsicht führt, streift binäre Unterscheidungen ab und läutert sich zu einer Haltung, die Negationen erübrigt. »Wissen kann man mitteilen, Weisheit nicht. (...) Ich habe einen Gedanken gefunden, Govinda, den du wieder für Scherz oder für Narrheit halten wirst, der aber mein bester Gedanke ist. Er heißt: von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr! Nämlich so: eine Wahrheit läßt sich immer nur aussprechen und in Worte hüllen, wenn sie einseitig ist. Einseitig ist alles, was mit Gedanken gedacht und mit Worten gesagt werden kann, alles einseitig, alles halb, alles entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit.«19 Einheit, Ganzheit und Gerundetsein zeigen sich dem aufmerksamen, geduldigen Betrachter in einem Stein oder in einem Fluß, in jedem »Ding«, das anzuschauen wert ist, statt es »erkennen« zu wollen. Siddhartas Weisheit führt Hermann Hesse seinen Lesern in Gestalt einer Erzählung vor Augen, nicht als »Lehre«. Die Lehrerfigur begegnet im Text als unentwegt Lernender, dem am Ende seines Weges die Worte und Gedanken ausgehen, durch die hindurch er – spät – erfaßt, daß es etwas gibt, dessen Wirklichkeit sich weder sagen noch denken läßt – und das deswegen höchste Bedeutung für das Leben hat. Siddharta ist am Ende der Erzählung geworden, wie die Erzählung ihn zeigt: die Einheit seiner unterschiedlichen Gestalten. Indem er diese Einheit erfaßt, gewinnt er eine weitere Gestalt, deren Vorzug darin besteht, sich an kein Seiendes mehr zu heften, alles Streben aufzugeben und gelassen zu »sein«. Anders als in Hegels »Phänomenologie des Geistes« mündet Siddhartas Weisheit nicht in absolutes Wissen, sondern in ein Sein-lassen, das nicht Wissen, sondern Haltung ist. Am Ende beschließt er sein Leben als Fährmann. Keine bestimmte Form ist, für sich genommen, wesentlich, weshalb ein Begriff des Wesens – der Form – untauglich scheint, um dem Gestaltwandel des Bestimmten reflexiv beizukommen. Wie es Zeichen und Symbole tun, bietet ein Fährmann Übergänge an. Er dient den Unterschieden, ohne sie zu meistern, indem er aufmerksam den Fluß beobachtet, dessen ewiger Wandel alle Formen enthält und trägt, ohne sie zu bewerten. Grundsätzlich wäre alles Seiende, auch ein Stein, geeignet, an ihm die Einheit aller Formen zu zeigen. Siddharta wird Lesern als eine Person vor Augen gestellt, die die Allheit der Formen – nicht: deren Allgemeinheit – in sich reflektiert. 19
Ebenda, S. 128.
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Solche Reflexion kommt einem liebevollen Spiegel – dem Lächeln des Buddha oder einem gnädigen Gott – dann am nächsten, wenn sie weder kategorial ordnet noch moralisch urteilt oder mit Gesetzen bestimmt. Ähnlich charakterisiert Whitehead am Ende seines Werkes »Prozeß und Realität« den Gedanken Gottes als Bild: »Das Bild – und es ist nur ein Bild – das Bild, anhand dessen man sich dieses tätige Wachstum der Natur Gottes am besten vorstellen kann, ist das einer zärtlichen Fürsorge, daß nichts verloren geht.«20 Erzählungen bilden eine Form, um Spiegelungen von Welt und Bewußtsein herbeizuführen, bewahren sie doch eine geschmeidige Beweglichkeit in fiktionalen Räumen und imaginären Konstellatio nen, die in Begriffen verloren geht. Literatur dient auch deshalb als Spiegel der Lesererfahrung, weil sie in der normalen Sprache und deren Verweisungsreichtum wurzelt. Mit oder durch Erzählungen blicken Leser auf etwas hin, was sich im Bestimmten allererst als Anderes des Bestimmten öffnet: ähnlich wie Hesses Darstellung von Siddhartas Blick in den Fluß, der alles zu lehren vermag. Nur gibt es in Heideggers Denk-Übungen keinen »Fluß«, auf den hin er durch begriffliche Unterscheidungen – durch Seiendes – hindurchblicken könnte. Reflexion, als höchste Intensität des Bewußt seins, verliert sowohl ihren Gegenstand wie ihren subjektiven Iden titätspol. Gelassenheit, die Siddharta lernt, erscheint bei Heidegger wegen des fehlenden »Flusses« – der Welt, der Siddharta bejahend und aufmerksam begegnet – als leere Demut gegenüber dem »Seyn«. Hesses »Siddharta« hingegen geht es sowenig um leere Demut wie Augustinus. Erst anhand von etwas – das auch etwas Fiktionales sein kann – wird das Andere eines jeden Bestimmten in den Spie gel-Blick der Reflexion geholt und erhält existentielle Bedeutung. Literarische Distanz zur Welt gelingt nicht trotz, sondern wegen ihrer Weltaufgeschlossenheit. Reine Formen werden leer – zwar mögen sie sich in ihrer Bestimmtheit auflösen, doch zeigen sie im Umkehrbild nichts, was weitere Reflexion in Gang brächte und den Prozeß des Lebens weitertriebe.
20
Whitehead, A.N.: Prozeß und Realität. A.a.O., S. 618.
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1.2 Islands In einer formativen Phase nichtgegenständlicher Kunst, wie sie vor allem in den Vereinigten Staaten, speziell im New York der 1950er und 60er Jahre in Blüte stand, spielt Agnes Martin eine eigenständige Rolle. Weder folgt sie den Gesten des Abstrakten Expressionismus, noch schließt sie sich vorbehaltlos der Farbfeldmalerei Barnett New mans, Mark Rothkos und Ad Reinhardts an oder beschreitet die Pfade eines neuen Minimalismus. Sie selbst betrachtet ihre Kunst als »klassisch«. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehe die Frage nach der Form – eine Frage, die ihre Malerei aufs engste mit der Philosophie verbindet. »My paintings«, schreibt Agnes Martin, »have neither object nor space nor line nor anything – no forms. They are light, lightness about merging, about formlessness, breaking down form. You wouldn’t think of form by the ocean. You can go in if you don’t encounter anything.«21 Behauptet Agnes Martin, »mit dem Rücken zur Welt« zu malen, heißt das nicht, daß ihre Kunst sich von der Welt abwendet. Das macht ihre Malerei für eine Poetik der Reflexion interessant und legt Vergleiche mit Heideggers Sprach-Denken nahe. In der Kunst Martins ist anschaulich fundiert, was Heidegger im Sprach-Bild zur Erfahrung bringt. Ihre Malerei setzt Bildlichkeit ins Werk, ohne einem bestimmenden Denken zu huldigen. Maximen wie »No forms!« gelten im Kontext von Darstellungen. Insofern gleichen sie paradoxen Anweisungen. Das Bild gestaltet den Imperativ »No forms!« als »Form«, die einen doppelten Bezug freigibt: auf das sehende Denken des Betrachters und auf die mögliche Sphäre dessen, worauf das Bild als Sichtbares unter Sichtbarem verweist, seien dies Gegenstände oder andere Bilder, die auch Imaginationen sein können. Weder setzen die Bilder umrissene Gedankenformen – Bedeutungen – frei, noch repräsentieren sie etwas nicht Bildliches in der Welt. Repräsentations beziehungen von Gedanken, Zeichen (Wort, Bild) und Ding werden unterbrochen – auf besonders wirksame Weise, wenn den Bildern Worte beigeordnet werden. Titel suggerieren, im Wort werde gesagt – und mithin gedacht –, was auf dem Bild zu sehen sei. Betrachter sind versucht, vom Wort her zu denken, was sie sehen. Martins Bilder verweigern diesen Bezug, indem sie ihn mitunter aufrufen. Indem sie ihn als nicht einlösbaren Bezug evozieren, vermeiden sie eine bloße 21
In: Art and Artists I, No. 7, October 1966.
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Negation. Sie weichen der Logik aus und konzentrieren sich darauf, zu zeigen. Die Relation von Bild und Wort wird dementiert, indem sie als Einladung der Synthetisierung bestehen bleibt, die doch nie in Anschauungen gelingt, sondern als konkrete Differenz wirkt. Indem sie epistemische Relationen von Gedanke, Bild/Wort und Ding blo ckieren, verleihen Martins Bilder ihnen als Reflexionsbewegungen lebendige Gestalt: Sie treten in die Funktion ein, von der Meister Eckhart als »Seele« spricht. Einem Zyklus von zwölf Bildern, die Agnes Martin 1979 im einheitlichen Format von 182,9 x 182,9 cm malt, gibt sie den Titel »The Islands (I-XII)«. Betrachtern, die vor diese Reihe treten, leuchtet auf zwölf Quadraten intensives Weiß entgegen. Sanftes Strahlen, Transparenz und Klarheit, die von jedem Bild ausgehen, scheinen sich in der Reihe der Arbeiten zu vervielfachen. Versammelt in einem Raum, entfalten sie eine magische Wirkung. Keine dieser Arbeiten konkurriert um Aufmerksamkeit, eine jede bildet ein ruhiges Zen trum in sich, nichts an ihnen drängt sich hervor, kein Detail trumpft auf. Und doch lädt jedes Bild den Blick ein, bei ihm zu verweilen und in das jeweilige Innere einer Arbeit, den eigentümlich strahlenden Raum des Sichtbaren, einzutreten. Auf dramatische Effekte wird verzichtet, auch erzählen die Bilder, nacheinander betrachtet, keine Geschichte. Vielmehr artikulieren sie einen Rhythmus. Licht, in Farbe materialisiert, wird sichtbar. Beimischungen von Gesso verleihen der Farbe einen haptischen, matten Charakter. Das Licht sickert in sie ein. Was Sehen ermöglicht, tritt sinnlich hervor, bevor das Weiß sich in das Spektrum der Farben auseinanderlegt. Nähere Betrachtungen entdecken Nuancen und Lineaturen, erkunden zarte Schattierungen im Weiß der Acrylfarbe, gehalten von feinen horizontalen Bleistiftlinien, die das Weiß in Streifen teilen. Genaueres Hinsehen zeigt in jedem Bild etwas andere gelbe, grüne oder blau-graue Tönungen des Weißen. Jedes der Bilder ist individu ell, wenngleich sie einander als Reihe ähnlich sind. Aus größerer Entfernung beinahe unsichtbar, üben Linien überraschend strukturie rende Wirkungen aus. Dem Farb-Stoff verleihen sie Ordnung und versetzen die Farbe in ein Verhältnis zu ihr selbst als changierende Oszillation von Weiß. Lineaturen sind in jedem Bild der Reihe indivi duell – entweder einfach oder in enger Parallelführung aufgebracht. Parallele Doppellinien geben Bildern ein anderes Gewicht, eine schwerer anmutende Struktur, sie unterteilen das Weiß deutlicher. Farbstreifen sind meist nicht völlig monochrom. Schleier oder Wolken
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lassen das Weiß lebendig wirken. Beimischungen von Gelb oder Grün, auch Blau oder Grau bringen die Bilder auf jeweils etwas andere Weise zum Leuchten. Schreiten Betrachter die Reihe der zwölf Bilder ab, nehmen die Bleistiftlinen einen Rhythmus auf. Mindestens eine Linie des Bildes befindet sich dabei auf derselben Höhe wie eine Linie im jeweils benachbarten Bild, so daß sie von diesem weitergeführt wird. Beinahe ist dieser Rhythmus deutlicher zu spüren als zu sehen, da in der Wahrnehmung die Farbe gegenüber der Linie dominiert. Der Blick des Betrachters beginnt nach dem Rhythmus der Linie zu suchen, vermag ihn jedoch kaum mit Gewißheit festzustellen. Weil die Bilder im Sehen oszillieren, müßten exakte Korrespondenzen durch ein äußerliches Maß – wie mit einem anzulegenden Zollstock – geprüft werden. Messen und Sehen kämen gleichwohl kaum zur Deckung. Weiß verändert sich, Linien geraten in Bewegung. Ruhe und Klarheit dominieren den Seheindruck der Bilder-Reihe schon bei der ersten Begegnung. Tritt der Betrachter dann vor ein einzelnes Bild, um es konzentriert ins Auge zu fassen, beginnt es zu pulsieren: Weiß changiert, Linien schwingen. Kurzes Blinzeln bringt die Anmutung maximaler Klarheit zurück. Zwei benachbarte Arbeiten können plötzlich überraschend unterschiedliche Schwere und Dynamik aufweisen. Versinkt die Lineatur manchmal fast ganz im Weiß, dessen Stumpfheit das Licht einsaugt, werden dadurch Schwingungen im Weiß besonders bemerkbar. Gehalten von feinen, kaum wahrnehmbaren, ins Weiße zurücksinkenden, doch den Rhyth mus des Sehens modulierenden Linien, beginnt Farbe zu tanzen. Oder der Blick des Betrachters verliert sich im Weißen, vergißt für einen Moment den Anhalt der Linien, um in einen bewegten Farbraum einzutauchen wie in eine Schneelandschaft, nach Orientierung tas tend. Steigen zarte Schatten aus dem Weißen auf, oder sind sie dem Umgebungslicht geschuldet? Wer diese Bilder im Museum anschaut, fragt sich unwillkürlich, wie sie in natürlichem Licht, beeinflußt von Wetter und Tageszeiten, agieren mögen. Vom gebrochenen Weiß der Wand bleiben alle Bilder klar unterschieden – was weniger den dezenten Rahmen zu verdanken ist als dem das Licht trinkenden Weiß. Selbst aus größerer Entfernung bewahren alle Arbeiten ihren unverwechselbaren Charakter. Linien stiften Verhältnisse zur Farbe in der Farbe, die sie zugleich als Farb-Formen mitbestimmen: Linien definieren hier nichts, zeigen weder Umrisse noch Gegenständliches; sie stimulieren Relationen, die sich in der Wahrnehmung vollziehen und im Vergleich der zwölf
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Bilder aneinander steigern. Betrachter sind aufgerufen, sich hin- und her zu bewegen, vor einzelnen Arbeiten zu verweilen, sie jeweils aus der Nähe oder im Abstand anzuschauen. Indem sie die Geschwindig keit ihrer Bewegung variieren, bemerken sie, wie Positionswechsel die Akzente in der Reihe verändern. Zarte Evidenz steht so machtvoll in der Wahrnehmung, daß der Wunsch, zu sagen, was zu sehen ist, in den Hintergrund gedrängt wird. Weder tendieren die Bilder auf Gegenständliches hin, noch versinken sie in der Tautologie ihrer wei ßen Farbigkeit oder fordern ein bestimmendes Denken des Betrach ters heraus. Im Spiel transparenter Nuancen, im subtilen Kontrast von Linie, Fläche und Farbe, in der zunächst kaum bemerkbaren Dissonanz zwischen dem Quadrat der Grundfläche und den hori zontalen Streifen entsteht Bewegung. Vibrationen werden spürbar, denen weder ein bewegtes Objekt noch ein Zeit-Raum-Kontinuum, in dem die Bewegung stattfände, zuzuordnen ist. Raum-Zeit- und Objektkoordinaten stürzen im Bild-Raum ein, der sich im Seh-Raum auflöst. Zwar gelangt die vibrierende Bewegung ins Bewußtsein, doch wird sie nicht »gedacht«, sofern Denken meint, etwas bestimmend zu fixieren. Gleichwohl entzieht die Bewegtheit sich nicht einfach ihrem Gedachtwerden wie etwas, das sich verweigert. Im Prozeß der Wahrnehmung erscheint das Bestreben, hier etwas denkend zu bestimmen, vielmehr als unzulänglich oder unangebracht. Das Bild leitet die Intention des Denkens, Vorstellungsbilder zu gewinnen, die es begrifflich fassen und kognitiv ordnen möchte, durch sich hin durch. Irritiert bemerkt die auf ein »etwas« tendierende Reflexion des Betrachters, wie das Denken sein Ziel verfehlt, ohne dieses Verfehlen als Scheitern oder als Mangel zu erfahren, da die Wahrnehmung von maximaler Intensität und Prägnanz ist. Stoff und Form streifen in intensiver Aufmerksamkeit ihre Bedeutung als unterschiedene ab. Versuche, diese Unterscheidung ins Spiel zu bringen, erweisen sich als unangemessene begriffliche Aufladung aktiver Bild-Phäno mene. Form bestimmt Stoff hier so wenig, wie Stoff Form bestimmt, obwohl es sich im Bild zweifelsfrei um etwas höchst Bestimmtes handelt, das sich gleichwohl als Form weder fixieren noch sagen läßt. Wahrnehmung und Reflexion verschränken sich miteinander in der Evidenz unscharfer Präzision, in der metaphysisch-philosophische Unterscheidungen versinken. Nichts bestimmende Aufmerksamkeit gelingt anstrengungslos im Vollzug der Wahrnehmung bildhafter Materialität, durch die Reflexion auf eine Weise in der Welt veran kert wird, die philosophischen Sprach-Fügungen schwer möglich ist.
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Agnes Martin hat von »abstrakter Erfahrung« gesprochen, um diese Phänomene zu charakterisieren. Vehement wehrt sie sich gegen den Verdacht, es ginge ihr um mystische Versenkung. »It’s not spiritual, it’s really in this life. You sort of underestimate the human being when you say that every least thing that is an abstract experience is spiritual.«22 Ebensowenig läßt sich von Meister Eckhart sagen, seine Bildtheorie sei mystisch. Was kann es heißen, Bilder hätten, wie Martin sagt, »neither object nor space nor line nor anything – no forms«, wenn sie doch offensichtlich aus feinen Lineaturen, Rastern und zarter Farbigkeit bestehen? Wozu braucht es ein Bild, wenn doch auch der Blick auf Inseln im Ozean, den der Bildtitel evoziert, Formloses zeigt? Sind mit Bleistift und Lineal gezogene Linien nicht der Inbegriff von Form in der Malerei im Kontrast zur Farbe? Arbeiten Martins, vor allem die Bilder seit den 1960er Jahren, lenken den Fokus weniger auf den Beobachter – oder ein Subjekt – zurück als auf das »Werk« als eine Oszillationsidentität hin. Martins Bilder funktionieren weder wie Fenster zur Welt noch wie Spiegel, in denen Betrachter etwas über sich selbst erfahren. Präzise, bewegte und flüchtige Form- und Lichtspiele, die sich Versuchen ihrer Beschreibung, Benennung, Kategorisierung oder Interpretation entziehen, motivieren vielleicht den Vergleich mit Inseln im Ozean. Anders als das Meer jedoch sind Bilder, wie Inseln, begrenzt, fest und ruhig. Ihre Gestalt läßt durch den Kontrast zur außerbildlichen Wirklichkeit die Ordnung dieser Wirklichkeit hervortreten. Nichtähnlichkeit konstituiert im Vergleich von Bild und Welt Ähnlichkeit in konkreten Differenzen. Bewegtheit bleibt in der Ruhe der Materialität, einer Wiederholung der Formen und stiller Farbigkeit fundiert. Überschaubar im Format, für das Martin sich in den 1960er Jahren entscheidet (182,9 x 182,9 cm), und mikrologisch genau durchgestaltet, haben diese ruhigen Bilder nichts »Erhabenes« im Sinne der Kantischen Ästhetik. Statt zu überwältigen und ein Subjekt auf sich selbst zurückzuverweisen, laden sie das Sehen ein, in ihnen auszuruhen. Betrachter finden sich in Übungen einer sinn lich basierten Reflexion verstrickt, in der weder Hierarchien noch Regeln oder Gesetz regieren und die doch – oder deswegen – von maximaler Genauigkeit bleibt. Übungen gleichen solche Reflexionen auch insofern, als Betrachter sich vor- und zurückbewegen müssen, 22 Zitiert nach Princenthal, N.: Agnes Martin. Her Life and Art. New York 2015, S. 105.
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wollen sie Details der Arbeiten und deren Gesamtwirkung auf der Leinwand wahrnehmen. Durch ihre Ruhe und Stille versetzen sie den Blick und die physische Position des Betrachters in Bewegung. Linien gleichen in der Nahsicht abenteuerlichen Exkursionen durch Farbe. Manchmal holpern sie über Unebenheiten des Bildgrundes hinweg, der die Intensität des Grafitauftrages uneinheitlich macht und sie in mehr oder weniger große Nachbarschaften zu anderen Linien bringt. Subtile Effekte ergeben sich durch unterschiedliche Farben, mit denen einander kreuzende oder parallel verlaufende Linien gezogen sind. Aus der Ferne wirkt das feine Gitter als beinahe unsichtbare Form. Licht und Farbe steigen dunstig daraus auf.
1.3 Grids Der Wiederholung von Rasterformen steht die Individualität jeder Linie gegenüber, die durch die Textur des Bildträgers oder die Mate rialität der Farbe bedingt ist und das Gemachtsein dieser Arbeiten akzentuiert. Standardisierte Formelemente korrespondieren hand werklicher Individualität. Darin gleichen die Bilder einer Schrift. Stets bleiben Dissonanzen in die Komposition eingearbeitet. Während Martin seit den 1960er Jahren ein quadratisches Bildformat verwen det, sind die Gitterstrukturen doch niemals exakt quadratisch. Ihre Formate, bemerkt Agnes Martin, »are square, but the grids never are absolutely square; they are rectangles, a little bit off the square, making a sort of contradiction, a dissonance, though I didn’t set out to do it that way. When I cover the square surface with rectangles, it lightens the weight of the square, destroys its power.«23 Aufschlußreiche Kontraste zu den »Islands« liefert eine Arbeit wie »Untitled #14« (1977): Ein graues Quadrat, unterteilt in dreiund zwanzig horizontale und vier vertikale Bleistiftlinien. Auf den ersten Blick wirkt das Bild wie ein Mauerstück, seine 120 (24 x 5) Rechtecke erinnern an Ziegelsteine, auch wenn sie nicht, wie im Verbund einer Wand, versetzt angeordnet sind. Und doch ist die Wirkung ähnlich zu den »Islands«, nur ist leuchtendes Weiß einem lichtspeichernden Grau gewichen. Beinahe noch genauer als im Falle der weißen Bilder achten Betrachter auf die Materialität der Farbflächen, so als ob sie die Feinstruktur von Mauerwerk erkennen wollten. Jedes Feld ist 23
Martin, A.: Writings/Schriften. Hrsgg. v. D. Schwarz. Winterthur 19915, S. 29.
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leicht unterschiedlich. Manchmal weist es eine gewisse Oberflächen porosität auf wie Stein. Feingliedrige Lebendigkeit macht sich im Gesamteindruck bemerkbar, kann aber auch an einzelnen Feldern beobachtet werden oder ist in Spalten und Linien der Felder zu verfolgen. Gerade die schnell zu erfassende Grundform hebt materiale Unterschiede hervor und lädt dazu ein, sie im Detail zu betrachten. Das Bild möchte »entdeckt« werden. Es lockt Betrachter durch seine überschaubare Unerschöpflichkeit. Das ist in anderer Weise der Fall als bei den »Islands«, wo die Feingliedrigkeit des Rasters durch die Offenheit und Leichtigkeit der Horizontalen ersetzt ist. Doch vergleicht man das zehnte Bild der Islands-Reihe mit »Untitled #14«, zeigen sich Ähnlichkeiten. Aus gleichem, etwas größerem Abstand betrachtet, ist die Feinstruktur der Linien kaum noch zu erkennen. Zu ahnen ist sie eher im Atmen des Lichtes. Beide Bilder wirken auf ähnliche Weise still und kontemplativ. Von der natürlichen Farbigkeit der Welt ziehen sie sich behutsam ins Weiß und Grau zurück. Um nichts muß der Blick des Betrachters kämpfen; stets bleiben die Bilder offen und einladend. Form wirkt im Bild nicht umgrenzend; weder bezeichnet sie etwas, noch drängt sie sich in den Vordergrund. Niemals rivalisieren Form und Farbe miteinander. Im Schwingen der Farbe öffnet sich die Bildfläche zum Farb- und Wahrnehmungsraum. So erweist sich Farbe als konstitutiv und wird als Form spürbar – leise, als Potenz, die in der Wahrnehmung wirklich wird, weniger als graphische Spur denn als Geschehnis des Sehens. Besitzt »Untitled #14« eine großzügige Rasterstruktur auf grauem Grund, zeigt »A Grey Stone« (1963) eine filigrane Struktur. Eine graue Fläche, begrenzt durch einen schmalen Rand, läßt ein zwei tes Quadrat auf dem Bildträger entstehen. Außer auf dem helleren grauen Farbstreifen des umlaufenden Randes ist die gesamte Fläche mit einem Raster überzogen. Eine Textur feiner Linien, wie in ein monochromes Grau eingeschrieben, gliedert die Fläche in sehr kleine Rechtecke. Aus etwas Abstand betrachtet, erscheinen die Rasterlinien wie eine Schrift, die minimale Schattierungen hervorbringt. Als gan zer ist der Raster unsichtbar. Dem Blick erschließt er sich in kleineren Zonen. Er verlangt genaues Hinsehen. Nicht überall sind die Linien der horizontalen Rechtecke gleich tief in die Farbe eingezeichnet. Der Blick des Betrachters kann nach solchen Differenzen suchen. Im ganzen wirkt das Bild monochrom, doch sind winzige Rechtecke unterschiedlich grau gefärbt: Ein dunkleres Grau ist auf das hellere Grau aufgetragen, wie es am Bildrand sichtbar ist. Das dunkle Grau
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liegt auf dem hellen meist mit einem kleinen Rand – es wirkt wie ein Bild im Bild. Nicht alle Flächen sind gleichmäßig gefärbt, einige kleine Rechtecke weisen nur eine hälftige Dunkelfärbung auf, andere gar keine. Kein Rechteck ist exakt wie das andere. Einige wenige Rechtecke haben leichte Farbränder, die durch den Bleistiftstrich aufgeworfen worden sein können, was zu einem plastischen Akzent führt. Nur aus größerer Nähe sind solche Details zu entdecken, ebenso wie subtile Oszillationen im Grau, die das Bild lebendig machen. Es reagiert auf Licht wie auf Bewegungen des Betrachters. Beweglich, verlockend, detailreich und differenziert, leicht in seiner grauen Massivität, fesselt es die Wahrnehmung. Formen, meint Agnes Martin, haben »Gewicht«. Leichtigkeit und Schwere hängen von ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander ab; sie üben Macht aus und halten einander in Balancen. Bilder wirken wie Kraftfelder. Sehen und Spüren sind verschwistert. Leichte Dissonanzen zwischen Quadrat und Rechteck, horizontalen und ver tikalen Linien versetzen Wahrnehmungen in Bewegung; statischen Bildwirkungen beugen sie vor. Exemplarisch ist das anhand der Siebdruckserie »On a Clear Day« (1973) nachvollziehbar. Eine Reihe von dreißig unterschiedlichen Raster-Formen im Format von 30,5 x 30,5 cm macht Kontraste feiner Unterschiede vergleichbar und öffnet den Blick auf die Funktion des Rasters in Agnes Martins Werk. Gehängt sind die dreißig Arbeiten in einem Block von drei über einander angeordneten Reihen von je zehn Bildern.24 Mattweißes, leicht ins Gelbliche spielendes Papier erzeugt sanfte Kontraste mit grauen Linien. Raster scheinen aus dem Papier aufzusteigen; nirgends wirkt die Lineatur hart. Werden Rechtecke durch horizontale Linien ersetzt, entstehen auffällige Effekte: Bilder wirken nun weiter, offener, nach Schrift beinahe rufend. Sehr feine Raster laden zu Einträgen ein, offenere Raster bieten ihren Gebrauchswert geradezu an. Domi nante Horizontalen mit zurückgenommenen, eng gesetzten Vertika len entfalten ornamentale graphische Wirkungen, die von üblichen Gebrauchsweisen des Rasters weiter entfernt sind. Verzicht auf Umrandungen irritiert die Gebrauchsanmutung, da sich eine offene Struktur zeigt. Struktur wird in ihren universellen Möglichkeiten sichtbar. Leichte Verlängerungen der Rechtecke in die Vertikale stören den möglichen Gebrauchswert der Form. Ein Quadrat mit geschlos 24 Ich beziehe mich auf die Retrospektive von Agnes Martins Arbeiten in der Kunst sammlung Nordrhein Westfalen (7. November 2015 bis 6. März 2016).
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sener Umrahmung, aber nur einer mittig angeordneten Vertikalen bei fünf gleichmäßig voneinander entfernten Horizontalen bietet dem Sehen wie selbstverständlich eine weniger komplexe, einfachere und intuitiv überschaubare Ordnung an als ein gleicher Raster, der mit drei Horizontalen und fünf Vertikalen vierundzwanzig Felder bildet, die, werden sie auf bestimmte Weise gefüllt, komplexe Verhältnisse zueinander annehmen können. Als Gruppe zeigen die Arbeiten eine Matrix, mit der sich vielfältige Ordnungen symbolischer Transforma tionen erzeugen lassen und die selbst bedeutungsfrei zu sein scheint. Mit jeglicher ebenen Fläche, Material und Farbe ist sie kompatibel. Zugleich steht sie in maximalem Kontrast zu natürlichen Formen. Raster entspringen menschlichem Denken. Sie idealisieren das Sehen. Leeren Raster-Formen korrespondiert eine potentielle Fülle von Einträgen, die vorzunehmen Betrachter sich improvisierend vorstel len mögen. Funktion der Form des Rasters ist ein Ordnen des Mög lichen. Vielleicht helfen Raster-Formen überhaupt dabei, Mögliches als Mögliches vorzustellen. Denn Grids verweisen auf abwesende For men und zugleich auf sich selbst als Formen, die von anderen Formen absehen, die für gewöhnlich mit ihnen einhergehen. Üblicherweise begegnen Gitter in praktischen Verwendungskontexten. Wir nehmen mit ihnen Einträge vor oder fügen anderes – Zahlen, Worte, Bilder, Skizzen – hinzu. Ordnungsformen, die nichts bezeichnen, rufen nach Formen, die bezeichnen. Indem sie zu manuellen oder mechanisierten Einträgen einladen, legen sie mehr oder weniger komplexe Zuord nungen nahe. Hand und Denken spielen im Umgang mit »grids« ineinander. Sicht- und Denkbares läßt sich durch die Transformation des Rasters analog zuordnen. Zugeordnetes wird im Schema des Git ters rekombinierbar. Dreidimensional erweitert, ergeben Grids einen mathematischen Raum kontinuierlich transformierbarer Körper. Sie spielen eine Rolle als zugleich graphische wie logische Möglichkeits bedingungen zeichenhafter Ordnungen sowie der Zuordnung von Dingen mittels des Arrangements von Zeichen.25 Unterschiedliches wird geordnet: Räume durch die Anlage von Straßen, Schienen oder Leitungen, Kommunikationswegen oder Städten; Gebäude durch das 25 Manfred Sommer versucht eine kulturgeschichtliche Anthropologie der »Bildflä che« als Durchsetzung der Rechteckform. Entsteht aber das Rechteck nicht wesentlich durch die Kombinatorik der Zeichen? Ist es womöglich eher der funktionale Raster als die reine Rechteckform, die der Intelligibilität symbolischer Welten zur Form verhilft? Vgl. Sommer, M.: Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur. Berlin 2016.
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dreidimensionale Stapeln von Rasterstrukturen; Logistik im Arrange ment von Speichern aller Art, die, was sie ansammeln, für weitere Dispositionen verfügbar halten; Planungen, durch die verschiedene Parameter miteinander kombiniert werden; Verwaltung, die sich auf Listen stützt; Gewebe wie Stoffe oder Interaktionen; schließlich unterschiedliche Technologien, die Substitutionsordnungen ins Spiel bringen, mit denen Übersetzungen von Formen ineinander vorge nommen werden.26 »On a Clear Day« führt eine semiotische Universalie des Logifi zierens von »Seiendem« mittels des Einschreibens von Signifikanten in eine Matrix vor Augen. Wie im Negativ erscheint die Ordnung der Welt als potentielle Ordnung von Schrift. In der Reihe der Bilder, die »On a Clear Day« arrangiert, verweisen Raster-Formen auf sich selbst. Im Vergleich miteinander treten sie als Formen anschaulich hervor. So gewinnen sie Bestimmtheit, ohne etwas zu bedeuten. Grids müssen, auch wenn sie logifizierende und ordnende Funktionen aus üben, gesehen werden – sie lassen sich nicht »denken«. Nisten sie sich im Denken als Schema einer Ordnungsform ein, intelligibilisieren sie das Sehen. Beispielsweise verwandeln sie natürliche Wahrneh mungsfelder in rasteranalog konstruierte Perspektivdarstellungen, die sich dem leiblichen Sehen als vermeintlich rationale Form unter schieben. Für die Malerei war diese Rasterung des Sehens folgenreich – ebenso wie die daraus resultierenden Versuche, perspektivische Bildanlagen zu überwinden. Im Gebrauch erweisen Gitter ihre hohe Funktionalität: Sie helfen, Orientierung im Raum des Mannigfaltigen zu gewinnen, Grenzen zu ziehen, Gestalten hervorzuheben oder Prioritäten zu setzen, wobei sie mittels ihrer graphischen Einteilung Einträge gleich und somit vergleichbar machen. Durch die Anordnung von Signifikanten im Raster werden Identitäten hergestellt, die sich auf mögliche Signifikate übertragen und diese auch praktisch ähn lich machen. In gewisser Weise üben Raster eine analoge Funktion 26 Für die territoriale Erschließung Nordamerikas spielen »Grids« seit den Land Ordinances eine wichtige Rolle. Mittels Grids wurden Grenzen zwischen Bundes staaten ebenso geordnet wie die Anlage von Städten oder der Zuschnitt von Grund stücken. Die Künstlichkeit dieser geometrischen Ordnungsform erschien, gerade in juristischer und wirtschaftlicher Hinsicht, als Ausdruck einer rationalen Gestaltung der amerikanischen Lebensverhältnisse im Vergleich zu den als verworren betrachte ten Verhältnissen in England. Vgl. Kaufmann, S.: Landschaft beschriften. Zur Logik des »American Grid System«. In: Ders.: Ordnungen der Landschaft. Natur und Raum technisch und symbolisch entwerfen. Würzburg 2002, S. 73–94.
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aus wie Kants Verstandesbegriffe: Sie ordnen Mannigfaltiges nach Regeln, die im Falle des Rasters jedoch nicht der Logik von Aussa gen abgeschaut sind, sondern graphischen Operationen entspringen. Exemplarisch zeigt sich ihre Macht in der Karte, mit der die Welt sich zu einem mathematisierten Zeichen-Raum verwandelt, in dem den kendes Navigieren möglich wird, wie es dem natürlichen Welterleben unmöglich wäre. Karten scheinen eine Gestalt der Vernunft selbst zu sein. Kant versteht seine »Kritik der reinen Vernunft« in diesem Sinne als »Karte«, um die Grenzen zwischen Wahrheit und Schein scharf zu ziehen.27 Aus der Form von Urteilen und Aussagen sind Grids aber kaum als transzendentale Struktur zu destillieren. Einem rechnenden Denken in Additionen und Subtraktionen, wie es seit Hobbes oder Leibniz bis zur digitalen Modellierung des Denkens gern als Modell des Verstandes fungiert, fügt die Form des Rasters sich nicht ohne weiteres, bleibt er als Form und Schema doch leer. Ebensowenig gleicht er Anschauungsformen wie Raum und Zeit. Reflexionen auf Raster-Formen brauchen mithin Bilder – Anschaulichkeit –, damit ein Denken, das unreflektiert mit Rastern operiert, seines ZeichenFundamentes innewird. Das Prinzip des Gitters wird als universelles Ordnungswerkzeug bewußt, dessen Form Beliebiges – »Seiendes« im Sinne Heideggers – zu trennen und zu verbinden vermag – solange es »Form«, also einzuschreibendes Zeichen bleibt. Raster bilden eine Matrix der Bedeutungswelt; sie schieben sich vor das natürliche Sehen, indem sie, was in ihnen erscheint, bereits in einer Anordnung zeigen, die dem natürlichen Erscheinen der Phänomene nicht ähnlich ist. Damit durchkreuzen sie natürliche Ontologien und machen die artifizielle Natur des Ordnens bewußt. Alles kann allem ähnlich gemacht werden, indem es mittels Zeichen in Raster eingetragen wird. Übernehmen Raster Ordnungsfunktionen, wird das mit ihrer Hilfe erzeugte Bild seinerseits zu einer performativen Funktion. Indem es wird, was es zeigt, präsentiert es die Ordnungs form des Rasters als nicht-natürliche Form mechanischen Anordnens. Ähnlich ist, was durch die Ordnung einander zugeordnet wird, indem es in Zeichen-Form gebracht wurde. Wie kaum eine andere Form drücken »grids« aus, was Martin Heidegger als Wesen der Technik – als »Ge-stell« – beschreibt. Wirklichkeit entfalten sie im Benutzen, nicht als transzendentale Funktion: Raster transformieren die Welt 27
Vgl. Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft. A.a.O., B 294ff.
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zum »Ge-stell«, indem sie Ordnungsleistungen »mit dem Rücken zur Welt« des natürlichen Wahrnehmens installieren. Daß Agnes Martin sich dafür entscheidet, diese Gruppe von Arbeiten auf Papier anzufertigen, mag darauf hinweisen, wie Rasterformen im Alltag zumeist begegnen – als Gebrauchsformen auf Papier. »On a Clear Day« klärt die Illusion mathematisch-logischen Sehens zur Reflexion reiner Formen, die, als ästhetisch arrangierte Zeichen-Reihe, die Leere des Prinzips solcher Ordnungen zur Erfah rung bringen. Um als reine Formen gesehen zu werden, müssen sie als empirische Formen in ein Material geschrieben worden sein. Durch ihre Anwendung in konkreten Kontexten und Materialien erscheinen »reine« Formen als Differenz, die empirische Formen vergleichbar macht und sie selbst als Resultat von Zeichenoperationen sehen läßt. Agnes Martins »grids« lassen sich als Form solcher For men betrachten, deren Universalität mit ihrer Praktikabilität einher geht.28 Reinheit der Form erscheint als andere Seite der Materialität von Form. Apriorisch ist sie nicht. In der Reflexion entsteht Form wiederum durch Oszillationen der Grenze zwischen Intelligiblem und Sinnlichem, Form und Stoff. Weil »grids« nichts bedeuten im Sinne einer Repräsentation von etwas durch anderes, laden sie zu Vergleichen ein, die, als je empirische Vollzüge, Reflexionen in Gang setzen, die zu keinem »Ergebnis« führen. Reflexionen ohne Argumente, Negationen oder Quintessenzen regen diese Bilder an. Darin werden sie Heideggers Poetik der Reflexion ähnlich und mit ihr vergleichbar, insofern Heideggers Poetik die Sprache von üblichen Wortbedeutungen entfernt und zu einer rhythmischen Ordnung entwickelt, die ein Denken des Denkens anbahnt, das weder bezeich net noch argumentiert oder schlußfolgert. Deshalb entzieht es sich tendenziell der Differenzierung in Erinnerung, Präsenz und Erwar tung. Im aktualen Vollzug evoziert es eine bewußte Präsenz, die kein Denken von »etwas« ist, weil jedes »etwas« unweigerlich in die zeitliche Erstreckung von Retention und Protention eingespannt bleibt. Betrachtungen der Arbeiten von Agnes Martin lösen ähnliche und vergleichbare – aber nicht identische – Wahrnehmungen aus. Im Raster verschwindet Gegenständliches im Modus von Bestimmt Joseph Cunningham hat darin Parallelen zwischen Agnes Martin und Ludwig Wittgenstein gesehen: Ders.: »the most simple, powerful things«. The Art of Agnes Martin. In: Art Criticism 17 (2002), No. 2, S. 6–27. – Zur kunstgeschichtlichen Funk tion des »grid« und zur Kontextualisierung der Malerei Agnes Martins vgl. Elderfield, J.: Grids. In: Artforum 10 (1972), No. 9, S. 52–59. 28
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heit. Das Wahrnehmungsbewußtsein findet sich in ein Spiel von Oszillationen verwickelt, das bemerkt, empfunden und »gedacht« werden kann, jedoch im Moment der Abwendung vom Bild erlischt, ohne erinnert werden zu können. In höchster Präsenz und formaler Bestimmtheit des Bildes vollzieht sich hier Denken als Leere – oder als Entleerung von Inhalten des Gegenstandsbewußtseins, die sich ohne Anstrengungen konkreter Negationen einstellt. »Grids« fun gieren wie Gewebe, die bedeutungsfreie Wahrnehmungen und Refle xionen in ihrem Pulsieren stabilisieren – ähnlich wie Heideggers Sprache den Text zu einer Bildlichkeit radikalisiert, die nichts bezeich net, aber Reflexionen des Denkens in Bewegung versetzt, die sich vom Etwas-Denken auf die Präsenz des Denkens umwenden. »Leere« ist es, die Agnes Martin auch für die Reflexion anstrebt: »Diese Drucke offenbaren Unschuld des Geistes. Lässt du dich auf sie ein und hältst deinen Geist so leer und ruhig wie sie es sind, und nimmst deine Gefühle wahr, so wirst du zugleich deine vollständige Reaktion auf diese Arbeit erkennen.«29 Absehen von innerweltlicher Bedeutung und Erfahrungen einer gesättigten Leere sind Wirkungen, die Martin mit ihrer Kunst anstrebt. Angeregt wird eine andere Art von geistiger Selbsterzeugung, als sie in kognitiver Selbstreferenz oder im Wissen von der Welt hervortritt. Die Form des Zeichens, des Unterscheidens von und Verweisens auf etwas, wird in der Form dieser Bilder reflexiv. Insofern ist »On a Clear Day« ein absolutes Zeichen: reine Form in der Reihe vergleichbarer Kontraste konkreter, material gebundener Zeichen.
1.4 Wort-Bild Oft tragen Agnes Martins Arbeiten Titel, die Gedanken anre gen. »White Flower« (1960), »The Islands« (1961, 1979), »Sum mer« (1964), »Grey Stone II« (1961), »Night Sea« (1963), »The Beach« (1964), »Play« (1966), »Adventure« (1967), »With my Back to the World« (1997), »Innocent Living« (1999) oder »The Sea« (2003) sind Beispiele für Titel, die sie ihren Kompositionen gibt. Vergleiche zwischen Bildwahrnehmung, Vorstellungsbildern, die durch Bildtitel evoziert werden, sowie zwischen Sprach- und 29 Martin, A.: Bemerkungen zu den Drucken On a Clear Day, 15. Oktober 1975. In: Agnes Martin. Hrsgg. v. F. Morris und T. Bell. München 2015, S. 124.
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Bildzeichen bahnen sich an. Bild und außerbildliche Welt geraten über Reflexionen des lesenden Bildbetrachters in Beziehungen. Ähnlich keiten und Verschiedenheiten treten hervor. Verweise auf Natur evo zieren eher Stimmungen, als daß sie auf referentielle Ähnlichkeiten zu solchen Naturphänomenen anspielen.30 Weder sind die »Islands« Inseln ähnlich, noch stellen sie Inseln dar. Licht, Farbe und Linie, quadratische Form, vibrierende Bewegtheit und Auflösungen von Raum-Zeit-Koordinaten im Gefühl des Sehens können jedoch Ähn lichkeiten zu flirrenden, unbegrenzten und nie fixierbaren Naturphä nomenen aufrufen, sofern die Aufmerksamkeit des Betrachters, zum Beispiel mit Hilfe von Bildtiteln, darauf gelenkt wird. In solchen Fällen werden die Bilder keineswegs verständlicher; ihre Andersheit im Verhältnis zu Naturphänomenen fällt jedoch auf, weil nun Ähnlich keiten oder Verschiedenheiten vergleichbar werden. Bilder können – wie im Falle der »Schwere« von Raster-Formen – Gefühle auslösen. Betrachter mögen versucht sein, Ähnlichkeiten herzustellen, indem sie Assoziationen folgen und Raster mit Wellen, lichtvolle Farbstreifen mit Himmelsphänomenen vergleichen, die sich beispielsweise bei »Islands« ergeben. Sie könnten sich die Frage stellen, ob sie durch Resonanzen zwischen Name und Phänomen etwas anderes oder zumindest anders sehen. Über ihre Malerei hat Martin gesagt, es ginge um »the feeling of beauty and freedom that you experience in landscape. ... My response to nature is really a response to beauty.«31 Emotionen, um die es hier zu tun ist, lassen sich grundsätzlich auch in der Natur empfinden, bleiben jedoch meistens in ihrer »abstrak ten« Form unsichtbar, da in konkrete alltägliche Erfahrungsvollzüge eingeschmolzen. Kunstwerke helfen, die Form der Gefühle durch die Differenz der Aufmerksamkeit vor dem Kunstwerk hervorzuheben. »People are not aware of their abstract emotions, which are a big part of their lives, except when they listen to music or look at art.«32 Vor Bildern werden Gefühle als konkrete Emotionen unterscheidbar, miteinander vergleichbar – und reflexiv, als besondere, allgemein, wobei ihre Unterscheidbarkeit zwar begrifflich benannt werden mag, doch niemals begrifflich ist. 30 Vgl. Alloway, L.: Formlessness breaking down form: the paintings of Agnes Mar tin. In: Studio International: International journal of modern art 185 (1973), S. 61– 63, hier S. 62. 31 Agnes Martin interviewed by Irving Sandler. In: Art Monthly, No. 169 (September 1993), S. 4. 32 Ebenda, S. 3.
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Hier gelangt ein Reflexionsprozeß ins Spiel der Formen, der sich die Differenz der Zeichen zunutze macht, ohne deshalb auf ein mögliches Verstehen des Gesehenen vorauszuweisen. Betrachtungen, die im Bild etwas nicht Bildhaftes zu erkennen bemüht sind, schei tern an abstrakten Linien-, Streifen- oder Rasterstrukturen. Im Bild existieren keine Bedeutungshierarchien einzelner Elemente, weder gibt es eine Perspektive noch einen Blickpunkt, der auf ein Zentrum hindeuten würde. Raster oder Linien sind prinzipiell unendliche Strukturen – über den Bildrand hinaus auszudehnen –, aber sie reprä sentieren nichts.33 Zwar könnten sie dabei helfen, beliebige Formen in ihren Abständen oder Größenverhältnissen einzutragen oder linear anzuordnen – Schrift- oder Zahlzeichen ebenso wie Zeichnungen von Gegenständen und genaue Maßabstände. Darin bleiben sie reine Möglichkeit einer Ordnung, ohne derartige Ordnungen selbst vor zunehmen. Als Ordnungssystem sind sie bekannt – beispielsweise auf Schreibpapier, in Rechenheften oder auf Millimeterpapier –, und doch organisieren sie bei Agnes Martin keine Informationen, Zeichenketten, keine hierarchischen, linearen oder deduktiven Bedeu tungsreihen. Farbstreifen und horizontale Linien mögen zudem auf Sehgewohnheiten von Landschaftsbildern verweisen, ohne deshalb Landschaftsbilder zu sein. Formen, die ein »Bild« zeigt, lenken das Augenmerk der Betrachter auf eine Transzendierung des Sichtbaren. In der Oszillation von Feinstrukturen – bei Nahansicht – sowie dem Verschwimmen der Lineaturen in der Materialität von Farbe und Licht – bei Fernansicht – ebenso wie im Leuchten und Schweben der Farbigkeit gelingen Erfahrungen, die keinem Telos – der sichtbaren Ordnung oder des Denkens der Wahrnehmung – zustreben. Geweckt werden Aufmerksamkeit und Gestimmtheit, nicht Bestimmungen von Gegenständlichem oder von Ideen. Titel wie »Islands« evozieren gleichwohl eine fundamentale Verbundenheit von Bild und – außerbildlicher – »Welt«. Zwar ist das Bild, als Komposition, nicht von Gegenständlichem abstrahiert; doch bleibt es bis zu einem gewissen Grade in Erleben und Gestimmtsein, Aufmerksamkeit und Emotionalität verankert, die etwas anderes herstellen als formale Ähnlichkeiten. Spricht Heidegger von »Welt« und »Erde«, nimmt er Vergleichbares in den Blick: Welt und Erde bleiben auf die Gestimmtheit eines Daseins und die Geschichtlich Vgl. Cooke, L.: ... in the classic tradition ... In: Agnes Martin. Edited by Lynne Cooke, Karen Kelly, and Barbara Schröder. New Haven, London 2011, S. 11–24.
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keit von dessen Welt bezogen. Indirekt kommt solches Bezogensein in einer Differenz zum Ausdruck, durch die unsere Aufmerksam keit verlagert, von dem Bestreben, Konkretes zu bestimmen oder Praktisches zu erreichen, abgelenkt beziehungsweise auf sich selbst zurückgeleitet wird. Erfahrungen solcher Differenzen treten kaum an beliebigem Innerweltlichen hervor; sie müssen hervorgebracht und als Unterschied unterschieden werden. Agnes Martin arbeitet an dieser Verschiebung – am »Riß« in Heideggers Terminologie. Martin charakterisiert ihre Tätigkeit als ein Ausschauhalten mit dem »Rücken zur Welt«: »Klassiker«, zu denen sie sich zählt und für die sie exemplarisch Platon nennt, »sind Leute, die mit dem Rücken zur Welt Ausschau halten.« Das Kunstwerk »stellt etwas dar, was in der Welt nicht möglich ist. Höhere Vollendung als in der Welt möglich ist«.34 Wie könnte es das leisten, stünde es nicht in kontrollierten Bezügen zur Welt? Und wie lassen sich Welt-Bezüge, die eine Malerin »mit dem Rücken zur Welt« in etwas in der Welt nicht Mögliches transformiert, kontrollieren, wenn die Bild-Form abstrakt ist? Bleibt eine Kontrolle der Relation zwischen Bild und Welt möglich, wenn dieses Verhältnis nicht über formale Ähnlichkeiten – mittels Reprä sentation – geordnet wird? In diesem Zusammenhang entfalten Bildtitel ihre Wirkung. Bild und Insel bzw. Meer miteinander zu parallelisieren, wie Agnes Martin es in ihrer zitierten Aussage tut, verweist auf die Aussichtslosigkeit, im bewegten Sichtbaren Einzelnes oder Allgemeines in einem bestimmenden Sinne erkennen zu wollen. Geometrische Grundformen erschließen offensichtlich keine Logik des Sehens oder Bedeutungen des Sichtbaren. Versuche einer Bildher meneutik laufen ins Leere. Betrachter können sich dem Verschwinden des konkret zu Erken nenden im präzise Sichtbaren überlassen. Ohne Form kein Verges sen der Form. Ohne sichtbare Ordnung kein reflexives Kreuzen der Grenze zwischen Bestimmtem und (bestimmt) Unbestimmtem. Formen zur Klärung zu bringen heißt demnach nicht, sie – etwa im Denken – als reine Bestimmtheiten zu fixieren oder in logische Verhältnisse – wie Formeln und Kalküle – zu bringen. Um gesehen zu werden, müssen sie sich in ihrer Bewegtheit, Aktivität oder Kraft zeigen, auch und weil diese Formen als stille, einfache Markierungen in einer sichtbaren Ordnung, in und durch eine spezifische Materiali Martin, A.: Der ungetrübte Geist [1973]. In: Agnes Martin. Hrsgg. von. F. Morris und T. Bell. A.a.O., S. 246–250, hier S. 247.
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tät – ein Bild – eingetragen sind. Sichtbar im erweiterten Sinne klarer Bemerkbarkeit werden Formen als Zeichen, die durch Aktivitäten ihre bloße Sichtbarkeit – ihre Natur, Replikas zu sein – überstei gen. So lassen sie durch sich hindurchschauen auf etwas, das in vagen, doch intensiven Relationen zur Welt der Erfahrung steht. Sinn lich wahrnehmbaren Defiziten der Präzision von Replika-Formen, beispielsweise den von Unebenheiten des Bildträgers beeinflußten Bleistiftlinien, kontrastiert die reine, vom Denken der gesehenen Zeichen idealisierte Form der Linie, des Rasters oder der Farbe. Vor diesem Hintergrund wirkt Agnes Martins Rekurs auf die Klassizität ihrer Kunst nicht verwunderlich: So wie die klassische griechische Philosophie auf die Ambivalenz von Erscheinung und Idee, Stoff und Form reflektiert, versetzen ihre Arbeiten diese Verhältnisse anhand von Bild-Zeichen in Bewegung.35 Sie reflektieren auf Zusammen hänge zwischen Wahrnehmung und Sehen, die erst sieht, wer nichts Bestimmtes in der Welt Vorkommendes zu sehen versucht. Ohne sich auf jeweils eine Seite dieser Unterscheidung – Stoff oder Form, Farbe oder Linie – zu schlagen, wird deren Spiel unmittelbar verständlich: Evidenz entsteht durch Reflexion auf einen Formierungsprozeß von Formen. Diskrete Elemente unterscheidet sie weniger als daß sie Relationen und Verweisungen kontrastierend vergleicht. Kunstwerke öffnen den Blick unter anderem für Vergleiche ihrer begrifflichen Beschreibung und philosophischen Deutung. Bei Heidegger wirken Kunstwerke wie ein Hintergrund, auf den Leser oder Hörer seines Vortrags blicken, um zu sehen, was der Philosoph tut, indem er andeutet, was er nicht tut. Heideggers Texte verlangen ein phänomenologisch aufmerksames Lesen, das dem, was die Worte tun, folgt. In mancher Hinsicht gleichen sie Bildern, die betrachtet werden wollen, statt nach einer Botschaft oder Referenz außerhalb des Bild- bzw. Textraumes zu suchen. »Welt« und »Erde« als termino logische Alternative zu »Form« und »Stoff« zu behandeln, ist keine künstliche Verrätselung philosophischer Ausdrucksweisen. Eher han delt es sich um die Einladung, der Form-Stoff-Unterscheidung, wie sie sich in der Tradition antiker und christlicher Philosophie entwi ckelte, auszuweichen. Heideggers Begriffsverschiebungen erscheinen so als Versuche, eine andere Form der Reflexion zu »stiften«, die sich der aristotelisch-scholastischen Tradition einer Behandlung der »Form« entzieht. 35
Vgl. Cooke, L.: ... in the classic tradition ... A.a.O.
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Ähnliches ließe sich von Bildern Agnes Martins sagen. Deren Wahrnehmung vollzieht im Ausgang von und im Durchgang durch Materialität Oszillationen zwischen Präzisem und Vagem, reinen Denk-Formen und imperfekten Zeichen-Formen. Ihre Betrachtung mag auch Reflexionen auf die Form der Formen wecken, wie sie sich in philosophischen Texten entfalten. Dann werfen Bilder Fragen nach ihrem Bezug zu Begriffen auf, die keine Bezeichnungen sind wie »Islands« oder »Grey Stone«. Die eigentümliche Klarheit sinnlich verankerter Reflexionen entsteht im Bewußtsein, es hier nicht mit intellektueller Erkenntnis von Formen zu tun zu haben, sondern mit Wahrnehmungen, die mit Formen imprägniert sind. Aus logischer Sicht paradoxerweise, sind solche Formen nicht als reine Formen zu »denken«. In diesem Sinne bilden Martins Werke einen Kontrast zur philosophischen Tradition intellektueller Bildlichkeit, wie ihn auch Heidegger mit sprach-bildlichen Mitteln anstrebt, jedoch im Medium artifiziell ausgeformter Begrifflichkeiten bleibt. Warum sollte es für jemanden, der sein Sehen an Bildern von Agnes Martin geübt hat, unmöglich sein, schließlich auch Inseln, den Ozean oder einen Stein auf ähnliche Weise zu sehen wie Bilder? Ist es nicht das, was Sid dharta in Hesses Erzählung schließlich vermag? Sind nicht »Liebe« oder »Sommer« »etwas« in der Welt für ein Dasein höchst Reales, ohne ein »Seiendes« zu sein, das als Gegenständliches zuhanden ist? Offensichtlich handelt es sich auch nicht um Begriffe. Wie lassen sie sich »sehen«, wenn nicht »mit dem Rücken zur Welt«, wo sie doch als Entitäten unfaßbar bleiben und sich einem reinen, bloß abstrak ten Denken nicht erschließen, da sie ohne Erfahrung nicht wirklich wären? Philosophischen Reflexionen auf den Zusammenhang von Form, Wahrnehmung und Denken, Kunstwerk, Erde und Welt käme das entgegen. Bietet, in letzter Konsequenz dieses Gedankens, nicht alles in der Welt Begegnende geeignete Anlässe, von der Welt abzu sehen – ihr, in den Worten Agnes Martins, den Rücken zu kehren, um zu malen oder, in den Worten Martin Heideggers, sie zu lichten? Wäre dann nicht das Kunstwerk der »Riß« in der Welt, der es erlaubt, dem »Seienden«, dem Zeug der Schuhe oder dem Ozean mit seinen Inseln, und dann wieder dem Bild den Rücken zu kehren, weil die Bildlichkeit des Bildes, seine Funktion in Wahrnehmung und Reflexion, nicht mit dem Bild als Werk identisch ist?36 So verstandene Bildlichkeit wäre Es liegt nahe, hier Zusammenhänge mit Agnes Martins Interesse am Denken des Zen-Buddhismus zu vermuten, mit dem sie in den 1950er Jahren bekannt wurde. Vgl.
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so wenig persönlicher Ausdruck eines künstlerischen Subjekts, wie sie auf zeitgenössische Fragen reagiert oder gar »kritisch« Einfluß zu nehmen sucht.37 Ihre Formen sind »rein«, indem sie Kontraste zur »Welt« kultivieren und damit auf spezifische Art »Welt« sichtbar machen. Heideggers »Kehre« ähnelt der Grundhaltung Agnes Mar tins. Schönheit, schreibt Martin, »liegt im Innern. In unserem Innern gibt es Erkenntnis von Vollkommenheit. Wir reagieren auf Schönheit mit Gefühlen. ... Es liegt nicht in der Rolle eines Künstlers, sich um das Leben zu sorgen, sich für die Erschaffung einer besseren Welt verantwortlich zu fühlen. ... Konzepte, Beziehungen, Kategorien, Klassifikationen, Deduktionen sind für unseren Geist, den wir für Eingebung offenhalten wollen, nur Ablenkung.«38
1.5 Intensität »Du darfst dich nicht verleiten lassen, Gedanken darzustellen«, empfiehlt Agnes Martin.39 Kunst schafft keine intellektuellen Unter scheidungstexturen, sie artikuliert »Eingebungen«. Von »Gedanken« bleiben »Eingebungen« verschieden. Wie das Betrachten von Martins Bildern spürbar macht, gewinnen sie Intensität, ohne in einem begriff lichen Sinne präzise zu sein. Klar und distinkt im Sinne Descartes’ sind sie nicht. Ihre Erfassung gelingt eher im Gefühl als in intellektueller Form. Positivität machen sie auf eine reflexionsfähige Weise wahr nehmbar, ohne negierbar zu sein. »Die Wirklichkeit ist positiv. ... Wir können die Wirklichkeit nicht abbilden oder sie konkret darstellen. Sie ist unaussprechlich.«40 Verschränkungen von Ausdruck, Wahr nehmung und Reaktion ergeben Wirklichkeit.41 Was als Intensität real wird, entzieht sich Repräsentationen; als intellektuelle Erkenntnis Katz, J.D.: Agnes Martin and the Sexuality of Abstraction. In: Agnes Martin. Hrsgg. v. Cooke, L./Kelly, K./Schröder, B. New Haven, London 2011, a.a.O. S. 170–197; außerdem Fer, B.: Wer hat Angst vor Dreiecken? In: Agnes Martin. Hrsgg. v. F. Morris und T. Bell. A.a.O, S. 172–191, hier S. 175. 37 Vgl. Liesbrock, H.: Gestalt und Leere. Agnes Martins The Islands im Josef Albers Museum. In: Agnes Martin. The Islands. Katalog zur Ausstellung im Josef Albers Museum Bottrop, 14. März bis 16. Mai 2004. Düsseldorf 2004, S. 32–41. 38 Martin, A.: Schönheit ist das Geheimnis des Lebens. In: ebenda, S. 44–49, hier S. 45f. 39 Martin, A.: Writings/Schriften. A.a.O., S. 145, auch S. 121. 40 Ebenda, S. 123. 41 Vgl. ebenda, S. 104.
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bliebe es unverständlich. Eine Haltung aufmerksamen Absehens von der »Welt« und der Hinwendung zu Formbildungen eines Bildes helfen, diese intensive Positivität in je singulären Werken erfahrbar werden zu lassen – sie wirklich zu machen. Künstlerische Arbeit gleicht einer Praxis, die schöpferisch ist, ohne Ursache einer Wirkung sein zu wollen. Gelingt sie, realisiert sich ein geistiger Prozeß. Parallelen zum Denken Heideggers fallen wiederum ins Auge. Philosophie charakterisiert Heidegger als »Vollbringen«, bei dem »etwas in die Fülle seines Wesens entfalte(t)« wird. Wesen zu »beden ken« gleicht einem Tun, das kein Handeln im Sinne des Bewirkens einer Wirkung oder ein Hervorbringen nach dem Modell von Arbeit oder Technik ist.42 »Fülle« gewinnt im Denken das zu Entfaltende durch Artikulationen. Geschieht die Artikulation bei Agnes Martin in Bildern, ist es für Martin Heidegger die Sprache, in der ein »Sagen« möglich wird, durch das Menschen ihrerseits zu ihrem Wesen finden, indem sie sich »in den Anspruch nehmen« lassen, »die Wahrheit des Seins zu sagen«.43 Bei Heidegger wird Sprache selbst bildlich. Weder um Selbstbestimmung eines auf sich reflektierenden Denkens noch um Bestimmungen eines Gegenstandes oder Sachverhaltes ist es zu tun. Mit höchster Bewußtheit soll von derartigen Bestimmungen gerade abgesehen werden, um zu aktiver Passivität zu gelangen: »Das Denken vollbringt dieses Lassen.«44 Befreit Agnes Martin die Malerei ebenso von Gegenständlichkeit wie von expressiven Gesten, bemüht Heidegger sich um die »Befreiung der Sprache aus der Gram matik in ein ursprünglicheres Wesensgefüge«.45 Reflexivität gelingt durch Erfahrung und Vollzug einer Bewegung, bei der Denken und Gedachtes auf intensivere und unmittelbarere Weise verschränkt sind als mittels begrifflicher Unterscheidung und epistemischer Evidenz eines »Cogito«. Deshalb muß Denken erlernt werden – es ist wie eine Praxis zu üben: »Damit wir erst lernen, das genannte Wesen des Denkens rein zu erfahren und das heißt zugleich zu vollziehen, müssen wir uns frei machen von der technischen Interpretation des Denkens.«46 Denken fragt nach dem Möglichen eines Wesens – danach, wie es sein kann, nicht nach der Differenz von Aktualität und Potentialität, Stoff und Form. Potentia und essentia sind keine 42 43 44 45 46
Heidegger, M.: Über den Humanismus [1946]. Frankfurt/M. 19818, S. 5. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 6. Ebenda.
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brauchbaren Gegensätze für Heidegger, schon gar nicht, wenn es um das Wesen des Menschen geht. Ihm ist es darum zu tun, mit Hilfe der Sprache zu »lernen, im Namenlosen zu existieren«.47 Statt zu benennen oder logisch zu ordnen, soll Sprache ihre eigene Ordnung so entfalten, daß sie im Gefüge der Worte nichts bestimmt. Im Namenlosen entfaltet – »fügt« – der Mensch seine Offenheit zur Welt im Medium des Symbolischen – der Sprache. Weil diese Offenheit stets einen Ort in der Welt hat, den sie »lichtet«, bleibt sie in einer elementaren Responsivität: Der Mensch erfindet weder noch bestimmt er kategorial – er läßt sich in Anspruch nehmen. Wo sich das Gefüge des Seienden in der »Fuge« philosophischen Sprechens »lichtet«, da ist »Welt«.48 Deshalb gelingt ein solches Weltverhältnis nie unmittelbar durch Anschauen des Erscheinenden. Philosophie ist etwas anderes als Betrachtung der Welt; sie verlangt Tätigkeit – so wie die Kunst. Auf ähnliche Weise ließe sich von Agnes Martins Bildern sagen, daß sie nicht durch bloßes Schauen auf Erscheinendes – »Islands«, beispielsweise – entstehen, sondern durch das Umwenden des Blicks im Medium der Malerei. Gemalt sind sie »mit dem Rücken zur Welt«, doch weder ohne Welt noch ohne Farbe und Bleistift. Wahrnehmung und Reflexion vollziehen eine Bewegung, die Welt, Bewußtheit und symbolische Artikulationen ineinander verschränkt. Dem wider spricht es nicht, wenn Heidegger betont, es gehe nicht um »Ausdruck eines Lebewesens« und es sei aussichtslos, die Lichtung »vom Zei chencharakter her« zu verstehen.49 Gedacht wird an ein tätig-passives Geschehenlassen, das, als höchste Intensität, weder in kognitiven Unterscheidungen noch in expressiven Gesten oder in repräsentieren den Zeichensystemen besteht. Worauf diese symbolische Tätigkeit tendiert, ist ein Entstehenlassen von etwas noch Ungedachtem – die »Ankunft des Seins«.50 Dergestalt in sein eigenes Wesen zu gelangen, nennt Heidegger »Innestehen«. Über Freiheit, Ethik oder Politik, die den Menschen charakterisieren sollen, ist damit noch nichts gesagt. Menschen finden sich in die Welt geworfen und geschickt – ohne zu wissen, wie sie die sem Geschick zu entsprechen vermögen. Abstrakte Freiheitsbegriffe 47 48 49 50
Ebenda, S. 10. Vgl. ebenda, S. 17. Ebenda, S. 18. Ebenda.
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geben darauf keine Antworten. Ohne »Lichtung« jedoch könnte kein Verhältnis entstehen, das den Menschen zu sich und zur Welt in offene Bezüge bringt. Ek-sistenz muß sich allererst »versammeln« zu einer Art »Ortschaft der Wahrheit«, damit der Mensch »sorgend übernimmt«, worein er geschickt ist.51 In der Achtsamkeit auf solche Offenheit erscheint alles Seiende in Dimensionen und Hinsichten, die auf Raumzeitliches nicht zu reduzieren sind. Besser wäre von einer Geschichtlichkeit des Dimensionalen zu sprechen. Offensichtlich ist Geschichtliches mehr und anderes als raumzeitliches Vergehen – es nimmt Menschen in Anspruch und fordert deren Sich-Entwerfen auf ein Leben hin.
2 Seitenblick II 2.1 Orte Der Wille des Menschen, seine Geschichte rational zu formen, seine Anmaßung, Wahrheit und Macht als Willen zur Herrschaft in eins zu setzen, erscheint Heidegger als Kehrseite dessen, was er als »Heimat losigkeit« des modernen Menschen versteht. »Die Heimatlosigkeit ist ein Weltschicksal.«52 Denken, das sich aus der Geschichtlichkeit herauszuwinden meint, indem es sich selbst begründet und in for malen Strukturen verankert, sich der Welt gegenüberstellt, um sie erkennend zu ordnen, moralisch zu bewerten und technisch zu kon trollieren, verliert seinen Ort und seine Verankerung. Klarer als andere habe Marx die Tragik des modernen Menschen gesehen, indem er dessen Heimatlosigkeit als »Entfremdung« beschrieb.53 Aber die Einsicht in die große Bedeutung der Arbeit, wie Marx sie von Hegel übernimmt, begreift die Welt als etwas, in dem ein Subjekt sich verwirklicht. Wohin ein solches Denken tendiert, ist die Technik. In der Technik enthüllt sich die moderne Form der Metaphysik.54 Natur erscheint nun als Sphäre des zu Berechnenden und Auszubeu tenden. Technik wird zu einem »Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und 51 52 53 54
Ebenda, S. 23. Heidegger, M.: Über den Humanismus. A.a.O., S. 30. Vgl. ebenda. Ebenda, S. 31.
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gespeichert werden kann.«55 Im »Ge-stell« wird das Wirkliche zum bloßen »Bestand«, mit dem sich rechnen läßt.56 Statt in die Freiheit des Machens stürzt die Technik den Menschen in die Hörigkeit. Heimat gewährt sie nicht. Welche philosophische Bedeutung hat »Heimat« in einer geschichtlichen Situation, in der die Menschen noch unter den Zerstö rungen des Krieges leiden? Neuer Wohnraum mußte in den zerstörten Städten geschaffen werden. Millionen Heimatvertriebene suchten in der Bundesrepublik eine neue Zukunft. Ihre Erinnerungen an das Verlorene fanden im politischen Diskurs nicht überall Gehör. Handelt es sich bei »Heimat« um eine romantische Sehnsucht, vielleicht um eine revisionistische politische Idee, wenn nicht gar um Kitsch? Ist der Begriff »Heimat« nach 1945 desavouiert?57 Politische Instrumentali sierungen des Begriffs nehmen ihm seine philosophische Bedeutung. Im Wintersemester 1929/30 kommt Heidegger in seiner Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« auf das Heimweh zu sprechen. Novalis zitierend, stellt er einen Bezug zur Romantik her. »Die Phi losophie«, schreibt Novalis, »ist eigentlich Heimweh – Trieb überall zu Hause zu seyn.«58 Für Heidegger kommt in dieser Formulierung die Erfahrung der Endlichkeit des Menschen zum Ausdruck. Niemals festgestellt, ist der Mensch ein ständiges Unterwegssein. »Wir sind selbst dieses Unterwegs, dieser Übergang, dieses ›Weder das Eine noch das Andere‹.«59 Unterwegs zu sein bedeutet, auf etwas hin zu existieren, das doch von anderer Art ist als eine verheißene Zukunft oder Utopie. Eher handelt es sich um eine Konfrontierung mit dem Unbestimmten, einem Warten, das auf ein Angerufenwerden antwortet, dessen Anspruch unabweisbar ist. Im Menschen, der seiner Endlichkeit inne wird, erwacht der Wunsch nach Orientierung. Er sucht einen Grund, der ihm Kraft gibt, sein Leben zu führen.
Heidegger, M.: Die Frage nach der Technik [1949]. In: Ders.: Die Technik und die Kehre. Pfullingen 19856, S. 5–36, hier S. 14. 56 Ebenda, S. 23. 57 Wie facettenreich Reflexionen auf das Thema sein können, hat Siegfried Lenz in seinem Roman »Heimatmuseum« gezeigt (Hamburg 1978). 58 Novalis: Das Allgemeine Brouillon [1798/99], Nr. 857. In: Ders.: Werke, Tagebü cher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Das philosophisch-theoretische Werk. Darmstadt 1999, S. 675 (Hervorhebung im Original). 59 Heidegger, M.: Die Grundbegriffe der Metaphysik [1929/30]. Gesamtausgabe Bd. 29/30. Frankfurt/M. 19922, S. 8. 55
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In seinem Vortrag über »Bauen Wohnen Denken« greift Heidegger diese Thematik wieder auf, indem er sie in den Zusammen hang von Heimatlosigkeit und Wohnen rückt. Der Text schlägt eine Brücke zwischen Motiven aus »Sein und Zeit« sowie Überlegungen zum Sein. Werkbiographisch zeigt er eine Kontinuität in wichtigen Topoi von Heideggers Reflexionen. Auch die Seyns-Philosophie bleibt auf die Frage nach dem Menschen und dessen Endlichkeit bezogen. Ohne die bedrückende Situation des Wohnungsmangels zu trivialisieren oder die Notwendigkeit technischer Mittel zu bestreiten, um mit ihr fertigzuwerden, zielt Heideggers Gedanke auf den grund sätzlichen Charakter des Bauens und Wohnens als Weisen, in denen Menschen zur Welt sind. Wohnen nur als dauerhaften Aufenthalt an einem Platz zu verstehen, würde die Bedeutung des Wohnens verfeh len. Wer sich lediglich in einem Raum aufhält, macht diesen nicht zu einer Heimat, die sein Zur-Welt-Sein stützt, geschichtlich umwebt und dimensioniert. Keineswegs diskreditiert Heidegger damit die Leistung, nach dem Krieg bald Wohnraum geschaffen zu haben. Ihm geht es nicht primär um Architekturkritik, wenngleich die rücksichts lose Planungsmentalität vieler moderner Bauprojekte im Lichte dieser Überlegungen ins Auge springt. Worum es geht, sind Möglichkeiten des Aufenthaltes in der Welt. Abstrakt-mathematischen Raumideen blieben sie verschlossen. Dem Cartesianischen »ich denke« stellt Heidegger ein »ich wohne« gegenüber. Menschen verhalten sich zur Welt in konkreten Dimensionen. Statt sich wie ein reines Denken in Raum-Zeit-Koordinaten zu bewegen, leben sie in einer sinnhaft geordneten Welt, die sie kultivieren.60 »Wohnen« entfaltet eine Weise, zu sein. »Bauen« bringt das Wohnen in bestimmte Konstella tionen, die Dimensionen des Seins-zur-Welt schaffen, in denen das Denken sich vorfindet. Wer »wohnt«, kann zum Frieden finden und ins »Freie« gelangen.61 Bauen schafft »Orte«. Plätzen im Raum, verstanden als zu vermessende Punkte in einem dreidimensionalen Kontinuum, fehlt, was »Orte« auszeichnet. Sie verleihen fundamentalen Bezügen menschlicher Existenz kon Bei aller Ähnlichkeit zu Maurice Merleau-Pontys späterer Philosophie des Leibes zielen Heideggers Überlegungen mehr auf die Verschränkung zwischen Situiertheit, Endlichkeit und Welt als eines Ganzen, das den Einzelnen in Anspruch nimmt. – Vgl. Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung [1966]. Berlin 1974, S. 123ff. 61 Heidegger, M.: Bauen Wohnen Denken [1951]. In: Gesamtausgabe Bd. 7. Vorträge und Aufsätze. Frankfurt/M. 2000, S. 145–164, hier S. 151f. 60
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krete Ausrichtungen und erschaffen ein Gefüge, das natürliche Bedin gungen mit der Endlichkeit menschlichen Lebens ins Verhältnis setzt. Erneut ist es das »Geviert«, auf das Heidegger zurückgreift. »Erde«, als lebensspendende, in geologischen und biologischen Formen gegebene Natur, »Himmel« als jahreszeitlicher Wechsel des Laufs der Gestirne, von Licht und Dunkel, Wirtlichem und Unwirtlichem, »Göttliches« als Sehnsucht der Menschen nach Heil und Suche nach Hoffnung sowie »Sterbliche« als Wesen, die im Vorlauf zum Tode existieren, werden wie Dimensionen menschlichen Lebens an »Orten« mitein ander verschränkt.62 Friedliches Bleiben im »schonenden«, nichts gewaltsam zurichtenden Einrichten in diesen Dimensionen mensch lichen Lebens hieße, so zu wohnen, daß Heimat möglich ist. Wie konkret Heidegger denkt, zeigt sich an der Zentrierung des Gevierts um »Dinge«. Von etwas aus, das jeder Reflexion vorausliegt und eigene Ansprüche an die Wahrnehmung stellt, ordnen sich WeltBezüge. »Das Wohnen ist vielmehr immer schon ein Aufenthalt bei den Dingen.«63 Ihr Wesen zeigen Dinge durch ihre jeweilige Art, zu sein. Sorgsam ist mit Dingen zu verfahren, sind sie es doch, die das menschliche Verhältnis zum »Geviert« vermitteln und einen Platz zum Ort verwandeln. »Der Ort läßt das Geviert zu und der Ort richtet das Geviert ein. (...) Das Bauen errichtet Orte, die dem Geviert eine Stätte einräumen. (...) Das Geviert zu schonen, die Erde zu retten, den Himmel zu empfangen, die Göttlichen zu erwarten, die Sterblichen zu geleiten, dieses vierfältige Schonen ist das einfache Wesen des Wohnens.«64 Exemplarisch erläutert Heidegger das Gemeinte an einer Brücke. Statt einfach zwei Ufer eines Flusses miteinander zu verbinden, Wegzeiten zu verkürzen und Reisen bequemer zu machen, läßt das Bauwerk einen Ort entstehen: Fluß und Ufer treten als solche nun hervor. Ein Ort stiftet Nachbarschaften, ordnet Bewegungen, bringt Menschen zueinander oder trennt sie. Dinghaftigkeit und Symbol kommen zusammen. Es gibt keine Bedeutung, die nachträglich den Dingen zuwüchse, sowenig es Symbole gibt, die ohne konkrete Dinge vorkämen. Erst wenn beides als verschränkt vorgestellt wird, ist der Begriff des Dinges nicht zu »dürftig«.65 »Der Ort ist nicht schon vor 62 63 64 65
Ebenda. Ebenda, S. 153. Ebenda, S. 160f. (Hervorhebung im Original). Ebenda, S. 155.
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der Brücke vorhanden. Zwar gibt es, bevor die Brücke steht, den Strom entlang viele Stellen, die durch etwas besetzt werden können. Eine unter ihnen ergibt sich als ein Ort und zwar durch die Brücke. So kommt denn die Brücke nicht erst an einen Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort. Sie ist ein Ding, versammelt das Geviert, versammelt jedoch in der Weise, daß sie dem Geviert eine Stätte verstattet. Aus dieser Stätte bestimmen sich Plätze und Wege, durch die ein Raum eingeräumt wird.«66 So wie der Philosoph das Denken in Sprach-Fugen einrichtet, »fügt« das Bauen Dinge, Orte und Räume. »Deshalb ist das Bauen, weil es Orte errichtet, ein Stiften und Fügen von Räumen.«67 Heimatlos bleibt, wem diese Zusammenhänge verschlossen sind. Architektur im engeren Sinne ist eine bestimmte Weise des »Bauens«, die »Wohnen« voraussetzt. Bauwerke können wiederum daraufhin befragt werden, inwiefern sie »Heimat« erlauben oder verhindern. Darin werden sie einem Tempel vergleichbar, von dem Heidegger in seinem Kunst werk-Vortrag spricht.
2.2 Feldkapelle Ein monolithisch wirkender Turm ragt nach und nach im Blickfeld auf. Langsam nähern sich ihm Besucher in weitem Bogen über einen Feldweg. Der Weg folgt keiner direkten Linie; eher handelt es sich um einen Umweg, der die Annäherung verlangsamt und Raum für wechselnde Perspektiven schafft, die Turm und Landschaft unter verschiedenen Aspekten zeigen. Besucher kommen zu Fuß. In der einen Richtung sind Felder und Bäume zu sehen, in der anderen land wirtschaftliche Gebäude und, von weitem, Teile eines Dorfes. Je näher Besucher dem Turm kommen, desto mehr steht das Dorf in ihrem Rücken. Begegnungen zwischen Bauwerk und Mensch verlangen Zeit und benötigen ein Gefühl des Sich-Bewegens in der Landschaft. Menschen erleben ihre relative körperliche Kleinheit vor der Weite der Landschaft und der Massivität des Bauwerks. Von verschiedenen Positionen aus erscheint es anders – sowohl was dessen Form als auch was Farbe und Hintergrund angeht. Es braucht Zeit, diese Ver schiedenheiten zu bemerken und zu betrachten. Beim Näherkommen 66 67
Ebenda, S. 156. Ebenda, S. 160.
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irritiert die scheinbar einfache Form des Turms, da sie immer wieder anders wirkt. Fügt das Bauwerk sich von weitem in die leicht wellige Voreifellandschaft, steht es schließlich markant vor einem leeren Himmel. Wer das Bauwerk umrundet, erfaßt die Ursache seiner Irri tation: Ein unregelmäßiges Fünfeck bildet den Grundriß, weshalb das Gebäude aus verschiedenen Perspektiven anders aussieht. Niemals sehen wir es in seiner Form als Ganzes. Zwölf Meter ragt das Gebilde in die Höhe – hoch genug, um die umliegende Landschaft zu prägen, niedrig genug, um sie nicht gewaltsam zu dominieren. Sanfte Boden wellen oder im Wind wogendes Korn werden durch den massiven, fensterlosen Baukörper kontrapunktiert. Zu allen Jahreszeiten nimmt er natürliche Farben umliegender Äcker, Bäume und Felder auf. Zum Wesen dieses Bauwerks gehört seine nach Tageslicht und Jahreszeit changierende Farbigkeit. Vage Erinnerungen an Wehrtürme stellen sich angesichts der trutzigen Form ein, obwohl keinerlei militärische Funktionselemente zu sehen sind. Der Größe nach vergleichbare Formen finden sich auf dem Land bei Getreidesilos, also bei Speichern für Nahrung, die zur Bewahrung des Lebens dienen. Zugang gewährt das Gebäude durch eine dreieckige Stahltür. Aus der Ferne ist diese Tür als glänzende Form zu entdecken, wenngleich sie noch nicht in ihrer Funktion einer Tür erkennbar wird. Beim Herankommen scheint sie in einem schwarzen Rahmen zu schweben. Dieser Eindruck entsteht, weil die Tür nicht fugenlos in die Wand eingepaßt ist. Von außen betrachtet, trennt ein schwarzer Schatten Stahl von Stein und betont die Dreiecksform. Vom Inneren aus zeigt der Spalt sich als eine Lichtfuge, die als helles Dreieck im Dunkel des Eingangs leuchtet. In der christlichen Ikonographie symbolisiert ein gleichseitiges Dreieck die Dreifaltigkeit Gottes. Auch steht es für das allsehende Gottesauge. Als reine geometrische Form verweist das Dreieck in seiner materialen Erscheinung auf die Komplementarität von Wahrnehmung und Idee, Sinnlichkeit und Denken. In seiner Erscheinung bezieht es beide jeweils aufeinander und verbindet sie zu konkreter Einheit. Formen, wie das Dreieck, machen die Welt in ihrer sinnlichen Mannigfaltigkeit denkbar, indem sie Vielfalt symbolisch ordnen. Zeichen, die dabei ins Spiel kommen, mögen mehrfache Bedeutungen tragen, wie im Falle des Dreiecks als einer mathema tischen Figur und eines religiösen Symbols oder einer architektoni schen Form. Über der Tür ist ein kleines Kreuz angebracht, das erst aus der Nähe zu erkennen ist. Im Sonnenlicht wirft es einen Schatten auf die Wand, der auffälliger wirkt als das zarte Metallgebilde. Neben
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der Tür wurde in den Stein eine kleine Widmungsplakette eingelassen. Rechts oben, vom Eingang aus betrachtet, ist ein kleines dunkles Einsprengsel in der helleren Farbe der Wand zu sehen. Was wie eine zufällige Materialbeschaffenheit wirkt, erweist sich als symbolische Verbindung zu einem bedeutenden religiösen Bauwerk: Es handelt sich um einen Stein vom Kölner Dom. Dieser Verweis ruft beim Betrachter Ähnlichkeiten und Kontraste ins Bewußtsein: Gemeinsam ist beiden Bauwerken ihre religiöse Funktion. Während aber die Kathedrale mit ihren großen Fenstern das Verhältnis von Innen und Außen als Metaphysik des Lichts zelebriert, bildet die fensterlose Kapelle dazu einen maximalen Kontrast. Von außen in diesen Ort der Kontemplation zu blicken oder, umgekehrt, von innen die Umwelt zu betrachten, ist nicht möglich. Form und Funktion des Bauwerks als einer, wie das Kreuzzeichen verrät, christlichen Andachtsstätte sind offenbar keine bloße Grenze zwischen zwei Plätzen, die ein Mensch einnehmen kann und die als Unterschied von Außen und Innen zu beschreiben wären. Daß der Monolith oben eine Öffnung aufweist, ist von außen noch nicht sichtbar. Dennoch ist der erste Eindruck nicht abweisend. Eine Form, von allen anderen Formen der Umgebung verschieden, akzentuiert die Wahrnehmung der Landschaft, zeigt ihre Fremdheit jedoch auf dezente Weise, indem sie sich in das Spiel der Farben einfügt. Form erwächst aus kultivierter Natur. Statt sich wuchtig natürlichen Formen der Landschaft entgegenzustemmen, unterstreicht das Bauwerk deren Bewegtheit und Farbigkeit, das Wetter und das Licht. Sanftes Ocker strahlt im Stein vor dem Blau des Himmels und bestärkt im Kon trast Himmel und Wolken in ihrem Leuchten. Verwendete Baustoffe stammen aus der Umgebung. Proportionen wirken ungewohnt, doch harmonisch, ohne Zwecke zu verraten. Einen Sakralbau würde zunächst nicht vermuten, wer nicht von dem Projekt Peter Zumthors und seiner Beziehung zu Niklaus von Flüe, einem Schweizer Eremiten, Mystiker und Friedensstifter des fünfzehnten Jahrhunderts (1417–1487), weiß. Niklaus lebte abge legen im Obwaldnerland als Bauer, Richter und Ratsherr. Seine Verbundenheit mit Gott veranlaßt ihn, sich von seiner Familie zurück zuziehen und zwanzig Jahre lang als Eremit zu leben. Immer wieder wird er dort von Ratsuchenden besucht, zu denen auch gesellschaftlich hochstehende Personen gehören. 1481 soll er die Eidgenossen vor einem Bürgerkrieg bewahrt haben. Niklaus von Flüe ist Schutzpatron des Katholischen Landvolkes. Das Ehepaar Hermann-Josef und Tru
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del Scheidtweiler, dem in Wachendorf der Heidehof gehört, sind durch ihre Verwurzelung in der katholischen Landvolkbewegung Anhänger des »Bruder Klaus« geworden. Aus dem Bedürfnis, für ihr gutes Leben Dankbarkeit zu bezeigen, möchten sie auf ihrem Grund eine Feldkapelle errichten, bei deren Bau sie selbst mithelfen. Weil sie den Namen in der Zeitung lesen, wenden sie sich an Peter Zumthor, der soeben den Architektur-Wettbewerb für das Kölner Diözesanmu seum »Kolumba« gewonnen hatte. Das Ehepaar Scheidtweiler konnte nicht wissen, daß Peter Zumthors Mutter ihrerseits Bruder Klaus verehrte. Bei einem Besuch auf dem Heidehof überwindet Zumthor seine anfängliche Skepsis und verspricht, sich mit dem Projekt zu beschäftigen. Nach einer Reihe von Jahren, in denen Zumthor an der Idee der Kapelle arbeitet, beginnt die Arbeit des Bauens 2005 und dauert bis 2006. Grober Kiesel aus der Voreifel wurde mit weißem Zement und rötlich gelbem Sand in einem traditionellen Bauverfahren gemischt und in horizontalen Schichten von fünfzig Zentimetern aufgetragen. Auf diese Weise konnten fünf Männer in vierundzwanzig Tagwerken allmählich den Bau in einem Rhythmus errichten, der demjenigen alltäglicher Arbeit angepaßt war. Zwei bis drei Tage braucht eine Lage Beton, um auszuhärten und die nächsthöhere Schicht zu tragen. In der Zwischenzeit fanden die Helfer Zeit, ihrem Beruf nachzugehen – während der Ernte ruhte die Arbeit am Bau. 2007 wird die Kapelle geweiht. Seine Architektur, sagt Peter Zumthor, wolle »Orte« ausloten. Natürliche Gegebenheiten, geschichtliche Hintergründe, funktionale Anforderungen und Stimmungen gilt es zu erkunden. Gemeinsam beschreiben sie eine »Situation«. Bilder anderer Gebäude und archi tektonischer Traditionen schichten sich übereinander. Werke der Literatur, der bildenden Kunst, des Theaters oder des Films mischen sich mit konstruktiven Überlegungen. Ähnlichkeiten und Verschie denheiten konturieren sich zu einer gestalterischen Raumidee. »Erst wenn ich im Geiste in den konkreten Ort einstrahlen lasse, was diesem ähnlich, verwandt oder zunächst fremd ist, entsteht dieses vielschichtige und tiefenscharfe Bild des Lokalen, das Bezüge frei legt, Kräftelinien erkennen lässt, Spannungen aufbaut; es entsteht der entwerferische Malgrund, das Netz der unterschiedlichen Wege der Annäherung an den Ort kommt zum Vorschein, was mir die Entscheidungen des Entwerfens ermöglicht. So tauche ich in den Ort meines Entwurfes ein, spüre ihm nach, und gleichzeitig blicke ich nach
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aussen, in die Welt meiner anderen Orte.«68 Handwerkliche Sorgfalt und hohe Ansprüche an Qualität verbinden Idee und Materialität zur »Präsenz der Form«, die »Schönheit« ergibt. Wenn »ein Objekt dieser Art sich in der Natur behauptet, sehe ich Schönheit. Dieses Bauwerk, Stadt, Haus oder Strasse, erscheint bewusst gesetzt. Es erzeugt einen Ort.«69 Schönheit ist mehr als ein visuell-ästhetisches Phänomen. Situative, natürliche und artifizielle Bezüge rückt sie in leiblich dimensionierte Verhältnisse. Erfahrungen gelingen an solchen Orten, werden bewußt, erinnert, lebendig. Raum entsteht, der Verhältnisse der Nähe und Ferne, des Innen und Außen schafft, verdichtet und fokussiert. Folgt der Außenraum dem Prinzip von horizontalen Schichten, ist der Innenraum in vertikaler Verschalung erstellt. Hundertzwanzig Fichtenstämme ließ Zumthor über einer Bodenplatte aus Beton in zeltartiger Anordnung errichten, die sodann mit Beton umgossen wurden. Grundform des Innenraums ist ein Tropfen – im Grundriß und im Volumen. Dieser Tropfen wiederholt sich in der Form der obe ren Öffnung, in der Verbindung von Tür und eigentlichem Andachts raum sowie in der Pfütze, die sich regelmäßig durch Wassereinfall auf dem Fußboden bildet. Um die Stämme wieder vom ausgehärteten Beton zu lösen, schwelte drei Wochen lang ein Köhlerfeuer – ein Mottfeuer –, das die Baumstämme trocknen ließ und vom Beton löste. Durch die obere Öffnung ließen die verkohlten Stämme sich entfernen. Eine Zinn-Blei-Verbindung wurde schließlich in einem Tiegel an Ort und Stelle erhitzt und in einer drei Zentimeter dicken Schicht mit einer Schöpfkelle auf dem Betonboden aufgebracht. Zum Verspannen der inneren und äußeren Verschalung war es erforderlich, Löcher durch die Stämme und die äußere Verschalung zu bohren und diese mit Metallröhren auszukleiden, um beide Verschalungen durch Stahlseile zu verbinden. Dadurch entstandene Öffnungen im Beton sollten nach dem Entfernen der Verschalung nicht verschlossen werden. Da jedoch der Wind mit solcher Stärke durch die Löcher blies, daß die entstehende Thermik nicht akzeptabel war, entschloß Peter Zumthor sich, die Löcher mit dreihundertfünfzig mundgeblasenen Glasstäben abzudichten. Sie wurden in die Röhren geschoben und weisen auf der Innenseite der Kapelle eine Tropfenform auf, die wiederum die Tropfenformen des Innenraums, der oberen Öffnung 68 69
Zumthor, P.: Architektur denken. Basel 20103, S. 41. Ebenda, S. 75.
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und der Pfütze aufnimmt. Licht wird von den Tropfen reflektiert, von denen, je nach Sonnenstand, einige geradezu glühen, während andere dunkel bleiben. Manchmal wirkt der Turmschacht wie mit Dia manten oder Wassertropfen übersät. Sonnenuntergänge tauchen die Kapelle in funkelndes Rot und Orange. Das Motiv des Kirchenfensters erhält auf diese Weise eine neue Fassung: Seine Funktion, Innenund Außenraum durch Licht zu verbinden, dessen Farbigkeit und Intensität von der Sonne abhängen, wird beibehalten, ohne narrative Funktionen in die Gestaltung des Glases aufzunehmen. Unterschiedliche Gestalten von Innen- und Außenraum – Trop fen und Fünfeck – erklären sich durch bautechnische Erfordernisse. Die Innenverschalung einer Tropfenform verlangt eine fünfeckige Außenverschalung. Als natürliche Form verweist sie zugleich auf Visionen des Niklaus von Flüe wie auch auf die Symbolik des Lebens: Tropfenförmig kommen Wasser, als Grundstoff des Lebens, aber auch Blut, Schweiß und Tränen vor, die sich im Antlitz des Gekreuzigten zeigen – und die immer wieder in der christlichen Ikonografie zitiert werden. Wie bei allen Gebäuden Peter Zumthors werden nur spitze oder stumpfe Winkel verwendet. Regen oder Schnee dringen ebenso wie Licht, Temperatur und, in Maßen, Wind in den Raum ein, doch bleiben Besucher vor direkten Unbilden des Wetters geschützt. Peter Zumthor greift mit seiner Gestaltungsidee eine Vision des Niklaus von Flüe auf, bei der Turm und Feuer vorkamen. Eine schmale Sitzbank aus Lindenholz, die zwei Personen Platz bietet, lädt Pilger zum Verweilen ein. Ein Ständer mit Votivkerzen und zwei Stunden büchern, eine rechteckige sandgefüllte Schale zum Aufstellen der Kerzen, ein auf dem Boden stehender kleiner Kerzenleuchter und eine Bronzebüste, vom Schweizer Bildhauer Hans Josephson gestaltet, bilden neben einem an der Wand angebrachten Radzeichen aus vergoldetem Messingguß die Ausstattung der Kapelle. Dieses Rad symbolisierte für Niklaus von Flüe die Verbundenheit aller Dinge mit Gott. Hans Josephsons Büste ist vor dem dunklen Stein nur aus der Nähe im Detail zu erkennen, zeigt jedoch wenig konkrete Züge und wahrt einen abstrakten Charakter. Auf diese Weise verweigert sie ein vermeintlich genaues Porträt. Eingearbeitet in die Büste ist eine Reliquie des Niklaus von Flüe. Erde, Feuer, Wasser und Licht gehen eine architektonische, kos mische und religiöse Verbindung ein, die den »Ort« hervorbringt. Er kann nicht einfach »benutzt« werden. Vielmehr erfordert er eine all mähliche Annäherung, die Zeit zur Beobachtung gewährt, Besucher
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zur Besinnung und zum Verweilen einlädt und sie mit ihren eige nen Gedanken konfrontiert. Wer eine Zeitlang allein in der Kapelle verbringt, wird von Stille und Licht umfangen. Nach dem Öffnen der Tür und wenigen Schritten durch einen zeltartigen, nach links gekurvten Gang, der für Kopf und Schulter nicht sehr viel Raum läßt, treten Besucher in die architektonische Kreisform des Tropfens ein. Überwältigend ist der erste Eindruck: Die Form des Gebäudes hat sich von außen nach innen radikal verändert, die Enge des Raumes wird durch ein Funkeln von Licht in Glastropfen sogleich konterkariert, und die vertikalen Verschalungsformen der Baumstämme reißen den Blick in die Höhe, auf den offenen Himmel zu. Himmelslicht rieselt wie perlendes Wasser die Vertikalfurchen hinab, bündelt sich in den Glastropfen und scheint sich in der Bodenpfütze zu sammeln. Der Himmel, Quelle des Lichts, lenkt, ganz natürlich, ohne notwendige religiöse Symbolik, die Wahrnehmung. Luft, Licht und, je nach Wetter, auch Wasser sorgen dafür, daß der massive Baukörper erstaunliche Offenheit und Leichtigkeit gewinnt. Besucher fühlen sich eingeladen, der Bewegungsrichtung des Tropfens zu folgen und sich zu drehen, beinahe, weil der Blick ständig zwischen Oben und Unten wandert, als ob sie zu tanzen beginnen. Die Geschlossenheit des Raums trägt zur Offenheit der Aufmerksamkeit bei. Weil das Außen im Innen verschwindet, aber dieses Verschwinden sich im Wandern der Aufmerksamkeit bemerkbar macht, können Besucher sich auf die Relation von Selbst und Welt, Innen und Außen, Sehen und Denken konzentrieren. Nicht zwingend ist dieses Ganze religiös konnotiert. So sticht auf den ersten Blick die Büste des Niklaus nicht hervor. Unaufdringlich, mit der Farbe der Wand verschmelzend, hält sie sich im Hintergrund. Nur eine kleine Bodenkerze weist leise, am Fuß der Skulptur, auf die Bedeutung dieses Artefaktes hin. Sind Votivkerzen angezündet, tau chen sie eine kleine Wandfläche, links neben der Holzbank, in sanftes Licht, dessen Atmosphäre wiederum durch nun gelbleuchtende Glas tropfen verstärkt wird. Der Ort verzichtet auf jegliche Didaktik. Von religiöser Unterweisung, gar Missionierung, kann keine Rede sein. Auch wer meint, mit der Idee Gottes nichts anfangen zu können, mag sich von der Intensität dieser Erfahrung gefangennehmen lassen: Man kommt schlecht umhin, das reflektierte Verschwinden der Außenwelt im Innenraum als Gedanken der Welt festzuhalten. Und ist Gott nicht als Gedanke der Welt in der Welt anwesend, auch wenn ihm nicht auf kirchenfromme Weise begegnet werden mag? Wer möchte,
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kann – muß aber nicht – die Kopf- und Blickbewegung von unten nach oben, die durch die Bauweise unvermeidbar wird, als religiöse Haltung deuten. Der Kopf des Besuchers neigt sich unwillkürlich nach hinten, sein Blick wandert nach oben, hin zum Licht als der Quelle allen Sehens – im Stehen und beim Sich-Umblicken ebenso wie im Sitzen im Blick auf den Himmel, auf die Bruder-Klaus-Büste oder das Andachtszeichen frontal auf der Wand vor der Sitzbank. Dennoch bleibt diese Deutung nur eine Möglichkeit oder Einladung für diejenigen, die religiöse Symbole als solche verstehen oder sehen wollen, wie bereits im Falle der dreieckigen Tür. So fällt der Blick eines auf der Bank sitzenden Besuchers von unten auf die Büste des Bruder Klaus, dessen Antlitz er nicht frontal, sondern von hinten links unten sieht – so, als ob er an ihm vorbeiblicken, ihn lediglich beim Sehen streifen würde und sich erheben und zwei Schritte gehen müßte, um ihm ins Gesicht schauen zu können als dem Mann, dessen Andenken dieses Bauwerk gewidmet ist. Zwingend ist das nicht – Bruder Klaus bleibt ein möglicher Ansatzpunkt gedanklicher Beschäftigung, ist jedoch kein notwendiges Zentrum, schon gar nicht beim visuellen Eindruck, dessen Macht die Skulptur zunächst beinahe untergehen läßt. Damit ist ein Prinzip dieses architektonisch gestalteten Ortes benannt: Wahrnehmungen der Besucher verweisen auf ein Denken des sinnlich Erfahrbaren, ohne dieses Denken in ein bestimmendes Aussagen zu überführen. Form und Funktion, die im Denken thema tisch werden – wie Grundriß und religiöse Widmung – bleiben in der Schwebe zwischen symbolischer Möglichkeit und sinnlicher Evidenz. Das Schwebende dieser Reflexion führt Betrachter in eine Oszillation der Aufmerksamkeit, die nach Form sucht, aber Form nicht als reine Form findet, sondern als ein symbolisches Verweisungsspiel, das in persönliche und kulturelle Erfahrungshorizonte eingelassen bleibt. Statt auf transzendentale Formen stößt das Denken an diesem Ort auf Sinnformen, die nur zu denken sind, wenn wir sie erzählen – wie die ser Text es versucht. Dazu wiederum paßt die Geschichte des Bruder Klaus: Religiosität, die sich in dieser Kapelle Gestalt gibt, kommt in der Welt als persönliche, existentielle Erfahrung oder Haltung vor, die erzählt werden muß, um gedacht und erinnert werden zu können. Still ist dieser Ort. Wenige Geräusche, die zu hören sind, wirken akzentuiert. Unwillkürlich lauschen Besucher dem Wind, der sich in der Turmöffnung fängt. Vogelgesang, der sich mit Windgeräuschen mischt, fängt Aufmerksamkeit. Nichts macht Lärm. Es herrscht, was
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Zumthor ein »schönes Schweigen von Bauten« nennt.70 Welt, in ihrer Umtriebigkeit, scheint für einen Moment ausgesperrt, wobei Besu cher sich keineswegs eingeschlossen vorkommen. Sie halten sich viel mehr in einem gebauten Offenen auf. Licht fällt durch die Turmöff nung oben, durch die Glastropfen an den Seiten und durch den schmalen Spalt der nicht fest abschließenden Tür. Leichtes Knistern der Votivkerzen ist manchmal als einziges Geräusch vernehmbar. Zart weht ein Duft von Bienenwachs durch den Raum. Gerade noch erreicht er den Bereich der Sitzbank. Unendlich viel Verschiedenes ist zu sehen, weil die Innenstruktur der Wand die natürliche Form der Baumstämme in ihrer Hohlform bewahrt. Größer könnte der Kontrast zu einer üblichen Mauer mit ihrem schematisch wiederholten Ver bundprinzip kaum sein. Indem diese Natürlichkeit jedem Wandab schnitt Individualität verleiht, die durch das unterschiedliche Leuch ten der Glastropfen betont wird, braucht der Blick des Betrachters auf nichts Besonderem zu verweilen. Umherwandernd, entdeckt er immer Neues, das doch niemals spektakuläre Individualität für sich beansprucht. Alles ist gleich wichtig – wie, für den, der es so betrach ten möchte, alles in der Welt für Gott gleich wichtig – oder gleich weit von Gott entfernt – ist, weil es Teil der Schöpfung ist. Etwas heraus zuheben und ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken – zum Bei spiel die Büste in der Kapelle –, bleibt Besuchern überlassen. Sie sind es, die sehen und ihre Aufmerksamkeit fokussieren – fokussieren müssen, weil sie, außerhalb der Kapelle, gar nicht alles als gleich wichtig sehen können. Diese Differenz zu »sehen«, verhilft der Eintritt in die Kapelle. Wird sie als Unterscheidung im Sehen vollzogen, ent steht ein religiöser »Ort« – aber auch »Religion« als Haltung zur oder als Betrachtungsweise von Welt.
2.3 Bauen, Malen, Denken Zumthors Bauten sollen Menschen dazu verhelfen, an diesen Orten »Aufenthalt« zu nehmen, um dort »wohnen« zu können: »Gute Architektur sollte den Menschen aufnehmen, ihn erleben und wohnen lassen, nicht ihn beschwatzen.«71 Ausdrücklich bezieht Zumthor sich mit diesem Anliegen auf Martin Heideggers Überlegungen zum 70 71
Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 33.
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Bauen, Wohnen und Denken. Die Wachendorfer Kapelle legt Verglei che mit Heideggers Gedanken zum »Tempel« in seinem KunstwerkVortrag nahe. Ebenso macht sie anschaulich, was mit dem Ausdruck des »Gevierts« gemeint ist. »Der Begriff Wohnen, so weit gefasst wie das Heidegger tut als Leben und Denken an Orten und in Räumen, enthält einen genauen Hinweis auf das, was Wirklichkeit für mich als Architekt bedeutet.«72 Konkretion und Wirklichkeit entstehen durch Verdichtung und Verbindung von Denken und Materialität, Form und Dasein, für das Form zu Bedeutung wird. »Es gibt keine Idee, ausser in den Dingen.«73 Nichts an der architektonischen Form ist bloß abstrakt. Zu leben beginnt sie in der Bedeutung für diejeni gen, die an einem gestalteten Ort Aufenthalt nehmen, sich zu der Umgebung und zu sich selbst ins Verhältnis setzen, aufmerksam für Einzelheiten sind, Schimmer von Licht auf Oberflächen oder Proportionen von Helligkeit und Schatten wahrnehmen. Wohnen bedeutet, in eine Welt einzutauchen – in ihre Geschichte, Gerüche, Stimmungen und Geräusche. Mehr als bloße Erinnerung, speist eine solche Welt, wie Zumthor es vom Haus seiner Tante erzählt, eigene Bilder und Überlegungen, die schließlich architektonisch Gestalt annehmen. Wer würde, beim »milden Glanz des gewachsten Eichen holzes«, der »unnachgiebige(n) Härte« der Bodenplatten oder dem »Geruch von Ölfarbe«, der aus dem Küchenschrank strömt, nicht an Heideggers »Geviert« denken, in dem alles seinen »richtigen Ort und seine richtige Form« hat?74 Wo diese Bezüge stimmig geordnet sind, gewinnen Materialien poetische Qualitäten.75 Sinn, Form und Bedeutung werden eins: »Sinn entsteht dann, wenn es gelingt, im architektonischen Gegenstand spezifische Bedeutungen bestimmter Baumaterialien hervorzubringen, die nur in diesem einen Objekt auf diese Weise spürbar werden.«76 Architektur stellt sich dar als »Kunst des Fügens«.77 Spricht Peter Zumthor über sein Denken des Bauens, können Leser Heideggers leicht den Eindruck gewinnen, daß hier, bezogen auf das Feld der architektonischen Gestaltung, zugleich von der Gestalt 72 73 74 75 76 77
Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 7f. Vgl. ebenda, S. 10. Ebenda. Ebenda, S. 11.
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des Denkens die Rede ist. Zumthors Architektur zielt auf eine mate riale Formung von Gedanken ab, die als »Orte« Form und Bedeutung erlangen. Jeder wahre Gedanke lebt durch einen persönlichen Zugang desjenigen, der ihn faßt, entwickelt und erfährt. Kein Gedanke ist Besitz desjenigen, der ihn denkt, so wenig wie er etwas repräsentiert, was er nicht selbst »ist«. Mit persönlichen Erinnerungen an ein Haus seiner Kindheit eine Vortragsreihe zu beginnen, entspricht diesem Grundzug des »Denkens«, stets je meines und zugleich eine Gestalt der Welt zu sein. Im »schönen Schweigen«, bei dem alles Ausdrucks geschehen innehält und Aktivität mit Passivität der Wahrnehmung zusammenfällt, werden solche Gedanken »wirklich«. Reflexiv sind sie zugänglich, ohne »gesagt« werden zu müssen. Zeit und Raum fügen sich auf eine Weise, die im Moment des Vollzugs entsteht. Erfahrungen, die sich an Bauten knüpfen, sind von Erfahrungen, die sich an Musik, Malerei oder Philosophie knüpfen, nicht kategorial verschieden. Schönheit begegnet als Weise der Intensität: »Die inten sive Erfahrung eines Momentes, das Gefühl des Aufgehobenseins in der Zeit, das kein Bewusstsein für die Vergangenheit und die Zukunft zu kennen scheint, gehört zu vielen, vielleicht zu allen Schönheits empfindungen. Etwas, das die Ausstrahlung von Schönheit hatte, hat in mir etwas zum Klingen gebracht, von dem ich nachher, wenn es vorbei ist, sage: Da war ich ganz bei mir und gleichzeitig ganz in der Welt, zuerst und für einen Augenblick mit stockendem Atem, dann vollständig eingenommen und versunken, staunend, mitschwingend, erregt, ohne Anstrengung und auch ruhig, gebannt vom Zauber der Erscheinung, der mich traf.«78 Intensitäten solcher Art gleichen »Bildern« im Sinne des Vollzugs von Reflexionen, in denen Wahr nehmung, Reflexion und Wirklichkeit, Ich und Welt koinzidieren. »Der Fluss der Zeit ist angehalten, das Erleben geronnen zum Bild, dessen Schönheit in die Tiefe zu weisen scheint. Für die Dauer der Empfindung habe ich eine Ahnung vom wirklichen Wesen der Dinge, von ihren allgemeinsten Eigenschaften, von denen ich jetzt vermute, dass diese jenseits aller Kategorien des Denkens liegen.«79 Durch Interventionen, die Formen in die Welt legen, mag, in glücklichen Fällen, Einfachheit entstehen, in der sich Komplexität als Fülle des Sinns zeigt – sich, in der Terminologie Heideggers, »entbirgt«.
78 79
Ebenda, S. 72. Ebenda.
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Indem Details auf eine Gesamtheit von Bezügen verweisen, sti mulieren sie ein Gespür für Schönheit und Präsenz. Deswegen dürfen Materialien und Dinge nicht von »Technik« im Sinne Heideggers zugerichtet werden. In der Gestaltung geht es darum, sie zu ihrem Recht gelangen zu lassen, sie, in Heideggers Worten, sein zu lassen, um ihre Möglichkeiten zu entwickeln und ihr Wesen zu entfalten. »Ich glaube, jedes gut geschaffene Ding hat ein ihm angemessenes Ordnungsgefüge, das seine eigene Form bestimmt und zu seinem Wesen gehört. Dieses Wesentliche will ich entdecken.«80 Formen erschließen sich im Gebrauch. Heideggers Formulierung, ein Tempel lasse Gott »hinausstehen in den heiligen Bezirk«, hallt beim Aufenthalt in Zumthors Kapelle nach. Nicht um irgendeinen Gott geht es hier, schon gar nicht um eine griechische Gottheit, und doch auch nicht um einen schon bestimmten Gott. Wer in die Kapelle eintritt, findet sich eingeladen, durch stille Reflexion auf wahrnehmbare Bezüge von Erde und Stein, Licht und Dunkel, Feuer und Wasser, Geschlossenem und Offenem Stimmungen aufsteigen zu lassen, die ihn »gestimmt« machen kön nen, über größere Zusammenhänge menschlicher Existenz nachzu denken. Doch muß er das nicht tun. Ebenso kann er, wie es für viele Besucher der Kapelle gilt, das Bauwerk primär als Kunstwerk, als Architektur-Ikone betrachten und fotografieren. Auch ist es möglich, die Sakralarchitektur wie einen griechischen Tempel zu betrachten, also meist ohne viel Wissen um christliche Motive oder um die Gestalt des »Bruder Klaus«. Wer sich aber der Atmosphäre öffnet und die lichtvolle Offenheit der Massivität dieses Baukörpers auf sich wirken läßt, mag in seiner Aufmerksamkeit auf eine Transzendierung konkreter Dingbezüge hingeführt werden. Seine Aufmerksamkeit bekommt etwas Schwebendes, in dem durchaus Wissen um Religion oder Natur, um Architekturgeschichte oder Pilgerwesen vorkommen darf, ohne doch das Wesen dieser Atmosphäre auszumachen. Zumt hor spricht nicht wie Heidegger vom Sein des Seienden, er redet von der »Magie des Realen«: »Die Magie des Realen, das ist für mich diese ›Alchemie‹ der Verwandlung von realen Substanzen in menschliche Empfindungen, dieser besondere Moment der emotionalen Aneig nung oder Anverwandlung von Materie, von Stoff und Form im architektonischen Raum.«81 Mystisches ist damit nicht gemeint; es 80 81
Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 85.
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geht um Zusammenklänge: »was eine architektonische Atmosphäre wirklich ausmacht, diese einmalige Dichte und Stimmung, dieses Gefühl von Gegenwart, Wohlbefinden, Stimmigkeit, Schönheit.«82 Spricht Heidegger von »Fugen«, die dem Denken Gelegenheit bieten, die Differenz von Sein und Seiendem zu vollziehen, redet Zumthor vom »Fügen«, das die Arbeit des Architekten erfordert und, wird es reflektiert, zu einer »Poetik« des Bauens führt. Poetik bedeutet, im Stofflichen Sinn zu »stiften«, der sich, in der Singularität des Werkes, weder Regeln beugt noch an Schönheitsidealen abzulesen ist. Im Bauwerk wird Poetik real als Sinn.83 So verbindet die Bruder Klaus-Kapelle Naturstoffe mit Licht, Raum mit Bedeutung. Real wer den diese Bezüge – diese »Fuge« – jedoch in der Begegnung mit Men schen, wenn diese sich bewußt und aufmerksam dem Bauwerk nähern und Zusammenhänge zwischen Natürlichem, Menschlichem und Göttlichem »sein lassen«, sie mithin nicht zu definieren versuchen, sondern sie in der Schwebe einer wahrnehmungsnahen Reflexion halten. Gelingt das im Gefüge des Ortes, ist, was dort geschieht, einfach »da« – es ist es selbst. Zum »Pilger« gehört weniger seine Frömmigkeit als die Bereitschaft, sich als ganze Person für etwas zu öffnen, das sich in der Wahrnehmung auf ein Denken hin weitet, das wiederum zu Erfahrung werden kann. Heidegger und Zumthor geht es um die Ermöglichung einer Haltung. »Wenn wir Gegenstände oder Bauwerke betrachten, die in sich selbst zu ruhen scheinen, wird unsere Wahrnehmung auf eine besondere Weise ruhig und stumpf. Das Objekt, das wir wahrnehmen, drängt uns keine Aussage auf, es ist einfach da. Unsere Wahrnehmung wird still, unvoreingenommen und nicht besitzergreifend. Sie liegt jenseits der Zeichen und Symbole. Sie ist offen und leer. Es ist, als ob man etwas sähe, das sich nicht ins Zentrum des Bewusstseins rücken lässt. (...) Das Objekt sehen, heisst jetzt auch, die Welt in ihrer Ganzheit erahnen ...«84 Wie Bilder Agnes Martins entfalten »Orte« Peter Zumthors ihr Wesen am Rande des Schweigens. »Es gibt für mich ein schönes Schweigen von Bauten.«85 Bilder und Bauten setzen Unterscheidun gen – gemachte Formen – in die Welt, die Innerweltliches in Bezüge führen und auf diese Weise für Reflexionen freigeben, die nichts beherrschen, erkennen oder definieren. Vergleiche zwischen Agnes 82 83 84 85
Ebenda. Vgl. ebenda, S. 10. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 34.
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Martins und Peter Zumthors Arbeiten fördern Korrespondenzen zutage, die Heideggers Wahl seiner Beispiele im Kunstwerk-Vortrag erhellen. Van Goghs Gemälde und ein – unbestimmt bleibender – Tempel stehen in einer plausiblen Konstellation, wenn wir Bilder und Bauten als komplementäre Weisen betrachten, unser Verhältnis zur Welt in schwebende Reflexionen zu versetzen. Konkretion und Anschaubarkeit von Martins Bildern und Zumthors Bauten konter karieren Heideggers Wahl nicht; eher bestärken sie diese, da ein Leser Heideggers Gelegenheit findet, seinen Reflexionsweg in Wahr nehmungen zu fundieren oder mit Wahrnehmungen zu vergleichen. Form und Stoff, Ursache und Wirkung beschreiben Felder, in denen etwas zu seinem »Wesen« entfaltet wird, kaum angemessen. Ideen, durch die Denken einen Ort und eine Fokussierung findet, stecken in Dingen, insofern diese sind, was sie sind, wenn sie sein-gelassen werden als diejenigen, die sie in Bezügen erst zu werden vermögen, welche nicht einfach »sind«, sondern je einer Aktualisierung bedür fen. Es bedarf der gestaltenden Arbeit an Seiendem – Farben, Steinen, Sprache usw. –, um »Sein« zum Vorschein zu bringen. Malen, Bauen und Denken gleichen einander darin, Gestaltungen zu finden, die schwebende Reflexionen stimulieren, um mit dem Rücken zur Welt auf die Welt als Welt Bezug zu nehmen. »Sein« erscheint am »Sinn« von »Seiendem«. Vielleicht wäre es nicht unangemessen zu sagen, daß solche Konstellationen »leben«, da sie Geist und Natur verschränken. Für ein Bild wie »Grey Stone« ist das so evident wie für die BruderKlaus-Kapelle: Ohne die konkrete Erscheinung dieser Artefakte, ohne ihre Materialität und sorgfältig komponierte Ordnung gäbe es keine »Idee«, die sich »denkender« Reflexion erschließen würde. Hinsich ten, als die Ideen wirksam werden, entziehen sich den Alternativen von Denken und Ding, Subjekt und Objekt, Stoff und Form. Was wir als »etwas« so erfahren, daß es im »Denken« Resonanzen bildet, findet sich ebenso im konkreten Etwas wie in wahrnehmungsfundier ten Reflexionen. Man fühlt sich an Meister Eckharts Erläuterung des Bildes erinnert: Sehen und Gesehenes sind eines. Zumthor legt Wert darauf, Architektur nicht als freie Kunst zu betreiben, die sich ausdenkt, was sie tut. Für ihn ist sie eine Kunst des Gebrauchs, bezogen auf Orte, Landschaften, Bedürfnisse – Menschen. Als Einschränkung empfindet er das nicht. Ohne diese Bezüge wäre Schönheit nicht möglich. Orte »bauen« Gesamtheiten, bei denen alles aufeinander bezogen bleibt. »Ich finde, es ist auch die vornehmste Aufgabe der Architektur, daß sie eine Gebrauchskunst
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ist. Aber eben das Schönste, die Dinge sind zu sich gekommen, sind stimmig. Und dann verweist alles aufeinander und Sie können das nicht auseinandernehmen. Der Ort, der Gebrauch und die Form. Die Form verweist auf den Ort, der Ort ist so und der Gebrauch ist so und so.«86 Erfahrung und Reflexion treten vor Bildern Agnes Martins, an Orten Peter Zumthors und in Texten Martin Heideggers auf je unterschiedliche Weise in spezifische, aber jeweils schwebende Konstellationen. Weder repräsentiert »Denken« Erfahrung, noch prägt es der Erfahrung transzendentale Formen auf oder klärt diffuse Erscheinungen zur Wahrheit. Im Zusammenspiel beider ordnet sich ein Verhältnis, das ohne Verankerung in der Welt weder zustande käme noch gelänge. Peter Zumthor nennt diese Verankerung einen Ort, der eine Atmosphäre entstehen läßt. Was sich an Orten auf je einzigartige Weise erfahren läßt, ist weder zu definieren noch aufzu zählen. Es bedarf, um zur Klärung zu gelangen, einer sorgfältigen Arbeit der Distanzierung, die uns, in Agnes Martins Formulierung, »mit dem Rücken zur Welt« zu stehen bringt. In der Abwendung von direktem Anschauen, das bestimmen möchte, was es wahrnimmt, bestimmt Wahrnehmung sich zur Reflexion auf eine fundamentale Nichtidentität zwischen konkret Phänomenalem und Sinn. Bilder wie die »Islands« evozieren vage gegenständliche Assoziationen und Erinnerungen, doch halten sie diese in der Unmittelbarkeit von Farbe und Form auf Distanz. Scheinbar befreien Farbe und Form sich von aller Bedeutung, doch keineswegs von »Sinn«. Vom strahlenden Weiß der Island-Bilder kommt deren Wahrnehmung auf sich zurück und versteht, daß Weiß mehr ist als weiße Farbe. Sinn gewinnt das Weiß, weil es Weiß auf diesem jeweiligen Gemälde ist, das, was es vollbringt – und nicht »ist« –, ohne Beteiligung der wahrnehmungsfundierten Reflexion von Betrachtern nicht vollziehen könnte. Betrachter wiede rum kehren ihre Beobachtungsform um und erfahren diese Wendung wie eine Spiegelung: Konkrete Erscheinungen lassen sie Erfahrungen machen, die evident wirken, weil sie nichts bestimmen. Solche Wahr nehmungen lösen, indem sie zu Denken werden, Gedachtes in ein pulsierendes Möglichkeitsfeld auf. Erfahrung entspringt Tätigkeiten mit konkreten Materialien. »Denken« verschiebt seine Bedeutung hin zu einer Performativität von situierter Wahrnehmung und Reflexion 86
Zumthor, P.: Atmosphären. Basel 2014, S. 69.
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auf eine Offenheit sinnhafter Bezüge in einem nichttranszendenta len Sinne. Heideggers Texte wollen vergleichbare Prozesse in der Form von Sprache ermöglichen, die, was sie tun, im vergleichenden Blick auf Bilder und Tempel vollziehen. Im artifiziellen Resonanzraum der philosophischen Sprache, den Heidegger ebenso sorgfältig kon struiert wie Agnes Martin ihre Bilder oder Peter Zumthor seine Bauten, soll ein anderer Modus des Denkens entfacht werden, der sich von der bezeichnenden und mitteilenden Funktion der Sprache in der »ordinary language« ebenso wie von philosophischen Schul begriffen in kalkulierter Distanzierung löst. Was Sprache ist, zeigt sich im Gebrauch, nur zielt Heidegger auf einen anderen Gebrauch als Wittgensteins Analysen. Statt auf ein Gedachtes zu zielen, ginge es darum, eine in höchstem Maße bewußte Haltung des Sich-Einlas sens einzunehmen. Das bedeutet nicht, von einer mysteriösen Kraft getroffen zu werden. Um religiöses Erleben geht es so wenig wie um epistemische Bestimmung, sondern um das Bemerken eines Entzugs. »Das Ausbleiben des Seyns ist das Seyn selbst als dieses Ausbleiben. Das Seyn ist nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt zudem dann noch aus, sondern das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Seyn selbst. Im Ausbleiben verhüllt sich dieses mit sich selbst.«87 Nur für Menschen vermag solches Ausbleiben zu »sein«. Ohne Orte kein Ausbleiben, denn jedes Welt- und Selbstverhältnis des Daseins ist situiert. Orte werden zur »Bleibe« der Differenz. Wiederum bieten Bilder Agnes Martins oder Bauten Peter Zumthors sich an, das leben dige »Wesen« solcher Orte zur Erfahrung zu bringen. »Dieser Ort ist die Bleibe, in der das Ausbleiben der Unverborgenheit wesenhaft verbleibt.«88 Wie auch immer die philosophische oder theologische Tradition das Wesen, Gott, das Absolute oder das Denken ausgelegt haben, waren sie in Heideggers Sicht bestrebt, es als etwas zu denken und begrifflich, wenngleich indirekt, zu bestimmen. Wer sich von dieser intuitiven, dem natürlichen Zugang zur Welt abgelesenen Bestrebung lösen möchte, muß im Ausbleiben der Erfüllung dieser Intention eine mögliche Weise akzeptieren, Gegebenes nicht als absolut zu verstehen. Es entsteht ein »Riß« in der Welt des Vertrauten. Hindurch tönt keine Stimme des Jenseits. Eher fällt ein Licht durch 87 Heidegger, M.: Das Wesen des Nihilismus [1946–1948]. In: Gesamtausgabe Bd. 67: Metaphysik und Nihilismus. Frankfurt/M. 1999, S. 175–263, hier S. 219. 88 Ebenda, S. 222.
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den »Riß«, das Seiendes anders sehen läßt – vielleicht wie Licht, das in Peter Zumthors Kapelle fällt. An solchen Orten zu »wohnen« heißt, »Heimat« zu haben – ohne Gemütlichkeit oder zünftige Geselligkeit, wohl aber als Ankerpunkt in der Welt, der diese für Blicke und Refle xionen öffnet.
3 Nihilismus 3.1 Wesen und Technik Bauen, Malen und Denken vollziehen, im Verständnis Peter Zumt hors, Agnes Martins und Martin Heideggers, jeweils Weisen nichttechnischer Welt-Verhältnisse. Geht es darum, sich im Zur-Welt-Sein einzurichten, wäre es unangemessen, Probleme im Blick auf Lösun gen direkt, also zweckrational im Sinne Max Webers, anzugehen. Ein Denkstil, der für die Heimatlosigkeit in der Welt verantwort lich gemacht wird, würde verdoppelt. Der Wunsch, zu sehen, was »ist«, und dieses, was »ist«, exakt von anderem zu unterscheiden, macht blind dafür, worauf es ankommt, nämlich das Geschehen. »Der Mensch sieht nicht, was lang schon angekommen ist und zwar geschehen ist als das, was nur noch als seinen letzten Auswurf die Atombombe und deren Explosion aus sich hinauswirft, um von der einen Wasserstoffbombe zu schweigen, deren Initialzündung, in der weitesten Möglichkeit gedacht, genügen könnte, um alles Leben auf der Erde auszulöschen. Worauf wartet diese ratlose Angst noch, wenn das Entsetzliche schon geschehen ist?«89 Illusionen der Technik unterliegen nicht nur reflexionslose Architektur und Stadtplanung, sondern alle politischen Ordnungsmodelle der Neuzeit – Nationa lismus, Internationalismus, Individualismus oder Kollektivismus. Politik, die sich als Steuerung oder Problemlösung begreift, fällt einem Kurzschluß anheim. Statt zuversichtlich voranzuschreiten, um neue Ziele zweckra tional in Angriff zu nehmen, mahnt Heidegger an, einen »Schritt zurück« zu tun, um dem vorstellenden, der Gegenwart und deren Anmutungen verpflichteten Denken ein »andenkendes Denken« ent Heidegger, M.: Das Ding [1950]. In: Gesamtausgabe Bd. 7. Frankfurt/M. 2000, S. 165–187, hier S. 168.
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gegenzuhalten. Zwischen beiden Optionen gibt es kein Hin und Her, denn es handelt sich nicht um eine bloße Frage der »Einstel lung«. Einstellungen, wie vielleicht ein Phänomenologe sie variieren könnte, bleiben allemal an das gebunden, was erscheint. Sie erliegen einem phänomenalen Positivismus, »weil alle Einstellungen samt den Weisen ihres Wechselns in den Bezirk des vorstellenden Denkens verhaftet bleiben.«90 Dinge und Phänomene – Seiendes und Erschei nendes – leiten den Blick des Philosophen vom Wesentlichen ab, das weder ein Ding noch etwas Sichtbares ist. Deshalb ist es allenfalls im An-Denken erreichbar in Gestalt einer resonanzhaften Antwort auf ein »erfahrendes Fragen«.91 Die Figur des An-Denkens führt Heidegger dazu, Nietzsches Philosophie als Metaphysik des Willens und damit als etwas zu verstehen, das überwunden werden muß. Darum erscheint Nietzsche als Denker des technischen Zeitalters. An Nietzsches Nihilismus hebt Heidegger hervor, daß es sich um eine positive, wertsetzende Geste handle, die den Menschen in der Welt verankert. Nachdem der »tolle Mensch« den Horizont leergewischt hat, setzt er seine eigene Energie, seinen Willen zur Lebenssteigerung, an die Stelle des ermordeten Gottes. Noch nicht begriffen zu haben, was er tat, macht für Nietzsche die Situation des Menschen aus. »Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ›Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? ... Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? ... Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?‹«92 Durch nichts ist menschliches Tun gerechtfertigt – weder durch eine Ordnung des Kosmos noch durch einen allmächtigen Gott oder ein Moralgesetz, das sich auf eine menschliche Vernunftnatur beruft. Heidegger, M.: Das Ding. A.a.O., S. 183. Heidegger, M.: Über den Humanismus. A.a.O., S. 33. 92 Nietzsche, F.: Die fröhliche Wissenschaft [1882]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 3. Hrsgg. v. G. Colli u. M. Montinari. München 1988, S. 343–651, Nr. 125, S. 480f. (Hervorhebung im Original).
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Gerechtfertigt ist der so auf sich selbst zurückgeworfene Mensch ein zig durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr: »[N]ach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besie gelung« wäre der wahrhaft göttliche Gedanke – »er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem ›willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?‹ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!«93 Doch markiert dieses Wertsetzende und Heroische für Heidegger gerade Nietzsches Verwurzelung in der Metaphysik. »Insofern der Wille zur Macht aus der ewigen Wiederkehr des Gleichen existent west, ist die Wertsetzung, die wesenhaft zu ihm gehört, das Seiendste des Seienden. Die im Willen zur Macht gegründete Wertsetzung ver neint positiv die Geltung der bisherigen und im Prinzip ihrer Setzung nach Nietzsches Lehre ungegründeten Werte. Diese positive, das Prinzip der Wertsetzung setzende Verneinung der bisherigen Werte ist der Grundzug des metaphysischen Nihilismus, den Nietzsche als die Philosophie der Zukunft denkt.«94 Gott zu töten ist ebenso Men schenwerk wie die Ersetzung von dessen Position durch menschliche Wertungen. Allzu sehr scheint Heidegger Nietzsches Machtwille dem Kampf um die Herrschaft zu gleichen, den Heidegger im technischen Zeitalter am Werk sieht.95
3.2 Welcher Nietzsche? Heidegger überzeichnet Nietzsches Gedanken des Machtwillens, insofern er dessen befreiende Kraft von innerweltlichen Bindun gen und Zwängen abblendet. Immerhin sind Machtwillen auch ein Lebensprinzip, das sich in schöpferischer Aktivität äußert. Wäre ein ästhetisches Verhalten, von dem Nietzsche als wesentlich menschli cher Möglichkeit spricht, ebenfalls von dem Verdacht des technikaf finen Zurichtens betroffen? Nietzsche schwebt ein Verhalten vor, das weder Definitionen anstrebt noch Zwecke planend verfolgt, eine somatisch-symbolische Aktivität, durch die Welt und Selbst ins Ver hältnis zueinander treten. Unter ästhetischem Verhalten versteht Nietzsche »eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde 93 94 95
Ebenda, Nr. 341, S. 570 (Hervorhebung im Original). Heidegger, M.: Das Wesen des Nihilismus. A.a.O., S. 178. Vgl. ebenda, S. 185.
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Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache.«96 Statt erkennender Bestimmung, begrifflicher Klassifikation oder technischer Berech nung zu dienen, verwirrt ein solches Tun epistemische Ideale. Inner halb des Bekannten – des Seienden – schafft es, auch im Sinne Heideggers, offene Räume, neue Möglichkeiten und produktiv Unbe stimmtes, das Menschen hilft, andere Erfahrungen zu machen. »Jener Trieb der Metaphernbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst. Fortwährend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch dass er neue Uebertragungen Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhan dene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmässig folgenlos unzusammenhängend reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist.«97 Wäre ohne Gestaltung konkreter Formen überhaupt ein nichttechnisches Verhältnis des Menschen zur Welt möglich? Zeigt sich, was Heidegger als Stiftung von Unverborgenheit ins Auge faßt, nicht exemplarisch an Kunstwerken, wie sie Agnes Martin und Peter Zumthor erschaffen? Bei einer solchen Lesart Nietzsches liegt es nahe, Heideggers Fokussierung auf die Sprache in eine Sphäre künstlerischer Artefakte hinein zu erweitern, um das Monopol philosophischen Sprechens in Frage zu stellen, das Heidegger für den genuinen Modus der Reflexion in Anspruch nimmt. Nichtsprachliche Symbolgefüge könnten der Sprache zumindest an die Seite treten. Möglicherweise entspringen sogar aus dissonanten Resonanzen unterschiedlicher Zeichen und Symbole – Bild und Wort, Wort und Klang, Klang und Geste u.ä. – sinnhafte Verweisungen, die »Welt« dadurch »lichten«, daß sie zugleich bestimmt und unsagbar sind, weil sie sich dem »Nennen« mit Hilfe bestimmter Zeichen entziehen, doch in der Konstellation von Zeichen entstehen. Weil Heidegger ausschließlich der Sprache vertraut, bleiben sinngenerative Potentiale der Zeichen, die sich aus Nietzsche, F.: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 1. München 1988, S. 873–890, hier S. 884. 97 Ebenda, S. 887. 96
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der Kombination unterschiedlicher Zeichenformen ergeben, unbe achtet.98 Wird nun der so ausgezeichneten Sprache zugemutet, von ihrer denotativen Funktion abzusehen, um auf ihre Eigenschwingung zu fokussieren, wie Heideggers Sprach-Denken es tut, geht »Welt« als Bedeutungsraum tendenziell verloren, ohne daß dem Denken alternative Sinnräume erschlossen würden. In Sprach-»Fugen«, die davor zurückscheuen, die Grenze zur Literatur zu überqueren, droht zu erstarren, was Heideggers radikaler Begriff des Denkens doch anstrebt: eine Beweglichkeit des Sinns, die sich als Resonanz auf Eigenschwingungen der Sprach-Zeichen bildet. Sprachfixierte Refle xionen können die Resonanz der Welt im Spiel ästhetischer Differen zen weder wahr- noch ernstnehmen, obwohl sie »Sein« nicht mit Sprache verwechseln.99 Welt »weltet« nicht mehr in einem Sinne, der Erfahrungen zugänglich bliebe; sie zieht sich in einen Begriff zurück und büßt den Charakter der Bewegung ein, den Heideggers Terminus des »Weltens« ihr doch zuspricht. Bei Agnes Martin und Peter Zumthor hingegen behält der Modus einer schwebenden Refle xion Erfahrungsqualitäten. Aus Nietzsches Perspektive wäre damit die Metaphysik gerade bei Heidegger besiegelt. Nun stürzte der Mensch in das Schweigen einer ohnmächtigen, unproduktiven und selbstvergessenen Reflexion, die sich als eigentliches Denken eines von allem weltlich Seienden entleerten »Seyns« wähnt. Hinweise auf diese Möglichkeit gibt Heideggers Bezug zur Male rei Paul Klees. Obwohl Heidegger von Klees Malerei fasziniert war, blieb er von dessen diagrammatischen Darstellungsformen philoso phisch relativ unbeeindruckt. Zustände, erschlossen durch Stimmun gen, erkennt Heidegger in Klees Arbeiten und erwägt kurz, seinen Kunstwerk-Aufsatz um einen zweiten Teil zu ergänzen.100 Dazu ist 98 Denken und Dichten werden dann zu den ausgezeichneten Weisen des Mensch seins. Vgl. Frischmann, B.: Heidegger über die Verwandtschaft von Denken und Dich ten. In: Denker, A./Zaborowski, H./Zimmermann, J. (Hrsg.): Heidegger und die Dichtung. Heidegger-Jahrbuch 8. Freiburg, München 2014, S. 9–19, bes. S. 13. 99 Einen »sprachlichen Charakter des Seins« meint Hermann Schweppenhäuser in seiner an Adornos Heidegger-Kritik geschulten Rekonstruktion konstatieren zu kön nen. Vgl. Ders.: Studien über die Heideggersche Sprachtheorie (1957/1958, zuerst erschienen im Archiv für Philosophie, Bd. 7, H. 3/4 und Bd. 8, H. 1/2). München 1988, S. 76 (Hervorhebung im Original). 100 So berichtet Otto Pöggeler von einem Besuch bei Heidegger 1959. Vgl. Ders.: Bild und Technik. Heidegger, Klee und die Moderne Kunst. München 2002, S. 117f., 156. Die Form der knappen Notizen Heideggers zu Klee beschreibt Seubold, G.: Heideggers nachgelassene Klee-Notizen. In: Heidegger Studies/Heidegger Studien/Etudes Hei
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es nicht gekommen. Mag dabei eine Rolle gespielt haben, daß Klees schöpferisches Selbstverständnis Sprache, Bild und andere Zeichen aufs engste miteinander verwoben hat?101 Sprach-Fugen werden auf diesen Bildern zu Zeichen-Gefügen, deren Sinnfülle konventionelle Leseweisen sprengt. Betrachter sind eingeladen, sich in gestische, figürliche und farbliche Details zu vertiefen und Bezüge zu entfalten, statt in begriffliche Meditationen zu verfallen. Für Klee hat Kunst einen lebendig-spielerischen, schöpferischen und auch heiter-ironi schen Charakter – sämtlich Eigenschaften, die Heideggers Ernsthaf tigkeit widerstreiten. Statt zu immer weitergehender Reduktion der Formen neigt Klee zu einer überbordenden Fülle von Zeichen auf der Bildfläche. Künstler sind, in Klees ebenso wie in Nietzsches Augen, weltschöpferisch. Heideggers Reflexion hingegen entleert die Welt von inhaltlichen Bezügen zugunsten reiner Sprach-Formen, die den reinen Verstandesformen Immanuel Kants zwar eine radikale Alter native entgegenstellen sollen, in ihrer Reinheit jedoch manchmal wie deren Spiegelbild wirken. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche steht im Zeichen des »Willens zur Macht«. Zum einen ist damit ein Topos in Nietzsches Denken bezeichnet, zum anderen die Textbasis, auf die Heideggers Nietzsche-Kommentar sich wesentlich stützt, wenn es um Nietzsches Gedanken zur Kunst geht. In seinem Zarathustra-Buch spricht Nietz sche 1883 vom »Willen zur Macht« als einem Prinzip des Lebendigen: »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht ... Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir: ›Siehe, sprach es,
deggeriennes, Vol 9 (1995), S. 5–12. – Siegbert Peetz hat in seiner Betrachtung des Verhältnisses von Welt und Erde bei Heidegger und Klee große Nähen festgestellt. Unterschiede ergäben sich »lediglich in der Akzentuierung dieses gemeinsamen Grundgedankens«. Ein solcher Eindruck kommt vermutlich zustande, wenn die dia grammatische Form der Arbeiten und Denkweisen Paul Klees in ihrer Differenz zu Heideggers starker Fokussierung der »Sprache« wenig beachtet wird. Vgl. Peetz, S.: Welt und Erde. Heidegger und Paul Klee. In: Heidegger Studies/Heidegger Studien/ Etudes Heideggeriennes, Vol. 11 (1995), S. 167–187, hier S. 182. 101 Vgl. Barbaric, D.: Zum anderen Anfang. Studien zum Spätdenken Heideggers. Freiburg, München 2016, S. 113ff.; Schuster, P.-K.: Die Welt als Fragment. Bausteine zum Universum Klee. In: Das Universum Klee. Hrsgg. v. Scholz, D. und Thomson, Chr. Ostfildern 2008 (Katalog zur Ausstellung vom 31.10.2008 bis 8.2.2009 in der Neuen Nationalgalerie Berlin), S. 15–23.
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ich bin das, was sich immer selber überwinden muss.‹«102 Nicht um bloßen Lebenswillen handelt es sich in Nietzsches Augen; ihm geht es um ein Prinzip der Steigerung, Überwindung und Schöpfung: »›Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!‹«103 Schöpfung und Vernichtung gehen Hand in Hand; nur wer zerstört, vermag Neues zu schaffen. »Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbre chen.«104 Heideggers Blick auf Nietzsche ist davon geleitet, daß er dessen Nachlaß-Fragmente als Vorarbeiten zum eigentlichen Haupt werk versteht. »Die eigentliche Philosophie Nietzsches aber«, so leitet Heidegger seine Vorlesung aus dem Wintersemester 1936/37 ein, »die Grundstellung, aus der heraus er in diesen und in allen von ihm selbst veröffentlichten Schriften spricht, kommt durch ihn selbst nicht zur endgültigen Gestaltung und nicht zur werkmäßigen Veröffentlichung ... Was Nietzsche zeit seines Schaffens selbst veröf fentlicht hat, ist immer Vordergrund.«105 Nietzsches »eigentliches« Denken schlummert, glaubt Heidegger, noch unentdeckt im Nachlaß. Nietzsches Aufzeichnungen dieser Zeit bestehen in fragmentarischen Skizzen, provisorischen Entwürfen und Titeln, ohne das Stadium eines durchgestalteten Werks erreicht zu haben. Unter den Händen von Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, und Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) entstand daraus ein vermeintliches Haupt werk. Nur 270 von insgesamt 374 Fragmenten wurden berücksichtigt, davon 137 unvollständig oder mit Eingriffen in den Text.106 Von einem Hauptwerk kann somit nicht die Rede sein. Einer Lektüre, die in Nietzsches Fragmenten Anhaltspunkte für ihre eigene Deutung finden möchte, kommt der Status dieses Textkorpus entgegen. Im Sommersemester 1937 hält Heidegger eine weitere Vorle sung über Nietzsche, diesmal über dessen Gedanken der ewigen Nietzsche, F.: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen [1883/1884/1885]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 4. Hrsgg. v. G. Colli und M. Montinari. München 1988, S. 147f. (im Original gesperrt). 103 Ebenda, S. 149. 104 Ebenda. 105 Heidegger, M.: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst. In: Gesamtausgabe Bd. 45. Frankfurt/M. 1985, S. 11. 106 Vgl. Nietzsches Nachlaß 1885–1888 und der ›Wille zur Macht‹. Kommentar zu Bd. 6 der Kritischen Studienausgabe. Hrsgg. v. G. Colli und M. Montinari. München 1988, S. 383–400. 102
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Wiederkehr. Eingeleitet wird der Kommentar mit der Bemerkung, gerade im Wenigen an Textstellen, die sich dazu fänden, deute sich die eigentliche Tragweite des Gedankens an.107 Obwohl er sieht, wie problematisch die Textbasis ist, stützt Heidegger seine Deutung erneut auf Texte aus dem Nachlaß.108 Nichtgesagtes spreche nicht gegen dessen Bedeutung. Das Wichtigste werde »im Nichtsagen gerade genannt«.109 Statt vom Schweigen redet Heidegger lieber vom »Erschweigen« als einer genuin poetischen Weise philosophischer Reflexion: »Das höchste denkerische Sagen besteht darin, im Sagen das eigentlich zu Sagende nicht einfach zu ver-schweigen, sondern es so zu sagen, daß es im Nichtsagen gerade genannt wird. Das Sagen als Erschweigen. Dieses Sagen entspricht auch dem tiefsten Wesen der Sprache, die ihren Ursprung im Schweigen hat. Als Er-schweigender rückt der Denker in seiner Art und seiner Weise in den Rang des Dichters und bleibt doch ewig von ihm geschieden – wie der Dichter vom Denker.«110 In diesem Falle dient die Poetik der Reflexion einer Abstützung philologischer Entscheidungen und selektiver Lesestrate gien mit dem Zweck, Motive in Nietzsches Denken hervorzuheben und auf Heideggers eigene Sichtweise hinzuordnen. Entsprechend beruht Heideggers Lektüre darauf, drei Gedan ken Nietzsches so zusammenzuführen, daß sie Heideggers eigene Unterscheidung von Sein und Seiendem vorbereiten: den Willen zur Macht, die ewige Wiederkehr des Gleichen und das Verständnis der Kunst vom Künstler aus. »Wille zur Macht und ewige Wiederkehr sind Bestimmungen des Seins, aber in zwei ganz verschiedenen und deshalb gerade aufeinander bezogenen Fragebereichen. Wille zur Macht ist die Antwort darauf, was das Seiende sei. Ewige Wiederkehr des Gleichen ist die Antwort darauf, was dieses Sein selbst sei.«111 In großen Kunstschöpfungen, vollbracht durch das Werk geschichtlicher Menschen, lichtet sich das Verhältnis von Sein und Seiendem ins Unbedingte und Absolute: »Die große Kunst und ihre Werke sind in ihrem geschichtlichen Heraufkommen und Sein eben deshalb groß, weil sie innerhalb des geschichtlichen Daseins des Menschen eine 107 Heidegger, M.: Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen [1937]. In: Gesamtausgabe Bd. 44. Frankfurt/M. 1986, S. 14. 108 Vgl. ebenda, S. 159f. 109 Ebenda, S. 233. 110 Ebenda (Hervorhebung im Original). 111 Heidegger, M.: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst. A.a.O., S. 33.
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entscheidende Aufgabe vollbringen, nämlich in der Weise des Werkes offenbar zu machen, was das Seiende im Ganzen ist, und zwar maß gebend und führend dies offenbar zu machen und die Offenbarkeit im Werk zu verwahren.«112 Heidegger räumt ein, seine Lektüre suche nach einer »freien, selbständigen Darstellung« und beanspruche keine philologische Wahrheit.113 Exemplarisch deutlich wird diese zuspitzende Interpre tation, wenn der Wille zur Macht nicht auf das einzelne schöpferische Leben bezogen wird, sondern auf das Wesen des Seienden: »Wille zur Macht ist nie Wollen eines Einzelnen, Wirklichen, sondern betrifft das Sein und Wesen des Seienden, ist dieses selbst. Daher können wir sagen: Wille zur Macht ist immer Wesenswille. Obwohl Nietzsche es so nicht ausdrücklich faßt, meint er im Grunde dieses ...«.114 Auf diese Weise wendet Heidegger die anarchisch-schöpferische, innerweltli che Potentialität des Lebens ins unbestimmt Wesentliche. Schwingen bei Nietzsche erotische Konnotationen mit, wenn er künstlerisches Schaffen als erregendes Stimulans und innerweltliche Erlösung, als tiefe Bejahung und Zurückweisung falscher Askese betrachtet, steht für Heidegger der Wille zur Form im Mittelpunkt. Von der Kunst heißt es bei Nietzsche, sie sei »die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens« bedeute »Erlösung des Erkennenden«, »Erlö sung des Handelnden« und »Erlösung des Leidenden«.115 Zweifellos sieht Heidegger, daß Nietzsches Denken des Schöpferischen stets auf ein Formwerden zielt und sich nicht etwa im ekstatischen Selbstgefühl erschöpft. Doch legt er den Akzent sehr stark auf den Aspekt der Form und blendet die physiologische Seite konkreter Welthaltigkeit ab: »Rausch meint ... das durchgängige Formwerden und Gesetztsein von allem.«116 Dem entspricht seine Deutung des Motivs der ewigen Wiederkehr als Denken des Seins als Zeit.117 Für Nietzsche jedoch bedeutet »amor fati« gerade die Größe im jeweiligen Menschen, weder zu bedauern noch zu beurteilen, sondern die Folgen dessen, Ebenda, S. 98. Ebenda, S. 46. 114 Ebenda, S. 70f. 115 Nietzsche, F.: Nachgelassene Fragmente 1887–1889. In: Kritische Studienausgabe Bd. 13. München 1988, Mai-Juni 1888, Nr. 2, S. 521 (Hervorhebung im Original). 116 Heidegger, M.: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst. A.a.O., S. 139. 117 Vgl. ebenda, S. 22f. 112
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was und wie er lebend bejaht, ebenfalls zu bejahen. Es gibt keine Entschuldigung und keinen Kalkül, kein Ertragen oder Bedauern, keinen Kult des Leidens oder Verdrängens. »Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht.«118 Die Figur wiederholt sich in Heideggers Versuch, Nietzsche als letzten Vertreter eines metaphysischen Denkens zu porträtieren, indem er bei ihm ein platonistisches Verständnis der Wahrheit zu finden meint. »›Die Wahrheit‹, das heißt für Nietzsche nicht das Wesen des Wahren, sondern eben das Wahre selbst, was dem Wesen der Wahrheit genügt.« Im Grunde habe Nietzsche die »eigentliche Wahrheitsfrage« nicht gestellt und die Frage »niemals entfaltet« – was zu wissen »von entscheidender Bedeutung« sei.119 Wie kann das, abgesehen von Heideggers platonistischer Nietzsche-Auslegung, sein bei einem Philosophen, der, ebenso wie Heidegger, ein scharfer Kritiker der »Metaphysik« ist? Allerdings beschreitet Nietzsche einen anderen Weg als Heidegger. Der Metaphysik entkomme man, glaubt Nietzsche, nur durch den Weg in die Genealogie – als »rückläufige Bewegung«, die der Geschichte des Werdens von Begriffen und Denk weisen auf die Spur kommt.120 Mit Hilfe der Genealogie erschließen sich nicht zuletzt ressentimentgeladene Umfälschungen lebendiger Strebungen in scheinbar feste Begriffe, Urteile und Wahrheiten. Aus dem Käfig der Logik und Grammatik muß der Philosoph die Sprache und das Denken befreien, um deren schöpferisch-metaphorische Qualitäten aufs neue zu entfesseln. Wahrheit läßt sich nicht von einem Wesen her verstehen, resultiert sie doch aus Notwendigkeiten, eine gemeinsame Sprache zu formen, in der friedliche Verständigung, Recht und Wahrheitswille entstehen. Die Kraft des Mythos geht in der Mythologie der Wahrheit, des Rechts und der Moral unter.121 Was toll, absurd, unbegründet, ungerecht und aus dem Moment heraus getan wird, erscheint hinfort gesellschaftlich geächtet. Zahme Menschen
118 Nietzsche, F.: Ecce homo [1888/1889]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 6. Mün chen 1988, S. 255–374, hier S. 297 (Hervorhebung im Original). 119 Heidegger, M.: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst. A.a.O., S. 182. 120 Nietzsche, F.: Menschliches, Allzumenschliches [1878]. In: Kritische Studienaus gabe Bd. 2. München 1988, S. 41 (Hervorhebung im Original). 121 Vgl. Nietzsche, F.: Genealogie der Moral [1887]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 5. München 1988, S. 245–412.
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übernehmen das Regiment. Statt dem Leben zu huldigen, frönen sie der Metaphysik. Verloren geht darüber die Liebe zum Menschen.122 Weil Heideggers Denken, trotz seiner seinsgeschichtlichen Dimensionierung und seinen etymologischen Anspielungen, von einer genealogischen Betrachtung grundverschieden bleibt, deutet er Nietzsches Auffassung der Wahrheit um: »Das Wort Wahrheit bedeutet für ihn soviel wie das Wahre, und dieses heißt: das in Wahrheit Erkannte; und Erkennen ist theoretisch-wissenschaftliches Erfassen des Wirklichen im weitesten Sinne.«123 Entsprechend meint Heidegger bei Nietzsches Nihilismus eine Ähnlichkeit zu seiner eige nen Vorstellung von Seinsgeschichte finden zu können. Nietzsches Satz, Gott sei tot, liest Heidegger als »das innerste Ja zum Kommen den« – jenseits der Epoche metaphysischer Seinsvergessenheit.124 Erlösung jedoch erscheint bei Nietzsche, wie das obige Zitat zeigt, nicht als Erwartung von etwas, schon gar nicht eines kommenden Gottes, sondern als innerweltliche Erlösung durch das Abschütteln falscher Zwänge. Der neue Mensch, der Über-Mensch, erlöst sich selbst, indem er jenseits von Gut und Böse lebt und vor allem sich selbst immer aufs neue überwindet. In Jesus Christus sieht Nietzsche keinen Erlöser, sondern ein Modell des Handelns. Christus zu folgen würde heißen, nichts zu glauben und ohne falsche Rücksichten auf Moralen, Religionen, Recht oder politische Doktrinen nach dem rech ten Leben zu suchen, das sich nur als Weg, den wir gehen, erschließt. Das Neue Testament lädt ein, »alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen« zu verstehen.125 Wenn überhaupt von einem »Ja zum Kommenden« die Rede sein kann, dann in dem Sinne, daß der jeweilige Mensch es ist, der die Zukunft bejaht und schafft – im gleichmütigen Heroismus einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. »Das ›Reich Gottes‹ ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in ›tausend Jahren‹ – es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da ...«126 Christus war in
Vgl. ebenda, S. 278. Heidegger, M.: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst. A.a.O., S. 185. 124 Vgl. ebenda, S. 191. 125 Nietzsche, F. Der Antichrist [1888]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 6. München 1988, S. 165–253, hier S. 206. 126 Ebenda, S. 207. 122
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Nietzsches Augen der einzige Christ – »und der starb am Kreuz. Das Evangelium ›starb‹ am Kreuz.«127 Von Hölderlin läßt Nietzsche sich zu seinem Bild des Dio nysischen anregen, das in der idealisierten griechischen Antike eine Grundkraft menschlicher Kultur entdecken will, die einer aka demisch-klassizistischen Antike-Deutung ein alternatives Modell entgegenstellt. Junge Menschen, die in der modernen Welt an ver staubten Bildungsinhalten zu ersticken drohen, sollen von HölderlinTexten aus ihrer Heimatlosigkeit und ihren Zweifeln herausgelockt werden. Hölderlins Denken steht für die Erfahrung, die Welt könnte anders sein. »Wort« und »Stimme« Hölderlins zu vernehmen heißt, meint Nietzsche in einer Lesart, die Hölderlin mit Heraklit zusam menrückt, das, wie er aus einem Brief Hölderlins zitiert, »Vorüberge hende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme« zu begreifen, um einer anderen Wirklichkeit inne zu werden als der gegenwärtigen.128 Nichts hat Bestand im Strom des Lebens, dessen Gestalten einander ablösen und bedingen, aber immer wieder zu neuer Kraft und Fülle finden, wenn der menschliche Geist sie ergreift und gestaltet. Eines Tages, hofft Nietzsche, wenn die »Zöglinge« des Altertums dessen Geist »fruchtbringend und grossartig nachge schaffen« haben, dürften sie sich an die »noch gewaltigere Aufgabe« heranwagen, »hinter diese alexandrinische Welt zurück und über sie hinaus zu streben«. Erst eine solche »Bildung« sei mehr und anderes als Nachvollzug, nämlich aktives Ergreifen eines lebendigen Geistes unter neuen Bedingungen – »unsäglich reich(.) und lebensvoll(.)«.129 Hölderlin und Heraklit rückt Nietzsche in einen komplementären Deutungsrahmen wie Heidegger. Unhistorisch wäre eine solche Bildung ebenso wie Heideggers An-Denken an einen verlorenen Ursprung. Nur führt der Blick dieser Geisteshaltung nicht in eine Leere des Denkens, sondern in die Leben digkeit einer Selbsterschaffung in der Welt. Schauen und Sehnen, Ebenda, S. 211 (Hervorhebung im Original). Nietzsche, F.: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitge mässe Betrachtungen II [1874]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 1. Hrsgg. von G. Colli und M. Montinari. München 1988, S. 248–334, hier S. 300. – Es handelt sich um einen Brief Hölderlins an Sinclair vom 24.12.1798. In: Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe. Hrsgg. v. M. Knaupp. 3 Bände, München 1992/1993. Hier Band II, S. 722. 129 Nietzsche, F.: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. A.a.O., S. 307.
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heißt es in der »Geburt der Tragödie«, müssen zusammenfinden, damit Altes zerstört und zu Neuem umgeschaffen wird. Heraklit und Dionysos sind dafür in Nietzsches Augen die philosophischen und mythischen, eigentlich die mytho-poetischen Bezugsfiguren. »Jenes Streben in’s Unendliche«, wie es die Tragödie vorstellt, »der Flügelschlag der Sehnsucht, bei der höchsten Lust an der deutlich percipierten Wirklichkeit, erinnern daran, dass wir in beiden Zustän den ein dionysisches Phänomen zu erkennen haben, das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart, in einer ähnli chen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder verwirft.«130 Will Nietzsches Blick auf die Tragödie die Idee philosophischer »Theorie« als Domestizierung einer ursprünglichen Kreativität entlarven, wäre Heideggers Deutung des verlorenen Anfangs der Griechen wohl ein Musterfall einer solchen philosophischen Theorie, die sogar meinen kann, alle Theorie hinter sich gelassen zu haben im Gestus reinen Denkens. Heideggers Sehnsucht nach dem Seyn steht bei Nietzsche eine »Sehnsucht zum Schein« gegenüber.131 Statt bloß dazu heraus zufordern, durchschaut zu werden, verheißen Spiele des Scheins Lust und Erlösung. Wie anders ließe sich das Dasein rechtfertigen? – »[N]ur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«.132 Nietzsches Philosophie ist schöpferisch, poetisch und ermuti gend, Ausdruck der Sehnsucht nach vitaler Lebensfülle, darin Erbin frühromantischer Motive und Ideen, jedenfalls alles andere als tro ckene »Metaphysik« oder andenkendes Hören auf die Ankunft des Seyns. Heideggers Lektüre hingegen deutet Nietzsche als Denker, der am »eigentlichen« Denken vorbeidachte. Nietzsches Mytho-Poetik und Hölderlins Dichtung evozieren weniger ein voranfängliches Seyn als eine menschheitsgeschichtliche Energie, die sich von Bildern nährt, sich in keiner ihrer Gestalten feststellen läßt, vermeintliche Wahrheiten in Frage stellt und unterschiedliche Traditionen mischt. Jesus Christus und griechische Göttergestalten wie Dionysos rücken dann in große Nähe. 130 Nietzsche, F.: Die Geburt der Tragödie [1872]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 1. A.a.O., S. 9–156, hier S. 153. 131 Ebenda, S. 38. 132 Ebenda, S. 47 (Hervorhebung im Original).
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4 Fugen und Felder 4.1 Sprache und Quantenphysik Während Nietzsche unterschiedlichste Ausdrucksformen des Lebens kennt und bejaht, betont Heidegger ausschließlich die Sprache. Das bewegt ihn dazu, Grenzen zwischen Literatur und Philosophie arg wöhnisch zu bewachen. In komplementärer Weise verteidigt er die Abgrenzung von der modernen Physik. Auf Bauen und Wohnen zu reflektieren oder das »Geviert« als dimensionales Gefüge zu entfalten, verlangt eine Sprache, die sich der Logik von Aussagesätzen entwindet. Heideggers Terminologie verwendet zur Charakterisierung des »Gevierts« den Ausdruck »Spie gel-Spiel«, um das Schweben einer Reflexion kenntlich zu machen, die in nichts gründet, auf kein Telos hinstrebt, an keiner Evidenz zu messen ist oder an Tatsachen kontrolliert werden könnte. »Jedes der Vier spiegelt in seiner Weise das Wesen der übrigen wider. Jedes spiegelt sich dabei nach seiner Weise in sein Eigenes innerhalb der Einfalt der Vier zurück. Dieses Spiegeln ist kein Darstellen eines Abbildes. Das Spiegeln ereignet, jedes der Vier lichtend, deren eigenes Wesen in die einfältige Vereinigung zueinander.«133 Assoziationen eines »Feldes« stellen sich ein, wie es die neuere Physik kennt. Alle Bestimmungen bleiben relativ aufeinander. Miteinander erzeugen sie eine Art Zusammenhang, der eher energetisch als substanziell zu verstehen ist. Für physikalische Feldzustände gilt wie für das »Spiegel-Spiel des Gevierts«, daß sie »weder durch anderes erklärbar noch aus anderem ergründbar« sind. Überhaupt wären »so etwas wie Ursachen oder Gründe dem Welten von Welt ungemäß«.134 Begriffe gleichen relationalen Feldzuständen, die wiederum auf Erfahrung – auf Beobachter – bezogen bleiben, von denen aus und für die »Welt« »weltet«. Nähen zur modernen Physik will Heidegger allerdings nicht zugestehen. In seinem Vortrag zur Technik charakterisiert er die »neuzeitliche physikalische Theorie« als genuin technisches Denken: »Die neuzeitliche physikalische Theorie der Natur ist die Wegberei terin nicht erst der Technik, sondern des Wesens der modernen Technik. Denn das herausfordernde Versammeln in das bestellende 133 134
Heidegger, M.: Das Ding. A.a.O., S. 180f. Ebenda, S. 181.
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Entbergen waltet bereits in der Physik. Aber es kommt in ihr noch nicht eigens zum Vorschein.«135 Naturwissenschaftlich-technisches Denken wurzelt demnach im Rechnen statt in der Sprache.136 Deshalb gilt die Physik nicht als »Denken«. Knapp nimmt Heidegger in seinem Vortrag auf Werner Heisenberg Bezug, ohne detailliert auf Verände rungen einzugehen, die von der Relativitäts- und Quantentheorie gegenüber der klassischen Physik vorgenommen wurden.137 Heisen berg erläutert das neuzeitliche Weltbild als ein wesentlich bildliches. Von der Vorstellung mechanischer Kräfte, die auf Substanzen in einem Raum-Zeit-Kontinuum einwirken, hat es sich gelöst. Ersetzt wurde die in lebensweltlicher Anschaulichkeit verankerte Mechanik von dem Gedanken des Kraftfeldes, bei dem ein Denken in Substanzen seine Bedeutung verliert.138 Wirkliches ist weder beobachtungsunabhängig noch als Konti nuum von Zuständen vorhanden. Zugänglich wird es durch Inter ventionen des Beobachters, der, was »ist«, hervorbringt. Mögliches und Wirkliches stehen in beobachterrelativen Verhältnissen. In ihrer jeweiligen Bezogenheit verweisen sie auf Symbole, mit denen über haupt die Unterscheidung von »möglich« und »wirklich« zustande kommt. »Wenn wir von atomaren Erscheinungen auf Gesetzmäßig keiten schließen«, erläutert Heisenberg im Blick auf die Kantische Philosophie, »so stellt sich heraus, daß wir nicht objektive Vorgänge in Raum und Zeit gesetzmäßig verknüpfen können, sondern ... Beobach tungssituationen. Nur für diese erhalten wir empirische Gesetzmä ßigkeiten. Die mathematischen Symbole, mit denen wir eine solche Beobachtungssituation beschreiben, stellen eher das Mögliche als das Faktische dar. Vielleicht könnte man sagen, sie stellen ein Zwischen ding zwischen Möglichem und Faktischem dar, das objektiv höchstens im gleichen Sinne genannt werden kann wie etwa die Temperatur Heidegger, M.: Die Frage nach der Technik. A.a.O., S. 21. Vgl. ebenda, S. 22. 137 Unkenntnis kann dafür kaum der Grund gewesen sein. Über Oskar Becker und Hermann Weyl ist Heidegger seit den 1920er Jahren mit Entwicklungen in der Physik bekannt. Epistemologische Umstürze, die mit der Funktion des Feld-Begriffs einher gehen, hat er aber nicht als Überwindung des in seinen Augen »metaphysischen« Weltbildes begriffen; er versteht sie vielmehr als dessen Bestätigung und Radikali sierung. Vgl. Vagt, Chr.: Geschickte Sprünge. Physik und Medium bei Martin Heidegger. Zürich 2012, S. 80ff. 138 Heisenberg, W.: Das Naturbild der heutigen Physik. In: Ders.: Das Naturbild der heutigen Physik [1959]. Hamburg 1972, S. 7–23, hier S. 10. 135
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in der statistischen Wärmelehre.«139 Vorstellungen von Substanzen mit Eigenschaften verlieren ihre Gültigkeit, wenn »Reales« oder »Faktisches« in Gestalt von »Tendenzen« vorkommt. Physikalische Wirklichkeit kommt nur in Beschreibungen zum Vorschein.140 »Felder« sind Wahrscheinlichkeitsmuster in Relation zu symbo lischen Verknüpfungen. Weil physikalische Wirklichkeiten mithilfe mathematischer – messender – Operationen und in symbolischer Form – als Gleichungen – vorkommen, bringen Physiker zur Erschei nung, was sie bestimmend erzeugen. Entscheidend ist, wie bestimmt wird. Mathematische Bestimmungen sind ebenso wie sprachliche Ausdrücke symbolische Praktiken: Beschreibungen, bei denen alles darauf ankommt, welche Verknüpfungen sie erlauben. Eigentlich, so Heisenberg, sei kaum zu unterscheiden, ob physikalische Formulie rungen von Naturgesetzen »Aussagen über das empirische Verhalten der Welt, über Formen unseres Denkens oder über die Sprache enthal ten, mit der wir die Welt zu ergreifen suchen.«141 Zeichenordnungen sind die Voraussetzung von Unterscheidungsmöglichkeiten, die in der Schwebe lassen, um welche primäre Referenz es sich jeweils handelt, wenn unterschieden wird. Im Grunde gibt es keine primäre – ontolo gische – Referenz mehr, denn weder gründen Bestimmungen im Sein von Entitäten noch in einer universellen Struktur des Bewußtseins oder in quasiontologischen Strukturen der Zeichen. Nur für die Physik beansprucht Heisenberg einen Vorrang mathematischer Zeichen, denn allein sie gewährleisten maximal prä gnante Unterscheidungen.142 Seine Überlegung läßt sich erweitern. 139 Heisenberg, W.: Quantenmechanik und Kantische Philosophie [1969]. In: Ders.: Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze. Stuttgart 1979, S. 62– 75, hier S. 71f. 140 »Wenn man eine genaue Beschreibung des Elementarteilchens geben will – und hier liegt die Betonung auf dem Wort ›genau‹ – so ist das einzige, was als Beschreibung niedergeschrieben werden kann, die Wahrscheinlichkeitsfunktion. Aber daraus erkennt man, daß nicht einmal die Eigenschaft des ›Seins‹, wenn man hier überhaupt von Eigenschaft reden will, dem Elementarteilchen ohne Einschränkung zukommt. Es ist eine Möglichkeit oder eine Tendenz zum Sein.« Heisenberg, W.: Physik und Phi losophie [1958]. Stuttgart 20118, S. 101f. 141 Heisenberg, W.: Grundlegende Voraussetzungen in der Physik der Elementar teilchen [1959]. In: Neske, G. (Hrsg.): Martin Heidegger zum 70. Geburtstag. Pful lingen 1959, S. 291–297, hier S. 291. 142 Denn »nur diese (die mathematische, DR) Symbolsprache erlaubt den Grad von Klarheit, Präzision und Kürze, der für die theoretische Zusammenfassung eines so großen und komplizierten Erfahrungsgebiets unerläßlich ist.« Ebenda.
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Wenn keine Bestimmung von jeweils »Wirklichem« ohne Symbol ordnung möglich ist, wenn es mithin kein »etwas« ohne Unterschei dungsoperation »gibt«, dann sind Zeichen, in welchen regelhaften Ordnungen auch immer sie auftreten, die Form des Unterscheidens: empirische Bedingung der Möglichkeit von Wirklichem. Zwischen Sprache und Mathematik besteht in dieser Hinsicht kein so großer Unterschied: »Es muß also ein mathematisches Symbol eingeführt werden, das ›Etwas‹ und ›Nichts‹ zu trennen gestattet; oder in der Sprache der mathematischen Physiker: es muß ein Operator einge führt werden, der aus dem ›Nichts‹ (dem ›Vakuum‹), ein ›Etwas‹ (die ›Materie‹) erzeugt.«143 Heideggers Abgrenzung von der Physik läuft darauf hinaus, Philosophie und Physik bzw. Mathematik nicht nur relativ in bezug auf spezifische feldspezifische Beschreibungen zu unterscheiden, sondern einen prinzipiellen Vorrang der Philosophie zu behaupten, der sich auf die Annahme stützt, Sprache sei das fundamentalste und deshalb der Mathematik überlegene Zeichensys tem.144 Aber seine »ontologische Differenz« trifft auf begrifflichem Wege eine Unterscheidung zwischen Seiendem, Sein und Nichts, die nichts konkret bestimmt – mit dem Unterschied, daß es dabei keinen exakten Operator gibt. Zirkuläre Zusammenhänge zwischen Ordnungen des »Wirkli chen«, des »Denkbaren« und der »Zeichen« münden in feldrelative Bestimmungen, die sich einer prinzipiellen Entscheidbarkeit über den Vorrang jeweiliger Referenzen entziehen.145 Weder mathematische Ebenda, S. 292. Heideggers Distanzierung gegenüber Heisenberg wiederholt ein Motiv, das seine Differenzen mit Rudolf Carnap zum Ausdruck bringt. Carnap war 1929 in Davos bei der Kontroverse zwischen Heidegger und Cassirer zugegen. Heideggers Philosophie, mit der Carnap sich intensiv beschäftigt, dient ihm später als exemplarisches Beispiel für aus seiner Sicht sinnlose Sätze, während Heidegger den Unterschied zu einem logischen Positivismus darin sieht, daß dieser das Wesen der Sprache verfehle. Betrachtet Carnap die Logik als fundamental und möchte er deshalb die Sprache am Modell der Logik orientieren, besteht Heidegger auf der fundamentalen Funktion der Sprache gegenüber der Logik. Vgl. Friedman, M.: Carnap, Cassirer, Heidegger. Geteilte Wege. Frankfurt/M. 2004, S. 27ff. 145 Der blockierte Dialog zwischen Heidegger und der Physik wird oft aus der Perspektive Heideggers betrachtet. Vgl. Hempel, H.-P.: Natur und Geschichte. Der Jahrhundertdialog zwischen Heidegger und Heisenberg. Frankfurt/M. 1990. Günter Seubold schenkt in seiner Rekonstruktion von Heideggers Technikphilosophie dessen Rezeption der modernen Physik eher beiläufige Aufmerksamkeit, ohne sie auf Ver änderungen in Heideggers Reflexions- und Schreibweise zu beziehen. Vgl. Ders.: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik. Freiburg, München 1986. 143
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noch sprachliche Ausdrücke sind mit dem Wahrnehmungsfeld homo log. Bestimmtes entspringt bereits in der Wahrnehmung einer leiblich situierten Beweglichkeit, ohne zu Eindeutigkeit zu führen. Jeder Horizont bleibt eine Ordnung des jeweils Wahrscheinlichen, in der »etwas« zugleich Unterschiedliches bedeuten kann.146 Heisenbergs physikalische »Felder« oder Heideggers philosophisches »Geviert« werden unter dieser Perspektive zu vergleichbaren Modellen. Hätte Heidegger diese Ähnlichkeit eingestanden, wäre er kaum umhin gekommen, auch nicht-sprachlichen Denkformen zumindest eine vergleichbare Relevanz zuzutrauen wie seinen eigenen philosophi schen Bemühungen. Vom »Sein« zu sprechen heißt, einen absoluten Begriff ins Spiel des Unterscheidens zu bringen, der nicht zuletzt dazu dient, alle begrifflichen Unterscheidungen in Frage und auf die Probe zu stellen – so wie das quantenphysikalische Modell von Feldern, Teil chen und Tendenzen die Unterscheidung zwischen Physik, Biologie, Gesellschaft und Kultur unterläuft.147 In Frage steht, welche wirklichkeitsstiftenden Effekte symboli sche Interventionen in polymorphen Wahrnehmungsfeldern auslö sen, weniger, wie sie sich abstrakten Begriffen wie dem Sein, der Natur oder dem Denken fügen. Abstrakte Raum-Zeit-Koordinaten scheitern an der Wahrnehmung ebenso wie an der Quantenmechanik. Unter Bezug auf Whiteheads Naturphilosophie spricht Merleau-Ponty von einer »Transzendenz des Seins« gerade wegen der Unmöglichkeit, die Zeitlichkeit der Natur wie der Wahrnehmung anzuhalten. Nähe und Distanz verschränken sich in der Reflexion der Wahrnehmung zu einem Werden, das sich nicht fixieren läßt, weil der Leib an der Natur teilhat.148 Dieses Sein ist so transzendent wie immanent. Zugänglich wird es in symbolischen Gestalten, die weder ausschließlich begriff lich noch mathematisch sein müssen. Anders als Heideggers An-Den ken es versucht, müßte die Reflexion auf eine solche immanente Transzendenz ihrer symbolischen Intervention Rechnung tragen, indem sie in das Zugleich wie in den Wandel der erscheinenden Welt eintaucht. »Seyn« würde zur Chiffre einer ursprünglichen 146 Vgl. Merleau-Ponty, M.: Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège de France 1956–1960. München 2000, S. 143f., 151. – Auch Merleau-Ponty sieht die Grenze der Physik darin, zwar die Philosophie »provozieren«, aber keine »Begriffe« liefern zu können. 147 Vgl. auch Schrödinger, E.: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet [1944]. München 201111. 148 Vgl. Merleau-Ponty, M.: Die Natur. A.a.O., S. 169, 171.
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4 Fugen und Felder
Produktivität, deren Echo die Reflexion, sei es des Künstlers, des Wis senschaftlers oder des Philosophen, ist. Von Heideggers »Seyn« ist eine solche Reflexion ebenso verschieden wie von Merleau-Pontys »Natur«. Dem An-Denken bleibt sie so unerreichbar, wie sie sich einer Phänomenologie des Leibes unvollkommen erschließt.
4.2 Hörendes Denken Was nach Heideggers Auffassung nur die Sprache vermag, erklärt er in der Vorlesung zum »Satz vom Grund«. Dieser Satz wird einem hörenden Denken unterzogen, das Bedeutungsdifferenzen als Unterschied der Tonlage versteht. Reflexion entspringt einer musikalisierenden Modulation des »Satzes«, die dessen onto-logische Implikationen konterkariert. Bedeutungsdifferenzen resultieren aus lautlichen Artikulationen, die sich im Satzbild nicht darstellen.149 Gesprochenes gewinnt gegenüber der Schrift den Vorrang. Diese Möglichkeit unterscheidet die Sprache von mathematischen Zeichen: Zahlen sind grundsätzlich nicht rhetorisch. Unmöglich ist es, durch ein anders betontes lautes Lesen einer Gleichung Veränderungen im mathematischen Sinn herbeizuführen. Um sinnliches Hören ist es allerdings nur insoweit zu tun, als klangliche Nuancierungen einem nicht sinnlichen »Denken« Impulse verleihen. »Das im Denken Erhörte und Erblickte läßt sich nicht mit unseren Ohren hören, nicht mit unseren Augen sehen. Es ist nicht durch unsere Sinnesorgane wahrnehmbar. Fassen wir das Denken als eine Art Hören und Sehen, dann wird das sinnliche Hören und Sehen übernommen und hinüber genommen in den Bereich des nicht-sinnlichen Vernehmens, d.h. des Denkens.«150 Gemeint ist folgende Verschiebung der »Tonart«: Aus »Nichts ist ohne Grund« wird »Nichts ist ohne Grund«. Sie verlagert die Bedeutung des Satzes von einer Rede über Seiendes in eine Rede über das Sein. »Die neue Tonart enthüllt den Satz vom Grund als einen Satz vom Sein.«151 Anders betontes Lesen bahnt eine Verschiebung grundlegender Art an, die aus einem onto-logischen System ein In Jacques Derridas späterer Philosophie der Différance wird sich dieses Vorgehen Heideggers wiederholen. Vgl. Ders.: Grammatologie [1967]. Frankfurt/M. 1983. 150 Heidegger, M.: Der Satz vom Grund. A.a.O., S. 70. 151 Ebenda, S. 76.
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poetisches Instrument macht, für das »Denken« zum vibrierenden Resonanzraum wird, dessen Intensitäten keine Ähnlichkeit mehr mit repräsentierenden Vorstellungen haben sollen. Hörend auf den Klang des Satzes erwächst ein Sehen, das erblickendes Denken wird. »Erbli ckend« ist dieses Denken, weil es von sinnlichem Sehen unterschieden bleibt. »Die Erörterung des Wesens des Grundes gelangt allererst durch den anders betonten Satz vom Grund in ihren zuständigen Bereich. Jetzt gilt es zu erblicken, daß und in welchem Sinne derglei chen wie Grund zum Wesen des Seins gehört.«152 Heidegger hebt seine Bedeutungsverschiebung von theoreti schen Verfahren ebenso wie von gauklerischen Sprachverhexungen ab, wie sie einem Leser Ludwig Wittgensteins in den Sinn geraten mögen: »Diese Verwandlung des Denkens erreichen wir weder durch eine anspruchsvolle Theorie noch durch irgendeine Hexerei, sondern allein so, daß wir uns auf einen Weg begeben, einen Weg bauen, der in die Nähe des genannten Sachverhaltes gehört.«153 Für Heideggers Reflexion ist diese poetische Verwandlung fundamental, charakteri siert sie doch das, was er den »Sprung« nennt, mit dem das Denken sich aus dem Bann der abendländischen Geschichte löst und sich zum Andenken des Seins befreit. Die Rede ist von einer Art Transsubstan tiation von Logik und Aussage zu einer Poetik der Fuge, die in eine Denk-Geste mündet. »Der Wechsel der Tonart ist ein jäher. Hinter dem Wechsel der Tonart verbirgt sich ein Sprung des Denkens. Der Sprung bringt das Denken ohne Brücke, d.h. ohne die Stetigkeit eines Fortschreitens, in einen anderen Bereich und in eine andere Weise des Sagens.«154 Leser dieses Textes – oder Hörer dieser Vor-Lesung – finden sich in subtile Spiele von Worten, Sätzen, Betonungen und Kom mentaren, Kursivierungen und Einschüben, Wiederholungen und Verschiebungen verstrickt. Eingespielte Bedeutungen lösen sich aus ihrer historischen Verankerung, treten in Zustände wechselseitiger Resonanzen und provozieren Reflexionen, indem sie fixierte Bedeu tungen in oszillierende Verweise transformieren. Wer darauf achtet, was Heidegger tut, wenn er schreibt oder spricht, »sieht« – im Sinne von Heideggers denkendem Sehen – ein genau umrissenes, sich über wenige, immer aufs neue wiederholte Worte – Sein und Seiendes, das 152 153 154
Ebenda. Ebenda, S. 77. Ebenda, S. 79, auch S. 88f.
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Ge-stell, das Geviert, das An-Denken u.a. – aufbauendes Feld kom plementärer Sinnverweisungen, das zugleich präzise und doch vage, jedenfalls gegenständlich oder vorstellungsmäßig unzugänglich ist. Wenn Heideggers An-Denken des Seins Anspruch auf philosophische Strenge erheben kann, dann vor allem dank seiner genauen, wenn gleich nicht exakten, Verankerung in Sprach-Spielen, die es inszeniert, um stabile Oszillationen schwebender Reflexionen herbeizuführen – statt sie zu notieren, zu messen oder urteilend in Aussagen zu fixieren. Insofern stimmt Heideggers Kritik des Ursachen-Denkens mit der Auflösung kausalen Denkens in der neuen Physik überein. Aber wie um seine Distanzierung auf die Spitze zu treiben, deu tet Heidegger die Physik mit einer ähnlichen Lautverschiebung zu einem unheilvollen Maschinendenken um. Das »Atomzeitalter« ent puppt sich als planetarisches Zeitalter der »Information« – wobei, wie Heidegger mahnt, das Wort Information »in der amerikanischenglischen Aussprache« gehört werden müsse.155 Auf einer lautli chen Verschiebung, die mit vermeintlichen Bedeutungsunterschie den englischer und deutscher Wortklänge arbeitet, ruht die Last seinsgeschichtlicher Deutungen. Der Satz vom Grund wird zum Grund einer informationstheoretischen Seinsvergessenheit, die in Denkmaschinen kulminiert und die Welt ins Gestell der Technik pfercht. Beschworen wird ein Denken, das »den Anspruch auf unmit telbare Verständlichkeit preisgeben« und zugleich dem Vorläufigen »zuhören« kann.156 Malerei, Dichtung, Physik und Philosophie kom men, wie Heidegger glaubt, darin überein, ihre Bestimmung aus einem »Sein« zu empfangen, das in der Verweigerung unmittelbarer Verständlichkeit oder Nützlichkeit solcher Zeichengebilde zum Vor schein gelangt. Das »Haus des Seins« wird leergeräumt, damit es als Haus um so klarer in Erscheinung treten kann. Ein reines »Es gibt« »schickt« sich dem Denken als »Gabe« zu, wenn dieses allen Ambitionen auf welthaltige Bestimmungen entsagt und in den Modus des Hörens übergeht. »Das Sein eigens denken, verlangt, das Sein als den Grund des Seienden fahren zu lassen zugunsten des im Entbergen verbor gen spielenden Gebens, d.h. des Es gibt.«157 Offensichtlich spielt die Figur einer Empfängnis des Seins mit dem christlichen Motiv Ebenda, S. 182. Heidegger, M.: Zeit und Sein [1962]. In: Ders.: Zur Sache des Denkens. Tübingen 19762, S. 1–25, hier S. 1. 157 Ebenda, S. 6.
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unbefleckter Empfängnis. Das Andenken an einen ursprünglichen Logos korrespondiert der erwarteten Ankunft des Erlösers. Verlangt jedoch für gläubige Christen, Jesus Christus zu folgen, die Bereit schaft, ihr Verhalten in der Welt, zu anderen und zu sich selbst zu verändern, verlagert Heideggers Seins-Denken den Akzent in eine hörende Kontemplation. Wenn aber Heideggers poetisch-philo sophische »Lichtungen« weder etwas über die Welt zeigen noch nietz scheanisch-ästhetische Selbststeigerung zuwege bringen – warum sollten wir uns immer wieder an die Arbeit machen, Seiendes auf das Sein hin zu »lichten«? Wo keine Wiederholung neue oder andere Denk-Erfahrungen in Aussicht stellt, müßte der einmalige Vollzug an-denkender Reflexion genügen, um die der Philosophie mögliche Einsicht zu erreichen. Descartes hatte davon gesprochen, es genüge, einmal im Leben den Reflexionsweg der Meditationen zu gehen, denn jede Wiederholung bleibe bloße Wiederholung. Analoges ließe sich von Heideggers Lichtungen sagen: Jede Wiederholung bleibt bloße Wiederholung der schreibenden Arbeit des Lichtens. Agnes Martins Bilder oder Peter Zumthors Bauten hingegen sind ästheti sche Singularitäten, in denen konkret Welt auf unendliche Weise der Reflexion zugänglich wird. Jede neue Annäherung an sie löst andere Erfahrungen aus und stiftet neue Bezüge. Philosophie müßte, damit das Lichten als zu wiederholende Operation Sinn gewinnt, Kunst werden. Religiöse Konnotationen melden sich in dem Bestreben, im An-Denken des Seins und der Empfängnis der Gabe den Menschen in den Mittelpunkt philosophischer Reflexion zu stellen. Künstlerischen oder physikalischen Möglichkeiten des Weltzugangs kontrastiert diese Dimension am stärksten, haftet ihr doch eine konstitutive Passivität an. Je enger Philosophie und Religion zusammenrücken, desto wichtiger wird die doppelte Grenzsicherung gegenüber Künsten oder Physik. Schließlich erscheint bei Heidegger der Mensch als Ort des ehemals Göttlichen. »Der Mensch innestehend im Ausgang von Anwesenheit, dies jedoch so, daß er das Anwesen, das Es gibt als Gabe empfängt, indem er vernimmt, was im Anwesenlassen erscheint. (...) Anwesenheit besagt: das stete, den Menschen angehende, ihn erreichende, ihm gereichte Verweilen.«158 Wer die Menschen auf solches Denken der Gabe vorbereitet, gleicht einem Seher. Das ist die Rolle, die Heidegger seinem eigenen Denken zuweist, das am 158
Ebenda, S. 12f.
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4 Fugen und Felder
»Ende der Philosophie« zu stehen glaubt. Prophetisch reißt es das Dunkel metaphysisch-technischer Verfallenheit auf und verweist auf ein ungewisses Kommendes. »Gering aber bleibt das vermutete Den ken vor allem deshalb, weil seine Aufgabe nur einen vorbereitenden, keinen stiftenden Charakter hat. Sie begnügt sich mit der Erweckung einer Bereitschaft des Menschen für eine Möglichkeit, deren Aufriß dunkel, deren Kommen ungewiß bleibt.«159
159 Heidegger, M.: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens [1964]. In: Ders.: Zur Sache des Denkens. A.a.O., S. 61–80, hier S. 66.
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Andere Romantik
1 Fülle des Sinns oder Askese der Reflexion? Philosophie und Literatur sind, wie Platons Texte exemplarisch zei gen, verschwistert. Virtuos inszeniert wird dieser Zusammenhang auch von frühromantischen Dichter-Philosophen, in deren Tradition sich Martin Heidegger stellt. Sein Schreiben sucht im von gewohnten Bedeutungen weitgehend befreiten Wort den Schlüssel zum Denken. Frühromantischer Sinnfülle, die in der Vielfalt der Symbole lebt, begegnet er mit Distanz. Zum Modell »reiner« Reflexion, wie es von Descartes bis Fichte die Philosophie des Bewußtseins prägt, verhält Heideggers Denken sich seltsam komplementär. Auch für ihn, der doch der Intentionalität abschwört, gilt, was Maurice Mer leau-Ponty der Bewußtseinstheorie vorgehalten hat, nämlich sich als Akt zu verkennen und »als latente Intentionalität, als Sein zu – zu vergessen.«1 Weil »jede Sprache ist und doch ihr Wesen darin hat, das Schweigen wiederzufinden«2, bedarf es, um zum Schweigen zu gelangen, des Sprechens. Doch ist Sprechen an der Grenze der Sprache nicht dasselbe wie ein Erschweigen des Seyns. Intentionalität, von der Phänomenologie ihren Ausgang nimmt, verwickelt das Wahrnehmen und Denken in vielfältige Weltbezüge, deren Reichtum der Artikulation harrt; einfach gesehen werden kann er nicht. Phänomene »zeigen« sich kaum von selbst; als sinnhaft Erscheinendes müssen sie entfaltet werden. Von daher stehen »Phä nomenologie« und »Hermeneutik« in ähnlich engem Bezug wie Philosophie und Literatur. Sprechende oder schreibende Entfaltungen einer phänomenal erschlossenen Welt verschieben das Feld jewei liger Bezüge, Kontraste und Vergleiche, in denen Ordnungen des Wirklichen zur Geltung kommen. Grenzen zwischen Beschreibung und Fiktion werden durchlässig. Doch Heideggers Verlagerung der 1 Merleau-Ponty, M.: Das Sichtbare und das Unsichtbare [1964]. München 1986, S. 272 (Hervorhebung im Original). 2 Ebenda.
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Andere Romantik
Aufmerksamkeit auf die Sprache droht deren Ausgangspunkt aus den Augen zu verlieren. Die »Welt« behält er nicht einmal im Status der Epoché im Blick. Über alles Weltliche blickt das Auge des Philosophen hinweg und hinaus. Nun bringt keine Sprache reine Formen, weder des Sinns noch der Welt oder des Denkens, zum Ausdruck. Vielmehr hebt sie Züge des Wirklichen und Imaginären hervor, die, wie im Echo, Resonan zen dessen bleiben, was sie nicht einfach bezeichnen. Im Grunde, bemerkt Merleau-Ponty, handelt es sich bei dieser zum Ausdruck drängenden Wahrnehmungswelt durchaus um etwas Ähnliches wie das, was Heidegger unter »Sein« versteht.3 Allerdings geht MerleauPonty nicht vom Wort, sondern vom Sprechen aus, das uns in ein Sinngeschehen verwickelt, dessen Zentrum jeweils der Leib bildet. Wahrheit wird hervorgebracht in der responsiven Lebendigkeit zum Sinn verurteilter Menschen. Besser als von einer Lichtung des Seien den wäre deshalb von einem Überstieg des Phänomenalen zum noch nicht Artikulierten zu reden. »Es geht darum zu begreifen, daß die Wahrheit selbst überhaupt keinen Sinn hat außerhalb der Beziehung zur Transzendenz, außerhalb des Überstieges zum Horizont, – daß die ›Subjektivität‹ und das ›Objekt‹ ein einziges Ganzes sind, daß die subjektiven ›Erlebnisse‹ zur Welt zählen und teilhaben an der Weltlichkeit des Geistes, daß sie eingetragen sind in das ›Register‹ des Seins, daß das Objekt nichts anderes ist als das Büschel dieser Abschat tungen ... Nicht wir nehmen wahr, sondern es ist das Ding, das sich dort drüben wahrnimmt, – nicht wir sprechen, sondern die Wahrheit ist es, die sich in den Tiefen der Rede ausspricht – Die Naturwerdung des Menschen ist Menschwerdung der Natur – Die Welt ist Feld und in dieser Hinsicht immer offen«.4 Merleau-Pontys Leibphänomenologie legt den Akzent auf die Explikation der Natur.5 Was den Leib »Fleisch« sein läßt, das »eingeschlossen ist in den Kreislauf der Welt«, macht ihn vor aller Differenzierung der Zeichen zur »Sprache«.6 Heideggers Sein, das durch alle Worte hindurchschimmert, setzt Merleau-Ponty eine Natur entgegen, deren immanente Transzendenz allen Zeichen entflieht. Heideggers Seyn und Merleau-Pontys Natur, An-Denken und Leibphänomenologie forcieren frühromantische Gedanken zur Vgl. ebenda, S. 221. Ebenda, S. 239 (Hervorhebungen im Original). 5 Vgl. Merleau-Ponty, M.: Die Natur. Vorlesungen am Collège de France 1956–1960. München 2000, S. 281. 6 Vgl. ebenda, S. 286. 3
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1 Fülle des Sinns oder Askese der Reflexion?
symbolischen Natur der Reflexion als einer zugleich erkennenden und schöpferischen Tätigkeit in komplementärer Weise. Die differenzierte Einheit des »Sinns« – Welt und Ich – begegnet bei Merleau-Ponty als auszulegender Reichtum. Darin liegt, über die Explikation des Leibes hinausweisend, eine mögliche Bedeutung von »Sein«, das alles konkret Bestimmte, als Seiendes, übersteigt, indem es gestaltet wird. Sprache unterhält Beziehungen zu anderen symbolischen Aus drucksmöglichkeiten. Wie der Traum, schreibt Merleau-Ponty ähnlich Nietzsche, bringt die »Malerei alle unsere Kategorien durcheinander«. Imaginäres und Wirkliches gehen ineinander über, um Ähnlichkeiten und Bedeutungen zu entfesseln.7 Kunst und Literatur sind für Nietz sche und Merleau-Ponty ebenso welterschließende Praktiken wie für romantische Denker und Künstler. Philosophie »kann nicht totaler und aktiver Zugriff, intellektuelle Inbesitznahme sein ... Was sie sagt, ihre Bedeutungen, gehören nicht dem absolut Unsichtbaren an: sie macht sichtbar durch Worte. Wie alle Literatur. Sie richtet sich ein auf der Kehrseite des Sichtbaren: sie steht auf beiden Seiten.«8 Wer auf der Grenze des Wirklichen und Imaginären balanciert, wird strikte Grenzkontrollen zwischen Logik und Ästhetik ignorieren. Symboli sche Gesten unterbreiten Formulierungsvorschläge, die etwas sehen lassen, indem sie anders sehen machen. Als Akte der Kontemplation müßten sie mißlingen. Wer wollte zwischen Philosophie und Poesie strenggläubig unterscheiden? »Da die Wahrnehmung selbst niemals abgeschlossen ist, da unsere Perspektiven uns eine Welt ausdrücken und zu bedenken geben, die sie umfängt, sie verschlingt und sich durch blitzartige Zeichen wie ein Wort oder eine Arabeske anzeigt, warum sollte dann das Ausdrücken der Welt der Prosa der Sinne oder des Begriffs unterworfen sein? Es muß vielmehr Poesie sein, das heißt, es muß unser reines Ausdrucksvermögen über die schon gesagten oder gesehenen Dinge hinaus erwecken und mobilisieren.«9 Reflexionen sind getragen von einem symbolisch-sinnlichen Stil, vollgesogen mit Welt und reich an Bezügen – ähnlich einer Erzählung, einem Bauwerk, einem Musikstück oder einem Gemälde. Merleau-Ponty verwendet zu dessen Charakterisierung einen Ausdruck Friedrich Schlegels: Arabeske. Merleau-Ponty, M.: Das Auge und der Geist [1964]. Hamburg 1984, S. 22. Merleau-Ponty, M.: Das Sichtbare und das Unsichtbare. A.a.O., S. 334 (Hervorhe bungen im Original). 9 Merleau-Ponty, M.: Das Auge und der Geist. A.a.O., S. 82 (Hervorhebung im Ori ginal). 7
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Andere Romantik
Zeichen schleichen sich in die Domäne vermeintlich reinen Denkens. Statt im Stromkreis eines in sich geschlossenen »Cogito« zu kreisen, erweitern sie Bedeutungen zum Zauberkreis alogischer Konstellationen des Sinns, die verwandeln, was sie berühren. Zeichen werden Schrift oder Bild, Zahl oder Ton, Gedicht oder Märchen, um Ordnungen des Sinns zu stiften, in deren Faltungen Ich und Welt, wie im Tanz, sowohl zusammenfinden wie auseinandertreten. Selbstund Weltbezüge nehmen in verschiedenen symbolischen Texturen unterschiedliche Färbungen an. Was macht »Gedanken« aus, wenn sie auf Aussagen, Urteile oder Thesen irreduzibel sind, sich keiner einzigen Zeichenform ganz und gar unterwerfen? Heideggers Arbeit am »Denken« erliegt einem mythischen Singular, während sie es vermeidet, von »Gedanken« auszugehen: Gedanken kommen im Plural, nie als abtrennbare einzelne vor; unlösbar bleiben sie mit der »Welt« verschmolzen. Gedanken von »nichts« gibt es nicht. Deshalb sind Gedanken phänomenal zugänglich und zu explizieren, ohne doch mit Husserls Idee einer Intentionalität des Bewußtseins deckungsgleich zu sein. Indem Gedanken Konstellationen des Sinns, die das Bewußtsein Einzelner übersteigen, wie zu Gravitationsfeldern der Bedeutung verdichten, harren sie der – zum Beispiel, aber nicht ausschließlich, sprachlichen – Gestaltung: Sie sind auf, im weiten Sinne, »hermeneutische« – auf sinnexplizierende – Leistungen ange wiesen. Solche Explikationen gleichen gestischen Interventionen in eine »Fülle« des Sinns, der sie situativ Profil verleihen – gar nicht unähnlich einer messenden Intervention in ein physikalisches »Feld«. Merleau-Pontys Kritik an Heidegger zielt auf diesen Zusammenhang, wenn er von Feldern des Sinns zu sprechen vorschlägt. Zu Kunst werken unterhalten Gedanken vielleicht familiärere Beziehungen als zu methodisch disziplinierten Wissenschaften. Nietzsches Wert schätzung der Kunst gründet in deren Kraft zu überschäumender Sinnfülle, in deren rauschhafter Dynamik ein lebendiger Wille sich selbst erfährt. Je mehr ein solcher Wille in das kreative Spiel der Zeichen eintaucht, desto mehr geht er zur kulturell geformten Welt gesellschaftlicher Zwänge auf Distanz, um sich vorbehaltlos in die Welt zu stürzen. Nichts könnte Heidegger fremder sein. Zu viel Welt, eine Über fülle der Erfahrung würde die Reinheit der Worte trüben. Offenheit, wie eine poetische Reflexionspraxis sie anstrebt, ist von Heideggers »Lichtung« verschieden. Zeichen »zeigen«, wie er Hölderlins »Ister« liest, auf etwas, das noch im Unbekannten liegt. Dichtung, als Verhält
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1 Fülle des Sinns oder Askese der Reflexion?
nis zwischen Himmlischem und Sterblichem, hebt eine »Zusammen gehörigkeit« des denkend Unterschiedenen ins Wort, das deutet, ohne zu bedeuten.10 Bleiben Felder des Sinns konkret, werden BegriffsFugen abstrakt. Imaginäres und Wirkliches leben in Sinn-Feldern in promiskuitiver Nähe. Heidegger ist an einem Umgang mit Sprache gelegen, der Verunreinigungen mit Welt, Emotionen und einer unbe rechenbaren Liaison der Zeichen vorbeugt. Darum liest er Nietzsche als Metaphysiker. Bei allem Nachdruck, mit dem Heidegger an einer Poetik der Reflexion arbeitet, führt seine Einseitigkeit im Verständnis der Zeichen zu einer Einseitigkeit seiner Rezeptionsstrategien – zum Beispiel im Blick auf Hölderlin und Nietzsche – und zu einer Sterilität des Weltbezugs seiner Reflexionen. Weil sie sich auf die reine Form der Reflexion konzentrieren, werden sie, im Laufe der Zeit, einer formalistisch erstarrten Metaphysik ungewollt immer ähnlicher. Gegen die Verschiedenheit von Reflexionsstilen wäre wenig einzuwenden, solange sie sich nicht mit einem privilegierten Zugang zur Wahrheit verwechseln. Aufs Absolute zielend, wird Heideggers Gestus absolut, obwohl seine frühromantische Einsicht in die funda mentale Bedeutung der Zeichen ihn vor dieser Verabsolutierung hätte bewahren können. »Lichten« heißt nun, Seiendes von der Fülle des Sinns zu entleeren, um eine Leere zu artikulieren, die nicht mehr zur Welt zurückführt. So sehr zielt Heideggers »Denken« aufs Ganze, daß es sich in einem einzigen Gedanken, dem des Seins, verdichtet. Indem die Sprache seiner Texte sich von üblichen Wortbedeutungen löst und künstlich einfach bleibt, will sie weder repräsentierenden noch argumentierenden Zwecken dienen. Entfaltet wird eine Bildlichkeit, die das denkende Lesen oder lesende Denken – und ebenso das Hören – als Schwebe der Reflexion erfährt. Nur führt diese Art der Reflexion in einer Weise aus der Welt hinaus, daß sie keinen neuen Blick auf die Welt eröffnet. Ein Schlüsselmotiv frühromantischer Dichter-Philosophen geht Heidegger, trotz seiner Bewunderung für Hölderlins Lyrik, verloren: Sprachliche Weltzugänge erschließen ein menschliches Bedeutungsuniversum, dessen Reichtum auf Verflech tungen unterschiedlicher symbolischer Formen und habitueller Dis positionen beruht.11 Impulse, die Heidegger von Hölderlins Lyrik erfährt, entstammen einer einseitigen Rezeption. Wichtige Autoren, 10 Heidegger, M.: Hölderlins Hymne »Der Ister« [1942]. In: Gesamtausgabe Bd. 53. Frankfurt/M. 19932, S. 190f. 11 Vgl. Taylor, Ch.: Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachver mögens. Berlin 2017.
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Andere Romantik
die dem romantischen Denk-Gestus bunte Nuancierungen an Text formen, Witz und Ironie hinzufügen, bleiben unbeachtet. Deshalb wäre es aber auch voreilig, Heideggers Idee einer Poetik als gescheitert zu betrachten. Hinweise darauf, wie solchen Einseitigkeiten auszuweichen wäre, ergeben sich aus der doppelten Reduktion der Sprache. Zum einen tritt die welterschließende Funktion des Sprechens in den Hintergrund. Zum anderen nimmt das »Denken« sich auf eine Hal tung zurück, die sich mehr für sich als für das interessiert, was zur Erfahrung stehen könnte. Was Evidenz hieß, die Heidegger der »Metaphysik« zuschlägt, verwandelt sich zur Paradoxie einer Erfah rung der Erfahrung – einer Tautologie unbezweifelbarer Intensität von, im positiven Sinne, nichts: dem »Seyn«. In der Reflexion geht unter, was miteinander in Beziehung treten soll. Ihre schwebende Position wird unhaltbar, weil absolut.
2 Sprache denken Heideggers sprachfixierte Variante poetischer Reflexion läuft Gefahr, den Zeichencharakter der Sprache zu übersehen. Ohne referentielle Bezüge wäre Sprachentstehung unmöglich. Es gäbe nichts, was sie – im »Innen« des Bewußtseins wie im »Außen« der Erfahrung – differenzieren könnte. Ohne Differenzierung gelingen keine Zeichenund Symbolbildungen, denn Zeichen »sind« Prozesse: Differenzie rungen, die »etwas« trennen und verbinden, um schließlich auch Selbstreferenz – Bewußtsein – hervorzubringen.12 »Reine« Sprach formen wären keine Formen, da sie keine »Zeichen« sein könnten, die Leib, Geist und Welt miteinander verschränken. Gleiches gilt für ein »Denken« ohne »Gedanken« – Gedanken ohne Zeichen wären keine gegliederten Sinngestalten.13 Aus diesem Grunde bleibt Philosophie, 12 Cassirer, E.: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissen schaften [1921/22]. In: Ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 19948, S. 169–200, hier S. 177 (Hervorhebungen im Original). 13 Hier liegt der philosophisch interessanteste Punkt der Kontroverse zwischen Heidegger und Cassirer 1929 in Davos. Er entzündet sich an der Frage, wie Kants Unterscheidung zwischen Begriff und Anschauung zu denken wäre bzw. ob eine Not wendigkeit besteht, einen fundamentalen Begriff des Seins ins Spiel zu bringen oder von einer Pluralität symbolischer Formen auszugehen. Vgl. Frede, D.: Die Einheit des Seins. Heidegger in Davos – Kritische Überlegungen. In: Kaegi, C./Rudolph, E.
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2 Sprache denken
als sinnverstehende Praxis, an die »Welt« gebunden, aus der heraus – aber nicht: über die hinweg – sie ihre Explikationen betreibt. »Ziel der Philosophie«, schreibt Cassirer, sei nicht, »hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen«, sondern sie »in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewußt zu machen. In dieser Bewußt heit erst erhebt sich der Gehalt des Lebens zu seiner echten Form.«14 Was bei Cassirer »Geist« heißt, nimmt manche frühromantischen Motive einer Lebendigkeit des Sinns auf, um sie kulturphilosophisch als Genealogie der Komplexität des Geistes nachzuzeichnen. Auch Adornos »negative« Dialektik zielt, wenngleich in komple mentärer Weise wie Cassirers Symbolphilosophie, auf die konstitu tive und zugleich – oder deshalb – verhängnisvolle Funktion der Sprache. »Denken ist dem eigenen Sinn nach Denken von etwas. Noch in der logischen Abstraktionsform des Etwas, als eines Gemeinten oder Geurteilten, die von sich aus kein Seiendes zu setzen behauptet, lebt untilgbar dem Denken, das es tilgen möchte, dessen Nichtiden tisches, das, was nicht Denken ist, nach. Ratio wird irrational, wo sie das vergißt ...«15 Bodenlos werde Heideggers Denken, verfehle es doch gerade das Schwebende der Reflexion, um das es auch Adorno zu tun ist. »Ihr Schwebendes aber ist nichts anderes als der Ausdruck des Unausdrückbaren an ihr selber. Darin wahrhaft ist sie der Musik verschwistert.«16 Heidegger überhöhe, so Adorno, das Schwebende der Reflexion zur Hypostasierung des Unausdrückbaren als eines Positiven. Das »Spezifische der Philosophie« werde in eine »Gegen ständlichkeit quasi höherer Ordnung« verwandelt.17 Wahrheitsquali tät gewinnt eine schwebende Reflexion demnach in der Artikulation der Nichtidentität des Denkens mit einem – nicht sein sollenden – Negativen. Kritik nimmt die Form einer Negation der Negation und deshalb implizit einer Wiederholung des Kritisierten an. Sie verbleibt in der Form der Logik, der Heidegger mißtraut. Cassirers Vorstellung der Einheit des Geistes in der Vielfalt seiner Zeichen-Formen wird dialektisch in die geschichtspessimistische These eines Zerfalls des Geistes umgedeutet. Weil die Zeichen auseinanderfallen und eine (Hrsg.): Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation. Hamburg 2002, S. 156– 182. 14 Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen. Teil I: Die Sprache [1923]. Darmstadt 199410, S. 9, 51. 15 Adorno, Th.W.: Negative Dialektik [1966]. Frankfurt/M. 1975, S. 44. 16 Ebenda, S. 115. 17 Ebenda, S. 116.
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Andere Romantik
ursprüngliche Fülle des Sinns verlorenging, wird die Genealogie des Geistes zu einer Kritik des Geistes an sich selbst. Aus dissonanten Resonanzen der Zeichen und Symbole sprüht, wie man im Anschluß an Cassirers Kulturphilosophie ebenso wie an frühromantische Dichter-Philosophen sehen kann, eine Vielfalt des Sinns, die gegenüber jeder auf eine einzige Zeichenform beschränk ten »Benennung« überschüssig bleibt. Statt einen überhistorischen Blick nahezulegen, lockt dieser Reichtum die Reflexion in geschicht liche Horizonte. Hans-Georg Gadamer verlagert aus diesem Grunde Heideggers Seyns-Reflexion in die Dimension des Verstehens und der Geschichte: »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens.«18 Gadamers hermeneutische Wendung des »Seins« trägt einer Poetik der Reflexion Rechnung, unterstreicht im selben Atemzug aber auch die Problematik einer negativ-dialektischen Kritik.19 Dem Taktstock dialektischer Logik fügt sich eine Hermeneutik des Sinns nur unwillig. Spricht Heidegger von »Öffnung« und »Lichtung«, nennt Adorno die Singularität von Kunstwerken deren »Rätselcharakter«. »Fragezeichen« seien die Werke. Ohne Antworten zu versprechen, bestimmen sie das Unbestimmte.20 Wie für Heidegger bildet Hölder lins Lyrik für Adorno ein paradigmatisches Beispiel solcher Werke. In einem Hölderlin-Gedicht zeige Wahrheit sich in dessen »Gefüge«, der »Totalität seiner Momente«. Dieses genuin ästhetische Gefüge nicht hinreichend in Betracht zu ziehen, wirft Adorno Heideggers Hölderlin-Deutung vor – »höchst gleichgültig gegen das spezifisch Dichterische« verfahre Heidegger, wenngleich, wie Adorno einräumt, »manche Verse Hölderlins sich zu Heideggers Erläuterungen« »schi cken«. Nur sei, »was Heidegger extrapoliert«, nicht das, »was Hölder lin verschweigt«. Was verschweigt Hölderlin? Nach Adornos Lesart Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode [1960]. Tübingen 19754, S. 261. Heidegger war für Adorno eine mehr oder weniger heimliche Bezugsfigur, der er aber in eher polemischer Weise begegnete. Vgl. Mörchen, H.: Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung. Stuttgart 1981, S. 133f. 20 Adorno, Th.W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1973, S. 188f. 18
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wird in der Form eines Hölderlin-Gedichtes das »Reale« verschwiegen und damit als Verlust spürbar. Grund dieses Verschweigens sei die »Scham« des Dichterwortes vor »der unversöhnten Gestalt dessen, was ist«. Kurz: »Hölderlin hat nicht mitgespielt«. Im Motiv des Nichteinverstanden-Seins zieht sich die Kritik an Heideggers Deutung zusammen.21 In letzter Instanz begreift Adornos Ästhetische Theorie Kritik als Befreiung einer Wahrheit im Namen einer Tendenz des objektiven Geistes auf Aufhebung seiner Widersprüche. Darin bleibt sie der Form des Urteils verbunden, das einer Logik gehorcht, die erst in einer nichtentfremdeten Gesellschaft zerginge. Heideggers Denken bricht diese Verbindung ab. Es mißtraut der Form des Logischen bereits in der vorhandenen Gesellschaft und glaubt nicht an das kritische Potential von Analyse und Negation. Verankerungen philosophischer Reflexionen in Kunstwerken stehen jeweils scharfe Markierungen der Grenze zwischen philoso phischem Denken und Kunstwerk zur Seite. Philosophie soll Kunst werken ähnlich werden, ohne Kunst sein zu dürfen. Das letzte Wort – und nur als Wort – behält die »Philosophie«. Eisern pocht sie, noch in dessen Negation, darauf, Logos zu sein. Zu ihren wichtigsten Gesten gehört es, sich als Rückgang zu stilisieren: zum Mythos, zu den vorsokratischen Denkern oder Dichtern. Hölderlins »Zeichen« deutet Heidegger als Namen für den Dichter. »Dann sagt das Wort: ›Ein Zeichen braucht es ...‹ ›nur‹ dieses: Ein Dichter und Dichter müssen sein. Einen Dichter braucht es. Der Dichter wäre dann selbst Zeichen.«22 Heideggers Ringen um Worte versteht sich als Dichten des Dichters. In der Rede des Philosophen scheint eine Wahrheit auf, die »das Wort der Dichtung zum Maß« nimmt. Ihr ist es darum
21 Adorno und Heidegger blicken aus komplementären Perspektiven auf die Gedichte Hölderlins. Vgl. Adorno, Th.W.: Parataxis [1964]. In: Noten zur Literatur. Frank furt/M. 19946, S. 445–491, hier S. 451f., 455, 465. Vgl. auch Urbich, J.: Friedrich Schlegels frühromantischer Symbolbegriff. Überlegungen zum poetologischen Pro blemhorizont der Goethezeit. http://edoc.hu-berlin.de/hostings/athenaeum/docu ments/athenaeum/2013-23/urbich-jan-77/PDF/urbich.pdf [letzter Abruf 31.08.2021]. – Aus Cassirers historisch-systematischer Perspektive kann es so schei nen, als ob Heidegger und Adorno jeweils andere – und komplementäre – Akzentu ierungen vornehmen. Betont Adorno besonders das Moment des Tragischen, faszi niert Heidegger vor allem das Moment des Gefühls. Vgl. Cassirer, E.: Hölderlin und der deutsche Idealismus [1917]. In: Ders.: Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölder lin, Kleist [1921. Darmstadt 1971, S. 113–155. 22 Heidegger, M.: Hölderlins Hymne »Der Ister«. A.a.O., S. 187.
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Andere Romantik
zu tun, »es das Maß sein (zu) lassen, das es ist«.23 Hölderlin ist für Heidegger der Dichterphilosoph, der diesen Rückgang geradezu her aufbeschwört – als Denker, Dichter und Mythologe.
3 Tragik des Zeichens und Gewalt der Lektüre Werner Beierwaltes hat in seiner Analyse des Heideggerschen »Rück gangs« zu den Vorsokratikern darauf hingewiesen, wie sehr dessen Denken des Ursprungs auf einer literarischen »Fiktion« beruht, die eine »Pseudo-Archaik« der Sprache inszeniert.24 Sprachwissen schaftliche Forschungen blendet Heidegger zugunsten eines SprachSpiels ab, das, ausgehend von einem griechischen Wort – weniger von der griechischen Syntax –, genuine Bedeutungen suggeriert, die sodann in assoziative Transformationsfelder deutscher Wörter fortgesponnen werden.25 Ohne seine literarische Strategie wäre Heideggers Anspruch kaum aufrechtzuerhalten, an den Ursprung des Denkens zurückzukehren und griechischer als die Griechen zu »denken«. Ein solches Vorgehen bloß als wissenschaftlich ignorant abzutun, verfehlte aber den Umstand, daß Heidegger damit die Notwendigkeit eines geradezu gewaltsamen Eingreifens in die Über lieferung vor Augen führt. Gibt es keine reine Hermeneutik des Sinns, darf philosophische Reflexion verfremden, was sie als Material benutzt.26 Verfremdendes Sprechen erzeugt eigene Sprach-Fugen, deren Befremdlichkeit dem »Denken« Impulse verleiht, sich zwischen konventionellen Bedeutungen in einem Resonanzfeld einzurichten. Da es keine Reflexion außerhalb einer Sprache geben kann, wird Sprache zum »Absolutum«.27 Diese Verabsolutierung rechtfertigt wiederum die literarische Form philosophischer Rede, für die es externe Gründe nicht gibt – schon gar nicht im Rahmen der Wissen schaften. Reflexion schlüpft in die Gestalt einer Poetik, die demons Ebenda. Beierwaltes, W.: Heideggers Rückgang zu den Griechen. München 1995, S. 29, 23 (Sitzungsberichte der Bayrischen Akademie der Wissenschaften (1995), H. 1). 25 Beispielsweise entstehen aus dem griechischen »philein« das deutsche »Vergön nen« oder die »Gewährung«. Vgl. ebenda, S. 16. 26 »Bei Heidegger indes wird eine derartige Rekonstruktion offensichtlich zur bewuß ten Verfremdung gegenüber den sogenannten gewöhnlichen oder landläufigen Auf fassungen.« Ebenda, S. 14 (Hervorhebung im Original). 27 Ebenda, S. 19. 23
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triert, daß neues Denken ohne Transformationen des geschichtlich gewordenen Denkens nicht zustande kommt, ohne daß diese Eingriffe an einem objektiven Sinn kontrolliert werden könnten. Heideggers poetische Rede markiert mit der offenen Radikalität seiner Eingriffe in den textlich überlieferten Sinn einen wichtigen Unterschied zu Cassirers Genealogie oder Gadamers Hermeneutik. »Alle philosophi sche Interpretation ist in sich Destruktion, Auseinandersetzung und Radikalisierung, die nicht gleich Skepsis ist. Oder sie ist gar nichts und wird nur zu einem Geplapper, das umständlicher das nachredet, was besser und einfacher beim Autor selbst steht.«28 Heidegger knüpft an Hölderlins Poetik an, die den Rückgang auf ein mythologisiertes Griechentum kultiviert. Jeder Anfang ist retrospektive Fiktion. Gedankenfugen, die er auf diese Weise insze niert, sind literarische Gebilde. Die Rückholung eines vergessenen Ursprungs für die Zukunft wiederholt ein genuin romantisches Motiv: »verlorenes Paradies (der erste Anfang), dann Leben in der Folge des Sündenfalls (= ›Metaphysik‹) und Verstrickung dieses Lebens in den reinen, abstrakten ›Begriff‹, selbst-erdachte Erlösung und Paradies am Ende: Denken des SEINS.«29 Allerdings bleibt bei Heidegger ungewiß, ob die Erlösung gelingt und der andere Anfang die Zeit der Geschichte überholt. Bis zur Parusie jedenfalls dienen Philosophen wie Heidegger als Platzhalter einer Ankunft, die sie im An-Denken des anderen Anfangs zugleich mythologisieren und beschwören. Bleibt die Ankunft aus, gleicht der Mythos des Ursprungs einer Sage vom Sein, die eingeweihte Denker als Tragödie des abendländischen Geistes mit dem traurigen Helden einer verblen deten Metaphysik erzählen. »Denken« und »Dichten« bleiben verschwistert im Stiften nicht referentieller Bedeutung. Im Setzen der Sätze soll ein Bereich auf blitzen, aus dem heraus Sätze Intensität gewinnen, indem sie »ver sammeln«. Weder repräsentieren Worte der Denker und Dichter Seiendes, noch drücken sie Intentionen eines redenden oder schrei benden Subjekts aus. Heidegger erinnert in der Sprache der Philo sophie an eine Magie des Wortes, die in der Dichtung Hölderlins verwahrt ist, dort aber verschüttet blieb. Heideggers »An-Denken« 28 Heidegger, M.: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philoso phie [1930]. In: Gesamtausgabe Bd. 31. Frankfurt/M. 19942, S. 168 (Hervorhebung im Original). 29 Beierwaltes, W.: Heideggers Rückgang zu den Griechen. A.a.O., S. 9.
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nimmt das Motiv von Hölderlins Dichtung auf, um es unter veränder ten Umständen zu aktualisieren. »An-denken ist als dieses mehrfach gerichtete Hindenken zu dem, was eigentlich vom Dichter gesagt wer den muß, ein Hinzeigen. Der Dichter ist als Dichter der Hinzeigende und dergestalt ein Zeigendes, somit ein ›Zeichen‹.«30 Weil die Spra che verlorenging, die einmal im »Zeigen« des Dichters lebte, fällt nun Philosophie die Aufgabe zu, das »Bleibende« zum Wort zu erwecken, das Heimat verheißt. Es muß aus der Fremde zurückgerufen werden.31 Um Hölderlins Auftrag zu erfüllen, muß der Philosoph »jetzt erst das Eigene suchen und es frei gebrauchen lernen.32 Explizit charakterisiert Heidegger Eigentümlichkeiten philoso phischen Sprechens als meditativ anmutende Übung des wiederho lenden Setzens von Grundworten. Sagen kommt ins Wort zunächst im Nachsagen, beispielsweise von Fragmenten der Schriften Hera klits. Wiederholendes Sagen erleichtert die allmähliche Besinnung auf einen Bedeutungshorizont, der sich eindeutigen Übersetzungen entzieht und der zum Leuchten bringt, was direkt unsagbar bleibt. Es bedarf, wie Heidegger bemerkt, »gerade nicht irgendeines breiten Aufwandes von Gelehrsamkeit und der Vorführung halbverstandener geistesgeschichtlicher Zusammenhänge, sondern nur des immer neu vollzogenen und immer einfacheren Besinnens und Durchdenkens dessen, was in den Grundworten anklingt wie ein Vorspiel. Was wir da zunächst hören, ist immer das Selbe und fast Eintönige. Aber es ist der Grundton jenes anfänglichen Denkens der Griechen.«33 Wiederholung, Einfachheit und Klang der Worte tragen wesentlich zur »poetischen« Natur der Reflexion bei. Philologische Wahrheits ansprüche bleiben außen vor, geht es doch um ein Denken vor und nach den »Wissenschaften«. Was Beierwaltes an Heideggers Textstra tegie kritisch herausarbeitet, entspricht dessen Versuch, Bedeutung als Ereignis herbeizuführen. »Doch vielleicht entwickeln wir hier auch nur eigenmächtige Gedankengänge, von denen Heraklit nichts wußte. Wo steht in dem genannten Fragment etwas von Gegenwart und Ab- und Anwesung und vom Verhältnis zwischen Gegenwart und Abwesung und auch nur vom Unterschied zwischen Gegenwart und Heidegger, M. Hölderlins Hymne »Der Ister«. A.a.O., S. 188. Vgl. ebenda, S. 189. 32 Ebenda, S. 190. 33 Heidegger, M.: Logik. Heraklits Lehre vom Logos. Sommersemester 1944. In: Gesamtausgabe Bd. 55. Frankfurt/M. 19943, S. 183–402, hier S. 298. 30 31
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Anwesenheit, die uns doch sonst dasselbe sind? Es steht in der Tat nichts davon da – im Text. Doch vielleicht ist das, was in einem solchen Text eines solchen Denkers ›dasteht‹, auch immer nur das Anwesende und nicht das Gegenwärtige.«34 Denken, das sich als zum Teil gewaltsames Um-schreiben auf den Weg bringt, gleicht dem Dichten darin, ins Bedeutsame zu rufen, was sich mit Worten nicht beschreiben läßt. »Denken und Dichten sind, obzwar in grundverschiedener Weise ursprünglich (und be-ginnlich) das Selbe: das sich im Wort sammelnde Hervorbringen des Seins ins Wort.«35 Übertragungen der Worte vom Griechischen ins Deutsche oder tastende Übersetzungen von Fragmenten rufen nicht bloß die Begriffsgeschichte auf, vielmehr soll ein »Ereignis« der Bedeutung ermöglicht werden, das ohne ein Befremden gewohnter Bedeutungen nicht zustande käme. Unverborgenes erscheint – wird, in Heideggers Worten, vernehmbar – im Anderen des Sagbaren. Deshalb muß, was sich »lichtet«, durch und mit Hilfe von etwas lichten, an dem oder durch das hindurch es sich zeigt. Dieses Andere ist kein Allgemeines. Es ist, wie Heidegger schreibt, der Logos selbst, der sich als »frei wagendes Vorzeichnen« des philosophischen Sagens vernehmbar macht.36 Heideggers Texte zeigen eine bewußte Gewaltsamkeit, die den »Logos« als performativen Akt, als poetische Tat, erweist, auch wenn dieser Akt hinter einem Gestus der Passivität verborgen bleibt. Darin zeigt sich Heideggers einseitige Anknüpfung an die romantische Tradition. Wer Dichten und Denken als weltschöpferi sche Kraft versteht, wird kaum behaupten, einem verborgenen Sein andenkend zur Erscheinung zu verhelfen. Er darf im Spiel der Zeichen die Menschwerdung des Menschen feiern. Was die romantische Bewegung vor allem charakterisiert, ist die Hochschätzung des Man nigfaltigen und Besonderen gegenüber universalistischen Maßstäben des Aufklärungsrationalismus. Einer Gleichförmigkeit der Gesetze des Erkennens und Sollens kontrastieren romantische Denker das Schöpferische und Verschiedene, den Reichtum der Phänomene, eine Fülle der Wesen und ein ständiges Überschreiten des Gegebenen und
Ebenda, S. 307. Ebenda, S. 370. 36 Heidegger, M.: Logos (Heraklit, Fragment 50) [1951]. In: Gesamtausgabe Bd. 7. Frankfurt/M. 2000, S. 211–234, hier S. 224.
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Endlichen.37 Das Universum ist in den Augen Friedrich Schleierma chers »in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, jede Begebenheit die es aus seinem reichen immer fruchtbaren Schoße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf Uns; und so alles Ein zelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion«. Höchsten Ausdruck findet es im Individuellen: »[K]einer ist dem anderen gleicht.«38 Solche Fülle will poetisch gestaltet werden. Doch für Heidegger geben Denker zu denken, ohne »etwas« zu sagen. Ihr Denken wandert im Befremdlichen, statt sich im Verständlichen einzurichten.39 Verloren ist der Ursprung eines nichtlogischen Logos, ungewiß die Zukunft als Ankunft eines neuen Anfangs, verloren der Mensch in der Betrieb samkeit des Ge-stells, ohne Hoffnung, seine Lage durch Arbeit am Konkreten zu verbessern. Philosophische Besinnung führt aus der Verfallenheit nicht hinaus, allenfalls leuchtet sie den Horizont von Gewesenem und Zukünftigem in bilderlosen Rätseln aus. Romantische und christliche Motive erscheinen bei Heidegger in verdüsterter Form. In einer entgötterten Welt sind menschliche Hoff nungen auf messianisches Heil erfroren. Eine große Vereinzelung in äußerster Entfremdung hat eingesetzt. Der »Wink« des »letzten Gottes« besteht einzig in der »Flucht der gewesenden Götter«, zu denen auch der christliche Gott zählt.40 Rettung erwüchse aus dem erinnernden Anfang des ersten – des Heraklitischen – Logos, vor aller symbolischen Differenzierung und logischen Verformung. Im Blick auf Heideggers Antipoden Cassirer gleicht dieser Theo-Logos einem Urzustand vor dem Erwachen dessen, was Cassirer eine »symbolische Form« nennt. Das aber wäre eine auf ewig unzugängliche Gegend vor der Ankunft des Menschen als des symbolischen Tiers: eine Falte in der eintönigen Düsternis vor dem Erwachen des Sinns. Ein solcher Anfang wäre auf immer unmöglich – und schon immer unmöglich gewesen. Ihn anzudenken hieße, die poetische Form der Reflexion 37 Vgl. Lovejoy, A.O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [1933]. Frankfurt/M. 1985, S. 346ff. 38 Schleiermacher, F.: Über die Religion [1799]. Hamburg 2004, S. 32, 52. 39 Vgl. Heidegger, M.: Logos (Heraklit, Fragment 50) [1951], A.a.O., S. 231, S. 409. 40 Heidegger, M.: Der letzte Gott [1936/37]. In: Gesamtausgabe Bd. 65. Frank furt/M. 20033, S. 403–417, hier S. 409.
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gerade zu verfehlen. Erlösung und Grauen sind im Wort, das der Phi losoph sucht, um das Schweigen zu finden, ununterscheidbar.
4 Philosophie und Roman 4.1 Arabesken Heideggers Fokussierung auf Friedrich Hölderlin blendet Varianten frühromantischen Denkens ab, die Alternativen zum Konzept einer »Fuge« bereithalten. Friedrich Schlegels Rolle eines Wegbereiters frühromantischen Denkens schenkt er keine Aufmerksamkeit.41 Heidegger zitiert zumindest im Schlußkapitel seiner Habilitations schrift über die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, ohne Seitenangabe und offenbar aus dem Gedächtnis, Friedrich Schle gels Ausdruck der »ewigen Bejahungen« des lebendigen Geistes.42 Systematische Auseinandersetzungen Heideggers mit den frühen Schriften Schlegels aus der Zeit vor dessen Wendung zum Katholi zismus sind unwahrscheinlich.43 Bei aller Vielfalt der romantischen 41 Ähnliches gilt für Adorno. Immerhin wollte Adorno der »Ästhetischen Theorie« ein Motto von Friedrich Schlegel voranstellen: »In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; entweder die Philosophie oder die Kunst.« Vgl. das »Editorische Nachwort« zur Ästhetischen Theorie. Frankfurt/M. 1973, S. 544. 42 Diese Formulierung stammt aus Schlegels »Philosophie des Lebens« (1828) und kommt Heideggers Versuch, noch aus dem Geist eines philosophischen Katholizismus heraus, entgegen, eine Kritik des Psychologismus vorzulegen. Vgl. zu Heideggers katholischen Wurzeln Abt Schaber, J.: Vom ästhetischen und geistigen Genuss der religiösen Dichtkunst. Der junge Martin Heidegger und die katholische Literatur vor dem Ersten Weltkrieg. In: Denker, J./Zaborowski, H./Zimmermann, J. (Hrsg.): Heidegger und die Dichtung. Heidegger-Jahrbuch 8. Freiburg, München 2014, S. 170–192. 43 Impulse, die Heidegger durch die Lektüre Schlegels empfangen haben mag, rela tivieren sich, wenn Heideggers Fixierung auf Hölderlins späte Lyrik in Rechnung gestellt wird. Hingegen vermutet Michael Elsässer, vor dem Hintergrund seiner Auf fassung einer tiefen Kontinuität im Denken des frühen und späten Friedrich Schlegel, Spuren von Heideggers sparsamer Rezeption in dessen gesamter Philosophie. – Vgl. Ders.: Friedrich Schlegels Kritik am Ding. Hamburg 1994, S. 122ff. Adornos Sicht weise auf Schlegel ist durch die Rezeption Walter Benjamins geprägt und insofern indirekt geblieben. Vgl. Benjamin, W.: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik [1920]. In: Gesammelte Schriften Bd. I.1. Frankfurt/M. 1991, S. 7–122. Michael Elsässer spricht von einer »Fehlinterpretation« Benjamins. Vgl. Ders.: Fried
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Bewegung, die seit dem späten 18. bis ins erste Drittel des 19. Jahr hunderts das westliche Bewußtsein umgestaltet hat, darf Friedrich Schlegel Anspruch darauf erheben, deren philosophische Idee am schärfsten herausgearbeitet zu haben.44 Die Französische Revolution, Fichtes Philosophie und Goethes »Wilhelm Meister« bringen für Friedrich Schlegel die wichtigsten Tendenzen des Zeitalters am prä gnantesten zum Ausdruck. Er bündelt diese Motive im Bild einer schöpferischen Bewegung, die, ins Unendliche ausgreifend, rationa listische Begrenzungen und begriffliche Einengungen des Erkennens aufbricht und sich in maximaler Vielfalt auszudrücken strebt. Koexis tenz des Gegensätzlichen, wie sie die romantische Bewegung insge samt kennzeichnet, findet sich in jedem wahrhaft romantischen Werk, das die Mannigfaltigkeit des Universums in sich verdichtet.45 Schlegels Vorschlag besteht darin, die Grenze zwischen Philo sophie und Kunst aufzuheben. Weil Heidegger diese Möglichkeit nicht erwägt, erschwert er sich die Rehabilitierung der »Poesie« als einer philosophisch anspruchsvollen, zugleich weltbezogenen und sprachkünstlerischen Reflexionsweise. Schlegel möchte »die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung« bringen.46 Formen und Gattungen zu vermischen ist kein ästhetischer Selbstzweck; es rich Schlegels Kritik am Ding. A.a.O., S. 145, zu Adornos Rezeption Schlegels vgl. ebenda S. 142ff. Die dadurch nahegelegte Sprachauffassung erschwert Benjamin den Blick auf Schlegels Gedanken des Verhältnisses von Form und Unendlichkeit. Ähn lichkeiten zwischen Denkmotiven Adornos – beispielweise der Wertschätzung essay istischer Darstellungsformen – und Friedrich Schlegels Poetik fallen auf, bleiben jedoch im Vergleich zur Rezeption Hölderlins marginal. Adorno, Th.W.: Der Essay als Form [1954–1958, unveröffentlicht]. In: Noten zur Literatur. A.a.O., S. 9–33, hier S. 25. 44 Vgl. zur Ideengeschichte Berlin, I.: Die Wurzeln der Romantik. Berlin 2004, S. 46. 45 »Wie kann es sein, dass das Wort ›Romantik‹ gleichzeitig für so widersprüchliche Phänomene gebraucht wird wie auf der einen Seite edle Wilde, Ursprünglichkeit, das einfache Leben, rotbäckige Bauern, die Abkehr von der abstoßenden Raffinesse der Städte zu Gunsten der sonnenüberfluteten Prärie der Vereinigten Staaten oder zu Gunsten einer anderen einfachen Lebensform an irgendeinem wirklichen oder ima ginären Flecken Erde und auf der anderen Seite blaue Perücken, grünes Haar, Absinth und Gérard de Nerval, wie er seinen Hummer durch die Pariser Straßen führt, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, was ihm ja auch in der Tat gelang? Wenn man fragt, was diese beiden Extreme miteinander gemeinsam haben sollen ..., dann lautet die Antwort, dass beide die Natur des Gegebenen aufzubrechen versuchen.« Vgl. ebenda, S. 228. 46 Schlegel, F.: Athenäums-Fragment Nr. 116. In: Ders.: Transcendentalphilosophie [1800/1801]. Hamburg 1991, S. 107f., hier S. 107.
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dient einer Poetik, die sich im Leben der Gesellschaft verankert, auf deren Rhythmen hört und ihnen durch fiktionale Formen Impulse verleiht. Philosophische Poetik ist praktisch. »Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen.«47 Friedrich Schlegels Idee einer Universalpoesie und seine Form der »Arabeske« halten ein Potential bereit, das gegen eine selbst referentiell in sich verschlossene philosophische Quasi-Poetik wie auch gegen eine zwischen Kant, Hegel und Marx eingezwängte Idee der Kritik hätte immunisieren können. Poesie, Arabeske und Roman eröffnen philosophische Reflexionsweisen, die sowohl für historisch-gesellschaftliche Konstellationen sensibilisieren als auch den Gedanken der Idee als eines unendlichen Strebens nach Einheit in Vielheit kultivieren. Verbissenen Wahrheitsambitionen begegnet die Kunst der Arabeske mit Humor und Ironie, die Grenzen und Abgren zungen leichtfüßig überwinden. Ohne selbst etwas zu bedeuten oder einem Telos zu folgen, ziehen Arabesken Verbindungen zwischen mannigfaltigem Verschiedenen.48 Spielerisch stiften sie Zusammen hänge durch Bewegungen, die als Verbindung einfach, doch als Form komplex sind. Einheit des Verschiedenen erscheint im Blick auf eine Idee. Wie für Hegel ist für Schlegel eine Idee etwas Wirkliches, doch ist sie dies als Singularität, nicht als Begriff, der nach den Gesetzen dialektischer Logik in Widerspruchsfiguren exerziert.49 Unendliches, das in Ideen aufscheint, ist keine unendlich fortschreitende Reihe in der Zeit, sondern ein komplexer Zusammenhang, der unendlich zu entfalten ist und in seiner konkreten Gestalt deshalb fragmentarisch
Ebenda. Karl Arnold Polheim hat die Bedeutungskontexte des Begriffs der Arabeske bei Friedrich Schlegel philologisch aufgezeigt. In Schlegels späteren Schriften war der Begriff nicht mehr zentral, wurde aber inhaltlich nicht revidiert. Vgl. Ders.: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik. München, Paderborn, Wien 1966. 49 Hegel erkennt in F. Schlegel eine Herausforderung seiner eigenen Dialektik. Vgl. Bohrer, K.-H.: Kritik der Romantik. Frankfurt/M. 1989, S. 142f. 47
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bleibt.50 Zum Erscheinen bedürfen Ideen der Poesie, weniger der Wis senschaft. In ihrem Lichte erscheinen Individuen, deren Wirklichkeit jeweils eine pulsierende Singularität des Universums hervorbringt. Von ihnen gibt es »unendlich viele reale Definitionen.«51 Lebendige Individuen verkörpern ein Werden, das ganz subjektiv und ganz objektiv, auf sich bezogen und Welt gestaltend, weil aus Welt schöp fend ist. Etwas zu realisieren heißt, es zu idealisieren, und etwas zu idealisieren bedeutet, es real werden zu lassen, indem Unendliches sich endlich bestimmt. Statt nach einer Einheit des »ich denke« zu suchen, die es in sich doch niemals findet, konstituiert das Bewußtsein sich über seine kontinuierliche Tätigkeit, der Fülle des Sinns lebendige Formen zu verleihen. Synthesis des Mannigfaltigen ist weder ein logisches Rätsel noch Denkvoraussetzung, vielmehr die konkrete Wirklichkeit eines lebendigen Ichs, dessen »Witz« Verschiedenes miteinander verbindet. Der Leere logischer Formen stellt Schlegel die Fülle des Sinns entgegen.52 Exemplarische Darstellungsform dieser Fülle ist die Arabeske. Ihrem Ursprung nach löst die Arabeske ein Problem des alttesta mentlichen und im Koran bestätigten Bilderverbots: Sind Abbilder verboten, bleiben Ornamente erlaubt. Arabesken gehören keiner bestimmten symbolischen Welt an. Mannigfaltigkeiten wie Wissen schaft, Religion, Kunst oder Philosophie verbinden sie zu komplexen Reflexionsfeldern von Besonderem. Geistiger Gehalt und sinnliche Erscheinung treten in konkreten Zeichen zusammen, die jeweils eine Arabeske, unbekümmert um eingewöhnte Ontologien, zieht. Und doch ist ihre Form nicht von einer einzigen spezifischen Zeichen art – wie Zahl, Bild oder Wort –, vielmehr eine Bewegung oder Gestalt gewordene Geste, die sich im Durchlauf durch Mannigfaltiges anreichert und wirklich wird, ohne allgemein zu sein. Gestalt und Realität verschränken sich auf eine Weise ineinander, die Singulari täten erscheinen läßt. Was auf je spezifische Weise zur Erscheinung gelangt, verdankt seine Form einem tänzerischen Denken, dessen 50 Walter Benjamin hat das in seiner Beschäftigung mit der Romantik als ihre phi losophische Leistung herausgearbeitet. Vgl. Ders.: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik [1920]. A.a.O., S. 7–122. 51 Schlegel, F.: »Athenäums«-Fragmente [1798/1800]. In: Ders.: »Athenäums«Fragmente und andere Schriften. Stuttgart 2005, S. 76–142, hier S. 86. 52 Vgl. Frank, M.: Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. München 1972, S. 32, 85.
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Beweglichkeit Gestalten des Wirklichen wie mit Zauberhand vor Augen führt. Für Schlegel bedeutet Poesie weit mehr als eine Literaturgattung. Als anthropologisches Vermögen drückt sie die Seinsweise von Men schen aus. Sogar unter ungünstigsten Umständen streben sie nach Ausdruck. Im »Brief über den Roman« erklärt Schlegel, weshalb vorzüglich der Roman das poetische Vermögen artikuliert: Hier wird das Gefühl geistig angesprochen und differenziert entwickelt. Orga nisationsprinzip des Romans ist die zentrale Hinsicht, durch die Mannigfaltiges mit Gefühl und Gedanken zur Gestalt gebildet wird: die »Liebe«. Überall müsse sie »unsichtbar sichtbar schweben«.53 Im Licht dieser Idee treten Natur und Geist, sinnliches Empfinden und Religion, Männliches und Weibliches, Gesellschaft und Kunst in kom plexe, einander wechselseitig beleuchtende Verhältnisse. »Fantasie« läßt solche Relationen als denkbare erscheinen. Nichts wäre weniger geeignet, Wirkliches darzustellen, als die Suche nach ursprünglichen – statt poetischen – Bedeutungen. Schlegels Bemerkung gegen die Ursprünglichkeit läßt sich gut auf Heideggers etymologische Sprach spiele anwenden: »Das sicherste Mittel, unverständlich oder vielmehr mißverständlich zu sein, ist wenn man die Worte in ihrem ursprüng lichen Sinne braucht; besonders Worte der alten Sprachen.«54 Statt an einzelnen Erscheinungen zu haften oder allgemeine Wahrheiten in ihnen zu suchen, gilt es, der strömenden Vielfalt des Lebens eleganten Ausdruck zu verleihen. Ludwig Tiecks Dichtungen verwickeln Leser in virtuose Inszenierungen ständiger Verwandlun gen, ironischer Blickwechsel und raffinierter Spiele mit Erwartungen. Kommt es nicht darauf an, »das Gewöhnliche fremd« statt das Fremde gewöhnlich zu machen? Dazu bedarf es einer Blick- und Darstel lungskunst, die sich von den strengen Vorschriften der Logik und Wissenschaften nicht abschrecken läßt. »Das wunderbare Utopien liegt oft dicht vor unseren Füßen, aber wir sehn mit unsern Teleskopen darüber hinweg.«55 Was soll Fortschritt bedeuten, wenn doch alle Hervorbringungen vollkommener Ausdruck ihrer Welt und ihrer Zeit Schlegel, F.: Brief über den Roman [1800]. In: Ders.: »Athenäums«-Fragmente und andere Schriften. A.a.O., S. 202–212, hier S. 207. 54 Schlegel, F.: »Athenäums«-Fragmente. A.a.O., S. 77. 55 Tieck, L.: Peter Lebrecht. Eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten [1795]. In: Ders.: Frühe Erzählungen und Romane. Werke in vier Bänden, Bd. 1. München 1978, S. 73–189, hier S. 124f. 53
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sind? Muß der schöne und erhellende Zusammenhang der Erschei nungen immer logisch richtig oder historisch nachgewiesen sein? Antworten nicht Erzählungen auf Erzählungen, statt in Wahrheiten aufzugehen? Zusammenhang und Bedeutung stiften weder Logik noch Wissenschaften, sondern die »Liebe«, mit der wir die Welt und alles in dieser Begegnende anschauen. In der Liebe zur Welt erscheint die Idee des Wahren ebenso wie die des Guten. Sowenig wie das Leben erlangen Geschichten Bedeutung von ihrem Ende her. Ein passendes Weinlied mag die Logik widerlegen.56 Fiktion, Wirkliches, Leben und Erkennen bedingen einander. Nur Fiktionalem, dem in Differenz zum wahrnehmbaren Realen wirk lichen Erdichteten, gelingen Darstellungen des »Rätsels« der Liebe. Form des Ganzen liefert die Idee. Kompositionen von Elementen verleiht sie »höhere Einheit«. Gedanken des Lesers hervorlockend, stellt Einheit sich in der Lektüre als Konstellation des Verschiedenen her. Mit der Einheit des Buchstabens – der Menge der Zeichen im Text – fällt die Einheit der Idee nicht zusammen.57 Vollendet wird sie auch nicht notwendig im linearen Arrangement oder im lesenden Durchlauf einer versammelten Mannigfaltigkeit. Fragmente sind am besten geeignet, mit Hilfe von Arabesken Ideen darzustellen. So wie die Idee der Liebe singuläre intensive Unendlichkeiten gebiert, die sich in den Leben der Liebenden realisieren und jeweilige Erfahrungen oder Reflexionen arabeskenhaft verbinden, so artikulieren Romane singuläre Reflexionen zu exemplarischen Welten, deren imaginärer Charakter doch in realen Erfahrungen gründet. Romantische Romane zeichnen sich dadurch aus, unterschiedliche fiktionale Zeichenarran gements zu verknüpfen: Ein Lied kann »ebenso gut romantisch sein (...) als eine Geschichte. Ja ich kann mir einen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und anderen Formen.«58 Romane ermöglichen geistige Anschauungen eines Gegenstandes »mit ruhigem, heiteren Gemüt« – »Theorie«. Folglich hätte eine Theorie des Romans selbst ein Roman zu sein.59
56 Virtuos führt Tieck diese Sichtweise in »Franz Sternbalds Wanderungen« vor Augen, einem Roman, den Friedrich Schlegel bewundert. Vgl. Tieck, L.: Franz Stern balds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte [1798]. In: ebenda, S. 699–986. 57 Vgl. Schlegel, F.: Brief über den Roman. A.a.O., S. 209. 58 Ebenda, S. 210. 59 Ebenda, S. 210f.
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Was mit ruhigem Gemüt philosophisch anzuschauen ist, der Gegenstand, ist poetisch gestaltet und doch auf »wahre Geschichte« bezogen, die das »Fundament« romantischer Fantasie abgibt.60 Welt abgewandt oder an Welt desinteressiert kann romantische Poesie nicht sein, auch wenn das Spiel ihrer »Fantasie« sich des Urteils über die Welt enthält. Reflexion, das macht Schlegel in seiner Kritik an Fichte deutlich, bliebe leer, wäre sie absolut.61 Am Absoluten kann das Ich sich schwerlich orientieren, bleibt dieses doch auf immer unzugänglich. Gefesselt ans Endliche, braucht es doch bei keinem Einzelnen zu verharren, um es zum Prinzip zu erhöhen.62 Unend lich im Endlichen voranschreitend, entfalten poetische Reflexionen die Bedeutungsfülle von Kunstwerken, um diese zu sich selbst zu erwecken.63 Kritiker haben der Romantik diese Beweglichkeit der Reflexion, die aus der Auffassung einer Dominanz der Darstellung über die Natur des Erscheinenden entspringt, zum Vorwurf gemacht. Ebenda, S. 211. Hingegen erblickt Hegel in der romantischen Ironie, vorzugsweise in derjenigen Friedrich Schlegels, lediglich einen ins Beliebige und Eitle abgleitenden Fichteanismus. Das tätige Ich, dem nichts heilig ist und das spielerisch alle Bande zerbricht, begeistert sich an seiner Genialität, ohne dem Ernst der Welt Tribut zu zollen. In der »Seligkeit des Selbstgenusses« blüht »krankhafte Schönseelischkeit und Sehnsüchtigkeit«. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik [1835–1838], Band 1. Werke Bd. 13. Frankfurt/M. 1986, S. 93ff. 62 Carl Schmitt hat der Romantik – und F. Schlegel im besonderen – daraus den Vor wurf gemacht, einem »subjektivierten Occasionalismus« anheimgefallen zu sein. Festlegungen in der Wirklichkeit ausweichend, betrachte das romantische Subjekt die Welt als Gelegenheit, seiner ästhetischen Produktivität nachzugehen. Gegensätze miteinander verschmelzend, weiche es dem Ernst des Realen aus und überlasse sich in naivem Enthusiasmus politischer Beliebigkeit. Romantische Ironie hält Schmitt folgerichtig weniger für ein philosophisch-literarisches Reflexionsinstrument als für das »intellektuelle Mittel des vor der Objektivität sich reservierenden Subjekts.« Im Ausweichen vor dem Entweder-Oder liege die Wurzel politischer Unfähigkeit roman tischen Denkens. – Schmitt, C.: Politische Romantik [19252]. Berlin 19915, S. 23, 106, auch S. 119ff., 160ff. – Schmitts Vorwurf, Romantiker verfehlten das Wesen des Poli tischen, weil sie Dinge und Gebiete unzulässig vermischten (vgl. ebenda, S. 204), so daß alles romantisiert werden könne, irritiert insofern, als Schmitt später das Wesen des Politischen eben darin erblickt, beliebige Unterscheidungen heranzuziehen und zum Freund-Feind-Gegensatz zu steigern. Schmitts Begriff des Politischen ist darin existentiell, nicht ontologisch. Vgl. Ders.: Der Begriff des Politischen [1932]. Berlin 1987, S. 28. 63 Romantische Kritik ist »viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung.« Benjamin, W.: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. A.a.O., S. 69. Im Unterschied zu Kierkegaard, Hegel oder Schmitt gelingt Benjamin eine positive Sicht auf das philosophische Potential der Romantik. 60
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Schreibt Novalis, alle »Zufälle unsers Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen«64, erkennt Carl Schmitt darin, ähnlich wie Hegel, Erlebnisästhetik und Kausalitätsflucht. Romantische Ironie jedoch hat darin ihren Grund, daß Endliches zu Endlichem fortschreitet, ohne daß diese einander logisch widerlegen oder teleologisch vorrücken müßten. Jede Einheit bleibt »Fiction«.65 Zurückhaltung, was Urteile oder Begründungen von Wissen oder Selbstbewußtsein anbelangt, bedeutet keineswegs eine Ermäßigung des philosophischen Anspruchs: Schlegels »Lucinde« läßt sich als eine »Theorie« des Universums lesen, die in Form und Inhalt eine Alter native zu Kants oder Fichtes Systemphilosophie bietet.
4.2 Lucinde »Lucinde«, Friedrich Schlegels Roman, verleiht dem Gedanken romantischer Poetik exemplarisch Ausdruck. Zu geplanten Erweite rungen dieses Textes ist es nicht gekommen. Bei seinem Erscheinen löste er als stellenweise erotische Schrift Skandale aus, auch deshalb, weil er autobiographisch auf Schlegels Lebenssituation Bezug nimmt. Im Mittelpunkt steht die Idee der Liebe. Poetisch dargestellt wird sie in der Liebe zwischen Julius und Lucinde. Ohne epische Erzählstruktur verbindet der Text verschiedene literarische Formen – zum Beispiel Brief und Reflexion, Allegorie, Erinnerung und Erzählung –, die wie Fragmente in einem formal komponierten Verhältnis zu einem Mittelteil angeordnet sind, der in knapper Form eine Bildungsge schichte schildert. Unter dem Titel »Lehrjahre der Männlichkeit« folgen Leser darin der Entwicklung des Julius vom Jugendalter zum Erwachsensein. Mit ihrem furiosen Stil wirkt diese Darstellung wie Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub [1797/1798]. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Das philosophisch-theore tische Werk. Darmstadt 1999, S. 225–285, Nr. 65, S. 252. 65 Vgl. Frank, M.: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frank furt/M. 1989, S. 301ff. – Franz Wilhelm Ferdinand Solger, den Hegel im Zuge seiner Schlegel-Kritik positiv hervorhebt, weist mit seiner Vorstellung, in Kunstwerken offenbare die Idee sich konkret als Erscheinung im Wirklichen und werde Symbol, weil Allgemeines und Besonderes zusammenfallen, durchaus Verwandtschaft mit Schle gels Denken auf. Vgl. Solger, K.W.F.: Vorlesungen über Ästhetik [1819, zuletzt gehal ten 1829]. Hamburg 2017. Dazu Frank, M.: Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik. A.a.O., S. 97ff. 64
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ein alternativer Entwurf – vielleicht sogar als ein ironischer Kom mentar – zur weitausholenden Schilderung Goethes im »Wilhelm Meister«.66 Überhaupt geht es, im Blick auf die Idee der Liebe, weder um Analysen noch um Definitionen. Vor den Augen der Leser entfaltet sich vielmehr ein »wundersames Gemisch« ineinander verschlungener Phänomene und Betrachtungen, ähnlich einer üppi gen Pflanze, die Blätter und Blüten hervortreibt. Gleich zu Beginn erklärt Julius, für sich, für seine Schrift und für seine Liebe »das was wir Ordnung nennen vernichte(n)« zu wollen.67 Ein »Chaos von erhabnen Harmonien und interessanten Genüssen« gelte es vielmehr darzustellen.68 Wie das Ideal der Liebe soll der Roman vermeintlich Gegensätzliches verbinden. In Lucinde findet Julius entsprechend eine Frau, die zugleich »zärtlichste Geliebte«, »beste Gesellschaft« und »vollkommne Freundin« ist.69 Von erotischem Verlangen über geistigen Austausch bis zu kultivierter Geselligkeit verknüpft Liebe also die Stufen der Entwicklung des Menschen vom Animalischen zum Geistigen und Sozialen.70 Leben, Gefühl und Gedanke sind dasselbe als »intensive Unendlichkeit«, darin Poesie, Liebe, Natur und Religion ineinander übergehen.71 Geistig zu erfassen allerdings ist diese Vielfalt in Einheit nicht im bloßen Vollzug des Lebens; es bedarf dessen anschauender Betrachtung. Philosophie und Poesie beruhen auf der Möglichkeit eines denkenden Müßiggangs und reflektierter Passivität: »[D]as Wesentliche ist das Denken und Dichten, und das ist nur durch Passivität möglich. Freilich ist es eine absichtliche, willkürliche, einseitige, aber doch Passivität.«72 Ohne »Gelassenheit« wird es kaum gelingen, »sein ganzes Ich (zu, DR) erinnern, und die Welt und das Leben an(zu, DR)schauen.«73 Fortschritt und Nutzen, Fleiß und Streben bleiben dichtend-denkender Anschauung eher fremd. Wie könnte der Nutzen einer Bemühung im voraus bekannt Schlegel hat dem »Wilhelm Meister« eine Rezension gewidmet und dieses Buch in höchsten Tönen gelobt. Neben der Französischen Revolution und Fichtes Wissen schaftslehre zählt er »Goethes Meister« zu den »größten Tendenzen des Zeitalters.« Vgl. Ders.: Über Goethes Meister [1798]. In: »Athenäums«-Fragmente und andere Schriften. A.a.O., S. 143–164 sowie »Athenäums«-Fragmente. A.a.O., S. 99. 67 Schlegel, F.: Lucinde [1799]. Stuttgart 1963, S. 10. 68 Ebenda. 69 Ebenda, S. 12. 70 Vgl. ebenda. 71 Ebenda, S. 27. 72 Ebenda, S. 34. 73 Ebenda. 66
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sein? Weshalb sollte allein ein vorab definierter Gewinn Anstrengun gen rechtfertigen? Ziel solchen Müßiggangs ist in Schlegels Augen das Interesse an Vielfalt und Lebendigkeit. Von einem Andenken des »Seyns«, wie Heidegger es anstrebt, bleibt dieses Ziel denkbar weit entfernt. Sowe nig wie Heidegger glaubt Schlegel an die Fähigkeit der Wissenschaf ten, »Leben« denkend zu erfassen. Wissenschaften machen mit Hilfe ihrer Methoden Ungleiches gleich; sie unterziehen vermeintlich glei che Elemente einer Menge standardisierter Operationen. Fundamen tal für wissenschaftliche Rationalität bleibt der mengenlogische Kern der aristotelischen Logik und Metaphysik. Doch ist je irgendetwas identisch mit anderem? Eröffnen nicht singuläre Phänomene unend liche Vergleichsräume, weil sie keine Begrenzung des Vergleichbaren vornehmen? Ein Denken in Singularitäten unterwandert das Prinzip der Mengen- und Aussagenlogik. Deshalb bedarf es arabeskenhafter Darstellungen, um Verbindungen zu stiften, die nicht an Grenzen haltmachen. Unabtrennbar bleibt der Gedanke des Lebens von Gefühl und Selbstreferenz. Von außen, durch Kategorien, Definitionen oder empirische Messungen, lassen sie sich kaum erschließen; sie müs sen von innen her artikuliert werden. Dazu sind Fiktionen – zum Beispiel Romane – der geeignetere Weg. Ineinander verschlungene Verbindungen von Vielfältigem spiegeln im Exemplarischen einer Fiktion das Leben als intensive Unendlichkeit. Vielfalt ist niemals auf den Begriff zu bringen, empirisch zu ermessen oder logisch zu resü mieren. Mannigfaltigste Bestimmtheit, mithin weder Kultivierung des Unbestimmten noch definitorische Abstraktion, ist das Anliegen romantischer Kunst-Philosophie. Arabesken gewähren Vielfältigem und Verschiedenem Raum, sich zu entfalten und zu bestimmen. Kontemplativer Reflexion steht bei Schlegel eine erfinderische Verzauberung der Welt entgegen: »›Du mußt das unsterbliche Feuer nicht rein und roh mitteilen wollen‹, sprach die bekannte Stimme mei nes freundlichen Begleiters. ›Bilde, erfinde, verwandle und erhalte die Welt und ihre ewigen Gestalten im steten Wechsel neuer Trennungen und Vermählungen. Verhülle und binde den Geist im Buchstaben. Der echte Buchstabe ist allmächtig und der eigentliche Zauberstab. Er ist es, mit dem die unwiderstehliche Willkür der hohen Zauberin Fanta sie das erhabene Chaos der vollen Natur berührt, und das unendliche Wort ans Licht ruft, welches ein Ebenbild und Spiegel des göttlichen
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Geistes ist, und welches die Sterblichen Universum nennen.‹«74 Welt und Universum erscheinen als ewiger Wandel. Keine Beschreibung kann sie erschöpfen, keine Erklärung sie erfassen. Deshalb ist ihr Ausdruck selbst erfinderisch. Zeichen und Symbole wirken wie Kata lysatoren unendlicher Gestaltungen, weil sie mit nichts identisch sind, jedoch alles Unterschiedene zusammenhalten. Trennungen und Verbindungen schaffen Gestalten, in denen sich auch der menschliche Geist hervorbringt und erfährt. Erkennen und Erschaffen, Welt- und Selbsterfahrung fallen in eins. Sie sind Tätigkeit. Schöpferisch und verzaubernd wenden poetische Reflexionen sich der Welt zu, um sich in Mannigfaltigkeiten des Lebens zu vertiefen. Magische Fähigkeiten verdanken sie der Schrift. Buchstaben liefern das unendlich zu kombi nierende Material, mit dem die doppelten Unendlichkeiten von Welt und Bewußtsein verschränkt werden, gerade weil der Buchstabe keine Ähnlichkeit mit dem aufweist, worauf er verweist. Was ähnlich macht, ist dem Ähnlichen nicht ähnlich. Es gelingt als virtuose Tätigkeit in der Welt, ohne Anflug einer Abgründigkeit des Seins. Weder repräsentieren (Aussage)Sätze Tatsachen, noch läßt sich »rein und roh« mitteilen, was der Fall ist. Buchstaben verhüllen und binden den Geist, indem sie seine Prozessualität tragen, befeuern und sich selbst undurchsichtig machen. Mit Hilfe von Schrift-Zeichen gewinnt der geistige Prozeß Gestalt und Stabilität, bezieht sich auf sich und auf die Welt, entwickelt eine Gegenwart oszillierender Zeitlichkeit und ver hüllt zugleich seine Zeichen-Form in der konkreten Unmittelbarkeit des Bezugs.75 Schöpferisches Gestalten zeigt sich eher im Auflösen und Um bauen von Ordnungen als im systematischen Aufbau begrifflicher Ebenda, S. 25. Kierkegaard hat Schlegels »Lucinde« eine doktrinäre Verneinung des Geistes zugunsten nackter Sinnlichkeit vorgeworfen. Derart entfesselte Phantasie betäube die Seele und raube ihr die moralische Spannkraft. Unpoetisch, weil irreligiös sei Schlegels Romantik, denn sie übersehe, daß wahre Unendlichkeit erst im existentiellen Durch gang durch die Resignation gewonnen werden könne. Kurz: Es handelt sich für Kier kegaard um »überspannte und abstrakte Geistigkeit«. Kierkegaard, S.: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates [1841]. Gesammelte Werke und Tagebücher Bd. 21. Simmerath 2004, S. 292ff., 307. – Kierkegaards Akzentuie rung einer Dialektik des Existentiellen gegenüber Begriffs- und Urteilsformen geht mit seiner Skepsis gegenüber symbolischen Weltschöpfungsleistungen einher, die Selbst und Welt als oszillierende Einheit eines tätigen Ausdrucks- und Darstellungs geschehens betrachten. Eben darin erblickt Schlegel das genuin Poetische, das auch Individualität erst ermöglicht. 74 75
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Systeme. Novalis bringt diesen Gedanken zur Markierung der Diffe renz zwischen Philosophie und Poesie ins Spiel. Schlegels »Lucinde« tut das, in Form und Inhalt, ebenfalls. »Wenn der Philosoph«, notiert Novalis, »nur alles ordnet, alles stellt, so lößte der Dichter alle Bande auf. Seine Worte sind nicht allgemeine Zeichen – Töne sind es – Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen. Wie Kleider der Heiligen noch wunderbare Kräfte behalten, so ist manches Wort durch irgend ein herrliches Andenken, geheiligt und fast allein schon ein Gedicht geworden. Dem Dichter ist die Sprache nie zu arm, aber immer zu allgemein. Er bedarf oft wiederkehrender, durch den Gebrauch ausgespielter Worte. Seine Welt ist einfach, wie sein Instrument – aber eben so unerschöpflich an Melodien.«76 Was dem Symbol anhaftet, seine Allgemeinheit als Zeichen, ist dem Dichter zugleich notwendig und lästig. Er arbeitet in seinen Gestaltungen mit und gegen die Allgemeinheit der Schrift. Am Herzen liegt ihm die Besonderheit – des Ausdrucks wie der Gestalt des Wirklichen. Darum ist sein Schaffen niemals Wissen. Mächtig – wirklich – wird es allenfalls durch seine Kraft, neue Verbindungen und Trennungen anzufachen. Im Besonderen gewinnt das Wort eine an wundertätige Reliquien erinnernde Kraft, die der Welt nicht etwa transzendent wäre wie ein Prinzip oder Gesetz, sondern immanent als Vektor unendlicher Formbildungen. Nichts bleibt außerhalb des Zauberkreises der Buchstaben. Was sie berühren, verwandeln sie in Geist und täuschen zugleich über die Magie ihrer Wirkung hinweg. Schrift geworden, begegnet der Gedanke sich selbst in der Abstraktion von Worten, Sätzen, Urteilen und Schlüssen. Vergessend, woraus er entsprang, beginnt er zu glau ben, roh und rein sagen zu können, was der Fall ist. Seine eigene Gestalt glaubt er an der Form der Aussage abzulesen. So verirrt er sich in einer Logik, mit der das Denken sich selbst beschreiben will. Es bedarf besonderer Darstellungen wie der »Lucinde«, um diese Dop pelbewegung von Verhüllung und Ermöglichung spürbar zu machen. Allmächtig sind Buchstaben, weil sie Gedachtes und Denken so aufeinander beziehen, daß eine »Welt« entsteht, die doch als Schrift, mithin als Gestaltetes, Erfundenes und Verwandeltes, beobachtbar bleibt. Anders als beispielsweise im Schauspiel entkoppelt die Schrift 76 Novalis: Poёsie [1798]. In: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [1798]. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. A.a.O., Nr. 32, S. 322.
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des Romans die Reflexion des Lesers von der Unmittelbarkeit sinnlich wahrnehmbarer Eindrücke. Schrift bewirkt eine diagrammatische Spaltung im Raum des Fiktionalen und hebt den Zeichencharakter der Wirklichkeit durch Reduktion auf Buchstaben und deren unendliche Kombinatorik ins Bewußtsein. Anschauung wird mittelbar und selbst Reflexion. Phantasie ist am Werk, wo das Bilden und Gestalten sich logischen oder methodischen Regeln entwinden. Auf transzendentale Strukturen ist poetisches Denken irreduzibel. Da Phantasie in ihrer Schöpferkraft unendlich ist, darf sie als »Ebenbild und Spiegel des göttlichen Geistes« gelten. Dieser Spiegel zeigt keine zentralperspek tivische Ordnung symmetrisch aufeinander abgestimmter Perspekti ven, sondern ein Labyrinth singulärer Gebilde und unendlicher Ver gleiche. »Leben«, »ein einziger Gedanke, ein unteilbares Gefühl«, strebt zur Idee der Liebe hin und erfährt sich in deren Licht als ein Ganzes. Wie eine Sonne richtet diese Idee das lebendige Streben eines Lebens prozesses nach sich aus, darin Platons Idee des Guten ähnlich, die eine niemals teleologisch, normativ, moralisch oder gegenständlich festzustellende Hinsicht markiert, auf die alles Streben und Denken bezogen bleibt. Vielfältige Formen des Lebendigen und Geistigen gruppieren sich zu Konstellationen bedeutungsvoller Gestalten, wenn »das unendliche Wort (diese, DR) ans Licht ruft«.77 Unendlich ist das Wort, weil der Zauber endlicher Buchstaben unendliche Kombinatio nen von Zeichen und Sinn ermöglicht. Weder schöpft die Ordnung der Schrift die Welt als Universum vermeintlicher Tatsachen noch das Bewußtsein als Strom unendlicher Gestaltbildungen aus. »Ebenbild und Spiegel des göttlichen Geistes« ist das »unendliche Wort« oder, wie die »Sterblichen« es nennen, das »Universum«.78 Natur, Religion und Ich – Universum, Gott und Leben – verbinden sich im Wort zur Gestalt eines Weltprozesses. Christliche Logos-Vorstellungen, wie das Johannes-Evangelium sie ausspricht, klingen durch: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort./ Dieses war im Anfang bei Gott./ Alles ist durch es geworden, und ohne es ist nichts geworden, was geworden ist./ In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.«79 Wort, Licht, Gott und Welt finden zur Schöpfung zusammen, in der jegliches menschliche Leben individuelles Profil gewinnt. 77 78 79
Schlegel, F.: Lucinde. A.a.O., S. 25. Ebenda. Joh 1, 1–4.
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4.3 Logos und Liebe Schlegels Poetik nimmt die Logos-Idee auf, die sich von Platon über Aristoteles und Johannes durch die abendländische Kultur zieht, um sie gegen eine verhärtete Vorstellung logischer Formen zu rehabili tieren. Logos und Logik bleiben verschieden – so verschieden, wie die Idee der Liebe von den Kantischen Vernunftideen verschieden bleibt. Im zweiten Buch der transzendentalen Dialektik spricht Kant von drei Ideen, die von der Vernunft gefordert, jedoch vom Verstand nicht gefaßt werden können: die absolute Einheit des Subjekts, die unbedingte Reihe der Bedingungen einer Erscheinung sowie die Totalität der Bedingungen und Gegenstände überhaupt.80 In der Sprache der Metaphysik heißen diese Vernunftideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Bezogen auf menschliches Erfahrungswissen beschäftigen sich damit Seelenlehre, Weltlehre und Gotteslehre.81 Schlegels Vorstellung von »Idee« findet sich mit dieser Bereichsauftei lung so wenig ab wie mit der Festlegung auf eine Vernunft, die ständig auf begrifflich-kategoriale Beschränkungen des Verstandes aufläuft. Menschliches Leben ist Spiegel des Ganzen: der Natur und des Uni versums, des Lebens und der Gesellschaft, von physiologischen Gege benheiten, affektivem Erleben, erkennendem Ordnen oder liebender Bezogenheit zu anderen und zur Welt. Im »Licht« des »unendlichen Wortes« erwacht die Welt zu vielgestaltigen Ordnungen. Nur unvoll kommen fügt sich deren unendlicher Gestaltwandel raum-zeitlichen Koordinaten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ein Prozeß, der stets auf Welt und auf sich selbst in unmittelbarer Gegebenheit bezogen bleibt, ist ewig: Aus kategorial-begrifflichen Registern fällt er ebenso heraus wie aus den Koordinaten gemessener Zeit. Wo sollen Grenzen zwischen Entitäten gezogen werden, wenn nicht im schöpferischen Wort? Sind es nicht sinnhafte Gestalten der Schrift, weniger ontologisch diskrete Formen? Als »intensive Unendlichkeit« sind Ich, Liebende, Gott und Universum eins. Freiheit, leitende Idee in Kants Kritik der praktischen Vernunft, beschreibt für Schlegel kein Postulat, das sich als formales Gesetz über die Welt der Menschen breitet. Sie betont die Singula rität eines Lebens als einer einmaligen, ihrer eigenen vektoriellen 80 Vgl. Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft [1781]. Werke in sechs Bänden Bd. II. Darmstadt 1983, B 391. 81 Vgl. ebenda, B 395 (Anmerkung).
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Richtung folgenden Intensität. Besser läßt Freiheit sich in Geschichten fragmentarisch darstellen denn als Leben gemäß der Pflicht resümie ren. Arabeskenhafte Wege des Lebens sind schwerlich am Maßstab moralischer Regeln oder ethischer Werte zu kontrollieren. Wäre nicht die beste Form des Urteils eine Geschichte, in der die Singularität eines Lebens zur Reflexion gelangt – und sich so der Beurteilung, geschweige der Verurteilung entzieht, aber dem Vergleichen anbietet? Richtig und falsch erweisen sich als so problematisch wie gut und böse. In der Idee der Liebe hat Sünde keinen Platz. Normierungs versuche solcher Art sind lebensfeindlich, ignorieren sie doch die unendliche Produktivität des Individuellen in Gestalt der Phantasie. Leben will geführt werden und Kunstwerk sein. Menschen glei chen jedoch keinem Künstler, der sich auf die Leinwand entwirft. Zum Kunstwerk wird Leben, wie es von Julius heißt, »ohne daß er eigentlich wahrnahm, wie es geschah.«82 Was ein Ich sein kann, mag sich in der Gestalt eines reflexiv gewordenen, seine Welt als Inten sität anschauenden Menschenlebens zeigen, doch weder ein Name noch eine Substanzdefinition, weder eine transzendentale Form noch eine Liste von Ereignissen könnten die Frage nach einem Menschen beantworten. Rätsel des Lebens lösen sich im Wort »Liebe«, das die Idee evoziert, mit der sich die Mannigfaltigkeiten des Geistes wie der Welt oder des Anderen ordnen und als Verweisungsspiel entfalten.83 »Es ward Licht in seinem Innern, er sah und übersah alle Massen seines Lebens und den Gliederbau des Ganzen klar und richtig, weil er in der Mitte stand. Er fühlte daß er diese Einheit nie verlieren könne, das Rätsel seines Daseins war gelöst, er hatte das Wort gefunden, und alles schien ihm dazu vorherbestimmt und von den frühsten Zeiten darauf angelegt, daß er es in der Liebe finden sollte ...«84 »Gelöst« wird im Wort, was keine Lösung einer Gleichung ist. Denken, Schaffen und Erleben treten zu einer schöpferischen Ein heit zusammen, die sich in einer »gebildeten Geschichte«85 artikuliert. Darin enthüllt sich Singularität als wirkliche Weise des Universums, zu sein. Innen und Außen, Teil und Ganzes werden ununterscheidbar. Bestimmungen gewinnen Bestand in der variierenden Entfaltung von Differenzierungen. Mit identifizierendem Denken haben sie kaum 82 83 84 85
Schlegel, F.: Lucinde. A.a.O., S. 76. Vgl. ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 71.
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Andere Romantik
Ähnlichkeit. Keine Artikulation erlangt Dauer in der Transformation zum abstrakten Gedanken, wohl aber im steten Bilden und Sinnen: »Darum ist das Leben des gebildeten und sinnigen Menschen ein stetes Bilden und Sinnen über das schöne Rätsel seiner Bestimmung. Er bestimmt sie immer neu, denn eben das ist seine Bestimmung, bestimmt zu werden und zu bestimmen. Nur in seinem Suchen findet der Geist des Menschen das Geheimnis welches er sucht.«86 Im Bestimmen entfaltet sich Wirkliches in die Fülle des Sinns. Für diese Fülle steht die Idee, denn Liebe schließt nichts aus: Liebenden eröffnet sie unendliche Bezüge. Darum unterscheidet schöpferisches Bestimmen sich von logischen Teilungen. Das Universum ist kein Ganzes, das nachträglich in ein Vieles untergliedert werden müßte, weil es die Unendlichkeit von Beziehungen ist, die, jede für sich, eine intensive singuläre Unendlichkeit erschaffen. Poetik bildet für Schle gel die wirkliche Alternative zu einem mengenlogischen und urteils förmigen Denken ebenso wie zu mathematischen Modellierungen des homogenen Ausgedehnten. Im Grunde erschließt die menschliche – die sinnhafte – Welt sich nur in poetischen Fiktionen. Sie sind es, in denen wir uns selbst, andere und Welt konkret vergleichend so ins Verhältnis setzen, daß diese Verhältnisnahmen sich als schöpferische Fortbestimmungen realisieren und, bestimmt werdend, bestimmen. Im Medium der »Fantasie« werden Ideen in Darstellungen greif bar, wenngleich als Rätsel. »Nur die Fantasie kann das Rätsel dieser Liebe fassen und als Rätsel darstellen; und dieses Rätselhafte ist die Quelle von dem Fantastischen in der Form aller poetischen Darstel lung. Die Fantasie strebt aus allen Kräften sich zu äußern, aber das Göttliche kann sich in der Sphäre der Natur nur indirekt mitteilen und äußern.«87 Für Schlegel wie für Heidegger bleibt Sprache der Zauberstab philosophischer Reflexion, doch kommt sie auf komple mentäre Weise zum Einsatz: im Falle Heideggers als Oszillation im Kraftfeld artifizieller Begriffe, die auf konkrete Phänomene kaum Bezug nehmen, bei Schlegel als phantasievolle Verwandlung der Welt in einen diskontinuierlichen Reflexionsraum, der Singularitäten des Lebens zum Vorschein bringt. Vom Reflexionsraum klassischer »Theorie« unterscheidet er sich, weil er auf die erschließende Kraft intensiver Unendlichkeiten vertraut. Im Singulären scheint das Ganze als unendlicher Horizont auf, der jeweils nur in besonderen Verknüp 86 87
Ebenda, S. 96. Schlegel, F.: »Athenäums«-Fragmente und andere Schriften. A.a.O., S. 207f.
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fungen – in Arabesken – zu bestimmen, doch niemals auszuschreiten ist. Theorie räumt ihren Thron zentralperspektivischer Überschau, um die Welt im Zauber der Schrift zum Sprechen zu bringen. Im anderen Menschen und dessen Unendlichkeit erscheint Welt als Reichtum, der nicht bloß kognitiv ermessen, sondern gefühlt werden will. Liebe ist epistemisches Prinzip singulärer Totalitäten. »Alles, was wir sonst liebten, lieben wir nun noch wärmer. Der Sinn für die Welt ist uns erst recht aufgegangen. (...) Alles ist beseelt für mich, spricht zu mir und alles ist heilig. Wenn man sich so liebt wie wir, kehrt auch die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit zurück.«88 Schlegel bringt ein Verständnis von Theorie ins Spiel, das an die Stelle einer Schau intensive Unendlichkeiten singulärer Welten setzt, die sich im Anfertigen von Darstellungen zeigen. Verschrän kungen von Leben, Reflexion und Darstellung bleiben selbstbezügli che Prozesse, die nicht in Verschmelzungen von Ich und Du aufgehen. »Sich« erfassen Liebende in der kultivierten Differenz zu Welt, Buch staben und anderem. Freiheit und Unabhängigkeit gründen in dieser Verbundenheit mit der gemeinen Welt.
5 Ideen und Sterne Wie herausfordernd Friedrich Schlegels Philosophie ist, macht der Vergleich mit der Aristotelischen Poetik sichtbar. Arrangiert Schlegel Fragmente zu nichthomologen Spiegelungen perspektivisch disso nanter Bilder, entwirft die Aristotelische Poetik einen konstruierten Raum, der den Zuschauerblick, die Bühne und die Geschlossenheit des Stücks fokussiert. Ort, Zeit und Handlung treten zu einer kohä renten Ordnung zusammen, um Unterscheidungstexturen als Feld von Optionen vor den Zuschauern auszubreiten. Darstellungen des Theaters zeigen mögliche Verzerrungen der Einsicht durch die jewei lige Perspektive handelnder Charaktere. Um solche Verzerrungen zu sehen, bedarf es eines kohärenten, auf die Perspektive des Zuschauers ausgerichteten Vergleichsraumes, der die gesamte Bühne überblickt und den Mythos des Stückes als ganzen reflektiert. Zuschauer erlan gen Einsicht, indem sie die Unterschiedlichkeit ihrer eigenen Sicht weise von den Sichtweisen der Figuren im Stück unterscheiden und 88
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Andere Romantik
durch diesen Vergleich die Wirklichkeit des Stücks zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit ins Verhältnis setzen. Dazu verhilft der Mythos: »Ich verstehe unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse, unter Charakteren das, im Hinblick worauf wir den Handelnden eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, unter Erkenntnisfähigkeit das, womit sie in ihren Reden etwas darlegen oder auch ein Urteil abgeben.«89 Handlungen und Charakteren verleiht der Mythos eine Ordnung, die kein Analogon zur Lebenswirklichkeit außerhalb des Stücks bildet. Da »Lebenswirklichkeit« offen und unabschließbar bleibt, müssen Handlungen, als Darstellungen, geschlossen sein. In der Form der Darstellung tritt der Allgemeinheitsanspruch einer Nachahmung zutage. Nach Schlegels Auffassung kommen Reflexionen hingegen in Gang, weil es weder eine Zentralperspektive auf das Leben noch ein überschaubares Feld von Optionen gibt, die sich in Entscheidungen, Irrtümern oder Einsichten niederschlagen. Arabesken, die Fragmente auf nichtlineare Weise arrangieren, lassen ruhige Beobachtungen nicht zu, die ein Ganzes – der Darstellung wie des reflektierten Lebens – in den Blick nähmen. Daher geht es weniger um Verschrän kungen von Allgemeinem und Besonderem als um die Artikulation von Singularitäten mit exemplarischem Anspruch. »Lucinde« ist eine solche Singularität. Leben, Darstellung und Reflexion gleichen einan der darin, daß sie als Arabeske der Verbindung von Unterschiedlichem – als Weise, Verschiedenes ähnlich zu machen – Form werden. Auf je ihre Weise spiegeln Singularitäten das Universum – allerdings spiegeln sie einander nicht in einem zentralperspektivischen System von Monaden als dem harmonisierten Kompossibilitätsraum einer Welt.90 Leibniz’ Monadologie und ihre Metaphysik kompossibler Unendlichkeiten korrespondiert der Aristotelischen Poetik, insofern diese als Theorie der Darstellung menschlichen Lebens ebenfalls auf ein Ganzes in der Ordnung seiner Elemente und Relationen bezogen ist. Wie das Leben müssen Reflexionen vollzogen werden, ohne resümiert werden zu können. Darin ähnelt Schlegels Auffassung derjenigen Friedrich Nietzsches. Einer Idee zu folgen wie der »Liebe« in »Lucinde« kommt dem nahe, was Zarathustra seinen Hörern Aristoteles: Poetik. Stuttgart 1982, 6, S. 19f. Vgl. Leibniz, G.W.: Monadologie [1714]. In: Ders.: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade/Monadologie. Hamburg 1956, S. 26–69. 89
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empfiehlt: einen tanzenden Stern zu gebären. Wer einen Stern gebä ren kann, verschenkt sich an die Menschen. Weder fragt er nach Gegengaben, noch begründet er sein Handeln moralisch. Auch im Denken Nietzsches spielt Liebe eine wichtige Rolle. Sie zeichnet den Übermenschen aus. Sehnsucht, nicht Kalkül, stimuliert die Menschen zu einem positiven, wertsetzenden, sich in den Kontingenzen der Welt verankernden und die Folgen des eigenen Tuns bejahenden Verhalten. Mit Was-ist-Fragen lassen Ideen oder Sterne sich nicht begreifen. Moralischen Kalkülen entziehen sie sich. Im Schema wissenschaft licher Rationalität erscheinen sie irrational. »Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. ›Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‹ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.«91 Eine Philosophie des Schöpferischen, wie Nietzsche sie entfaltet, teilt mit Schlegels Poetik den Glauben an den Einzelnen und an die Wirklichkeit des Singulären. In Singularitäten, exemplarisch im Übermenschen, drückt sich ein höchstes Maß an Wirklichem aus. Es ist Maß seiner selbst und deshalb Maß aller Dinge. Wegen ihrer Unvergleichbarkeit entziehen Singula ritäten sich metaphysischen oder ontologischen Ordnungsversuchen, gründen diese doch im Glauben an Rationalität, Klassifikation, Reprä sentation und Vergleichbarkeit. Anders als Heideggers Lektüre Nietzsches, die in dessen Philo sophie den Höhepunkt der Metaphysik erblickt, zeigt Nietzsche, daß es keine Philosophie des Singulären geben kann, die nicht etwas entfaltet, in die Welt stellt, wachsen läßt und als einmalige Variante des Universums »denkbar« macht. Zarathustra ist eine »fiktionale« Figur, weil sie etwas zu sagen hat, das in der Welt bekannter Unter scheidungen kein Unterkommen findet. Deshalb muß sie gestaltet werden wie Schlegels »Lucinde«. Nietzsche, wie Heidegger es tut, von einer bestimmten Deutung Hölderlins aus zu lesen, führt die Reflexion auf andere Pfade, als ihn von Friedrich Schlegel aus zu lesen. Denken bleibt vom »An-denken« verschieden, geht es doch darum, Singularitäten zu erschaffen und Sterne zu gebären. Heidegger gerät der phänomenologische Kunstgriff Husserls, die Epoché, auf dem Nietzsche, F.: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883/1884/1885]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 4. Hrsgg. v. G. Colli und M. Montinari. München 1988, S. 19. 91
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Wege einer Reinigung der Sprache allzu radikal: Was der Beschrei bung dienen sollte, wischt alle Weltbezüge aus. Auch deshalb bleibt seine Spätphilosophie gegenüber der Freiheitsphilosophie von »Sein und Zeit« eigentümlich in sich gekehrt. Ideen und Sterne finden darin keinen Platz. Der rhetorische Charakter seiner eigenen Philosophie verführt Heidegger dazu, den rhetorischen Grundzug von Nietzsches Denken abzublenden und die poetische Kraft von dessen Philosophie zu übersehen. Er liest dessen Texte, ohne auf konstitutive Zusam menhänge von literarischer Form und philosophischem Gedanken näher einzugehen, als bloße Wiederholung der Metaphysik. Doch ist das Ignorieren der Zeichen-Form des Gedankens zugunsten des vermeintlich rein Gedachten – oder der von ihrer Zeichen-Natur befreiten Form – nicht ein hervorstechendes Merkmal »metaphysi schen« Denkens? Bleibt ihm deshalb Schlegels radikale Poetik der Reflexion fremd? Unabhängigkeit und Freiheit romantischer Existenz verlangen ein intensives Leben nach selbstgewählten Ideen. Dazu muß es erzählt werden, um zu einer »gebildeten Geschichte« zu werden.92 Ohne Darstellungen, die mehr und anderes sind als eine Bilanz von Tatsachen oder Chronologien, käme Reflexion nicht zustande. In erzählender Reflexion entsteht ein artikuliertes Selbstverhältnis. Berührungen mit dem Zauberstab des Buchstabens verwandeln Leben zum Selbst. Es kann nun seiner »selbst« innewerden, ohne dem Mythos transparenter Introspektion zu erliegen. Im Selbst poetischer Reflexion erscheint zugleich das Universum als Singularität einer spezifischen Welt, denn jeder lebendige Prozeß dieser Art erschafft, indem er sich selbst erzeugt, seine Welt. »Auch sie (Lucinde, DR) war von denen, die nicht in der gemeinen Welt leben, sondern in einer eignen selbstgedachten und selbstgebildeten. Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich für sie, alles andre nichts; und sie wußte was Wert hat. Auch sie hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig.«93 Gebildete Geschichte – poetische Reflexion und darstellende Welt- wie Selbsterschaffung – ist, wie Schlegels Roman, zugleich autobiographisch und fiktiv-phantastisch. Im Lichte der Idee kann das ganze Leben, als bewußt geführtes, zum Kunstwerk werden, das bis 92 93
Schlegel, F.: Lucinde. A.a.O., S. 71. Ebenda, S. 70f.
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zum Tod niemals zum Abschluß gelangt. Romantische Darstellung, Philosophie, Liebe und Universum treten allegorisch im Text zum Symbol zusammen. »Das Bestimmte und das Unbestimmte und die ganze Fülle ihrer bestimmten und unbestimmten Beziehungen; das ist das Eine und Ganze, das ist das wunderlichste und doch das einfachste, das einfachste und doch das höchste. Das Universum selbst ist nur ein Spielwerk des Bestimmten und des Unbestimmten und das wirkliche Bestimmen des Bestimmbaren ist eine allegorische Miniatur auf das Leben und Weben der ewig strömenden Schöpfung.«94 Männliches und Weibliches tauchen darin wie Aspekte dieser Verschränkung von Bestimmtem und Unbestimmten auf. Indem Männliches und Weibli ches einander fordern und anziehen, ist die schöpferische Gestaltung einer Welt niemals solipsistisch. Religion ist ein anderer Ausdruck für diese Intensität der Welt in der verschränkten Wirklichkeit der Welt von Liebenden: »Alles ist beseelt für mich, spricht zu mir und alles ist heilig. Wenn man sich so liebt wie wir, kehrt auch die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit zurück. Die Wollust wird in der einsamen Umarmung der Liebenden wieder, was sie im großen Ganzen ist – das heiligste Wunder der Natur«.95 Leben und Roman gewinnen symbolisch Gestalt als Arabeske. Intensive Passivität, weltzugewandte Reflexion, Darstellung und Vollzug der Form des Universums verbinden und gestalten Arabes ken mit »Witz«. Mannigfaltiges arrangieren sie zu exemplarischem Verschiedenen. Exemplarisch ist das durch die Arabeske zur Einheit Gestaltete, weil darin die Idee durchscheint – nicht im Sinne von Heideggers »Seyn«, sondern als konkrete Form mit wirklichen Bezü gen zur Welt, mit historischen Wurzeln, sinnlichem Erleben und gedanklichem Vergnügen. Ob solche Gestalten gelingen, hängt davon ab, daß sie Fiktion sein dürfen: mit »Fantasie« Gemachtes, das, als von erscheinender Wirklichkeit Unterschiedenes, im Kontrast zu dieser wirklich wird, ohne sich zur »Kritik« aufzuspreizen. Urteile sind Arabesken keinesfalls. Finale Einsichten müssen sie nicht resümieren. Exemplarisches ist weder statistisch repräsentativ noch unbedingt typisch oder allgemein, aber es lädt dazu ein, Unterscheidungen und Übergänge zu Verschiedenem und Ähnlichem herzustellen. Keine 94 Ebenda, S. 97. – Vgl. zum Verhältnis von Aphorismus, Fragment und Roman bei Friedrich Schlegel auch Neumann, G.: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoris tik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, S. 417ff. 95 Schlegel, F.: Lucinde. A.a.O., S. 97.
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Andere Romantik
Arabeske ist logisch die letzte, so wenig wie dies von einem Gedanken zu sagen wäre. Gedanken, die sich durch Ideen zu gestalteter Form entfalten, kommen nie zur Ruhe. In ihrem Pulsieren verdichten sie das Universum. Sie gleichen philosophischen Spiegel-Bildern, die ein »Bild des Zeitalters« zur Erscheinung bringen, weil diese Form »frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben« kann.96 Nie ans Ende gelangend oder der Versuchung erliegend, der Welt ein Urteil entge genzuschleudern, vervielfacht Philosophie sich »in einer endlosen Reihe von Spiegeln«.97 Eine Poetik der Reflexion, die sich von frühromantischen Ideen Friedrich Schlegels inspirieren läßt, formuliert eine Philosophie des Universums als einer Unendlichkeit lebendigen Bestimmens. Von Heideggers »Seyn« unterscheidet sie sich, weil dessen Denken in »Fugen« statt in Arabesken dem Gedanken seine Beweglichkeit raubt und stellenweise zur Beschwörung gerinnen läßt. »An-denkend« in Heideggers Sinne wird nichts bestimmt. Der Gedanke entleert sich in der quasilyrischen Sprache der Philosophie und wird so selbstrefe rentiell wie das Cartesianische »Cogito«, das sich nur um den Preis des Weltverlustes selbst erfährt. Darin ist Heideggers Sprach-Form tautologisch und Spiegelbild derjenigen Philosophie, zu der sie maxi malen Abstand sucht: der Bewußtseinsphilosophie von Descartes bis Kant. Mit seiner Anknüpfung an das philosophische Projekt der Frühromantik hingegen hat Heidegger, bei aller Einseitigkeit seiner Rezeption, auf eine Alternative zu dominierenden Denkformen »moderner« Gesellschaften aufmerksam gemacht, die tatsächlich zu einer anderen Philosophie führen kann. Die von frühromantischen Dichterphilosophen hochgeschätzte Ironie will es, daß diese alterna tive Philosophie auch eine Alternative zur Philosophie des späten Heidegger bleibt.
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Schlegel, F.: Athenäums-Fragment Nr. 116. A.a.O., S 107. Ebenda.
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II. Arabesken
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Gedehnte Zeit Fiktionen statt Fugen
1 Mythos als Reflexionform I Ein Schuß löst sich, die Kugel verläßt den Lauf. Über eine Meile hinweg sucht sie ihr Ziel, schlägt in einen Körper ein und löscht ein Leben aus. Zitternd steht der Schatten des Projektils im Bild, von Wind- und Atemgeräuschen begleitet. Ein magischer Treffer. Er beendet einen militärischen Einsatz, die Mission des Soldaten und ein dramatisches Duell. Vom Schützen redet man als einer »Legende«. Schon vor diesem Schuß gilt er als »Mythos«. Alle Merkmale einer archaischen Konstellation sind gegeben. Natürlicher Wahrnehmung ist dieses Ereignis unzugänglich. Wir sind im Kino. »Kriege werden in den Köpfen unserer Feinde gewonnen oder verloren«, erklärt ein Offizier dem »Mythos« der US-Armee, Chris Kyle. Nicht bloß Kugeln, auch Bilder und Geschichten entscheiden über Leben und Tod, Sieg oder Niederlage, Freiheit oder Unfreiheit. Ohne sie würden junge Männer kaum bereitwillig ihre Familien ver lassen, um in den Krieg zu ziehen. Bilder sind keine Gründe. Loyalität und Legitimität stiften sie, weil ihre Rhetorik sich Argumenten ent zieht. Bilder des Krieges sind in Massenmedien allgegenwärtig. Der Irak-Krieg, von dem Clint Eastwood in »American Sniper« (2014, 127 Minuten) erzählt, macht davon keine Ausnahme. Jede Einstellung, die auf der Kinoleinwand zu sehen ist, verweist auf Bilder, die sich als Fotografie, Video-, Fernseh- oder Filmbild in Sehroutinen einge brannt haben. Die Bemerkung des Offiziers bezieht sich deshalb auch auf den Film, in dem er auftritt. Das Kino prägt Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Zum kulturellen Bild des Krieges trägt es erheblich bei. Bilder des Krieges fordern Betrachter auf, sich zu ihnen und zu ihrer Weise, Bilder anzuschauen, zu verhalten. Auf den ersten Blick wirken die Bilder auf der Leinwand eigen tümlich vertraut: Panzer und Schützenpanzer rollen durch staubige Straßen irakischer Städte, schwerbewaffnete US-Marines stürmen Häuser auf der Suche nach Feinden, Passanten, unabhängig von Alter oder Geschlecht, erscheinen als potentielle Attentäter. In den Augen der gepanzerten und schwer bewaffneten westlichen Krieger wirken Einheimische fremd und feindlich. Alles ist unübersichtlich, gefähr
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Gedehnte Zeit
lich, unverständlich. Menschen, deren Sprache und Kultur westliche Soldaten nicht kennen, deren Lebensweise und Handlungsmotive im Dunkeln liegen, erscheinen als bedrohliche Akteure. Kontakte zu ihnen sind durch Waffen vermittelt. Wie abstrakt die wuchtigen Bilder jedoch sind, wird bemerkbar, wenn Zuschauer begreifen, daß sie wenig darüber wissen, was diese Bilder zeigen. Anders als übliche Medienbilder sind diese Einstellungen weder illustrativ, noch bedie nen sie stereotype Muster von Posen oder Waffenästhetik. Um zu ver stehen, daß wir manchmal nicht begreifen, was wir auf Bildern sehen, die uns doch scheinbar vertraut sind, müssen wir Verbindungen zwischen Bildern, Ereignissen, Erleben und Personen knüpfen. Für Kinozuschauer gilt das ebenso wie für Nutzer alltäglicher massenme dialer Angebote. Darstellungen machen Zusammenhänge sichtbar, die von kaum jemandem als verständliche Phänomene zu erleben sind. Bleibt abstraktes Verstehen eines Krieges im ganzen unmöglich, zeigen einzelne Erfahrungen keine Zusammenhänge. Bedeutung ent steht im Erzählen von Bezügen zwischen Geschehnissen einerseits sowie menschlichem Handeln und Erleben andererseits. Bloße Ver doppelungen vermeintlicher Wirklichkeit durch indexikalische Bilder könnten diese Funktion nicht erfüllen. Ihnen fehlt, wie beispielsweise Videomitschnitten durch Handy-Kameras, ein Rahmen, der dem Inhalt Kontext, Form und Bedeutung gibt. Reflexionen auf Ereignis, Bild und Kontext kommen fiktionale Darstellungsformate entgegen, weil diese mit exemplarischen Beispielen und inszenierten Formen arbeiten. Clint Eastwood antwortet auf diese Herausforderung in doppelter Weise: indem er eine fiktionale Geschichte erzählt, die von einer realen Person in einem wirklichen Krieg handelt, und indem er seine Bildästhetik zu der Bildsprache der Massenmedien ins Verhältnis setzt. Tom Sterns Kameraführung bringt Zuschauer dicht an das Geschehen heran. Statt zu überwältigen, demonstriert diese Bildspra che, daß es keine neutrale Perspektive gibt. Niemand überblickt, was passiert. Auf unterschiedliche Weise ist jeder involviert. Weder Poli tiker, die den Krieg beschließen, noch Militärs, die Operationspläne in Gang setzen und Einsätze befehlen, noch Soldaten vor Ort, die in Bruchteilen von Sekunden über Leben und Tod entscheiden, wissen, was richtig oder falsch ist. Objektivität wäre eine Fiktion, fiktiver als jeder Film, der sein Gemachtsein vorzeigt. In der Szene, die den magischen Schuß in irrealer – aber filmrealer – Zeitlupe zeigt, springt dieser Umstand exemplarisch in die Augen. Wir sehen den mythi
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1 Mythos als Reflexionform I
schen Kern eines realen Geschehens, das häufig als Mythos erscheint. Krieg und Gewalt sind menschheitsgeschichtliche Erfahrungen von archaischer Kraft. Immer wieder zerreißen sie den Firnis der Zivilisa tion. Ohne Effekthascherei setzt der Film das bildästhetische Mittel der Verzögerung und der Kombination von Bild- und Tonverfremdung ein. Wechselnde Einstellungen auf zwei Männer, die einander auf weit entfernten Hausdächern mit ihren Gewehren gegenüberliegen, unterstreichen, daß es Menschen sind, die töten. Die Szene und die Slow-Motion-Einstellung erscheinen als Symbol für die Problematik, auf die der Film als Kunstform Antworten sucht. Wie erzählt man einen Mythos? Chris Kyle, Hauptfigur in »American Sniper«, dient von 1999 bis 2009 bei den US Navy Seals. Dort wird er zum Scharfschützen ausgebildet. Aus einer gedeckten Beobachterposition heraus muß ein solcher Spezialist die Umgebung im Auge behalten, in der Boden truppen agieren. Hinterhalte soll er rechtzeitig identifizieren und ausschalten. Scharfschützen sind Beobachter. Eastwood betont diesen Umstand, indem er in einer Schlüsselszene der Schießausbildung zeigt, wie Kyle darauf beharrt, beim Zielen beide Augen geöffnet zu halten. Nur wer die Umgebung des Zieles ebenso im Auge behält wie das Ziel, erklärt er, weiß, was er tut. Das unterscheidet einen sehr guten von einem durchschnittlichen Schützen. Es unterscheidet auch einen Mann, der weiß was er tut, von einem Mann, der nicht weiß, was oder warum er etwas tut. Bedeutung hat etwas erst in bezug auf seinen jeweiligen Kontext. Infolge des »Kriegs gegen den Terror«, den die US-amerikanische Regierung als Antwort auf den Anschlag des 11. September 2001 beschließt, wird Kyle in den Irak geschickt. Als »Sniper« erzielt er 160 bestätigte Treffer im Laufe von vier Einsätzen. Damit gilt er als der erfolgreichste Scharfschütze der amerikanischen Militärgeschichte. Seine Kameraden betrachten ihn bald als »Legende«. Seine Anwe senheit im Einsatz gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Er ist, in den Worten seines Vaters, ein »Hütehund«, der, weil er stark ist, andere beschützt. Nach seiner Rückkehr in die USA schreibt Kyle eine Auto biographie, die Clint Eastwood als Grundlage für seinen Film nimmt.1 Chris Kyles Buch ist ein persönlicher Erfahrungsbericht ohne literarische Stilisierung oder formale Brechungen. Clint Eastwoods 1 Kyle, Ch.: American Sniper. Die Geschichte des Scharfschützen Chris Kyle [2012]. München 20153.
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Gedehnte Zeit
Film übersetzt diesen Text nicht einfach in Bilder, die vorgeben, eine Dokumentation des Irakkrieges oder von Chris Kyles Leben zu sein. Von Heldenverehrung oder Kriegspropaganda hält der Film sich sorg fältig fern. Vielmehr wirft er die Frage auf, was eine Dokumentation sein könnte, wenn doch die Realität des Krieges nicht aus einer neu tralen Perspektive geschildert werden kann. Deshalb zeigt Eastwood den Soldaten Chris Kyle als Figur in einer Fiktion, die exemplarische Fragen aufwirft, indem sie die komplexe Wirklichkeit in einer per sönlichen Perspektive spiegelt, von der deutlich wird, daß sie auf einer Inszenierung beruht. Gedoppelt ist dieser Spiegel, weil er die Person Chris Kyle in eine Figur verwandelt, deren Perspektive sich aus dem kulturellen Bild erklärt, auf das hin Kyle sich selbst entwirft und in dessen Licht er von seinen Kameraden, der amerikanischen Öffent lichkeit und uns, den Kinozuschauern, gesehen wird. »American Sni per« verhandelt den Mythos des »American Sniper« im Blick auf den Mythos »Amerika«. Die Szene des magischen Schusses führt diese Strategie vor. Zum einen zeigt sie technische und bildästhetische Mit tel, mit denen das Kino arbeitet und sich dadurch von jedem realen Erleben unterscheidet. Zum anderen ist die Szene selbst eine fiktio nalisierende Veränderung des Buches. Der von Kyle getötete Mann war selbst eine Legende: Angeblich handelte es sich um einen ehe maligen Sportschützen mit Namen Mustafa, der an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte, bevor er auf Seiten der irakischen Kämp fer zum Scharfschützen wurde. Zum Alter ego Kyles wird er erst im Kontext des Films.2 Eastwood übersetzt diese Geschichte in die Dra maturgie eines Duells, das dem undurchsichtigen Konflikt, in den die Vereinigten Staaten im Irak verstrickt sind, ein verständliches Profil verleiht. Menschen möchten wissen, gegen wen sie kämpfen – darum machen sie sich Bilder. Diese dramaturgische Stilisierung zitiert klas sische Erzählmuster von Heldengeschichten, die in den Genres des Westerns oder des Kriegsfilms wohlbekannt sind. Aber um bloße Erzählkonventionen oder simplen Spannungsaufbau ist es hier nicht zu tun. Denn die Personalisierung erzeugt, unterstrichen durch die künstliche Bildästhetik der Einstellung beim »magischen« Schuß, die erkennbare Fiktion von Verständlichkeit eines unübersichtlichen Geschehens, das »Krieg« heißt. Verzögerung, Verdichtung und Dis 2 »Ich selbst«, schreibt Kyle, »habe ihn nie zu Gesicht bekommen, aber andere Sniper töteten später einen irakischen Scharfschützen, von dem wir annehmen, daß es sich um Mustafa gehandelt haben muss.« Ebenda, S. 153.
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1 Mythos als Reflexionform I
tanz bringen eine »Sache« näher, die sich unabhängig von ihrer Dar stellung nicht verstehen läßt. Für Kyle ist nun der Moment gekom men, wo er sich erlaubt, nach Hause zurückzukehren. Im Spiegel seiner Dramaturgie und Bildästhetik legt der Film eine doppelte Beobachtung nahe. Einem Sehen mit beiden Augen, wie Chris Kyle es beim Visieren des Ziels praktiziert, ist sie nicht unähnlich. Auf einer ersten Ebene verfolgen Zuschauer eine fesselnde Geschichte mit eindrücklichen Bildern. Wer nur diese Ebene beachtet, kann »American Sniper« als Heldengeschichte anschauen – was dem Erfolg des Films entgegenkam. Aber auf einer zweiten Ebene wird die fiktionale Konstruktion selbst bedeutsam, indem sie eine Reflexion auf die Bilder auslöst, die auf der ersten Ebene faszinieren. Die Form der Inszenierung ermöglicht Reflexionen auf die Frage, wie sich »Krieg« verstehen läßt und wie schwierig es ist, in unübersichtlichen Situationen Orientierung zu gewinnen. Ereignisse verweisen auf Per spektiven, die von kulturellen Voraussetzungen geprägt sind, die das »Wissen« des Menschen übersteigen, aber in der Form eines insze nierten Arrangements unterscheidbar und vergleichbar werden. Ohne auf dieses Unterscheidungsarrangement zu reflektieren – also den Kontext der Form mitzusehen –, bleiben entscheidende Fragen, die sich Chris Kyle ebenso stellen wie Kinozuschauern, unbeantwortbar: Was ist der Fall? Was soll der Einzelne tun? Was rechtfertigt das exis tentielle Risiko und womöglich das Töten von Menschen? Gekleidet in die Reflexion auf einen dreifachen »Mythos« – Chris Kyle, Amerika, Krieg als Menschheitserfahrung –, nimmt »American Sniper« auf Fragen bezug, die für Immanuel Kant das »Interesse« der Vernunft ausmachen: »1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?«3 Auf diese Fragen erteilt, wie Kant bemerkt, Erfahrung keine Antwort. Doch sind es diese Fragen, die unsere Vernunft nicht zur Ruhe kommen lassen. »Diese unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.«4 »American Sniper« verhandelt solche unabweisbaren Fragen mit filmischen Mitteln an einer exemplarischen Figur. Nähert Kant sich Antworten auf die Fragen mit den Begriffen der Transzendentalphi losophie, schlägt der Film eine Alternative vor: Zwar sind es nicht Erfahrung, Dokumentation oder Wissen, die Menschen Antworten 3 Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft [1781]. Werke in sechs Bänden, Bd. II. Darmstadt 1983, B 834. 4 Ebenda, B 7.
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auf Fragen näherbringen, die sie beschäftigen, wenn es um die großen existentiellen Probleme ihres Lebens geht. Aber in Gestalt fiktionaler Darstellungen werden Reflexionen möglich, die zugleich empirisch, exemplarisch und formal reflektiert sind. Aus der Geschichte zu »lernen« scheint kaum möglich, und aus reinen Strukturen des Den kens Orientierung in einer unübersichtlichen Welt gewinnen zu wollen, ist vielleicht wenig aussichtsreich. Reflexionen auf mythische Formen, die wohl alle Kulturen bereithalten, um Deutungsschemata für solche Fragen zu geben, eröffnen Perspektiven, zu denen jeder Einzelne sich immer wieder ins Verhältnis setzen kann. Allerdings stehen Orientierungsversuche unter Bedingungen der Ungewißheit. Fiktionen helfen bei einer Phänomenologie des Unverständlichen, indem sie die Grenze zwischen Realem und Imaginärem durchlässig machen. Mit ihrer Hilfe können wir etwas auf andere Weise sehen und diese perspektivische Verschiebung zu Reflexionen nutzen. Solche Verschränkungen, wie sie in »American Sniper« auftreten, werfen Licht auf die Frage, wie wir, bei aller Unübersichtlichkeit, Unkontrollierbarkeit und moralischen Uneindeutigkeit der Welt, darüber nachdenken können, was es heißt, eine Person zu sein, die für das, was sie tut, verantwortlich ist. Eine Antwort im Singular wird es kaum geben. Weder darf der Einzelne sich auf moralische oder epistemische Gewißheiten verlassen, noch sind eindeutige Wahrhei ten in Sicht. Sinn, als Bedeutung, spitzt sich jedoch in existentiellen Situationen und Herausforderungen exemplarisch zu, wie sie in bedeutenden kulturellen Fiktionen dramaturgisch inszeniert werden. In »Sein und Zeit« hatte Heidegger diese Konstellation versucht auszuleuchten. Die Figur einer »Seynsgeschichte« hingegen tendiert dazu, in eine leere Geste überzugehen. Sie verweigert Bilder, statt andere Bilder herauszufordern. Insofern ist sie, wie Heidegger sagt, übergeschichtlich, weil abstrakt. Dem »Dasein«, das in seine Welt geworfen ist, auf die hin es sich entwerfen muß, ist auf diese Weise nicht geholfen. Chris Kyle begegnet im Kino wie ein exemplarisches Dasein in extremen Situationen – als ein potentieller Jedermann, der sich allerdings nicht so verhält, wie »man« es üblicherweise erwartet. Statt uns mit einfachen – übergeschichtlichen – Antworten abzuspeisen, lädt Eastwoods Film zu Reflexionen ein, die uns in immer neue Darstellungen verwickeln, in denen wir Spielräume des Möglichen ausloten. Dabei hilft eine Poetik, die Wirkliches ins Imaginäre exemplarisch erweitert.
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1 Mythos als Reflexionform I
Im Falle von »American Sniper« führt diese Poetik zu einem doppelten Zeiteffekt. Zum einen beschleunigt der Film in seiner Erzählzeit die filmreale Zeit des Krieges, in dem Chris Kyle kämpft. Zum anderen verlangsamt er die Zeit – exemplarisch und symbolisch in der Schlüsselszene des »magischen« Schusses –, um Einzelheiten als Knoten in Bedeutungstexturen zu zeigen. Zusammengenommen entsteht die Zeit einer Darstellung, die Zuschauer in Reflexionen führt, die außerhalb des Kinos kaum möglich wären. Diese dramatur gisch konzentrierte Zeit steht im Kontrast zu einer »übergeschicht lichen« Perspektive, deren extreme Zeitdehnung zwischen einem verlorenen und einem fernen zukünftigen Anfang der Geschichte das einzelne Geschehen überspielt, in das jedes Dasein geworfen ist. Ein »Dasein« entwirft sich auch im Umweg über kulturelle Bilder, die es als Bilder zu lesen lernen kann, ohne sich mit ihnen oder die Bilder mit dem »Seienden«, wie es vermeintlich ist, zu identifizie ren. Im Horizont des »Seienden« über die »Welt« zu reflektieren, verstrickt Reflexionen einerseits in symbolische Gespinste der Kultur; andererseits bringt es »Seiendes« im Modus der Reflexion in Gefüge von Relationen, die dem Begegnenden seine bloße Unmittelbarkeit rauben und ein Verhältnis etablieren, das die Wahl läßt, eines oder anderes zu tun. Philosophie, die sich nicht damit abfindet, beredt in Schweigen zu versinken, kann das Nichtbegriffliche, das in dissonan ten Resonanzen der Zeichenketten und Symbole wohnt, die wir als Kultur kennen, auf immer neue Weise zum Sprechen bringen. Als symbolisches Wesen wird der Mensch zum »Homo absconditus«: Er ist auf Geschichte und Geschichten angewiesen.5 Sich selbst verbor gen zu sein heißt, in die Unendlichkeit des Sinns hinein aufzubrechen, ohne vermeintlich genauen Karten der Vernunft oder des Wissens allzu sehr zu vertrauen. Wohin der Weg führt, ist offen; gebahnt wird er im Gehen. Deshalb müssen Geschichten erzählt werden, die potentiell alles mit allem in Beziehung bringen. Mythen sind exemplarische Geschichten, die auf immer neues Erzählen angewiesen sind, das wie Arabesken aus der Fülle des Sinns schöpft und diese zur Darstellung bringt. Sie gehören zu den ältesten kulturellen Erfindungen, mit deren Hilfe Reflexionen auf der Grenze zwischen Wirklichem und Imaginärem, Faktischem und Möglichem in unermüdlichen Auslegungen der Welt in Angriff zu nehmen sind. 5 Vgl. Plessner, H.: Homo absconditus. In: Rocek, R./Schatz, O. (Hrsg.): Philoso phische Anthropologie heute. München 19742, S. 37–50.
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Wiederholungen des Mythos sind niemals bloße Wiederholungen des Selben, führen sie doch, wie Arabesken, stets auf anderes. Das unterscheidet sie von Heideggers »Fugen«, die auf ein kontemplatives An-Denken des Seins zielen. Mitten in der Welt sind Mythen zu ent decken – sie finden sich in religiösen Motiven, politischen Theorien, philosophischen Betrachtungen, literarischen Erfindungen oder fil mischen Bildern. Von Heideggers »Denken« ist der Mythos ebenso verschieden wie von reinen Formen des Verstandes. Eher gleicht er einem Film. Blumenberg hat Heideggers »Sein« einmal mit Hitch cocks »McGuffin« verglichen. Ein McGuffin ist: nichts, aber dieses Nichts treibt die Spannung der Erzählung voran und verleiht dem Sichtbaren rätselhafte Bedeutung. So wie in Hitchcocks »North by Northwest« (1959) der McGuffin in ominösen Regierungsgeheim nissen besteht, so sei Heideggers »Sein« der McGuffin für den feh lenden zweiten Teil von »Sein und Zeit«. Im Rätsel des Seins würde sich demnach ein ehrfürchtiges Zittern vor der Banalität eines Nichts verbergen. »Der McGuffin des Seins tat seine Schuldigkeit. Die Wir kung blieb nicht aus, das Publikum folgte atemlos. Einige, die vom McGuffin nichts gehört haben, werden noch immer von ihm umge trieben.«6 Poetologische Reflexionen des Mythos sind nicht mythisch, weil sie Differenzen hervortreiben, statt sie gleichzusetzen oder als falsche Identitäten anzuprangern. Sie gleichen Reisen aufs offene Meer des Sinns.
2 Wirkliches und Imaginäres 2.1 Karten Von einem »weiten und stürmischen Ozean« sieht Immanuel Kant das »Land des reinen Verstandes« umspült. Tückische Nebelbänke gaukeln »neue Länder« vor. Den Seefahrer locken sie »mit leeren Hoffnungen« in »Abenteuer«, »von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.« Gleich einem ewigen Odysseus irrt er durch wabernde Gespinste imaginärer Territorien. Die Insel der Wahrheit, Wohnstatt der Vernunft, bleibt umschlossen 6 Blumenberg, H.: Das Sein – ein McGuffin [1987]. In: Ders.: Ein mögliches Selbst verständnis. Stuttgart 1996, S. 157–160, hier S. 159f.
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vom Meer des »Scheins«.7 »Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit ...«8 Reisenden, die sich anschicken, neue Gefilde zu erkunden, empfiehlt Kant ein nüchternes Studium der Karte des Verstandes, die er glaubt gezeichnet zu haben. Alles ist darauf verzeichnet: vom »Land des reinen Verstandes« ist »jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt«.9 Welchen Vorteil ver spricht eine Karte, die jedes Detail des Territoriums verzeichnet? Bescheidene Bodenständigkeit, meint Kant, winkt Kartenlesern als Lohn. Auf Reisen können sie fortan verzichten. Wer auf der Insel des Verstandes Wohnstatt nimmt, tauscht Abenteuer im Nebel gegen die Sicherheit des Nötigen und Möglichen. Ist nüchterne Bescheidenheit, die von Reisen abrät, angemesse ner Lohn philosophischer Reflexion? Von welcher Welt sprechen Philosophen, die Phantasien und Abenteuern abschwören, um statt farbenprächtiger Gestalten des Scheins Karten zu studieren, die der Verstand von sich selbst zeichnet? Zeigt die Karte des Verstandes nicht ödes Land, wenn Entdeckungen, die nicht schon auf ihr verzeichnet sind, als gefährliche Träume abgetan werden? Gibt es überhaupt Erkenntnis diesseits des Scheins? Ist zwischen Wirklichkeit und Schein auf der Insel reiner Vernunft zu unterscheiden? Wo verläuft die Grenze zwischen Land und Meer? Warum ist sie unveränderlich? Bleibt sie ein Gespinst der Karte? Wäre sie dann nicht selbst imaginär? Kants philosophische Geographie zielt weder in erster Linie auf die Karte der Insel, denn diese zeigt exakt dasselbe wie das Territorium, das sie kartiert, noch auf bessere Orientierung auf dem Ozean des Scheins, denn vor dessen Verheißung warnt sie die Kartenleser. Die Grenze selbst ist der Gewinn, um sie drehen sich die Anstrengungen der »kritischen« philosophischen Arbeit der Kartierung. Zwischen Innen und Außen, Wahrheit und Schein zu differenzieren, hilft die Karte, die nichts am Territorium verändert, sondern dieses analog – 1:1 – repräsentiert. Karte und Territorium verdanken ihre Analogie dem Umstand, daß es die Sprache ist, die sowohl das Land des Verstandes als auch dessen Karte darstellt. Kants Projekt »kritischer« Reflexion gelingt auf dem Boden einer Voraussetzung, die von der »Karte« – dem Resultat philosophischer Reflexion – verhüllt wird: 7 8 9
Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft. A.a.O., A 236f. Ebenda. Ebenda.
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daß es keinen Unterschied der Formen zwischen Land und Karte gibt. Seine Geographie verdeckt das Problem der Zeichen, indem sie eine homologe Repräsentation unterstellt. Kants »Karte« funktioniert wie ein Spiegel: Sie kennt weder Perspektive noch Verzerrungen oder Abstraktionen. Form und Realität, Karte und Territorium fallen auf der Verstan des-Insel zusammen. Beide versinken in der Grenze, von der niemand weiß, wer sie zieht. Deshalb gibt es zwar die Karte, jedoch kein Bild von der Karte, auf dem die Insel des Verstandes mitsamt ihrer Grenze, also innerhalb des Ozeans, zu sehen wäre. Ein vollständiges Bild der Insel – und nicht nur dessen Karte – müßte auch die Grenze der Insel, mithin den Kontext der Karte, zeigen. Von dieser verschwimmenden Grenze zu reden, wie Kant es tut, verlangt, sich außerhalb der Karte des Verstandes zu bewegen. Wie soll das möglich sein, wenn die Karte doch wie ein Spiegel funktioniert und 1:1 darstellt, was sie repräsen tiert? Wer ist der Kartograph? Relationen zwischen Territorium und Karte, zwischen Land (des reinen Verstandes) und Meer (des Nebels und des Traums), zeigen sich dem, der die auf der Karte eingezeichnete Grenze zwischen Wirklichkeit und Imagination gekreuzt hat. Weder diesseits noch jenseits der Grenze wohnt der Kartograph. Er ist die personifizierte Paradoxie reiner Vernunft. Sein Ort ist die Imagina tion, seine Geschichte Fiktion. Jorge Luis Borges hat diese Paradoxie in einer kurzen Erzählung beschrieben, die ihrerseits mit der Fiktion strenger Genealogie arbeitet: Von der Strenge der Wissenschaft10 ... In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, daß die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese maßlosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, diese ausgedehnte Karte sei unnütz, und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und 10 Vgl. Borges, J.L. Von der Strenge der Wissenschaft [1961]. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 6. München, Wien 1982, S. 121.
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von Bettlern; im ganzen Land gibt es keine anderen Überreste der geographischen Lehrwissenschaften. Suarez Miranda: Viajes de varones prudentes, IV. Buch, Kapitel XLV, Lérida, 1658
Borges erzählt die Geschichte in Gestalt eines fiktiven Zitates aus einem fiktiven Werk eines fiktiven Autors des 17. Jahrhunderts, das von Reisen vorsichtiger Männer spricht. Wer wissen möchte, ob es sich um den Bericht einer wahren Begebenheit oder um Fiktion handelt, muß eine wissenschaftliche Überprüfung des Zitates vorneh men. Die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Literatur fällt ins Territorium der Wissenschaft. Auf ihrer Seite der Grenze scheint sie größere Folgen zu haben, konstituiert Wissenschaft sich doch über den Anspruch, »Wahres«, also nicht Fiktives zu sagen. Wissenschaft möchte verhindern, mit Literatur verwechselt zu werden, während Literatur mit der Verwechslung spielen und diese unbefangen für ihre eigene Text-Form nutzen darf. So gesellt Literatur sich zwanglos neben wissenschaftliche oder philosophische Texte. Als imaginärer Kommentar wirft sie Fragen nach dem Status der Texte auf, die schein bar – und anscheinend oft vergeblich – nur mit wissenschaftlichen Mitteln zu beantworten sind. Tückisch ist das Spiel mit der Grenze zwischen Wissenschaft und Literatur – und mit der Inszenierung dieser Grenze –, weil es den Mythos der Genealogie strengen Wissens oder reiner Vernunft in Nebel des Imaginären hüllt. Ohne Ursprungsmythos scheint der Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit bodenlos zu werden. Wäre er bodenlos, gäbe es keinen Grund, an Wissenschaft zu glauben. Kant versucht sich aus dem Dilemma zu retten, indem er das Nebelmeer des Scheins als Metapher gebraucht und in den philosophischen Text als Warnung integriert. Sein Text, die Kritik der reinen Vernunft, beansprucht, selbst eine Karte des Verstandes zu sein, die kein Bild, sondern eine Repräsentation 1:1 ist. Innerhalb seines Textes beschreibt Kant diesen Anspruch bildhaft durch die Metapher der Karte des Landes der Wahrheit. Darin spiegelt sich der literarische – auf der Identität der sprachlichen Struktur von Verstand und dessen Karte beruhende – Charakter der Grenze, die Kant zieht, von der er jedoch behauptet, sie liege, da wissenschaftlich solide begründet, noch auf der Karte, statt die Karte zu erzeugen. Von literarischen Mitteln macht Kant sparsam und auf eine Weise Gebrauch, die den literarischen Charakter seines Textes, der Wissenschaft begründen soll, verhüllt. Aber erst im Bild – als Literatur – läßt sich sagen, worin
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der Anspruch der »Karte« besteht: homolog zum Territorium, also kein Bild zu sein. Hingegen erscheint der Ursprung wissenschaftlich-kartographi schen Wissens in Borges’ Geschichte als Imagination. In deren Licht betrachtet der »Westen« die Geschichte seines Wissens, zu der auch Kants »Kritik der reinen Vernunft« gehört. Literatur wird zum Spiegel des Wirklichen und des Denkens des Wissens vom Realen. Wirkliches wird als Erzählung für Leser real. Realität ist eine praktische Größe. Wer nach der Form des Wissens – nach der Karte – fragt, sucht nach Erklärungen, die einen Ursprung bezeichnen. Mit gewünschter Strenge können solche Erklärungen nur als Fiktion gegeben werden. Der Ursprung ist imaginär, und doch beantwortet die Setzung eines imaginären Ursprungs Fragen nach der Bedingung der Möglichkeit des Wissens. Wäre ein absoluter Ursprung nicht auch ein Bild, von dem sich nicht sagen ließe, worin es gründet? Sind Literatur und Wissenschaft in ihrer Funktion austauschbar? Jedenfalls kennt Wissenschaft selten Ironie, wie Borges sie als Form des Literarischen inszeniert. Ironie lugt durch die Zeilen eines scheinbar autorlosen Textes, der sich dem Leser augenzwinkernd als Spiegel der Meta phorik Kants zeigt, der zwischen Land und Meer zu unterscheiden sucht. Was Kant in seinem so imposanten wie fragilen System reiner Vernunft zu begründen verspricht, präsentiert Borges als Fiktion des Ursprungs. Den Grund für die Architektur des Denkens muß der Transzendentalphilosoph in sich selber suchen: im Bewußtsein und den vermeintlich universellen Formen des Denkens. Im Zuge der Reflexion auf das eigene Denken wird dessen Form als universelle Form unterstellt – und an der Ordnung der Zeichen, der Sprache, so festgemacht, daß allen nichtsprachlichen Zeichen-Formen, zum Beispiel Bildern, ein geringerer epistemischer Wert zugesprochen wird. Weniger ihr welterschließendes und Sinn schaffendes Potential interessiert Kant an der Sprache als ihre logische Struktur. Unterschei dungen, mit denen sich das szientifische Ideal eines seiner selbst gewissen Wissens konstituiert, sind aber real als Fiktionen. Weder sind sie auf Seiten des Landes noch des Meeres angesiedelt. Die verschwimmende Grenze, die gefährliche Küste, ist es, vor deren Überquerung Kant abenteuerlustige Reisende warnt. Würden sie die Grenze kreuzen, statt die Karte zu studieren, würden sie des fiktiona len Charakters der Karte gewahr. Das Projekt reiner Vernunft wäre eine Geschichte neben anderen. Der Witz in Borges’ Geschichte zeigt sich schon an der bizarren Differenz des Umfangs beider Erzählungen:
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Einer halben Druckseite bei Borges entsprechen über siebenhundert Seiten der »Kritik der reinen Vernunft«. Nicht die Wissenschaft ist kurz und bündig, weil sie sich aller scheinbar unnötigen Arabesken enthält und das Wesentliche in klaren und bestimmten Ableitungen präsentiert, sondern die Literatur, die nichts weiter tun muß, als die Grenze zu ziehen, die komplizierte Genealogien zu erfordern scheint. Aus der Sicht des 20. und 21. Jahrhunderts sind philosophische Texte des 17. und 18. Jahrhunderts, in denen sich das strenge Wissen schaftsideal programmatisch anbahnt, wiederum Literatur geworden, die sich sowohl wissenschaftlich als auch literarisch betrachten und kommentieren läßt – allerdings zu einer Literatur, die Spuren in der Wirklichkeit hinterlassen hat. Wie die Kantische Philosophie. Auch davon erzählt die kurze Geschichte. Bestrebungen nach immer größerer Genauigkeit der Karte des Landes führen zur Unbrauchbarkeit der Karte. Fiktiv ist die Karte also nicht, weil sie ausgedacht wäre, sondern weil das Ideal strenger Wahrheit zur Fiktion des Ideals führt – und zwar mit der strengen Logik wissenschaftlichen Wissens. Strenges Wissen von etwas zu erlangen bedeutet, es als das, was es ist, durch etwas anderes darzustellen. Genaue Darstellungen in diesem Sinne wären idealiter analoge Repräsentationen: Zweitfor men von etwas als etwas anderem – eine Karte im Maßstab 1:1. Deshalb wären sie dasselbe als Verschiedenes und, logisch betrachtet, koextensiv mit dem Bezeichneten. Damit verschwindet die Differenz, die »Wissen« ausmacht: nicht dasselbe zu sein wie das, wovon es Wissen ist. In der Grenze, die auf der Karte markiert ist, verschwindet das Ziehen der Grenze, dem die Karte sich verdankt. Paradoxien von Identität und Differenz in der Natur wissenschaftlichen Wissens finden in diesem System des Wissens weder einen Ort, noch dürfen sie toleriert werden. Genauigkeit der Karte des Landes jedenfalls verlangt, den Maßstab solange zu vergrößern, bis er mit der Größe des Landes deckungsgleich ist. An dem Punkt maximaler Genauigkeit wissenschaftlicher Repräsentation wird die Karte unbrauchbar. Nütz lich – und real – war sie solange, wie sie Fiktion blieb: ein Gemachtes, das verschieden war von dem, worauf es verwies. Solches Wissen lohnt die Mühen der Widerlegung nicht, die immerhin seiner Form Respekt erweisen. Es gibt nichts zu widerlegen, sondern das Bild der Karte ist zu zeigen. Nachfolgende Geschlechter gehen pietätlos mit ihm um. Sie überlassen die Karte des Landes dem Spiel der Naturkräfte. Im Laufe der Zeit verwittert sie, bleicht aus, zerbröselt und gewährt Außenseitern dürftiges Obdach. Wer möchte, kann
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sich in den Überbleibseln der Karte verkriechen wie in die Jahre gekommene Kantianer oder andere Vernunft-Gläubige, die in den Ruinen alter Kulturen noch wie exotische Tiere anzutreffen sind.
2.2 Kunst des Indirekten Zitieren gehört zum Genre der Wissenschaft, die »Wissen« von »Fik tionen« abzugrenzen sucht. Doch kann Literatur sich das Zitat eben falls zueigen machen. Zitiert Jorge Luis Borges einen fiktiven Text, um seine Geschichte als Grenze zwischen Literatur und Wissenschaft zu inszenieren, zitiert Umberto Eco Borges’ Geschichte, um die darin enthaltenen Paradoxien weiter zu entfalten. »Die Karte des Reiches im Maßstab 1:1« ist ein zugleich literarischer und wissenschaftlicher Kommentar zu Borges’ »Von der Strenge der Wissenschaft«.11 Eco behandelt Borges’ Text als Explikation eines wissenschaftlichen Pro blems, dessen logische Unmöglichkeit er aus semiotischer Perspek tive diskutiert. Wissenschaft ist eine Weise des Zeichengebrauchs. Wichtig und nützlich wird sie, wenn etwas »nicht auf andere Weise erkennoder perzipierbar ist«.12 Zur Wissenschaftlichkeit gehört Indirektheit. Diese wird durch Zeichen ermöglicht, die nicht dasselbe sind wie das, was sie bezeichnen. Real am Wissen ist eine Lücke zwischen Zeichen und Bezeichnetem, die selbst unbezeichenbar bleibt. Wer mit den Augen der Wissenschaft auf die Welt schaut, kann, was er sieht, nicht auf andere Weise oder »direkt« sehen. Wissenschaft ist das Gegenteil von spontaner Evidenz. Sie eröffnet kein Fenster reiner Transparenz auf eine ansonsten nebelhafte Wirklichkeit. Ihre Natur widerstreitet Begründungsansprüchen der Cartesianischen Idee eines »Cogito« ebenso wie deren bewußtseinsphilosophischen Derivaten. Beide stützen ihre Evidenzansprüche auf die Intuition einer unmittel baren – zeichenfreien – Selbstzugänglichkeit des Denkens. Parado xerweise muß diese Selbstreferenz eines zeichenlosen Denkens durch die Arbeit mit Zeichen – durch Argumentation, Beweis und Deduk tion – freigelegt werden. Was an Wissenschaft einleuchtet, sind deren Regeln im Umgang mit Symbolen, weniger der Bezug auf die Welt, 11 Vgl. Eco, U.: Die Karte des Reiches im Maßstab 1:1 [1982]. In: Ders.: Platon im Striptease-Lokal. Parodien und Travestien. München, Wien 1990, S. 85–97. 12 Ebenda, S. 87.
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bleibt diese Referenz doch stets durch Zeichen vermittelt. Darum kann eine wissenschaftliche Repräsentation der Welt – die »Karte« – »kein durchsichtiges und fest auf dem Territorium aufliegendes Blatt sein (...), auf welches die Höhen und Tiefen des Territoriums projiziert worden sind«.13 Ist die Karte aber undurchsichtig, verändert sie, was sie repräsentiert, schiebt sie sich doch zwischen Kartenzeichner bzw. -leser und Territorium, von dem sie eine Karte ist. Da sie weder auf Seiten des Zeichens noch des Bezeichneten eingetragen werden kann, stört diese intransparente Differenz die Balance zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Absichten der Repräsentation werden durchkreuzt, denn was die Karte verändert, kann sie nicht sichtbar machen. Sie erzeugt, was sie zeigt, und verdeckt, was sie tut. Würde man sich Benutzer der Karte in der Lücke zwischen Territorium und – darüber aufgehängter – Karte angesiedelt denken, wäre die Karte unbrauchbar, da immer nur sichtbar wäre, was jeder Benutzer aus seiner Perspektive ohnehin sieht. Über andere Teile des Territoriums gäbe die Karte keine Auskunft.14 Nicht zuletzt vermag die Karte das Territorium nicht als Land zu zeigen, das vollständig von einer Karte bedeckt ist. Dazu wären unendlich viele andere Karten erforderlich, von denen keine eine zufriedenstellende Repräsentation liefern könnte. Um alles – die Karte als Karte – zu sehen, muß man weniger sehen – die Karte darf nicht koextensiv mit dem Territorium sein, sondern muß die Distanz einer Perspektive und die Selektivität eines Zeichens aufweisen. Wissen des Wissens in der Form wissenschaftlicher Repräsentation bleibt unmöglich. An dessen Stelle tritt wie bei Borges auch bei Eco die Literatur, die ins Gewand semiotischer Wissenschaft schlüpft. Am Ende seiner Geschichte nimmt Eco auf Kant Bezug: »Zu postulieren wäre ein Reich, das in einer Art von transzendentaler Apperzeption seiner eigenen Kategorienapparatur in actu ein Bewußtsein seiner selbst gewönne; das aber würde die Existenz einer Karte mit Selbstbe wußtsein verlangen, und diese würde (wenn sie je möglich wäre) im gleichen Augenblick selber zum Reich, so daß mithin das Reich seine Macht an die Karte abträte.«15 Der Traum der Wissenschaft entpuppt sich als Zerstörung der Welt, an deren Stelle er sich, für sich selbst unbemerkt, setzt. Karten sind Fiktionen – Gemachtes –, deren wirklichkeitser schließender Nutzen aus dem nichtindexikalischen Charakter ihrer 13 14 15
Ebenda. Vgl. ebenda, S. 89. Ebenda, S. 97 (Hervorhebung im Original).
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Zeichen entspringt. Der Traum des Wissens, die Welt analog abzu bilden, führt zum Zusammenbruch der Welt und zum Kollaps der Idee der Repräsentation. Entpuppt Repräsentation sich als Fiktion trans parenter Zeichen, verweist die Grenze zwischen Literatur und Wis senschaft auf das Problem der Form. Formen wiederum markieren die Notwendigkeit der Inszenierung von Grenzen als einer Kunst des Indirekten. Formen, die keine Repräsentationen sind, nötigen zur Entscheidung über die Wahl der Zeichen, mit denen sie Darstellungen erzeugen, die weder mit der Sache noch mit der Wahrheit identisch sind. Solche Darstellungen verweisen indirekt auf die Frage nach Ursprung oder Erklärung: Beide sind real als Fiktionen, und Fiktionen sind mögliche Formen des reflexiven Umgangs mit Wirklichem. Ihre Realität entspringt der schöpferischen Natur von Zeichen. Statt eine Haltung der »Kritik« einzunehmen, könnte Philosophie sich als Praxis des Darstellens verstehen, die das Problem einer ursprünglichen Dif ferenz – des Grundes oder des Ursprungs – unendlich verschiebt und imaginär in Erzählungen auffängt, statt es in Evidenz auflösen zu wollen. Dann käme sie weder als reine Form – sei es des »Verstandes« (Kant) oder des »Denkens« (Heidegger) – vor, noch träte sie je im Singular auf. Die Uniform der Logik dürfte sie mit bunten Gewändern der Poesie vertauschen.
2.3 Dschinnistan, oder Das Lachen der Feen In der frühromantischen Idee philosophischer Poetik taucht der Gedanke kreativer Grenzziehungen als imaginäre Unterscheidung zwischen Philosophie und Literatur auf. Kants Projekt einer »Kritik« der Vernunft stehen vielfältige Versuche gegenüber, vermeintlich Vernünftiges im Übermütigen, Träumerischen, Phantastischen oder Magischen zu spiegeln. Die Logik der Vernunft verwandelt sich in eine List der Feen, mit Grenzen zu jonglieren und das Land des Verstandes heimlich zu verzaubern. Kants Geographie wird imaginär. So gelingt es in E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Klein Zaches genannt Zinnober« der Fee Rosabelverde, alias Fräulein von Rosen schön, sich der Ausbürgerung aus dem Fürstentum, in dem sie zufrieden lebt, zu entziehen. Wie die Vertreibung aus dem Paradies mutet der Entschluß des jungen Fürsten Paphnutius an, nach dem Tode seines milde regierenden Vaters Demetrius nun das Regieren
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beginnen zu wollen. Den Dingen ihren geruhsamen Lauf zu lassen, Gaben der Natur dankbar entgegenzunehmen und dem Wunderbaren Raum zu gewähren, ist dem jungen Herrscher nicht genug, glauben die Menschen seines Reiches doch an Feen und Wunder statt an die Vernunft. Im Namen der Aufklärung sollen, wie der vom Kam merdiener zum ersten Minister des Reiches aufgestiegene Andres verfügt, alle Feen des Landes verwiesen werden, sofern sie nicht zu kriegsdienlichen Handwerken wie dem Sockenstricken umgeschult werden können. Nützlich und vernünftig soll das Leben der Menschen werden. Aufklärung heißt, das Land umzukrempeln – »die Wälder umhauen, den Strom schiffbar machen, Kartoffeln anbauen, die Dorf schulen verbessern, Akazien und Pappeln anpflanzen, die Jugend ihr Morgen- und Abendgebet zweistimmig absingen, Chausseen anlegen und die Kuhpocken einimpfen lassen«.16 Feen scheinen da gefährlich, ignorieren sie doch in ihrer Freiheitsliebe die Grenzen des Verstandes, wirken lieber »die angenehmsten Wunder«17 und tragen dazu bei, die Bürger des Landes froh und zufrieden, doch nicht gehorsam und vernünftig zu machen. Für Minister Andres und seinen Fürsten, dem er die neuen Ideale eingeflüstert hat, um dessen Tatendurst zu lenken, erscheinen Feen nun als »Feinde der Aufklärung«. Vernunft ist binär: Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. »Sie treiben ein gefährliches Gewerbe mit dem Wunderbaren und scheuen sich nicht, unter dem Namen Poesie, ein heimliches Gift zu verbreiten, das die Leute ganz unfähig macht zum Dienste in der Aufklärung.«18 Kultivierte Staaten dulden keine »unleidliche polizeiwidrige Gewohnheiten« wie Wunderwirken.19 Wie soll da ein geordnetes Steuerwesen funktio nieren? »So z.B. entblöden sich die Frechen nicht, so wie es ihnen einfällt, in den Lüften spazieren zu fahren mit vorgespannten Tauben, Schwänen, ja sogar geflügelten Pferden. Nun frage ich aber, gnädigster Herr! verlohnt es sich der Mühe, einen gescheuten Akzise-Tarif zu entwerfen und einzuführen, wenn es Leute im Staat gibt, die im Stande sind, jedem leichtsinnigen Bürger unversteuerte Waren in den Schornstein zu werfen, wie sie nur wollen?«20 Ausbürgerung nach »Dschinnistan« wird da die Antwort lauten. Geflügelte Pferde 16 17 18 19 20
Hoffmann, E.T.A.: Klein Zaches genannt Zinnober [1819]. Stuttgart 1985, S. 15f. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 16. Ebenda. Ebenda.
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dienen nicht länger den Reisen der Phantasie; ihnen werden die Flügel gestutzt, und sie werden in die »Stallfütterung« gegeben.21 Zum Glück gelingt es der Fee Rosabelverde, rechtzeitig ihre Zauberutensilien in Sicherheit zu schaffen und inkognito, als Fräulein Rosenschön, im Fräuleinstift unterzuschlüpfen. Über das Vergnügen der Feen zeigt Fürst Paphnutius sich jedenfalls verwundert. Ihn beschleicht der Verdacht, sein Land der Vernunft sei womöglich zwar aufgeklärt, jedoch nicht schön. Das Lachen der Zauberwesen spottet der Polizei und Vernunft. Beunruhigend wirkt der Umstand, daß niemand weiß, wo »Dschinnistan«, das Exil der Feen, eigentlich liegt. Es entzieht sich den Versuchen der Kartierung. »Der Geograf sollte mit dem Historiker des Reichs über das Land umständlich berichten. Beide stimmten darin überein, daß Dschinnistan ein erbärmliches Land sei, ohne Kultur, Aufklärung, Gelehrsamkeit, Akazien und Kuhpocken, eigentlich auch gar nicht existiere. Schlimmeres könne aber einem Menschen oder einem ganzen Lande wohl nicht begegnen, als gar nicht zu existieren. Paphnutius fühlte sich beruhigt.«22 Was aus der geographisch meßbaren Raum-Zeit fällt, kann nicht wirklich sein, auch wenn es den Traum der Vernunft von Fortschritten in Wissenschaft, Kultur und Ökonomie heimsucht. Auf der Karte des Landes der Wahrheit ist es nicht verzeichnet, doch nur, was dort eingeschrieben steht, ist real. Im Lachen der Feen erklingt die imaginäre Grenze zwischen Land und Ozean, Wahrheit und Schein, die auf der Lineatur der Karte nicht erscheint. Bewohner des Landes des Verstandes halten die Karte für das Territorium – und verlieren die Orientierung, zu der doch nur eine Karte verhelfen könnte, auf der die Grenze der Karte, die Perspektive ihrer Konstruktion und die Abstraktionen kenntlich würden, denen sie sich verdankt. Politik im Namen der Vernunft erfolgt im Namen der Karte. Deren Genauigkeit entspricht dem Grad der Abstraktion. Je genauer die Karte, desto konsequenter erklärt die Karte den Schein für exterritorial. Von dieser Grenze zu sprechen heißt für Bewohner des Landes fortan, sich auf dem Ozean des Scheins zu bewegen. Literatur wird zum Dschinnistan der Feen. Hier erschallt das Lachen der Imagination und dringt des Nachts in die Ohren träumender Aufklärer. Eingehüllt in Nebel der Phantasie schleicht sich Odysseus, der mythische Grenzgänger zwi schen Land und Meer, dann und wann an die Gestade der Kantischen 21 22
Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 18.
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Verstandes-Insel, um den Vernünftigen den Spiegel ihres eigenen Traumes vorzuhalten, der auf einer Karte keinen Platz findet.
2.4 Vom Land zu Schiff Wer sich auf den Ozean hinauswagt, begegnet dem Unendlichen. Reisende gleichen dem »tollen Menschen« Nietzsches, dessen Reden niemand Glauben schenkt. Nietzsche greift die Metapher von Land und Meer auf: »Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich vor! Neben dir liegt der Ozean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit.«23 Furchtbar am Unendlichen ist der Verlust von Heimat. Freiheit entpuppt sich als Ideal der Landbewohner. Es ist die Kehrseite von Sicherheit, die doch eine andere Form des Gefängnisses war. »Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stößt! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, – und es giebt kein ›Land‹ mehr!«24 Freiheit zeigt sich dem Reisenden als Traum der Aufklärung. Gestellt ins Offene des Unendlichen, bieten allein die Schritte Halt, mit denen der Reisende seinen Weg ins Orientierungslose bahnt. Wandernd im Unendlichen, zieht er seine Spur im Universum des Möglichen. Nicht nur sicheres Land, sogar Gott hat er aufgegeben, einfach weggewischt wie den »ganzen Horizont«.25 Auf Karten läßt sich da nicht hoffen. »Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen diese nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben oder Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?«26 »Toll« ist der Mensch, der Grenzen überwindet, statt sie zu kartographieren. 23 Nietzsche, F.: Die fröhliche Wissenschaft [1882/1887]. In: Kritische Studienaus gabe Bd. 3. Hrsg. v. G. Colli und M. Montinari. München 1988, S. 342–651. Drittes Buch 3, Nr. 124, S. 480. 24 Ebenda (im Original gesperrt). 25 Ebenda, Nr. 125, S. 481. 26 Ebenda.
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Wahrhaft göttlich ist er darin – und in eben dieser Göttlichkeit wird er zum Mörder eines Gottes, den er als anderen seiner selbst zuvor vergöttert hatte. »Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich Wir alle sind seine Mörder!«27 Wer den Horizont auswischt und das Meer leertrinkt, löscht die Grenze zwischen Land und Meer, die den Ozean des Scheins von der Insel der Wahrheit scheidet. »Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?«28 Jenseits aller Gewißheiten bleibt der Weg der Selbsterschaffung: das unaufhörliche Kreuzen der Grenze zwischen Wirklichem und Imaginärem, ausgerüstet nur mit dem Kompaß der Maxime ewiger Wiederkehr – »nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?«29 Landbewohner können die Kunde von der imaginären Grenze zwischen Land und Meer (noch) nicht verstehen, vermögen sie sich Freiheit doch nur in den geogra phischen Koordinaten einer kartographierten Raum-Zeit-Ordnung vorzustellen. Zarathustra, die literarische Reinkarnation von Sokrates und Jesus Christus, verkündet eine Lehre, die zunächst den Einsamen vorbehalten bleibt, jedoch auf die Dauer nicht in Einsamkeit genossen werden kann. Nach zehn Jahren des Eremitendaseins kehrt Zarathus tra in die Welt zurück. Wirklich wird seine Lehre als Paradoxie in der Welt – sie bedarf, um verstanden zu werden, des Nichtverstehens und des Umordnens aller Ordnungen. Ihr Ort in der Welt ist die imaginäre Grenze zwischen Traum und Vernunft, Literatur und Philosophie. »Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichthums froh geworden sind.«30 Wirklich im anspruchsvollen Sinne ist für Nietzsche, was auf keiner Kantischen Karte Platz findet: die Singularität des Universums in der Selbsterschaffung Einzelner. Gegen Kants Formalismus rehabi litiert Nietzsche das Persönliche und Erfinderische, Phantasie, Kunst und Traum. Darin ist er der Erbe von Schlegels oder Hoffmanns romantischer Poetik. Schöpferische Subjektivität soll das klappernde Gehäuse mechanischer Logik hinwegfegen. Dichtung wird ernstge 27 28 29 30
Ebenda, S. 480f. (im Original gesperrt). Ebenda, S. 481. Ebenda, Viertes Buch, Nr. 341, S. 570. Ebenda, Nr. 342, S. 571.
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nommen, statt Zeichen für Repräsentationen des Wirklichen zu hal ten. Aus dem Zauber der Zeichen – der Magie des Buchstabens, von der Friedrich Schlegel spricht – gilt es eine Mytho-Poetik zu erschaffen, ohne in Mytho-Logie zu versinken. Philosophie muß in Nietzsches Augen die bessere Dichtung werden. »Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese Zeichen-Welt als ›an-sich‹ in die Dinge hineindichten, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch.«31 Bei aller Verwandtschaft der Denkweise hat Nietzsche nicht auf Friedrich Schlegel Bezug genommen.32 Seine Vorstellung der Romantik speist sich aus der Idee des Lebens als dionysischer Kraft. Romantisch ist für Nietzsche, wer sich in Rausch und Ekstase stürzt und Wahnsinn dem »glatte(n) Meer« vorzieht, über dessen uner gründliche Tiefen die Stille trügerischer Wahrheit und Sicherheit hinwegtäuscht. Wieder ist es der unendliche Ozean, dessen phantas tische Gestalten Reisende locken und Freiheit jenseits moralischer Selbstgewißheiten verheißen. »Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel im Dienste des wachsen den, kämpfenden Lebens angesehn werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Ueberfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntnis suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahn sinn. Dem Doppel-Bedürfnis der Letzteren entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen ...«33 Betrachten rationale Kulturen Nietzsche, F.: Jenseits von Gut und Böse [1886]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 5. A.a.O., S. 9–244, hier S. 36 (im Original gesperrt). 32 Vgl. Norman, J.: Nietzsche and Early Romanticism. In: Journal of the History of Ideas 63 (2002), S. 501–519, bes. S. 502; Vietta, S.: Transzendentale Texttheorie und Dezentrierung der Subjektivität bei Schlegel und Nietzsche. In: Vieweg, K. (Hrsg.): Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche. Transzendentalpoesie oder Dichtkunst mit Begriffen. Paderborn, München, Wien, Zürich 2009, S. 13–24; Pierini, T.: Der Über gang von der Substanz zum Prozess bei Schlegel und Nietzsche. In: Vieweg, K. (Hrsg.): Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche. A.a.O., S. 121–131. 33 Nietzsche, F.: Die fröhliche Wissenschaft. A.a.O., Nr. 370, S. 620 (im Original gesperrt). 31
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Kunst als Sedativ, glauben schöpferische Kulturen an das Glück der Intuition. Ungetröstet im Leiden, doch im heiteren Spiel olympischer Sorglosigkeit fegt der Übermensch das »Bretterwerk der Begriffe« hinweg. Ähnlich Friedrich Schlegels Idee einer Universalpoesie, wie sie sich in der »Lucinde« exemplarisch artikuliert, will Nietzsches von seinen rationalistischen Fesseln befreiter Intellekt logisch-begriffliche Gebilde zertrümmern, »ironisch wieder zusammensetzen«, was er durcheinandergewürfelt hat, dabei »das Fremdeste paarend und das Nächste trennend«.34 Heiter und erlöst lebt dieser Mensch, der aus seiner Erfahrung nichts lernt, solange ihn das Leid nicht ereilt, gegen das er keinen Trost besitzt. Intuitive Dichter-Philosophen, von denen Nietzsches Text träumt, leben in einem imaginären Griechenland, das eher der Mytho-Poetik entstammt als einer kartierbaren geographi schen oder historischen Topographie. Das »ältere(.) Griechenland«, von dem Nietzsche spricht, ist ein imaginärer Ort, der ebenso auf immer vergangen sein könnte. wie er in einer glücklicheren Zukunft erst heraufkommen mag oder, wie im Falle von Nietzsches Essay, zunächst als literarische Fiktion Gestalt annimmt. Mit Formen reiner Vernunft haben Karten gemeinsam, einem Mythos der Logik aufzu sitzen, der Besonderes dem Kult des Allgemeinen opfert. Verloren geht dabei die wahre Macht der Zeichen, durch Verzauberung der Welt die Singularität hervorzuheben, in der das Universum existiert – für die Mücke auf ebenso wirkliche Weise wie für den Menschen, das kluge Tier.35 Im Zentrum romantischer Poetik, wie sie Schlegel und Nietzsche formulieren, steht die Singularität des Universums im einzelnen Menschen. Damit tritt die Rehabilitierung der Sophistik durch das romanti sche Denken ans Licht. »Griechenland« meint auch eine verschüttete Alternative zum Denken Platons oder Aristoteles’ – eine andere oder eine gegen den Strich philosophiehistorischer Kartierung gelesene Antike. Maß aller Dinge ist, wie es bereits bei Protagoras heißt, der Mensch, keine allgemeine Wahrheit. Insbesondere bei der Frage, was Menschen in unübersichtlichen Situationen des Lebens tun sollen, helfen schwerlich abstrakte moralische Regeln. »Eine Tugend muss unsre Erfindung sein, unsre persönliche Nothwehr und Nothdurft:
Nietzsche, F.: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn [1873]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 1. A.a.O., S. 873–890. 35 Vgl. ebenda, S. 875. 34
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2 Wirkliches und Imaginäres
in jedem andren Sinne ist sie bloss eine Gefahr.«36 Allgemeingültig keit verspottet Nietzsche als »Königsberger Chinesenthum«.37 Wenn es ein Gesetz gibt, dann nur ein individuelles: »dass Jeder sich seine Tugend, seinen kategorischen Imperativ erfinde. Ein Volk geht zugrunde, wenn es seine Pflicht mit dem Pflichtbegriff überhaupt verwechselt. Nichts ruinirt tiefer, innerlicher als jede ›unpersönliche‹ Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion.«38 Zwischen der Sophistik des Protagoras, Platons Sokrates-Figur, dem Jesus des Neues Testamentes und der Frühromantik schlägt Nietzsches Denken eine Arabeske. Statt einer Geographie reiner Vernunft oder einer unpersönlichen Gesetzes-Moral führt diese Lineatur der Reflexion die weltkonstitutive Bedeutung des Einzelnen in der Singularität einer Welt vor Augen, die sich der paradoxen Grenzziehung von Wirkli chem und Imaginärem bedient, statt sie zu zementieren. Zarathustra ist, wie Sokrates und Jesus Christus, ein Lehrer, der seine Lehre mit dem Tode bezahlen muß. Auf diese Lehrer zu hören verlangt von den Schülern, sich Erzählungen und Gleichnisse anzuhören, um sie selbständig auszulegen. Philosophische Gedanken gleichen Bildern, nicht Karten. Dem, was dort verzeichnet ist, können wir nicht einfach folgen. Wovon jeweils die Rede ist, gilt es herauszufinden. Darin besteht die praktische Relevanz der Reflexion: Der Einzelne ist es, der sich selbst – und damit »seine« Welt – erlösen muß. Gott ist tot, weil die Grenze zwischen Gott und Mensch als imaginär durchschaut ward. »In der ganzen Psychologie des ›Evangeliums‹ fehlt der Begriff Schuld und Strafe; insgleichen der Begriff Lohn. Die ›Sünde‹, jedwedes Distanz-Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist abgeschafft – eben das ist die ›frohe Botschaft‹.«39 Praktische Philosophie ist weder Moraltheorie noch Ethik; sie ist Appell zum Handeln: »Nicht ein ›Glaube‹ unterscheidet den Christen: der Christ handelt, er unterscheidet sich durch ein andres Handeln.«40 Jesus Christus, der Erlöser, »hatte keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nöthig – nicht einmal das Gebet. (...) [E]r weiss, wie es allein die Praktik des Lebens ist, mit der man sich 36 Nietzsche, F.: Der Antichrist [1888]. In: Kritische Studienausgabe Bd. 6. A.a.O., S. 165–253, hier Nr. 11, S. 177 (im Original gesperrt). 37 Ebenda. 38 Ebenda (im Original gesperrt). 39 Ebenda, Nr. 33, S. 205. 40 Ebenda (im Original gesperrt).
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›göttlich‹, ›selig‹, ›evangelisch‹, jeder Zeit ein ›Kind Gottes‹ fühlt. Nicht ›Busse‹, nicht ›Gebet um Vergebung‹ sind Wege zu Gott: die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist ›Gott‹«.41 Nietzsches Einheit von Gott und Mensch verlagert die Verant wortung auf die Existenz des Einzelnen und dessen Weise, sein Leben zu führen – im bewußten Ziehen einer lebendigen Arabeske durch die Kontingenzen einer Welt, balancierend auf der Grenze zwischen Wirklichem und Imaginärem. Diese Grenze im Auge zu behalten, braucht es weniger Karten als Bilder. Welche Bilder das jeweils sind, bleibt stets aufs neue herauszufinden. Chris Kyle und dessen FilmBild können ein solcher Spiegel sein, führen sie doch, in Worten wie in Bildern, vor Augen, daß es darauf ankommt, mit »beiden Augen« zu schauen: den Kontext zu sehen und die Bedeutung des Rahmens für das Gesehene zu erkennen, um zu erfassen, was das Bild zeigt. Hinter dem Bild existiert keine Wirklichkeit, deren Repräsentation das Bild wäre. Es handelt sich darum, Bild und Praxis zu verbinden, weniger darum, sich an die Entzifferung der Bilder zu machen in der Hoffnung, eine geheime, nicht bildhafte Wahrheit aufzuspüren.
3 Logos, Lust und Lücke Verborgen im Gewand der Wissenschaft lauert die Paradoxie der Zeichen: als graphische und gedankliche Unterscheidung, »etwas« zu »sein«, das zugleich trennt, verbindet und ineinander transformiert, was nicht Zeichen sein soll, sondern Bezeichnetes. »Wirkliches« entsteht in der Verkettung von Zeichen als konsistenter Referent. Von nichtwissenschaftlichen Verkettungsweisen unterscheidet Wis senschaft sich durch die Art ihrer Regeln, Zeichenoperationen zu ordnen. Anders als Mythos, Literatur oder Kunst ist das Geheimnis der Wissenschaft die Formalität der Form oder die Regel als Geheim nis des Wirklichen. Ihr Ziel setzt sie darein, hinter dem Einzelnen und Zufälligen Gesetze zu entdecken. Das Gesetz darf deshalb nicht in der Sphäre empirischer Erfahrungen gründen. Kant zieht daraus die Konsequenz, Regeln des Erkennens »a priori«, vor aller Erfahrung, zu verankern. Doch auch diese Regeln liest er an besonderen Verket tungsweisen einer speziellen Zeichenform ab: Urteile dienen ihm 41
Ebenda (im Original gesperrt).
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3 Logos, Lust und Lücke
als Modell, um die vor aller Erfahrung angesiedelten Strukturen des Erkennens ihrer Form nach aufzudecken. Sigmund Freuds Analysen einer libidinös geprägten, niemals »reinen« Rationalität formulieren schwere Bedenken gegenüber dem Kantischen Programm einer Philosophie der Erkenntnis. Ist zwischen Vernunft und Traum – Land und Meer – überhaupt zu unterschei den? Und doch kolonisiert Freuds Psychoanalyse das Territorium des Traums mit wissenschaftlichen Mitteln. Darin bleibt Freud dem Anlie gen Kants treu. So unrein Vernunft ihrer Entstehung nach sein mag, gibt es von dieser Unreinheit Erkenntnis. Nicht länger sollen Träume wie Nebelgestalten das Land der Vernunft umhüllen. Freud betrachtet Träume wie Texte, deren Struktur er zu entziffern sucht. Doch ist der Text des Traumes keine »Karte« im Sinne von Kant, Borges oder Eco. Paradoxerweise ist er die Sache selbst: magisches Zeichen. Träume gehören zugleich dem Körper und dem Bewußtsein an. Zwischen Körper und Bewußtsein verläuft allerdings keine Grenze, die auf einer zweidimensionalen Karte eingetragen oder begrifflich getroffen werden könnte. Vielmehr handelt es sich um eine Verschie denheit des Zusammengehörigen. Besser wäre also die Rede von einer Lücke.42 Die Lücke zwischen der Physiologie des Nervensystems und der Psyche des Bewußtseinslebens, aus der Träume aufsteigen, überbrückt Freud mit einem mechanischen Modell, das die Analogie der Repräsentation zum Ausdruck bringt: »Wir nehmen an, daß das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Aus dehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop u. dgl.«43 Mechanische Metaphern und Modelle, mit denen Freud seine Arbeitsweise erläutert, stehen in einem Spannungsverhältnis zu seiner Vorstellung von einem Bedeutungsgewebe mit unendlichen Übergängen, das Physiologie, Seelenleben und Kultur verbindet. Zwei Metaphern rivalisieren miteinander. Geht es um einen Streit der Bilder, die sich machen muß, wer das Verhältnis von Traum und Verstand verstehen möchte? Durch sinnhafte Verweisungsgewebe strömen Energien, die weder nur physiologisch noch nur intellektuell sind. Körperzustände werden nicht in reinen Gedanken repräsentiert. 42 In dieser Lücke sucht die Psychoanalyse im System der Wissenschaften ihren Ort – zwischen medizinischer Physiologie einerseits und rationalistischer Psychologie andererseits. Vgl. Rath, N.: Biografisches Verstehen bei Freud. Gießen 2016, S. 57ff. 43 Freud, S.: Abriss der Psychoanalyse [1938]. In: Ders.: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt/M. 1972, S. 7–62, hier S. 9.
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Zwischen Es, Ich und Über-Ich waltende Beziehungen stellt Freud sich als libidinöse Ökonomie vor, die auf eine stets prekäre Balance hin tendiert. Physiologisches und Seelisches markieren unterschiedliche Aspekte desselben energetischen Prinzips. Ist die Balance von Es, Ich und Über-Ich gestört und das Ich so sehr geschwächt, daß seine Realitätstüchtigkeit bedroht wird, muß die Rede des Arztes sich in das symbolische Getümmel des Traumes einschleichen, um die Ökonomie der Libido umzulenken. Das Wissen des Analytikers, gewonnen nicht zuletzt aus der Lektüre sprachlich repräsentierter Patiententräume, kompensiert das Unwissen des Pati enten über die Bedeutung der Symbole und Symptome.44 Patienten müssen zum Geständnis bewogen werden. Die Geschwätzigkeit des Unbewußten gibt dem Arzt den Schlüssel zur Heilung an die Hand. »Wir verpflichten ihn (den Patienten, DR) auf die analytische Grund regel, die künftig sein Verhalten gegen uns beherrschen soll. Er soll uns nicht nur mitteilen, was er absichtlich und gern sagt, sondern auch alles andere, was ihm seine Selbstbeobachtung liefert, alles, was ihm in den Sinn kommt, auch wenn es ihm unangenehm zu sagen ist, auch wenn es ihm unwichtig oder sogar unsinnig erscheint.«45 Kants Grenze zwischen Land und Meer hat für Freud keine Bedeutung. Es gibt keine andere Seite der Vernunft. Alles ist, auch wenn es zunächst nicht so scheint, verständlich und entzifferbar: Text. Bewohner der Insel des Verstandes dürfen nicht an Land bleiben, um sich vor gefährlichen Reisen in das Gebiet des Scheins zu bewahren. Sie müssen hinaus in den Nebel, der ein anderer Zustand der Vernunft selbst ist. Doch folgt der Text des Traumes keinem festen Code. Zwischen Psyche und Sprache herrschen dynamische Beziehungen. Mit Erfah rung angereicherte Signifikanten zirkulieren in Spielen der Verschie bung und Transformation. Zwar ist alles Bedeutung, doch bleiben Zei chen ohne Zentrum oder ursprüngliches Signifikat.46 Im Flimmern der Signifikanten scheint Sinn in singulären Konstellationen auf. Verschmolzen mit physiologischen Dispositionen, beladen mit Affek ten und Begierden, imprägniert mit Erfahrungen und eingebettet in soziale Erwartungen, Normen und Wünsche, artikulieren Symbole Knoten in unendlichen Bedeutungsräumen. Jede Symbolverkettung Vgl. ebenda, S. 32. Ebenda, S. 33. 46 Vgl. Derrida, J.: Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1972, S. 302–350. 44
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ist anders und doch allen anderen ähnlich. Lektüren solcher Texte verlangen eine Kunst des Umgangs mit Mehrdeutigkeiten und Meta phern, ohne je den Text als ganzen entschlüsseln zu können. Philo sophie reiner Vernunft wird zur Kulturphilosophie; die Karte der Verstandes-Insel verwandelt sich in das heuristische Modell der Psy choanalyse.47 Statt Karten zu zeichnen, befeuert der Analytiker Assoziations ketten seiner Patienten, durchwandert gemeinsam mit ihnen Gedan kenreihen und folgt scheinbar disparaten Spuren, um allmählich behutsame Substitutionen im symbolischen Gewebe vorzunehmen. Ohne Falsches auf Wahres zurückzuführen, ist es ihm darum zu tun, »die krankhafte Idee durch eine neue zu ersetzen, die sich in verständlicher Weise in den seelischen Zusammenhang einfügt.«48 Verstehen und Umweben der Bedeutungen sind zwei Seiten derselben Praxis. Wie die Traumarbeit des Analysanden Motive in Träume übersetzt, übersetzen Analytiker manifeste und latente Trauminhalte in Sprache. Traum- und Analysearbeit greifen ineinander und schrei ben das Patientenbewußtsein um. Träume bergen überdeterminierte, affektuell besetzte, situativ dramatisierte Symbol-Bilder, in denen sich komplexe Bedeutungstexturen verdichten. Analytikern obliegt es, Knoten aufzuknüpfen, um das Gewebe der Fäden zu rekonstru ieren. Träume entfalten komplexe Symbole: »Jedes Element des Trauminhalts ist durch das Material der Traumgedanken überdeter miniert, führt seine Abstammung nicht auf ein einzelnes Element der Traumgedanken, sondern auf eine ganze Reihe von solchen zurück, die einander in den Traumgedanken keineswegs nahe stehen müssen, sondern den verschiedensten Bezirken des Gedankengewe bes angehören können. Das Traumelement ist im richtigen Sinne die Vertretung im Trauminhalt für all dies disparate Material.«49 Überdeterminierte Symbole konvergieren nicht in Eindeutigkeiten; sie »überkreuzen« und »durchweben« einander.50 Kompliziert wird die Textur der Traumsymbole, weil diese Arbeit des Verwebens auf einer wesentlich bildlichen und dramaturgischen Ebene vor sich geht. 47 Vgl. Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur [1930]. In: Ders.: Abriß der Psycho analyse. Das Unbehagen in der Kultur. A.a.O., S. 63–129. 48 Freud, S.: Über den Traum [1901]. In: Ders.: Über Träume und Traumdeutungen. Frankfurt/M. 1977, S. 11–52, hier S. 13. 49 Ebenda, S. 26 (Hervorhebungen im Original gesperrt). 50 Ebenda.
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Szenenhaft zeigen Träume komplexe Verweisungsmöglichkeiten an, die sich nie ganz der Arbeit der Versprachlichung fügen. Knoten dieses Gewebes zu entfalten, ähnelt der Leistung von Zuschauern, die eine Darbietung verfolgen und ihre Eindrücke zu formulieren versuchen. Jede solche Übersetzung nimmt Umformungen vor, die verdichten und verschieben, was zu entziffern sie sich bemühen. Eine reine Grammatik symbolischer Knotenbildungen oder der Verkettung von Assoziationen existiert nicht. Erschwert wird die Arbeit des Verstehens, weil sich in symbolischen Verdichtungen Emotionen und Gedanken verstecken, die ihre Wirkung entfalten, indem sie sich dem Bewußtsein entziehen.51 Symbole sind keine einfachen Zeichen, die etwas repräsentieren. Es handelt sich um Sprach-Bilder, um Szenen und dramaturgische Arrangements, die zugleich bezeichnen, verde cken und tief mit physiologisch-affektiven Energien besetzt sind. Im Traum ist eine »Umwertung der psychischen Wertigkeiten« am Werke.52 Ähnlich wie Friedrich Nietzsche Philosophie als Umwertung von Werten versteht, sieht der Analytiker Sigmund Freud seine Aufgabe darin, Umwertungen des Traumes erneut umzuwerten, Ver borgenes aufzudecken und dem Bewußtsein zugänglich zu machen – nicht, um darüber zu urteilen, sondern um Texturen des Sinns geschmeidig zu machen. Weil das Gewebe der Symbole eine Vielfalt von Eindrücken, Bildern, Reden und Gedanken verbindet, müssen Verhältnisse unter schiedlicher Zeichenformen geordnet werden. Relationen von »Vor der- und Hintergrund, Bedingungen, Abschweifungen, Erläuterun gen, Beweisgängen und Einsprüche(n)« gilt es zu unterscheiden.53 Bildbetrachtungen ist diese Arbeit nicht unähnlich, geht der Traum doch, wie Freud schreibt, oft wie ein Maler vor, der in seiner Bildkom position zusammenstellt, was in der Wirklichkeit nicht zusammen vorkommen muß.54 Ähnlich einem Gemälde, verweigert das Traum gewebe sich der logischen Alternative des Entweder-Oder ebenso wie der Negation. Ansatzpunkt der Lektüre ist die Annahme einer Schwelle im psychischen Apparat, die durch Mechanismen der Zensur kontrolliert wird. Inhalte des Unbewußten drängen verschlüsselt ins Bewußt 51 52 53 54
Vgl. ebenda, S. 27. Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 31. Vgl. ebenda, S. 32, 36.
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seins, wobei sie Filter passieren. Hier kommt eine »Grenze« ins Spiel, der die Aufmerksamkeit der Analyse gilt. »An der Grenze der beiden Instanzen, am Übergang von der ersten zur zweiten, befinde sich eine Zensur, welche nur durchläßt, was ihr angenehm ist, anderes aber zurückhält. Dann befindet sich das von der Zensur Abgewiesene, nach unserer Definition, im Zustande der Verdrängung. Unter gewis sen Bedingungen, deren eine der Schlafzustand ist, ändere sich das Kräfteverhältnis zwischen beiden Instanzen in solcher Weise, daß das Verdrängte nicht mehr ganz zurückgehalten werden kann.«55 Wo Freud von der »Grenze« spricht, ersetzt er die Metaphorik des Gewebes durch diejenige von Instanzen. Differenz erscheint als Kon trolle: als Zensur. Sie ist Bedingung der Möglichkeit der Analyse. In ihr findet sie ihren Ansatzpunkt und ihre Berechtigung. Sie will die Zensur entkräften und Umwertungen erneut umwerten. Darin ist die Arbeit der Analyse aufklärend. Licht will sie ins Gespinst der Träume bringen, nicht, um deren Gesetze in reiner Gestalt freizulegen oder um moralische Weisungen auszusprechen, aber doch, um die Abhängigkeit des Seelischen von Verdrängtem zu lockern. Dies traut Freud der Sprache der analytischen Situation zu. Deren Zeichenketten machen Bedeutungen transparent, die im Traum verschlüsselt blei ben. Bei seiner Lektüre kommt dem Analytiker die nicht ganz pri vate Natur der Traumsymbole zugute. Oft hängen sie mit kulturell verfügbaren, allgemein verständlichen Symbolen zusammen. Ihre Entzifferung im Traumgewebe wird dadurch erleichtert. »Es gibt Symbole von universeller Verbreitung, die man bei allen Träumern eines Sprach- und Bildungskreises antrifft, und andere von höchst ein geschränktem, individuellem Vorkommen, die sich ein Einzelner aus seinem Vorstellungsmaterial gebildet hat.«56 Wären Kultursymbolik und Traumsymbolik völlig verschieden, fände sich kein Ansatzpunkt für die Hermeneutik des Seelenlebens. Aus Träumen wiederum lassen sich Bezüge zu kulturellen Formen entfalten, die das Arbeitsgebiet der Psychoanalyse zu einer Hermeneutik der Kultur erweitern. Wie die Romantiker entdeckt auch Freud in Märchen, Mythen und Sagen, überhaupt im symbolischen Repertoire einer Tradition, Symbole, die bis ins Innerste des einzelmenschlichen Bewußtseins hineinwirken und die Ökonomie der Wünsche formen. »Die Traumsymbolik führt 55 56
Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 50.
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weit über den Traum hinaus; sie gehört nicht dem Träumer zu eigen an, sondern beherrscht in gleicher Weise die Darstellung in den Mär chen, Mythen und Sagen, in den Witzen und im Folklore. Sie gestattet uns, die innigen Beziehungen des Traumes zu diesen Produktionen zu verfolgen«.57 Freuds »Zensur« bildet ein Analogon zur Kantischen Grenze auf der Karte eines Landes des reinen Verstandes. An die Stelle des Philo sophen tritt der Arzt, der seinerseits die Zensur feststellt. Allerdings behält die Grenze in Freuds Vorstellung einen empirischen Status. Einer Übergangszone gleicht sie eher als einer scharf gezogenen Linie. Ihr Verlauf ist individuell verschieden. Keinesfalls läßt sie sich a priori festlegen. Versuche, die Zensur durch Verweis auf reine Strukturen des Denkens auszuschalten, blieben aussichtslos. Mehr listig als logisch muß der Arzt vorgehen. Patient und Analytiker kreuzen die Grenze immer wieder, wenn sie versuchen, Bedeutungsketten zu explizieren, umzuschreiben oder Ideen auszutauschen. Nur wenn die Grenze selbst empirisch ist, bleibt Psychoanalyse möglich. Ansonsten ließe die Grenze sich lediglich konstatieren. Von praktischem Wert wäre sie höchstens insofern, als sie vor möglichen Überquerungen warnt. Für den Arzt hieße das, vor der Grenze zu kapitulieren. Er braucht keine Karte zu zeichnen, sondern muß einen unabschließba ren Text erzeugen, der expliziert, was in überdeterminierter Weise in Symbolen steckt. Patient und Arzt erarbeiten diesen Text gemeinsam. Indem er beschreibt, verändert der Text, was er beschreibt. Real wird Text als Symbol. Statt zu repräsentieren, vollzieht er Sinn durch Transformationen vorhandenen Sinns. Psychoanalytische Praxis rückt in die Nähe fiktionaler Darstel lungen. Auch Literatur, Theater oder Film weben kulturelle Bedeutun gen so um, daß sie bei ihren Lesern oder Betrachtern an individuelle Sinnbildungen anknüpfen, diese verschieben oder in neuem Licht zeigen. Freud charakterisiert die Funktion des Arztes als Spiegel, der Patienten Konstruktionen vor Augen hält, die diese auf ihre eigenen Erinnerungen verweisen. Paradox wirkt Freuds Redeweise, insofern der Spiegel Deutungsleistungen erbringt, deren Tragfähig keit der Arzt in letzter Konsequenz nicht überprüfen kann. »Der Arzt soll undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine
57
Ebenda, S. 51.
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Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird.«58 Wie aber gelangen Bilder auf die Spiegelfläche? Hier handelt es sich, meint Freud, um »Konstruktionen«, die der Arzt auf Grundlage seiner Vermutungen und Erfahrungen anfertigt. Ohne je wissen zu können, ob seine Gedanken das unbewußte Seelenleben seines Patienten wie eine Repräsentation »spiegeln«, besteht seine einzige Möglichkeit darin, dessen Reaktionen auf seine Konstruktionen zu beobachten. »Der Analytiker hat von dem, worauf es ankommt, nichts erlebt und nichts verdrängt; seine Aufgabe kann es nicht sein, etwas zu erinnern. Was ist also seine Aufgabe? Er hat das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruieren.«59 Sukzessive bietet der Arzt dem Pati enten »Konstruktionen« an, um dessen Reaktionen zu studieren. Ob diese Reaktionen allerdings, wie erhofft, verdrängte Erinnerungen des Patienten tatsächlich aufschließen, bleibt ungewiß. Zwar mag diese Ungewißheit den Wahrheitsanspruch oder den Wissenschaftscharak ter der Konstruktionsarbeit trüben; für den praktischen Erfolg der Therapie bleibt das relativ unerheblich. Sofern der Patient die Kon struktion des Arztes glaubt und seiner eigenen Erinnerungsleistung fortan unterlegt, ist aus ärztlicher Sicht die Praxis erfolgreich. »Oft genug gelingt es nicht, den Patienten zur Erinnerung des Verdrängten zu bringen. Anstatt dessen erreicht man bei ihm durch korrekte Ausführung der Analyse eine sichere Überzeugung von der Wahrheit der Konstruktion, die therapeutisch dasselbe leistet wie eine wieder gewonnene Erinnerung.«60 Maßgeblich für die deutend-explikative Tätigkeit ist die Wirkung der offerierten Sinnform. Ob es sich bei den plausiblen Konstruktionen um Wissenschaft oder Fiktion handelt, ist für Zwecke der Therapie sekundär. Schein – Konstruktion oder Fiktion – und Wahrheit – Heilung – verbünden sich in der Praxis des Deutens zur Wirklichkeit, in der die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Fiktion untergeht. Die Grenze zwischen dem Land des Verstandes und dem Meer des Traumes wird als empirische Zone schwankender Übergänge gewoben. Sie ist Element der Textur 58 Freud, S.: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung [1912]. In: Ders.: Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe. Ergänzungsband. Frankfurt/M. 2000, S. 169–180, hier S. 178. 59 Freud, S.: Konstruktionen in der Analyse [1937]. In: Ders.: Schriften zur Behand lungstechnik. A.a.O., S. 393–406, hier S. 396 (Hervorhebung im Original). 60 Ebenda, S. 403.
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von Sinn, dessen »Wirklichkeit« dem unendlichen Umweben von Unterscheidungen entspringt.
4 Mythologica Verweben sich ontogenetisch-biographische mit gesellschaftlichen Entwicklungen in Texten, konfrontieren sie ihre Leser zugleich mit Verständlichkeit und Rätselhaftigkeit. Emotionale, physiologische und symbolische Gestaltbildungen überlagern einander. Therapie macht sich diese Paradoxie zunutze. In immer neuen und je singulä ren Konstellationen werden Ähnliches und Verschiedenes geordnet. Unterscheidende Beobachtungen der Lektüre lassen das zu entfal tende Gewebe des Sinns nicht unberührt. Zeichen, die zu deuten ein Analytiker sich bemüht, »sind«, was sie bezeichnen. Sie ziehen keine symbolische Ebene zwischen Denken und Sache ein, wie eine »Karte« es zu tun versucht. Therapeutische Gespräche setzen an der magischen Natur der Symbole an, insofern Zeichen die Sache verwandeln, die sie berühren. Psychoanalyse unterscheidet sich von urteilsförmiger Erkenntnis. Eher Deutungskunst als Wissenschaft, bewegt sie sich im unendlichen Gewebe symbolischer Verweisungen, die das Ineinander von Seelenleben und Kultur beweglich halten. Freuds Hermeneutik des Seelenlebens in der Kultur weist Ähn lichkeiten zu einem »wilden« oder »mythischen« Denken auf, das aus der Sicht von Claude Lévi-Strauss eine Alternative zum wissen schaftlichen Stil der Weltbetrachtung bleibt. Das »mythische Denken, dieser Bastler, erarbeitet Strukturen, indem es Ereignisse oder viel mehr Überreste von Ereignissen ordnet, während die Wissenschaft, ›unterwegs‹ allein deshalb, weil sie sich stets begründet, sich in Form von Ereignissen ihre Mittel und Ergebnisse schafft, dank den Strukturen, die sie unermüdlich herstellt und die ihre Hypothesen und ihre Theorien bilden. Aber täuschen wir uns nicht: es handelt sich nicht um zwei Stadien oder um zwei Phasen der Entwicklung des Wissens, denn beide Wege sind gleichermaßen gültig.«61 Mythisches Denken ist Aktivität: »[U]nablässig« ordnet es um, was kategorial kaum zu klassifizieren wäre. Darin ist es produktiv und sinnstiftend.62 61 62
Lévi-Strauss, C.: Das wilde Denken [1968]. Frankfurt/M. 1981, S. 35. Vgl. ebenda, S. 35f.
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4 Mythologica
»Total« ist dieses Denken, weil es alles mit allem verknüpft. Erklärun gen umfassen tendenziell das gesamte Universum. Jedes einzelne Phänomen ist überdeterminiert wie ein Traumelement. »Das heißt, es handelt sich um eine Art des Denkens, die beinhaltet, daß man, solange man nicht alles versteht, nichts erklären kann. Damit steht es in vollkommenem Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken, das Schritt für Schritt vorgeht und dabei versucht, für ganz begrenzte Phänomene Erklärungen zu liefern ...«63 Allerdings, fügt Lévi-Strauss dieser Charakterisierung hinzu, sei es »nur eine Illusion«, wenn das wilde Denken glaube, daß es »tatsächlich versteht«.64 Denn »Verstehen« heißt, »einen Typus der Realität auf einen anderen zu reduzieren; daß die wahre Realität niemals diejenige ist, die sich am offenkundigsten zeigt; und daß die Natur des Wah ren bereits in dem Fleiß durchscheint, den sie daransetzt sich zu entziehen.«65 Psychoanalyse, Marxismus und Geologie gelten für dieses Modell als exemplarische Beispiele, aus denen die struktu rale Ethnologie ihre Lehren zieht. Lévi-Strauss stellt sich mit dieser Grenzziehung auf die Seite der »Wissenschaft«. Kants Unterschei dung zwischen Land und Meer taucht in der strukturalen Anthro pologie erneut auf. Vermessen werden muß das Land des wilden Denkens, der mythischen Totalität, indem es sich als Reich des Ähnlichen entpuppt, das doch den verborgenen Gesetzen logischer Prinzipien und Permutationen unterworfen ist. Transzendentalphilo sophie und Anthropologie kommen, trotz ihrer unterschiedlichen Reflexionsstrategien, in der Überzeugung allgemeiner Gesetze des Denkens und Handelns der Menschen überein. Sei es auf dem Wege einer Analytik von Urteilen als reiner Verstandeskategorien, sei es durch vergleichende Analysen mythischer Vorstellungen, besteht das Ziel des Erkennens in der Grenzziehung zwischen Form und Inhalt, Begriff und Anschauung. Was Kant als reine Formen zu entdecken glaubt, denen alle Erfahrung gehorcht, meint Lévi-Strauss als Resultat empirischer Forschung aufzufinden: »Eines der vielen Ergebnisse der ethnographischen Forschung ist wohl die Erkenntnis, daß der menschliche Geist, ungeachtet der Kulturunterschiede zwischen den
63 Lévi-Strauss, C.: Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Frankfurt/M. 1980, S. 29. 64 Ebenda, S. 30. 65 Lévi-Strauss, C.: Traurige Tropen [1955]. Frankfurt/M. 1975, S. 51.
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verschiedenen Teilen der Menschheit, überall der gleiche ist und die gleichen Fähigkeiten besitzt.«66 Auch der Ethnologe versucht, Unbewußtes bewußt zu machen. Sein Ansatzpunkt ist nicht, wie in der Psychoanalyse, das Einzel bewußtsein, sondern eine Kultur im ganzen. Durch methodische Arbeit und Vergleiche versucht der Forscher Blickverzerrungen zu kompensieren, die ihm seine Zugehörigkeit zur jeweils eigenen Kultur aufzwingen. Von selbst zeigt sich anderes nicht in seiner Andersheit.67 Andersheit jedoch ist das, was Kulturen – im Plural – ausmacht und Ethnologen antreibt: Kulturen sind jeweils verschie dene Weisen, Probleme der Menschen zu lösen. Strukturale Ana lysen münden keineswegs in das utopische Modell einer einheitli chen Menschheitskultur. Vielmehr legen sie nahe, ein »Maximum an Verschiedenheit« im Auge zu behalten, das allerdings, infolge der Expansion westlicher Gesellschaften, zum Leidwesen von LéviStrauss immer mehr zusammenschmilzt.68 Zu den Motoren dieser Expansion gehört auch die Ethnologie selbst. Tragischerweise zerstört sie den Spiegel, den sie benötigt, um sich selbst in Differenz zu anderen Kulturen zu erkennen. Erst durch das Bild des Fremden – der möglichst weit von den eigenen kulturellen Vertrautheiten entfernten menschlichen Lebensformen – entsteht die Möglichkeit, einen »Typus« herauszuarbeiten, »dem zwar keine Gesellschaft genau entspricht, der jedoch die Richtung verdeutlicht, in welche die For schung sich zu bewegen hat.«69 Ethnologen helfen, in ihren Analysen des Fremden der eigenen Kultur einen Spiegel vorzuhalten, in dem diese ihre Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten mit anderen Lebensformen erkennen kann – ähnlich dem fiktiven Naturzustand Rousseaus. Wie Rousseau seine Annahme eines Naturzustandes als notwendige Fiktion kennzeichnet, die er zugrundelegt, um eine Genealogie der modernen Gesellschaft erzählend zu entfalten, ist der strukturalistische »Spiegel«, von dem Lévi-Strauss spricht, ebenfalls eine Fiktion: ein Modell oder Artefakt, das nicht mit der Sache verwechselt werden darf, die sich auf der Spiegelfläche zeigt. »Die sozialen Beziehungen sind das Rohmaterial, das zum Bau der Modelle Vgl. Lévi-Strauss, C.: Mythos und Bedeutung. A.a.O., S. 31. Vgl. Lévi-Strauss, C.: Rasse und Geschichte [1952]. In: Ders.: Strukturale Anthro pologie II. Frankfurt/M. 1975, S. 363–407. 68 Vgl. ebenda, S. 402. 69 Lévi-Strauss, C.: Traurige Tropen. A.a.O., S. 386. 66 67
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verwendet wird, die dann die soziale Struktur erkennen lassen.«70 Strukturmodelle sozialer Beziehungen haben vier Bedingungen zu genügen: Sie müssen ihre Elemente so anordnen, daß Veränderungen eines Elementes Veränderungen aller anderen Elemente auslösen, eine Gruppe von Transformationsmöglichkeiten beschreiben, Vorher sagen für Veränderungen erlauben und so umfassend sein, daß alle Tatsachen berücksichtigt werden.71 Was sich mit Strukturmodellen darstellen läßt, ist wirklich im wissenschaftlichen Sinne, weil es gestattet, alle Phänomene auf das Modell zurückzuführen.72 Mit Hilfe dieser Modelle lassen sich universelle Austauschprozesse ver gleichend betrachten: Frauen, Güter und Informationen zirkulieren in Verwandtschafts-, Wirtschafts- und Sprachsystemen.73 Anders als Descartes’ Regel, Probleme zunächst in ihre Elemente zu zerlegen, sind Element und Struktur beim Studium fremder Kulturen nicht unabhängig voneinander. Struktural arbeitende Ethnologen stehen vor einer unendlichen Aufgabe, wie Lévi-Strauss es in seinem Projekt der »Mythologica« vorführt. »Für die Mythen-Analyse« – ähnlich wie für Freuds Traumanalyse – »gibt es keinen wirklichen Abschluß, keine geheime Einheit, die sich am Ende der Zergliederungsarbeit fassen ließe. Die Themen verdoppeln sich ins Unendliche. Glaubt man, sie entwirrt und isoliert zu haben, so muß man feststellen, daß sie wieder zusammenwachsen, reagierend auf die Reizungen unvorhergesehener Affinitäten.«74 Wissenschaftliche Annäherungen an mythische Denkformen weisen deshalb ebenfalls mythische Züge auf: »So ist dieses Buch über die Mythen in seiner Weise auch ein Mythos.«75 Obwohl wissenschaftlich konstruiert, ist die Struktur keine Repräsentation der Wirklichkeit, da sie eine Realität kraft ihrer fiktionalen – oder mythomorphen – Natur spiegelt. Zwischen »wil dem« und »wissenschaftlichem« Denken spannt sich ein Kontinuum. Was wissenschaftliche Modellbildungen für Lévi-Strauss wertvoll 70 Lévi-Strauss, C.: Der Strukturbegriff in der Ethnologie [1952]. In: Ders.: Struktu rale Anthropologie I. Frankfurt/M. 19812, S. 299–346, hier S. 301 (Hervorhebungen im Original). 71 Vgl. ebenda, S. 302. 72 Vgl. ebenda, S. 307. 73 Vgl. ebenda, S. 322. 74 Lévi-Strauss, C.: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte [1964]. Frankfurt/M. 1976, S. 16f. 75 Ebenda, S. 17.
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macht, ist wiederum der Psychoanalyse Freuds oder der Marxschen Geschichtstheorie analog: Ihre Berechtigung ist keine bloß theoreti sche, es ist eine praktische. Im »Spiegel« der »Strukturen« gewinnt eine Gesellschaft kognitive Distanz zu ihrer eigenen unbewußten Funktionsweise, um so einen Möglichkeitsraum für Strukturverände rungen zu schaffen. Am Fremden interessiert in letzter Instanz das Eigene. Strukturen öffnen den Raum der Zukunft für Geschichte. Nicht eine revolutionäre Beendigung aller Klassenantagonismen ver spricht der Ethnologe, wohl aber Veränderungen, die ohne Risiko der Zerstörung Verbesserungen des Lebens in Aussicht stellen. Erkennt nisse der »Prinzipien des sozialen Lebens« erlauben es, »unsere eigenen Sitten und nicht die fremder Gesellschaften zu reformieren: denn dank einem umgekehrten Privileg können wir einzig die Gesell schaft, der wir angehören, verändern, ohne Gefahr zu laufen, sie zu zerstören; denn die Veränderungen, die wir einführen, kommen auch aus ihr selbst.«76 Worum es geht, ist die Möglichkeit, universelle Probleme der Menschheit besser zu lösen. Antrieb der Erkenntnis ist der Glaube an die Möglichkeit des Neuen. »Wenn die Menschen seit jeher nur eine einzige Aufgabe in Angriff genommen haben, nämlich eine Gesellschaft zu schaffen, in der es sich leben läßt, dann sind die Kräfte, die unsere fernen Vorfahren angespornt haben, auch in uns gegenwärtig. Nichts ist verspielt; wir können alles von vorn anfangen.«77 Fatalerweise trägt die Erkenntnis der Anfänge – das Studium des mythischen Denkens der indianischen Völker – zur Zerstörung dieser Gesellschaften bei. Alles kommt deshalb darauf an, die Kostbarkeit dieses Wissens nicht leichtfertig zu verspielen und die Tragik der Zerstörung ins Auge zu fassen. Die Idee des Neuanfangs konvergiert mit dem Gedanken univer seller Strukturen. Zwar garantieren diese keinen Fortschritt, wohl aber sollen sie eine weniger leidensintensive Gesellschaft ermögli chen. Überzeugungen des Anthropologen kommen mit dem Anlie gen des Psychoanalytikers zur Deckung. Anders als Freud möchte Lévi-Strauss jedoch nicht in die Mythopoetik der Kultur auf eine Weise intervenieren, daß er Ethnologie wie eine Traumdeutung prak tiziert. Statt Ideen zu substituieren, geht es darum, im Bild des Immergleichen einer Illusion der »Geschichte« entgegenzuwirken. In dieser Abstinenz kommt der wissenschaftliche Aufklärungsanspruch 76 77
Lévi-Strauss, C.: Traurige Tropen. A.a.O., S. 388. Ebenda, S. 389.
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der Ethnologie zum Ausdruck. Ihr Bild ist formal, nicht visionär, nüchtern, nicht affektiv. Aus diesem Grund erscheint »Geschichte« als tendenziell gefährliche kulturelle Selbstvergewisserung. In den Erzählungen der Historiker lauern Gefahren falscher Konkretheit und Illusionen linearer Kausalitäten. Geschichte hat die Mythologie einerseits abgelöst, weil sie den Mythos zugunsten der Verände rung diskreditiert; andererseits ist sie selbst zum Mythos moderner Gesellschaften geworden. Indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erklärend verbindet, entfernt sie die Zukunft von der Gegen wart und schafft Raum für vermeintliche Handlungsfreiheit. »Was die Mythen für die schriftlosen Gesellschaften tun – eine Gesellschafts ordnung und eine Weltanschauung zu legitimieren, die vorhandenen Dinge durch ihre Vergangenheit zu erklären, die Rechtfertigung für ihren gegenwärtigen Zustand zu finden und die Zukunft anhand dieser Gegenwart und dieser Vergangenheit zu begreifen –, ebendies ist auch die Rolle, die unsere Zivilisationen der Geschichte zuschrei ben.«78 Unerkannt steckt in diesem Vorhaben eine Wiederholung des Mythos. Nur wer die Transzendentalität der Struktur anerkennt, gewinnt Spielräume für Veränderungen im Rahmen des Gleichen. Dies wäre die einzige Gewähr dafür, nicht im Namen des Fortschritts zu zerstören, was doch bewahrt und sogar verbessert werden soll. Dazu gehört, die Vielfalt der Geschichten und Perspektiven nicht im Namen des großen Singulars der einen Geschichte des einen Fortschritts zu übersehen, die seit knapp 250 Jahren beansprucht, die einzig wirkliche und alle Mühen lohnende Geschichte zu sein. Im Spiegel ethnologischer Konstruktionen erkennt sich kein einzelnes Subjekt. Heraus schaut das Bild einer Kultur im ganzen. An die Stelle des Kantischen Ich tritt Gesellschaft. Doch Subjekt und Gesellschaft sind einander als transzendentale Strukturensembles homolog. Verweist Kants Form des Transzendentalen auf die Idee der Freiheit, zeigt Lévi-Strauss’ Struktur die Form als Möglichkeit der Variation des Gleichen. Weder Kant noch Lévi-Strauss verbinden die Idee des Anderen mit konkreten Bildern. Worin Freiheit oder Anders heit sich realisieren, bleibt offen. Weder Utopie noch Geschichtslogik sind praktische Optionen. Lévi-Strauss ersetzt den kategorischen Imperativ durch den Mythos des ewigen Anfangs im Gleichen. Für Menschen einer Gesellschaft, die den Untergang des Anderen in der globalen westlichen Kultur erleben, bietet dieser Mythos einen höchs 78
Lévi-Strauss, C.: Anthropologie in der modernen Welt. Berlin 2012, S. 100.
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tens melancholischen Trost. Worin kann Andersheit bestehen, wenn sie im Spiegel der Konstruktion untergehender Gesellschaften wie ein mahnendes, doch verblassendes Alter ego der Gegenwartsgesellschaft erscheint? Ist Freiheit etwas anderes als ein Traum-Bild, das der Blick in den Spiegel auslöst, ohne es bereits zu zeigen?
5 Zauber der Mytho-Poetik Lévi-Strauss’ Ethnografie erweitert Freuds Projekt der Traumanalyse zu einer umfassenden Mythologie der Kultur. Je tiefer sie sich in ihr Material versenkt, desto mehr nimmt die Ethnologie mythomorphe Züge an. Der transzendentale Status der »Strukturen« ist formal, universell und konstruiert zugleich. Im Bild des Immergleichen erscheinen Variationen als abstrakte Spielräume. Einzelnen wird nicht geholfen. Arzt kann der Ethnologe nicht sein. Wie der Psychoanaly tiker balanciert er auf der Grenze zwischen mythischem und wissen schaftlichem Denken. Beide weisen die Möglichkeit zurück, diesen Grenz-Ort als Raum des Fiktiven zu markieren. Dann nämlich kämen Literatur, Theater, Musik, bildende Kunst oder Film als kulturelle Formen ins Spiel, die ihrerseits der Kultur Spiegel vorhalten, in denen sich Einzelne exemplarisch erkennen. Gefangen in der Alternative von Mythos und Wissenschaft, bleibt die Erweiterung ihrer Relation zu einem gleichberechtigten Spiel dreier Positionen ausgeschlossen. Naheliegend wäre eine solche poetologische Erweiterung. Weder Ethnologie noch Psychoanalyse beanspruchen, in ihrer Bilder-Arbeit indexikalisch getreue Repräsentationen von Mythos oder Traum anzufertigen. Zeigen können Spiegel-Bilder etwas nur dann, wenn sie keine genaue Entsprechung zu dem sind, was sich zeigt. Ihre Bilder sind immer auch Selbstbilder desjenigen, der Bilder konstruiert. Bildermacher und -betrachter erkennen sich selbst als andere, indem sie ihr Bild als Bild zu durchschauen lernen. Wird die Grenze zwischen Land und Meer, Wissenschaft und Mythos, Verstand und Traum auf rechterhalten, gründet die Parteinahme für die Seite der Wissenschaft auf einem Glauben, dessen Grundlage mythomorph ist. Die Karte, auf der die Grenze eingetragen wird, entpuppt sich als Fiktion. Auf ihr erscheint die Grenze als Paradoxie des Unterscheidens, die scheinbar zu einer Entscheidung zwingt. Nicht erst die Grenze, die Karte ist es, die in die Falle des Entscheidens lockt. Jorge Luis Borges macht
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auf diesen Umstand durch die Form seiner fiktional eine fiktionale Quelle zitierenden Erzählung aufmerksam. Das Projekt der »Karte« wird erzählt und erzählend zu einer Idee transformiert, die dem Raum des Wissens zugeordnet bleibt, jedoch in Gestalt der Literatur befragt werden kann. Insofern bleibt, wie Paul Feyerabend feststellt, »der Streit zwischen Wissenschaft und Mythos unentschieden«.79 Mythen tauchen in verschiedener Gestalt auf. Eine davon ist die Literatur, eine andere das Kino, eine weitere die Wissenschaft selbst. Etwas zu verstehen bedeutet, es symbolisch zu erzeugen, um Erfahrungen anzuregen, die, mit der Zumutung allgemeiner Ver ständlichkeit, Weltzugänge explizieren. Lévi-Strauss’ Erforschung des Mythos oder Freuds psychoanalytische Traumdeutung kommen darin mit Hölderlins Mytho-Poetik – oder mit Heideggers, Adornos oder Cassirers Hölderlin-Deutungen – überein, daß sie allesamt einem Denken Ausdruck zu geben versuchen, das in seinen eigenen Darstellungen sich selbst und sein Gedachtes in präzise, jedoch nicht indexikalische oder analog repräsentierende Begriffskonstellationen bringt. In diesem Sinne spricht Cassirer davon, den Mythos nicht bloß als vergangene Gestalt der kulturellen Entwicklungsgeschichte – mithin als überwundene Sinnform – betrachten zu wollen, sondern ihn »funktionell zu bestimmen.«80 Auch die moderne Welt »unserer unmittelbaren Erfahrung« enthält »eine Fülle von Zügen, die sich, vom Standpunkt eben dieser Reflexion, nur als mythisch bezeichnen lassen.«81 Gerade weil er kein bloßer »Spiegel« von Denken oder Bewußtseinszuständen ist, bleibt der Mythos als Sinnform aktuell. Mythische Formen sind Darstellungen, für die Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt unangemessen sind. Unterscheidungen zwischen subjektiver und objektiver Welt gelingen erst auf dem Boden mythischer Symbolisierungen als späte Ausdifferenzierun gen.82 Mythen sind »Schwellen« des geistigen Prozesses, die dazu aufrufen, vorschnelle kategoriale Unterscheidungen auf ihre Voraus setzungen hin zu befragen. Magische Kraft wohnt den Zeichen selbst inne. Hier gelten sie als Wesen sui generis. Sache und Bedeutung sind 79 Feyerabend, P.: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkennt nistheorie [1975]. Frankfurt/M. 1976, S. 239. 80 Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil. Das mythische Denken [1924]. Darmstadt 19878, S. 18. 81 Ebenda, S. 19. 82 Vgl. ebenda S. 31.
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eins im Zeichen. »Die mythische Welt ist nicht insofern ›konkret‹, als sie es nur mit sinnlich-gegenständlichen Inhalten zu tun hat und alle bloß ›abstrakten‹ Momente, alles was lediglich Bedeutung und Zeichen ist von sich ausschließt und abstößt – sondern sie ist es dadurch, daß in ihr die beiden Momente, das Dingmoment und das Bedeutungsmoment, unterschiedslos ineinander aufgehen, daß sie hier in eine unmittelbare Einheit zusammenwachsen, ›konkresziert‹ sind.«83 Cassirer fragt nach der Schwelle, auf der sich aus sinnlichen Eindrücken ein Weltbild formt.84 Auf dieser »Schwelle« existiert noch keine »Grenzziehung« zwischen Wahrheit und Schein, Sache und Bild.85 Obwohl die Nähe von Cassirers Beschreibung zu Freuds Cha rakterisierung der Traumdeutung ins Auge fällt, begegnet Cassirer der psychoanalytischen Methode mit Skepsis. Sein Bezugspunkt ist jedoch nicht die Traumdeutung, sondern Freuds Versuch, eine methodische Parallelisierung von Neurotikern und Naturvölkern vor zunehmen. In »Totem und Tabu« wendet Freud psychoanalytische Einsichten auf Fragen der Völkerpsychologie an. Im Tabu glaubt er eine kulturelle Form entdeckt zu haben, die, ähnlich wie Neurosen, Funktionen dessen ausübt, was Kant mit dem kategorischen Imperativ fassen wollte: ein Gesetz des Handelns, das ohne »bewußte Motivie rung« arbeitet.86 Methodisch stützt Freuds Vorgehen sich auf Sym ptomanalysen der Zwangshandlungen und Abwehrmechanismen sowie deren Zurückführung auf ambivalente Regeln oder Gebote. Gerade die Paradoxie, daß solche Regeln »gleichzeitig dem Wunsche wie dem Gegenwunsche entsprechen«, verleiht ihnen Macht.87 Unge achtet ihrer Klarheit und Einfachheit verfehlt Freuds Methode aus Cassirers Sicht aber die Sprache des Mythos. Macht gewinnt der Mythos durch seine Universalität: Alles vermag er sich anzuverwandeln. Freud unterschätzt, meint Cassirer, die Funktion des Rituals. Cassirers Besorgnis entspringt seiner Beob achtung der Genese des modernen Staates vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Mythisches Denken Ebenda, S. 32. Vgl. ebenda, S. 39. 85 Ebenda, S. 47f. 86 Freud, S.: Totem und Tabu [1912–1913]. In: Studienausgabe Bd. IX. Frankfurt/M. 2000, S. 286–444, hier S. 292. 87 Ebenda, S. 327. 83
84
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erscheint Cassirer 1949 keineswegs als Phänomen, das auf Naturvöl ker beschränkt ist. Vielmehr glaubt er darin eine »neue Macht« zu erkennen, die in modernen, staatlich verfaßten Gesellschaften ratio nales Denken zu überwuchern droht. Nur in ruhigen Zeiten bleiben demnach Rationalität und Mythos in Balance. Staaten können diese Balance nicht garantieren. In kritischen Situationen droht sie sich zugunsten mythischer Vorstellungen zu verschieben. Wie ein Feind lauert der Mythos im Dunkeln, um bei sich bietender Gelegenheit auszubrechen und irrationale Handlungen anzustiften. Das Bild einer stets präsenten menschlichen Kulturform eigener Qualität verändert sich unter dem Eindruck des Aufstiegs des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges bei Cassirer zu einer Dämonologie. »In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher. In diesen Momenten ist die Zeit für den Mythos wieder gekommen. Denn der Mythos ist nicht wirklich besiegt und unterdrückt worden. Er ist immer da, versteckt im Dunkel und auf seine Stunde und Gele genheit wartend. Diese Stunde kommt, sobald die anderen bindenden Kräfte im sozialen Leben des Menschen aus dem einen oder anderen Grunde ihre Kraft verlieren und nicht länger imstande sind, die dämonischen mythischen Kräfte zu bekämpfen.«88 Wo intellektuelle Deutungen keine beruhigenden Erklärungen für Unsicherheiten der Menschen bieten, verleiht der Mythos Gefühlen Ausdruck. Seine genuine Leistung ist es, Menschen aus der Passivität des Empfindens, Fürchtens und Hoffens herauszureißen und Affekten handlungsbe reite Ausdrucksformen – Rituale – zu verschaffen. Er ist »Gefühl in Bild verwandelt«.89 Aus Affekten entsteht Handlungsbereitschaft, die sich an Modellen – wie einem Führer – orientiert. »Was bisher dunkel und undeutlich gefühlt wurde, nimmt nun eine bestimmte Gestalt an; was ein passiver Zustand war, wird ein aktiver Prozeß.«90 Moderne Gesellschaften unterscheiden sich von archaischen Gesellschaften durch die Möglichkeit, Mythen rational zu erzeugen. Schlimmstenfalls führt die »neue Technik des Mythus« dazu, daß Mythen »wie jede andere moderne Waffe – wie Maschinengewehre Cassirer, E.: Der Mythus des Staates [1949]. Frankfurt/M. 1985, S. 364; zu Freud vgl. S. 41ff. 89 Ebenda, S. 60. 90 Ebenda. 88
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oder Aeroplane« hergestellt werden.91 Dann schlägt der Mythos in eine technifizierte Dämonie um, die sich unbewußte Wünsche der Menschen dienstbar macht. Wissenschaftliches Denken verleibt sich den Mythos ein und wird so dessen Opfer. Cassirers Bild gleicht einer mythischen Figur ewiger, tragisch verstrickter Mächte.
6 Mythos als Reflexionsform II »American Sniper« erzählt die Geschichte eines amerikanischen Hel den, der sich selbst nicht für einen Mythos hält, von anderen jedoch so betrachtet wird. Vor den Augen des Zuschauers entsteht im Gewebe der Bilder die Kontur eines Habitus. Chris Kyle zu beobachten heißt, eine Kultur zu verstehen, die ihn als Mythos behandelt, in dem sie sich selbst erkennt. Der Film zeigt ein Verweisungsspiel, das die Verschränkung von Kyles persönlicher und kultureller Identität vorführt. Um einen Habitus zu sehen, kann es helfen, eine Kultur zu verstehen, und um eine Kultur zu verstehen, mag es notwendig sein, Bilder zu entwerfen, die Einzelne als exemplarische Menschen – in ihrem Habitus – zeigen. Im Verhältnis zu Bildern, in denen Kulturen eine Gestalt annehmen, die dem Einzelnen oft mit mythi scher Macht begegnet, können Einzelne Bilder davon entwerfen, wie sie ihr eigenes Leben führen möchten. Fiktionen wie »American Sniper« sind Beispiele für eine Mytho-Poetik der Kultur, die im Raum des virtuellen Exemplarischen aufhellen, was nie zur logischen Transparenz zu bringen wäre. Handeln, das sie phänomenal zeigen, mag deshalb zustande kommen, weil es nicht im rationalen Sinne zu begründen ist. Wie ein Spiegel verhelfen solche Bilder einem »Dasein« zu Umsichten, die sein Sein-zur-Möglichkeit – seine Weise, frei zu sein – unterstützen. Kultur, weniger »die Sprache«, ist das »Haus des Seins«, in dem Menschen sich im Blick auf die Welt, auf die Anderen und auf sich selbst orientieren, wollen sie sich als »geworfener Entwurf« verstehen. Mytho-Logie, verwechselt sie sich nicht mit Logik, tritt an die Stelle eines »Denkens des Seins«. Hölderlins oder Friedrich Schlegels Mytho-Poetik käme sie näher als einer begriffsasketischen Kontemplation der Seyns-Geschichte. Zwischen der Daseinsanalyse von »Sein und Zeit« und einer so 91
Ebenda, S. 367f.
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verstandenen Poetik der Reflexion bestünde nicht nur kein Gegensatz, sie würden einander wechselseitig erfordern: Dasein versteht sich aus einer Kultur heraus im Überstieg über situative Verdichtungen sinnhafter Phänomene, deren Explikation einer Poetik der Reflexion gleichkommt, die aus der Resonanz der Zeichen Gewinn zieht. »Auf sein eigenstes Seinkönnen sich entwerfen«, der »Vorlauf« des Daseins in die Möglichkeiten seiner Existenz erweist sich als mehr und anderes denn als Vorlauf zum Tode: Möglichkeiten verstehen sich nicht nur aus ihrer Zeitlichkeit heraus; sie formen eine komplexe Ganzheit überschüssigen Sinns, der nur ergriffen werden kann, wenn er entfal tet – das heißt: gestaltet – worden ist.92 »American Sniper« führt das vor Augen, geht es dieser Mytho-Poetik doch wesentlich um die Frage, wie ein Leben zu führen ist im Schatten – oder im Lichte – des Todes. Was an der Filmfigur Chris Kyle zu sehen ist, erhellt zugleich die Figur des Daseins in Heideggers »Sein und Zeit« auf eine Weise, die der Konkretheit phänomenal gebundener, poetisch gestalteter Reflexionen den Vorzug gegenüber abstrakten Begriffen einräumt. Vier Schüsse rhythmisieren den Film. Kindheit, Erziehung, Ideale und Träume setzen sie mit zufälligen Ereignissen, militärischen Rollenanforderungen, situativen Gegebenheiten und rückblickenden Deutungen ins Verhältnis. Den ersten Schuß gibt der junge Chris Kyle ab, als er zum erstenmal mit seinem Vater auf die Jagd geht. Der zweite Schuß ist die Initiierung des »Snipers« bei seinem ersten Einsatz. Hier tötet er kein Tier, sondern einen Jungen, der ungefähr in dem Alter ist, in dem er selbst zuerst eine Waffe benutzt hatte. Beide Situationen spiegeln den Verlauf einer Kindheit. Mit dem dritten, dem magischen Schuß auf »Mustafa« beschließt Kyle seine militärische Laufbahn, um nach Hause zurückzukehren und selbst die Rolle eines Vaters auszufüllen. Den letzten Schuß sehen wir nicht. Durch ihn wird der Veteran Kyle, der sich um kriegsversehrte Veteranen kümmert, von einem ehemaligen Soldaten mit psychischen Schwierigkeiten getötet. Kyle hatte vergessen, seine Waffe mitzunehmen. Im Mythos Kyle taucht im Film ein mythisches Motiv der Schuld wieder auf: Eine objektive Schuld, die der Schütze auf sich lädt, auch wenn er aus besten Absichten heraus tötet, wird mit dem letzten Schuß gesühnt, dem er unschuldig zum Opfer fällt. Elternhaus, Kirche, Sport und Nation markieren Institutionen, die Chris Kyles Weltsicht prägen. Im ersten Teil des Films skizziert 92
Vgl. Heidegger, M.: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 197915, S. 262f.
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Eastwood sie mit wenigen Strichen und Szenen, deren Knappheit zeigt, wie wenig Worte es braucht, um ihre Bedeutung zu verstehen. Sie führen einen Mann dazu, seinem Land zu dienen, wenn es auf die Hilfe seiner Bürger angewiesen ist. Werte, die Kyles Vater ihm ver mittelt, spiegeln sich in dem Ideal eines amerikanischen Mannes, der sich wünscht, »Cowboy« zu sein. Cowboys zählen zum mythischen Repertoire der amerikanischen Kultur. In der Wirklichkeit finden sie sich noch in folkloristisch-sportlichen Ritualen wie dem Rodeoreiten. Auch der Cowboy ist ein von der Zeit verschlissener Mythos. So wie der Cowboy früher Rinderherden beschützte, soll der Scharfschütze Soldaten behüten. Doch Duellsituationen kennt der unübersichtliche Krieg nicht, von denen der Mythos des »Westerns« erzählt, in dem Männer einander Auge in Auge gegenüberstehen und der Bessere gewinnt. Krieg ist schmutzig und heimtückisch, Freund und Feind sind oft schwer zu unterscheiden. Undurchdringlich wie der Krieg sind manche Bilder, die Eastwood findet, um die Orientierungslo sigkeit des Einzelnen in einem Geschehen vorzuführen, gegen das weder Sehkraft noch Verständlichkeit ankommen. Ein Sandsturm, in dem die Soldaten ihren Rückzug durchführen, wird zur Metapher des Krieges und zum Zeichen für die Reflexionskraft der Bilder. Schließlich ereilt Chris Kyle sein Schicksal durch einen Mann, der vielleicht einmal Kyles eigenen Idealen zu folgen versuchte, bevor ihn die Schrecken des Krieges erkranken ließen. Einen Mann und dessen Handeln zu verstehen verlangt, die Gesellschaft und Kultur zu analysieren, in denen er wurde, was er ist. Einfache Erklärungen taugen dafür nicht. Geschichten müssen erzählt werden, die vielleicht deshalb wahr sind, weil sie exemplarische Bedeutung haben. Solche Geschichten schaffen Distanz zum realen Leben. Sie verlangsamen den Blick und eröffnen Möglichkeiten, Einzelheiten zu betrachten und miteinander in Beziehung zu setzen – wie in einer Slow-Motion-Ein stellung. Geschichten, im Plural, unterscheiden sich von Heideggers Seyns-Geschichte durch die Aufmerksamkeit für Details und das Schicksal von Personen. Durch eine Rückblende zeigt der Film Verbindungen zwischen dem ersten und dem zweiten Schuß, den Chris Kyle abfeuert. Ohne Kausalität zu behaupten, legt diese Rückblende Ähnlichkeiten und Wiederholungen nahe. Zuschauer können deren Tragweite und Bedeutung erwägen. Gleich zu Anfang versetzt »American Sniper« das Publikum unmittelbar in das Kampfgeschehen. Chris Kyle, pos tiert auf einem Hausdach, beobachtet eine muslimische Frau mit
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ihrem Sohn, die ein Haus verläßt und sich einer Gruppe patrouillie render Marines nähert. Unter ihrem Gewand trägt sie eine Granate, die sie dem Jungen übergibt. Kyle muß entscheiden, ob er das Kind erschießt, um seine Kameraden zu beschützen. Wir hören seinen Atem, den er ruhig zu halten versucht. Das gleiche Atemgeräusch begleitet später die Kugel auf ihrem Flug in Mustafas Körper. Als Kyles Finger sich dem Abzug nähert, schneidet der Film abrupt um. Drei Szenen markieren lakonisch Koordinaten von Chris Kyles Erziehung und beleuchten seine kulturellen Wurzeln. Mehr brauchen Zuschauer nicht zu sehen, um zu verstehen, woher der Mensch Chris Kyle kommt und warum er als Erwachsener so denkt und handelt. Im Grunde ist sein Ethos einfach; als Weise des Sehens und Handelns braucht es weder moralische Urteile noch Theorie. Vom Kriegsgeschehen im Irak springt das Bild in die Idylle einer amerikanischen Kindheit. Chris Kyle, im Alter des irakischen Jungen, den er gerade im Visier hatte, geht mit seinem Vater auf die Jagd. Mit seinem ersten Schuß erlegt er eine Hirschkuh. Streng ermahnt sein Vater ihn zum sorgfältigen Umgang mit der Waffe. Der dann folgende Umschnitt zeigt eine Szene aus der sonntäglichen Messe. In seiner Predigt spricht der Pastor von dem menschlichen Unvermögen, die Welt mit Gottes Augen zu sehen – mithin alles zu sehen und die Bedeutung von allem zu erfassen. Die Welt ist unübersichtlich, genaue Beobachtung ist erforderlich, die trotzdem nicht die ganze Wahrheit zeigt. Weil das so ist, brauchen Menschen den Glauben. Er muß ersetzen, was Menschen nicht wissen können, aber doch benötigen, um in einer unübersichtlichen Welt leben und handeln zu können. »Wir sehen nicht mit Gottes Augen. (...) Unser Leben entfaltet sich vor uns wie verwirrende Reflexionen eines Spiegels.« Eastwoods Film zeigt Zuschauern ebenfalls einen – auf den ersten Blick – verwirrenden Spiegel, der jedoch, auf den zweiten Blick, als Ordnung von Reflexionen durchschaubar wird. Darin erkennen wir unter anderem, wie wichtig es ist, gut zu beobachten und den Umgang mit Unübersichtlichkeit zu erlernen. In den Reflexionen dieses Spiegels erscheint der Krieg, den Amerika im Irak führt, als extreme Form menschlichen Lebens. Gewalt, Ungerechtigkeit und Schwierigkeiten, das jeweils richtige Handeln zu bestimmen, gibt es jedoch grundsätzlich überall. Das demonstriert die nächste Szene, eine pädagogische Ansprache von Chris Kyles Vater an seine beiden Söhne am Familientisch. Kyle hat seinen jüngeren Bruder bei einer Schulhofprügelei verteidigt und dabei einen anderen Jun
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gen geschlagen. Der Vater erklärt einfache Regeln seiner Erziehung und Weltsicht: Es gibt drei Arten von Wesen – Schafe, Wölfe und Hütehunde. Während Schafe naiv die Tatsache des Bösen ignorieren und wehrlos sind, nutzen Wölfe diese Schwäche erbarmungslos aus. Für sie gibt es keine Regeln oder Mitleid, die Schwachen einen geschützten Ort in der Gesellschaft garantieren. Schafe und Wölfe werden in der Familie Kyle nicht herangezogen. Dafür sorgt die gewaltbewehrte Autorität des Vaters, der drohend seinen Gürtel auf den Frühstückstisch legt. Erwartet wird hingegen, als Hütehunde für diejenigen dazusein, die sich nicht wehren können. Gewalt ist, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, um auf Gewalt zu reagieren, legitim. Wer es grundsätzlich ausschließt, Gewalt auszuüben, reiht sich in die Herde der Schafe ein. In der dritten Szene der Rückblende ist aus dem Jungen ein Erwachsener geworden, der seiner Liebe zum amerikanischen Cowboy-Mythos frönt. Als er eines Abends von einem Rodeo heimkehrt und seine Freundin mit einem anderen Mann überrascht, wirft er nicht nur den Nebenbuhler, sondern auch seine Freundin kurzerhand aus dem Haus. In solchen Fällen gibt es nichts zu diskutieren. Manche Dinge gehören sich, andere tut man nicht. Das beschreibt einen Habitus – eine kulturelle Gewohnheit, die grundlegende Orientierungen, wie Chris Kyles Vater sie den Söhnen vermittelt hat, ebenso umfaßt wie den Glauben an etwas, das eben nicht zu begründen ist – wie der Pastor seiner Gemeinde die Rolle der Religion erklärt. Habituelle Überzeugungen erlangen Bedeutung, wenn sie tatsächlich zu Auslösern von Handeln werden. Andernfalls bleiben sie abstrakt wie Werte, auf die jemand verweist, ohne nach ihnen zu leben. Wer einen Habitus besitzt, wird zu entschlossenem Handeln befähigt. Von ängstlichen Erwägungen, ob sein Verhalten in den Augen anderer vielleicht Mißbilligung findet oder unangenehme Folgen hat, läßt er sich im Moment der Entscheidung nicht stören. Als Chris Kyle bei seinem ersten Einsatz Frau und Kind ins Visier nimmt, warnt ihn sein Kamerad vor möglichen Folgen, die das Töten von Frau und Kind in der Militärbürokratie auslösen könnte. Kyle läßt sich davon nicht beirren. Dem gleichen Habitus-Muster folgt seine Entscheidung, den US Marines beizutreten. Anlaß sind Bilder, die Kyle im Fernsehen von Terroranschlägen in Daressalam und Nairobi sieht. Statt Gründe abzuwägen, folgt er seinem Gefühl, daß ein Amerikaner, der sein Land liebt, gegen dessen Feinde aufstehen und kämpfen muß. Gewalt muß Einhalt geboten werden, auch wenn dazu Gewalt erforderlich ist.
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Liebe heißt, seiner Sache gewiß zu sein und alle Folgen zu tragen. Als er seine Freundin kennenlernt und sich in sie verliebt, steht für ihn fest, daß er sie heiraten und eine Familie gründen wird. Vor diesem knapp erzählten Hintergrund wird der zweite Schuß verständlich. Kyle erschießt den Jungen, und danach auch die Frau, als diese die Granate aufhebt, um das Attentat auszuführen. Auf sich selbst nimmt Kyle wenig Rücksicht. Gefühle läßt er kaum zu. Darin unterscheidet er sich von seinem jüngeren Bruder, der ebenfalls ins Militär eintritt und dem Kyle auf einem Rollfeld im Irak begegnet. Seinen Bruder, der erschöpft und deprimiert von sich sagt, »fertig« zu sein, kann er nicht beschützen wie damals auf dem Schulhof. Dessen Aussage »Scheiß auf das alles hier« versteht er nicht. Die Schwäche seines Bruders mag menschlich verständlich sein, die Negation der amerikanischen Ideale hingegen erscheint ihm unangemessen. Erst als Kyle nach seinem dritten Schuß – dem Töten Mustafas – nach Hause zurückkehrt, gesteht er seine emotionale Erschöpfung ein. In der Gesellschaft der USA wird er nun wie ein Mythos gesehen. Hier ist er ein Bild gewor den, dessen Brüchigkeit niemanden interessiert. Es bedarf anderer Bilder – derjenigen des Films –, um Spiegel-Bilder von Bildern anzu fertigen, die den undurchschauten Mythos – eine Art tiefenstruktu reller kultureller Neurose – in einen reflektierten – und dann womög lich produktiven – Mythos verwandeln und den Betrachtern – dem Kinopublikum – nahelegen, sich selbst zu den gesehenen sowie den undurchschauten Bildern ins Verhältnis zu setzen.
7 Imaginäre Grenzen: Philosophie und Mythologie Oft sind Profanes und Mythisches in Bildern, die Menschen sich von ihrer Welt machen, verschmolzen. Scharfe Unterscheidungen zwischen Vernunft und Traum fallen schwer. Verweisen solche Beob achtungen auf die Paradoxie der »Karte« zurück, auf der »Grenzen« einzutragen sind, damit etwas unterscheidbar wird? »Die Grenzlinie«, meint jedenfalls Hans Blumenberg, »zwischen Mythos und Logos ist imaginär«.93 Sie taucht auf in der Arbeit der Darstellung, mit der Menschen ihre Welt zu einem Universum des Bekannten ordnen. Die »Karte«, von der Kant spricht und Borges erzählt, entsteht im 93
Blumenberg, H.: Arbeit am Mythos [1979]. Frankfurt/M. 19905, S. 18.
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ursprünglichen Akt des Namengebens, der als Schöpfungs-Mythos erzählt und in jedem Wort wiederholt wird. Hölderlins Lyrik steht, in den Augen ihrer philosophierenden Bewunderer, für die Paradoxie dieser Grenze: in der dichterischen Fügung der Worte den Akt des Namengebens einerseits zu wiederholen und andererseits im Namen losen zu existieren. Blumenberg erblickt darin den Unterschied zur Wissenschaft. Lücken in der Liste der Namen kann Wissenschaft nicht akzeptieren; ihr Ziel wäre die vollständige Benennung des Seienden.94 Vollständigkeit der Namen führt jedoch in die Paradoxie einer Karte, die mit dem Territorium koextensiv wird und dadurch verhüllt, was sie zeigt. Mythisch ist auch die Erzählung von der Karte, die zwischen Land und Meer unterscheidet, solange sie nicht, wie bei Borges, als Erzählung inszeniert und damit als Fiktion durchschaubar wird. Gegen Lévi-Strauss’ Ethnologie der Mythen argumentiert Blu menberg, sie friere den Mythos im Logos seiner Struktur ein, statt ihn als Geschichte seiner Transformationen zu entfalten. Zählen jedes Detail und jede Transformation, führt die Strukturmatrix den Ethnologen zurück in die Paradoxie der Karte: den Mythos selbst zu logifizieren, um ihn als das Andere des wissenschaftlichen Logos begreiflich zu machen. »Was für den Ethnologen die Mannigfaltigkeit der Kulturen leistet, unter deren Vorgaben das Mythologem erzeugt und bearbeitet wird, leistet in einem Traditionszusammenhang wie dem europäischen das, was man sich ›Geschichtlichkeit‹ zu nennen gewöhnt hat.«95 Den Mythos zu erzählen bedeutet, ihn als Bewe gung zu betrachten, deren Bedeutung im Kontext einer Tradition wurzelt. Philosophie entfaltet im Erzählen begriffliche und bildliche Figurationen. Dank ihrer einfachen Grundform eignen Mythen sich für wiederholendes Erzählen in wechselnden Kontexten. Statt das Immergleiche zu berichten, beweisen sie die Geschmeidigkeit des Sinns, das scheinbar Gleiche als immer Anderes vor Augen zu führen. Blumenbergs Mythologie macht recht gut die Differenz verständ lich, die zwischen zeitüberdauernden und deshalb kulturstiftenden Mythen – etwa biblischen Geschichten wie der von Kain und Abel – einerseits oder bloß wiederholten Geschichten andererseits besteht. »Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres nar rativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähig keit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: 94 95
Vgl. ebenda, S. 47. Ebenda, S. 301.
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ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritu eller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung.«96 Bei aller Anerkennung, die Blumenberg Heideggers Analysen des Zusam menhangs von Dasein, Vertrautheit und Bedeutsamkeit zollt97, weist er doch auf einen wesentlichen Unterschied hin: Heideggers immer wiederholte »Seinsgeschichte« gleicht einem »letzten« Mythos, der in Anspruch nimmt, den Mythos als Form zu Ende zu bringen. Abstrakte Begriffe – das Seiende, das Sein, die Seinsgeschichte u.a. – treten an die Stelle sinngenerativer Erzählformen.98 Solche Geschichten sind keine Mythen, weil sie keine produktiven Erzählungen sind, bei denen jede Wiederholung zu einer Entbindung neuen Sinns führt. »Unter den Bedingungen der Neuzeit, die keine Götter und kaum noch Allegorien erfinden kann, heißt das, an die Stelle der alten Namen neue abstrakte bis hochabstrakte Titel zu setzen: das Ich, die Welt, die Geschichte, das Unbewußte, das Sein. (...) Solche Totalentwürfe sind gerade darin mythisch, daß sie die Lust austreiben, nach mehr zu fragen und weiteres zu erfinden. Sie geben zwar keine Antworten auf Fragen, nehmen sich aber so aus, als bliebe nichts zu fragen übrig.«99 Wie könnten Menschen sich von der »Erfahrung der ihrer selbst nicht mächtigen Existenz« anders oder besser Rechenschaft ablegen als durch die nie abzuschließende Explikation ihrer geschichtlichen Überlieferungen?100 Unersetzlich sind Mythen, darin hat auch Karl Jaspers in einer ähnlichen Denkfigur Rudolf Bultmanns – stark an Heidegger orientierter – »Entmythologisierung« des Christentums widersprochen, indem sie Bedeutungen zum Vorschein bringen, »die nur in dieser ... Gestalt ihre Sprache haben. In mythischen Gestalten sprechen Symbole, deren Wesen es ist, nicht übersetzbar zu sein in
Ebenda, S. 40. Vgl. ebenda, S. 124f. 98 In seiner Dissertation arbeitet Blumenberg die Radikalität von Heideggers Denken in »Sein und Zeit« heraus, indem er es in den Horizont der christlich-mittelalterlichen Metaphysik stellt und als moderne Antwort auf das Problem der Ursprünglichkeit interpretiert. Schon 1947 aber stört ihn die normative Aufladung von Heideggers Seinsverständnis und dessen Stilisierung frühgriechischen Denkens zum ursprüngli chen Denken. Vgl. Blumenberg, H.: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie [1947]. Berlin 2020. 99 Blumenberg, H.: Arbeit am Mythos [1979]. A.a.O., S. 319. 100 Ebenda, S. 202 (Hervorhebung im Original). 96 97
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eine andere Sprache.«101 Als geschichtliche, nicht als übergeschichtli che, entfalten sie Kraft. Darin unterscheiden sich Heideggers Sprach-»Fugen« von Mythen oder »Arabesken«. Bei Heidegger erstarren Begriffskonstel lationen durch fortgesetzte Wiederholungen in einem Beschwörungs gestus, dem keine lebendige Geschichte Gegenhalt verleiht. An-Den ken bleibt steril. Für das »Dasein« – das alltägliche Leben – fehlt es solchen Geschichten an Bedeutsamkeit. Welche Unterschiede würde es für jemanden machen, sein eigenes Leben im Lichte von Heideggers Mythos der Seinsvergessenheit zu betrachten? Hand lungsbezüge weist diese Geschichte nicht auf. Allenfalls beteuert sie die Nichtigkeit allen Handelns – und die Sinnlosigkeit der Suche nach Handlungsalternativen. Sogar für den Philosophen, der den Mythos unermüdlich wiederholt, besagt er allenfalls, daß er der einzige Wissende um die Differenz sei, die der Mythos erzählt. Heidegger stellt sein eigenes Denken durchaus in die Tradition des sen, was er für den Mythos der Griechen hält: das »gegründete Wort als ausgezeichnete Sage«, die alles »Dichten und Denken trägt«, indem es den »anfänglichen Bezug zum Verborgenen gründet«.102 Der Mythos gerät Heidegger zum Wesen des Wortes, nicht, wie Blumenberg hervorhebt, zur Form des Auslegens einer je besonderen Welt. Versuche einer »Entmythisierung« des Mythos weist er zurück. Die eigentümliche mythische Qualität des Denkens sei von dessen Form nicht abzulösen.103 In Heideggers Augen erscheint das Sein im Mythos selbst, der die ursprüngliche Verschränkung von Denken und Dichten bewahrt.104 Für ihn ist der Mythos selbst heilig geworden. Deshalb will er ihn entchristianisieren, um ihn als reinen Ursprung Jaspers, K.: Wahrheit und Urteil der Bultmannschen Entmythologisierung. In: Karl Jaspers/Rudolf Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung. München 1981, S. 29–81, hier S. 42. 102 Heidegger, M.: Parmenides [1942/43]. In: Gesamtausgabe Bd. 53. Frankfurt/M. 19922, S. 89. 103 Heidegger, M.: Hölderlins Hymne »Der Ister« [1942]. In: Gesamtausgabe Bd. 53. Frankfurt/M. 19932, S. 139. Vermutlich hat Heidegger in seiner Kritik der »Meinung«, Form und Inhalt des Denkens seien zu unterscheiden, Rudolf Bultmanns Vorschlag einer »Entmythologisierung des Christentums« vor Augen. Vgl. Bultmann, R.: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutesta mentlichen Verkündigung [1941]. Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung, her ausgegeben von Eberhard Jäckel. München 1985 (Beiträge zur evangelischen Theo logie Bd. 96). 104 Vgl. Heidegger, M.: Hölderlins Hymne »Der Ister« [1942]. A.a.O., S. 139. 101
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philosophischer Reflexion zu bewahren. Dafür nimmt er in Kauf, den Mythos von seiner Welthaltigkeit – und damit von seiner eigentlich mythischen Funktion – zu befreien, während Sophokles’ Antigone, an die Heidegger seine Mythos-Überlegungen anknüpft, doch ein höchst welthaltiger, innerweltlich im Theater aufgeführter »Mythos« ist. Theater will zum Verständnis der Welt des Menschen beitragen. Heidegger zielt auf einen absoluten Mythos, der seine mythischen Qualitäten, nämlich wiederholt, erzählt und immer neu mit Welt angereichert zu werden, einbüßt. Wie anders bestimmt Friedrich Schlegel dagegen die Rolle des Mythos in seiner »Rede über die Mythologie«! Wirklichkeit ent steht, so Schlegel, durch die schöpferische Gestaltung des Chaos. Die »neue Mythologie« ist nicht dieselbe wie die der alten Götter, wenngleich von ähnlicher Kraft, durch Berührung mit dem Geist der Liebe eine harmonische Welt zu gestalten. »Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Altertums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer grö ßern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift ineinander, und überall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedrückt.«105 Ohne Vergangenes zu beschwören, lebt die neue Mythologie von freien künstlerischen Gestaltungen.106 Zusammenhänge sind weder willkürlich noch von der Natur universeller Vernunftgesetze. Ihr genuin poetischer Charakter resultiert aus einem Verfahren, das plump realistische Abschilderungen des Seienden ebenso vermeidet wie artifizielle Kompositionen ästhetischer Formen. Form poetischer Mythologie ist die Arabeske. Sie ist es, als schöpferische Darstellung, die Beziehungen stiftet, Verwandlungen vornimmt, schafft und verän dert, zwischen Symmetrie, Widerspruch und Verwirrung wechselt. Indem sie erschafft, bringt sie die Welt zum Ausdruck lebend-erleben der, handelnder Menschen: »[A]lles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses An- und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode, wenn ich so sagen darf.«107 Das Ganze des Geistes gewinnt Wirklichkeit im Schlegel, F.: Rede über die Mythologie [1800]. In: »Athenäums«-Fragmente und andere Schriften. Stuttgart 2005, S. 190–201, hier S. 191. 106 In diesem Sinne erwägt Christoph Jamme, ob in der modernen Gesellschaft die Künste, vielleicht besonders der Film, in die Funktion des Mythos einrücken. Vgl. Ders.: ›Gott an hat ein Gewand‹. Grenzen und Perspektiven philosophischer MythosTheorien der Gegenwart. Frankfurt/M. 1991, bes. S. 253ff., 297ff. 107 Schlegel, F.: Rede über die Mythologie. A.a.O., S. 195. 105
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poetischen Ausdruck: »Ja diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisation ist dieselbe und gewiß ist die Arabeske die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fan tasie.«108
8 Verlangsamung Bei Friedrich Schlegel ist der Mythos die Form der darstellenden Selbstrealisierung des Geistes diesseits logischer oder naturhafter Strukturgesetze. Blumenbergs Kritik an Heideggers Mythos der Seinsvergessenheit zielt auf etwas anderes als Schlegels Poetik. Im Nachlaß findet sich ein Manuskript, in dem Blumenberg sich mit dem politischen Mythos beschäftigt.109 Interessant für eine Poetik der Reflexion ist darin, welche Rolle Blumenberg der Form der Wie derholung des Mythos beimißt. Er nähert sich der Frage unter dem Gesichtspunkt der Verzögerung, die durch mythische »Präfiguratio nen« von Situationen zustande kommt. Verlangsamungen schaffen Distanz. Von akutem Handlungsdruck entlasten sie um den Preis einer magischen Deutung geschichtlicher Wirklichkeit. »In der Prä figuration geht die Mythisierung an die Grenze der Magie heran oder überschreitet sie sogar, sobald mit dem ausdrücklichen Akt der Wiederholung eines Präfigurats die Erwartung der Herstellung des identischen Effekts verbunden wird.«110 Im Akt der Wiederho lung wird der mythische Charakter der präfigurierten Konstellation bestätigt. Mythische Figurationen erzeugen soziale Legitimität durch ihre Wiederholung im Kontext einer Kultur und von deren Bildpro gramm. Auf Sprache ist der Mythos nicht zu reduzieren, da er immer auch gegen sprachliche Begründungsforderungen immunisiert. Wie in Clint Eastwoods Slow-Motion-Einstellung der Schlüsselszene in »American Sniper« verlangsamt der Mythos die Gegenwart, indem er sie in artifizieller Weise dehnt und Ereignisse in ihrem Zeitfluß einfriert. So trägt er dazu bei, Vergangenheit und Zukunft neu und 108 109 110
Ebenda. Vgl. Blumenberg, H.: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin 2014. Ebenda, S. 9.
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vielleicht anders auf Gegenwart zu beziehen. Denn als chronologische Ereignisse – gleichsam als datierbare Informationen – bleiben Ereig nisse bedeutungslos. Erst ihre Betrachtung und Kontextualisierung macht sie verständlich, und nur so können Menschen sich auf sie hin entwerfen. Mythen sind keine Ereignisse. Ihre artifizielle Form dient der Spiegelung von Erfahrung. Eastwoods Slow-Motion verweist auf die kunstvolle Form, die der Mythos braucht, um, als durchschauter, wirksam zu sein. Weil er stets in Situationen aufgerufen wird, bewahrt er rhetorischen Charakter: Der politische Mythos ist kein Selbst zweck.111 Vermutlich im Zusammenhang mit der Arbeit an seinem Mythos-Buch beschäftigt Hans Blumenberg sich mit Hannah Arendts Darstellung des Eichmann-Prozesses in Jerusalem.112 Anläßlich des Fernsehinterviews, das Hannah Arendt 1976 mit Günter Gaus führte, kritisiert Blumenberg Arendts Einschätzung der Bedeutung dieses Prozesses.113 Im Nachlaßtext »Zu Hannah Arendt, Eichmann in Jeru salem«114 spitzt Blumenberg seine Kritik zu dem Argument einer Unverzichtbarkeit politischer Mythen in der modernen Gesellschaft zu: Staaten benötigen, zumindest in manchen Fällen, wie insbeson dere im Fall des Staates Israel, einen mythischen Ursprung. Politisches und mythisches Denken verschmelzen nicht notwendig zu gefähr licher Dämonie, sie können einander vielmehr stärken. Um seine identitätsstiftende Funktion zu erfüllen, darf dieser Ursprung nicht wie in grauer Vorzeit im Nebel mythischer Erzählungen verschwim men. Kraft gewinnt er, wenn er komplexe historische Konstellationen und Erfahrungen wie in einem Brennglas bündelt, auf eine Person projiziert und mit Wertungen versieht. Dann wird der Mythos als Fiktion real. Adolf Eichmann war in diesem Sinne die »heimliche Gründerfigur« des jüdischen Staates. 115 Diese Figur, die als konkrete Person für den Schrecken des Holocaust vor Gericht stand, zu einem »Hanswurst« zu degradieren, der eher lächerlich als böse wirkt, hält Blumenberg für unerträglich. »Der erbeutete Böse kann unmöglich Vgl. ebenda, S. 14. Vgl. Arendt, H.: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen [1964]. München 19867. 113 Vgl. Meyer, A.: Nachwort des Herausgebers. In: Blumenberg, H.: Rigorismus der Wahrheit. »Moses der Ägypter« und weitere Texte zu Freud und Arendt. Berlin 2015, S. 105–130, hier S. 118ff. 114 Vgl. ebenda, S. 71–87. 115 Ebenda, S. 76. 111
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ein Hanswurst gewesen sein.«116 Israels Gründungsmythos beruht auf dem Vollzug von Gerechtigkeit an einem Schuldigen. Diese Tat dient der symbolischen Selbstkonstitution als politisches und ethi sches Subjekt. Abstrakta sind schuldunfähig. Strukturen lassen sich nicht anklagen. Blumenbergs Verdikt, Arendts Analyse des Dritten Reiches sei unpolitisch, impliziert, daß Politik auf Mythen zumindest verweist – daß sie Mythen vielleicht braucht –, die ihre Legitimität offenbaren und verhüllen. Der Mythos zeigt sich als imaginäres Zen trum staatlicher Ordnung. Adolf Eichmann wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet – das einzige Todesurteil, das in der Geschichte Israels juristisch verhängt und exekutiert wurde. Mitten im Ersten Weltkrieg, 1915, stellt Sigmund Freud Betrach tungen über Krieg und Tod an. Angesichts der Gewalt, die hier zwischen Völkern ausgebrochen war, die sich für zivilisiert hielten, dämpft Freud Hoffnungen auf einen menschheitsgeschichtlichen Fortschritt zum Humanismus ebenso wie das Erstaunen darüber, was Menschen zu tun imstande sind. Ob Menschen friedfertig oder gewaltsam handeln, hängt von Umständen ab. Diese entscheiden darüber, wie Triebregungen kulturell und gesellschaftlich geformt werden. »In Wirklichkeit gibt es keine ›Ausrottung‹ des Bösen. Die psychologische – im strengen Sinne die psychoanalytische – Unter suchung zeigt vielmehr, daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. (...) Diese primitiven Regungen (...) werden gehemmt, auf andere Ziele und Gebiete gelenkt, gehen Verschmel zungen miteinander ein, wechseln ihre Objekte, wenden sich zum Teil gegen die eigene Person.«117 Für solche Lenkungen der Triebe nun sind kulturelle Bilder von Bedeutung, tragen sie doch dazu bei, unser Verhältnis zum Tod zu formen. Je mehr der Tod als konkretes Risiko der Existenz aus der Kultur verbannt wird, desto wichtiger werden Fiktionen. Dort, »in der Welt der Fiktionen, in der Literatur, im Theater (suchen wir, DR) Ersatz (...) für die Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben verstehen, ja, die es auch zustande bringen, einen anderen zu töten. (...) Auf dem Gebiet der Fiktion finden wir jene Mehrheit von Leben, deren wir bedürfen. Ebenda, S. 77. Freud, S.: Zeitgemäßes über Krieg und Tod [1915]. In: Studienausgabe Bd. IX. A.a.O., S. 33–60, hier S. 41. 116
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Wir sterben in der Identifizierung mit dem einen Helden, überleben ihn aber doch ...«118 Wenige Fiktionen erlangen wegen ihrer allgemeinen Bekannt heit die Kraft mythischer Bilder. Mythen vereinfachen nicht bloß, sie geben Gelegenheit, nach der Welt zu fragen. Karlheinz Stierle hat Mythen als »öffentliche Fiktionen« bezeichnet, während Fiktionen ihm als »Mythen des unmythischen Zeitalters« gelten.119 Öffentli che Fiktionen zeichnen sich dadurch aus, daß sie als »Relais für gesellschaftliche Kommunikation aufgefaßt« werden.120 Oft geht es um Konstellationen von Handlungsweisen, Problemen, existentiellen Fragen, vorbildlichem oder verabscheuungswürdigem Verhalten, um existentielle Ereignisse wie Liebe und Tod, Hoffnung und Trost, Krankheit und Glück. Ihren Ort finden sie nicht zuletzt in den Massenmedien – exemplarisch, im 20. Jahrhundert, im Kino. Jede Wiederholung der mythischen Form realisiert eine exemplarische Erzählung im Blick auf Besonderes, das sich meist in personalisieren den Verdichtungen komplexer Wirklichkeiten darstellt.
9 Kraft der Fiktion »In meinem Empfinden galt meine Treue einer mythischen, histori schen und psychologischen Projektion genannt ›die Einheit‹. Sie hat tausend spezifische Namen. Es ist das Marine Corps, die Legion und die 82. Luftlandedivision. (...) Es sind all die Flaggen, es ist die Geschichte, das Sterben. (...) Die mythische, historische und psychologische Projektion zu ignorieren, hieße, die Wirklichkeit zu ignorieren. (...) Diese Geister sind so real wie der Hügel, den wir erstürmen.«121 Karl Marlantes, mehrfach ausgezeichneter VietnamVeteran, hebt in einem nachdenklichen Rückblick auf seine militäri sche Laufbahn die Bedeutung kultureller Rahmungen hervor, die der Arbeit der Soldaten und dem Ereignis des Krieges Verständlichkeit Ebenda, S. 51. Stierle, K.: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? In: Poetica 7 (1975), S. 345–387, hier S. 384. 120 Ebenda, S. 385. 121 Marlantes, K.: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen. Zürich, Hamburg 2013, S. 182f. Mit »Matterhorn« (Zürich, Hamburg 2012) hat Marlantes dreißig Jahre nach seinem Einsatz in Vietnam einen großen Roman über diesen Krieg geschrieben. 118
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und Bedeutung verleihen. »Mythen« – im weiten Sinne – sind es, die Loyalität und Opferbereitschaft, Treue, Ehre und Selbstachtung fundieren. Allzu oft, findet Marlantes, werde ihre Wichtigkeit unter schätzt. Für den Soldaten seien sie aber mehr als abstrakte Werte, Lippenbekenntnisse oder fragwürdige Tugenden. Sie helfen ihm, zu überleben und Teil der Gesellschaft zu bleiben, die von der Realität des Krieges wenig wissen will. Marlantes empfiehlt, Mythen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, die für den Krieger so entscheidend sind. Westliche Gesellschaften, für Marlantes vor allem die USA, gingen zu sorglos mit ihrem Mythenbestand um. Wenn Mythen, wie Cassirer glaubt, immer auch technische Produkte einer Kulturindus trie sind, wird die Frage nach deren Konstruktion und Pflege um so wichtiger. Dämonische und zerstörerische Wirkungen drohen, wenn diese Pflege vernachlässigt wird. »Jenseits von grundlegenden Ände rungen in der Kindererziehung und der militärischen Ausbildung brauchen wir zu guter Letzt auch eine neue Kriegsmythologie. Wir müssen erkennen, dass die Mythologien der Vergangenheit nicht ausreichend Weisheit für unsere heutige Situation liefern.«122 Gute Mythen sind für Marlantes nicht solche, die zu Haß anstacheln und Gewalt entfesseln, sondern Reflexionen einer oft brutalen, parado xen und den Einzelnen extrem belastenden Wirklichkeit anregen. Zu den wichtigsten Mythengeneratoren zählt das Kino. Soldaten im Einsatz orientieren ihre Entscheidungen manchmal mehr oder weniger bewußt an mythischen Formaten, die sie aus dem Kino kennen. Marlantes erinnert sich an eine Situation, die ihm eine Auszeichnung einbrachte: »Die Wahrheit ist, dass es wichtige Aspekte der Auszeichnungen und Orden gab, von denen niemand wusste. An jenem Tag, als wir den Hügel stürmten, fühlte ich mich wie in einem Film. Ich erinnere mich, dass ich genau das dachte: Es ist wie in einem Film. Ich bin der Held, und der dumme Kerl hat sich gerade Ärger mit dem feindlichen Maschinengewehr eingehandelt. Aber jetzt wird der Held ihn retten. Filme sind die mythologische Matrix Amerikas.«123 Im Sinne von Karl Marlantes entwirft Clint Eastwood in »Ame rican Sniper« einen reflexiven »Mythos«. Darin geht es um die Form der Bilder und um die Inszenierung der Kontexte, in denen Bilder Bedeutung entfalten. Formanalysen werden mit dramaturgischen Ele menten verschränkt. Fiktionalisierung ermöglicht es, Wirkliches als 122 123
Ebenda, S. 306. Ebenda, S. 210.
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Wirklichkeit zu befragen. Im Mythos werden Ambivalenzen sichtbar, die dazu herausfordern, von einem »Dasein« situativ ausgelegt zu werden. Am Sarg von Kyles Kamerad Mark, der im Einsatz gefallen ist, liest Marks Mutter den letzten Brief ihres Sohnes vor, in dem dieser von seinen Zweifeln am Ruhm spricht. Der Rahmen, in dem dieser verständliche Zweifel geäußert wird und in dem sich der Schmerz einer Mutter ausdrückt, ist ein Ritual der Ehre. Leer ist ein solches Ritual nicht, sondern, wie Karl Marlantes meint, notwendig, weil es den Menschen eine kulturelle Bedeutung des Lebens und Sterbens in einer Gesellschaft vor Augen stellt und Anerkennung spendet, ohne Zweifel oder Leid zu leugnen. Mythos und Ritual setzten diese Ambivalenz ins Bild. Chris Kyle erklärt seiner Frau später, daß Mark letztlich wegen seiner Zweifel gestorben sei, hätten diese doch seinen unbedingten Glauben untergraben und damit seine Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit geschwächt. Zweifel sind eine Haltung der Reflexion; im Kampf auf Leben und Tod lähmen sie das Handeln. Statt den Blick auf Wirkliches zu verschleiern, helfen Mythen, klug ins Bild gesetzt, Ambivalenzen zu verstehen und Paradoxien auszuhalten. Sie verlangsamen, verdichten und steigern Empirisches zu virtuellem Exemplarischem. Wie die Welt begegnet, machen sie verständlich, wobei sie auf moralische Urteile verzichten. Die Grenze zwischen Gut und Böse zeigt sich vielmehr an kon kreten Phänomenen. »American Sniper« verdichtet diese Überlegung in einem Bild: Ein Junge, der kleine Sohn des Scheichs, der mit den Amerikanern zusammenarbeitet, wird mit einer Bohrmaschine vor den Augen des Vaters gefoltert. Begründungslos und in bestialischer Deutlichkeit wird klar, warum es sich manchmal lohnt, zu kämpfen. Während die amerikanischen Soldaten diese Folterszene mitansehen, sie aber nicht verhindern können, erhält Chris Kyle telefonisch von seiner Frau die Nachricht, daß er einen Sohn bekommen wird. Kinder sind es, um die sich alles dreht: Wie wird ein Kind zum Mann, der entweder andere foltert oder sie beschützt? Was rechtfertigt es, ein Kind zu töten, wie Kyle es bei seinem ersten Schuß tut? Und wann muß jemand, der an seiner Familie hängt, diese verlassen, um für sein Land in den Krieg zu ziehen? Alles entscheidet sich daran, ob Men schen es zulassen, Kinder zu foltern.124 Wer dagegen kämpft, ohne 124 Auch dieses Motiv kann ideologisch mißbraucht werden. So wurde zur propagan distischen Vorbereitung des Kuwait-Krieges von 1990 von der Tochter des kuwaiti schen Botschafters in den USA, die sich als Krankenschwester ausgab, behauptet,
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selbst moralisch über jeden Zweifel erhaben zu sein, entspricht dem Mythos »Amerika«. Er ist ein »American Sniper«, kein »Mustafa«. Statt ein Auge beim Zielen zu schließen, behält er beide Augen offen. So realistisch die Aufnahmen des Films wirken, so wenig ist dessen Anliegen ein vordergründiger Realismus. Fiktionen zeigen sich als etwas, das auszulegen bleibt. Darin besteht ihre Wirklichkeit, und das macht sie unerschöpflich. Sie ermutigen zu Reisen ins Nebelmeer der Bilder.
die in Kuwait-City einmarschierenden irakischen Truppen hätten die Kinder eines dortigen Kinderkrankenhauses umgebracht. Diese Aussage stellte sich später als Propagandalüge heraus.
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Nachbarschaften stiften Reflexion statt An-Denken
1 Differenz und Distinktion »Erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten«, auch »Steuerung und Sicherung« sind in Heideggers Augen Merkmale der »Technik«.1 Rückblickend erscheint diese Charakterisierung, obgleich abgelesen an einer früheren Ära der Technologie, prophetisch. »Daten« gelten heute als Elemente, aus denen Natur, Kultur und Gesellschaft bestehen. Informationen, geschrieben als Ziffernkette von 0 und 1, wären die Matrix aller Differenzen: Meinungen, politische Mehrheiten, Diagnosen, Vergleiche, Wissen, Technologien, Prognosen, Therapien, militärische Macht oder ökonomische Vorteile lassen sich aus Daten gewinnen. Am Nullpunkt aller Unterscheidungen des »Seienden« wartete nicht etwa Heideggers »Lichtung«, sondern die »Lücke, die der Rechner lässt«. Bedeutung wird mit Zurechnung identisch. Adressierungen von Werten erfolgen ohne Zutun eines »Daseins« oder Beteiligung menschlichen »Denkens«; längst sind sie eine Domäne digitaler Maschinen. »Die Evidenz des Wirklichen wird gebrochen, ohne dass man auf die Idee kommen könnte, dass das, was hier interveniert, weniger wirklich wäre.«2 Architekturen des »Seienden« bringen Rechner-Netze zum Einsturz. Heideggers Diagnose des »Ge-stells« hätte sich als paradoxe Prophezeiung erwiesen: In der Allgegenwärtigkeit technisch-informatorischer Operationen geht der Begriff des Seienden selbst unter. Denn digitale Technologien fegen gewohnte »Ontologien« mü heloser hinweg als kontemplative Anstrengungen »lichtenden« phi losophischen »Denkens«. Akte des Unterscheidens, mit denen etwas zu anderem ins Verhältnis tritt, werden als positive Werte verfügbar, mit denen sich »rechnen« läßt. Zwischenräume des Bestimmten sind nicht unbestimmt; es sind Operatoren, die sich in Kalkülen schreiben und in Schaltungen handhaben lassen. »Sein« und »Seiendes« hinge gen stehen in einer »Differenz«, die, wie Heidegger betont, von »Dis 1 2
Heidegger, M.: Die Technik und die Kehre [1950/1962]. Pfulligen 19856, S. 16. Baecker, D.: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Leipzig 2018, S. 19.
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Nachbarschaften stiften
tinktion« grundverschieden sei.3 Differenz, die nicht als Distinktion auftritt, versteht Heidegger als »Nachbarschaft«. Deren Wesen lasse sich weder definieren noch frontal beschreiben oder erklären, geschweige denn errechnen. Zeigen können Nachbarschaften sich nur indirekt. Zahlen, als Zeichen der Notierung diskreter Abstände, drü cken deshalb niemals Relationen der Nachbarschaft aus. Einzig im »Sagen«, im Wort, kommen Nachbarschaften zum Schwingen und werden überhaupt bemerkbar. »Was wir unter dem Namen der Nach barschaft des Dichtens und Denkens zu bedenken versuchen, ist weit entfernt von einem bloßen Bestand vorgestellter Beziehungen. (...) Weil jedoch das heutige Denken immer entschiedener und aus schließlicher zum Rechnen wird, setzt es alle nur bestellbaren Kräfte und ›Interessen‹ daran, zu errechnen, wie sich der Mensch demnächst im weltlosen kosmischen Raum einrichten könne.«4 Die Materialität des »Wortes« – das »Leibhafte der Sprache« – hilft beim An-wesen einer ursprünglichen Differenz: »Daß die Sprache lautet und klingt und schwingt, schwebt und bebt, ist ihr im selben Maße eigentümlich, wie daß ihr Gesprochenes einen Sinn hat.«5 Geschieden, nicht getrennt ist, was in Nachbarschaften steht. Heideggers Figur der »Nachbarschaft« erscheint mir geeignet, Kontraste zwischen Zahlen, Bildern und Worten hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf »Denken« und »Reflexion« herauszuarbeiten. »Nachbarschaft« erschließt eine Perspektive auf die »Technik« im Zeitalter des Digitalen diesseits der »Kritik«. Sie gibt auch ein Instrument an die Hand, das sich gegen Heideggers emphatische Akzentuierung der Differenz von Sein und Seiendem ins Spiel bringen läßt. Den Gedanken der Nachbarschaft mit dem Motiv der Reflexion zu verbinden erlaubt es, deskriptive Stärken von Heideggers Technik-Philosophie zu nutzen, ohne deren seins-philosophische Forcierung ohne Einschränkung mitzuvollzie hen.
2 Diesseits der Kritik Was unterscheidet das »Denken« vom »Ge-stell« algorithmischer Architekturen? Gibt es überhaupt ein Refugium »philosophischer« 3 4 5
Vgl. Heidegger, M.: Identität und Differenz [1957]. Pfullingen 19576, S. 53f. Heidegger, M.: Unterwegs zur Sprache [1959]. Pfullingen 19868, S. 189f. Ebenda, S. 205.
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2 Diesseits der Kritik
Reflexion, auf das sich berufen kann, wer gegen die Herrschaft des »Man« Einspruch erhebt? Philosophische Reflexionen dieser Art begegnen als Wendung gegen die Welt im Namen eines »Eigentli chen«. Ungeachtet seiner Kritik an Kants Projekt der Vernunft-Kritik teilt Heidegger durchaus einen Gestus des Kantischen Denkens. Ob Verstand, Vernunft, (An)Denken oder Seyn – verbunden sind diese Konzepte in der Überzeugung, Reflexion in der Welt führe zu einem Verhältnis zur Welt im ganzen. Computer, die als Modell des Geistes in die Welt kamen, ver ändern inzwischen die Natur wie deren Ordnung im »Wissen« auf eine Weise, die das Wesen der »Reflexion« in Frage stellt.6 Grenzen zwischen menschlichem Denken, Organismen, Maschinen und sozia len Gebilden sind durchlässig geworden. Digitale Kommunikation erscheint wie eine Radikalisierung dessen, was Gabriel Tarde Ende des 19. Jahrhunderts als »soziale Algebra« beschreibt: »Folglich sind alle Bäche oder Flüsse des Glaubens und Begehrens, die im sozialen Leben aufeinandertreffen oder ineinanderfließen, von der Nachah mung abgeleitet. Sie stellen Mengen dar, deren Subtraktion oder Addition von der sozialen Logik, einer Art sozialer Algebra, bestimmt wird, und zwar jede Subtraktion oder Addition und selbst noch das Begehren nach dieser totalen Summation als auch die Überzeugung, daß diese möglich ist.«7 Ähnlich wie später Heidegger beobachtet Tarde eine Art soziales Grundgesetz einer Tendenz zum Konformis mus: »Egal unter welchem Aspekt das soziale Leben betrachtet wird, es endet auf die Dauer immer und unweigerlich mit der Bildung einer Etikette, d.h. dem vollkommenen Sieg des Konformismus über die individuellen Einfälle.«8 Sind »Geist« – oder »Denken« – dann noch relevante Begriffe? Paradigmatisch hat Hegel den Begriff des Geistes gegen die Vor stellung in Stellung gebracht, Denken sei als Rechenvorgang zu verstehen. Die Zahl, so Hegel, sei »nur der äußerliche, gedanken lose Unterschied«, das Rechnen ein »gedankenloses, mechanisches« Geschäft, das Begriffloses auf begrifflose Weise festhält. »Weil das Rechnen ein so sehr äußerliches, somit mechanisches Geschäft ist, haben sich Maschinen verfertigen lassen, welche die arithmetischen Operationen aufs vollkommenste vollführen. Wenn man über die 6 7 8
Vgl. Blumenberg, H.: Geistesgeschichte der Technik. Frankfurt/M. 2009, S. 45f. Tarde, G.: Die Gesetze der Nachahmung [1890]. Frankfurt/M. 2003, S. 173. Ebenda, S. 214.
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Nachbarschaften stiften
Natur des Rechnens nur diesen Umstand allein kennte, so läge darin die Entscheidung, was es mit dem Einfalle für eine Bewandtnis hatte, das Rechnen zum Hauptbildungsmittel des Geistes zu machen und ihn auf die Folter, sich zur Maschine zu vervollkommnen, zu legen.«9 Mathematische Operationen – und deren maschinelle Umsetzung – würden, bei aller Kompliziertheit der Apparate, der Komplexität des Sinns nicht gerecht, die wahres Denken erfaßt und gestaltet. Geist ist in Hegels Augen mehr und anderes als Repräsentation und Ver rechnung von Unterschieden. Seinem Wesen nach ist er lebendiger Vollzug, in dem Form und Inhalt verschränkt sind: Reflexion. Vollziehen kann Reflexion sich nur in der Welt. Weder gibt es eine Instanz, von der aus die Welt wie von außen zu betrachten wäre, noch böte eine solche Instanz etwas anderes als eine »äußerliche« oder, in Hegels Worten, »mechanische« Beschreibung der Welt, die ungeeignet wäre, die Welt selbst zu sich ins Verhältnis zu setzen. Im Gedanken der Reflexion, wie Hegels Begriff des »Geistes« ihn in sich faßt, kommen hingegen Form und Inhalt der Bewegung zusammen: Es ist dasselbe, was sich in der Reflexion auf sich bezieht, um zugleich bei sich zu bleiben und ein anderes zu werden. »Technik« bleibt ein Gegensatzkonzept zum »Geist«, solange sie als in diesem Sinne äußerliche Beschreibung verstanden wird. Auch Heideggers Begriff der Technik entstammt einer vergleichbaren Sichtweise. Doch Heideggers Kritik der »Kritik« und seine Emphase des »Denkens« schneiden die Verschränkung von Form und Inhalt einer weltgebun denen Reflexion zugunsten vermeintlicher Reinheit ab. »Denken«, das an die Stelle des »Daseins« tritt, bezieht einen paradoxen Ort: es vollzieht sich in der Welt wie von außerhalb der Welt. Diese Position ist entweder unmöglich oder steril, weil sie im Modus des Negativen verbleibt, ohne sich doch auf Logik berufen zu wollen. An »Reflexion« hingegen kann festhalten, wer sowohl den Implikationen »kritischer« Philosophie skeptisch gegenübersteht als auch Heideggers Emphase des »Denkens« nicht unbedingt teilen möchte. Weniger ob Reflexion noch an der Zeit sei, ist die Frage, als wie sie zu gestalten wäre angesichts einer veränderten »Welt« und »Technik«. Für »Poetik« statt für »Kritik« plädiere ich, weil Reflexion sich als symbolische Praxis betreiben läßt, die einerseits Distanz zum Reflektierten pflegt – und darin ein wichtiges Motiv der 9 Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik [1831]. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5. Frankfurt/M. 1981, S. 249 (Hervorhebung im Original).
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2 Diesseits der Kritik
»Kritik« fortführt –, andererseits aber keinen Standpunkt behaupten muß, von dem aus emphatische »Kritik« möglich wäre. Dabei läßt sich an Heideggers Gedanken der »Nachbarschaft« anknüpfen. Nachbarschaften pflegen Unterscheidungen, ohne Urteile zu fällen oder Seiendes kategorial zu sortieren. Statt zu »lichten«, was innerweltlich begegnet, käme es darauf an, Konstellationen phänomenal zu entfalten, in denen ein »Dasein« sich Möglichkeiten vor Augen führt, zur Welt ins Verhältnis zu treten. Dazu muß es, was »erscheint«, symbolisch ordnen. Begriffe bieten eine Möglichkeit symbolischen Ordnens neben anderen. Weil ihnen häufig Anschauungsbezüge fehlen, neigen sie dazu, den sinnhaften Reichtum des phänomenal Erscheinenden in der Welt zugunsten vermeintlicher Präzision abzublenden. Vielfalt und Qualität werden zugunsten möglichst eindeutiger logischer Operationen preisgegeben. Heideggers Fugen wollen denotative und logische Funktionen des Begriffs zugunsten einer Eigenresonanz sprachlicher Konstella tionen auflösen. »Denken«, dessen Sensorium für solche Schwingun gen – das »Schweigen« der Philosophie – sensibel ist, entsagt dem Welt- und Erfahrungsbezug solcher Resonanzen. Heidegger wendet diese Unverfügbarkeit der Referenz ins Grundsätzliche, indem er sie dem Denken untersagt und als Unverborgenheit des unbestimm baren »Seins« reformuliert. Eine Poetik der Reflexion müßte das Bewußtsein der Differenz zwischen Sprache und Phänomen sowie die Sensibilität für unterschiedliche symbolische Ordnungen des Wirkli chen zu einer Weise des Reflektierens ausarbeiten, die Erscheinendes, die Reflexion darauf und die Weisen seiner symbolischen Gestaltung miteinander verschränkt. Zwischen Philosophie und Künsten würde die Grenze durchlässig. Darin liegt die Ursprünglichkeit einer Refle xion beschlossen, die grundlos als In-der-Welt-Sein beginnt und ins Offene des Bestimmens wie ins bestimmt Unbestimmte des Sinns ausgreift. Reflexion kommt auf den Weg als Explikation, und diese verlangt eine Arbeit der Darstellung, die im Kern poetisch ist. Eine Artikulation der »Erfahrung der ihrer selbst nicht mächti gen Existenz«10 wäre die Aufgabe einer Poetik der Reflexion, die versteht, indem sie sich in ihren eigenen Darstellungen wie einem Echo begegnet. Dieses Motiv einer »künstlichen« Reflexion ist genuin
10 Blumenberg, H.: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlichscholastischen Ontologie. Kiel 1947. DNB 481727817.
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Nachbarschaften stiften
romantisch. In Gestalt der Schlegelschen »Arabeske« ist es nicht weit entfernt von Heideggers Gedanken der »Nachbarschaft«.
3 Diskretes und Unendliches Friedrich Schlegels »Mythos« bringt eine Alternative zu Logik, SeynsDenken oder Technikkritik ins Spiel. Aus der »tiefsten Tiefe des Geistes« soll die neue Mythologie entstehen, als »das künstlichste aller Kunstwerke« – künstlich zwar, doch nicht künstlich wie eine geistlose Maschine.11 Ein geistiges Ganzes, bei dem alles ineinan dergreift, muß immer »anders ausgedrückt« werden.12 Unmöglich wäre, die immer gleiche formale Operation zu wiederholen. Form des Ganzen ist die Arabeske: die »älteste und ursprünglichste Form der menschlichen Fantasie.«13 Statt logischer Konsequenz also kunst volle Verwirrung, statt Systemdenken »Fantasie«. In Arabesken tritt Verschiedenes zu Ähnlichem in »Nachbarschaften« zusammen, ohne »technisch« gestellt oder errechnet zu werden. Ein »Mythos« ist, wie Nachbarschaften, immer wieder aufs neue zu stiften. Er lebt von der Vielfalt der Zeichen. Damit ist er in mancher Hinsicht »moderner« als ein Mythos des Digitalen, der heute im Begriff steht, Heideggers Bild der Technik abzulösen. Denken als eine Art Rechentätigkeit zu betrachten, ist eine Idee des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. René Descartes und Thomas Hobbes knüpfen Rationalität an Algebra bzw. Mathematik. Julien Offray de la Mettrie spitzt Descartes’ Philosophie zu einer technischen Anthropologie zu. Menschen, »diese stolzen und eitlen Wesen«, seien wie »aufrecht kriechende Maschine(n)« zu betrachten.14 Errun genschaften menschlicher Kultur gelten ihm als Folge maschineller Symbolverarbeitung: »Alles ist durch Zeichen erreicht worden«.15 Georg Wilhelm Leibniz nimmt mit dem Projekt einer »mathesis uni
Schlegel, F.: Rede über die Mythologie. In: »Athenäums«-Fragmente und andere Schriften [1791/1801]. Stuttgart 2005, S. 190. 12 Ebenda, S. 191. 13 Ebenda, S. 195. 14 La Mettrie, J.O.d.: L’homme machine/Die Maschine Mensch [1747]. Hamburg 1990, S. 125. 15 Ebenda, S. 53. 11
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3 Diskretes und Unendliches
versalis« die Rechenmaschine vorweg.16 Wissenschaftslogische Ideen des 20. Jahrhunderts – etwa Rudolf Carnaps oder des frühen Ludwig Wittgenstein – von einer Universalsprache, in der jedwede Erfahrung symbolisch codiert werden könnte, wurzeln in dieser Tradition.17 Alan Turing zog daraus die Konsequenz, die ontologische Differenz zwischen Mensch und Maschine in Frage zu stellen, sobald Menschen nicht mehr unterscheiden können, ob sie mit einem Menschen oder einer Maschine kommunizieren.18 Ontologische Unterschiede ver wandeln sich in operative Unterscheidungen. Quantenphysik, Mathe matik nichtlinearer Funktionen und Informatik konvergieren in der Vermutung, das Universum sei als Quantencomputer vorzustellen.19 Maschinales Prozessieren diskreter Symbole ermöglicht unendliche Rekombinationen von Mustern als Abfolge von Zuständen. Weil operative Zustände direkt nichts sinnhaft »bezeichnen«, kommt es auf hermeneutisches »Verstehen« nicht an. Errechnete Muster aus ungeordneten Ausgangsdaten können deshalb Antworten auf noch nicht gestellte Fragen geben – und Ordnung aus Zufall kreieren. Das erklärt die universelle Anwendbarkeit digitaler Maschinenprozesse, deren Operationen verknüpfen, was zuvor anders – zum Beispiel kategorial – unterschieden war.20 Für die Entstehung moderner Gesellschaften war das Erlernen des Umgangs mit diskreten Größen bedeutsam. Märkte, Organisatio nen und Entscheidungstexturen wurden als Wahrscheinlichkeitsord nungen modellierbar, ohne im klassischen Sinne »gewußt« werden zu müssen. Diesen Umstand trifft Heideggers Kritik: »Denken«, im emphatischen Sinne, wird im Rahmen mathematisch basierter 16 Vgl. Descartes, R.: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wis senschaftlichen Forschung [1637]. Hamburg 1960; Hobbes, Th.: Leviathan [1651]. Stuttgart 1970, S. 40; Leibniz, G.W.: Dialog/Dialogus [1677]. In: Philosophische Schriften Bd. IV. Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft. Darmstadt 1992, S. 23–37. 17 Vgl. Carnap, R.: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache [1931]. In: Schleichert, H. (Hrsg.): Logischer Empirismus – der Wiener Kreis. Mün chen 1975, S. 149–171; Wittgenstein, L.: Tractatus logico-philosophicus [1922]. In: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1989, S. 7–85. 18 Vgl. Turing, A.: Kann eine Maschine denken? [1950] In: Kursbuch 8 (1967), S. 106–138. 19 Vgl. Mainzer, K.: Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data. München 2014, S. 124. 20 Vgl. Dyson, G.: Turings Kathedrale. Die Ursprünge des digitalen Zeitalters. Berlin 2014.
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Evidenz überflüssig. Im Bewußtsein auftretende Einsichten sind jedoch weder diskrete Größen noch fest umrissene Zustände. Wahr scheinliches läßt sich, als Zukünftiges und Mögliches, in statistischen Verfahren zu gegenwärtig Wirklichem, weil ökonomisch Verwertba rem oder technisch Herzustellendem verwandeln.21 Nichtseiendes ist berechenbar wie Seiendes. Digitale Operationen verknüpfen und beschleunigen Unterscheidungsprozesse, die in sozialen Interaktio nen angelegt sind, auf eine Weise, die asemantische Abstraktion mit Zurechenbarkeit kombiniert.22 Identität entsteht durch wieder holbare Operationen über diskreten Größen. Feste Bezugspunkte von Werten weichen relationalen Abständen, die rekursiv bestätigt oder verschoben werden. Diskontinuierliches, stellt bereits Bergson fest, erscheint uns als eigentlich Reales, begegnet es doch als aktual Unterscheidbares und Unterschiedenes.23 Mathematische Zeichen geben praktikable Formen an die Hand, um Wirkliches in diskreten Operationen zu modellieren und in Kommunikation zu übersetzen.24 Obwohl abstrakt, rufen sie die Illusion ontologischer Natürlichkeit hervor. Was nicht diskret ist, erweckt den Eindruck von Unordnung. Bewegung, Fließen oder Evolution bilden Gegenbegriffe, die in Ord nungsformen diskreter Unterscheidungen nicht zu beschreiben sind. Sie bezeichnen Unendliches. Digitale Maschinen simulieren Konti nuität als unendliche Funktion von Diskretem: Unendliches tritt hier als kontinuierliche Transformation auf. Weder muß es auf ein Telos verweisen noch in einem Ursprung gründen. Intuitiv – nicht begrifflich – ist Unendliches menschlicher Wahr nehmung als Strom des Bewußtseins oder als Welthorizont vertraut. Reflexiv zeigt es sich im Scheitern der Versuche, die Bestimmtheit von Bestimmtem zu fassen. Begriffe, die sich dem Wahrnehmungs bewußtsein unterschieben, treten als Symbole auf, die, im Modus ihrer Wiederholung, unendlich Bestimmtes attrahieren. Je allgemei ner sie werden, desto mehr nähert ihre Bestimmungskraft sich Vgl. Esposito, E.: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt/M. 2007. Für Armin Nassehi bringen digitale Prozesse die Form der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft nicht nur zum Ausdruck, sondern beschleunigen und steigern deren Komplexität. Heideggers Bild der Technik und der Rolle kybernetischer Informationen erscheint ihm als prophetische Sicht auf die Transformation sinnver arbeitenden Verstehens in asemantische Datenmuster. Vgl. Ders.: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München 2019, bes. S. 82ff. 23 Bergson, H: Schöpferische Evolution [1907]. Hamburg 2013, S. 178f. 24 Vgl. ebenda, S. 251. 21
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3 Diskretes und Unendliches
dem Unendlichen an – und desto leerer wird ihr Vermögen, Dis kretes zu bestimmen. Definitionen – begriffliche Distinktionen, die Eigenschaften mengenlogisch ordnen – sollen der paradoxen Konvergenz maximaler Allgemeinheit und höchster Wirklichkeit Einhalt gebieten. Doch jeden Begriff ereilt das Schicksal bestimmter Unbestimmtheit: Als Funktion läuft er ins Unendliche, wobei er tendenziell seine Distinktionskraft verliert. Schlegels Poetik hinge gen möchte dem Unendlichen wirklichkeitserschließende Energie zurückgeben. Eine Poetik kann sich den Umstand zunutze machen, daß die symbolische Form des Unendlichen nicht ausschließlich an mathematischen Notationen haftet: Sie verweist auf Übergänge, die ihre Vergangenheit in vektorielle Bestimmtheiten vererben, die Potentiale unendlicher Verwandlungen realisieren. Für naturphilo sophisch-physikalische Theorien ist der Gedanke des Unendlichen ebenso attraktiv wie für ästhetische Formbildungen und Fiktionen, da er nichtskalare Transformationsordnungen bezeichnen kann. Alfred North Whitehead spricht in seiner Kosmologie mit Blick auf Spinozas Naturphilosophie von einer »causa sui« der »Einzelwesen« in einem kreativen Universum.25 Statt um diskrete Formen geht es hier um Verdichtungen der Komplexität universeller Relationen, in denen das Ganze einer Ordnung sich prozessual manifestiert. Solche Prozesse nennt Whitehead »rhythmisch«.26 Auch »alle grundlegenden physi kalischen Prozesse (sind, DR) vektoriell und nicht skalar.«27 Wahrneh men, Empfinden und Denken stehen in kontinuierlichen Relationen. Denkweisen, wie sie für menschliche Wesen charakteristisch sind, entstehen, wenn Symbole im neuronalen System von Organismen evolutionär zum Vorschein kommen und sich zu einer sinnhaften »Welt« verdichten.28 Selbst- und Weltbezug, zeitliche Verhältnisse im Bewußtsein, Koordinationen leiblicher Bewegungen und Empfindun gen mit Intentionen und Handlungen oder Verkettungen eigener mit fremden Perspektiven in einer dezentrierten Welt werden durch Zei chen rhythmisiert. Sie verdichten das Universum zu Intensitäten, die Gedanken – nicht: dem »Denken« – gleichen, weil sie pulsierende Ver 25 Whitehead, A.N.: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie [1929]. Frank furt/M. 19952, S. 406f. 26 Ebenda, S. 283. 27 Ebenda, S. 330. 28 Eine sinnhafte »Welt« zu haben, unterscheidet menschliches Wahrnehmen und Denken von den meisten tierischen Formen des Symbolverstehens.
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weisungszentren des Sinns erschaffen. Entitäten aller Art gelangen als Aktivitäten zu dynamischer Existenz. »Deshalb besteht die Natur des aktualen Dings in seiner Relevanz für andere Dinge, und die Indivi dualität des aktualen Dings besteht in seiner Synthese anderer Dinge, soweit wie diese für es relevant sind.«29 Whiteheads Kosmologie und Schlegels Poetik konvergieren in der Verschränkung natürlicher, geis tiger und symbolischer Prozesse. Dynamische Entitäten existieren als historische »Routen« vektorieller Verknüpfungen. Höher entwi ckelte Lebewesen formen mit Hilfe von Symbolen ihre unmittelbar in der Wahrnehmung angelegte Verflochtenheit mit der Umwelt zu eigendynamischen Unterscheidungsordnungen. Erfahrung reichert sich mit Gestalten, Kontrasten und Relationen an, wie sie anderen Existenzformen – Steinen, Pflanzen oder den meisten Tieren – nicht zugänglich sind. Ihre Zeitlichkeit – die Art, wie sie ihre »Route« durch den Übergang von Zustand zu Zustand organisieren – wird durch symbolische Rhythmisierungen bestimmt. Was als Späteres oder Früheres, Aktuales oder Erwartetes infrage kommt, hängt ebenso von unmittelbaren Wahrnehmungen und physiologischen Reaktio nen ab wie von symbolischen Unterscheidungen, Rekursionen und Verdichtungen. Neue Entitäten und Relationen kristallisieren sich aus einer physiologischen Wahrnehmung heraus, ermöglichen schnelle Verknüpfungen und eigene Verkettungsweisen, bis sie schließlich zu einer reflexiven Ordnung entfaltet sind, die sich als »Vernunft« auf sich selbst bezieht.30 Auf dem Weg vom Instinkt zum Denken organisieren Symbole physiologisch-leibliche und soziale Existenzweisen der Lebewesen um. Vitale Strebungen, emotionale Neigungen, kognitive Unterschei dungen und soziale Nachbarschaften werden konzentriert und mit Komplexität aufgeladen. Ohne Verankerung in leiblich habitualisier ten Wahrnehmungen könnten Symbole diese Funktion nicht erfüllen. Deshalb gilt in Whiteheads Augen die Sprache als Zeichensystem, das eine zugleich physiologische wie intelligible, soziale und responsive Struktur erzeugt. In dieser Hinsicht unterscheiden Sprachzeichen sich von digitalen Zeichenformen. Symbolprozesse erzeugen Übergänge zwischen Verschiedenheiten von Ähnlichem, deren Mehrdimensio nalität sich einer einzigen Vergleichsordnung entzieht. Es gehört, wie Charles Sanders Peirce notiert, zum Wesen des Universums, 29 30
Whitehead, A.N.: Kulturelle Symbolisierung [1927]. Frankfurt/M. 2000, S. 85. Vgl. ebenda, S. 128.
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4 Wie wir sehen
sukzessiv, als Prozeß, »Ähnlichkeiten an eindeutigen Relationen der Unähnlichkeit aufzuweisen.«31 Prozesse verdichten sich zu Ordnun gen, indem sie aus Zufällen Strukturen erzeugen, die von anderen Prozessen aufgegriffen, verstärkt, modifiziert oder verkettet werden. Personen kommen in der universalen Prozessualität vor als »eine gewisse Art der Koordination oder Verknüpfung von Ideen«.32 Ordnungen sind weder zufällig noch notwendig. Anfang oder Ende sind in keinem einzigen Bild ihres Zustands zu fixieren. Ähnlich keiten und Übergänge bleiben situativ, perspektivisch veränderlich und an Zeichen gebunden: Metaphern, Gesten, Bilder oder Töne ord nen nicht etwa einheitliche Informationen bloß anders; sie erschaffen bewegliche, nichthomologe Bedeutungsräume. Heideggers Begriff des »Denkens« blendet den kreativen Charakter solcher Reflexions leistungen ab, weil er statt auf Komplexitätsgewinne in der Fülle des Sinns auf eine Entleerung von Bedeutung setzt.
4 Wie wir sehen Von »Daten«, deren diskrete Bestimmtheit sich in logischen Ordnun gen repräsentieren, als Kalkül ordnen und technisch prozessieren läßt, sind Symbolprozesse verschieden. Weltgesättigt, unterscheiden sie sich vom »Denken«, im Singular, durch ihre schöpferische Natur. Als qualitative Ordnungen werden Symbolprozesse reflexiv zugänglich, wenn Interventionen in die Fülle des Sinns gelingen, die perspekti visch Gestalten des Wirklichen und Möglichen, Kontraste und Ver gleiche hervorbringen. Etwas zu bestimmen verlangt, es im Horizont sinnhafter Unterscheidungen und Verweisungen auszulegen. Dabei entstehen Formen, die weder zum Erscheinenden analog sind noch autonome Operationen logischer oder mathematischer Art bilden. Friedrich Schleiermacher spricht davon, das »Geschäft der Hermeneu tik« trage »den Charakter der Kunst an sich ..., weil mit den Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist, d.i. nicht mechanisiert werden kann.«33 Statt etwas in diskreten Unterscheidungen zu bestimmen Peirce, Ch.S.: Notizen über Evolution und die Architektonik von Theorien [ca. 1890]. In: Ders.: Naturordnung und Zeichenprozeß. Frankfurt/M. 1991, S. 126–140, hier 128. 32 Ders.: Das Gesetz des Geistes [1891–1892]. In: ebenda, S. 179–209, hier S. 205f. 33 Schleiermacher, F.: Hermeneutik und Kritik [1838]. Frankfurt/M. 1977, S. 81. 31
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oder zu errechnen, geschieht die Arbeit des Auslegens »als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegen wart beständig vermitteln.«34 Zwischen Bestimmen, Unterscheiden und Erzeugen verschwimmen die Grenzen. Über welche symboli schen Unterscheidungen Unterschiede aufgebaut werden, ist konsti tutiv für den Gegenstand wie für dessen Beobachtung. Explorative Interventionen bleiben singuläre Unternehmungen – exemplarische Beispiele, die zur Fortsetzung einladen, indem sie neue Ähnlichkeiten anregen. Jeweils aufs neue müssen sie sich empirisch bewähren. Harun Farocki hat in seinem Film »Wie man sieht« (1986) ein Modell solcher Reflexion vorgeführt. Verschiedenheiten und Ähn lichkeiten zwischen Denken, Rechnen und Reflexion sind daran zu sehen. Ein Gewebe von Grafiken, Fotografien, Texten, Zeichnungen, Filmsequenzen und Off-Kommentar spannt einen Verweisungskon text auf, der um die Themen Technik, Arbeit, Natur, Sehen, Kör per, Industrie, Krieg, Sexualität und Tod kreist. Anthropologische Besonderheiten wie der aufrechte Gang und die frei bewegliche Hand treten in Verbindung mit Weisen, sehend Natur zu ordnen. Graphisch als Blickachsen dargestellt, werden sie zu Gedanken, finden Eingang in Modelle und technische Artefakte, um schließlich eine Welt zu erschaffen, in der Menschen, als organische Wesen, mit ihren Werkzeugen, Sinnen und Denkweisen unauflösbar verbunden sind. Webstuhl und Computer macht der Film als Technologien vergleichbar: Beide erzeugen semiotisch und mechanisch definierte Verknüpfungen. Gemeinsam ist ihnen die allmähliche Entsinnlichung von Arbeitsprozessen. Siedlungsgeschichte, Verkehrswegeplanung, Naturauffassungen und Fortbewegungstechnologien – vom Pferd bis zum Flugzeug – beinhalten Blicke auf das, was jeweils als Natur gilt. Farockis Film bietet Anschauungen dafür, was Heidegger als Geburt der »Technik« beschreibt. Weil der Film Zusammenhänge aber weder erklärt noch drama turgisch zuspitzt, erschließt er sie für Reflexionen, die Phänomene ordnend auslegen. Sichtbares, das Einsichten darüber eröffnet, »wie wir sehen«, präsentiert sich als Oberfläche gleich wichtiger Elemente, deren Bedeutung in ihren Beziehungen liegt. Beziehungen treten durch Unterscheidungen hervor, die der Film als Schnitte akzentu iert. Offensichtlich handelt es sich um künstlerische Interventionen, 34 Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Her meneutik [1960]. Tübingen 19754, S. 274f. (Hervorhebung im Original).
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4 Wie wir sehen
nicht um transzendentale Funktionen. Farockis Blick lädt Zuschauer zu einem Sehen ein, das lange bei Einstellungen, Motiven oder Wiederholungen verharrt. Cuts verbinden, was sie trennen und als Unterschiedenes vergleichbar machen. Nichts ist, für sich betrachtet, zunächst bedeutungsvoller als anderes. Handlungsdramaturgie gibt es nicht; geduldig werden Materialien zusammengetragen. Urteile versagt der Film sich. Immer wieder hält er inne, gewährt Zeit zum Nachdenken über angebotene Vergleiche, um sodann die Reihe der Beispiele fortzusetzen. Im Sehen wird denkbar, »wie man sieht«, indem Zuschauer aktiv Unterschiedenes verknüpfen. Was Webstuhl und Rechner vergleichbar macht, nämlich ihre Fähigkeit, Verknüpfun gen herzustellen, wiederholt Farockis Film, indem er Webstuhl und Rechner ins Verhältnis setzt – nicht mechanisch oder algorithmisch, sondern im Vollzug der reflektierten Wahrnehmung von Betrachtern in Bezug auf die Darstellungsform des Film-Bildes. Dessen artifizielle Form wird auf diese Weise mit Webstuhl und Rechner vergleichbar, ohne zu diesen analog zu sein. Langsamkeit dient der Prägnanz. Zuschauern wird ihre Arbeit des Sehens so bemerkbar, daß sie in Evidenz umschlägt. Doch geht Evidenz in keiner konkreten Anschauung und in keinem einzelnen Bild auf. Hier spielt der Film seine Vorteile aus. Simultan bieten Filme der Wahrnehmung unterschiedliche Bilder, Worte, Zeichen und Bewegungsmuster an. Wiederholungen von Bildern, Sätzen oder Motiven in neuen Konstellationen verdichten, verknüpfen und stabilisieren mögliche Beziehungen. Zwischen der Position eines Soldaten auf dem Schlachtfeld, militärischen Taktiken, errechneten Effekten von Waffen und Angriffstechniken bis zur Bedeutung geo metrischen Zeichnens, computerbasierter Konstruktionsverfahren, der Bedeutung des Todes oder der symbolischen Funktion von Waffen auf Emblemen von Terrorgruppen entstehen Zusammenhänge, die gedacht werden, weil der Film die Zuschauer sie erfahren läßt, indem er Unterscheidungen und Kontraste zeigt. Der Film läßt Zuschauer Ähnlichkeiten zwischen Webstuhl und Computer auf eine Weise sehen, die von der Organisation des Webstuhls und des Rechners verschieden ist. Seinerseits ist der Webstuhl dem Computer auf eine Weise nicht ähnlich – wenngleich seine Unähnlichkeit auf eine andere Weise seinem Gegenstand nicht ähnlich ist als die reflektierte Wahrnehmung seiner Zuschauer –, daß er sich für Vergleiche des Verschiedenen als Ähnlichem in der ihm eigenen Ordnung eignet. Als Nichtähnliches vermag er Webstuhl und Computer in einen
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Vergleich zu rücken, der Vergleiche zwischen der Arbeit des Sehens, die Zuschauer verrichten, der symbolischen Ordnung des Films und den Funktionen zweier Maschinen – Webstuhl und Computer – stimuliert. In der Ordnung der Bilder entsteht allmählich ein Bild, das mehr und anderes ist als die Summe seiner Teile oder ein Allgemeines über Besonderem. Ebensowenig ist es Resultat einer kalkulierten Kette von Operationen, die im Bewußtsein der Zuschauer ihren vorhersagbaren Niederschlag finden. Im Rückblick erscheint der Film als Bild, das auf prinzipiell unendliche, weil über den Rahmen des Films hinausweisende Bilder verweist, die dadurch, daß sie in die Reihe der gezeigten Bilder aufgenommen werden, als verschiedene Bilder ähnlich werden. Betrachter provozieren sie zu Überlegungen, ob Ähnlichkeiten, die sie im Verschiedenen zu erkennen meinen, Ähnlichkeiten sind, die in der Sache gründen, auf die Bilder referieren, oder ob Referenz ein Effekt der Reihe ähnlicher Bilder ist. Wie stabil die eine oder andere Vermutung ist, hängt unter anderem davon ab, wie häufig der Film bestimmte Kombinationen von Bildern wieder holt und damit auf – vielleicht trügerische – Weise Ähnlichkeiten hinter den Bildern suggeriert. Solche Ähnlichkeiten werden jedoch nur als wahrnehmbare Bilder denkbar. Je mehr Bilder auftauchen, desto stabiler scheint das Wirkliche als etwas zu werden, was erwartet werden kann. Andererseits bemerken Zuschauer, daß dieser Zusam menhang nur für sie gilt und mit der Wirkung auf andere Zuschauer, mit deren Bildern und Erwartungen verglichen werden müßte. Farockis Bildertableau appelliert an die Urteilskraft der Zuschauer. David F. Noble, dessen Studie über die Computerisierung der Werkzeugmaschine in den 1960er Jahren Farocki explizit zitiert und dessen Buch er als Bild im Film zeigt, fragt nach Verschränkungen von Technikentwicklung und deren gesellschaftlichen Auswirkun gen. Numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen stehen für Noble in Verbindung mit der Entkopplung von Produktion und Planung, der Ersetzung lebendiger Arbeit durch Maschinen, Veränderungen von Kontrollstrukturen in Unternehmen oder Neujustierungen des politischen Einflusses von Gewerkschaften. Computer begegnen als Schnittstellen unterschiedlicher Logiken und Handlungsweisen. Risi ken vermutet Noble in einem ausschließlich technologisch fundierten Verständnis von Zeit und Rationalität als eines notwendigen Zusam menhangs, der von Geschichte entlastet: »Eine leichtfertige Hinwen dung an die Zukunft ist das anerzogene Verhalten der Techniker in unserer Gesellschaft und damit von Menschen, die sehr oft bedenklich
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(und manchmal gefährlich) unwissend bezüglich der Vergangenheit und Gegenwart sind. Sich ihrem Verhalten anzuschließen, würde bedeuten, die Urteilsfähigkeit aufzugeben und der kritischen, kon kreten historischen Untersuchung der Gegenwart vorzugreifen, die uns allein vernünftig in die undurchsichtige Zukunft führen kann.«35 Maschinal vorgestellte Raum-Zeit-Ordnungen entlasten, um den Preis eines Verzichts auf Reflexion, alternative Möglichkeiten und verantwortliches Entscheiden. »Wie man sieht« läßt sich als Arbeit an einer solchen Untersuchung der Gegenwart im Medium des Films verstehen, deren Funktion darin besteht, mit ihrer Unterscheidungs ordnung die Urteilskraft der Zuschauer herauszufordern. »Denkbares« zeigt sich als Gestalt einer Wahrnehmungserfah rung im Vollzug praktisch-gestaltender Verhältnisse zur Welt. »Welt« wiederum begegnet als Horizont unendlicher möglicher Erfahrungen, als, wie Martin Heidegger es ausdrückt, »ein Ganzes von Bedeutsam keit, in deren Verweisungsbezügen das Besorgen als In-der-Welt-sein sich im vorhinein festgemacht hat.«36 Weder ordnet »Denken« eine sinnliche Welt intelligibel um, noch stellt es einen analogen Abdruck sinnlicher Eindrücke dar, die es anschließend verrechnen müßte. Es entspringt einer Rekursivität, die Selbstverhältnisse hervortreibt, die, als Reflexion, schöpferisch Form und Inhalt transformieren. Ohne auf einen zweifelsfreien Grund zu rekurrieren, überlassen sie sich einer Phänomenalität, die sie symbolisch ordnen. Darin kommt eine nichtkategoriale Synthesis zum Zuge. Selbst und Welt stabilisieren einander wechselseitig in einer symbolisch verschränkten Relation, deren Relata nicht substanziell unterschieden sind. Kognition, die etwas unterscheidet und symbolisch wiederholbar macht, Tätigkeit, die Unterschiede hervorbringt, und Gefühl, das beides in den Tiefen leiblich-seelischer Dispositionen verankert, greifen ebenso ineinan der, wie Sehen, Sprechen, Zählen oder Hören – wie Bilder, Sprache, Zahlen oder Klänge – miteinander verwoben sein können. Von einem Cartesianischen »Cogito« oder einer Kantischen Ver standesarchitektur sind Selbstverhältnisse verschieden, verdanken sie sich doch intentionalen Wahrnehmungen, die über gerade Gegebenes hinausweisen, im Verhältnis zu dem sie sich reflexiv bemerkbar wer den können. Intentionalität erschließt die »Welt« über das konkrete 35 Noble, D.F.: Maschinen gegen Menschen. Die Entwicklung numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen. Stuttgart 1979, S. 33. 36 Heidegger, M.: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 197915, S. 151.
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Dieses hinaus als Kontext möglicher Relevanzen, Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten. Edmund Husserl charakterisiert die Form des Bewußtseins als vektorielle Aufmerksamkeit: »Der Anfang des wahr nehmenden Aktes mit der Zuwendung ist zwar schon ein Bewußtsein des Seins bei dem Objekte selbst – Wahrnehmen ist ja Bewußtsein der Erfassung des Objektes in seiner sozusagen leibhaften Gegenwart. Aber die Tendenz vom Ich her ist mit dem Einsatz der Zuwendung noch nicht zu ihrem Abschluß gekommen. Sie ist zwar auf das Objekt gerichtet, aber zunächst bloß abzielend darauf. Wir können sagen es ist mit ihr ein Interesse am Wahrnehmungsgegenstand als seiendem erwacht. (...) Es ist nicht nur ein fortgehendes Bewußthaben, sondern ein Fortstreben zu neuem Bewußtsein als ein Interesse an der mit dem weitergehenden Erfassen eo ipso sich einstellenden Bereiche rung des gegenständlichen ›Selbst‹.«37 Aus aktualen Bezugs- und Relevanzsystemen zeigt »Welt« sich als Feld möglicher Ordnungen, die im Vollzug zu realisieren und zu bestätigen sind. Erfahrung ist stets eine von jemandem, der so in die Welt verstrickt ist, daß seine Erfahrung auf Erwartungen hin tendiert und zu Enttäuschungen fähig ist. Was Erfahrung heißen kann, erfahren wir wiederum mit der Hilfe symbolischer Darstellungen, in deren Licht wir unser eigenes Leben reflektieren. Romane und Erzählungen beispielsweise führen vor Augen, wie sich die Einheit der Erfahrung reflexiv konstituiert, indem sie nur indirekt »sagen«, was »wahr« ist. Im Wort scheint auf, was sich zwar phänomenal in der Erfahrung zeigt, ohne daß es doch unvermittelt, direkt oder definierend zum Ausdruck gebracht werden könnte. Artikulierte – zu Gedanken gewordene – Erfahrung flüchtet vor dem Singular. Sie wohnt in Faltungen und Dissonanzen sinnhaf ter Ordnungsformen, aus denen heraus sie sich als etwas schmerz haft und deshalb unbezweifelbar Entziehendes bemerkbar macht. »Gedanken« sind indirekt. Vom »Denken« bleiben sie verschieden. Ihr Sich-Entziehen bekräftigt ihre Wirklichkeit und Welthaltigkeit. Was Menschen existentiell angeht und im höchsten Grade wirklich ist, bleibt so sehr auf symbolische Artikulation angewiesen, daß die
Husserl, E.: Erfahrung und Urteil [1939]. Hamburg 19856, S. 86f. (Hervorhebung im Original gesperrt).
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höchste Wahrheit des Ausdrucks sich im reflektierten, symbolisch inszenierten Entzug von Direktheit meldet.38 Farockis Film arbeitet die Zeichenstruktur von Erfahrung und die Führung der Wahrnehmungsintentionalität durch eigenlogische Ver kettungen symbolischer Unterscheidungen heraus. Anders als her meneutische Explikationen, die, wie im Falle Gadamers, ihr Modell in der natürlichen Sprache finden, um Abstand von Husserls »Wesen heiten« zu gewinnen, faßt Farocki nicht primär sprachliche Zeichen ordnungen ins Auge. Sein Film demonstriert, wie Erfahrung, soll sie zu »Gedanken« werden, durch unterschiedliche Zeichenordnungen strukturiert wird, deren Replikas den Gedanken Rekursivitäten erlau ben, die auf unvorhersagbare Weise Neues ermöglichen. Differenzen zwischen Zeichenordnungen, wie Farocki sie inszeniert, erzeugen dissonante Resonanzen, die in ihrer nichthomologen Verschiedenheit bemerkt, aber denkend nicht zur Einheit gebracht werden können. Was erscheint, sind keine Strukturgesetze, die in allen möglichen Welten Geltung beanspruchen. Es sind Vergleichsordnungen, an denen Unterscheidungsprozesse hervortreten. Auch das »Rechnen« begegnet darin als eine mögliche Weise des Arrangierens von Erfah rung. Fiktionale Objekte fingieren die Welt um – auf andere Weise als im Modus eidetischer Variation. Spricht Bernhard Waldenfels in seiner Transformation der Husserlschen Phänomenologie zu einer genetischen Strukturtheorie der Erfahrung von einer konstitutiven Responsivität aller Auslegungen, verweisen Artefakte wie Farockis Film auf eine Reflexionsarbeit, die praktisch zunächst erzeugt, wozu sie sich ins Verhältnis setzt, um sich zur Welt und zu sich selbst ver halten zu können.39 »Evidente« Erfahrungen, die sich im »Denken« als profilierte Gestalten vom Wahrnehmungsgeschehen abheben, »zeigen sich« phänomenal in hervorragender Weise an ästhetisch geformten Artefakten, deren »Bestimmtheit« aus den Registern gewöhnlicher Zeug-Zusammenhänge herausfällt. Unberechenbar keiten erfahrungssensiblen Denkens lassen Aussagen entgleisen, die ein Was des Erscheinenden fixieren möchten. Erfahrung, je mehr sie sich zur Reflexion provoziert sieht, wird an sich selbst irre, weil sie in 38 Tim O’Brien hat die Paradoxie dieser Anstrengungen daran entwickelt, was es bedeutet, »wahre Geschichten« vom Krieg zu erzählen. Vgl. Ders.: The Things They Carried. Boston 1990, S. 65–80. 39 Vgl. Waldenfels, B.: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2. Frankfurt/M. 1998, S. 19ff.
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»Denken« nicht aufgeht, das, in Erfahrung verstrickt, sich selbst als Anderes erfährt – »Wie wir sehen«. Menschlichen »Gedanken« kommen, wie Farockis Film demons triert, Algorithmen nicht nahe. Damit ist kein Defizit der Maschinen, sondern eine Differenz im Umgang mit Komplexität bezeichnet. Algorithmische Ordnungen modellieren in Form mathematischer Symbolisierungen Unterscheidungsketten aller Art. Die Universalität einer so angelegten Theorie komplexer Netzwerke basiert auf mono symbolischen Codierungen. Symbolische Komplexität erscheint aus dieser Perspektive lediglich als Erweiterung von Speicherkapazität. Dissonante Resonanzen einer vielfältig geordneten Welt weichen dem Ideal der Kommunikation eindeutiger Unterscheidungen.40 Rechner arbeiten monosymbolisch, nicht diagrammatisch. Hingegen ist menschliches Verstehen eine Praxis des Auslegens, die expliziert, was sich direkt nicht »sagen« läßt. Martin Heideggers Rede vom »Entwurf« des Daseins zielt auf »Bedeutsamkeit als die Weltlichkeit seiner jeweiligen Welt« oder als »Spielraum des faktischen Seinkön nens«.41 Formallogisch oder mathematisch läßt sich nicht modellie ren, was, als Selbst- und Weltverhältnis, »seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist«.42 Intensität geht mit dem Abhandenkommen eindeutiger Relationen, Vorstellungen oder Anschauungen einher. Doch bleibt das Abhandenkommen von Eindeutigkeit von einem »Denken« verschieden, das Erscheinendes lichtet. Kraft entfaltet es in »Nachbarschaften«, die zu stiften sind.
5 Bildmaschine Je mehr Beispiele Farockis Film versammelt und je häufiger Zuschauer ihn anschauen, desto mehrdeutiger und vielfältiger werden Verglei che, die sich anbieten. Reflexion und Wahrnehmung erscheinen nun selbst als Aspekte eines Unterscheidungsprozesses, der unter dem Begriff der Montage von Filmemachern analysiert worden ist. Farockis Umgang mit den Mitteln der Montage unterscheidet sich hier in instruktiver Weise von Sergej Eisensteins Theorie des Filmschnitts. Im Kontrast zeigen sich komplementäre Auffassungen davon, wie 40 41 42
Vgl. Kurzweil, R.: How to Create a Mind. New York 2012, S. 122f. Heidegger, M.: Sein und Zeit. A.a.O., S. 145. Ebenda.
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Wahrnehmungen, Denken und Zeichenformen zusammenhängen, indem sie symbolische Komplexität erschaffen. Eisensteins Theorie filmischer Massenerziehung gründet auf der Macht schneller Schnittsequenzen, die das Zuschauerbewußtsein überfordern und ihm so eine Sicht aufzwingen.43 »Wie wir sehen« soll unsichtbar werden im Akt des Sehens, der seinerseits als virtuose Inszenierung sichtbar ist. Wahrnehmung und Denken werden in der ästhetischen Form der Bilder mechanisch organisiert. Technisch organisierte Wahrnehmungen sollen in ein Denken münden, dessen Wahrheit die Propaganda ist. Die »Bearbeitung« der Zuschauer »in einer gewünschten Richtung mittels einer Folge vorausberechneter Druckausübungen auf seine Psyche« ist das Ziel.44 Wie »Schlagbol zen« sollen Filmbilder auf Bewußtsein und Gefühl wirken.45 Statt etwas zu demonstrieren, bietet der Film »eine tendenziöse Auswahl und Zusammenstellung von Ereignissen«.46 Schnitte sind das wich tigste Mittel für die »Kunst der Kopplungen« von »Assoziationen in der Psyche des Zuschauers«.47 Eisenstein bewundert in dieser Hinsicht amerikanische Kriminalfilme und Komödien. Gleiche Mittel können offensichtlich für unterschiedliche Ziele Verwendung finden. Unterhaltung und Propaganda nutzen gleiche Instrumente, ohne deswegen dasselbe zu sein. Zergliederung, Auswahl, Kombination und Montage des Mate rials machen die Arbeit des Regisseurs aus. Filme gleichen darin einer Berechnung und mechanischen Organisierung von Kräften und Wirkungen. In der Wahrnehmung der Zuschauer treten kombinierte Elemente durch den Kontrast von Einstellungen in der Montage wieder zu dem Bild zusammen, aus dessen Idee sich Analytik und Berechnung der Montage erklären. »Die Gegenüberstellung beson derer Details in einem bestimmten Montageaufbau läßt in unserer Wahrnehmung jenes Allgemeine entstehen, das wiederum alle einzel nen Teile erzeugt hat und sie zu einem Ganzen verbindet, und zwar zum verallgemeinerten Bild, in dem der Künstler und nach ihm die
43 Vgl. Eisenstein, S.: Montage der Filmattraktion [1924]. In: Ders.: Jenseits der Ein stellung. Schriften zur Filmtheorie. Frankfurt/M. 2006, S. 15–40. 44 Ebenda, S. 15 (Hervorhebung im Original). 45 Ebenda. 46 Ebenda, S. 16. 47 Ebenda, S. 16f.
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Zuschauer das gegebene Thema erleben.«48 Dank der Schnitte in der Montage konstruiert ein Regisseur Wirkungen seines Films wie in einem Kalkül. Cuts im Film übernehmen bei Eisenstein Funktionen logischer Operatoren. Was als »Allgemeines« hervortritt, gleicht dem Resultat einer Gleichung. Gesehenes und Gedachtes werden als technisches Artefakt identisch. Deshalb sind sie politisch instrumen talisierbar, wie eine Maschine einem Zweck dient. Paradigmatisch für die Kraft und emotionale Wucht solcher Arrangements steht eine Szene in Eisensteins »Panzerkreuzer Potem kin« (1925). Zaristische Truppen feuern in eine friedlich demons trierende Menschenmenge auf der Freitreppe von Odessa, bis ein Schlachtschiff mit seiner Artillerie eingreift und gewaltsam die unge rechte Gewalt beendet. Ergreifend und von inzwischen klassischer Ikonizität ist das Bild einer Kinderfrau, der ein Soldat ins Auge schießt, wobei ihr Mund in einem Schrei anklagenden Entsetzens offensteht. Eisenstein zeigt die Maschine des Kampfschiffes im Bild eines sich drehenden Geschützturmes, dessen Konturen Ähnlichkei ten mit einem stählernen menschlichen Gesicht aufweisen. Donnernd spricht aus dem Geschützrohr ein revolutionärer Leviathan. Des sen maschinenhafte Logik repräsentiert den besseren revolutionären Menschen. Virtuos wechselt Eisensteins Montagetechnik Perspekti ven und Motive, bis Betrachter in dem emotional mitreißenden, zur Identifikation einladenden Kaleidoskop versinken. So überwältigend die Logik dieser Bildmaschine ist, geht sie im Kalkül der Schnitte doch nicht restlos auf. Der Sinn der Bilder ist mächtiger als deren propagandistische Anordnung. Eisensteins Respekt vor Hollywoods Fähigkeiten, mit Montagetechniken zu arbeiten, zeigt, daß er darum wußte. Alfred Hitchcocks virtuoser Einsatz der Montagetechnik in der Duschszene von »Psycho« (1960) oder die komplementär angelegte lange Eingangseinstellung von »Rear Window« (1954), in der die Kamera den Blick der Zuschauer kontinuierlich so führt, daß dieser eine Serie verschiedener Bilder kennenlernt, denen später als Bildformen Bedeutung zukommt, sind Beispiele dafür, daß Einstellung, Schnitt und Montage keineswegs nur wie eine logisch-ästhetische Maschinerie funktionieren. Wecken sie bei Betrachtern ein Bewußtsein für die Form der Bilder, laufen sie Eisensteins Pädagogik tendenziell zuwider. Effekte der Massen Eisenstein, S.: Montage 1938 [1938]. In: Ders.: Jenseits der Einstellung. A.a.O., S. 158–201, hier S. 162 (Hervorhebung im Original).
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erziehung weichen allenfalls der Bereitschaft politisch geschulter Betrachter, sich mit der Absicht des Regisseurs zu identifizieren. Schlagbolzen der Montage, wie Eisenstein sie kausal zum Einsatz bringt, klemmen, wenn die Form der Montage durchschaut und die Absicht der Manipulation bewußt wird. In der ästhetischen Reflexion geht der politische Impetus unter. Cuts werden bewußt als Inter ventionen, die Anschlüsse legen und Unterschiede arrangieren, wie Farocki sie zum Thema macht. Walter Murch, der als Cutter unter anderem »Apocalypse Now« betreute, beschreibt seine Arbeit als Orchestrierung und Harmonisie rung unterschwelliger Muster von Bildern und Tönen – eine Arbeit, die wenig mit logischem Kalkül oder Mechanik zu tun hat: »Das ist alles ziemlich rätselhaft. Aber es ist der Kern der ganzen Kunst.«49 Eisensteins Bild-Maschine kann demnach nicht zuverlässig funktio nieren, weil sie Dissonanzen des Sinns überspielt, die wesentlich zur Wirklichkeit der Fiktion beitragen. Verführungen der Aufmerk samkeit, Kontinuitäten und Rhythmisierungen von Bildfolgen orga nisieren ein Ganzes, das in jedem Detail wie auch als Komposition fesselt. Kontraste zwischen Bild und Ton spielen eine wichtige Rolle, da sie die Logik des Schnitts mit einer eigenen Art von Resonanz versehen. Traum und Wirklichkeit sind in der Eingangssequenz von »Apocalypse Now« schwer auseinanderzuhalten. Wird die Lautstärke eines Geräuschs leicht verstärkt, verleiht es einem Bild und dem Sinn einer Szene eigene Akzente. Farbklänge nehmen Einfluß auf die Intensität der Bilder. Musik läßt Bilder auf emotionalen Bahnen gleiten. Schnitte und Kombinationen von Bild, Klang, Rhythmus, Harmonik und Dissonanz verleihen dem Film seinen fiktionalen Cha rakter, der ihn geeignet macht, »wahre Geschichten« über die Welt zu erzählen. »Es ist völlig unmöglich, das durch eine rationale Entschei dung zu erreichen.«50 Natürlicher Wahrnehmung bleibt der Schnitt fremd. Filme geben sich als Gemachtes, als Artefakt, zu erkennen.51 Zugleich bieten sie sich damit als Modelle der Reflexion an. Weil der Film genuin unrealistisch ist, vermag er als sinnliches Arrangement Reflexivität zu motivieren und Wirkliches zu erhellen. Zwar ähnelt der Cut logischen Operationen darin, Zäsuren und Verknüpfungen zu organisieren; da Filme aber mit ihren symbolischen Möglichkeiten 49 Ondaatje, M.: Die Kunst des Filmschnitts. Gespräche mit Walter Murch. München, Wien 2005, S. 10, 29. 50 Ebenda, S. 267. 51 Vgl. ebenda, S. 49.
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Erfahrung organisieren, bleibt ihre Form von denjenigen einer Rech nung, einer Maschine oder eines Algorithmus verschieden. Wirkung entfalten Filme auch dann, wenn sie das Prinzip von Schnitt und Montage komplementär zur Auffassung Eisensteins verwenden. Harun Farocki folgt in »Wie wir sehen« weder der Strategie Eisensteins, noch arbeitet er mit einer Harmonisierung wie Murch. Bis hin zu stehenden Bildern wird die Einstellung gedehnt. Strecken weise gleicht »Wie wir sehen« einem Fotoalbum. Monoton gespro chene Kommentare aus dem Off erinnern an das Umblättern der Seiten im Album. Schnitte und Montagen zeigt Farocki überdeutlich. Dissonante Verweisungen bleiben ebenso wie offenbare Ähnlichkei ten stehen, um Evidenz aus der Reflexion des Gesehenen zu gewin nen. Statt aus einer Präsenz des Sichtbaren entspringt Einsicht aus Differenzen zwischen Sichtbarem und Denkbarem. Deren Ort ist die Bewegung der Reflexion als eines diagrammatischen symbolischen Prozesses. Schnitte halten als Differenz fest, was sie zusammenbrin gen, um es als Vergleichbares der Wahrnehmung anzubieten. »Wie man sieht« entwickelt explorative Kraft im Rückblick einer Reflexion, die auf ihre eigene Wahrnehmungsfundierung zurückkommt. Ohne Erfahrung wäre kein Denken möglich, doch käme keine Erfahrung ohne diagrammatische Zeichenprozesse reflexiv zustande. Digitale Formen erscheinen im Film selbst als Elemente diagrammatisch fundierter kultureller Leistungen, kaum als deren Prinzip. Betrachten wir Farockis Film als exemplarisches Beispiel für Reflexion, dann heißt Welt zu denken, sie in Kombinationen unterschiedlicher Zeichenfor men zu unterscheiden, in Erfahrungen zu inkorporieren, diese zu vollziehen und zu rearrangieren.
6 Reflexion und Gedächtnis Reflexion, als je gegenwärtiger Vollzug gestaltender Transformatio nen von Sinn, bleibt mit einem lebendigen Gedächtnis verwoben, aus dem heraus Verknüpfungen sich anbieten, Plausibilitäten erwachsen und Assoziationen Nahrung finden. Von einem Datenspeicher, der alles mit allem algorithmisch verknüpft, unterscheidet es sich. Es als Gedächtnis reflexiv zu erschließen, gelingt nie im ganzen und immer nur perspektivisch als Horizont von Interventionen. Frontaler Annäherung bleibt es ebenso verschlossen wie gegenüber Versuchen
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einer Inventarisierung. Ähnlich wie Max Weber es Anfang des 20. Jahrhunderts mit Blick auf die moderne Kultur beschreibt, stehen Menschen des 21. Jahrhunderts vor der Aufgabe, das Gedächtnis ihrer Gegenwart »denkend zu ordnen«, um Ansprüche auf »Geltung als Erfahrungswahrheit« anzumelden.52 Technische Architekturen der Datenerzeugung und Speicherung allein gewähren keine Auf schlüsse über Sinn und Bedeutung. Elektronische Speicher halten sowenig wie ihre papierbasierten Vorgänger Repräsentationen der Welt bereit. Suchmaschinen entlasten noch immer nicht von der Arbeit am Sinn: »Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen ...«53 Welt zu ordnen verlangt, Interventionen vorzunehmen, Kombinationen von Materialien zu erproben, Reihen von Kontrasten und Ähnlichkeiten zu erstellen und Möglichkeitsbedingungen des »Verstehens« empirisch zu variieren. Zwischen Max Webers »sinnverstehender« Soziologie und Michel Foucaults »genealogischen« Diskursanalysen treten Ähnlich keiten hervor, die sich aus der Arbeit an der Form des Unterscheidens, Ordnens und Inszenierens von Bedeutungsspuren ergeben. Reflexion unterscheidet sich von »Denken« auch dadurch, daß Strukturen, auf die sie trifft, weil sie diese hervorbringt, empirische Möglichkeitsbe dingungen ihrer selbst sind. Foucault hat vom »Archiv« als einem »historischen Apriori« gesprochen, das an die Stelle transzendentaler Strukturen oder universeller Logizität tritt. Ein historisches Apriori, als empirische Möglichkeitsbedingung, prägt, was erscheinen kann, was miteinander koexistiert, Gleichzeitigkeiten oder Abfolgen bildet, mehr oder weniger ähnlich ist oder was aus der Ordnung herausfällt und zu einem Zeitpunkt unsichtbar bleibt. »Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Linearität einschreiben und nicht allein 52 Weber, M.: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 19887, S. 146–214, hier S. 155. 53 Ebenda, S. 154.
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schon bei zufälligen äußeren Umständen verschwinden; sondern daß sie sich in distinkten Figuren anordnen, gemäß spezifischen Regelmäßigkeiten sich behaupten oder verfließen ...«54 Konzentriert Foucault seine historischen Analysen auf die Ord nung von »Aussagen« und bleibt damit auf sprachliche Spuren fokussiert, arbeitet das Gedächtnis simultan mit unterschiedlichen Registern symbolischer Formen. Reflexionen, wie sie exemplarisch an Farockis Film zu beobachten sind, greifen unterschiedliche symbo lische Artikulationsweisen auf, bringen sie in Bewegung, arrangieren sie so um, daß Muster der Verknüpfung zum Vorschein kommen – und verzichten doch auf die Erstellung eines historischen Archivs im Sinne Foucaults. Eine Poetik der Reflexion gelingt durch die Arbeit an Singularitäten, weniger durch die Formulierung von Gesetzen. Aussichtslos bleibt die Suche nach Fundamenten, Prinzipien oder Ursachen. In den Tiefen der Archive ruht kein Universalschlüssel des Verstehens. Das Flimmern der Zeichen sabotiert alle Hoffnun gen, jemals eine stabile Ontologie zu entziffern. Anfang und Ende möglicher Verbindungen bleiben im Schatten je aktualer Unterschei dungen und Interventionen. Kritik, die sich als wertende Stellung nahme zum Ganzen der Kultur verstehen möchte, scheitert an der Unbegründbarkeit ihrer Ansprüche. Ebenso wie »Werte«, zwischen denen das moderne Subjekt sich, wie Max Weber glaubt, letztlich entscheiden muß, um der Kontingenz seines Lebens zur Würde einer Person zu verhelfen, gründet die Kritik der Gegenwart in Strebun gen von »Einzelwesen« (Whitehead) oder »Dasein« (Heidegger), die ihre vektorielle Bahn durchs Universum ziehen. Friedrich Nietz sches Genealogie und Alfred N. Whiteheads Kosmologie eröffnen darauf ebenso Blicke wie Martin Heidegger, der Webers Diagnose des metaphysisch heimatlosen, ungetrösteten modernen Menschen als »Geworfenheit« des Daseins umformuliert. Statt Erkenntnis, die, was ist, am Gegebenen vermeintlich abliest, legen diese Perspektiven eine Arbeit der Beschreibung nahe, die den Sinn – die Kultur – expliziert, in der sie verankert bleiben. »Die Auslegung ist nicht die Kenntnisnahme des Verstandenen, sondern die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten.«55 Verwandtschaften zwischen phänomenologischen, hermeneutischen, semiotischen oder ethnographischen Zugängen zur Kultur finden darin ihren Grund. 54 55
Foucault, M.: Die Ordnung des Diskurses [1970]. München 1974, S. 187. Heidegger, M.: Sein und Zeit. A.a.O., S. 148.
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Welterschließende Explikationen verschieben und arrangieren Zei chen, an denen kulturell geformter Sinn zugänglich wird. Feste Regeln für diese Arbeit der Intervention finden sich nicht. Eine Ästhetik der Form ist epistemischen Ansprüchen nicht bloß äußerlich. In monosymbolischen algorithmischen Datenströmen löst Poetik sich nicht auf. Abrufbaren Informationen aus dem Archiv der Daten stellt sie die Geschichtlichkeit einer Reflexion von Singularitäten entgegen. Geschichtlichkeit nährt die Kreativität der Gegenwart. Konstitu tiv gehört ein Vergessen dazu, dem die Rechner den Garaus machen möchten. »Bei dem kleinsten aber und bei dem grössten Glücke ist es immer Eines, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessenkönnen oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glücklich macht.«56 Mit dem Glück des Augenblicks büßt der sich an alles erinnernde Mensch seine Freiheit ein, sich wertend und gestaltend zur Welt und zu sich selbst zu verhalten. Nietzsches Abscheu vor dem historistisch erkrankten, »zahmen« Menschentum der modernen Kultur, einem Geschlecht der »Zuschauer« und ängstlichen »Univer sal-Menschen«57, prägt auch Max Webers, Martin Heideggers oder Michel Foucaults Blick. Zu leben heißt, sich selbst zu übernehmen und die Welt schöpferisch zu ergreifen. Wissen, Moral oder Werte gaukeln Sicherheit nur vor. Heideggers »Dasein« entwirft sich, ebenso wie Webers Persönlichkeit, in eine Welt, die von digital aufbereiteten, zeitlos präsenten »Daten« fundamental verschieden ist. Menschen leben in symbiotischen Beziehungen zu Zeichen, Kör pern, Imaginationen, Tieren, Pflanzen, Dingen, Mitmenschen, Werk zeugen und Handlungen. Solche Nachbarschaften machen das Wesen der »Existenz« aus. Deshalb heißt zu reflektieren, Nachbarschaften symbolisch zu entfalten, wie Harun Farockis Film es exemplarisch vorführt. Von Heideggers »Denken« unterscheidet sich Reflexion, weil sie weder mit Rechnen noch mit Denken gleichzusetzen, aber als Praxis dem »Dasein« natürlich ist. »Rechnen« wie »Lichten« verfehlen 56 Nietzsche F.: Unzeitgemässe Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874]. In: Kritische Studienausgabe. Hrsgg. v. G. Colli und M. Montinari. Bd. 1, S. 243–334, hier S. 250. 57 Ebenda, S. 279, 281.
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Nachbarschaften stiften
die Welt als kreativen Kosmos des Sinns. Um sehen zu können, wie wir denken, und um denken zu können, wie wir sehen, bedarf es einer Reflexion, die in die Welt herein- statt aus ihr hinausführt.
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Unsichtbare Gesichter Abwesendes statt Unverborgenes
1 Vom Sein zum Anderen Heideggers Philosophie, meint Emmanuel Lévinas, verharre, bei aller Zurückweisung der Metaphysik, im Bannkreis des Subjekts. Der »Sorge um sich«, wie sie das »Dasein« in die Welt verstrickt, setzt Lévinas ein Denken entgegen, das sich auf den »Anderen« bezieht. Demut zeichnet dieses Denken aus. Hinter Logik, Ontologie oder Metaphysik will es sich nicht verschanzen. Etwas zu bestimmen, gehört nicht zu seinem Wesen. Der »Andere« tritt, als unbedingter Anspruch, an die Stelle des »Seins«. Nicht einmal ein Dasein, das sich im Modus der Eigentlichkeit auf sein Sein-zum-Tode bezieht, würde der Andersheit des Anderen gerecht, weil diese Andersheit niemals »zum Selben zurückkehrt.«1 Was niemals zum Selben zurückführt, fällt aus der Zeitlichkeit heraus. Es ist »Sein für eine Zeit, die ohne mich ist, für eine Zeit nach meiner Zeit, jenseits des berühmten ›Seins zum Tode‹ ...«2 Heideggers Subordination des Seienden unter das Sein setze den Primat der Freiheit als Primat des Selben fort. Seine Philosophie laufe, wie Lévinas die Kritik zuspitzt, auf »Gehorsam gegenüber dem Anonymen«, mithin auf »Herrschaft«, ja auf »Tyran nei« hinaus.3 Hingegen reißt der Bezug auf den Anderen das Selbst in eine Dezentrierung, die ihm jeden Halt raubt. Epistemischen Visionen einer im Wissen zu begründenden Welt will es entsagen. Moralische Gesetze wirft es über Bord. Es gibt den Wunsch auf, sich in seiner Endlichkeit einzurichten, um in seiner Reflexion als Eigentlichkeit standzuhalten. Man muß diese radikale Wendung der Reflexionsphi losophie vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts lesen: Welche Subjektivität und welche Moral, wel che Werte und welche vernünftigen Begründungen waren imstande, die Schrecken der Kriege und den Holocaust zu verhindern? Kultur erwies sich als hilflos gegenüber dem Grauen. 1 2 3
Lévinas, E.: Humanismus des anderen Menschen [1972]. Hamburg 1989, S. 34. Ebenda, S. 35. Lévinas, E.: Totalität und Unendlichkeit [1980]. Freiburg, München 1987, S. 57, 55.
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Unsichtbare Gesichter
Bezeichnet »Kultur« eine aus Bedeutungen gewebte Welt und gleicht das Ganze der Bedeutung einem Horizont, gibt es sowenig eine Metaperspektive auf die Welt wie eine Verbindlichkeit des Sinns. »Die Reflexion über die kulturelle Bedeutung führt zu einem Pluralismus, dem ein einziger Sinn fehlt.«4 Fühlt Philosophie sich berufen, die Vielfalt des Sinns »in das Selbe hinein aufzuheben und die Anderheit zu neutralisieren«, geht sie am Wesentlichen vorbei.5 Scheitern würde sie epistemisch wie moralisch. Ein Weg muß gefunden werden, sich dem Verlust an Eindeutigkeit zu stellen, statt diesen im Namen der Vernunft zu übertünchen. »Sobald man sich von den banalen alltäg lichen Aufgaben entfernt, hat die Welt die Eindeutigkeit verloren, die uns ermächtigen würde, von ihr die Kriterien des Sinnhaften zu fordern, und dasselbe geschieht mit der Sprache, sobald man sich von der banalen Unterhaltung entfernt.«6 Schwierigkeiten der Subjekt-, Identitäts- und Reflexionsphilosophie will Lévinas entkommen und doch an absoluter Verbindlichkeit festhalten. Statt mich zu ergänzen oder meine Bedürfnisse zu befriedigen, wirft der Andere mich auf mich zurück, ohne mich auf ein Selbst festzulegen. An ihn zu glauben wie an einen Gott ist überflüssig, da der Andere mich mit seinem Einbruch in die Welt überwältigt. Das Opfer scheint am ehesten der Unbedingtheit seines Anspruchs zu entsprechen. Ungetröstet, gibt das Subjekt sich verloren auf etwas hin, was »nach mir ist«.7 Unmittelbare Gegenwart kommt ins Spiel, die voraussetzungslos die Welt der Zeichen und Symbole zerreißt und uns im »Antlitz« des Anderen »heimsucht«. »Das Antlitz tritt in unsere Welt von einer absolut fremden Sphäre aus ein, das heißt genau, von einem Ab-soluten aus, das übrigens der eigentliche Name der fundamenta len Fremdheit ist. Das Bedeuten des Antlitzes in seiner Abstraktion ist, im wörtlichen Sinne des Ausdrucks, außerordentlich, außerhalb jeder Ordnung der Welt.«8 Unvorhersehbar und unberechenbar, sprengt der Andere die Sphäre des »Man«. Vertrautes verwandelt seine Epiphanie in Rätsel, für die es keine Lösung gibt, die aber auch mehr und anderes bedeuten als die Lichtung des Seienden im Außerkraftsetzen weltlicher Bedeutungen. Intentionalität, von der 4 5 6 7 8
Lévinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. A.a.O., S. 32. Ebenda. Ebenda, S. 30 (Hervorhebung im Original). Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 41.
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1 Vom Sein zum Anderen
phänomenologisches Fragen bei Husserl seinen Ausgang nimmt, zerschellt am Anderen.9 Lévinas treibt die Phänomenologie an die Grenze des Sagbaren und damit an einen ähnlichen Punkt wie Heideggers Denken des »Seyns«. Was »eintritt« in die Welt, indem es sich als Störung der Ordnung meldet, ist kein »Bild«. »Phänomene« hingegen betrachtet Lévinas als Bilder, während die Epiphanie des Anderen »etwas Lebendes« sei, das sich dem Gespinst der Zeichen verweigert.10 Statt sich zu zeigen, gibt es sich kund. Für solche Kunde Sensibilisierte fügen sich deren absolutem Anspruch durch Opferung ihres Selbst. Im Opfer besteht die Differenz zu Heideggers Bestreben, Unbezeichenbares in die vibrierende Kraft des Denkens zu bannen. Phänomenologie verwandelt sich in eine Haltung der Demut. Begriffe weichen einer Rhetorik des Absoluten. Zu verstehen ist die Andersheit des Anderen nicht. Ich muß mich in den Dienst dessen stellen, der mich erwählt und zu seinem Knecht macht. Hermeneutik des Sinns findet ihre Grenze in einer Ethik des Absoluten. Weder ist an diesem Absoluten zu zweifeln, noch ist mit ihm zu rechten oder auf es als rettende Kraft zu hoffen. Gott hat sich aus den Texten zurückgezogen, in denen er zu befragen war. Ausgetrieben aus der pluralistisch-unverbindlichen Kultur, kehrt er machtvoll zurück – nicht am jüngsten Tag, sondern jeden Tag, nicht verzeihend, sondern fordernd, nicht als Bild oder Schrift, sondern als totaler Anspruch. Der Andere verlangt von Menschen das Opfer, das Jesus brachte, um Christus zu werden. Für Auslegungen, die dem Gläubigen Spielräume des eigenen Verhaltens eröffnen und seine Orientierung im Labyrinth der Welt durch Gleichnisse anleiten, bleibt kein Raum. Ein solches Verständnis des Neuen Testamentes erschiene als Bekräftigung eines Denkens des Selbst als eines Subjekts – sei es in der Version der Nachfolge Christi, sei es in der Version von Heideggers »Eigentlichkeit« oder Seins-Denken. Wie kann das Absolute der Reflexion zugänglich werden? Heideggers Antwort auf dieses Problem lautet: Im Ereignis lichtet sich Seiendes zum Sein. Doch dieses Ereignen bleibt an ein Denken gebunden, das sich insoweit auf sich bezieht, als es die Bezüge zum Seienden der Welt löst und in Sprach-Fugen zum Stehen kommt. 9 »Das ›absolut Andere‹ wird nicht im Bewußtsein reflektiert. Es leistet dem Bewußt sein in einem solchen Maße Widerstand, daß sich nicht einmal sein Widerstand in Inhalt und Bewußtsein verwandelt.« Ebenda, S. 42. 10 Ebenda, S. 40.
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Unsichtbare Gesichter
Lévinas glaubt sowenig an die Sagbarkeit des Anderen wie Heidegger an diejenige des Seins. Vertraut Heideggers Philosophie auf Sprache und Arbeit am Wort, möchte Lévinas alle Zeichen und Symbole abstreifen, um der absoluten Erfahrung des Anderen in der Welt Platz zu verschaffen. Denken des Ethischen wird zur religiösen Meta physik.11 Lévinas’ Philosophie versucht ein Denken Gottes diesseits der Theologie und jenseits aller Reflexionsphilosophie, zu der auch Heideggers Denken gezählt wird. Allzu sehr richte Heideggers Philo sophie sich in der Welt ein. Seine Überlegungen zu »Bauen Wohnen Denken« verorten den Menschen im Geviert von Himmel, Erde, Sterblichen und Göttern.12 Für Lévinas ist Heideggers »Heimat« von einem Subjekt aus gedacht, das die Welt auf sich hinordnet, statt sich dem Anderen zu schenken. Nicht was man baut, sondern »was man gibt«, macht den Unterschied zwischen Seins-Denken und Ethik.13 Deshalb bleibe Heideggers Philosophie in einem »verschämten Mate rialismus« befangen.14 Statt wie Heidegger vom Seienden der Welt wegzudenken, ohne auf etwas hinzudenken, möchte Lévinas »mehr« denken, ohne dieses Gedachte in die Welt einzuordnen. »Die Idee des Unendlichen ist Verlangen. Sie besteht paradoxerweise darin, mehr zu denken als das, was gedacht wird, und dabei das Gedachte doch in seinem Übermaß in bezug auf das Denken zu erhalten; sie besteht darin, zum Unergreif baren in ein Verhältnis zu treten und ihm doch zugleich den Status des Unergreifbaren zu garantieren.«15 Getragen von einer »Haltung ohne Reflexion«, soll dieses »Mehr« außerhalb der Gefüge von Zeichen »Der Blick des beleidigten Anderen stellt eine wirkliche Anklage dar. Durch ihn spricht Gott zu mir, durch ihn zieht er mich in die Verantwortung, durch ihn wird das Unsichtbare Ereignis.« Waldenfels, B.: Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt/M. 1983, S. 234. – Jacques Derrida gibt zu bedenken, daß der »Andere«, radikal wie das Göttliche gedacht, gar nicht zur Erscheinung und Erfahrung gelangen kann. Vgl. Der rida, J.: Die Schrift und die Differenz [1967]. Frankfurt/M. 1976, S. 187, 190. 12 Heidegger, M.: Bauen Wohnen Denken [1951]. In: Gesamtausgabe Bd. 7. Vorträge und Aufsätze. Frankfurt/M. 2000, S. 145–164. 13 »Die Transzendenz des Anderen, die seine Eminenz, seine Erhabenheit, seine Herrlichkeit ausmachen, umfaßt in ihrer konkreten Bedeutung sein Elend, seine Hei matlosigkeit und das Recht, das ihm als Fremdem zukommt. Den Blick des Fremden, der Witwe und des Waisen, ich kann ihn nur anerkennen, indem ich gebe oder ver weigere«. Lévinas, E.: Totalität und Unendlichkeit [1980]. Freiburg, München 1987, S. 104f. 14 Vgl. ebenda, S. 433. 15 Lévinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. A.a.O., S. 44. 11
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1 Vom Sein zum Anderen
und Kulturen denkbar sein.16 Was rechtfertigt das Ansinnen an die Philosophie, das Denken einem ganz Anderen zu unterstellen? Wie wäre dieser Anspruch einzulösen, wenn der Andere sich innerwelt lich als Phänomen nicht zeigt? Lévinas geht es nicht, wie Friedrich Schlegel, darum, die Unendlichkeit des Anderen in der Welt zu entfalten, zu kultivieren und zu genießen. All das wären Formen des Bestimmens, die den Anderen wie das Ich in die Welt verstricken. Lévinas gibt alle Mittel preis, um Epiphanie zu evozieren. Seine Fun damentalisierung des Ethischen ist kaum in einer Phänomenologie abzustützen. Ähnlich Heideggers »Fugen« gleichen Lévinas’ Texte mitunter Beschwörungsgesten. Der »Logos« des Anderen wäre: »›Du wirst nicht töten.‹«17 Läßt sich von Bedeutung »vor« aller Kultur überhaupt sprechen? Lévinas glaubt, daß sich »die Bedeutung früher als in der Kultur und früher als im Ästhetischen im Ethischen ereignet; dieses Ethische wird von jeder Kultur und von jeder Bedeutung vorausgesetzt.«18 Was Heidegger im verlorenen Anfang der Geschichte sucht und in die »Unverborgenheit« retten will, wohnt für Lévinas in jeder Gegenwart als zeitloser Anspruch, der sich in einem Bilderverbot manifestiert, wie auch der Gott des Alten Testamentes es verhängt. Es sei daher »von äußerster Wichtigkeit, auf der Vorgängigkeit des Sinnes gegenüber den kulturellen Zeichen zu bestehen.«19 Die Nackt heit des Antlitzes des Anderen sei der Grund »vor« aller Vielheit der Kulturen. Geht es um einen Grund »vor« aller Kultur, entzieht dieser sich notwendig den Zeichen. »Sprache« ersetzt Lévinas deshalb durch das »Antlitz«: »Die Epiphanie des Gesichts ist ganz Sprache.«20 Aus dieser Perspektive müßte Heideggers Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem schon deshalb mißlingen, weil sie in die Sprache fällt. Wer diese Voraussetzung nicht teilt – oder die Rhetorik der Rede über den Anderen nicht mitvollzieht, weil die Fundierung in Anschauungen nicht gelingen will –, muß deshalb den Gedanken nicht sofort verwerfen, im »Anderen« – statt im »Seyn« – eine Öffnung der Welt zu suchen. Die Figur des Anderen fordert dazu auf, von mir – von meinem Dasein wie von meinem Denken – abzusehen, Ebenda, S. 45. Lévinas, E.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München 1983, S. 198. 18 Lévinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. A.a.O., S. 47f. 19 Ebenda, S. 48. 20 Lévinas, E.: Die Spur des Anderen. A.a.O., S. 199. 16 17
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Unsichtbare Gesichter
um die Unendlichkeit der Welt eines anderen Menschen ins Spiel zu bringen, in der ich meine eigene Unendlichkeit ebenso wie die Unendlichkeit der Welt als Verschränkung unserer Unendlichkeiten erfahre. Wer von etwas absieht, schaut auf anderes hin. Sein Blick bereichert sich an der Fülle möglicher Verweisungen. Das wäre ein frühromantisches Motiv, das tief in kulturellen Ausdrucksformen wurzelt. Verhältnisse von Anwesen und Abwesen, Sichtbarem und Unsichtbarem wären zu erkunden, statt den »Anderen« dermaßen absolut zu setzen, daß die Rede wiederum aus der Welt heraus- und ins Unsagbare hineinführt. Um dem Verhältnis von Begriff und Phänomen näherzukommen und dieser Alternative auszuweichen, möchte ich Lévinas’ begriffliche Verschiebung des »Seyns« zum »Anderen« in einem Bild spiegeln. Die Fotografie erfüllt Kriterien dessen, was Lévinas ein »kulturel les ›Objekt‹« nennt. Solche Objekte »fügen die Zerstreuung oder Anhäufung der Seienden zu Totalitäten zusammen. Sie leuchten und strahlen; sie drücken eine Epoche aus oder erhellen sie.«21 Was den Horizont einer Kultur ausmacht, versammelt sich exemplarisch in sol chen Artefakten. Aber weder fallen sie aus der Zeit, noch verweigern sie sich den Zeichen. Sich ihnen zuzuwenden bedeutet, ein »Ganzes« in unendlicher Annäherung zu explizieren. Reflexionen verwickeln sich in die Welt; von einem Phänomen wandern sie zu anderen, indem sie Bezüge, Kontraste und Vergleiche anbahnen. Anderes, das auf diese Weise ins Licht der Aufmerksamkeit rückt, ist vielfältig. Andere, im Plural, müssen nicht in der Unbedingtheit des »Anderen« auftreten.
2 Rätsel des Sichtbaren Manche Bilder erzählen Geschichten. Im Vertrauten springen Rätsel auf. Wer war diese Person? Welche Bewandtnis hat es mit den Dingen? Was verrät das Bild über die Zeit seiner Entstehung? Es weckt Neugier für eine Welt außerhalb seines Rahmens und hinter seiner Oberflä che. Wie in diesem Fall: Eine Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt eine Frau in Rückenansicht. Gehüllt in ein noch unverschnürtes Mieder, lehnt sie an einer Art Balustrade. Den Kopf nach rechts geneigt, hat sie beide Arme auf Schulterhöhe erhoben. Ihre angewinkelten Unterarme und die Hände bleiben dem Blick verborgen. Straff hat 21
Lévinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. A.a.O., S. 18.
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2 Rätsel des Sichtbaren
sie ihr blondes Haar festgesteckt. Weiches Licht fließt von rechts über Kopf und Rücken; ihre linke Schulter und das Rückgrat bleiben im Schatten. Weiß leuchtet das Mieder, dessen Bänder hinten ein feines Kreuzgeflecht zeigen. Wie aus einem Kelch wächst daraus der Oberkörper der Frau hervor. Locker hängen Bänder über dem Rand der Balustrade, an der die Frau mehr lehnt, als daß sie auf ihr sitzt. Links berührt eine lange Schlaufe mit weiß leuchtender Spitze beinahe den Boden. Zur strengen Bildkomposition steht das Bändergewirr in einem verführerischen Kontrast. Belauscht der Fotograf die Frau in einer so intimen wie flüchtigen Tätigkeit? Selbstvergessene Anmut in der Haltung der Frau korrespondiert der eigentümlichen Zwecklosig keit ihrer Armbewegung: Wir sehen nicht, was sie mit ihren Händen tut, doch scheint sie weder die Bänder des Mieders zu halten noch ihr Haar zu ordnen. Richtet sie vielleicht ihr Dekolleté? Phantasie weckt, was nicht sichtbar ist. Die schwerelose Haltung erinnert an eine Tanzbewegung, bei der die Frau, traumverloren in einer Drehung verharrend, ihren Kopf leicht an die Schulter eines Tanzpartners lehnt. Könnte dieser Partner eine Wunschvorstellung sein, in die sich der Bildbetrachter hineinphantasiert? Balustrade und angewinkelte Arme unterteilen die Bildfläche in drei gleich große Zonen, wobei die Oberkante der Bank das geschlos sen wirkende untere Drittel begrenzt. Es definiert den räumlichen Eindruck, da es architektonische Merkmale festlegt. Die S-förmig geschwungene Vertikale des Rückens ist leicht rechts der vertikalen Mittelachse des Bildes placiert. Eine Diagonale, von rechts oben nach links unten gezogen, verläuft durch den Punkt, an dem das Bandgeflecht des Mieders das Rückgrat berührt. Frau und Mieder, Körper und Kleid stehen in einem genauen, aber auch rätselhaften Verhältnis zueinander. Statik und Dynamik des Bildraumes fordern einander in paradoxen Assoziationen heraus. Weder ist die Bewegung der Frau eindeutig noch die Architektur des Bildraumes. Intim wirkt die Geste, auf die der Blick des Betrachters wie zufällig fällt – doch ist nichts auf dem Bild bei näherem Hinsehen zufällig. Unschuldig, weil sich unbeobachtet fühlend, ist die Pose der Frau – in keiner Weise entsteht der Eindruck, sie kokettiere mit dem Blick des Betrachters. Eher läßt sie es zu, gesehen zu werden, als daß sie sich zeigt. Reines Weiß der Wäsche symbolisiert Unschuld, doch ist die Situation des Gesehenwerdens erotisch. Probiert die Frau eine Haltung aus, in der sie sich dem Gesehenwerden anbietet, ohne ihr Gesicht zu erkennen zu geben? Dabei versteckt sie ihr Gesicht keineswegs – in dem
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Augenblick, da die Kamera das Bild aufnimmt, scheint es zufällig nur andeutungsweise sichtbar. Allerdings gibt das Bild wenig Anhalt für die Vermutung des Ausprobierens einer Pose. Zudem kontrolliert die Frau ihre Haltung nicht mit Hilfe eines Spiegels. An die Stelle eines Spiegels treten vielmehr ihr Bild und deren Betrachter. Spielt die Frau, indem sie gestattet, gesehen zu werden, mit der Frage, welche Bilder sich Betrachter von dem Bild machen, das sie anbietet? Oder ist auch diese Überlegung eine Projektion, die Bildbetrachter vornehmen könnten, um die seltsame Position der Frau zu verstehen? Körper und Kleidungsstück, Entblößung und Verhüllung rücken im Verhältnis von Modell-im-Bild, Fotografie und Betrachterblick in den Fokus – der nicht zufällig auch Zentrum der Bildkomposition ist: die feine Grenze zwischen nacktem Rücken und Mieder. Das Bild erscheint als Ironisierung der Idee, Fotografien seien indexikalische Repräsentationen einer Wirklichkeit. Lichtführung läßt die Balustrade wie einen Horizont wirken, der von unten wie von einer untergehenden Sonne erhellt wird. Irreal wirkt der Raum, den wir zu sehen meinen. Wir erschließen ihn aus der Position eines weiblichen Körpers, der sich an einer Art Bank abstützt, die an einen Sims erinnert. Beinahe entsteht der Eindruck, die Frau befände sich mit ihren Beinen auf der Außenseite eines Raumes und schaue in eine Tiefe, die unbegrenzt und doch eigentümlich eng wirkt. Wäre dies so, würde unverständlich, woran die Frau Halt findet. Beschreibt das schattierte Grau des Bildhintergrundes eine Wand? Oder eine unbestimmte Weite wie den Himmel, unter dessen Horizontlinie gerade die Sonne verschwindet, deren Schein wir noch in der Lichtquelle unterhalb des Simses sehen? Befände sie sich dann überhaupt an einem architektonisch zu definierenden Ort? Wo ist Innen, wo Außen? Handelt es sich um ein privates Ankleidezimmer oder um eine öffentliche Szene? Der Raum wirkt, je länger Betrachter dessen Geometrie zu entschlüsseln versuchen, immer unwirklicher, unbestimmter und offener. Im Kontrast zur unbestimmten Offenheit des Bildraumes wirkt die filigrane Festigkeit des Mieders als zarte, aus der Weichheit des Stoffes erwachsende Beengtheit, die den weiblichen Körper auf schmeichelnde Weise einschnürt und ihm zu einer Form verhilft, die dem männlichen Blick gefallen soll. In der Erotik des Sehens und Gesehenwerdens ergänzen einander natürliche Leiblich keit und Schneiderkunst, um Spiele gesellschaftlicher Eleganz zu beginnen. Mit antiken Skulpturen, die Betrachtern des Fotos in den Sinn kommen mögen, kann die Schönheit dieser Frau es aufnehmen.
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3 Gesicht und Mode
Gilt das nicht ebenso für die Fotografie im Verhältnis zur Bild hauerei? Betrachten wir hier womöglich ein Programmbild, das mit der Paradoxie von Zwei- und Dreidimensionalität spielt und der Foto grafie zutraut, ähnliche Leistungen in der Menschendarstellung zu erreichen wie die Plastik? Bleibt darum der Bildraum unbestimmt? Auch wegen dieser Ambivalenzen – des Raumes, des Lichtes, des Verhältnisses von Kleidungsstück und Körper, Privatheit und Gese henwerden – richtet sich der Blick des Betrachters auf das Gesicht der Frau, genauer: auf ihr rechtes Profil, von dem nur das Ohr deutlich zu erkennen ist. Etwas nicht direkt Sichtbares, das Antlitz, wird zum magischen Zentrum des Bildes. Es fungiert wie ein rätselhaft Abwe sendes, das den Wunsch zu sehen motiviert und kompositorische Details des Bildes zu bedeutungsvollen Zeichen macht. Um ein bloßes Stereotyp der »schönen Frau«, deren Gesichtszüge, nach Art eines Schemas, bekannt wirken, auch wenn nur eine Rückenansicht gezeigt werden mag, geht es in diesem Bild nicht. Hier wirkt die Unsichtbar keit des Gesichts wie eine Verlockung, das Individuelle dieser Person mit klassischen Bildern und Skulpturen zu vergleichen, an die das Foto erinnert. Zugleich durchkreuzt es die Verheißung, die es als Wunsch, zu sehen, weckt: Um einen realen Menschen könnten wir, ebenso wie um eine Skulptur, herumgehen. Ist die Fotografie geheimnisvoller als jede Skulptur?
3 Gesicht und Mode Trägt die Unsichtbarkeit des Gesichtes zur Faszination der Fotografie bei, bleibt die abgebildete Person geheimnisvoll. Über deren Leben wissen wir nichts, doch kennen wir ihren Namen: »Madame Bernon« posiert auf der Fotografie als Modell, das auf einem Mode-Shooting ein Korsett von Detolle für Mainbacher vorführt. Publiziert wurde die Aufnahme am 15. September 1939 in der »Vogue«. Beworben wird das Korsett als Kleidungsstück, das seinen Trägerinnen, vorzugsweise bei gesellschaftlichen Anlässen, zu einer »Velázquez-Silhouette« ver hilft.22 Betont schmale Taillen galten im Geschmack der Zeit als besonders attraktiv. Vom Negativ unterscheidet sich das publizierte 22 Vgl. Brown, S. (Hrsg.): HORST. Photographer of Style. München 2016, S. 319 (Katalog zur Ausstellung im NRW-Forum Düsseldorf 12.2. – 22.5.2016).
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Unsichtbare Gesichter
Bild durch eine Retusche: Ursprünglich lag das Korsett nicht eng am Körper an. Weil es etwas Spielraum zwischen Mieder und der linken Brust des Modells ließ, war der Eindruck insgesamt erotischer. Zog der Fotograf das Original vor, entschied die »Vogue« sich für die retu schierte Variante.23 Aufgenommen in der Nacht zum 11. August 1939 in einem Pari ser Studio, wurde das Foto in mehrfacher Hinsicht zu einem Symbol: für das Werk seines Schöpfers, das Ende einer Epoche und als Ikone der Fotografie. Nach dem Shooting holt der Fotograf, Horst Paul Albert Bohrmann, seine Koffer und begibt sich, am Vorabend des Krieges, an Bord der »Normandie«, um Frankreich in Richtung Ver einigte Staaten zu verlassen. Neun Jahre in Paris ließen ihn vom unbekannten Assistenten Le Corbusiers zum Starfotografen des Magazins »Vogue« werden. Horst P.A. Bohrmann hatte sich zum Vir tuosen ästhetischer Eleganz unter den Bedingungen der Studiofoto grafie entwickelt. Angeleitet von Baron George Hoyningen-Huene, perfektioniert der junge Fotograf nicht nur seine Technik, er gewinnt Zugang zur glamourösen Gesellschaft. Ausgedehnte Studien in Museen schulen seinen künstlerischen Blick für klassische Formen. Sein Interesse an Skulpturen führt ihn zu einer raffinierten Beleuch tungstechnik, die der Dreidimensionalität des Körpers auf einer zwei dimensionalen Fotografie durch subtile Hell-Dunkel-Abstufungen gerecht zu werden sucht. Auch für diese Kunst ist das Foto ein Symbol. Seinen Namen ändert er in Horst P. Horst. Dieser Name steht für eine Legende der Modefotografie, für eine Epoche eleganter Kleidung und für ein kultiviertes Bild der »Gesellschaft«. Mit der Kultur der Zwischenkriegszeit geht eine Blütezeit der Mode zu Ende. Paris war in dieser Epoche Zentrum künstlerischer Avantgarden und der Haute Couture. Ideen des deutschen »Bauhaus«, Handwerke, Design, künstlerische Gestaltung, Körperausdruck und Fotografie zu verbinden, ließen sich in der Mode verwirklichen. Künstlerische Portraitfotografie ging Allianzen mit modernen Maga zinen wie Vogue, Vanity Fair oder Harper’s Bazaard ein. Zwischen Hoch- und Massenkultur entstand ein Austausch, der Nachahmungs bedürfnisse mit Werbungsformaten verband. Wünsche und Wahr nehmungen sozialer Unterschiede veränderten sich. Anspruchsvolle fotographische Inszenierungen präsentieren in Magazinen wie der Vogue Lebensformen der vornehmen Gesellschaft einem größeren 23
Vgl. Brown, S.: Das Mainbocher-Korsett. In: ebenda, S. 76.
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3 Gesicht und Mode
Publikum. Neben Kleidern werden Bilder vom Tanz, von Revuen oder von Kinostars publiziert.24 Reminiszenzen an kunstgeschichtliche Ikonografien spielten ebenso eine Rolle wie drucktechnische Möglichkeiten und moderne graphische Gestaltungen von Titelseiten und Bilderstrecken. Seit den 1930er Jahren zieht die Farbfotografie in Modemagazine ein. Wo Licht zu Farbe wird, verschiebt sich der Blick auf Präsentationen des Körpers: Skulpturale Inszenierungen, wie das betrachtete Foto sie in Perfektion vorführt, treten gegenüber bunten Kontrasten oder ornamentalen graphischen Gestaltungen allmählich zurück. Auch in dieser Hinsicht ist das Bild eines der letzten Meisterwerke seiner Art in seiner Epoche. Als Modelle und Fotografen arbeiten weiterhin oft Personen, die dem gesellschaftlichen Milieu angehören, für das die Kleider gedacht sind. Es geht um Inszenierungen von Stil, Eleganz und gesellschaftlichem Flair – um den Lebensstil einer relativ kleinen, aber für das Geschmacksempfinden stilprägenden Gruppe. Später werden Foto-Modelle professionell als Stars agieren, die Produkte, aber auch sich selbst vermarkten. Individualisierungen des Models gehen mit dessen Entindividualisierung zur Marke einher. Gesichter werden gezeigt, erscheinen jedoch wie Oberflächen ohne Tiefe oder Rätsel. Sie dienen als Projektionsflächen für Wünsche, bleiben aber oft geheimnislos. Umgekehrt verhält es sich mit Horsts Fotografie: Hier wird das unsichtbare Gesicht einer Person zum Zentrum des Bildes.
24 Daneben stehen, in den 1940er Jahren, Reportagen vom Krieg in Europa. Über alltägliche Schwierigkeiten im Umgang mit knappen Mitteln während des Krieges wird ebenso berichtet, wie praktische Ratschläge für Haushalt und Kosmetik erteilt werden. Kriegsberichterstattung, Eleganz und Werbung stehen in den Magazinen nebeneinander. Horst kehrt als fotografischer Beobachter mit den amerikanischen Truppen nach Europa zurück, wie auch Lee Miller ihre Reportagefotos an die Vogue schickt. – Vgl. Conekin; B.E.: Lee Miller. Fotografin Muse Model. Zürich 2013, S. 48f. Eines der berühmtesten Fotos Millers – und eines der berühmtesten Bilder des 20. Jahrhunderts – entstand 1945, als Miller David E. Scherman und Scherman Lee Miller in der Badewanne fotografierten, die sich in Adolf Hitlers und Eva Brauns Münchner Wohnung befand. – Vgl. Moser, W./Schröder, K.A. (Hrsg.): Lee Miller. OstfildernRuit 2015, S. 122f.
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4 Poetik des Körpers Kontrastierend zu dem ästhetischen Stil, wie Haute Couture und Vogue ihn pflegen, blühen im Deutschland der 1930er Jahre ideo logisch aufgeladene Modevorstellungen, deren Grundzug ihr anti französischer Charakter ist. Statt einer schlank-eleganten VelázquesTaille nachzueifern, sollen Frauen aus Sicht der Parteipropaganda natürliche und mütterliche Figuren zeigen, die auf Gebärfreude ver weisen. Make-up oder Parfüm gelten, wie Hitler verkündet, ebenso wie Zigarettenrauchen als unweiblich. Trachtenmode wird gegen Pari ser Haute Couture ins Spiel gebracht.25 Allerdings blieb das Dirndl ebenso wie die schlichte Haartracht blonder Zopfträgerinnen eher Propagandaideal denn reales Modevorbild. Auf diese Weise konnte man, wie man im Hause des Propagandaministers Goebbels sehr wohl wußte, Frauen kaum gewinnen. 1933 wird das Deutsche Modeamt ins Leben gerufen, um eine konkurrenzfähige deutsche Modeindustrie zu fördern. Deutsche Modejournale orientierten sich an der Pariser Haute Couture. Wie die Vogue ging es ihnen um die fotographische Inszenierung eines Lebensstils, der internationalen Standards der Attraktivität und Modernität gerecht wurde.26 Nach wie vor gibt es Bedarf für elegante Bekleidung, den Zeit schriften wie »Die Dame« anzusprechen verstehen.27 Angehörige des neuen Establishments erscheinen dort fotographisch in der Rolle Mit Magda Goebbels allerdings übernimmt eine Person die ehrenamtliche Leitung des Modeamtes, deren Geschmack sich an französischen Maßstäben geschult hat. Diese Präferenz teilt sie mit vielen anderen Damen des nationalsozialistischen Staats adels. – Vgl. Guenther, I.: Nazi Chic? Fashioning Women in the Third Reich. Oxford 2004, bes. S. 167. 26 Vgl. Caspers, M.: Modefotografie und Presse. In: Junker, A. (Hrsg.): Frankfurt Macht Mode 1933–1945. Marburg 1999, S. 43–72 (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung vom 18. März bis 25. Juli 1999 im Historischen Museum Frankfurt). – Außerdem Junker, A.: Das Frankfurter Modeamt. A.a.O., S. 11–42. 27 Außerdem die neue linie, die Berliner Illustrierte Zeitung oder die Münchner Illustrierte Presse. Deutsche Fotografinnen wie Regina Relang dürfen in Paris arbeiten. Relang fotografiert unter anderem für die französische, englische und amerikanische Vogue. Ihre Arbeiten erscheinen auch in deutschen Zeitschriften. – Vgl. Die elegante Welt der Regina Relang. Hrsgg. von E. Ruelfs und U. Pohlmann. Ostfildern-Ruit 2005 (anläßlich der Ausstellung Die elegante Welt der Regina Relang. Mode- und Repor tagefotografien. Fotomuseum im Münchner Stadtmuseum 11. Mai bis 7. August 2005, Städtische Museen Heilbronn 24. Juni bis 3. September 2006). – Regina Relang kehrte 1939 zusammen mit Arkady Kusmin nach Deutschland zurück. 25
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4 Poetik des Körpers
des Staatsadels neben Modeanzeigen. Uniformen halten Einzug ins Repertoire eleganter Männerkleidung. Spricht der Führer öffentlich von der Frau als ewiger Mutter, wecken Zeichnungen von Pariser Frühlingshüten Neugier und Begehren der deutschen Damenwelt. Neben den obligatorischen Müttern werden elegante junge Frauen beim Flanieren in Venedig abgebildet. Exquisite Abendkleider ziehen ebenso Aufmerksamkeit auf sich wie Bilder berühmter Schauspiele rinnen. Bis zum Ausbruch des Krieges 1939 reisen Vertreter der deutschen Modeindustrie alljährlich nach Paris, um sich die großen Shows anzusehen.28 Daneben entsteht eine Ästhetik sportlich trainierter und manch mal im Stil antiker Skulpturen präsentierter Körper. Rennfahrer wie Rudolf Caracciola, Bernd Rosemeyer oder Hans Stuck stehen ebenso dafür wie junge Damen in Reitkleidung, aber auch der Typus des deutschen Offiziers. Dafür entwickelt vor allem Leni Riefenstahl ein Bildprogramm. Zu diesem Programm gehört sie durchaus selbst. Als junge, ledige, kinderlose, erfolgreiche Filmemacherin und Foto grafin, die sich selbstbewußt in der Öffentlichkeit bewegt, Hosen und Pullover trägt, mit Vertretern des Staatsadels verkehrt und aus ihren diversen Liebschaften kein Hehl macht, wird sie zu einer Mode marke der Zeit.29 Riefenstahls an die Geschichte der Idealisierung nackter Leiber anknüpfende Formsprache zeigt, vor allem in ihrer filmischen Dokumentation der Olympischen Spiele 1936, ein Kom plementärbild zur kunstvollen Stilisierung des Körpers in der Mode der Pariser Haute Couture. Mit deutscher Mode oder Trachtenlook haben ihre Körperinszenierungen wenig zu tun. Langfristig sind es eher diese Bilder, die den Blick auf den Körper sowie die Auffassungen von Nacktheit und Kleidung veränderten. Statischen Bildkompositio nen der Fotografie kontrastiert die Dynamik von Filmbildern oder Wettkampffotografien. Das Kino wird zum Schauplatz gemeinsamer Wahrnehmungen, weniger das private Blättern in Magazinen. In standardisierter Massenproduktion koppelt die moderne Arbeitswelt den menschlichen Körper mit Maschinen, um ihn einem 28 Vgl. Guenter, I.: Nazi Chic? A.a.O, S. 203. – Mainbocher, das Modehaus, für das Horst P. Horst das letzte Bild vor seiner Emigration in die USA macht, verläßt 1940 Paris, um in die Vereinigten Staaten überzusiedeln. Andere Pariser Modehäuser blei ben in Frankreich und arbeiten mit den deutschen Besatzern zusammen. Vgl. ebenda, S. 210f. 29 Vgl. Guenther, I.: Nazi Chic? A.a.O., S. 136f.
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engen Zeitregime und einer genau kalkulierten Bewegungschoreo grafie zu unterwerfen.30 Wie eine Karikatur auf den zum Anhängsel der Maschinenwelt degradierten menschlichen Körper wirkt Charlie Chaplins groteske Darstellung in »Modern Times« (1936). Schönheit oder Leistungsfähigkeit des Körpers verwandeln sich hier in Hilflo sigkeit gegenüber Anforderungen des technisierten Lebens. Chaplins Bilder karikieren zugleich ein überkommenes Ideal der Harmonie von Körper und Geist, das von der Freikörperbewegung der Jahrhun dertwende über die neue, klassenübergreifende Popularisierung des Sports bis hin zur Militarisierung des Körpers in den totalitären kom munistischen und faschistischen Staaten des 20. Jahrhunderts eine ideologieprägende Rolle spielt. Paradigmatisch und mit volkspädago gischem Anspruch wird dieses Ideal in Wilhelm Pragers und Nicholas Kaufmanns Film »Wege zu Kraft und Schönheit« aus dem Jahre 1925 sichtbar.31 Aufmerksamkeit gilt trainierten Leibern in Mann schaftssportarten und Choreografien typisierter Bewegungsabläufe. Dem Gesicht oder der erotisch-gesellschaftlichen Inszenierung des Körpers hingegen wird keine Beachtung geschenkt. Perfekte Körper in Arbeit wie Sport erscheinen als Organismen, deren Ästhetik an ihrer Leistung zu messen ist – und darin der Maschine analog wird. Von der Bewegungs- über die Arbeits- bis zur soldatischen Kampfmaschine sind Übergänge graduell. Riefenstahls Arbeiten beschäftigen sich mit der Körperertüchti gung ebenso wie dem Leistungssport, dem politischen Aufmarsch wie der Übung von Soldatenkörpern (»Tag der Freiheit! – Unsere Wehrmacht«, 1936). Um zu sehen, wie wenig selbstverständlich oder bloß befreiend dieser körper-technische und zugleich den Kör per idealisierende Blick in der Zwischenkriegszeit war, genügt die Erinnerung an die wenige Jahre zurückliegende industrialisierte 30 Frederick Winslow Taylor’s »Principles of Scientific Management« entwerfen eine Massenpädagogik der Leistungserziehung arbeitender menschlicher Körper im Blick auf maschinell organisierte Produktionsabläufe. Vgl. Ders.: Die Grundsätze wissen schaftlicher Betriebsführung [1911]. Düsseldorf 2004. – Vgl. auch Cowan, M./Sicks, K.M.: Technik, Krieg und Medien. Zur Imagination von Idealkörpern in den zwanziger Jahren. In: dies. (Hrsg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918–1933. Bielefeld 2005, S. 13–29. 31 Leni Riefenstahl wirkt darin als Gymnastin mit. In der Kombination von belehren den Schrifttafeln, didaktischer Chronologie von der Antike bis in die Moderne sowie der Verbindung von Bild, Musik und Sprache ist dieser Film ein kalkuliertes Diagramm zur Volkserziehung.
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4 Poetik des Körpers
Massenverstümmelung menschlicher Körper im Ersten Weltkrieg. Künstlerische Bearbeitungen dieser traumatischen Erfahrung stehen in ihrer Bildsprache dem Körperideal von Volkspädagogik, Sport und Mode denkbar schroff entgegen. Zerrissene, tote, erschöpfte oder sozial entwurzelte Körper tauchen in der Kunst der Weimarer Zeit in großer Zahl auf.32 Einem Massenpublikum begegnen solche Bilder zum erstenmal im Kino in Lewis Milestones Remarques-Verfilmung »Im Westen nichts Neues« (1930, 136 Minuten).33 Körperideale nach 1918 bringen Verwerfungen gesellschaftlicher Hierarchien, Entwertungen von Traditionen und Auflösungen gesell schaftlicher Schranken zum Ausdruck. Sportliche Inszenierungen der Frauen, ihrer Kleidung, ihrer Bewegungen und ihrer – besonders urbanen – Mobilität orientieren sich weniger an festlichen Anlässen und Präsentationen gesellschaftlicher Eliten denn an gleichberechtig ten und natürlichen Umgangsmoden. Lebenshungrig stürzen Men schen sich nach den Kriegsjahren in Konsum und Mode. Körper sollen weniger erotisch präsentiert als praktisch bekleidet sein. Ero sionen der Klassengesellschaft lösen manche Kleidungsvorschriften auf. Steigende Kaufkraft und die Sichtbarkeit von Modeartikeln in den Schaufenstern ebenso wie in den neuen Massenmedien beschleu nigen den Rhythmus der Mode. Eine pragmatische Ästhetik paßt zu einer funktional geprägten Körperwahrnehmung.34 Leni Riefenstahls Bildvokabular verleiht dem Lebensgefühl der Zeit Ausdruck. Die Kamera gewinnt eine Beweglichkeit, die der Stu diotechnik in der Modefotografie komplementär gegenübersteht. Die Studioästhetik wurzelt in einer Ästhetik unbewegter Körper, bevor sie, spätestens seit den 1940er Jahren, zu einer Ästhetik bewegter Bilder übergeht. Hollywood gewinnt erheblichen Einfluß auf die
32 Vgl. Schubert, D.: Künstler im Trommelfeuer des Krieges 1914–1918. Heidel berg 2013. 33 Obwohl der Film in Deutschland in einer gekürzten und zensierten Fassung in die Kinos gelangte, zog er wütende Proteste rechter Gruppierungen auf sich. Joseph Goebbels, Gauleiter der Berliner NSDAP und deren Reichspropagandaleiter, organisierte SA-Krawalle in und vor den Kinos. Im Dezember 1930 verbot die Oberste Filmprüfstelle die Vorführung des Films in Deutschland. 34 Vgl. Nentwig, J.: Akt und Sport. Anton Räderscheidts »hundertprozentige Frau«. In: Cowan, M./Sicks, K.M. (Hrsg.): Leibhaftige Moderne. A.a.O., S. 97–116.
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Wahrnehmung von Mode. Kleine Kameras versetzen Bildstrecken in Szenen des alltäglichen Lebens.35 Im Rückblick wirkt die Ästhetik von Horsts Fotografie wie der Widerschein einer untergehenden Epoche. Riefenstahls Fotografien, teils aus dem Olympia-Film herausgelöst, suchen »Schönheit« durch dynamischen Bildaufbau, kraftvolle Bewegungsabläufe, heroische Posen oder fast abstrakte Rhythmen darzustellen.36 Überhaupt zeich nen ihre Filme sich durch ein ausgeprägtes Gefühl für Rhythmen aus, die sie durch ihre Schnitt- und Montagetechnik ebenso erzielt wie durch Kombinationen von Bildern und Musik. Aus der Perspek tive der Gegenwart, in der (Musik)Videos zu einer massenkulturel len Ausdrucksform geworden sind, wirken Riefenstahls Montagen modern. Soll der Eindruck des Dokumentarischen erzeugt werden – wie bei »Sieg des Glaubens« und »Triumph des Willens« –, prägt sich Zuschauern das Gefühl einer immanenten Dramaturgie des Gesche hens ein. Kino ermöglicht durch mitreißend komponierte Bilder ein Erleben neuer Art.37 Es verlockt zu Identifikationen, statt auf Distanz, Reflexion und Vergleich zu setzen. Horsts Fotografie hingegen fesselt Betrachter durch die Verbindung ästhetischer Faszination mit Verwei sungsreichtum. Entwickelt die Modekunst, wie Horst sie fotografiert, ihre For men mit dem Zweck, Individualität zur Geltung zu bringen, prägt die moderne Massenästhetik von Sport, Militär und Politik Formspra chen, die das Individuum in die Gleichförmigkeit der Massen einge bettet zeigen. Horsts Fotografien lassen Modelle weder als Elemente einer Masse noch wie Kleiderpuppen erscheinen. Individualität unter streichen sie durch die zweite Haut der Kleider. Riefenstahls Moder nität drückt sich darin aus, klassische Formen – skulpturale Körper antiker Statuen oder junger Sportler, antike Architekturanspielungen In den Bilderstrecken der Vogue ist dieser Übergang im Laufe der Jahre gut zu verfolgen. Vgl. Watson, L.: VOGUE. Twentieth Century Fashion. London 1999. 36 Vgl. Riefenstahl, L.: Schönheit im olympischen Kampf. Dokumentation zum Olympia-Film [1937]. Neuausgabe München 1988. 37 Zur Premiere des Parteitagsfilms »Sieg des Glaubens« kommentiert der »Angriff« am 2. Dezember 1933: »Der Bildstreifen ist keine akustische und optische Wiedergabe des chronologischen Parteitagsverlaufs. Er ist vielmehr eine künstlerische Sinfonie vom Erlebnis ›Nürnberg 1933‹ und damit die Krönung aller vorhergegangenen Auf märsche und Massentreffen der NSDAP (...) Dieser Film ist ein Zeitdokument von unschätzbarem Wert. Er dokumentiert den Übergang von der Partei zum Staat.« Vgl. Rother, R.: Leni Riefenstahl. Die Verführung des Talents. Berlin 2000, S. 51ff., bes. S. 60. 35
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4 Poetik des Körpers
und moderne Stadien oder Lichtdome – in beschleunigte, typisie rende, mit Musik unterlegte Bilderstrecken zu versetzen, die zwischen Kunst, Werbung und Propaganda ein Kontinuum zeigen. Für Horst und Riefenstahl spielt Nacktheit eine unterschiedliche Rolle. Insbe sondere das »Mainbocher-Korsett« arbeitet mit erotischen Assozia tionen, aktiviert jedoch die Phantasie des Betrachters, indem das Bild keine direkte Nacktheit zeigt. Sparsam bekleidete Athletenkörper in Leni Riefenstahls Olympia-Film überlagern Erotik durch Sport: Der athletische Körper ist kein in gesellschaftlich inszenierter Gesellig keit attraktiver Körper. Aus erotischer Entblößung wird funktionale Nacktheit. Vogue-Mode und Leistungssport markieren Pole eines Kontinuums der Körperdarstellungen und der gesellschaftlichen Auf merksamkeit auf männliche oder weibliche Leiblichkeit. In den 1970er Jahren findet Riefenstahls kühle Ästhetik Reso nanz bei Heroen der Pop-Kultur wie David Bowie, Mick Jagger, Francis Ford Coppola oder Bryan Ferry.38 Als die deutsche Rockband Rammstein 1998 für ihr Album »For the Masses« ein Video produ ziert, das sie ihrem Cover-Song »Stripped« unterlegt, wirkt das als publicitywirksame Provokation: Rammsteins Version des DepecheMode-Titels verwendet Bilder aus Leni Riefenstahls »Olympia«-Film in einer fulminanten Collage zum Rhythmus eines Rock-Songs. Kör per-Bilder, heroisch inszeniert und in graphisch wirkenden Bildkom positionen rhythmisiert, scheinen auf eine Transzendierung gesell schaftlicher Zwänge zu verweisen: »Take my hand/Come back to the land/Let’s get away/Just for one day«. Im Text des Songs wird auf die mediale Konditionierung von Sehgewohnheiten verwiesen: »Let me hear you/Make decisions/Without your television/Let me hear you speaking/Just for me«. Jemanden zu sehen, wie er oder sie »ist«, heißt, auf den ersten Blick, ihn oder sie von Konventionen und Hüllen entkleidet – »stripped« – zu sehen: »Let me see you/ Stripped«. »Anderen« befreit vom Korsett der Zeichen zu begegnen, ist ein illusionärer Wunsch, der in der Popmusik artikuliert werden mag. Schon den Wunsch zu formulieren verlangt, Konventionen
38 Vgl. Seeßlen, G.: Blood and Glamour. In: Pages, N.Ch./Rhiel, M./Majer-O’Sickey, I. (Hrsg.): Riefenstahl Screened. An Anthology of New Criticism. New York, London 2008, S. 11–29.
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Unsichtbare Gesichter
zu inszenieren, die ihrerseits ideologisch sein mögen.39 Ihn für reali sierbar zu halten übersähe, daß es kein Außen der Kultur gibt. Ideo logisch ist die Vorstellung eines reinen, nackten, authentischen, quasi vorgesellschaftlichen Körpers. Diese Ideologie erscheint im RockSong als Schablone, die populärkulturell benutzt und desavouiert – »stripped« – wird. Rammsteins Wiederholung von Riefenstahls Bil dern zielt auf eine ironisch-kongeniale Umgangsweise mit deren For mensprache. Ist nicht »Schönheit« eine Idee, die zugleich wahr, oft kitschig und vielleicht manchmal ideologisch wirkt? Verbindet sie nicht Hoch- und Massenkultur, Kunst, Werbung und Propaganda? Im Lichte der Idee des Schönen erscheinen Horsts und Riefenstahls Bild programme als komplementäre Spielarten einer Poetik des Körpers? Bei Leni Riefenstahl bleibt das Gesicht auf andere Weise »unsichtbar« als bei Horst. Zwar ist es oft zu sehen, doch weckt es keine Neugier und entbehrt des Geheimnisvollen. Es ist so gleichgültig wie der Mensch in der Masse, der zum Element eines Ornamentes wird.40 Niemandem fiele es ein, in dem Modell auf Horsts Fotografie eine Frau zu sehen, die vom Sport nach Hause kommt oder sich für ent sprechende Körperübungen herrichtet.
5 Ästhetik der Imagination Zeigt Horsts Fotografie Mode? Eine Aktstudie? Werbung? Die Kultur einer vergangenen Zeit? Die Fotografie aktiviert die Kunst seiner Betrachter, ein Bild anzuschauen und mit ihm zu sehen. Es gehört zu den Erscheinungen, von denen Georg Simmel sagt, sie ließen uns »eine Mehrheit von Kräften fühlen«, von denen eine jede »eigentlich über die wirkliche Erscheinung hinausstrebt, ihre Unendlichkeit an der andern bricht und in bloße Spannkraft und Sehnsucht umsetzt«.41 Je verweisungsreicher Erscheinungen sind, desto lebendiger wirken sie. Im Einzelnen einer Erscheinung kann sich ein Reichtum an Mögli Vgl. Weinstein, V.: Reading Rammstein, Remembering Riefenstahl: ›Fascist Aes thetics‹ and German Popular Culture. In: Pages, N.Ch./Rhiel, M./Majer-O’Sickey, I. (Hrsg.): Riefenstahl Screened. A.a.O., S. 130–148. 40 Vgl. Kracauer, S.: Theorie des Films. Die Erregung der äußeren Wirklichkeit [1960]. Frankfurt/M. 1985, S. 82f. 41 Simmel, G.: Philosophie der Mode [1905]. In: Gesamtausgabe Bd. 10. Frank furt/M. 1995, S. 7–37, hier S. 9. 39
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5 Ästhetik der Imagination
chem indirekt bekunden und Besonderes zu exemplarisch Wirklichem anreichern. Gilt das nicht paradigmatisch für das unsichtbare Gesicht Madame Bernons? Zwar stimulieren derartige Phänomene die Wahr nehmung, verlangen jedoch auch eine Betrachtung, die Bedeutungs potentiale realisiert und den Horizont einer Kultur ausleuchtet. »Energie«, die sich in einem kulturellen Objekt verdichtet, drängt, meint Simmel, »über das Maß ihrer sichtbaren Aeußerung hinaus«. Dadurch »gewinnt das Leben jenen Reichtum unausgeschöpfter Mög lichkeiten, der seine fragmentarische Wirklichkeit ergänzt«.42 Mode verdient in Simmels Augen Interesse, da sie eine Grund funktion von Gesellschaften erfüllt: die Nachahmung. Ähnlich wie Gabriel Tarde in Frankreich hält Simmel die Tendenz zur Nachahmung für elementar im Leben der Menschen, sorgt sie doch für den »Ueber gang des Gruppenlebens in das individuelle Leben«.43 Zwischen Einzelnem und Allgemeinem, Individuum und Gesellschaft stiften Nachahmungen Gemeinsamkeiten und Abweichungen, die nach symbolischem Ausdruck verlangen. Für diesen Ausdruck sorgt Mode. Sie macht sichtbar und stellt symbolisch dar, was in vielen Bereichen des Lebens in anderer Weise vonstatten geht. Mode zeigt das Gesicht einer Gesellschaft in einer bestimmten Epoche als einer reflektierten und gepflegten Weise des Sichtbarmachens. Ohne symbolischen Ausdruck würde der Aufbau von Individualität schwerlich gelingen, muß dieser doch artikuliert, beobachtet und bestätigt werden. Auf bloße Wiederholung oder Konservierung des Gewohnten bleiben Nachahmungen nicht beschränkt. Sie verankern das Einzelwesen in einer Gemeinschaft, um ihm zugleich Möglichkeiten zu eröffnen, sich in abweichenden Formen auf Zukunft hin zu orientieren.44 Weil symbolisch geformte Lebensenergien sich aneinander brechen und so Fragmentarisches in Verweisungen vervielfachen, entziehen sie sich eindeutigen Bewertungen. Antagonismen und Kooperationen, Allgemeines und Besonderes, Gesellschaft und Individuum finden in »Institutionen« zueinander, indem sie einander wechselseitig stimu lieren und balancieren.45 Unterscheidungen zwischen Überliefertem Ebenda. Ebenda, S. 10. 44 Kritisch wendet René König in seiner Soziologie der Mode ein, das Konzept der Nachahmung tauge lediglich für bereits bestehende soziale Kreise, könne jedoch als soziologisches Grundkonzept kein Verständnis von Gesellschaft begründen. Vgl. Ders.: Kleider und Leute. Zur Soziologie der Mode. Frankfurt/M. 1967, S. 75ff. 45 Vgl. Simmel, G.: Philosophie der Mode. A.a.O., S. 11. 42
43
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Unsichtbare Gesichter
und Neuem macht Mode sichtbar, praktisch relevant und symbolisch wertvoll. Sie »ist Nachahmung eines gegebenen Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, sie führt den Einzel nen auf die Bahn, die Alle gehen, sie gibt ein Allgemeines, das das Ver halten jedes Einzelnen zu einem bloßen Beispiel macht. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterscheidungsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abweichung, Sich-abheben.«46 Zu den Vorzügen der Mode gehört es, soziale Unterschiede und Unterscheidungswün sche auszudrücken, vergleichbar zu machen, in Wunschvorstellungen und Waren zu verwandeln, ständig zu verändern und zirkulieren zu lassen. Moden sind »Klassenmoden«.47 Magazine wie die Vogue stehen exemplarisch für die soziale Funktion der Mode im Sinne Georg Simmels. Um als gesellschaftliches Phänomen wirksam zu werden, bedarf die Mode einer Inszenierung, die das Geflecht von Privatheit und Öffentlichkeit, Individuellem und Allgemeinem, Wunsch und Ware hervortreten läßt. Auf Horsts Fotografie geht es, kommerziell ent scheidend, um Werbung für ein Korsett – ein Kleidungsstück, das der Figur seiner Trägerin Sichtbarkeit verleiht, jedoch im öffentlichen Raum unsichtbar bleibt. Unter der öffentlichen Sichtbarkeit des Kleides, dessen Schnitt den Körper seiner Trägerin betont und in ein Geflecht gesellschaftlicher Anspielungen verstrickt, existiert ein zweites, unsichtbares, nur in privaten Räumen und für wenige Augen sichtbares Unterkleid, dessen Vorhandensein sich öffentlich durch die Taille andeutet. Auf der Fotografie steht das Kleidungsstück dement sprechend nicht im Mittelpunkt. Zentrum des Bildes ist vielmehr das unsichtbare Gesicht des Modells. Der Blick des Betrachters bezieht alle Bildwerte auf diesen Fokus, weil er allem anderen Bedeutung verleiht. Die Trägerin macht das Mieder zu ihrem Kleidungsstück – sie verwandelt es von einer Ware zu einem privaten Accessoire, das dazu verhilft, dem öffentlichen Blick in erträumter Weise begegnen zu können. Rätselhafte Raumstrukturen auf dem Foto spiegeln das Changieren zwischen öffentlicher und privater Sphäre, Warenwelt und Intimzone. Auch die Haltung des Modells reflektiert die Doppel bödigkeit des Sehens und Gesehenwerdens: Die Frau bietet sich einem Gesehenwerden an, ohne sich auszustellen; sie lockt Betrachter in eine Intimität und konterkariert doch voyeuristische Illusionen, indem 46 47
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5 Ästhetik der Imagination
die angebotene intime Pose als artifizielle Haltung durchschaubar wird. Es geht um Imagination: Bildlichkeit, zu der die Fotografie Anschaulichkeit beisteuert. Kultivierte Zwecklosigkeit macht die Ästhetik des Imaginären aus, wie die Mode sie an der Kontaktzone von Leib und gesellschaft licher Existenz vorführt: ein Spiel von Traum, Phantasie und Realität. Individuen zur Erscheinung zu bringen heißt auch, die Rätselhaftig keit einer Person zu betonen, die in keiner Ansichtigkeit restlos aufgeht. »Auch hier wird freilich die Persönlichkeit als solche in ein allgemeines Schema eingefügt, allein dieses Schema selbst hat in sozialer Hinsicht eine individuelle Färbung und ersetzt so auf dem sozialen Umwege gerade das, was der Persönlichkeit auf rein individuellem Wege zu erreichen versagt ist.«48 Von Massenmode unterscheidet Haute Couture sich wie ein Grenzfall vom Feld, das sich an ihm orientiert: Individualität gewährt sie weniger durch den Schutz, den die Masse bietet, weil sie in schematisierter Sichtbarkeit unsichtbar macht, als durch arrangierte Imagination. In dieser Hin sicht läßt sich mit Simmel von der Mode als einem Phänomen spre chen, bei dem sich Unendlichkeiten aneinander brechen – Individuum und Gesellschaft, Privates und Öffentliches, Nacktheit und Kleidung, Wunsch und Wirklichkeit. Um den »Reichtum unausgeschöpfter Möglichkeiten«49 zu erfassen, den das Leben bietet, sind Formen und Symbole erforderlich, deren Sinn mehr gefühlt als begriffen wird. Außerhalb dieser Bedeutungsspiele treten Individuen als solche gar nicht in Erscheinung. Eine »Epiphanie des Antlitzes« wird, in der Perspektive Simmels, real als gesellschaftlich gepflegte Differenz der Zeichen – als anwesend Abwesendes. Magie gewinnt das Antlitz als Fragment, das in Verweisungen lockt und als »Sehnsucht« Kraft gewinnt.50 Simmels Philosophie der Mode ist eine Philosophie der Individualität, die frühromantische Motive fragmentarischer Unend lichkeit und intensiver Lebendigkeit aufnimmt.
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Ebenda, S. 24f. Ebenda, S. 9. Ebenda.
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Unsichtbare Gesichter
6 Venus vor dem Spiegel Eine Entwurfskizze Horsts zur Vorbereitung der Studioaufnahme zeigt am rechten Bildrand auf der Balustrade eine Pflanze. Bei der Auf nahme entschied der Fotograf sich gegen dieses Detail. Das Bildmotiv mit Pflanze erinnert, ebenso wie der Werbungstext in der Vogue, in dem von einer »Velázquez-Silhouette« die Rede ist, an Venus-Dar stellungen, insbesondere an Velázquez »Venus vor dem Spiegel« oder »Venus und Cupido«. Velázquez’ Bild (1,22 x 1,77m, National Gallery London) zeigt einen weiblichen Akt in der Verbindung zweier klassi scher Themen: die »Toilette der Venus« sowie die »ruhende Venus«. Beide Motive waren im 17. Jahrhundert, vor allem durch Tizian, ver breitet. Zu den Attributen der Venus, Göttin der Liebe, des erotischen Verlangens und der Schönheit, gehören Myrte und Spiegel.51 Horst verzichtet in seiner Reverenz an Velázquez auf zwei Elemente: die Myrte, an die vielleicht die Pflanze der Entwurfskizze erinnert, sowie den Spiegel, der für Velázquez’ Bildkomposition wesentlich ist. In die sem Verzicht kommt ein systematischer Bezug seiner fotographischen Bildkomposition auf Velázquez’ Gemälde zum Ausdruck. Velázquez’ Venus ruht in gestreckter Haltung, beinahe direkt vor dem Betrachter, dem sie ihren Rücken zukehrt, auf einer Art Diwan. Ihren Kopf, dessen linke Wange wir sehen, stützt sie mit der rechten Hand ab. Das Haar trägt sie zu einem lockeren Knoten hinten aufgesteckt. Ihr rechtes Bein befindet sich leicht angezogen unter dem ausgestreckten linken, während der linke Arm, verdeckt vom Oberkörper, sich etwa auf Höhe ihrer Brüste befindet. Die Raumwirkung ist sehr direkt: Betrachter des Bildes meinen, die Frau berühren zu können. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die geringe Tiefe des Bildraumes und durch die dynamische Wirkung der von links unten an den Füßen der Venus zusammenlaufenden und sich nach rechts oben fast diagonal auffächernden roten, grauen und weißen Farbflächen, die den Raum perspektivisch verkürzen. Venus’ ruhender Körper nimmt den Schwung der Diagonalen in seiner Drehbewegung auf, kontrapunktiert die Farbdynamik jedoch durch eine klare Horizontale. Zeigen Tizians Venus-Darstellungen Gesicht und Brüste, sehen wir bei Velázquez lediglich Rücken und Gesäß.52 51 Außerdem Tauben und Muschelschalen, als Tier wird Venus der Delphin zugeord net. 52 In Spanien waren durch die Inquisition Akt-Darstellungen verboten.
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6 Venus vor dem Spiegel
Bei einer Drehung des Gemäldes um 90 Grad gegen den Uhrzeiger sinn und bei Abdeckung der unteren Bildhälfte erschiene Venus in einer ähnlichen, lediglich nach links statt nach rechts gerichteten Drehbewegung wie Madame Bernon auf Horsts Fotografie. Madam Bernons schimmernder Haut korrespondiert Venus’ makelloser, in geradezu haptischer Qualität erscheinender Rücken. Stoffe und Haut gewinnen sinnliche Anmutungen. Intime Farben unterstützen diesen Eindruck: das sanfte Rosa des Körpers, leicht ins Weiß und Bräunliche abgeschattet, sowie das warme Rot und Braun der hinteren Draperie oder das sanfte Grau oder strahlende Weiß der Laken. Abgesehen davon, daß Horst sich in die Tradition klassischer Kunst stellt und einen entsprechenden Anspruch der Fotografie anmeldet, folgt er Velázquez in der Entscheidung, Gesicht und Brüste des Modells nicht zu zeigen. Die Unsichtbarkeit von Gesicht und Brüsten weckt Phantasien des Betrachters um so mehr, da sie den Wunsch, die Person zu kennen, stimulieren. Stellt sich bei Horsts Fotografie Betrachtern die Frage, ob die abgebildete Frau sich in einer Phantasie dem Blick des Betrachters anbietet – oder ob der Betrachter, der solches denkt, seine eigene Phantasie im Bild spiegelt, das Foto also ein Spiegel von Imaginationen ist, ohne einen Spiegel im Bildraum zu zeigen –, placiert Velázquez einen Spiegel fast genau im Bildzentrum. Gehalten wird er von Cupido, dessen rosiger nackter Körper den dunklen Rahmen hält und über die obere Rahmenleiste rosa Seidenbänder drapiert, die hell im Licht strahlen und Assoziatio nen erotischer Fesseln wecken. Diesen Seidenbändern entsprechen die leuchtenden, in anmutiger Unordnung über die Balustrade hän genden Miederbänder auf Horsts Fotografie. Gespiegelt in Velázquez’ Venus-Darstellung erinnern sie an sanfte Fesseln. Nun korrespondiert der zentralen Position des Spiegels in Velázquez’ Bild ein bildbeherr schendes Rätsel: Zum einen zeigt der Spiegel, in kurzer Entfernung vor der liegenden Venus gehalten, ein unscharf gemaltes Gesicht, auf dem kaum Details wie Augen oder Mund zu erkennen sind; zum anderen stimmt die räumliche Position des Spiegels nicht mit dem geometrisch möglichen Bild überein, das es zeigen müßte. Auf den ersten Blick scheint Venus versunken in eine Betrachtung des Spiegelbildes ihres Gesichtes. Cupido wiederum scheint versunken in die Betrachtung des Bildes auf dem Spiegel, den er Venus vorhält, während seine Hände mit den Seidenfesseln beschäftigt sind. Welches Bild zeigt – und sieht – Cupido? Bezogen auf die räumliche Position müßte im Spiegel Venus’ Schoß zu sehen sein. Worauf Phantasien sich
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Unsichtbare Gesichter
richten – Schoß, Brüste und Gesicht –, bleibt demonstrativ verborgen. Deren Unsichtbarkeit wird unterstrichen durch die verschwomme nen, also malerisch explizit unsichtbar gemachten Gesichtszüge der Venus. Wirkung entfaltet das Bild, indem es verdeckt, worauf es den Wunsch, zu sehen, richtet. Der Maler verändert, was »wirklich«, nach den Regeln der Perspektive und Reflexion, sichtbar ist, zuguns ten eines Arrangements der Phantasie. Künstlerische Darstellungen sind weniger Repräsentationen der bildexternen Welt als vielmehr Evokationen des Imaginären: Worauf es ankommt, sind Reflexionen auf der Grenze von Wirklichem und Möglichem, Tatsächlichem und Phantasiegestalten, Sehen und Denken, nicht bloße Spiegelungen von Sichtbarem. Spiegel müssen zu Bildern werden, um sehen zu lassen, was einzig der Reflexion zugänglich und somit kein bloßer Reflex ist. Unsichtbar ist das Gesicht der Venus in mehrfachem Sinne: als unscharfes Bild des unsichtbaren »wirklichen« Gesichtes der Venus, als Venus’ unsichtbares Gesicht, dessen Unsichtbarkeit durch das unscharfe Spiegelbild gezeigt wird, sowie als Supplement für das Bild ihrer Scham, das Betrachter anstatt ihres Schoßes gezeigt bekommen. In diesem Spiegelsystem beziehen Bildbetrachter einen zentralen Ort, der ihre Position mit dem Bildraum verschränkt: Im Blick des Betrachters laufen Raumperspektiven und Spiegelungsverhältnisse zusammen – er ist es, der die bildimmanenten Relationen in ihrer kalkulierten Dissonanz spiegelt, indem er Spiegelungsverhältnissen und Dissonanzen so nachgeht, daß er zum Vollzugsort der Bildlichkeit des Bildes wird.
7 Sehnsucht Von physikalischen Spiegeln unterscheiden »Bilder« der Reflexion sich, insofern sie keine analogen Repräsentationen von »Seiendem« bieten, die innerweltlich Vorkommendes – »Seiendes« – bloß ver doppeln. Wie Vélazquez und Horst demonstrieren, müssen Spiegel zu Bildern werden, um sehen zu lassen, was erst in Gedanken Gestalt gewinnt. Weder Reflex noch Repräsentation, die als natürli che Bilder oder einfache Signifikanten in der Welt begegnen wie »Seiendes«, sind kunstvolle Reflexionen Vollzüge von Unterschei dungsverhältnissen, bei denen weder ein Objekt noch ein Subjekt zur Ruhe, Bestimmtheit oder zum Stehen kommen. Vibrierende Stabilität gewinnen sie im System von aktualer Wahrnehmung, dem
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7 Sehnsucht
phänomenal erscheinenden Gegenstand, den Reflexionen von Wahr nehmung und Gegenstand sowie dem Verweisungsfeld, das in seiner Zeitlichkeit und symbolischen Sättigung vielfältige Assoziationen anbietet. Zum Bild Madame Bernons »gehört« deshalb die Aktua lisierung der Kunstgeschichte in der Spiegelung durch Velázquez’ »Venus« ebenso wie die Inszenierung der Fotografie auf der Grenze zwischen Skulptur, Kunst und Werbung, der historische Kontext des Jahres 1939 oder auch der Vergleich mit alternativen Bildvokabula ren wie demjenigen Leni Riefenstahls oder dessen Zitaten in der Pop-Kultur. In Bewegung versetzt, öffnen diese Dimensionen den Raum des Imaginären. Spuren zu verfolgen, Kontraste hervorzuheben und Vergleiche anzustellen, lockt in Abenteuer des Sinns, die nicht darauf abzielen, etwas zu bestimmen. Entdeckungen im Imaginären lassen Bilderwelten entstehen, die, wie Spiegelsysteme, mögliche Referenten als abwesende evozieren. Für welches Phänomen gälte das mehr als für das menschliche Gesicht, ist dieses doch eine sichtbare Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Körper und Geist? Je rätselhafter die Person, auf die ein Bild verweist, desto mehr scheint das Bild geeignet, Betrachtern als Spiegel ihrer selbst zu dienen. Im Verweisungshorizont des Bildes spiegelt sich die aktuale Unendlichkeit des Betrachters. Darstellungen von Menschen bezie hen daraus ihre Faszination. Denn im Bild einer Person erscheint Betrachtern die eigene Innerlichkeit wie im Spiegel. Je rätselhafter das Bild, desto nachdrücklicher konfrontiert es Betrachter mit der unendlichen Bestimmbarkeit des Abgebildeten – mit der potentiellen Unendlichkeit einer zugleich vertrauten und doch auf immer frem den Welt. Das Gesicht fungiert als Spiegel der Person: sichtbar als Oberfläche, selbst sehend und die Welt spiegelnd sowie das eigene Denken und Fühlen in die unzugängliche Innerlichkeit des eigenen Bewußtseins verschließend, doch als unzugängliche Sphäre nach außen spiegelnd. Gesichter als unsichtbare nur andeutend zu zeigen, hebt die paradoxe Spiegelfunktion des phänomenalen Antlitzes her vor. Im unsichtbaren Gesicht, auf das Velázquez und Horst sich als Darstellungsmittel stützen, kommt indirekt zum Vorschein, was Emmanuel Lévinas als »Epiphanie des Antlitzes« charakterisiert: »Die Gegenwart des Anderen besteht darin, sich der Form zu entklei den, von der er doch schon zum Vorschein gebracht worden ist.«53 53
Lévinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. A.a.O., S. 41.
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Unsichtbare Gesichter
Versteht Lévinas die Erscheinung des »Anderen« jedoch als etwas, das die Welt transzendiert, indem es mich unmittelbar niederwirft, plädieren Kunstwerke wie die von Horst oder Velázquez dafür, die Enthüllung als Verhüllung und »Nacktheit« nicht als Abstreifen, sondern als Inszenierung kultureller Formen zu verstehen. Nacktheit bleibt unweigerlich ein kulturelles Phänomen.54 Fremdes erscheint, auf Darstellungen wie den besprochenen, weder als Absolutes noch »außerhalb jeder Ordnung«.55 Um das Erscheinen des Unendlichen möglich zu machen, bedarf es einer Darstellungskunst – einer Poe tik der Reflexion – die etwas anderes ist als Phänomenologie des Erscheinenden oder Ethik. Transzendenz bleibt an die Welt und deren Zeichen gebunden. Deshalb geht in ihrer Präsenz die Zeit nicht unter wie bei Heideggers An-Denken oder Lévinas’ Epiphanie. Um zu erscheinen, ist sie auf Interventionen in Gestalt kultureller Formen angewiesen. Rätsel, die sie aufwirft, entfachen Fragen, ohne den Fragenden »unbedingt« in Anspruch zu nehmen. Weniger die Verheißung eines abschließenden Bestimmthabens fesselt Betrachter als die Unendlichkeit von Bezügen, die auch an die auf immer unzu gängliche Unendlichkeit eines Menschen und seiner Welt geknüpft sind. Solche Bezüge müssen entfaltet werden, um zu erscheinen. Sie entspringen schöpferischen Leistungen, aus denen auch reflektie rendes Denken entsteht, das sich eher als Prozeß erfaßt, als daß es in bestimmenden Begriffen oder Aussagen einzufrieren ist oder eine absolute Transzendenz anzudenken versuchte. Im unsichtbaren Gesicht Madame Bernons spiegelt sich eine untergangene Epoche europäischer Kultur. Katalysatoren des Imaginären, kommen Arte fakte wie Horsts Fotografie Simmels Idee der Kultur am nächsten. Denn die eigentümliche Leistung der Kultur zeigt sich in der Ver schränkung einer doppelten Unendlichkeit: objektiver Gehalte wie Bilder, Bücher, Wissenschaften, Recht oder Religion einerseits, sub jektiver Aneignungs- und Ausdrucksverhältnisse in der jeweiligen Individualität einer Person andererseits. 54 So beobachtet bereits Goethe: »Sie fing an, sich auszukleiden: welch eine wunder liche Empfindung, da ein Stück nach dem anderen herabfiel, und die Natur, von der fremden Hülle entkleidet, mir als fremd erschien, und beinahe, möcht' ich sagen, mir einen schauerlichen Eindruck machte.« In: Fragment zu den Briefen aus der Schweiz [1796]. Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 9. Zürich, München 1977, S. 495. Zum Kontext vgl. Rath, N.: Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um 1800. Münster, New York, München, Berlin 1996, S. 81f. 55 Levinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. A.a.O., S. 41.
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7 Sehnsucht
Kultur, schreibt Simmel, ist der »Weg der Seele zu sich selbst; denn keine solche ist jemals nur das, was sie in diesem Augenblick ist, sondern ein Mehr, es ist ein Höheres und Vollendeteres ihrer selbst in ihr präformiert, unreal, aber doch irgendwie vorhanden. Nicht ein benennbares, an irgendeiner Stelle der geistigen Welt fixiertes Ideal ist hier gemeint; sondern das Freiwerden der in ihr selbst ruhenden Spannkräfte, die Entwicklung ihres eigensten, einem inne ren Formtrieb gehorsamen Keimes.«56 Im Freiwerden verschränken sich subjektiv-reflexive mit objektiv-referentiellen Verweisungen. So wird Persönlichkeit als Individualität einer Welt möglich. Persönlich keit »trägt ein wie mit unsichtbaren Linien vorgezeichnetes Bild in sich, mit dessen Realisierung sie sozusagen statt ihrer Möglichkeit erst ihre volle Wirklichkeit wäre.«57 Weil diese Bewegung einer (Selbst)Gestaltung niemals zum Abschluß gelangt, spricht Simmel von einer »Sehnsucht«, die dem Geist wie der Einzelseele innewohnt, Dualismen zu überwinden.58 Simmel deutet diese Sehnsucht als Tragödie. Die Unendlichkeit kultureller Bedeutungen versteht er als Überforderung und Entfrem dung des sehnenden Subjekts. In Artefakten der Kultur, zu deren Vermehrung sein eigenstes Ausdruckbegehren beiträgt, erfährt es Mannigfaltigkeiten als Scheitern an ichfremden Sachgesetzlichkeiten. Weder löst das Ich sich in der Vielfalt der Kultur auf, noch versammelt es sich als übergreifende Einheit in sich selbst. »Seit der Mensch zu sich Ich sagt, sich zum Objekt, über und gegenüber sich selbst, geworden ist, seit durch solche Form unserer Seele ihre Inhalte in einem Zentrum zusammengehören – seitdem mußte ihr aus dieser Form das Ideal wachsen, daß dies so mit dem Mittelpunkt Verbundene auch eine Einheit sei, die in sich geschlossen und deshalb ein selbst genugsames Ganzes sei. Allein die Inhalte, an denen das Ich diese Organisierung zu einer eigenen, einheitlichen Welt vollziehen soll, gehören nicht ihm allein an; sie sind ihm gegeben, von irgendeinem räumlichen, zeitlichen, ideellen Außerhalb her, sie sind zugleich die Inhalte irgendwelcher anderer Welten, gesellschaftlicher und meta physischer, begrifflicher oder ethischer, und in diesen besitzen sie Formen und Zusammenhänge unter sich, die mit denen des Ich nicht 56 Simmel, G.: Der Begriff und die Tragödie der Kultur [1911]. In: Ders.: Philosophi sche Kultur. Berlin 1986, S. 195–219, hier S. 195. 57 Ebenda, S. 196. 58 Vgl. ebenda, S. 199.
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Unsichtbare Gesichter
zusammenfallen wollen. An diesen Inhalten, die das Ich in besonderer Weise gestaltet, ergreifen die äußeren Welten das Ich, um es in sich einzuziehen; indem sie die Inhalte nach ihren Ansprüchen formen, lassen sie jene nicht zur Zentrierung um das Ich kommen.«59 Am Nullpunkt des Lebens und der Kultur, im Spiegelbild des selbstgewissen, aber weltlosen Cartesianischen »Cogito«, fallen Selbst und Welt auseinander. Schmerzvolle Zerrissenheit tritt an die Stelle von Selbstgewißheit. In Kategorien wie Sehnsucht und Schmerz, Leben und Verlust des Selbst klingen lebensphilosophische und romantische Motive in Simmels Kulturphilosophie durch. Doch an die Stelle des frühromantischen Optimismus, wie er beispielsweise in Friedrich Schlegels Freude an der Unerschöpflichkeit menschlichen Fühlens und Denkens aufscheint, tritt bei Simmel ein tragisches Weltbild. Kulturelle Artefakte in all ihrem Reichtum erschaffend und darin seine Kräfte verausgabend, findet das Selbst nicht zu sich zurück. Verirrt in Labyrinthen des Objektiven, kommt ihm seine Einheit abhanden: »[D]ie Entwicklung der Subjekte kann jetzt nicht mehr den Weg gehen, den die der Objekte nimmt; diesem letzteren dennoch folgend, verläuft sie sich in einer Sackgasse oder in einer Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben.«60 In der Moderne wird die Idee eines reflexiven Ich, das Descartes als rein selbstreferentielle Figur anlegt, der die Welt in dem Maße abhandenkommt, wie es sich gewinnt, zum Ort der Entfremdung von der Welt des Geistes wie von sich selbst. Was bleibt, ist eine Sehnsuchtsfigur einerseits und Weltkritik andererseits. Damit trifft Simmel eine Stimmung der Intellektuellen seiner Zeit – von Max Weber bis Heidegger. Offen bleibt, ob es überhaupt noch Chancen einer »eigentlichen« Existenz gibt, wie Heidegger sie in »Sein und Zeit« ins Auge faßt. Jeder »Entwurf« des Daseins müßte, in Simmels Augen, in eine Spirale der Entfremdung hineinführen und die fatale Paradoxie der Kultur verschärfen. Andererseits läßt Kultur sich, wie an der Mode abzulesen ist, keineswegs als bloße Sphäre des Uneigentlichen dis kreditieren. Einerseits wirkt Simmels Zeitdiagnose im Vergleich zu Heideggers Denken von »Sein und Zeit« skeptischer, was die Möglichkeiten »eigentlichen« Daseins betrifft; andererseits ist sie weltzugewandter, was das Interesse am phänomenalen Reichtum der Kultur anbelangt. Diese Ambivalenz mag damit zusammenhängen, 59 60
Ebenda, S. 209f. (Hervorhebung im Original). Ebenda, S. 216.
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7 Sehnsucht
daß Simmels lebensphilosophisch inspirierte Denkfigur in einem Spannungsverhältnis zu seiner Begrifflichkeit steht. Letztere ist weni ger prozeßorientiert aufgebaut als der Grundgedanke eines immer neuen Konflikts von Geist und Leben. Mit dieser Ambivalenz wiede rum steht Simmels Philosophie in einem instruktiven Kontrast zu Heideggers späteren Versuchen, eine philosophische Terminologie zu erarbeiten, die prozessual angelegt ist, auch wenn dies um den Preis einer Weltabwendung erfolgt. Von einer Tragödie spricht Simmel, weil er seine Gedankenfigur an entscheidender Stelle binär anlegt. Was er als durch geistige Tätigkeit verschränkt erkennt, erscheint zugleich als in Gegensät zen zerrissen. Zwischen Simmels begrifflicher Textur und seinem lebensphilosophischen Grundverständnis des Geistes tut sich eine Kluft auf. Verstehen wir das Zusammenspiel von Seele, Geist und Kultur als rekursiven, symbolgeleiteten Prozeß, werden binäre Zer fallserscheinungen eher unverständlich. Auf einer tiefenstrukturellen Ebene ist Simmels Text, entgegen seiner zentralen Intuition, von einer Reihe antagonistischer Begriffspaare geprägt: Natur und Geist, Subjekt und Objekt, Seele und Kulturgebilde, Innen und Außen, Zeit und Zeitlosigkeit. Immer dann jedoch, wenn Simmel über kon krete Phänomene schreibend nachdenkt, lösen solche Antagonismen sich auf. Begriffliche Oppositionen verwandeln sich in Pointierun gen, Vor- und Rückgriffe oder exemplarische Einsichten. Begriffe erscheinen dann als provisorische Fixierungen gedanklicher Prozesse, die sich ihrem Wesen nach begrifflicher Festlegung entziehen. Inso fern behalten Simmels Essais, in ihrer literarisch-philosophischen Form, Recht gegenüber seinen philosophisch-soziologischen Begrif fen. Heideggers Analysen des »Man« in »Sein und Zeit« ist Simmels Skepsis nicht unähnlich, obgleich der Stil seiner phänomengesät tigten Beschreibungen einem kulturkritischen Gestus zuwiderläuft. Besonders Reflexionen auf Mode sind ein Beispiel dafür, wie genau Simmel auf die Doppelfunktion von Innen und Außen, Unsichtbarem und Sichtbarem, Typus und Individuum in der Sphäre inszenierter Öffentlichkeit schaut. Vielleicht zeigt Mode, als kulturelle Form, die auf Nachahmung angelegt ist, nicht von selbst auf das Individuum. Doch ermöglicht sie gerade, wie Simmel weiß, die Vorführung von Individualität – für die sich zeigende Person wie für die jeweils anderen, deren Blicken sie sich darbietet. Eine sich sorgfältig im Blick auf die Mode kleidende Frau ist wohl kaum ein »Niemand« im Sinne
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Unsichtbare Gesichter
Heideggers, verstrickt in »Uneigentlichkeit«.61 Ist es nicht eher so, daß eine Frau wie Madame Bernon – und damit im Prinzip jede Frau und jeder Mann – sich in der Beobachtung und Inszenierung ihrer Erscheinungsweise – ihrer gesellschaftlichen Sichtbarkeit – auch selbst erfaßt als Teil und Mittelpunkt eines sozialen Kreises? Gibt es überhaupt eine Idee des Eigentlichen ohne Uneigentlichkeit? Wäre Mode – und künstlerische Darstellungen von Mode – nicht ein guter Weg, um Reflexionen des »Daseins« als eines gesellschaftlichen Seins in der Zeit anzuregen? Weisen zu vergleichen, in denen solche Spiele von Nachahmung und Abweichung, Typus und Individuum vorgenommen werden, sagen manches aus über Wahrnehmungsstile und Denkweisen, Routinen und kulturelle Atmosphären. Lassen wir uns auf Simmels Analysen ein, erscheint gerade in einer Poetik der Reflexion eine Einsicht, wie auch Heideggers Analyse des »Man« sie intendiert, wenngleich näher an phänomenalen Gegebenheiten: Es gilt, das Aufspringen einer Differenz im naiven Vollzug des Dahin lebens zu verstehen. Bloßer, denkimmanenter Reflexion erschließt diese Differenz sich, wenn überhaupt, mühsamer als einer beschrei benden und neugierigen Annäherung an kulturelle Phänomene, die ihrerseits Differenzen ausbilden und pflegen – wie die Mode. Gar nicht erschließt sie sich einem Denken des »Anderen«, das, wie Lévinas es tut, dem »Dasein« die »Heimsuchung« entgegensetzt. »Grundfähigkeit des Geistes«, hebt Simmel hervor, sei, »sich von sich selbst lösen zu können, sich gegenüberzutreten wie einem Dritten, gestaltend, erkennend, wertend«.62 Beim Wort genommen, beugt diese Figur kultureller Entfremdung vor. Sich gegenübertreten kann der »Geist« im Spiegel eines symbolischen Artefakts, in dem Subjekt und Objekt in miteinander verschränkte Beziehungen gera ten, zusammengespannt jeweils in der Aktualität einer Reflexion. »Drittes« ist nicht das Artefakt allein, auch nicht der »Andere«. Es rea lisiert sich im Vollzug eines Unterscheidungs- und Verweisungsspiels. Ausgeschlossen bleibt, daß die miteinander verknüpften Aspekte auseinanderfallen. Akzentuieren wir Simmels romantisches Motiv der »Sehnsucht« stärker als seinen Begriff der »Tragödie«, erweist sich Reflexion als Spiegelung des Selbst im Imaginären der Kultur, ohne daß man in ihrem Vollzug je ein Original der Repräsentation vermis sen oder ein Entgleiten des Sinns in der Transzendenz befürchten 61 62
Vgl. Heidegger, M.: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 197915, S. 128. Simmel, G.: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. A.a.O., S. 217.
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7 Sehnsucht
müßte. Weder kommt den reflektierenden Einzelnen ihre lebendige Mitte, nach der sie sich sehnen und die als gefühlte Form ein lebendi ges Pendant zum Cartesianischen »Cogito« ist, in ihrer Verlorenheit in der Mannigfaltigkeit des objektiven Geistes abhanden, noch geht Kultur in der zentrumslosen Oszillation »modischer« Nachahmungsund Differenzierungsbemühungen auf, die sämtliche Kulturleistun gen als ziellos vagabundierenden Sinn erscheinen lassen. Anhand konkreter Phänomene lassen alternative Deutungen und begriffliche Strategien sich als Alternativen unterscheiden. Wohl kein Phänomen führt diesen Zusammenhang so klar vor Augen wie das menschliche Gesicht. Friedrich Schlegel charakterisiert diese Beobachtung als »Gefühl des Erhabenen«. Wirklichkeit erscheint als »Indifferenz-Punkt« von Bewußtsein und Unendlichem.63 Was sich in Reflexionen verschränkt zeigt, bleibt Begründungen entzogen – verlangt jedoch Darstellungen. Der »Andere« öffnet die Welt, indem seine konkrete Unendlichkeit als Horizont in meiner Welt auftaucht. Ohne Reflexion auf »mich« bliebe der Andere in seiner Andersheit gleichgültig. In gewisser Weise »lichtet« sich die Welt im anderen Menschen, wenn »ich« mich ihm als Resonanzraum seiner Unendlichkeit anbiete. Heideggers Bestreben, die »Lichtung« an ein »Denken« zu knüpfen, für das Welt sich lichtet, hält diese Konstel lation von Offenheit und Reflexivität fest. Darin behält Heidegger recht gegenüber einer Unbedingtheit der Preisgabe des reflexiven Ichs, wie Lévinas sie als Alternative zum »Sein« ins Spiel bringen möchte. Ein solcher Gedanke wäre einerseits Gedanke von nichts, somit gar kein Gedanke, und andererseits bloßer Gedanke, etwas begrifflich Ausgedachtes, dessen Ereignis in der Welt ins Beliebige geriete. Erst in Darstellungen, ließe sich mit Schlegel und Simmel auf Heidegger und Lévinas antworten, scheint Unendliches auf und treibt Menschen an, auf der Bahn ihrer Erfahrungen und Reflexionen voranzuschreiten. Menschen sind die Wesen im Universum, die, weil von Natur aus symbolisch begabt, ihr Leben wie einen Vektor begreifen können, der niemals zur Ruhe kommt, weil er Oszillations punkt von Bewußtsein und Unendlichem, mithin dynamische Realität ist. Simmel, mit Schlegels Augen gelesen, hat Ähnliches im Sinn, wenn er von der Sehnsucht der Seele und des Geistes spricht. Direkt Abwesendes oder Unsichtbares – das Gesicht Madame Bernons oder der Venus – stimuliert in Darstellungen Reflexionen. In Friedrich 63
Schlegel, F.: Transcendentalphilosophie [1800/1801]. Hamburg 1991, S. 6.
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Unsichtbare Gesichter
Schlegels Worten: »Dies ist ein Sehnen, die Sehnsucht nach dem Unendlichen. Etwas Höheres gibt es im Menschen nicht.«64
64
Ebenda, S. 7 (Hervorhebung im Original).
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Tanzende Identitäten Symbolisches statt Seiendes
1 Tanz zur Musik der Zeit »Unser Weg hatte sich plötzlich gegabelt. Mit Bedauern nahm ich die Unvermeidlichkeit der Umstände hin. Menschliche Beziehungen blühen und verwelken schnell wieder, schnell und still, so dass die Betroffenen kaum wissen, wie spröde und brüchig die Bande gewor den sind, die sie zusammenhalten.« Nicholas Jenkins blickt zurück auf das Ende einer Freundschaft, mit der auch seine Schulzeit endet. Jahre der Erziehung verblassen zur Erinnerung, allmählich überdeckt von Bildern möglicher Zukunft. Zugunsten einer Party hatte Stringham das verabredete Abendessen mit seinem Freund Jenkins abgesagt, weil eine vielversprechende Heiratskandidatin auf dem Fest zu erwarten war. »Ein neuer Zeitabschnitt begann nun, und in gewissem Sinne war dieser Abend der letzte Rest meines Lebens in der Schule.« Mit dem Ende der Schulzeit und dem Ende einer Freundschaft endet der erste Band von Anthony Powells zwölfbändigem Romanzyklus »Ein Tanz zur Musik der Zeit«. Geschildert wird das Leben von Angehörigen der englischen Oberschicht zwischen 1921 bis zum Beginn der 1970er Jahre.1 Wie in einem Tanz bewegen sich Menschen in sozialen Figura tionen zu Rhythmen von Natur und Gesellschaft, Zeitgeschehen und Familienleben. Erinnerungen und Begegnungen tauchen Ereignisse in wechselnde Bedeutungen. Durchgehende Linien, die sich in drama turgisch zugespitzten Geschichten bündeln, sind kaum zu erkennen. Wo etwas aufhört und anderes anfängt, bleibt schwer zu entscheiden. Mit zeitlichem Abstand nehmen Uneindeutigkeiten zu. Urteile über Personen rücken ebenso wie mögliche Ursachen ins Dämmerlicht der Vergangenheit. Antony Powell legt seinen Roman als Zyklus an, der Biographien, Orte, Traditionen, Ereignisse, Institutionen, Begegnun gen, Erinnerungen, Gewohnheiten, Sichtweisen, Empfindungen und Erfahrungen ineinanderwebt. Leser treiben durch diese Erzählung, eigenen Reflexionen nachhängend, die sich wie ein Schleier über die 1 Powell, A.: Eine Frage der Erziehung [1951]. Ein Tanz zur Musik der Zeit. Bd. 1. Berlin 20164, S. 248.
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Tanzende Identitäten
geschilderten Begebenheiten legen, deren Fokus das Schicksal von Nicholas Jenkins bleibt. Weder Ursachen noch Logik regieren die Welt des Romans. Und doch ist nichts zufällig. Jede Einzelheit findet ihren Ort. Zwar ist alles verständlich, doch nie rundet sich die Vielfalt der Facetten zur Totalität des Sinns. Bestimmtes und Unbestimmtes, Gegebenes und Reflexion gehen ineinander über. Wirkliches »ist« mehrdeutig und veränder lich. »Seiendes« taucht auf und geht unter im Strom eines Werdens, dessen lebendige Natur symbolisch geordnet und bedeutungsvoll ist. Einsichten wie diese verbinden Anthony Powells Roman mit Friedrich Schlegels Universalpoetik, aber auch mit naturphilosophi schen Gedanken, die ihre zugespitzte Form in der Quantenphysik des 20. Jahrhunderts finden. Geist gegen Natur auszuspielen wäre ebenso unsinnig, wie Philosophie einfach gegen Wissenschaft in Stellung zu bringen. Von Novalis über Schelling bis Whitehead war diese Überzeugung selbstverständlich. Heideggers Weigerung, in der Quantenphysik einen der Philosophie verwandten Denkstil anzuerkennen, markiert deshalb auch seine Fremdheit gegenüber grundlegenden romantischen Denkfiguren. Auf Zusammenhänge zwischen Quantenphysik und Poetik hat 1933 Ossip Mandelstam in seinem »Gespräch über Dante« hingewie sen.2 Ihren Reichtum entfalte Dantes »Göttliche Komödie« erst, wenn sie vor dem Hintergrund quantenphysikalischer Theorien gelesen werde, da es in beiden Fällen um die Auflösung fester, objektiver Iden titäten gehe. Wirklichkeit zeigt sich physikalisch als energetischer Prozeß, dessen Zustände von ihrer Beobachtung abhängen. Gleiches gilt in Mandelstams Augen für sprachliche Ausdrücke. Jedes Wort gleicht, wie Friederike Günther Mandelstams Poetik charakterisiert, »einem ›Strahlenbündel‹ (...), das sich in unendlich viele Richtungen entfalten kann – je nachdem, wie weit Bildung und Assoziationsver mögen reichen.«3 Symbole betrachtet Mandelstam als eine eigene Art von Materie, die sich der Fixierung auf Identitäten entzieht, weil sie in ihrer Prozeßhaftigkeit unvorhersagbar bleibt. Die poetische Dynamik 2 Vgl. Mandelstam, O.: Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II [1925–1935]. Zürich 1991. 3 Günther, F.: Welle und Teilchen. Ossip Mandelstams poetologische Anverwand lung der Quantentheorie im ›Gespräch über Dante‹. In: Reulecke, A.-K. (Hrsg.): Von null bis unendlich. Literarische Inszenierungen naturwissenschaftlichen Wissens. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 115–129.
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1 Tanz zur Musik der Zeit
gleicht physikalischen Meßfeldern.4 Dichtung vergleicht Mandelstam mit Tänzen. Die Position des Künstlers »ist im wesentlichen schwan kend, unruhig, seitwärts verschoben. Sie erinnert an die (...) Figur des Walzers, denn nach jeder halben Drehung der seitwärts versetzten Fußspitze kommen die Fersen des Tänzers wohl wieder zusammen, doch jedes Mal auf einem anderen Parkettstück und auf qualitativ neue Weise.«5 Physik und Poetik vollziehen ähnliche dynamische Existenzweisen des Universums nach, wobei Dichtung eine besondere Art von Materie organisiert: Sinn. Form und Inhalt der Reflexion werden, ähnlich Quantenzuständen, durch Sinn verschränkt. Möchte Martin Heidegger unbedingt jede Ähnlichkeit seiner philosophischen Sprach-Fugen mit quantenphysikalischen Feldern vermeiden, führen Powells Roman und Mandelstams Poetik vor Augen, wie ähnlich poetische Sprache und physikalische Feldtheorie einander sind, wenn es um die Darstellung von bedeutungsgesättigten Phänomenen geht. Heideggers Physik-Abstinenz erklärt sich auch daraus, daß er sich auf solche Darstellungen nicht einlassen möchte. In Powells Romanzyklus betreten Leser eine Welt, in der sie sich ohne Erklärungen zurechtfinden. Gegenstände, Menschen, Handlun gen, Träume, Ängste, Zufälle oder Begegnungen bilden Sinn-Kno ten mit multiplen Verzweigungen. Eigenschaften und Bedeutungen heben den Reichtum einer Wirklichkeit plastisch hervor, die mit Hilfe von Gesetzen oder Definitionen kaum zu begreifen wäre. »Ein Tanz zur Musik der Zeit« zeichnet das Bild der englischen Gesellschaft über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Das macht den Roman mit soziologischen und historischen Darstellungen vergleichbar, doch seine poetische Form zielt auf eine andere Art des Wirklichen, als Wissenschaften sie zu fassen bekommen. Alles spiegelt sich in allem. Leser verfolgen überraschende Konstellationen, bei denen etwas zwanglos mehrfache Bedeutung annimmt, wie jeder weiß, der mit Nicholas Jenkins eine Party besucht. Abstände, Folgen, Gleichzeitigkeiten oder Motive überlagern einan 4 »Mandelstam will das Unberechenbare der poetischen Materie freisetzen, wenn er das Wort als ein Strahlenbündel versteht, das in alle möglichen Richtungen ausstrahlt und so viele Bedeutungen umfasst, dass sich eine flimmernde Bewegung als ›Sinn‹ ergibt. Mit dieser auflösenden Tendenz ... folgt er dem Weg der modernen Physik, der in den Zerfall auch noch des letzten als fest angenommenen Teilchens in eine zufällige energetische Bewegung mündet. Dieser Bewegung setzt sich der poetische Text aus und löst sich dennoch nicht auf.« Ebenda, S. 128. 5 Zitiert nach Günther, F.: Welle und Teilchen. A.a.O., S. 129.
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Tanzende Identitäten
der. Powells Roman läßt vor den Augen der Leser einen Kosmos entstehen, der das Bild einer zwar vergangenen, aber noch immer wir kungsmächtigen Kultur heraufbeschwört. Gegenwart, erfahren Leser, »ist« Geschichte – ein Werden und Umfigurieren von Singularitä ten, die jeweils eigene Unendlichkeiten zur Wirklichkeit beisteuern. Datierbare Geschehnisse wie der Krieg liefern Referenzrahmen für Reflexionen, Entscheidungen, Wahrnehmungen und Gedanken der Protagonisten. Mit der Dauer der Lektüre wächst das Gefühl, der Wirklichkeit so nahe zu kommen, daß Leser Teil des Beschriebenen werden. Ihre Erfahrung wird um so reicher, je unschärfer Identitäten geraten. Von klaren und distinkten Unterscheidungen kann bald keine Rede mehr sein, und doch tauchen sie in Powells Roman ein wie in eine intensive Wirklichkeit. Größer könnte der Kontrast zur neuzeitlichen Idee eines methodischen, sich selbst begründenden, zwischen Geist und Natur unterscheidenden Wissens kaum ausfallen.
2 Rhetorik des Beweises Für dieses Wissensideal steht exemplarisch ein spektakuläres Argu ment der Philosophiegeschichte. Descartes’ »Meditationen« entwi ckeln 1641 die Idee eines sich selbst begründenden Wissens, dessen Form den Universalschlüssel zum Wissen von der Welt an die Hand geben soll. Ein Begriff des Ichs, ein Gottesbeweis, eine Kritik syllogis tischer Logik, eine zirkuläre Unterscheidung und ein Methodenpro gramm werden miteinander verbunden. Die syllogistische Logik dient ihrer eigenen Entmachtung; die Unterscheidung hebt sich auf, und der Begriff Gottes wird stillschweigend in denjenigen der Methode ver wandelt. Descartes’ Text stellt sich mit einer rhetorischen Geste vor: »Meditationen«, eine religiöse Praxis der Kontemplation, sollen die Reflexionsschritte sein, zu denen der Autor seine Leser einlädt. Ziel des Weges ist das Konzept einer mathematisierten Natur, der jeder religiöse Sinn ausgetrieben wird. Sechs Meditationen genügen zum systematischen Aufbau eines Gebäudes des Wissens; sie spiegeln sechs Schöpfungstage, die der Gott des Alten Testamentes braucht, um die Welt zu erschaffen. Allerdings erschafft Descartes die Welt allein aus der Kraft des menschlichen Geistes, der wie nebenbei auch einen Gott »beweist«, dem nur noch transitorische Bedeutung
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2 Rhetorik des Beweises
zukommt. Vor den Augen des Lesers rollt eine magisch anmutende Transformationsreihe ab. Obwohl dieser Text das nüchterne Bild einer entzauberten, mathematisch domestizierten Natur entwirft, ist es seine rhetorische Qualität, die eine untergründige Verwandtschaft zwischen diesem Manifest eines Denkens in klaren Distinktionen einerseits und einem komplementären, anticartesianischen Denkstil andererseits begrün det. Für Martin Heidegger stellt Descartes’ Philosophie eine der wichtigsten Kontrastfolien dar. Aber so bedeutsam die Auseinander setzung mit Descartes’ Philosophie für Heidegger auch gewesen ist, so wenig Aufmerksamkeit widmet er deren Rhetorik. Heidegger liest Descartes als im Christentum verwurzelten Denker. Literarischen Eigenheiten seiner Argumentation schenkt er keine Beachtung.6 Des halb stellt sich für Heidegger nicht die Frage, ob womöglich Hölderlin in seinen philosophischen Überlegungen über »Seyn, Urtheil, ...« aus der Paradoxie des Absoluten bei Descartes, Spinoza, Kant oder Fichte die einzige noch mögliche Konsequenz gezogen hat: das »Abso lute« als literarische, nicht als urteilsförmig zugängliche Figur zu behandeln. Während Descartes das Absolute des Unterscheidens – Gott – operativ voraussetzt, um ihn im folgenden logisch nicht mehr strapazieren zu müssen, setzt Spinoza Gott absolut voraus, weil ohne diese Voraussetzung gar keine logische Entfaltung philo sophischer Unterscheidungen zustande käme; eben diese absolute Voraussetzung Spinozas verlagert Kant in die Figur des »Ich«, die als paradoxe, zugleich natürliche und vernünftige absolute Matrix aller urteilsförmigen Unterscheidungen von ihm postuliert wird. Differenz verwandelt sich zu Monismus und schließlich zu Transzendentalität, wobei sie ihren logischen Charakter bewahrt. Hölderlin hingegen betrachtet das »Absolute« – die unvermeidli che Voraussetzung allen Unterscheidens – als Grund-Satz, der sich deduktiven Ableitungen gegenüber sperrt, aber poetisch entfaltet werden kann. Aus einer Logik des Absoluten, die Descartes mit Spinoza, Kant und Fichte, später auch mit Hegel verbindet, wird eine Hermeneutik der Voraussetzungen von Reflexion, die sich als poetische Rede artikuliert, ohne Rhetorik zu werden. Die »nothwendige Voraussetzung eines Ganzen« im »Urtheil« beinhaltet, daß »Seyn« und
6 Vgl. etwa Heidegger, M.: Nietzsche: Der europäische Nihilismus. Vorlesung von 1940. Gesamtausgabe Bd. 48. Frankfurt/M. 1986, S. 174.
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»Identität« verschieden sind.7 Obwohl das Seyn nicht in Aussagen zu fixieren ist, bleibt es zugänglich, ist es doch weit mehr als das logische Negativ des Bestimmten. Von Maschinen nämlich unterscheidet sich der Mensch dadurch, lebendige Beziehungen zu dem zu unterhalten, »was ihn umgiebt«. »Geist«, »Gott« und »Welt« sind in lebendigen Welt-Erfahrungen miteinander verschränkt. Gott und Geist können weder begrifflich vorgestellt noch bewiesen werden, zeigen sie sich doch als »Sphäre«, in der ein jeder Mensch »wirkt und die er erfährt«. Im Begrenzten einer Sphäre zeigt sich Unendliches. Dazu muß Begrenztes und Besonderes zu anderem und zu den Besonderheiten anderer Menschen in ein harmonisches – und unendliches – Verhältnis versetzt werden. Endlich-unendliche Verhältnisse entspringen menschlicher Tätigkeit, denn Unendliches wird im Endlichen in der Herstellung von Harmonie erfahrbar. Göttliches – nicht: Gott – erscheint als »Seyn« erst im Plural seiner Besonderheiten in der Welt. Als Form menschlicher Freiheit ist es konkret und wirklich. Wenn Menschen »ihre verschiedenen Vorstellungsarten von Göttlichem« einander »zugesellen«, verleihen sie ihrer »Freiheit« Form, »indem sie in einem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten begriffen« sind, die auch ein harmonisches Ganzes von »Lebensweisen« ist.8 Medium dieser Explikation des konstitutiven Zusammenhangs von Seyn, Göttlichem, Geist, Freiheit und Welt sind Symbole, deren Arrangement höchste Aufmerksamkeit verdient. Menschen müssen sich »eine Idee oder ein Bild machen von ihrem Geschik«.9 Hölderlin entwickelt in seiner Dichtung eine poetische Sprache, die der Urteilsform von Aussagesätzen nicht selten ausweicht, um uns poetisch in die Welt zu verstricken. Begrifflich formulierte Gedanken erschöpfen die Vielfalt des Lebens nicht. Anthony Powells Roman liefert ein Beispiel dafür, wie eine poetisch-philosophische Weltverstrickung im Blick auf »Lebenssphären« des 20. Jahrhunderts in der Folge Hölderlins gelingen kann. An Intensität gewinnen Reflexionen im selben Maße, wie sie sich mit der phänomenalen Vielfalt der Welt sättigen. Heidegger ist Hölderlin zwar darin nahe, der Sprache einen konstitutiven Beitrag zur Reflexion einzuräumen; dessen Gedanken literarisch-poetischer Welthaltigkeit hingegen weicht er aus. Damit setzt er den Weltbezug aufs Spiel, der Hölderlin ebenso wie Friedrich Hölderlin, J.Ch.F.: Seyn, Urtheil, ... [1795]. In: Ders.: Theoretische Schriften. Hamburg 1998, S. 7f. 8 Ders.: Fragment philosophischer Briefe [1798–1800]. In: ebenda, S. 10f. 9 Ebenda, S. 11. 7
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2 Rhetorik des Beweises
Schlegel selbstverständlich ist und der die schärfste Alternative zu einem Cartesianischen Denk- und Argumentationsstil eröffnet. Zu Hölderlins »Erinnern« steht Heideggers »An-Denken« in hartem Kontrast. Dafür kommt Heideggers Sprache der impliziten Rhetorik Descartes’ nahe. Descartes’ »Meditationen« spiegeln in ihrer Konstruktion Höl derlins Poetik. Schritt für Schritt verknüpft Descartes sprachli che Urteile mit mengenlogischen Annahmen und mathematischen Umwandlungen, bis aus einer sprachlich erschlossenen Welt ein homogenes Universum mathematischer Transformationen entsteht. In der Idee der Methode geht unter, was einmal Philosophie hieß: Reflexionen im Medium des Begriffs weichen Transformationen mathematisch notierter Unterscheidungen. Aus Sprache und syllo gistischen Urteilen wird Mathematik, und aus Mathematik wird Methode. In einer einzigen Operation »beweist« Descartes, der theo logischen Tradition als einer ehemals ehrwürdigen Autorität augen zwinkernd Reverenz erweisend, Gott, um ihn im selben Atemzug zu einer logischen Überbrückungshilfe, einem philosophischen McGuf fin, zu depotenzieren. Magisch wirkt daran die selbstverständliche Umwandlung verschiedener Zeichenformen in ein einziges, Evidenz beanspruchendes Beweisbild, dessen Form der Text der »Meditatio nen« ist. Wahrheit gründet weniger in der Evidenz des Beweisgangs als in der Effizienz des Resultats: Die wissenschaftliche Methode ord net und beherrscht die Welt auf mindestens so wirkungsvolle Weise wie Gott, für Menschen jedoch sei sie die vermeintlich nützlichere Weise. Der Name Gottes wird zu einer logischen Funktion. Er dient im Text der Meditationen als Zeichen, das, ohne selbst Bedeutung zu besitzen, als logischer Operator die Verknüpfung von Unterscheidun gen erlaubt. Einem mathematischen Symbol wird der Begriff »Gott« in funktionaler Hinsicht ähnlich. Rettet der Gedanke Gottes sich auf diese Weise in die Logik, ist wissenschaftliche Methode doch auf Glauben nicht mehr angewiesen. Hinfort zeigt Evidenz sich in der Pra xis der Naturbeherrschung, nicht in philosophischer Introspektion. Ebenso wie Theologie ist Philosophie zum Katalysator mathematischtechnischer Vernunft geworden. Syllogistische Logik, die Descartes virtuos in Anspruch nimmt, um sein Argument zu starten, wird in all ihrer fragwürdigen Plausibilität im Lichte des Resultates schließlich beiseite geräumt. Sie hat ihre Schuldigkeit getan, auch wenn ihre Evidenzketten, bei Licht betrachtet, nicht gar so zwingend ausgefallen sein sollten. An sie läßt sich noch erinnern, gebraucht wird sie kaum
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mehr: Daß Descartes seinen Beweisgang zum einmaligen Nachvoll zug empfiehlt, findet darin seinen Ausdruck. Einmal vollzogen, wird dessen Wiederholung überflüssig. Entscheidend ist das Resultat, dessen Evidenz in der Praxis liegt, weniger in der Reflexion. Für Meditationen, deren theologische Form Descartes’ philosophischer Text zitiert, besteht hinfort kein Bedarf. Descartes’ Methodenprinzip, dem der Beweisgang dient, zielt auf ein universales Erkenntnismodell. In der Vielfalt der Erkennt nisse kommt die Einheit eines Grundsatzes zum Vorschein. Die Rückwendung auf das sich selbst reflektierende Denken weist die sem weniger eine alles begründende Rolle zu, als daß es Denken durch Methode ersetzt.10 Begründung ist in Descartes’ Argument weniger wichtig als die Transformation einer Begründungslogik ins Rechnen. Deshalb ist die Form dieser Transformation mehr rhetorisch als logisch. Einer postulierten Gleichheit des Verstandes bei allen Menschen entspricht eine postulierte Einheit der Natur. Ohne wei tere Begründung wird das »lumen naturale« als selbstverständliche Prämisse geistiger wie natürlicher Ordnungsbildung in Anspruch genommen. Gleichförmigkeit, die Erkenntnis garantiert, entspringt der Einheit methodischer Operationen: mathematischen Bestimmun gen einer kontinuierlichen Form des Ausgedehnten. Mit beiläufiger Eleganz schiebt Descartes die sprachbasierte Logik des Aristoteles beiseite: Dessen Kategorien, für Aristoteles Weisen des Sprechens über etwas11, tauchen in Descartes’ Zweifelsargument als allgemeine Formen des Bewußtseins auf, die Vorstellungen aller Art, richtige wie falsche, Wach- wie Traumbilder, ordnen. Aus Sprechweisen wer den formale Anschauungsformen: Ausdehnung, Gestalt, Ort und Zeit. Gemeinsam ist ihnen wiederum die mathematische Natur ihrer Transformationen. Arithmetik und Geometrie erscheinen als passende Wissenschaften »von den allereinfachsten und allgemeins ten Gegenständen«.12 10 Ernst Cassirer hat das in seiner Interpretation der Philosophie Descartes’ heraus gearbeitet: »Es scheint freilich auf den ersten Blick, als wäre die Hinwendung zur inneren Erfahrung, zur Analyse der reinen Bewußtseinsvorgänge, für sie das Cha rakteristische und Entscheidende. Die genauere Betrachtung lehrt indes, daß es sich hier um ein einzelnes Moment handelt, das in den Dienst einer allgemeineren Aufgabe tritt.« Cassirer, E.: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. I [1922]. Darmstadt 1995, S. 439ff., hier S. 441. 11 Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Buch V, Kap. 7, 1017a. 12 Descartes, R.: Meditationen [1641]. Hamburg 1972, Erste Meditation, S. 13f.
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2 Rhetorik des Beweises
Proportionen treten an die Stelle der Wesen, das Subjekt erscheint als Instanz messender und rechnender Bestimmungen. Eigenschaften werden nicht länger von Zugrundeliegendem ausge sagt, sondern quantitative Verhältnisse werden berechnet. Nicht Fra gen dirigieren das Wissen in unterschiedlichen Hinsichten auf Gegen stände oder Praktiken hin; eine mathematisch homogenisierte Natur steht universellen Transformationen quantitativer Bestimmungen offen. Unterschiedliche Substanzen ergeben keinen Sinn, wenn das Wissen sich auf Ausgedehntes als ein homogenes, in sich mathema tisch zu gliederndes Kontinuum bezieht. Statt der Ähnlichkeiten in den Dingen sorgt die Vergleichbarkeit von Daten in einem unendlich transformierbaren Raum für Universalität und Anschlußfähigkeit der Erkenntnisse. »Und zwar werden alle diese bereits bekannten Dinge, wie z.B. Ausdehnung, Figur, Bewegung und Ähnliches, das aufzu zählen hier nicht der Ort ist, durch dieselbe Idee in verschiedenen Gegenständen erkannt, und wir vergegenwärtigen uns die Figur einer Krone, wenn sie silbern, nicht anders als wenn sie golden ist.«13 Nur eine einzige Beschreibung kann wahr sein. Über »jede Sache (kann es, DR) nur eine Wahrheit geben.«14 Ausgemacht sei, schreibt Descartes bereits in den »Regulae ad directionem ingenii«, daß »die Formen der Syllogismen zur Erfassung der Wahrheit nichts helfen«.15 Eingehüllt in Proportionen, sei Natur durch methodische Operationen »auf eine solche Form zu bringen, daß die Gleichheit zwischen dem Gesuchten und irgend etwas Bekanntem klar in die Augen fällt.«16 Ausschließlich quantitative Verhältnisse kommen dafür infrage: »Sodann ist zu beachten, daß nur das auf jene Gleichheit gebracht werden kann, was ein Mehr oder Weniger zuläßt, und daß alles dies unter dem Wort ›Größe‹ zusammengefaßt wird«.17 Von nun an haben »wir es nur noch mit Größen im allgemeinen zu tun«.18 Größen beschreiben Ausgedehntes, und Ausgedehntes ist Natur. Diese gilt es nicht in der Verschiedenheit der Bezüge von Einzelnem zu verstehen, vielmehr als Transformationsraum zu organisieren. Zwischen realem Ausgedehn tem und imaginärem Raum werden Grenzen fließend: »Unter dem Descartes, R.: Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft [ca. 1628]. Hamburg 19933, S. 119f. 14 Descartes, R.: Von der Methode [1637]. Hamburg 1978, S. 17. 15 Descartes, R.: Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. A.a.O., S. 121. 16 Ebenda. 17 Ebenda. 18 Ebenda, S. 123. 13
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Wort Ausdehnung verstehen wir alles, was Länge, Breite und Tiefe hat, ohne zu untersuchen, ob das nun ein wirklicher Körper oder nur ein Raum ist. Auch scheint mir dies keiner weiteren Erklärung bedürftig, weil überhaupt gar nichts leichter von unserer Einbildungs kraft erfaßt wird.«19 Kein Problem soll es mehr geben, das sich nicht als Verhältnis quantitativer Größenverhältnisse darstellen ließe: »[W]ir unterstellen aber, daß alle Probleme dahin gebracht worden sind, daß man nur noch eine bestimmte Ausdehnung aufgrund ihres Vergleiches mit einer anderen bekannten zu erkennen sucht. Da wir nämlich die Erkenntnis keiner neuen Wesenheit erwarten, sondern lediglich beliebig verwickelte Proportionen darauf zurückführen wol len, daß das Unbekannte einem Bekannten gleich gefunden wird, ist es gewiß, daß alle Unterschiede von Proportionen, in welchen anderen Gegenständen sie auch existieren mögen, ebenfalls zwischen zwei oder mehreren Ausdehnungen gefunden werden können ...«20 Erkannt wird, was der methodisch geschulte Verstand als gleich behandelt, nicht, was von sich her ähnlich ist. Für Singularitäten bleibt kein Platz; ihre Idee wird sinnlos. Geometrie und Arithmetik vereinen sich zu einem symbolisch geordneten Transformationsraum. »Die Verschiedenheiten der Gestalten«, schreibt Ernst Cassirer, »ersetzen wir durch die Verschiedenheit der Bewegungen von Punkten. Wenn Ordnung und Maß als die Grundmittel mathematischen Denkens bezeichnet waren, so sehen wir jetzt, wie zwischen diesen beiden Fak toren selbst eine logische Unterordnung und Abhängigkeit sich ergibt. Die geometrischen Gebilde werden, ehe sie der exakten Messung unterworfen gedacht werden, in Ordnungen von Punkten aufgelöst, die nach einer bestimmten Regel auf einander folgen.«21 Deshalb geht es in Descartes’ prominentem Zweifelsargument nicht primär um den Beweis Gottes, sondern der Natur.22 Gott dient als terminus comparationis, der die Unterscheidung von Ausgedehntem und Nichtausgedehntem – Geist – zugleich trägt und negiert. Als logische Funktion gleicht »Gott« einer imaginären Substanz, auf die hin, wie auf eine leere Referenz, Aussagen und Unterscheidungen geordnet werden. Nicht diese Referenz, das ehe malige Wesen, ist Bezugspunkt von Wahrheit, sondern die Operation Ebenda, S. 125. Ebenda, S. 133. 21 Cassirer, E.: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. A.a.O., S. 454f. (Hervorhebung im Original). 22 Vgl. ebenda, S. 494. 19
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selbst. Auf der Schwelle zwischen syllogistischer Logik und Mathe matik placiert, erlaubt »Gott« die Transformation begrifflicher Unter scheidungen in quantitative Transformationsräume. Er verwandelt sich von einem semantischen Begriff in eine logische Funktion. Ein auf das Rechnen gegründetes Weltverständnis hat für eine Semantik der Begriffe, wie sie im Syllogismus noch gebraucht wird, keinen Bedarf. Mit der Bedeutung verschwinden die Wesen, und mit ihrem Verschwinden wird das Bemühen um Verstehen tendenziell sinnlos. Zunächst macht Descartes aber selbst von begrifflichen – semantischen – Unterscheidungen Gebrauch, um die Idee der Unterscheidung ins Spiel zu bringen. Ausgedehntes, wird behauptet, sei die komplementäre Seite der Unterscheidung von Geistigem – und darum frei von Geist, dessen Verstandesleistungen sich wiederum auf Ausgedehntes richten. Schon dieser Ausgangspunkt wird nur in einem sprachlichen Horizont verständlich, beruht das Argument doch auf semantischen Abstraktionen und deren negationslogischer Entgegensetzung. Von Geist läßt sich demnach nur sprechen, wenn er von etwas, das er nicht ist, unterschieden wird. Bestimmtes Nichtsein dieser Art kommt als Gegensatz zum Bestimmten – dem Sein – in Betracht. Was wäre Bestimmtsein anderes als – binäres – Unterschiedensein? Miteinander Unvereinbares wiederum erscheint mengenlogisch als unterschieden in einem Dritten. Negationsund Mengenlogik werden miteinander verschränkt. Nichts, was ist, existiert, postuliert Descartes, auf unterschiedliche Weise, wenn es sich um Erkenntnis handelt – eine Setzung, die kaum mit alltäglichen Erfahrungen übereinstimmt und deren Fragwürdigkeit die Aristotelische Logik Aufmerksamkeit schenkt. Schließlich können wir von etwas auf verschiedene Weise Richtiges sagen, nur nicht Widersprüchliches zugleich. Das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten, Axiom der Aristotelischen Logik, entfaltet seine volle Bedeutung in der Kommunikation: Jemand kann, soll die Rede gelingen, nicht zur gleichen Zeit Widersprüchliches über dasselbe sagen. Für Descartes ergibt es keinen Sinn, daß etwas von etwas in verschiedener Weise ausgesagt werden kann. Seinem Methodenbild ist Zeit nicht wesentlich, während sie für das Aristotelische – und später wieder für das Hegelsche – Verständnis von Aussagenlogik eine Rolle spielt. Vier Regeln beschreiben das Prinzip der neuen Methode: Evi denz, Zerlegung, Reihung und Vollständigkeit. »Das erste besagt, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht eviden termaßen erkenne, daß sie wahr ist ... Die zweite, jedes Problem, das
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ich untersuchen würde, in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen. Die dritte, in der gehörigen Ordnung zu denken, d.h. mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um so nach und nach, gleichsam über Stufen, bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen, ja selbst in Dinge Ordnung zu bringen, die natürlicher weise nicht aufeinander folgen. Die letzte, überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten aufzustellen, daß ich versichert wäre, nichts zu vergessen.«23 Im Lichte dieser methodischen Prinzipien erscheint die syllogis tische Logik als bloße Rhetorik. »Bei ihrer Prüfung fiel mir jedoch auf, daß – was die Logik betrifft – ihre Syllogistik und die meisten anderen ihrer Vorschriften vielmehr dazu dienen, anderen zu erklären, was man weiß, oder gar ... über das, was man nicht weiß, ohne Verstand zu reden, als es zu entdecken.«24 Um wahre Fortschritte im Wissen zu erzielen, gelte es, ein Denken in Bildern zu überwinden, um abstrakte, mathematisch darstellbare Relationen ins Recht zu setzen.25 »Nutzen für das Leben« ist Ziel der Erkenntnis, um »uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen zu können.«26 Gesetze der Natur und Gesetze der Mechanik sind »identisch«.27 Gleichwohl macht Descartes von rhetorischen Mitteln Gebrauch, um seinen Text als literarische Inszenierung von Evidenz aufzubauen, die sich als Bild zu erkennen gibt, um sich als Bild überflüssig zu machen. In seinem Zweifelsargument benutzt Descartes die Syllogistik mit der Absicht, sie zu ersetzen. Sein Beweisgang kann als Bild betrachtet werden, das den Bildcharakter des Gedankens abstreifen will. An allem zweifeln zu können, ist ein fiktives Argument: Ich »ent schloß mich daher zu der Fiktion, daß nichts, was mir jemals in den Kopf gekommen, wahrer wäre als die Trugbilder meiner Träume.«28 Keinen Leib zu haben, zu »glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und alle Außendinge seien nichts als das täuschende Spiel von Träumen ..., mich selbst ... so anzusehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, überhaupt keine 23 24 25 26 27 28
Descartes, R.: Von der Methode. A.a.O., S. 15f. Ebenda, S. 14. Vgl. ebenda, S. 30. Ebenda, S. 50. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 26.
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Sinne, sondern glaubte nur fälschlich, dies alles zu besitzen«29, läßt sich, als Möglichkeit einer sprachlichen Grammatik und Semantik, aussagen, bleibt jedoch, wie Descartes einräumt, eine methodische Fiktion. Basis des Argumentes ist eine sprachliche Konstruktion: Zweifel an diesen Dingen läßt sich in Sätzen äußern, ohne daß dazu eine bestimmte mentale Disposition zwingend erforderlich wäre. Übrig bleibt im Argument eine Selbstreferenz des Denkvollzugs, die mit »Ich« in eins gesetzt und benannt wird. Dem Vollzug wird eine Identität zugewiesen, die der Ausdruck »Ich« bezeichnet. Im Vollzug des Bewußtseins, das sich auf sich selbst bezieht, existiert kein Drittes, an dem zu zweifeln möglich wäre: Selbstreferenz ist hier nicht repräsentativ – wie sonstige Bewußtseinsinhalte, die auf etwas verweisen –, weshalb die sprachliche Form des Urteils in diesem Fall versagt. Der Ausdruck »Ich bin, ich existiere, das ist gewiß« soll kein Urteilssatz sein und keine Schlußfolgerung enthalten; in den »Meditationen« enthält die Formulierung kein »also«.30 Das »Cogito«, als »Ich«, wird zum Namen einer reinen Denk-Form. »Ich bin also genau nur ein denkendes Ding (res cogitans)«.31 Den Ausdruck »denken« verwenden zu können, beinhaltet die evidente Gewißheit, daß nur ein Ich Träger des Denkprozesses zu sein vermag, und die logische Voraussetzung, daß Selbstreferenz eine abgeschlossene, von anderem unterschiedene Form aufweist. Selbstund Fremdreferenz, die in der Unterscheidung von Geist und Körper stecken, fallen funktional in der Referenz zusammen, die als »Ich« bezeichnet wird. Hierbei stützt Descartes sich zum einen auf ein vertrautes sprachliches Verständnis des Ausdrucks »denken«, zum anderen auf den unmittelbaren Zugang eines Bewußtseins zu sich selbst. Deshalb bedarf es für das Cogito-Argument keines syllogis tischen Obersatzes, demzufolge die Prämisse ein Allsatz der Form »Alles Denkende existiert« sein müßte. Sogleich macht Descartes von einer weiteren sprachlichen Voraussetzung Gebrauch, nämlich der begrifflichen Unterschiedenheit von etwas zu anderem. Zur Bestimmtheit einer res cogitans gehört es demnach, von dem, was sie nicht ist, unterschieden zu sein: dem Ausgedehnten (res extensa). Diese Bestimmung entspringt einer Logik der Negation, die vom Descartes, R.: Meditationen. A.a.O., S. 16. Ebenda, S. 20. Die lateinische Formulierung lautet »Ego sum, ego existo; certum est.« Das »ergo« findet sich erst in den »Principia«, in französischer Version auch im »Discours«. Vgl. dazu Perler, D.: René Descartes. München 1998, S. 139ff. 31 Ebenda. 29
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Bestimmten auf die andere Seite der Unterscheidung kreuzt. Die Evidenz reiner Selbstreferenz stützt sich noch im Vollzug auf die fest gehaltene Differenz zu allen Inhalten des Bewußtseins. Diese bleiben das eingeschlossene Ausgeschlossene des Argumentes. In der Entge gensetzung gibt es keine weiteren Möglichkeiten. Ihre Relation ist binär. Beide Seiten der Unterscheidung bleiben in ihrer verständlichen Unvereinbarkeit dem semantischen Raum einer Sprache zugehörig. Allerdings sieht das Argument davon ab, daß Sprachen, mit ihren Feldern und Graden der Bedeutung von Worten, nicht auf binäre Unterscheidungen zu reduzieren sind. Letztere entspringen einer logischen Formierung nach dem Muster der Negation. Nicht zuletzt in der Wahl seiner Beispiele zeigt sich die rhe torische Brillanz des Cartesianischen Beweises. Um das »Cogito« vom Ausgedehnten besser unterscheiden und dieses Andere des Geistes bestimmen zu können, betrachtet er im Gedankenexperiment ein Stück Wachs. Auf den ersten Blick ist Wachs ein beliebiges Beispiel für Ausgedehntes: »[N]ehmen wir vielmehr irgendeinen Körper im besonderen, z.B. dieses Stück Wachs«.32 Dessen Verform barkeit jedoch scheint die reine Größennatur des Ausgedehnten schlagend vor Augen zu führen. Während die Aufmerksamkeit auf das Wachs gerichtet ist, verändert dieses in der Phantasie durch Wärmeeinwirkung seine Eigenschaften. Überhaupt scheinen Eigen schaften – Geruch, Farbe, Härtegrad etc. – irrelevant gegenüber dem, was übrigbleibt: der ausschließlich quantitativ zu bestimmenden Größe. »Betrachten wir es aufmerksam, entfernen wir alles, was nicht dem Wachse zugehört, und sehen wir zu was übrigbleibt! Nun – nichts anderes, als etwas Ausgedehntes, Biegsames und Veränderli ches.«33 Der Aristotelischen Logik und Metaphysik, ihrem Denken in Substanzen, Eigenschaften, Arten, Gattungen, Individuen und Ausdrucksweisen, wird der Boden entzogen.34 Erkennen löst sich von sinnlicher Erfahrung und verläßt sich auf seine eigenen Operationen, die es an sich selbst abliest. »Klar« und »deutlich« muß sein, was Zustimmung verdient.35 Bleiben Zweifel an Urteilen möglich, werden sie bei evidenten Einsichten hinfällig. Geist und Natur gewinnen darüber eine homologe Form, denn res cogitans und res extensa sind 32 33 34 35
Descartes, R.: Meditationen. A.a.O., S. 23. Ebenda, S. 25. Vgl. ebenda, S. 23. Vgl. ebenda, S. 24.
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als vergleichbare unterschieden in Form nichtsinnlicher Erkenntnis. »Denn da ich jetzt weiß, daß ja selbst die Körper nicht eigentlich durch die Sinne oder durch die Fähigkeit der Einbildung, sondern einzig und allein durch den Verstand erfaßt werden, auch nicht dadurch, daß man sie betastet oder sieht sondern, daß man sie denkt: so erkenne ich ganz offenbar, daß ich nichts leichter und augenscheinlicher erfassen kann – als meinen Geist.«36 Klarheit und Deutlichkeit garantieren »Evidenz«, wie Evidenz Gewißheit fundiert, ohne selbst ein Urteil zu sein. Von Urteilen muß Evidenz unterschieden werden, weil beide zwar Formen des Unterscheidens sind, aber nicht koinzidieren sollen. Gefunden wer den Klarheit und Deutlichkeit im Denken, nicht im Sinnlichen der Wahrnehmung oder in den Mehrdeutigkeiten sprachlicher Ausdrü cke. Reine Form des Klaren und Distinkten ist die Form der Unter scheidung selbst, die Descartes als Urteil behandelt. Evidenz und Unterscheidung koinzidieren, indem sie einerseits, weil Urteile fun dierend, vom Urteil unterschieden, aber andererseits mit ihm in eins gesetzt werden, insofern die Form des Unterscheidens die Form des Klaren und Distinkten und die Form des Urteils die Form des Unterscheidens ist. Descartes’ Text entfaltet eine Zirkularität, die mehr und anderes sein will als eine Tautologie. Eindeutigkeit verlangt eine zirkuläre Bewegung des Unterscheidens, die nicht bei binär Unterschiedenem stehenbleibt. Für das »Cogito« gilt dies ebenso wie für die Einheit der Unterscheidung von res cogitans und res extensa. Bei der zweiten Meditation dürfen wir nicht haltmachen. Um den Preis einer offenkundigen Ausbeutung des scholastischen Repertoires müssen wir den Zusammenfall des Unterschiedenen in einer einzigen Operation herbeiführen, für die es keine Bezeichnung mehr geben kann, die eine substanzielle Identität aufriefe – außer dem zum Begriff für eine Funktion depotenzierten Namen Gottes. Einheit des Wissens erscheint in der Einheit von Operationen, die als funktionale Identität des Unterschiedenen im Vollzug des Unterscheidens entfaltet wird. Allerdings ist das Ziel dieser Operation denkbar verschieden von dem Anliegen früherer Gottesbeweise. Aus dem Gedanken der Methode heraus entwirft Descartes das Modell einer einzigen, forma len und mathematischen, zirkulär gebauten Substanz. Bis zu Hegels Logik wirkt dieses Modell maßstabsetzend – egal, ob diese Einheit im Denken oder in der Natur gesucht wird. Falsch sind, postuliert 36
Ebenda, S. 26.
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Descartes, Ideen, die dem Kriterium eindeutigen Unterscheidens nicht entsprechen. »So sind z.B. die Ideen, die ich von der Wärme und Kälte habe, so wenig klar und deutlich, daß ich aus ihnen nicht lernen kann, ob Kälte nur Abwesenheit der Wärme oder Wärme nur Abwesenheit der Kälte, oder ob beide reale Qualitäten sind oder keine von beiden.«37 Wo eines durch anderes bestimmt wird, ohne klar und distinkt unterschieden werden zu können, greift die Methode nicht. Sie scheitert an einer Logik des bestimmt Unbestimmten, wie sie solches Wahrnehmen und Handeln selbstverständlich orientiert, das nicht auf Zweiwertigkeit besteht. Zwar entnimmt Descartes sein Beispiel für »falsche« Ideen dem Bereich des Sinnlichen – warm und kalt –, doch dient es der Zurückweisung relationaler Begriffe und gradueller qualitativer Bestimmtheiten. In seiner Beiläufigkeit ist das Beispiel aufschlußreich, zielt es doch auf die Ausklammerung eines nicht binären »Logos«, der nicht mit »Logik« identisch wäre. Descartes’ Methode nämlich erfordert eine Logik, die frühen Logos-Vorstellungen, wie exemplarisch von Heraklit, widerstreitet. Dieser Logos, soweit er sich aus überlieferten Fragmenten erschließt, richtet sich auf einen Zusammenhang der Dinge und Gedanken als eines einzigen Werdens. Gegensätze schließen einander nicht aus, sie bedingen, stützen und fördern einander wie Hunger und Sätti gung, Krankheit und Gesundheit, Hinauf und Hinab, Tod und Leben, Schlafen und Wachen, Altes und Junges.38 Oder wie Warmes und Kaltes. Eher ergänzen sie einander wie komplementäre Aspekte, als daß sie einander zuwiderlaufen oder Entscheidungen zwischen ihnen herausfordern. Heraklit entwickelt seine Auffassung oft mit Blick auf natürliche Phänomene, die zugleich wirklich und, als Beispiele im philosophischen Text, metaphorisch sind. Denken, Gedachtes und Sprache greifen hier ineinander. Descartes’ Beispiel für falsche Ideen – Wärme und Kälte – entspricht dem, was Heraklit als in sich bewegtes Eines bedenkt. Die funktionale Selbstreferenz des »Cogito« versucht sprachliche Mehrdeutigkeiten abzustreifen, um in eine ver meintlich eindeutigere Zeichenform – die Mathematik – überzuge hen. Gegensätze begegnen bei Heraklit als Unterschiedenes im Einen des prozessualen Zusammenhangs. Logisch Widersprüchliches oder Ebenda, S. 33. Vgl. Heraklit, 194–202. Zitiert nach Kirk, G.S./Raven, J.E./Schofield, M.: Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare. Stuttgart, Weimar 1994, S. 204ff. 37
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epistemisch Falsches haftet ihnen nicht an. Evidenz hingegen vertreibt Zweifel und raubt der Welt ihre Geheimnisse, statt Gegenläufiges, Rätselhaftes oder Uneindeutiges zum Anlaß fragender Reflexionen zu nehmen, die es denkend und sprechend zu entfalten gilt, ohne sie in Gewißheit zu überführen. Auch wenn Martin Heidegger in Heraklits Fragmenten eher ein Denken des Un-sagbaren, mithin von urteilsförmigen Aussagen noch nicht zugerichteten Reflektierens denn das Beispiel eines nicht urteilenden Unterscheidens erblickt, trifft seine Hochschätzung Heraklits als einer großen, fast vergesse nen Alternative zum modernen Denken des Wissens eine wichtige Weichenstellung der abendländischen Philosophiegeschichte.39 Neben der Formalität des Verstandes und der quantitativen Ausdehnung der Natur ist es bei Descartes der Bezug auf einen dritten Wert, der die Ursprungsunterscheidung von res extensa und res cogitans in eine neue Einheit verwandelt. Nur ist diese Einheit als sub stanzielle Einheit nicht vorzustellen, besteht sie doch im Vollzug des Unterscheidens, das, mengenlogisch aufgefaßt, die Frage der Einheit aufwirft. Unterschiedenes ist unterschieden in etwas, wie die Zwei die Eins evoziert. Sprachliche Begriffe gaukeln mengenlogisch Einheit als Substanz vor. Zweiwertiges Denken von Unterscheidungen und Mengenlogik verbinden sich darum scheinbar auf natürliche Weise wie ein ontologisches Geschwisterpaar. Descartes faßt den Gedanken der Einheit als duplizierte Unterscheidung. Die argumentative Ver schränkung von res cogitans und res extensa legitimiert jedenfalls die Homologie der Form von Geist und Natur. Sie bedeutet den Abschied von einer sprachgebundenen syllogistischen Logik, die sie ein letztes Mal in Anspruch nimmt. Descartes verfährt so demonstrativ, als ob er Lesern vor Augen führen möchte, wie vorläufig – und in der Sache, auf die Worte sich scheinbar beziehen, fast gleichgültig – diese semantische Urteilsbegründung ausfällt. Der Beweis entfaltet seine Überzeugungskraft weniger als Urteil denn als Rhetorik. Dazu dient die Semantik der »Vollkommenheit«. Was, auf der Innenseite des Bewußtseins, als von der Evidenz rei ner Selbstreferenz zu Unterscheidendes bleibt, enthält, neben Ideen 39 Vgl. Heidegger, M.: Logos (Heraklit, Fragment 50) [1951]. In: Gesamtausgabe Bd. 7. Vorträge und Aufsätze. Frankfurt/M. 2000, S. 211–234, sowie Vorlesungen aus den Sommersemestern 1943/1944: Heraklit. Der Anfang des abendländischen Den kens/ Logik. Heraklits Lehre vom Logos. In: Gesamtausgabe Bd. 55. Frankfurt/M. 19943.
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von Dingen oder Gemütszuständen, auch Urteile. Urteile dienen nun als Brücke, um die Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa zu kreuzen, indem sie, deren Form die Verknüpfung von Unterschiedenem ist, eine Ähnlichkeit des ideell Vorhandenen in einem Nichtideellen nahelegen. Kombiniert mit der kausallogischen Annahme, nichts sei ohne Ursache, ergibt sich daraus eine Verbin dung zwischen Ideen, Ausgedehntem und Denken. Wenn dabei Sub stanzen »mehr« Wirklichkeit zukommen sollte als Eigenschaften, und wenn zu den Ideen des Bewußtseins auch die Idee von etwas Vollkom menem gehört, das in keiner inneren Anschauung eingelöst werden muß, sondern als Steigerungsverhältnis zu jedwedem Konkreten auftritt, dann fungiert diese Idee des Vollkommenen, gerade weil sie sich von allen anderen Ideen unterscheidet, wie eine Substanz, zu der sich alle andern Ideen wie Eigenschaften verhalten. Per definitionem gehört zu dieser Idee Existenz. Damit erfüllt sie die Voraussetzungen, im Denken als Ursache für alles Unterscheidbare aufzutreten. Beweise dafür weist Descartes augenzwinkernd zurück: In seinem Text, der doch als Traktat über den generellen Zweifel anhebt, wird die Behaup tung, Substanzen enthielten mehr Realität als Eigenschaften, »ohne Zweifel« eingeführt.40 Anselms klassischer Gottesbeweis wird, ohne eigens Erwähnung oder gar kritische Auseinandersetzung zu finden, als Form kopiert. Erkennen, postuliert Descartes’ Argument, sei vollkommener als Zweifeln, und Zusammengesetztes sei weniger vollkommen als Einheitliches, von dem es, als Unterschiedenes, abhängt. Den Aus druck Vollkommenheit zu verstehen heißt, ihn im Kontrast zu allem anderen anzuwenden. Nur Etwas – ein Wesen – vermag vollkommen zu sein. Findet sich im menschlichen Geist diese Idee, markiert sie einen Kontrast zu ihm selbst und zu allen sonstigen Denkinhalten, die ja nur als unterschiedene auftreten. Da die Idee der Vollkommenheit sich nun auf etwas beziehen soll, unterliegt sie, wie Descartes in bester scholastischer Tradition postuliert, dem universellen Gesetz von Ursache und Wirkung. Ihr Auftreten im Geist muß demnach eine Ursache haben, deren Wirkung dieses Auftreten ist. In einer Ursache kann nicht weniger Wirklichkeit enthalten sein als in deren Wirkung. In dieser Ontologie steckt eine mechanische Ursache-Wirkungs-Auf fassung, die dem Verhältnis von Urteil und Ähnlichkeit des im Urteil Verknüpften entspricht. 40
Descartes, R.: Meditationen. A.a.O., S. 32.
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An keiner Stelle wird dieser metaphysische Satz der Identität in Zweifel gezogen. Ursache von etwas Vollkommenem muß mithin etwas Vollkommenes sein. Weil die Idee des Vollkommenen als Kon trastidee in einem Denken vorkommt, das in sich die Unterscheidung von res extensa und res cogitans vollzogen hat, kann es, da zusam mengesetzt, nicht selbst vollkommen, also nicht Ursache der Idee der Vollkommenheit sein. Mit einer Selbstverständlichkeit, deren Evidenz unbezweifelt bleibt, ja von jeder Skepsis ausgeschlossen wird, folgert – urteilt – Descartes, die Ursache der Idee der Vollkommenheit müsse selbst vollkommen sein. Der traditionelle Terminus hierfür ist Gott. Das »ohne Zweifel«, mit dem dieses Argument vorgetragen wird, zitiert die Aristotelische Logik, um sie im Beweisziel hinter sich zu lassen.41 Grade der Realität spielen so wenig noch eine Rolle wie Grade der Vollkommenheit. An deren Stelle tritt die mathematische Ordnung quantitativer Proportionen. Bestimmt ist, was klar und distinkt unterschieden wird. Auf diese Ordnung darf sich verlassen, wer mit aller syllogistischen Urteilskunst einsehen konnte, daß res cogitans und res extensa in Gott als ihrem Prinzip verbunden sind. Nun beginnt die Einheit der Form von Geist und Natur in Wissenschaft und Forschung ihre Arbeit der Beherrschung der Natur. Jede inhaltliche Vorstellung, jegliches semantische Unterscheidungs repertoire ist nun verzichtbar. Mögen sich Philosophen und Theolo gen über Begriffe und Bilder streiten, der Fortschritt geht seinen eigenen Weg. An die logische Stelle Gottes ist die Methode getreten, in deren Licht die Rede über Gott als altgewordene Reflexionsweise auf die Welt erscheint. Logische Voraussetzungen des Beweises sind im Beweis obsolet. So verzichtbar, wie der Gedanke Gottes es hinfort für die moderne Naturwissenschaft ist? Gott zu beweisen heißt in Wirklichkeit, die Herrschaft der Methode über die Natur zu beweisen. Und die Einheit der Differenz zwischen Geist und Natur ist die for male Form des Unterscheidens: eine regelgeleitete Transformations ordnung meßbarer Verhältnisse. An die Stelle des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem tritt die arithmetische Verkettung von Punkten. Der Beweis tritt dem Leser vor Augen wie ein Bild, auf dem die Figur sich verwandelt und das Bild sich in eine abstrakte Zeichnung auflöst, die beliebige Proportionen und Verformungen zuläßt. Das Beweisbild wird zu einer Anweisung an die Betrachter, es in eigenen Forschungen zu benutzen, ohne es noch als Bild zu betrachten. 41
Ebenda, S. 32f.
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Der als Gottesbeweis drapierte Methodenbeweis, durch den schließlich Gott überflüssig wird, geht mit einem poetologischen Exorzismus einher, der das Feld möglicher Erkenntnis durch die Verbannung der Zeichenarten Bild und Begriff so stark einschränkt, daß die Methode an Phänomenen menschlicher Gesellschaften und Kulturen abzuprallen droht. Am Ende ist die Reichweite der Erkennt nis auf proportionale Größenverhältnisse von Ausgedehntem einge schränkt, weil sprachliche Qualifizierungen und Unterscheidungen aus der Sphäre von Klarheit und Deutlichkeit ausgeschlossen werden. Deren Unschärfe ist darin begründet, daß sie empirischen Ursprungs sind – und nicht »von Gott stammen«.42 Überhaupt stehen Begriffe in unscharfen Wechselbezügen wie Wärme und Kälte. Sie bleiben auf grundsätzliche Weise vage. Für das menschliche Leben hingegen sind solche vagen Unterscheidungen wegen ihrer Flexibilität und »Familienähnlichkeit« verständlich und nützlich. Begriffe entfalten Bedeutungsgeflechte, die ihrerseits wie Bilder wirken können. Ihre Funktion ist nicht mechanisch wie, in Descartes Augen, die Natur. Gelesen nicht nur als logisch-philosophisches, sondern auch als literarisch-rhetorisches Artefakt, öffnet Descartes’ Text mit seiner Kunst der Evidenzentfaltung als Transformation von Zeichenketten eine Perspektive, die der oft geübten Kritik an diesem Methodenpro gramm eine andere Lesart beigesellt. Auf der einen Seite verweisen die »Meditationen« das philosophische Denken seit Aristoteles in die Vorgeschichte der Moderne. Insofern wäre Descartes’ Text der letzte philosophische Text, mit dem eine überflüssig gewordene Tradition sich selbst bilanziert und in eine auf Mathematik beruhende Wissen schaftstheorie bzw. Physik verwandelt. Für Einzelnes und Besonderes wäre hinfort Wissenschaft – also Erkenntnis – nicht mehr zuständig. Descartes hätte das Programm des Logischen Positivismus antizipiert. Auf der anderen Seite wirft der Text die Frage auf, ob nicht Wissen vom Besonderen und Einzelnen überhaupt mit poetischen Mitteln zu suchen wäre. Im Gespinst der Zeichen büßt zweiwertige Logik schnell ihre Kraft ein, wie das Beispiel von Wärme und Kälte vor Augen führt. Was heißt hier Klarheit und Distinktheit anderes, als daß Bestimmtes in bestimmten – aber vielleicht auch anders möglichen – Unterschei dungsregistern entfaltet wird? Wissenschaftlicher Erkenntnis und ihren Regeln stünde das Modell einer poetischen Artikulation von Vielfalt im Geflecht mehrdeutiger Unterscheidungstexturen gegen 42
Descartes, R.: Von der Methode. A.a.O., S. 31.
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3 Inszenierungen von Evidenz
über. Bildet »Denken« sich hier nicht mit Hilfe von Zeichen und durch Zeichen hindurch – so, wie auch Descartes’ Text seine Raffinesse als Inszenierung von Unterscheidungstechniken demonstriert? Fordert Descartes’ Text, statt Philosophie in Wissenschaftstheorie aufzulösen, philosophisches Denken vielleicht dazu heraus, eigene, neue, mutige Unterscheidungsformen zu erfinden, mit denen Erfahrungen von Besonderem, durchaus empirisch, zu gewinnen wären? Unverhohlen starten die »Meditationen« ihre magische Transsubstantiation mit Hilfe einer Rhetorik, die von gänzlich anderer Art ist als das Resultat der Wandlung. Ist die Quintessenz dieses Textes ein Appell an poe tische Phantasie?
3 Inszenierungen von Evidenz Was ist zum Beispiel, wenn ein Mensch wie Mr. Deacon zu Tode kommt? Ausgerechnet an seinem Geburtstag stürzt er in einer Bar die Treppe hinunter und zieht sich Verletzungen zu, die seinem Leben ein Ende setzen. Zweifellos handelt es sich bei dem Treppensturz dieses wenig erfolgreichen Malers, Antiquitätenhändlers und, bei oberflächlicher Betrachtung, vielleicht wenig bedeutenden Menschen um ein raum-zeitliches Ereignis, das der methodischen Erfassung im Sinne Descartes’ zugänglich ist.43 Allerdings geht darin verloren, was Mr. Deacons Tod – und in gewisser Weise sogar Mr. Deacon selbst – ausmacht. »Selbst diesem wenig würdevollen Unfall haftete, wie allem, ein Zug jenes Märtyrertums an, das untrennbar mit seiner Lebensführung verbunden war, denn er hatte sich, so erwies sich nachher, auf dem Weg zur Geschäftsleitung befunden, um eine Beschwerde über die in dem Club vorhandenen sanitären Einrich tungen vorzubringen – äußerst beklagenswerte Einrichtungen, wie alle einhellig meinten. Es stimmte, dass er vielleicht etwas mehr getrunken hatte, als für jemanden wie ihn, der sich nach den ersten zwei oder drei Gläsern gewöhnlich zurückhielt, üblich war. (...) Wie auch immer, wenn sich auch nicht bestreiten ließ, dass Mr. Deacon in der Hill Street vielleicht einige Gläser Champagner mehr getrunken 43 In Powells Betrachtung der Welt gibt es natürlich nichts Unbedeutendes, da alles seine Identität in bezug auf anderes erhält. Worauf es ankommt, ist, die Welt entsprechend anzuschauen und als Tanz der Identitäten zu entdecken – wenn nicht sogar, sie zu diesem Tanz zu erwecken.
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hatte, als es klug gewesen wäre, so hatte der luxuriöse Stil der ganzen Party ohne Zweifel das Seine dazu beigetragen, sein bei all seinen Handlungen nie tief unter der Oberfläche liegendes donquichottisches Verlangen anzustacheln, seine Ideale zu verfechten, wo immer er sich befand und wie unpassend auch die Gelegenheit sein mochte. In dem Nachtclub war er natürlich in einer ihm vertrauteren Umgebung, und alle Anwesenden stimmten darin überein, dass der Sturz nichts anderem zuzuschreiben gewesen sei als der wackeligen Treppe und seinem üblichen Ungestüm. In Wahrheit hätte er, als ein nicht mehr junger Mann, wohl besser dran getan, bei dieser Gelegenheit, und ohne Zweifel auch bei anderen Anlässen, eine weniger hektische Besessenheit an den Tag zu legen bei seinem Versuch, so vielen der schreienden Missstände des Lebens abzuhelfen.«44 Nun handelt es sich bei solchen Vorkommnissen und Personen um wirkliche Entitäten – sogar als Romanfiguren –, deren Wirklich keit verständlich, aber weder klar noch deutlich ist. Wirklichkeit steigt aus den Poren ihrer Beschreibung hervor, die Leser leicht erfassen, ohne den Sinn unbedingt benennen zu können. Denn zu Mr. Deacons betrüblichem Ableben gehört auch die Komik der Situation und, nicht zuletzt, die humorvolle Beschreibung durch Anthony Powell. Humor, Stil, Ironie und Vielfältigkeit sind Formen des Wirklichen, die in wechselseitigen Resonanzen von Zeichen aufblühen, ohne gemessen werden zu können. Humor durchtönt die Welt, um sie in eine Bedeutung zu tauchen, die der Betrachtungsweise und deren symbolischer Artikulation entspringt. Mathematik, so elegant sie sein kann, ist bar jeder Ironie. Was eine Romanwelt beschreibt, entzieht sich der Matrix wissen schaftlicher Bestimmungen im Sinne Descartes’. Romane entwerfen Bedeutungsuniversen, in denen alles in mehrfachen Beziehungen steht, zugleich Verschiedenes sein kann und oft der Logik spottet.45 Mehrdeutigkeiten tragen zum Wirklichkeitsanspruch der Fiktion bei. Singularitäten zeigt sie als Beziehungssysteme, in deren Spiegelun gen Realität aufscheint. Wirkliches, an dem Erkenntnisprozesse ihren Ausgang nehmen, gewinnt als aktualer Fokus unendlicher Verwei 44 Powell, A.: Tendenz: steigend [1952]. Ein Tanz zur Musik der Zeit. Bd. 2. Berlin 20152, S. 246f. 45 »Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, wider steht sie nicht.« Kafka, F.: Der Prozess [1914/15]. Kritische Ausgabe, hrsgg. v. M. Paslex. Frankfurt/M. 2002, S. 312.
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sungsmannigfaltigkeiten, die untereinander Gesellschaften der Nähe oder Ferne bilden, Evidenz. Da sie auf der intensiven Synthesis eines bedeutungsreichen Mannigfaltigen beruht, ist solche Evidenz von derjenigen Descartes’ denkbar verschieden. Aktuales ist eine Oberfläche vielfältiger Beziehungen, Schichten, Unterschiede und Resonanzen. Menschliche Gesellschaften forcieren diese Verflechtun gen, weil diese in der Form von Symbolen existieren und mehrfache Unendlichkeiten als nicht homologe Räume aufbauen. Evidenz ent steht daraus, Komplexität zur Erfahrung zu bringen. Romane eignen sich dazu in vorzüglicher Weise: »Nichts im Leben«, beobachtet der Ich-Erzähler Nicholas Jenkins, »kann je völlig getrennt werden von den Myriaden anderer Ereignisse; und es ist bemerkenswert, doch ohne Zweifel auch logisch, dass einer Handlung, zusammengesetzt wie sie immer ist aus unzähligen Ursachen, von denen wiederum jede für sich vielfache Beziehungen hat und meistens nicht wahrge nommen wird, fast stets ein offensichtlich idealer Augenblick für ihre endgültige Verwirklichung gegeben ist. Das ist so sehr der Fall, dass die vorausgegangenen Dinge oft sozusagen verschlungen werden durch die Angemessenheit des Höhepunktes und dass die Gelegenheit selbst, zumindest an der Oberfläche, als die alleinige Ursache der Erfüllung erscheint.«46 Evidenz steht auch im Mittelpunkt des Cartesianischen BeweisBildes einer universellen Methode des Wissens. Was macht evidente Erlebnisse aus? Handelt es sich um etwas, das mit Urteilen in Ver bindung steht? Mit besonderen Arten von Gegenständen? Haftet Evidenz an den Zeichen, mit denen Urteile vollzogen werden – seien sie begrifflicher, bildlicher oder mathematischer Natur? Oder entspringt sie einer zeichenlosen Einsicht, deren Unmittelbarkeit sich jeder Art von Notation entzieht? Alfred North Whitehead ver weist auf eine im physiologischen System des Menschen verankerte Disposition genealogischer Bedeutungsbildung. Bewußtsein entsteht aus der »Verschmelzung einer umfassenden Allgemeinheit mit einer eindringlichen Einzelheit.«47 Konkrete Intensitäten, die wir mit einem »Dies ist wichtig« oder »Das ist wundervoll« charakterisieren, sind sowohl etwas Besonderes als auch, in ihrer noch unartikulierten Form, etwas Allgemeines. »In solchen Denkweisen kommt eine ein dringliche Einzelheit zum Tragen, die wir gerade mit den Worten 46 47
Powell, A.: Tendenz steigend. A.a.O, S. 272. Whitehead, A.N.: Denkweisen [1938]. Frankfurt/M. 2001, S. 49.
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›dies‹ oder ›das‹ symbolisiert haben; und ferner gibt es eine umfas sende, vage Charakterisierung, die sich in gewissen Formen von Aufgeregtheit andeutet ...«48 Bei allem Respekt, mit dem Whitehead Descartes begegnet, hält er dessen scharfe Unterscheidung zwischen körperlichen und geistigen Substanzen für »verheerend«.49 Descartes’ Argument der Identität von denkender Selbstreferenz und existieren dem Ich unterschlage die genuine Zeitlichkeit der Reflexion und die prozessuale Natur von Existierendem. »Denn jedesmal, wenn er ausspricht, ›Ich bin, ich existiere‹, hat sich das wirkliche Ereignis, welches das Ego ist, geändert; und das ›Er‹, das den beiden Egos gemeinsam ist, ist ein zeitloser Gegenstand oder aber der Nexus von aufeinander folgenden Ereignissen.«50 Man könnte einwenden, Whiteheads Kritik ziele an der strate gischen Funktion von Descartes’ Beweis vorbei, weil es die Form des Beweisgangs als einer semiotischen Transformation ausblende und das Argument empirisch verstehe. Dennoch trifft Whiteheads Einwand einen wichtigen Punkt, weil er ein Verständnis von Trans formationsräumen infrage stellt, auf dem Descartes’ Naturbegriff beruht. Anders als im Cartesianischen Raum quantitativer Propor tionen von Größen, mit denen Natur identisch gesetzt und vom Geist unterschieden wird, bilden in den Augen Whiteheads sämtliche Ereignisse und Einzelwesen ein prozessuales Kontinuum von unfaß barer Komplexität, das sich jeweils von einer aktualisierten Form her perspektivisch entfaltet. In einer Blume, einem Stein, einem Gedan ken, einer Geburtstagsfeier oder einem Gewehrschuß manifestiert sich auf je unterschiedliche Weise das gesamte Universum in seiner Geschichte und Gegenwart. Zwischen quantitativen und qualitativen Zuständen läßt sich sowenig klar unterscheiden wie zwischen res cogitans und res extensa. »Das Einssein des Universums und das Einssein jedes Elements im Universum wiederholen sich im kreativen Fortschreiten von Geschöpf zu Geschöpf bis zum Donner des Jüngsten Gerichts, wobei jedes Geschöpf die Gesamtheit der Geschichte in sich trägt und die Identität der Dinge sowie ihre wechselseitigen Verschiedenheiten beispielhaft belegt.«51 Jedes Wesen beschreibt die begrenzte Perspektive einer abgeschlossenen Welt im Blick auf Poten Ebenda. Whitehead, A.N.: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie [1929]. Frank furt/M. 19952, S. 151. 50 Ebenda, S. 153. 51 Ebenda, S. 417. 48
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tialitäten. In seiner Begrenztheit ermöglicht es die Vereinbarkeit von Wirklichem und Möglichem in einer bestimmten Konstellation und damit eine vektorielle Orientierung auf Zukunft. In seiner Vorlesung »Denkweisen« fragt Whitehead nach Bedeu tung und Möglichkeit schöpferischer Prozesse. Symbolen räumt er dafür zentrale Bedeutung ein. Whitehead rückt Gesichtspunkte in den Vordergrund, die Descartes in seinem Beweis-Bild hinter sich zu lassen bemüht war: beispielsweise den Ausschluß aller nichtma thematischen Zeichenformen für ein angemessenes Erfassen des Universums. Grade oder vielfältige Formen von Bestimmtheit und Bedeutung verdienen Aufmerksamkeit. Freiheit entsteht durch Ori entierung in Möglichkeitsfeldern. »Auf diese Weise sind Bedeut samkeit, Wahl und intellektuelle Freiheit miteinander verzahnt.«52 Menschliches Leben und das, was wir Denken nennen, käme ohne Symbole nicht zustande. Worte spielen hierbei eine eminent wichtige Rolle, ohne daß Denken in Sprache restlos aufginge, ist es doch in vielfältige Vorgänge physischer, emotionaler und symbolischer Art verwoben. Rein kommt es niemals vor.53 Es hängt nicht nur an einer oder mehreren Zeichenformen und behält physiologische Züge. Philosophie, die der Komplexität des Verstehens Ausdruck ver leihen möchte, »ist der Poesie verwandt.«54 Poetische Philosophie bemüht sich, der »Unendlichkeit im Endlichen« des prozessualen Universums gerecht zu werden.55 Grenzen werden gesprengt und »alle Unvereinbarkeiten aufgelöst.«56 Evidenz wohnt in enger Nach barschaft zur Ästhetik. »Ich vertrete den Standpunkt, daß die Ana logie von Logik und Ästhetik eines der am wenigsten erschlossenen Gebiete der Philosophie ist.«57 Whiteheads Kosmologie besitzt Affi nitäten zum Denken Hölderlins und zu Friedrich Schlegels Idee einer Universalpoesie, denn in zeichenhaft organisierten Singularitäten findet das Universum seinen spezifisch menschlichen Ausdruck. Statt die Sprache aus dem Erkennen zu eliminieren, käme es darauf an, der eigentümlichen Form sprachlicher Gedanken Rechnung zu tragen. Sprachliche Ausdrücke erschaffen besondere Abstraktio 52 53 54 55 56 57
Whitehead, A.N.: Denkweisen. A.a.O., S. 51. Vgl. ebenda, S. 77ff. Ebenda, S. 90. Ebenda, S. 94. Ebenda. Ebenda, S. 100.
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nen, die Unterscheidungen und Verknüpfungen allein durch ihre Zei chenform suggerieren – in Begriffen, Sätzen und deren Verknüpfung, wie sie eine syllogistische Logik pflegt, aber auch in Gedichten und Romanen. Jede Entität realisiert eine ihr eigentümliche Verbindung mit dem Universum. Farben, Bilder, Worte oder Zahlen beleuchten das Universum in unterschiedlichen Weisen, die sich in Ereignissen und Einzelwesen verdichten. Totalisierungen einzelner Perspektiven würden zu einer unkritischen Reduzierung unendlicher Vielfalt im Modus einer Abstraktion führen. Hingegen geht es um Leben und Bewegung, um Vielfalt und Potentialität, Entwicklung, Hoffnung, Ängste und Pfade in der endlichen Unendlichkeit jeweiliger Welten – um, in Hölderlins Worten, das »Ganze einer Lebensweise«. Jedes Einzelwesen und jede Lebensweise ist eine Singularität, die das Universum spiegelt. Anders als Monaden bei Leibniz sind diese Singularitäten im Denken Whiteheads keine abgegrenzten Entitäten, sondern energetische Knoten unendlicher Verbindungen, Resonan zen und Einschränkungen, ohne in einer Zentralperspektive – Gott – aufgefangen und perspektivisch gebündelt zu werden. Folgt Leibniz’ Metaphysik der Idee einer zentralperspektivischen Darstellung, evo ziert Whiteheads Kosmologie eher ein Kaleidoskop pulsierender Dar stellungen. Besser als geometrische Vorstellungen taugen musikali sche Metaphern zur Artikulation lebendiger Vielfalt. Philosophische Reflexionen auf die Vielfalt von Existenzweisen weisen andere Züge der »Meditation« auf als bei Descartes. Nun geht es nicht mehr um die Entdeckung eines Grundes oder einer einheitlichen Form des Wirklichen, sondern darum, »das Verstehen der Verschmelzung von Existenzweisen« zu befördern. Philosophie »meditiert über diese Vielfalt des Ausdrucks.«58 Rhetorische Formen, deren sie sich dabei bedient, sind der Sache wesentlich, um deren Evozierung es geht. Weder sollen sie im Lichte eines Gedankens abgestreift noch wie ein bloßes Mittel verwendet werden. Menschliche Weltzuwendung erfolgt qualitativ. Sie konzentriert sich jeweils in einer personalen Existenz, die ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft organisiert. »Vielschichtigkeit«, »Vagheit« und »Intensität« charakterisieren tief in der physiologischen Struktur des Lebens verankerte Erfahrungen. Vor aller symbolischen Artiku lation prägen sie eine empfindliche Responsivität des Lebens, in das spezifische Sinneserfahrungen und schließlich zeichenhafte Aus 58
Ebenda, S. 109.
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drucksformen eingreifen. Nun treten klare Unterscheidungen – Sicht bares und Hörbares, Tastbares und Sagbares – in ihrer Verschieden heit hervor, auf die reflexive Aufmerksamkeit sich richten kann. All diese tiefliegenden Erfahrungsschichten spielen für Descartes’ Argu ment keine Rolle. Klarheit und Distinktheit macht er zum Prinzip des Denkens, um daraus ein Konzept der Natur und des forschenden Wis sens zu gewinnen, das alle anderen Formen depotenziert. Genauigkeit und qualitative wie quantitative Differenzierung erfolgen auf Kosten von Intensität und unterschlagen wesentliche Verbindungen.59 Auf der Strecke bleibt die konstitutive Funktion der Bedeutung im Prozeß des Universums. »Aber es gibt keine Irrelevanz. So basiert also die ganze Wissenschaft auf mißachteten Weisen von Relevanz«.60 Erfah rung entsteht allmählich über Ordnungen von Unterscheidungen und Kontrasten, die zunächst vage ausfallen können, bis sie sich symbolisch oder logisch zuspitzen. Von Erkennen zu sprechen heißt, Ordnungsbildungen zu betrachten, die in unterschiedlichem Maße intensiv, affektiv vage oder sogar symbolisch gegliedert sein mögen. Produktiv werden Ordnungen in dem Maße, wie sie neue, vage und noch ungeordnete Phänomene integrieren. Philosophie kann es sich zur Aufgabe machen, das Kommen und Gehen von Ordnungstypen zu beschreiben und Übergänge zwi schen unterschiedlichen Bestimmtheiten ins Auge zu fassen.61 Wer Übergänge, Unschärfen oder Vagheiten zugunsten klarer begrifflicher oder mathematischer Distinktionen zu sehr abblendet, verstellt sich ein Verständnis der Dynamik des Universums. Er könnte versucht sein, Vollkommenheit jenseits der beweglichen Welt als Ruhe oder Zustand zu suchen, statt sie mit dem Werden des Universums in Verbindung zu bringen.62 Diesen Fehler macht in Whiteheads Augen Descartes. Dessen Begriff des Vollkommenen findet er statisch und erfahrungsfern.63 Phänomene der Bedeutsamkeit entgehen Descartes deshalb ebenso wie Phänomene der allmählichen Verdichtung von Zufälligem zu Wahrscheinlichem, von losen zu engen Verbindun gen, mithin alles, was die Genealogie von Ordnungen im Plural Vgl. ebenda, S. 112. Ebenda. 61 Vgl. ebenda, S. 118. 62 Darin erblickt Whitehead einen Fehler der klassischen griechischen Philosophie. Vgl. ebenda, S. 119. 63 Vgl. ebenda, S. 123. 59
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ausmacht. Weil nicht eine einzige Art von Gesetzen das gesamte Universum regiert, läßt es sich auch nicht mit einer einzigen Methode erkennen. »Das Universum verweigert sich dem todbringenden Ein fluß vollständiger Konformität.«64 Statt von Urteilen und Schlüssen, mathematischen Proportionen und deren universeller Transforma tion oder klaren Unterscheidungen zwischen Geist und Natur spricht Whitehead von »Schwingungen«. Schöpferisches gewinnt den Cha rakter einer »Rhythmizität des Prozesses«, die sich jedem einzelnen Vorkommnis aufprägt.65 Raum und Zeit zu trennen, um eine mecha nische Physik zu konstruieren, erscheint als weiterer Fehler, der im Cartesianischen Denken angelegt ist und sich bei Newton oder Kant wiederholt. Gestalt gewinnen Prozesse in Individuen. Differenz, nicht Gleichförmigkeit ist ein konstitutives Merkmal des Kosmos. Beschreibungen von Singularitäten treten an die Stelle abstrakter, Verschiedenheiten verdeckender Gesetze. »Entsprechend kann das, was über einen Prozeß gesagt wurde, nicht über einen anderen Prozeß behauptet werden.«66 Das spricht für eine Vielfalt der Zeichen und gegen eine Verabsolutierung von Logik und Mathematik. Gebraucht werden Ausdrucksformen, die den Unterschieden und Vergleichbar keiten zwischen geologischen Formationen, Sonetten oder Fugen Rechnung tragen. Ähnlichkeiten zu betrachten, ist eine anspruchs volle Form von Rationalität.67 Gott wird als Weltprozeß verständlich, als »Reservoir für Poten tialitäten und zugleich die Koordination des Erreichten«, wir könnten auch sagen: als Gedanke und Prinzip der Ordnung.68 »Gott« hält die Bedeutung von Singularitäten für das Ganze und die Bedeutung des Ganzen für das Sein der Singularitäten wach. Prinzip des Ganzen ist geordnete Verschiedenheit. Kristallisieren muß sie sich im Einzel nen und sollte deshalb auf diese Einzelnen hin betrachtet werden. Personen liefern dafür paradigmatische Beispiele, zumal in ihnen, dank ihrer Symbolbegabtheit, der Gedanke des Ganzen seinen Ort findet. Raum und Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft falten sich ineinander, um immer wieder neu bestimmt, unterschieden und 64 65 66 67 68
Ebenda, S. 124. Ebenda, S. 125. Ebenda, S. 134. Vgl. ebenda, S. 135. Ebenda, S. 130f.
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verknüpft zu werden. Andersheit, Möglichkeit und Selbst werden Menschen in der Arbeit des Unterscheidens erfahrbar. Wollten wir uns ein Bild Gottes – also des Universums – machen, von dem wir wissen, daß es keine analoge Repräsentation der Sache ist, schlägt Whitehead vor, uns Gottes Natur als »zärtliche(.) Fürsorge dafür, daß nichts verloren geht«, vorzustellen.69 Weder transzendenter Wel tenschöpfer noch strenger moralischer Richter oder unerbittlicher Herrscher, ist Gott ein »Poet der Welt«70, dessen unendliche Geduld das Universum als schöpferischen Prozeß zusammenhält. Die Metapher des Welt-Poeten nimmt die Einheit der Unter scheidung von Unterschied und Unterscheidung ernst. Lebendige Prozesse – die Physiologie der Natur, Wahrnehmungen oder Den ken – tendieren zu balancierten Unterscheidungen. Ein anderer Aus druck dafür lautet »Ökologie des Geistes«. Gregory Bateson, von dem diese Formulierung stammt, versteht unter »Geist« eine Ordnungs form, die Autonomie mit dem Zerfall von Rekursivität kombiniert. Autonomie entsteht durch rekursive Prozesse, mit denen Ordnungen zufällige Variationen in Strukturaufbau umwandeln. Destruktion der Autonomie erfolgt durch das Abreißen von Rekursivität. Zwischen dem Entstehen und dem Ende rekursiver Ordnungen entstehen Zeit, Erinnerung und Lernen, Vielfalt und Einheit, Stabilität und Varianz.71 Strikte Unterscheidungen, die ontologische Grenzen zwischen Wesen zementieren, zerfallen unter dieser evolutionären Perspektive. Zwi schen Ideen, Taten, Menschen, Tieren oder Meeren zu unterscheiden bleibt sinnvoll, auch wenn wir nicht so weit gehen müssen, sie als vollkommen voneinander abgeschlossene Entitäten aufzufassen, deren Verhältnisse zueinander zum Rätsel werden. Auch Geist und Materie, Menschen und Gesellschaft, Ideen und Kultur sind rekursive Unterscheidungen, die sich jeweils in bestimmten Gestalten zeigen. Bereits auf der Wahrnehmungsebene greifen Logik und Ästhetik ineinander; im Denken sollten sie nicht künstlich zerrissen werden. Was Whitehead als Universum beschreibt und Powell in seinem Roman entwirft, ist ein pulsierendes Ganzes mit sich ständig verla gernden Knoten, Identitäten und Rhythmen. »Gott« ist dafür ein guter, zumindest ein bewährter Ausdruck, ebenso wie »Geist«. »Der Whitehead, A.N.: Prozeß und Realität. A.a.O., S. 618. Ebenda. 71 Vgl. Bateson, G.: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit [1979]. Frankfurt/M. 201410, S. 160f. 69
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individuelle Geist ist immanent, aber nicht nur im Körper. Er ist auch den Bahnen und Mitteilungen außerhalb des Körpers immanent; und es gibt einen größeren Geist, von dem der individuelle Geist nur ein Subsystem ist. Der größere Geist läßt sich mit Gott vergleichen, und er ist vielleicht das, was einige Menschen mit ›Gott‹ meinen, aber er ist doch dem gesamten in Wechselbeziehung stehenden sozialen Sys tem und der planetarischen Ökologie immanent.«72 Gott und Geist sind Synonyme für eine Unendlichkeit ineinandergreifender Kon texte, die auf unterschiedliche Weise Zufälle in Erfahrungen verwan deln. Zugänglich wird Erfahrung wiederum in Gestalten, zu denen sie sich kristallisiert. Beispielsweise in einer Delfin-Dressur, einem wis senschaftlichen Buch oder eben in einem Roman.
4 Reflexionskunst Zu Michel de Montaignes Reflexionen in seinen »Essais« weisen solche Überlegungen Ähnlichkeiten auf. Mehr als ein halbes Jahr hundert vor Descartes’ machtvollem Versuch einer Neubegründung wissenschaftlichen Denkens aus dem Geist der Methode entfaltet Montaigne über Jahrzehnte hinweg sein Projekt einer lebensbeglei tenden Philosophie, der es darum zu tun ist, die Kunst, »recht zu leben«, zu kultivieren. Wohl in allen wichtigen Punkten bilden die »Essais« das Gegenstück zu Descartes »Meditationen«. Historisch hat die leise Reflexionskunst Montaignes sich in der akademischen Philosophie kaum durchsetzen können. Ideengeschichtlich markieren die »Essais« jedoch eine der bedeutenden Alternativen zu Descartes’ Weg in die Moderne. Der »Discours de la Méthode« läßt sich, ebenso wie die »Meditationen«, wie eine Antwort auf Montaignes Reflexionskunst lesen. Distanznahme zur Tradition eines »scholastischen« Denkstils, der mit begrifflichen Definitionen und syllogistischen Urteilen arbei tet, verbindet Montaigne mit Descartes. Möchte Descartes jedoch an die Stelle scholastischer Logik eine neue Methodenlehre setzen, die aus einem einzigen Prinzip ein geschlossenes System des Wis sens entwickelt, begrüßt Montaigne die Vielfalt von Erfahrungen, 72 Bateson, G.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven [1972]. Frankfurt/M. 19903, S. 593.
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die sich methodischen Prinzipien entziehen. Zwecken wollen seine Betrachtungen nicht dienen; offen und neugierig nehmen sie die bunte Vielfalt der Phänomene zur Kenntnis. Formale Geschlossenheit spielt sowenig eine Rolle wie Nützlichkeit. Diskursive Strenge bleibt einem Denken fremd, das Vielfältiges in der Einheit eines Buches versammelt. Beobachtend und übend erprobt es sich selbst. Es findet mehr Gefallen daran, unterschiedliche Phänomene und Aspekte zu vergleichen, als sie in einer Zentralperspektive zu bündeln oder zu beurteilen. Aus der Differenz zwischen Sprache und Sache entspringt eine Unruhe der Reflexion, die eher belebend wirkt, als daß sie tragische Züge eines Verfehlens des Besonderen aufwiese. Geht es dem Ich, das beobachtet, reflektiert und schreibt, anders? Handelt es sich nicht auch hier um fluktuierende Vielfalt? »Der Zerfall der Einheit in Vielheiten macht an der Grenze des Ich nicht halt. So wird das Ich sich selbst zum Schauplatz seiner eigenen Vielheit. (...) Die Vielheit des eigenen Ich erscheint sowohl als Widersprüchlichkeit, Andrang vielfältiger Ich-Bestrebungen wie als auseinanderfallende Sequenz temporaler Existenzen. Bis in die kleinste Zeiteinheit setzt der Zerfall des Ich in die Vielheit seiner Momente sich fort.«73 Um das Selbst geht es Montaigne in völlig anderer Weise und in gänzlich anderer Absicht als bei Descartes’ Grundlegung einer auf Mathematik gegründeten Wissenschaft. Das »Cogito« dient der Konstruktion eines logisch anmutenden Argumentes, weshalb es außer seiner formalen Natur wenig Interesse findet. Bei Montaigne steht das Selbst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Bleibt der Ausdruck »Cogito« bei Descartes ein Name für eine Denkfunktion, die eine logische, in Anschauung nicht einholbare Differenz zum Bewußtsein bezeichnet, wird diese Zeichenfunktion von Montaigne zur entfalteten Literatur der Reflexion erweitert. Reflexion ist von ihren Zeichen unablösbar, weil sie in ihnen lebt und als Text wirklich wird. Die Gestalt des Textes schmiegt sich der Beweglichkeit von Wahrnehmungen und Gedanken an. Angemessene Form philosophi schen Denkens ist deshalb der arabeskenhaft mäandernde Essai. Nir gendwo erhebt Montaigne den Anspruch, mehr als persönliche Beob achtungen, Erfahrungen und Überlegungen anzustellen, doch für Leser sind sie deshalb exemplarisch. Immer wieder setzt Montaigne mit seinen Gedanken neu an. Allmählich werden sie zur textförmigen 73 Stierle, K.: Montaigne und die Moralisten. Klassische Moralistik – moralistische Klassik. Paderborn 2016, S. 46f.
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Spur jahrzehntelanger Beschäftigungen mit sich selbst, mit der Welt und mit dem literarisch überlieferten Wissen vor allem der antiken Welt, das er in seiner Bibliothek versammelt. Im eigenen Leben müssen Gelehrsamkeit und Erfahrungslust zusammenkommen, soll Reflexion gelingen und Gewinn für das zu führende Leben abwer fen. Anlässe und Zeiten der Reflexionen gilt es zu bedenken, ihren Anlaß zu erwägen und die Nichtabgeschlossenheit aller Gedanken im Auge zu behalten. Nichts ist zu gering, um nicht betrachtet zu werden. Leibliche Bedürfnisse und Gebrechen haben philosophische Bedeutung. Verdauung und Sexualität sind philosophisch relevante Themen. Was das eigene Denken ausmacht, erschließt sich ihm selbst über die lesende Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner Entstehung. Deshalb bieten die »Essais« die Dokumentation einer Philosophie-im-Werden, deren Zeitlichkeit zu ihrem Wesen gehört. Welche Logik sollte diese Zeitlichkeit aufheben? Was wäre ein Ich ohne Erfahrung? Späteren Lesern mag es so erscheinen, als ob Mon taigne Descartes’ Projekt vorausgeahnt hätte, wenn er dezidiert den Anspruch der Vernunft auf Gewißheit bestreitet: »Deshalb habe ich keine Gewißheit zu bieten, es sei denn darüber, welchen Stand die Erkenntnis meiner selbst zur Stunde erreicht hat. So achte man nicht auf den Stoff, sondern auf die Form, in der ich ihn wiedergebe: plau dernd, reflektierend und bald fürs Pro plädierend, bald fürs Kontra.«74 Überzeugungskraft gewinnt das Geschilderte als je Besonderes. Fehlende Anschaulichkeit ist durch logische Schlüsse nicht wettzu machen. Gibt es überhaupt eine einzige Form des Denkens? Darf Logik als dessen Paradigma dienen, wo doch auch Denken nur im Plural vorkommt? »Das Denken hat zahlreiche Formen, daher wissen wir nicht, an welche wir uns halten sollen; die Erfahrung aber hat deren nicht weniger.«75 Seit Platon und Aristoteles wird dem Denken meist die Funktion zugesprochen, Vieles auf Eines hin zu ordnen. Doch worin bestünde dieses Eine? Wie könnte im Denken Einheit entstehen, wo es doch ohne Vielfalt der Erfahrung kaum zustande käme? »Es gibt im Erscheinungsbild der Dinge keine umfassendere Eigenschaft als die Verschiedenheit und Vielfalt.«76 Wäre die Einheit des Gedachten mehr und anderes als eine leere Referenz? Was spräche dafür, dem Denken etwas zuzutrauen, was in der gesamten Natur 74 75 76
Montaigne, M.d.: Essais [1572–1592]. Frankfurt/M. 1998, II, 10, S. 201. Ebenda, III., 13, S. 537. Ebenda.
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nicht vorkommt, nämlich eine Identität des Verschiedenen? Mon taigne versteht Natur als Ordnung von Singularitäten, deren Unter schiedlichkeit es zu bedenken gilt. »Die Natur hat es sich zur Aufgabe gesetzt, nie ein Zweites zu schaffen, das nicht vom Ersten abwiche.«77 Gilt diese Einsicht für den Gegenstand der Reflexion ebenso wie für das reflektierende Ich, bilden die Essais eine Sprach-Arabeske, durch die Ich und Welt einander als verschränkte Pole eines Reflexi onsfeldes begegnen. Im Selbstgespräch entstehen Einsichten, die mit logischer Evidenz nichts zu tun haben.78 Sprache macht Reflexion und Reflektiertes unterscheidbar, indem sie im Vollzug des Sprechens oder Schreibens eine räumliche und zeitliche Struktur des Textes entfaltet. Reflexion wird zur Welt- und Selbsterfahrung. »Indem die Sprache so zwischen das Ich und ein Selbst tritt, wird sie zur eigenständigen dritten Instanz, die sich versuchsweise als Werkzeug benutzen lässt, um in die Tiefe des eigenen Geistes einzudringen ...«79 In der Singularität des Essais begegnet die Reflexion einer poetischen Evidenz, die sie zugleich vollzieht und bemerkt. Ohne Vorbedacht beginnt der reflektierende Mensch seine Betrachtungen, will er doch niemanden überzeugen oder gar allge meine Wahrheiten verkünden. »Etwas ganz neues: ein Philosoph aus Zufall, ohne Vorbedacht.«80 Woran sollte man sich auch halten, treffen wir doch in Erfahrung und Denken auf unzählige Verschieden heiten und Ähnlichkeiten? Unähnliches müssen wir denkend und schreibend ähnlich machen, ohne es vorschnell in eins zu setzen, unter Kategorien zu verschütten oder in logischen Urteilen zuzurichten. »Der Schluß, den wir aus Ähnlichkeiten der Geschehnisse zu ziehen suchen, ist wenig gesichert, denn in Wirklichkeit sind sie immer unähnlich. Es gibt im Erscheinungsbild der Dinge keine umfassendere Eigenschaft als die Verschiedenheit und Vielfalt.«81 Nur im einzelnen Menschen und dessen reflektierter Erfahrung ziehen sich Verschie denheiten und Ähnlichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt zusam men. Bücher wie die »Essais« wissen daher in gewissem Sinne mehr, als ein Ich je zu wissen vermöchte. Sie wissen mehr, als ihr Autor zu einem einzigen Zeitpunkt sagend resümieren könnte. Über einzelne 77 78 79 80 81
Ebenda. Vgl.. Stierle, K.: Montaigne und die Moralisten. A.a.O., S. 69. Ebenda, S. 154f. Montaigne, M.d.: Essais. A.a.O., II. 12, S. 273. Ebenda, III.13, S. 537.
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Wörter müssen wir nicht rechten, bringen Wörter doch Uneindeutig keiten in die Welt, indem sie Wünsche nach Präzision nähren, die an jeder Erfahrung scheitern. Quecksilbrig entgleiten Bedeutungen im Versuch, zu definieren, was in Rede steht. Begriffliche Unterschei dungen führen zu Katarakten weiterer Unterschiede. »Verunsiche rung und Streitlust« bringen sie statt der Wahrheit in die Welt.82 »Die Gelehrsamkeit ist es, welche die Schwierigkeiten schafft.«83 Im Text sedimentieren Erfahrungen sich zur Spur eines Lebens, das in die Ereignisse der Welt – in Montaignes Zeit Bürgerkrieg und Religionskonflikte – verflochten bleibt. Selbstgespräche werden im Schreiben zur Selbstverständigung, an der Leser teilnehmen. Sogar das schreibende Ich ist ein Leser seiner selbst. Im Essai erscheinen Gedankenbewegungen, die sich als Literatur kenntlich machen, statt in privaten Tagebucheintragungen oder meditativen Denkübungen steckenzubleiben.84 Im Text begegnet das philosophierende Ich sich selbst und möglichen Lesern als Alter ego. Zum Wesen des Geistes gehört es, zu suchen und zu stöbern, wo es ihm gefällt. Je mehr er der Vision von Klarheit nacheifert, desto mehr verheddert er sich in seinen eigenen Distinktionen. »In der Ferne glaubt er was weiß ich welchen Schimmer einer imaginären Klarheit und Wahrheit zu erkennen, doch während er ihm nachzulau fen sucht, legen sich ihm so viele Schwierigkeiten, Hindernisse und neue Fragen in den Weg, daß er zu taumeln beginnt und nicht mehr weiterweiß.«85 Ein für allemal gelangt er ohnehin zu keinem Ergebnis, da seine Kräfte ihn immer weiterdrängen. »Was er (der Geist, DR) verfolgt, hat weder Grenze noch Gestalt, was seine Kräfte speist, sind Verwunderung, Zweifel und Jagdlust.«86 Gefühle kommen den Ansprüchen argumentierender, logischer Vernunft in die Quere. Zu leben ist Ziel des Lebens, nicht die Erkenntnis abstrakter Wahrhei ten. »Recht zu leben – das sollte unser großes und leuchtendes Ebenda, S. 538. Ebenda. 84 »Montaigne erfindet, was zuvor undenkbar schien: das Gespräch als ›écriture‹, nicht als literarische Fiktion des ursprünglichen Gesprächs, sondern als Gespräch unter den Bedingungen eines schreibenden Redens, und zwar in einem Gespräch ohne Partner.« – Stierle, K.: Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Motaigne, Descartes und Pascal. In: Stierle, K./Warring, R. (Hrsg.): Das Gespräch. Poetik und Hermeneutik XI. München 1986, S. 297–334, hier S. 315. 85 Montaigne, M.d.: Essais. A.a.O., III.13, S. 539. 86 Ebenda. 82
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5 Phänomen, Erfahrung und Fiktion
Meisterwerk sein!«87 Um diesem Ziel näherzukommen, müssen wir die Natur wertschätzen – keineswegs als qualitätslose res extensa, sondern als natürliche Umgebung der Menschen. »Alles, was der Natur entspricht, verdient unsere Wertschätzung.«88
5 Phänomen, Erfahrung und Fiktion Montaignes Reflexionskunst läßt Erfahrungen literarisch zu Wort kommen, um die Ganzheit eines Lebens anschaulich zu machen: Michel de Montaigne begegnen Leser in seinen Essais als einem Menschen, der ihnen hilft zu verstehen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Fiktionen wie Anthony Powells Roman wiederum erweitern Erfahrungen ins Imaginäre einer exemplarischen Welt. Hier tau chen phänomenologische Betrachtungen ins Virtuelle symbolischer Wirklichkeiten ein. Auslegungen von Wahrnehmungsstrukturen einerseits und der Gegebenheitsweise von innerweltlich Seiendem andererseits fügen sie eine weitere Dimension hinzu. Symbolische Ordnungen des Imaginären spiegeln Erfahrungen des Wirklichen, um das In-der-Welt-Sein wie eine exemplarische Gestalt des Möglichen zu beschreiben. Im Symbolischen werden »Seiendes«, als begegnen des bedeutungsvolles Konkretes, und »Sein«, als Horizont, vor dem Konkretes sich in seiner Sinnform abhebt, verschränkt. Derart Ver schränktes muß, um sichtbar zu sein, symbolisch entfaltet werden. Darstellungen verleihen einer bedeutungshaft begegnenden Welt verständliche Formen. Phänomene sind ihrer Beschreibung nicht vorgängig, sie werden mit symbolischen Mitteln überhaupt artikuliert und in eine »Sicht« gebracht. Darin liegt die Verwandtschaft einer Poetik zur modernen Physik und Naturphilosophie. Weil die Form der Aussage der oszillierenden Vielschichtigkeit des Sinns kaum gerecht wird, greift eine phänomenologisch motivierte Reflexionskunst ins Literarische aus. Zwischen Montaignes Essais und Powells Roman werden Grenzen fließend, insofern beide exemplarische Erfahrungen konkreten In-der-Welt-Seins zum Ausdruck bringen und auf diese Weise denkbar machen. Dem »Denken« öffnet sich, was sinnhaft gestaltet ist. Sich selbst wird »Denken« als Arbeit des Gestaltens von Sinn zugänglich. Am »Grund« des Denkens von je Besonderem 87 88
Ebenda, S. 560. Ebenda, S. 562.
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Tanzende Identitäten
stoßen wir auf einen symbolischen Resonanzraum dissonanter Zei chen, der Hölderlins Gedanken des Göttlichen, das sich in der poe tischen Sprache vollzieht, nahesteht. Heideggers Fundamentalunter scheidung von Sein und Seiendem bleibt im Vergleich mit poetischen Symbolwelten matt, da sie jede Anschauung, alles Exemplarische der Erfahrung zurückweist. Im Kern bleibt sie begrifflich – und darin Descartes’ Denken ebenso ähnlich wie einem Whiteheadschen Ein tauchen in die summende Vielfalt des Wirklichen fremd. In die Leere der Fugen rückt ein unsagbarer, anzudenkender Grund, ein anderer Anfang, ein, der sich seine eigenen Fiktionalität nicht eingesteht und zum Absoluten aufschwingt, das der Denker als neuen Anfang beschwört – ähnlich wie in den Meditationen Descartes`. Je uneinge standener die Evokation des Absoluten aber ausfällt, desto leichter übersieht das Denken, in welchem Maße es sich selbst einer besonde ren Sprachform – einer Rhetorik – verdankt. Trügerisch gaukelt diese Rhetorik eine Überwindung aller semantischen Verstrickungen vor – so wie Descartes seine »Meditationen« als Abstreifen aller begriff lich-semantischen Elemente der Logik ansieht, sucht Heidegger die Rettung des Denkens im An-Denken eines Unbestimmten, das als Wegdenken der Sinnfülle des konkret Erscheinenden vonstatten geht. Preis einer solchen Rhetorik ist ein Verlust der Welt – bei Descartes ebenso wie bei Heidegger. Fiktionales Besonderes und Mögliches hingegen treten in über raschenden Konstellationen vor Augen, um mit eigenen Wahrneh mungen, Erfahrungen und Reflexionen vergleichbar zu werden. Wer Vergleiche anstellt, gerät kaum in Versuchung, »Lichtungen« vor zunehmen, in denen etwas ganz anderes als Seiendes aufleuchtet. Anderes zeigt sich im Spiegel des Imaginären wiederum als Besonde res. Hier erscheint mitunter eine Welt in neuem Licht. Relevanzen, Gesellschaften und Bedeutungen treten in unerwartete Figurationen. Auf einem Ball wird Nicholas Jenkins Zeuge eines Mißgeschicks, das seinem ehemaligen Mitschüler Widmerpool durch einen mißratenen Scherz widerfährt. Scheint Widmerpools Reaktion frühere Charakter züge zu bestätigen, erkennt Jenkins schlagartig, wie seine Gefühle, die er Barbara Goring, der Urheberin des Scherzes, gegenüber empfun den hatte, sich verändert haben. Zugleich mit seinen Gefühlen rücken Personen, Dinge, Hoffnungen und Handlungen in eine neue Figura tion – ähnlich den Bewegungen tanzender Paare auf dem Parkett. »Was mich selbst anging, so konnte ich, seltsamerweise, dieses plötz liche Gefühl der Unbehaglichkeit, das wie ein Guß eiskalten Wassers
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wirkte, als meine augenblickliche Einsicht identifizieren – die sich mir gleichzeitig und äußerst nachdrücklich in einer so objektiven Form vermittelte –, dass ich einen gewaltigen Fehler begangen hatte, als ich mich in Barbara verliebte. (...) Jetzt fühlte ich mit absoluter Sicherheit, dass Barbara, wenn sie so etwas hatte tun können, nicht für mich bestimmt war und es auch nie gewesen war.«89 Nicholas’ Erkenntnis erfolgt plötzlich; auf einen Schlag, mit »Evidenz«, verändert sie alles. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sind im Nu andere geworden. Zwischen Verstand und Gefühl unterscheidet Einsicht nicht. Von Kausalitäten kann ebensowenig die Rede sein wie von einem neuen Telos, das Nicholas’ Leben durch Zeit und Gesellschaft leitet. Nicht mehr und nicht weniger ist geschehen, als daß die Ordnung, die für ihn Welt ist, eine andere wurde. Das ist der Fall, weil alles in dieser Welt, einschließlich Nicholas Jenkins selbst, Bedeutung ist. Solche Ereignisse markieren Weichenstellungen im Prozeß eines Lebens, deren Folgen sich im nachhinein erschließen. Plötzlich lassen sie spüren, wieviel Unbekanntes, Unbewußtes und Ungefühltes sich hinter scheinbar oberflächlichen Ereignissen verbirgt. »Zu diesem Zeitpunkt meines Lebens gingen alle möglichen Dinge um mich herum vor, die erst später bestimmte Bedeutungen oder Struktu ren annahmen. So unterhielten einige Leute Liebesbeziehungen in aller Öffentlichkeit, die oft schnell wieder vergessen waren, während andere sich verliebten, ohne dass irgendjemand, gelegentlich nicht einmal der Gegenstand ihrer Liebe selbst, von diesen verborgenen Zuneigungen wusste oder sich darum kümmerte. Manchmal konnten die Folgen solcher unterdrückten Gefühle erst nach Jahren, wenn überhaupt, richtig abgeschätzt werden; und weit öfter bleiben sie natürlich völlig unbekannt.«90 Nicholas Jenkins’ Leben gleicht einem Dahintreiben, das sich weder räumlichen noch zeitlichen Koordinaten fügen will. Tiefe gewinnt es durch plötzliche Umwandlungen der Bedeutung und das Aufscheinen neuer Motive oder Hintergründe, denen nachzugehen jede endliche Lebenszeit überstiege. Nach chro nologischen Maßstäben wäre seine Zeit kaum angemessen zu verste hen, ist jede Gegenwart doch mit Vergangenheit und Zukunft aufgela den. In der Kontinuität eines Lebens ergeben sich Veränderungen, die zugleich real und perspektivisch, objektiv und subjektiv sind. Weder ist es möglich, Jenkins’ Leben – und damit die Welt – zu erklären, 89 90
Powell, A.: Tendenz steigend. Ein Tanz zur Musik der Zeit. Bd. 2. A.a.O., S. 81f. Ebenda, S. 89.
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Tanzende Identitäten
noch, es vollständig zu beschreiben oder seine jeweilige Zukunft vorherzusagen. Unmittelbar ist Nicholas Jenkins die Reaktion auf Begebenheiten, die ihm widerfahren. Reaktionen erfolgen keineswegs bloß passiv, bestimmt doch seine Aufmerksamkeit mit, was für ihn relevant sein kann. Nicholas’ Handlungen mögen Beobachtern – anderen Figuren oder Lesern des Romans – als relativ konsistent vorkommen, entsprechen sie doch dem Habitus der Gesellschaft, in der er verkehrt. Für Nicholas Jenkins selbst erscheinen sie neu und oft überraschend. Sich selbst zu verstehen heißt, sich in seinen eigenen überraschenden Situationen zu erleben – und auf diese Weise womöglich festzustellen, daß man eine Frau, die man zu lieben glaubte, nicht nur nicht mehr liebt, sondern womöglich nie geliebt hat. Geht es um das eigene Leben oder das Leben anderer, mögen wir höchstens Umrisse oder Details einer Sache verstehen. Das Wissen darum bewahrt vor schnellen Verallgemeinerungen und zügelt die Urteilsfreude. Alles steht mit allem in wechselnden Verbindungen. Dieselben Personen sind wir, indem wir uns ständig ändern. Unmit telbar nach einer erotischen Begegnung mit Gypsy Jones – einem »kurzen Intervall äußerster Belebtheit« – gruppieren sich für Nicholas Bedeutungen und Identitäten um. »Mir wurde bewußt, wie Gypsy ihre Individualität veränderte, doch gleichzeitig ihre vertraute Form behielt; und diese Illusion vermittelte mir fast den außerordentlichen Eindruck, dass wir in Wirklichkeit drei Personen seien – vielleicht sogar vier, denn ich bemerkte, dass auch in mir selbst sich eine Ver änderung vollzogen hatte – und dass die ein Paar bildenden aktiven Teilnehmer sozusagen herausprojiziert worden waren aus unseren normalerweise beziehungslosen Ichs.«91 Womöglich sind alle Men schen, in die wir einmal verliebt waren oder es zumindest zu sein glaubten, in gewisser Weise eine einzige Entität, in der sich Facetten unserer eigenen Identität reflektieren. »Waren Barbara und Gypsy in Wirklichkeit dieselbe Frau?, so fragte ich mich. Es sprach einiges für diese Theorie, denn ich hatte mich abrupt an eine Äußerung Barbaras erinnert, die sie einige Monate zuvor unter den Bäumen am Belgrave Square gemacht hatte«, bei der es um das Schimmern von Haut im Mondlicht ging, was Nicholas unwillkürlich seine eigene Gefühlslage romantisch mit einer Herbststimmung in Verbindung bringen läßt.92 Wie im Tanz, dessen Figuren sich wiederholen und doch immer wieder 91 92
Ebenda, S. 275. Ebenda, S. 276f.
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verändern, erfahren wir unsere Identität und die Identität anderer, ja sogar die Wirklichkeit der Welt, in der wir leben, und »ehe wir wissen, wo wir sind, ... kaum des Wandels gewahr« bemerken wir, daß wir »unkontrollierbar hinunterjagen auf den schlüpfrigen Bahnen der Ewigkeit.«93
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Ebenda, S. 293.
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Epilog: Kain
1 Verstehen und Lichten Statt, wie ein »Subjekt« den »Objekten«, der Welt gegenüberzuste hen, ist das Dasein, wie Heidegger in »Sein und Zeit« vorführt, von allem anderen Seienden dadurch unterschieden, daß es ihm in seinem Sein »um dieses Sein selbst geht«.1 »Dasein« ist ein Verhältnis, das weder kontemplativ-selbstreferentiell sich »selbst« noch episte misch-neutral den Dingen begegnet; als in die Welt involviertes nimmt es genuin Interesse. »Theorie«, als uninteressierte Schau, bietet für Heidegger kein geeignetes Modell philosophischer Reflexion. Selbstsein fällt dem Dasein jedoch nicht einfach zu, es muß erarbeitet werden. Über Verfaßtheiten seiner selbst, die im alltäglichen Leben allzu oft verborgen bleiben, legt es Rechenschaft ab. Phänomenologie versteht Heidegger als Aufweisung dessen, was »sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht.«2 Wesenhaftes bleibt hinter dem Schleier des Phänomenalen verborgen und muß freigelegt werden. Dieses Motiv verbindet »Sein und Zeit« mit dem Anliegen einer Poetik der Reflexion. Vom Modus des Sehens verlagert sich die Arbeit hin zu einer Explikation des Seins-zur-Welt. Bei aller Kritik an Kants Transzen dentalphilosophie liegt darin das aufklärerische Erbe von Heideggers Denken in »Sein und Zeit«. Auch ihm ist es um eine Reflexion der Möglichkeit des Freiseins zu tun. Freiheit bedeutet, im Entwurf auf etwas hin, das zunächst zu übernehmen ist, »Grund« seiner selbst zu werden. »Das Dasein ist nicht insofern selbst der Grund seines Seins, als dieser aus eigenem Entwurf erst entspringt, wohl aber Heidegger, M.: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 197915, S. 12 (Hervorhebung im Original). 2 Ebenda, S. 35 (Hervorhebung im Original). 1
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Epilog: Kain
ist es als Selbstsein das Sein des Grundes. Dieser ist immer nur Grund eines Seienden, dessen Sein das Grundsein zu übernehmen hat.«3 »Dasein« nennt Heidegger dasjenige Seiende, das »sich aus Möglichkeiten versteht und dergestalt sich verstehend das geworfene Seiende ist«.4 Anders als ein freischwebendes, von der Welt gelöstes »Cogito« legt sich ein »freies« Selbstverhältnis, wie es das »Dasein« charakterisiert, in die Welt hinein fest. Unengagiert kann es der Welt nicht gegenüberstehen. Auf Edmund Husserls Projekt einer Phänomenologie des Bewußtseins gemünzt, hebt Heidegger eine Weise des Phänomenalen hervor, die sich der Schau entzieht: »Das Daß der Faktizität wird in einem Anschauen nie vorfindlich.«5 In der Welt und zur Welt ist es vielmehr als gestimmtes und befindliches. So ist ihm die Welt erschlossen, ohne deshalb erkannt sein zu müssen. Wesentlich ist ihm seine Existenz zunächst unverfügbar, findet es sich doch in die Welt geworfen vor. Um zu sich zu kommen, muß es sich aus dieser Geworfenheit zurückholen. Anstrengungen, frei zu werden, nötigen zur Wahl, auf welche Weise das Dasein sich festlegt. »Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen.«6 Weil das Dasein immer schon in seine Welt verstrickt ist, muß es seine Freiheit erarbeiten, indem es als Wahl nachholt, was zuvor in der Alltäglichkeit des »Man« unreflektiert geblieben war. »Das Sichzurückholen aus dem Man, das heißt die existentielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigensten Selbst. Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnnen.«7 Heidegger verändert nicht nur die Fragestellung von Husserls Phänomenologie, sondern auch die Strategie der philosophischen Beschreibung. Vom anschaulich Gegebenen verlagert das Interesse sich auf das Erschließen einer Bedeutungsgesamtheit, die weder durch Anschauung noch durch Begriffe hinreichend gegliedert ist. Im Aus legen geht es nicht um Beschreibungen des phänomenal Gegebenen, sondern um ein explizierendes Zum-Wort-Bringen des sich dem 3 4 5 6 7
Ebenda, S. 285 (Hervorhebung im Original). Ebenda. Ebenda, S. 135. Ebenda, S. 285 (Hervorhebung im Original). Ebenda, S. 268 (Hervorhebung im Original).
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Aussprechen zunächst Entziehenden. Gegenständliches ist kein vor rangiges Thema phänomenologischer Bemühungen. Die Grundfigur von »Sein und Zeit« beruht auf einer fundamentalen Bedeutung der Sprache. Ohne Sprache könnte das Rückholen des Daseins aus dem Man in die Eigentlichkeit einer Haltung schwerlich gelingen, auch wenn diese Rückholung nicht unbedingt begrifflich-reflexiv zustande kommt. Aus seiner Verlorenheit in die Öffentlichkeit des »Man« gelangt das Dasein durch den Ruf des Gewissens hinaus, um auf seine Möglichkeiten zurückzukommen. Das Gewissen »erschließt« und gibt »›etwas‹ zu verstehen«.8 Hörend auf den Ruf des Gewissens, weicht der Lärm des Man einem Schweigen, das sich als Aufruf zur Eigent lichkeit eigensten Seinkönnens bekundet. Nichts Bestimmtes wird dem Dasein zugerufen, bliebe dieses doch ein bloßer Zuruf aus der Welt des Man. »Was ruft das Gewissen dem Angerufenen zu? Streng genommen – nichts. Der Ruf sagt nichts aus, gibt keine Auskunft über Weltereignisse, hat nichts zu erzählen.«9 Im Schweigen des Rufes gelangt das Dasein in seine »Unheimlichkeit«. Herausgelöst aus vertrauten Bedeutungen, erfährt es sich als »das nackte ›Daß‹ im Nichts der Welt«.10 Keine andere Rede, Schweigen löst die Fixierung auf Äußerlichkeiten des Man, um eine Re-flexion zu motivieren, die das Selbst- und Weltverhältnis des Daseins verändert. Trotz des Sichfestlegens in die Möglichkeiten der Welt hinein, wie es das freie Dasein auszeichnet und, auf den ersten Blick, von Descartes’ »Cogito« unterscheidet, führt die Reflexion des Daseins auf »sich« dieses aus allem Bestimmten heraus und von der konkreten Welt weg. Heideggers Figur des Rufes, mit dem das Dasein aus der Unei gentlichkeit gerissen und auf sich selbst zurückgewiesen wird, ist der späteren Figur des An-Denkens insofern ähnlich, als beide Figuren Weltbezüge abschneiden, mit denen das vorreflexive Dasein in seine Welt verstrickt war. Wenn Heidegger später seine Sprache zu einer poetischen Kunst des Nicht-Sagens entwickelt, radikalisiert er ein in »Sein und Zeit« konstitutives Motiv. »Eigentlichkeit« und »Denken« erscheinen hier als Reflexionsformen, die zwar von der Alltäglichkeit weg-, doch zu nichts Bestimmtem hinführen. Deshalb kann es beim Zustandekommen dieser Reflexionsweisen kaum um ein Auslegen 8 9 10
Ebenda, S. 269 (Hervorhebung im Original). Ebenda, S. 273 (Hervorhebung im Original). Ebenda, S. 276f.
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der Welt und deren Reichtum an Sinn gehen. Dazu müßte Heidegger sich auf die symbolische Struktur der Welt einlassen, in die jedes Dasein als in seine zweite Natur verwoben ist und in der alles phänomenal Begegnende als in umfassende, symbolisch überformte Sinnformen eingelassen begegnet. Es gäbe kein »Selbst«, das frei wäre von kulturellen Bezügen und symbolischen Prozessen. Im § 31 von »Sein und Zeit« erläutert Heidegger das Verstehen als gestimmtes Erschließen einer Bedeutsamkeit, in der Welt und Dasein für ein Möglichsein freigegeben werden, das in kategorialen, logischen oder kausalen Bestimmungen zunächst nicht aufgeht. Dasein »ist seine Möglichkeit« insofern, als dieses Möglichsein durch eine modale Vorstellung der Unterscheidung des Möglichen vom Wirklichen gerade nicht abgedeckt wird, sondern als Energie des Daseins vom Ergreifen seines In-der-Welt-Seins abhängt. Reflexio nen auf dieses Möglichsein erfordern mithin eine Betrachtung, die sich aus dem modal-logisch geprägten Auslegungsraum eines Den kens der Freiheit löst. Hier kommt zum Vorschein, was Heideggers Philosophie von der Tradition der »Metaphysik«, vor allem der Meta physik des 17. und 18. Jahrhunderts, exemplarisch von Leibniz und Kant, unterscheidet. Zugleich markiert diese Distanzierung eine Schwierigkeit der sprachlich verfaßten Reflexionsbewegung: »Sub jekt« und »Objekt« sind unmittelbar verschränkt – als eine Art vibrie render Einheit – gedacht, die in der Erfahrung als Intensität präsent ist, während eine sprachliche Explikation dieser Bewegung gramma tisch trennt, was doch Vollzug ist. Darin liegt die Paradoxie einer sprachlich verfaßten Reflexion auf Nichtsprachliches, etwas das reflektierende »Dasein« zutiefst Prägendes, begründet, wie Hölderlin sie in seinen theoretischen Schriften skizziert und ihr in seiner Lyrik Ausdruck verleiht. Von Gründen unterscheidet sich der »Entwurf« durch das prospektive Sich-in-die-Welt-Legen, das ein Dasein »ist«. Dieses »Ist« bezeichnet keine Identität im grammatischen oder onto logischen Sinne. Der sprachliche Ausdruck täuscht darüber hinweg, daß die ausgesagte Gleichheit ein Vollzug ist, der nicht in zwei Kom ponenten oder in Substanz und Eigenschaften zerlegt werden kann, handelt es sich doch nicht um ein begrifflich schon geordnetes Ent werfen, sondern um ein lebendiges Ergreifen dessen, was im Entwurf zur Form des Daseins selbst wird. Begriffliches Ordnen käme später und würde in seiner logifizierenden Form tendenziell verstellen, wel chen Vollzügen es sich verdankt. Sein als Seinkönnen zeigt sich im »Spielraum« eines Daseins in seiner Geworfenheit – in den konkreten
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Reibungsflächen, Differenzen und Kraftlinien seiner Existenzweise im Kontext seiner Welt. Verstehen in diesem elementaren Vollzugs sinn bleibt vom Begreifen verschieden. Damit ist kein Unvermögen des Daseins zu präziser Artikulation gemeint, sondern vielmehr eine grundsätzliche Differenz des Sinns von Vollzug und Benennung oder kategorialer Sortierung. Weder ist die Ordnung des Seienden von den anschaulichen Phänomenen her bereits hinreichend erschlossen, noch garantiert Begrifflichkeit eine zuverlässige Systematik des phänome nal Erscheinenden. Hier liegt der Unterschied zwischen Heideggers Vorstellung von philosophischer Artikulation und Varianten einer Ontologie, die sich auf Begriffe und deren Ordnungsformen in Urtei len verläßt. Unvermeidlich stellt sich damit auch das Problem, wie denn noch zu sprechen sei, wenn die Sprache zugleich Mittel und Schranke der Explikation ist. In der »Auslegung« gelangt ein fundamentales Verstehen zur Explizitheit: Es wird »es selbst«.11 Sprache kommt ins Spiel, um den »Spielraum« des Verstehens zu ordnen und Möglichkeiten »aus drücklich« in die »Sicht« zu heben.12 In die Sicht wird gebracht, was nicht einfach zu sehen ist. Verstandenes gewinnt die Struktur des »Etwas als Etwas«. Zum Aussprechbaren geworden, wird die Relation des Verstehens, die das Dasein immer schon ist, zu einer expliziten Reflexion – allerdings um den Preis, daß die Sagbarkeit des sprachlich Verstandenen die Reflexion wieder in das »Man« verstrickt. Unausweichlich ist die Sprache unsere gemeinsame Sprache, die Umgangssprache, in der »man« lernt, sich auszudrücken und die Welt zu verstehen, in die man sich geworfen findet. »Welt« begegnet dem Menschen auch als Raum des Sagbaren und auf eine bestimmte Weise Verständlichen. Heideggers Charakterisierung des »Man« stimmt darin weitgehend mit Wittgensteins Analysen der »normalen Spra che« überein. Allerdings bleibt die »Bewandtnisganzheit«, der das Verstehen sich verdankt, insofern es ein »Vorgriff« ist, der Reflexion zugänglich. Sie zeigt sich wie der Rand des Reflexionsfeldes, in dem die Welt begegnet: indirekt. Das Ganze wird als Ganzes von einer Hinsicht aus zugänglich, also: nicht im Ganzen begreiflich. Hinsichten machen sich mehr als Haltung denn als Aussagen bemerkbar. Eine Haltung braucht sich keiner Absicht zu verdanken, sie kann aus der Bewandtnisganzheit entspringen. So verstanden, könnte das Dasein 11 12
Ebenda, S. 148. Ebenda.
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von ihr aus auf seine Endlichkeit zurückkommen. Zeitlichkeit zeigte sich als Resonanz der Endlichkeit, die nach Auslegung verlangt – wie im »Ruf« des Gewissens auf paradoxe Weise hörbar wird –, deren Artikuliertheit jedoch nie ganz trifft, wonach sie strebt. Diese Figur akzentuiert ein Schlüsselproblem der Frage nach dem Wesen von Reflexion. Heideggers Kritik der Bewußtseinsphi losophie macht geltend, Reflexion in einem anspruchsvollen Sinne müsse mehr sein als bloße Selbstreferenz, instinktive Reaktion oder transzendentale Automatismen. Sie als Gegebenheit des Ichs oder des Bewußtseins vorauszusetzen, wäre zu wenig. Einschlägige Passa gen in »Sein und Zeit« wecken die Erwartung, die Genealogie von Reflexion, insbesondere im Blick auf die Verlagerung von Uneigent lichkeit hin zur Eigentlichkeit, in ihrer Geschehensweise aufzuhellen. Zunächst beschreibt Heidegger diese Bewegung so, daß sie auch – wenn nicht sogar vor allem – als vor- oder nichtsprachliche Bewegung zu verstehen wäre. Woran es ist, bemerkt das Dasein beispielsweise aus dem »Spielraum des faktischen Seinkönnens« heraus, der es ist.13 Spielräume unterscheiden sich von Plänen. Ein Plan, so läßt sich dieser Kontrast auslegen, logifiziert Möglichkeiten, ordnet sie begrifflich, schematisiert sie nach Zwecken und Mitteln, legt ein Vorher und Nachher fest oder verlangt bestimmte Kooperationen. Spielräume hingegen ergeben sich im praktischen Vollzug von Tätig keiten, sie leben vom Üben und wachsen mit Improvisationen, vor allem kennen sie keine perspektivische Beschreibung von außen oder abstrakte modallogische Analysen des Möglichen im Kontrast zum Wirklichen oder Notwendigen. Wie aber gelangen »Spielräume« in den Horizont der Reflexion, wenn nicht mit Hilfe symbolischer Arti kulation, jedenfalls sofern es um eine gewisse situationsübergreifende Konsistenz der Haltung zu tun ist? An dieser Dauer und Konsistenz aber, einem Nachhall des Topos von »Theorie«, ist Heidegger gelegen: Ein »verstehendes Ergreifen der vollen Erschlossenheit des In-derWelt-seins durch seine wesenhaften Verfassungsmomente hindurch« wäre anders kaum verständlich zu machen.14 Nun unterscheidet Heideggers Denken sich von Cassirers Philo sophie unter anderem dadurch, daß er keine apriorisch symbolische Konstitution des menschlichen Weltzugangs in Anschlag bringen möchte. Auf diese Weise gerät jedoch seine Figur der Reflexion in 13 14
Vgl. ebenda, S. 145. Ebenda, S. 146 (Hervorhebung im Original).
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eine zeichenphilosophische Schwierigkeit, die sich, wie im Falle des Auslegens, bis zur Ausweglosigkeit verschärfen kann. Je intensiver das Dasein sein Sein-zur-Welt expliziert, desto mehr läuft es Gefahr, in die Falle des Man zu tappen. Vor der komplementären Option, die Arbeit des Auslegens als Poetik der Dissonanz zu verstehen, die der Nichtidentität von Sinn und Zeichen Bedeutungsüberschüsse – und Horizonte des Freiseins – abgewinnt, scheut Heidegger zurück. Schweigen vertraut er mehr als einer Poetik der Reflexion. Dem »Dasein« ist die Welt in einer intentionalen Form zugänglich, die in der Bemühung um »Auslegung« explizit werden kann. Dazu bedarf es einer »Vorhabe«, eines praktischen Involviertseins. Das verstehende Dasein hebt in seiner Arbeit der Auslegung sein In-der-Welt-Sein in die Sphäre artikulierten Sinns.15 Dabei erfährt das Verstehen eine Umformung: Es wird in Zeichenordnungen integriert, die eigene Verweisungen ermöglichen und nahelegen. Für Heidegger ist es die Sprache, die hier in allererster Linie in Frage kommt. Im Extremfall verwandelt das ursprüngliche Verstehen sich nun in eine theoreti sche Aussage. Ist das Auslegen eine begleitende Möglichkeit der Umkehr des Daseins zum Freiwerden, eine retrospektive Beschreibung oder gar eine konstitutive Arbeit? Braucht, mit anderen Worten, das Dasein vielleicht sogar Darstellungen exemplarischer Art, um der Uneigentlichkeit seiner Existenz gewahr zu werden und seine Sicht zu verändern? Braucht es sie, um sich Möglichkeiten im Wirklichen reflektiert vor Augen zu führen, auf die hin es sich entwerfen kann, weil es sich mit ihnen vergleicht? Dazu wäre es auf symbolische Artefakte des Imaginären einer Kultur angewiesen: nicht nur auf die Sprache, sondern auf semantische Ordnungen, wie sie in Fiktionen, Mythen und Kunstwerken aller Art begegnen. Schlägt Heidegger in »Sein und Zeit« Sinnhorizonte, vor denen und aus denen heraus ein Dasein sich »versteht«, der Sphäre des »Man« zu, ersetzt er später ein Denken der Freiheit durch ein An-Denken, das sich von der Welt abkehrt, um sich als Vollzug der Lichtung des Seienden ins Spiel zu bringen. Dabei verläßt er sich auf das »Wort«, eine von Welthaltigkeit weitgehend gereinigte Sprache, deren artifizielles Modell die philosophische »Fuge« wird. Heideggers Denk-Weg ist durch eine Verschiebung im Gebrauch der philosophischen Sprache geprägt. »Eigentlichkeit«, zunächst die Weise menschlicher Freiheit, 15
Vgl. ebenda, S. 151.
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erfährt in diesem Zuge eine kontemplative Umdeutung. Heideggers Fokussierung auf Sprache verstellt paradoxerweise den Blick auf das, was Symbole zur menschlichen Welt beitragen. Er traut ihnen keine Leistung zu, über die das Dasein ein modifiziertes Verhältnis zur Welt und zu sich selbst gewinnen könnte. Das »nackte Daß« des Daseins findet sich wieder im reinen »Denken«. Mit diesem Gestus kehrt er die Intentionalitätsanalysen Husserls um und bezieht zugleich eine Gegenposition zu Cassirers Begriff der »symbolischen Formen«, die ihrerseits an die Stelle einer Bewußtseinsanalyse das Programm einer Beschreibung kultureller Sinnformen stellt. Dieser Gestus macht verständlich, warum Heidegger sich, bei aller Distanzierung von Urteils- und Negationslogik, einer Figur der Abwendung bedient, um zu erläutern, was er unter Reflexion versteht. Statt um die Gestaltung anderer Möglichkeiten, die uns, als in die Welt Geworfene, dazu verhelfen, diese Welt – und uns selbst – anders zu sehen, setzt Heidegger auf eine Befremdung des Gewohnten, die weniger als Vergleich mit Unvertrautem vonstatten geht denn als Entleerung von Sinn. Exemplarisch verweist er auf Befindlichkeiten wie die Angst, die dazu führt, Bedeutungsroutinen außer Kraft zu setzen.16 Heidegger denkt das Befremden und die Umkehr zur eigentlichen Existenz vom Anderen des Alltäglichen aus. Obwohl das Motiv der »eigentlichen« Existenz als Entwerfen in die Welt hinein konzipiert ist und insofern ein genuin positives Weltverhältnis beschreibt, erscheint der Weg dorthin als Abwendung, die zumindest Züge der Negation bewahrt. Auf dieser Schwelle bleibt Heideggers Reflexion stehen. Sein Haltmachen wirft die Frage auf, ob philosophische Texte oder Literatur – Kunstwerke überhaupt – ein katalysatorisches Moment für das Erreichen nicht-alltäglicher Hin sichten und Haltungen der Existenz abgeben könnten, weil sie anders sehen machen, ohne zu erklären oder anzuweisen. Heidegger möchte diese Option vermeiden, weil sie die Grenze zwischen Philosophie und Literatur zu sehr aufweichen und die Autorität philosophischer Rede unterminieren könnte. Mit der Sprache – dem, wie es später heißt, »Haus des Seins« – gilt es gegen die Sprache zu arbeiten. Von einer frühromantischen Poetik unterscheidet Heideggers Anlie gen sich vor allem dadurch, daß er der Philosophie die Aufgabe zuweist, »die Kraft der elementarsten Worte, in denen sich das Dasein ausspricht, davor zu bewahren, daß sie durch den gemeinen Verstand 16
Vgl. ebenda, S. 186: »Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit.«
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zur Unverständlichkeit nivelliert werden«.17 In dieser Formulierung klingt ein Reinheitsideal der Reflexion an, das Heideggers Philoso phie mit der Tradition verbindet, von der er sich distanziert.18 Weil Sprache als Vermittlungsform zwischen Vorprädikativem und Explizitem gefaßt wird, gerät sie als genuin weltschöpferische Praxis aus dem Blick. Innerweltlich Begegnendes bleibt tendenziell vom »Man« – und damit der Sprache – imprägniert; ohne Sprache allerdings gelingt dem Dasein die Reflexionsbewegung aus dem »Man« heraus nicht. Heidegger möchte der normalen Sprache eine Reinheit der philosophischen Sprache abringen, die, der Anlage seiner Argumentation zufolge, unerreichbar bleibt. Seine spätere »Kehre« und sein Denken in »Fugen« erscheinen vor diesem Hintergrund als ins sprachliche Extrem getriebene Weltabkehr, die aus der Paradoxie von »Sein und Zeit« Konsequenzen zieht. Zwei alternative Wege werden dadurch versperrt: zum einen, wie Ludwig Wittgenstein, die »ordinary language«, die Sprache des »Man«, als eigentliches Haus des Seins zu betrachten, das vor poetischen Umbauten ebenso geschützt werden muß wie vor philosophischen Logifizierungen.19 Zum anderen, Dichter-Philosophen wie F. Schlegel oder Hölderlin zu folgen und eine Phänomenologie des virtuellen Exemplarischen zu entwickeln: In künstlerischen Werken evoziert diese, was einem »Anschauen« nicht gegeben sein kann, um anders sehen zu machen, statt zu explizieren. »Dasein« und »Denken« bilden in Heideggers Früh- und Spät werk Pole einer Reflexionsfigur. Verbunden sind sie durch symboli sche Vollzüge: »Verstehen« und »Lichten« geschehen im Horizont von Sinn. Doch ist ihnen gemeinsam, daß sie als Weisen der Refle xion der genuinen Form von Sinn – Bedeutung und Zeichen – so sehr mißtrauen, daß sie die Sprache zu extremen Formen treiben wollen, um sie vor Verschmutzungen des Man zu bewahren. Um sie als Vollzüge überhaupt ins Auge zu fassen, bedarf es wiederum symbolischer Verfahren, die es erlauben, eine sinnhaft pulsierende Welt reflexiv zu falten. Seit den 1930er Jahren stützt Heidegger sich dabei auf zwei Mittel, die einander komplementär ergänzen: zum Ebenda, S. 220 (Hervorhebung im Original). An diesem Motiv setzt Richard Rortys Kritik an Heidegger an, um sein Motiv einer »ironischen« Philosophie zu erläutern. Vgl. Ders.: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/M. 1989, S. 169ff. 19 Vgl. Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen [entstanden zwischen 1937 und 1949, publiziert 1958]. Frankfurt/M. 1977. 17
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einen seine »Fugen«, mit denen er die philosophische Sprache mög lichst weit der dichterischen anzunähern versucht; zum anderen den Mythos der Seinsvergessenheit, der ein Denken in Fugen motiviert und rechtfertigt. Weil Fugen jedoch nicht mit Erzählungen verwech selt werden sollen, die womöglich ins Fiktionale ausgreifen und die reine Eigenschwingung des »Denkens« aus dem Takt bringen könn ten, stehen Fuge und Mythos in einem Spannungsverhältnis. Diese Spannung abzuschwächen fällt Heidegger schwer, da er über keine Theorie der Symbole verfügt, die Übergänge, Verwandtschaften, aber auch dissonante Resonanzen zwischen verschiedenen Zeichenformen verständlich machen könnte. Im Lichte des Mythos vom verlorenen Ursprung oder vom »anderen Anfang« erscheinen alle konkreten Weltauslegungen – alles Historische oder alle Religionen – gleich nichtig. Motive eines innerweltlichen Verstehens, die in »Sein und Zeit« zu einem Denken der Freiheit geführt hatten, treten später zurück. Reflexionen auf die Sprache nach der »Kehre« verlieren den Kontakt zur Frage danach, was es heißen könnte, in der Welt frei und verantwortlich für die Wahl seiner Möglichkeiten zu sein. Heidegger gebraucht den Mythos, um der phänomenalen Herausforderung einer jeden Reflexion auszuweichen, die ihren Ort in der Welt hat. Der Mythos vom »anderen Anfang« kompensiert den Mangel, die Genese von Reflexion trotz der Kritik an klassischen bewußtseinsphilosophi schen Modellen nicht aufgeklärt zu haben. Nun erscheint das inner weltliche Verstehen als nichtig, weil es von einem falschen Modell des Seienden geführt und getrübt sei. Heidegger begibt sich der Möglich keit, die Form des Mythos so zu nutzen, wie es Dichter-Philosophen getan haben, in deren Tradition zu stehen er beansprucht. Zugleich macht sein Denken von den Möglichkeiten symbolischer Ordnungen Gebrauch, um die eigene Strategie der »Kehre« zu plausibilisieren: im Mythos des anderen Anfangs und in der Form der Fuge. Mythen leben im Gebrauch wie die Sprache. Durch Wiederho lungen gewinnen sie an Kraft. Je lebendiger sie sind, desto tiefer sind sie im Imaginären einer Kultur verankert. Für Schlegel und Hölderlin ebenso wie für Heidegger sind Mythen wichtig, weil sie phi losophische Reflexionen in einer imaginären Genealogie verankern. Welcher Mythos erzählt wird, entscheidet über die Deutung mit, in der philosophische Betrachtungen ihre jeweilige Welt zeigen. Kommt keine Beschreibung eines Erscheinenden – und keine Auslegung des Verstehens – ganz ohne Rhetorik aus, ja muß der Sinnhorizont eines phänomenal Gegebenen vielleicht erst in der Beschreibung
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1 Verstehen und Lichten
entwickelt werden, weil er sich der unmittelbaren Anschauung in einer »Wesensschau« nicht restlos ergibt, so liefert der Mythos ein Schema für solche Entfaltungen. Wer Phänomenologie als Kunst versteht, Verborgenes zum Vorschein zu bringen, statt phänomenal Gegebenes zu beschreiben, müßte Mythen – oder anderen sorgfältig gestalteten Fiktionen – eine fundamentale Kraft zutrauen, wurzeln sie doch ebensosehr in der Sphäre des jedermann Verständlichen, wie sie diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten übersteigen. Dazu müssen sie erzählt werden, wie philosophische Reflexionen immer wieder vollzogen werden müssen, weil sie niemals in einer finalen Einsicht zum Abschluß kommen. Heideggers Mythos vom »anderen Anfang« versucht jedoch, seine mythische Form zu kaschieren. Das unterscheidet ihn beispielsweise von Horkheimers und Adornos Version der Odysseus-Mythen in der »Dialektik der Aufklärung« als einer Urgeschichte der Subjektivität. Heideggers Mythos moti viert eine vermeintlich »reine« Reflexion – und verzichtet darauf, existentielle Fragen aufzuwerfen. Diese strategische Umdeutung der ursprünglichen Funktion von Mythen steht mit Heideggers Bestreben im Zusammenhang, jüdisch-christliche Motive aus seinen Reflexio nen fernzuhalten. In den Fundamenten dieser Tradition nämlich sind Motive eingelassen, die dazu auffordern, nach der Rolle des Einzelnen in der Welt, nach der Unterscheidung von Gut und Böse oder nach der Verantwortung einer Person für ihr Leben zu fragen – also Fragen danach zu stellen, was es heißt, ein freier Mensch zu sein. Mythen der jüdisch-christlich geprägten abendländischen Kultur wahren einen internen Bezug zu Fragen des »Daseins«, wie Heidegger sie in »Sein und Zeit« entwickelt. Sie fungieren wie Spiegel, in denen Menschen lernen, ihre Endlichkeit in der Fülle der Welt zu reflektieren. Diese Funktion und Kraft geschichtlich langlebiger Mythen möchte Heidegger nicht wahrhaben. Darum ersetzt er wir kungskräftige Mythen durch einen eigenen ahistorischen Mythos des »anderen Anfangs«, von dem sich nur als von etwas Vergessenem sprechen lasse. Diesen Unterschied in der Verwendungsweise des Mythos möchte ich abschließend exemplarisch vor Augen führen, um die Differenz zwischen Heideggers früher und später Philoso phie zu frühromantischen Denkweisen und Motiven herauszustellen. Dazu seien Mythen der jüdisch-christlichen Kultur in Erinnerung gerufen, die den genuinen Zusammenhang von Freiheit und Schuld, Kultur und Gewalt betonen. Nicht zuletzt an solchen existentiellen Fragen müßte sich entscheiden, was »Eigentlichkeit« einem Dasein
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als Haltung abverlangt. Anders als der Mythos vom »Seyn« führt vor allem der Mythos von Kain in die Welt hinein statt von ihr hinweg. Wie eine Arabeske durchzieht er unterschiedliche kulturelle Aus drucksregister, erlebt Verwandlungen, Adaptionen und neue Ausle gungen. Seine reflexive Kraft ist wesentlich poetischer Natur. In sei nem Spiegel zeigen sich noch einmal alternative Möglichkeiten einer Poetik der Reflexion.
2 Zorn der Welt »Ich bin der Zorn der Welt«, verkündet, das Antlitz vom Wahnsinn erleuchtet, Don Lope de Aguirre. Als letzter Überlebender eines spa nischen Conquistadorentrupps, der sich 1560 im Amazonasdschun gel verirrt, von Indianerangriffen dezimiert wird und dessen Mitglie der einander gegenseitig ums Leben bringen, wird er sich allein auf die weitere Suche nach dem sagenhaften Goldland »El Dorado« begeben. Aguirres Worte verklingen in der Wildnis. Vernommen werden sie von Affen – und vom Kinopublikum. Erzählt wird die Geschichte der Expedition aus dem Off von Gaspar de Carvajal (Del Negro), einem Franziskaner, der die Gruppe als Missionar und Chronist begleitet. Werner Herzogs Film »Aguirre – der Zorn Gottes« (1972, 91 Min.) lehnt sich an die historische Figur des Lope de Aguirre und dessen Amazonas-Expedition (1559–1561) sowie an Joseph Conrads Novelle »Herz der Finsternis« (1899) an.20 Gezeigt wird eine Parabel auf das Scheitern westlicher Vorstellungen von Macht, Glück und Erfolg am Beispiel der Geschichte der Kolonisation Lateinamerikas. Aus unterschiedlichen politischen Interessen heraus wurden Darstel lungen der »Conquista« oft ins Heroische oder Dämonische hinein mythisiert. Dem kontrastiert Herzog einen künstlerischen GegenLope de Aguirres »Expedition« ins Amazonasgebiet gehört zu den gescheiterten Unternehmen der »Conquista«. Besonders im Amazonas-Gebiet fiel es den spani schen Conquistadoren schwer, militärisch, ökonomisch und politisch Fuß zu fassen. In der Geschichtsschreibung finden diese Unternehmen sich nur selten, und dann meist unter dem Titel der »Expedition«. Lope de Aguirre tötete auf dieser Fahrt sowohl seinen Anführer Pedro de Ursúas als auch Dutzende seiner Gefolgsleute und schließ lich seine eigene Tochter. Er beleidigte in Briefen den König und erklärte sich zum Rebellen. Später wurde er im heutigen Venezuela durch Enthauptung und Vierteilung hingerichtet. Vgl. Huber, V.: Die Konquistadoren. Cortés, Pizarro und die Eroberung Amerikas. München 2019, bes. S. 54, 99ff. 20
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2 Zorn der Welt
Mythos. Conrads »Afrika« steht bei Herzog »Amerika«, dem »Elfen bein« das »Gold«, dem »Kongo« der »Amazonas« gegenüber. Jeweils überquert ein Weißer – der Elfenbeinhändler Kurtz bzw. Don Lope de Aguirre – die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn, Eigenem und Fremdem, Zivilisation und Gewalt, Herrschaft und Terror. Im Spiegel der Darstellungen zeigen sich dunkle Seiten westlicher Kul tur. Ähnlich Kinskis Gesichtszügen verzerren sich Werte und Ideale europäischer Gesellschaften. Zur stillen wie großartigen Naturkulisse liefert Kinskis exaltiertes Mienenspiel grelle Kontraste.21 Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto mehr nimmt Don Lope de Aguirre teuflische Züge an. Gutes in den Menschen verwan delt er mit Grausamkeit und List in böse Instinkte und skrupellose Handlungen. Lauern hinter menschlicher Anmut Niedertracht und Verbrechen, bleibt die Schönheit der Natur teuflischen Neigungen der Menschen gegenüber gleichgültig. »Gut« und »böse« sind kulturelle Kategorien. Sie spalten die Welt. Wer sich mit ihrer Hilfe beschreibt, muß das Paradies, den unterscheidungslosen Zustand vor dem Beginn der menschlichen Geschichte, verlassen. Der Dschungel erscheint im Film als Metapher des Gartens Eden. Gottes paradoxes Gebot zu verstehen, nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, bedeutet, bereits die Unterscheidung zu vollziehen; es ist der erste Schritt dazu, gegen das Verbot zu verstoßen und die logische Stelle Gottes zu usurpieren. Im Unterscheiden werden Gott und Teufel, Gut und Böse ver wechselbar. Innerweltliches Entkommen aus diesem Dilemma ist unmöglich. Reflexion – Bildermachen –, zunächst in Form des schrift lich niedergelegten Mythos, bleibt die einzige Möglichkeit, mit der Paradoxie des Unterscheidens und mit dem Verlust der Einheit, aus dem das Bewußtsein von der Welt entsteht, umzugehen. Aus mythisch-religiösen Wurzeln erwächst auch die Mythologie der Logik als einer vermeintlich reinen Form der Reflexion, die ihre mythischen Ursprünge abgestreift hätte. Biblische Erzählungen reflektieren die sen Zusammenhang, wie auf seine Weise Herzogs Film es tut. Aguirre 21 Für das Spiel auf der Grenze von Vernunft und Irrsinn erschien Werner Herzog Klaus Kinski als Idealbesetzung. Von dem kleinen Filmbudget wurde ein großer Teil für die Honorarforderung des Hauptdarstellers verbraucht. Doch Kinskis ego manisches Gebaren drohte die gesamte Produktion scheitern zu lassen. Seinen unkontrollierten Wutausbrüchen trat der Regisseur mit Androhung von Waffenge walt entgegen.
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scheint die Warnung des ersten Petrusbriefes vor dem Teufel zu bestätigen: Dieser geht umher »wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge«.22 Nach und nach werden in Herzogs Film alle Protagonisten verschlungen. Haß und Gier, Angst und Eitelkeit nutzt der Teufel, um die Welt, ursprünglich ein Feld pflegender Inbesitznahme durch den Menschen, in eine Hölle zu verwandeln. Der Genesis-Mythos erscheint auf der Filmleinwand in einer düsteren Lesart: Aus dem Paradies vertrieben, macht der Mensch sich daran, die Schöpfung zu regieren, indem er sie rücksichtslos in Besitz nimmt. Aus adami tischer Namengebung wird bizarre Unterwerfung. Don Fernande de Guzmán (Peter Berling), der groteske, Unmengen von Lebensmitteln verschlingende und dabei gleichgültig Länder in Besitz nehmende »Kaiser von El Dorado« von Aguirres Gnaden, erscheint als so lächerliche wie bösartige Karikatur eines biblischen Auftrags an den Menschen, sich die Welt untertan zu machen. Kains Brudermord führt nicht in eine Geschichte des Fortschritts der Menschheit durch Arbeit23, sondern in ein Inferno immer weiteren Mordens. Jahwe, der Kains Opfergabe zurückweist, bestraft dessen aus Zorn geborene Tat mit dem Fluch der Heimatlosigkeit. »Da sagte Jahwe zu Kain: ›Wo ist dein Bruder Abel?‹ Er antwortete: ›Ich weiß es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders?‹ Darauf sprach er: ›Was hast du getan? Höre, das Blut deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du, verbannt von dem Ackerboden, der seinen Mund aufgetan hat, um das Blut deines Bruders von deiner Hand aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir fortan keinen Ertrag mehr geben. Unstet und flüchtig sollst du auf Erden sein.‹ Da sprach Kain zu Jahwe: ›Zu groß ist meine Strafe, als daß ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Ackerboden weg und vor deinem Angesicht muß ich mich verbergen. Ich muß unstet und flüchtig auf Erden sein, und jeder, der mich findet, wird mich töten.‹ Jahwe aber sprach zu ihm: ›Keineswegs! Jeder, der Kain tötet, an dem soll man es siebenfach rächen.‹ Und Jahwe machte
1 Petr 5,8. Vgl. Kant, I.: Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte [1786]. In: Ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. VI. Darmstadt 1983, S. 83–102; zur Umdeutung der Kains-Geschichte in eine Fortschrittsgeschichte vgl. auch Konersmann, R.: Die Unruhe der Welt. Frankfurt/M. 2015, S. 132ff. 22
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an Kain ein Zeichen, damit ihn nicht jeder töte, der ihn fände.«24 Erstgeborener Sohn Adams und Evas, dessen Nachfahren die Zivili sation begründen, trägt Kain das ewige Zeichen der Gewalt, das ihn als Mörder stigmatisiert und durch das Gott ihn vor Auslöschung bewahrt. Jahwes Zorn begründet den Zusammenhang zwischen Kul tur und Gewalt, dessen schaurig-schönes Antlitz Kinskis Figur des »Aguirre« zitiert. Weil die Rache an Kain aufgeschoben wird, vermag er durch Henoch, seinen Sohn, Leben weiterzugeben und der Kultur Dauer zu verleihen: Henoch wird als der erste Erbauer einer Stadt beschrieben.25 Sistierte Gewalt ist Prinzip der Gesellschaft wie auch Fluch der Schuld. Das Zeichen Kains ist aus der Welt nicht zu tilgen, ermöglicht es doch die Unterscheidung zwischen Bösem und Gutem. Wer den Mörder erschlüge, wiederholte den Mord. Wäre darum nicht die Leugnung der Unterscheidung eine Lösung des Dilemmas? Nicht einmal Jahwe hat diese Option, ist er doch Gott eben durch das Ziehen einer Unterscheidung, die jeden ins Dilemma der Schuld stürzt, der sie befolgen oder ihr ausweichen möchte. Im Mythos werden die paradoxen Optionen klar. Nur gibt er keine Antworten auf Fragen, die er aufwirft. Die Schrift ist Zeichen eines Gottes, der in der Welt abwesend und deshalb Gott ist. Immer wieder erschafft er den Menschen als fragenden und zweifelnden, auf sich selbst zurückge worfenen und in den Unterscheidungen seines Denkens Befangenen. Im Spiegel des Mythos zerbröckeln vermeintliche Fundamente des Wissens oder Handelns. Unterscheidungen verwischen oder erweisen sich als paradoxe Anweisungen. Teuflisch werden natürliche Grenzen wie das Inzesttabu zwi schen Vater und Tochter im Wahn menschlicher Selbstvergottung verleugnet: Aguirre will mit seiner eigenen Tochter eine Dynastie begründen, um die Neue Welt zu beherrschen wie die Nachfolger Kains. Hat eine zur Hölle verwandelte Welt sich längst von der biblischen Botschaft gelöst, bestrafen die Invasoren ein wörtliches Verständnis der Schrift mit dem Tod: Zwei Eingeborene, die ver suchen, wie ihnen geheißen, das Wort Gottes zu hören, indem sie ihr Ohr an die Bibel legen, werden wegen Gotteslästerung umgebracht. Lüstern von goldenen Kruzifixen träumend, läßt der Missionar den Mord geschehen. Was die Schrift sagt, ist Sache der Auslegung durch den Herrn – durch den jeweiligen Herrn dieser Welt. Er tritt an die 24 25
Gen 4, 9–15. Vgl. Gen 4,17.
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Stelle Gottes als absoluter Souverän, Herr über Leben und Tod. Die Logik des Unterscheidens führt in eine diabolische Paradoxie, deren Entfaltung sich als Geschichte realisiert und reflexiv im Bild zeigt.
3 Diabolische Paradoxien Darin wiederholt sich die biblische Urgeschichte der Herrschaft, die mit einer Rhetorik des Zorns arbeitet. Hermeneutik und Gewalt, Wort und Macht sind miteinander verflochten. Moses, auf dem Berg Sinai weilend, um von Jahwe die Gesetze entgegenzunehmen, beobachtet gemeinsam mit seinem Gott, wie das Volk der Israeliten derweil einem goldenen Götzen in Gestalt eines Kalbes huldigt. Besser als ein bilderloser Gedanken-Gott repräsentiert das Abbild Vitalität, Kraft, Macht und sinnliche Wünsche. Erzürnt schickt Jahwe sich an, die Abtrünnigen zu vertilgen. Moses, der seinen Herrn zunächst besänftigt, exekutiert die Strafe schließlich selbst: Er, der bereits weiß, was geschehen ist, entbrennt nun – für alle sichtbar, also öffentlich und in der Welt – in Zorn, zerschmettert die Gesetzestafeln und befiehlt ein Massaker an den Frevlern.26 Moses’ Zorn tritt an die Stelle der göttlichen Wut und wird zur rhetorischen Inszenierung eines politischen Zeichens. Von nun an ist der Herrscher dieser Welt der Interpret des Wortes des HERRN und damit Herr über Leben und Tod. Der mythisch-religiöse Logos entfaltet sich als Hermeneutik der Macht in der Kunst des Unterscheidens und der begründungslosen Macht des Entscheidens. Politik entsteht als Verbindung von Macht, Wort und Autorität, die von kommunikativen Einkleidungen der Affekte lebt. Folgen eines Frevels gegen das Wort müssen sichtbar sein und innerweltliches Zeichen werden, um glaubwürdig Taten zu begründen. Moses erzürnt stellvertretend für den unsichtbaren Jahwe, um dessen Zorn in eine Rhetorik politischer Unterscheidungen zu verwandeln. Gerade Politiker sollten, wie Aristoteles mahnt, um den Zusam menhang von Affekt und Kommunikation wissen, wollen sie nicht grundlos und mit unübersehbaren Konsequenzen, mithin tatsächlich und deshalb vergeblich, in Zorn geraten. Weniger das situationsüber greifend Wahre als das jeweils Überzeugende zu erkennen, lehrt die 26
Vgl. Ex 32, 7–29.
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3 Diabolische Paradoxien
Kunst der Rhetorik. Menschliche Vernunft ist niemals rein. Affekte trüben das Urteil. Öffentlicher Vernunftgebrauch muß sich auf situa tive Zusammenhänge von Urteil und Affekt im Logos der Rede verstehen, um kluge Entscheidungen zu treffen. Statt um Psychologie geht es Aristoteles um Ordnungen der Kommunikation, die auch den Zorn unter Kontrolle halten, der zu Vergeltung neigt. Zorn gilt jemandem, von dem der Erzürnte eine Kränkung erlitten zu haben meint.27 Moses verwandelt den Zorn des unsichtbaren Jahwe in Taten. Um als politisches Zeichen wirksam zu sein, muß der Zorn jemandem zugerechnet werden, der in der Welt agiert. Aus dem »Off« des Berges Sinai ist das Volk nicht zur Räson zu bringen. In dieser Position befindet sich sogar Jahwe als erzählte Figur der Thora. Wohnstatt findet er in Mythen – wie auch Aguirre, sein diabolischer Gegenspieler in der filmischen Interpretation der Genesiserzählung. Für den Jahwe des Alten Testaments ist es keineswegs unter seiner göttlichen Würde, bei sich bietenden Anlässen in Zorn zu geraten. Jenseits der Unterscheidung zwischen Gut und Böse stehend, die er für seine Geschöpfe zieht, gönnt er sich, nach modernem Ver ständnis, das Privileg der Amoralität, wie sie einem Weltenschöpfer zustehen mag. Weil sein Handeln, ganz wie das menschliche Leben, auch von Gefühlen bewegt wird, fordert die biblische Erzählung göttlicher Taten zur Reflexion auf die Logik des Urteils und die Folgen des Unterscheidens heraus. Ethische Begründungspflichten sind Jahwes Sache nicht. Liebe, auch die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, ist ein Geschenk. Ohne moralische Begründung und ohne die Möglichkeit argumentativer Einforderung wird sie vielleicht gewährt. Rechten läßt sich darüber nicht, wie Hiob erfahren muß. Jahwe verbindet mit seinen Geschöpfen keine gemeinsame Logik. »Es gibt doch keinen Schiedsmann zwischen uns, der auf uns beide legte seine Hand.«28 Hiobs Klage über die Unbegreiflichkeit von Gottes Taten entspringt dem Wunsch des Verstehens. »Beschwören will ich Gott: Verdamm mich nicht! Laß wissen mich, warum du mich befeh dest.«29 Schauerlich wäre für Hiob die Vorstellung, daß Gott mit Satan über die Reichweite seiner Rechtschaffenheit gewettet und Satan bei der Erprobung Hiobs freie Hand gelassen hatte. Nichtverstehen des eigenen Schicksals äußert sich im Wunsch der Rede: »[I]ch lasse 27 28 29
Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Stuttgart 2007, 1378a-1378b. Hiob 9, 33. Hiob 10, 2.
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meiner Klage freien Lauf, will aus der Trübsal meiner Seele reden.«30 Verständigung, die nur zwischen im Prinzip Gleichen möglich ist, bleibt dieser Rede verwehrt. Ein Drittes oberhalb von Jahwe und Hiob, auf das beide sich verbindlich beziehen, kann es nicht geben. Das ausgeschlossene Dritte der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch erscheint indirekt in der Darstellung des Mythos, der die Paradoxie des Unterscheidens entfaltet. Diese Paradoxie als Schicksal des Menschen zu akzeptieren und immer aufs neue auszulegen im Bemühen um Orientierung außerhalb der Logik, wird zur Form einer Weisheit, die darauf verzichtet, mit Gott zu rechten. In der Auslegung des Textes spiegelt der Mensch seine Welt. Darstellend erfährt er sich selbst und wird zum Schöpfer, indem er seine Welt gestaltet. Für diese schöpferische Arbeit jenseits des Paradieses steht die Figur Kains. Auch er kann nicht verstehen, weshalb Jahwe seine Gabe übersieht. Gerechtigkeit, die sich an menschlichen Vorstellungen von Reziprozität, Kausalität oder Gleichheit bemißt, trifft auf Jahwes Verhalten nicht zu. Kains Opfer weist Gott grundlos zurück; das Herz des Pharaos verhärtet er einzig zu dem Zweck, Strafen auf ihn herabbeschwören zu können.31 Seine Besänftigung zum liebenden Gott im Neuen Testament verdankt sich einer onto-theologischen Arbeitsteilung: Nun muß der Teufel die Rolle des Bösen übernehmen. Satan wird, wie Paulus schreibt, zum »Herrn dieser Welt«.32 Satan entfaltet die Paradoxie Gottes zur Sünde, die Recht und Strafe, also Herrschaft, legitimiert. Ein Gott, der stolz verkündet, Herr aller Unterscheidungen zu sein – »Ich bin Jahwe, und sonst ist keiner, der Licht bildet und Finsternis schafft, der Heil wirkt und Unheil schafft; ich bin Jahwe, der dies alles wirkt«33 –, verschafft sich selbst Anlässe dafür, strafend in die Welt einzugreifen. Dazu benutzt er, wie die Geschichte von Davids Volkszählung berichtet, seinen Zorn, der ihn veranlaßt, jemanden zum Frevel anzustacheln, um ihn dann für seine Tat zu züchtigen. »Aufs neue entbrannte der Zorn Jahwes gegen Israel, so daß er David wider sie aufreizte und ihm auftrug: ›Geh, zähle Israel und Juda!‹«.34 Umgekehrt zeigt Jahwes Güte sich in seiner Hiob 10, 1. Vgl. Ex 7, 1–5. 32 2 Kor 4,4. – Vgl. auch Flasch, K.: Der Teufel und seine Engel. Die neue Biographie. München 2015. 33 Jes 45,7; Jahwe erschafft die Gestirne als »Zeichen«, die, werden sie gelesen, alte Gottheiten entmächtigen. Vgl. Gen 1,14. 34 2 Sam 24, 1–17. 30
31
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Reue, mit der er der Vernichtung der Sünder Einhalt gebietet, die er zuvor befohlen hatte.35 Aus dieser paradoxen Rolle Gottes führt die Figur Satans heraus. Satan entlastet Gott davon, Böses bewirken zu müssen, um seine Güte zeigen zu können. Entsprechend lautet die zweite Variante der gleichen Geschichte im Buch der Chronik: »Satan stand wider Israel auf und verführte David, Israel zu zählen.«36 Der Teufel dient dazu, die Paradoxie von Gut und Böse auf zwei Pole zu verteilen, das Böse in die Welt zu verlegen und als menschliche Freiheit zu behandeln. Alle Geschöpfe sind darin so wie David, der spricht: »War ich es nicht, der befahl, das Volk zu zählen? Ich bin es doch, der gesündigt hat. Ich bin der Hirte, der Böses getan hat.«37 In seiner Freiheit, die Freiheit zur Sünde ist, wird der Mensch zum Bild Gottes: Einheit der Unterscheidung von Gut und Böse. Doch in der Welt und als Geschichte, in der das Böse, wie Kain symbolisiert, so lange exis tiert wie die Menschheit, muß das Böse als Sünde zugeordnet und in der Person des Sünders bestraft werden. Als bloße Paradoxie kann es gesellschaftlich nicht existieren. Das gelingt nur im Mythos – als Bild der Paradoxie. Die Göttlichkeit des Menschen zeigt sich in der Tragik seiner Existenz: Gefangen in den Unterscheidungen, die seine Kultur ausmachen, ist er zur Freiheit verurteilt, die ihn nicht erlöst, sondern in die Welt verstrickt.
4 Jenseits von Eden 4.1 Schuld John Steinbeck hat in »Jenseits von Eden« die Geschichte von Kain und Abel als Menschheitsepos und als Idee Amerikas – »God’s own Country« – gedeutet. Neu beginnen kann die Menschheit ihr Schicksal, wenn sie aus dem Fluch der Schuld die Möglichkeit der Liebe entstehen läßt, ohne nach Gründen zu fragen. Allzu leicht dienen Gründe der vermeintlichen Entlastung von Schuld: Als Kau salität geben sie aus, was einer Entscheidung entspringt. Worauf es ankommt, ist eine Selbstverständigung des Menschen über seine eigenen Möglichkeiten im Spiegel des Textes. Mythische Texte – 35 36 37
2 Sam 24, 16. 1 Chr 21,1. 1 Chr 21, 17.
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wie die Geschichte von Kain und Abel – beziehen ihre Kraft daraus, Menschen direkt anzusprechen: »Natürlich ist es so, daß die Men schen nur Interesse für sich selbst aufbringen. Wenn eine Erzählung nicht vom Zuhörer selbst handelt, dann hört er ihr nicht zu.«38 Vor kausalen oder psychologischen Erklärungen hüten sie sich. Worauf es ankommt, ist, solche Texte – wie die Heilige Schrift – genau zu lesen. Genauigkeit der Lektüre verlangt, jedes Wort ernstzunehmen und deshalb Mehrdeutigkeiten aufzudecken. Im Mythos – wie dem von Kain und Abel – finden Menschen einen Spiegel, um ihr eigenes Schicksal darin zu betrachten. Direkt, ohne den Umweg über einen Spiegel-Text, wäre es kaum möglich, ein Bild des Menschen zu gewin nen. Anweisungen, was richtig und falsch wäre, erteilt der Text nicht. Gleichgültig aus welchem Kulturkreis Menschen kommen, unabhän gig von ihren Traditionen oder eigenen Göttern, stellt der Mythos Reflexionen eine Form zur Verfügung, die Freiheit eröffnet. Solche Freiheit vermag mit Schuld zu leben, weil sie um die Lebensferne reiner Ideale weiß. Amerika, das Land, in das die meisten seiner Bürger einmal eingewandert sind, symbolisiert das neue Gelobte Land. Kulturbegründende Unterscheidungen wie die zwischen gut und böse, richtig und falsch, Schuld und Unschuld, Freiheit und Unfreiheit müssen immer wieder neu bestimmt werden. Für solche Auslegungen bedarf es Reflexionen aus der Unübersichtlichkeit des Lebens heraus. Weder göttliche noch menschliche Gesetze liefern hinreichende Anhaltspunkte für angemessene Unterscheidungen und gelingendes Leben in Freiheit. Allenfalls bieten sie Richtlinien, die zum Beispiel von einem klugen Sheriff in Ansehung menschlicher Schwächen ausgelegt werden. Auch staatliche Gesetze sind in Texten niedergelegt, die auslegungsbedürftig bleiben, wollen sie den Men schen nicht schaden. Als Kind, das seinem Bruder Charles in allen Belangen unterle gen zu sein scheint, wird Adam Trask von seinem Vater Cyrus über die Unbegreiflichkeiten des Lebens belehrt. Cyrus erzieht seine Söhne im Geiste militärischer Disziplin. Seine eigene Karriere allerdings beruht auf erschwindelten Leistungen im Bürgerkrieg. Soldaten, erklärt der von Adam als übermächtige, gottähnliche Figur erlebte Vater, seien die heiligsten aller Menschenwesen, da sie auf »die allerschwerste Probe« gestellt würden. Gegen das Verbot, einen Menschen zu töten, die schlimmste aller Sünden, müssen Soldaten auf Befehl verstoßen. 38
Steinbeck, J.: Jenseits von Eden [1952]. München 201315, S. 335.
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Militärisches Lob erhält, wer, wird es ihm befohlen, seinen Bruder umbringt. Tut er dasselbe als einzelner Mensch, ist er verdammt. Verstört fragt Adam seinen Vater, warum das so sei. Das Dilemma des Tötungsverbots, das sich in der Figur Kains und der Rolle des Soldaten zeigt, führt Cyrus Trask in die Situation Hiobs: »›Ich weiß es nicht‹, sagte er. ›Ich habe geforscht und wohl auch gelernt, wie die Dinge sind, aber warum sie so sind, dem bin ich noch nicht einmal nahegekommen. Und du darfst nicht darauf hoffen, jemals zu finden daß Menschen begreifen, was sie tun.‹«39 Gegen dessen Naturell zwingt Cyrus seinen Sohn zum Eintritt ins Militär. Auf diese Weise wird Adam zur exemplarischen Figur eines tragischen Menschen. Die Armee, erklärt Cyrus, macht alle Menschen gleich. Individualität des Denkens und Handelns schleift sie ab oder rottet sie aus, wäre das Besondere des Einzelnen doch eine Gefahr für alle.40 Menschen werden zu einem Jedermann – sie denken, was »man« denkt und sagen, was »man« sagt, fühlen, was »man« fühlt, und tun, was alle tun. Abhanden kommt dem Menschen die Liebe. Doch erst durch Liebe wird er zu einem Individuum erweckt, das wegen seiner Beson derheit ein exemplarischer Mensch zu sein vermag. Aus verschmähter Liebe zu seinem Vater versucht Charles, seinen Bruder im Zorn zu töten. Grundlos wie Gott hatte Cyrus die Gabe seines Sohnes Charles – ein Messer – unbeachtet gelassen. Liebe und Glaube schließen einander aus. Adam, der seinen Vater nicht liebt, glaubt an ihn auch dann, als Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Vermögens aufkommen. Charles, der seinen Vater liebt, verliert den Glauben an ihn. Was für Cyrus Trask gilt, gilt auch für Gott. Liebe erzeugt Eifersucht und untergräbt Vertrauen. Wird sie verschmäht, gebiert sie Zorn und Haß. Cyrus wiederum glaubt an Charles, den er nicht liebt, und zwingt Adam, den er liebt, zu einem Leben, das dieser nicht will, weil er nicht an ihn glaubt.41 Übertragen auf die Welt, sagt diese Figur: Wer Gott liebt, kann die Welt nicht lieben, und nur wer an Gott glaubt, vermag Liebe zu schenken. Weder für Liebe noch für Glauben lohnt es, nach Gründen zu suchen. Liebe erweckt Schöpferkraft in den Menschen, die sich in Einzel nen entfaltet. »Die kostbare Kraft liegt im Geist des Einzelmenschen
39 40 41
Ebenda, S. 36f. Vgl. ebenda, S. 37. Vgl. ebenda, S. 92f.
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beschlossen.«42 Wahre Religion unterstreicht in ihren Mythen diese gottähnliche Schaffenskraft des Einzelnen. Darin unterscheidet sie sich von Wissenschaft oder Politik. Der Erzählerfigur des Romans legt Steinbeck ein Glaubensbekenntnis in den Mund: »Ich glaube an dies: daß der freie, forschende Geist des menschlichen Einzelwesens das Wertvollste ist, was es auf der Welt gibt. Ich muß kämpfen für die Frei heit des Geistes, sich ohne Zwang nach jeder von ihm gewünschten Richtung bewegen zu dürfen. Und ich muß kämpfen gegen dies: gegen jede Idee, Religion oder Regierung, die das Individuum einschränkt oder vernichtet. (...) Wenn der Strahlenschein in uns zum Verlöschen gebracht werden kann, dann sind wir verloren.«43 Für diesen Glauben steht im Roman exemplarisch Samuel Hamilton. Menschlichkeit und Weisheit verbindet er mit unbändiger Schaffenskraft: Immer aufs neue verfällt er auf Ideen und Erfindun gen, denen kommerzieller Erfolg verwehrt bleibt. Im Gestrüpp des Patentrechts oder den Unwägbarkeiten des Marktes bleiben Ideen aber nur vermeintlich auf der Strecke. Im Denken der Menschen, die Samuel prägt und inspiriert, tragen sie vielfältige Früchte. Adam lernt Samuel kennen, als er mit dem Erbe seines Vaters Land in Kalifornien kauft. Er träumt davon, einen neuen Garten Eden zu erschaffen, wird dieses Ziel aber nie erreichen, da eine tragische Liebe ihm seine Schaffenskraft raubt.44 Samuels Verständnis des Christentums unterscheidet sich in einer Hinsicht von dem seiner Frau Liza: Während Liza behauptet, die Heilige Schrift sei nicht dazu da, verstanden, sondern gelesen zu werden, wendet Samuel die Worte gern hin und her »wie ein Waschbär«.45 Beide jedoch betrachten den Text als praktische Lebenshilfe. Lizas vordergründige Texttreue führt zu einer undogmatischen Lesart, weil sie gar nicht glaubt, den Glauben begründen zu müssen. Samuels Deutungsfreude wiederum führt ihn zu lebensklugen Ratschlägen, die den Text an die menschliche Wirklichkeit anpassen. Und nur wer den Text genau liest, stößt auf Mehrdeutigkeiten, die dessen produktiven Sinn entbinden. Liza und Samuel stehen in ihrem Umgang mit der Schrift für zwei komplementäre Aspekte des Lesens.
42 43 44 45
Ebenda, S. 164. Ebenda, S. 164f. Vgl. ebenda, S. 212. Ebenda, S. 318.
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Auf diese Weise hilft Samuel Adam in der schwersten Krise seines Lebens. In blinder Liebe war Adam zu einer Frau entbrannt, die auf teuflische Weise die Leidenschaften der Menschen für sich ausnutzt. Mit kalter, berechnender Bosheit geht sie buchstäblich über Leichen, um ihre Ziele zu erreichen. Sie verläßt Adam, der mit ihr den neuen Garten Eden bewirtschaften wollte, nach der unerwünschten Geburt ihrer Zwillingssöhne und begibt sich in die Stadt, um dort das verruchteste Bordell zu eröffnen. Erschüttert bleibt Adam mit seinen Söhnen Cal und Aron zurück. Er zweifelt, ob die Kinder das Böse von ihrer Mutter geerbt haben könnten. Doch Samuel hält nichts von dieser Art der Erbsündentheorie: »Nicht das Blut der Kinder, sondern ihr Argwohn kann Böses in ihnen entstehen lassen. Sie werden so sein, wie Sie es sich vorstellen.«46 Menschen sind selbst für die Schuld verantwortlich, die sich in der Kette der Generatio nen von Familie zu Familie wiederholt. Unerwiderte Liebe führt zu Handlungen des Zorns, die Schuldgefühle begründen, die wiederum Handlungen anstiften. Unvermeidlich ist dieser Mechanismus, weil Liebe nicht eingefordert, sondern nur geschenkt werden kann. Kom plementaritätserwartungen oder Gerechtigkeitsforderungen entzieht sie sich. Allenfalls in dieser Wiederholung besteht die Erb-Sünde des Menschen, die ihn mit Schuldgefühlen belegt. Samuels chinesischer Diener Lee wird zu einer Schlüsselfigur des Romans, indem er christliche Überlieferung, fernöstliche Weisheit und stoische Philosophie auf humane Weise miteinander verbindet. Der Mann, der chinesische Gedichte ins Englische überträgt, Marc Aurel liest und die Bibel studiert, ist von der Universalität des Menschlichen überzeugt. Bedeutung erlangen Texte nur, wenn sie von den Zuhörern selbst handeln: »Eine große, eine bleibende Erzählung muß von jedermann handeln, sonst bleibt sie nicht erhalten. Das Fernliegende und Befremdliche bietet kein Interesse, sondern nur das tief Persönliche.«47 Für den biblischen Mythos von Kain und Abel trifft Lees Gesetz zu, wie er selbst demonstriert. Seine Lesart begreift den Mord an Abel und das Unglück Kains als Resultat verschmähter Liebe, die Zorn gebiert und Schuldgefühle erzeugt. Caleb und Aron müssen, wie die Generationen vor ihnen, den Mythos von Kain und Abel durchleiden. Wird der schöne Aron geliebt, gewinnt der dunkle, verschlossene Caleb die Liebe seines 46 47
Ebenda, S. 325. Ebenda, S. 335.
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Vaters nicht. Hängt Aron Ideen der Reinheit und Liebe nach, sucht sein Bruder pragmatisch Chancen des Handelns. Ähnlich wie Samuel Hamilton verliert Adam Trask einen Großteil seines Vermögens durch eine zwar brillante, doch ökonomisch undurchdachte Idee: Er möchte frisches Gemüse in gekühlten Waggons von Kalifornien nach New York transportieren, doch halten die Eisblöcke den Anforderun gen nicht stand. Anders als sein Bruder, der sich nach und nach religiösen Reinheitsideen verschreibt und eine Laufbahn als Priester ins Auge faßt, versucht Caleb seinem Vater zu helfen: Geschickte Spekulationen mit getrockneten Bohnen bringen ihm ein Vermögen ein, das er glücklich seinem Vater schenkt. Brüsk weist dieser die Gabe seines Sohnes zurück. In Adams Augen ist wirtschaftlicher Erfolg in Kriegszeiten unmoralisch. Zornentbrannt und tief enttäuscht führt Caleb seinen wieder bevorzugten Bruder in das Bordell ihrer Mutter. Schockiert meldet Aron sich freiwillig zum Militär. Bei einem Angriff amerikanischer Truppen verliert er sein Leben. Am Ende der Erzählung bewährt Caleb sich als der wahre Mensch. Arons klerikale Fantasien sind keine menschengemäße Ori entierung am christlichen Liebesideal. Priester eignen sich kaum als Modell des Handelns. Ökonomischer Erfolg ist nichts Unreines, bringt er doch die Mittel für gute Taten ein. Calebs Idee vom Gewinn paßt besser in die Welt als Arons Idee von Reinheit, die ihn sogar von der ihn liebenden Abra entfremdet. Schließlich entdecken Abra und Cal ihre Liebe füreinander als die angemessene Form für unvoll kommene Menschen, ein gutes Leben zu führen, das nicht von überzogenen Ideen und damit einhergehenden quälenden Schuldge fühlen überschattet ist. Adam, der Vater, erteilt zu guter Letzt vom Krankenbett aus Caleb und Abra seinen Segen. Er erlöst seinen Sohn von der Schuld und schenkt ihm die Möglichkeit, ein freier Mensch zu sein.
4.2 Wahl In Steinbecks Deutung des Kain-und-Abel-Mythos hängen die Ideen von Liebe und Freiheit aufs engste zusammen. Erweckt die Liebe grundlos einen Menschen, schenkt sie ihm eine Singularität, die er als schaffender Geist in der Ordnung der Schöpfung darstellt. Ergreift der Einzelne sein Leben, vermag er sich von Schuld zu befreien und die Zukunft als offene Möglichkeit zu begreifen. Unter dieser
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Perspektive erzählt die Heilige Schrift eine Geschichte der Freiheit. Richtige Lektüre der Schrift vertreibt falsche Dämonen, befreit von willkürlichen Göttern und setzt den Menschen als Schöpfer ein: Sie verhilft ihm zu seiner Gottesebenbildlichkeit. Die Figur von Adams gebildetem Diener Lee bringt diesen Gedanken am genauesten zum Ausdruck. Zehn Jahre lang denkt er über die Genesis-Erzählung nach und vergleicht Übersetzungen. Auf seine Weise nimmt er den Buchstaben so wichtig wie Liza, Samuels gläubige Frau. Im Gespräch mit Adam Trask und Samuel Hamilton erläutert Lee die entscheidende Bedeutung des englischen Ausdrucks »shall«. Zum einen bezeichnet dieser eine Futurform, zum anderen eine imperativische Form. Grammatik allein kann die Frage nicht entscheiden. Lee lernt mit Hilfe eines Rabbis Hebräisch, um die Sprachgeschichte zu verstehen. Er holt den Rat chinesischer Gelehrter ein, die ihren Scharfsinn an der Interpretation von Konfuzius-Texten geübt haben. Über diese Exerzitien prägt sich bei Lee der Wunsch aus, sich wieder in seine chinesische Tradition hineinzubewegen. Die Freude des Lernens mündet bei Chinesen, Christen und Juden in eine Interpretation. Weder würde die Verheißung eines sicheren Sieges über die Sünde noch der Befehl, zu siegen, die Lage des Menschen verbessern. Nur wenn es beim einzelnen Menschen liegt, wie er denkt, handelt und der Welt begegnet, nur wenn es also um die Form einer Möglichkeit – eines Könnens – geht, ermutigt die Schrift zur Freiheit. »Mit zitternder Hand füllte Lee die zerbrechlichen Schalen nach. Nachdem er die seine auf einen Zug geleert hatte, rief er: ›Ja, merken Sie das nicht? Der amerikanische Standard-Text befiehlt dem Menschen, über die Sünde den Sieg davonzutragen, und man kann Sünde Unwissenheit nennen. Die King-James-Übersetzung macht eine Versprechung in ihrem ›Du wirst‹, was den Sinn hat, der Mensch werde bestimmt den Sieg über die Sünde davontragen. Das hebräische Wort des Urtextes jedoch, das Wort ›timschal‹ – Du kannst, du magst –, das läßt eine Wahl. Vielleicht ist es das bedeutsamste Wort auf der Welt. Es besagt: Der Weg liegt offen vor dir. Es verlegt die Entscheidung in den Menschen. Denn wenn ›du kannst‹ richtig ist, so ist auch ›du kannst nicht‹ richtig. Begreifen Sie?‹«48 Auf diese Weise vermag der Mensch in der Unvollkommenheit seines Leben göttlich zu werden: »Aber ›thou mayest‹, ›du kannst‹, das macht den Menschen groß, das läßt ihn emporwachsen zu den Göttern, 48
Ebenda, S. 376.
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denn in all seiner Schwäche und seinem Schmutz und beim Mord an seinem Bruder hat er die große Wahl. Er kann seinen Weg erwählen, kann ihn bis zu Ende kämpfen und kann siegen.«49 Die Schrift so zu lesen, ist, wie Lee betont, keine Theologie. »Für Götter habe ich keine Vorliebe. Aber ich habe eine neue Liebe für das funkelnde Werkzeug, Menschenseele geheißen. Ein herrliches, ein einzigartiges Ding innerhalb des Weltalls. Immerdar ist es Angriffen ausgesetzt, doch nie wird es vernichtet – auf Grund des ›Du kannst‹.«50 Im leuchtenden Beispiel Einzelner schreitet die Geschichte der Menschheit voran. Sie begründen Erinnerungen und den Wert menschlicher Kultur. Christen, Chinesen, Juden oder Amerikaner sind darin nicht verschieden. Worauf es ankommt, ist, Mischungs formen zwischen gut und böse, schuldig und unschuldig, Leid und Glück, die das menschliche Leben ausmachen, immer aufs neue zu ermessen. Dazu bedarf es der Deutung von Texten, die als Matrix taugen, um die Menschheitsgeschichte zu begreifen, ohne sie zu verurteilen. Große Texte, wie der Mythos von Kain und Abel, erfüllen diese Anforderung. Statt Anweisungen zu geben, Furcht einzuflößen oder einen unbegreiflichen Gott zu beschwören, fordern sie Menschen auf, darauf zu achten, was sie können und ihre Freiheit zu nutzen. »Die Menschen sind verstrickt – mit ihrem Leben und Denken, ihrem Hungern und Streben, ihrer Habgier und Grausamkeit, aber auch ihrer Güte und Großmut – in ein Netz von Gut und Böse. Meines Erachtens ist das die einzige Geschichte, die wir haben und daß sie sich auf allen Stufen des Gefühls und des Verstandes abspielt. Tugend und Laster waren Schuß und Kette unseres frühesten Bewußt seins, und sie werden das Gewebe unsres letzten bilden ungeachtet aller Veränderungen, die wir Feld, Fluß und Berg auferlegen, aller Wandlungen von Wirtschaft und Lebensweise. Es gibt keine andere Geschichte. Einem Menschen, der sich von Staub und Splittern des Lebens saubergewischt hat, bleiben nur die schweren, klaren Fragen: War es gut oder war es schlecht? Habe ich wohl gewuchert mit meinem Pfund – oder übel?«51 Allerdings führen Ideen von Liebe und Freiheit den Menschen nicht in die einfache Zufriedenheit der Geselligkeit. Dafür stand in Adams Geschichte die Armee – dort, im »Man«, gibt es keine Singularität. Der Gedanke des »timschal« 49 50 51
Ebenda, S. 377. Ebenda, S. 377f. Ebenda, S. 507.
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führt zu Freiheit, aber auch zu Einsamkeit. Einzelne sind für ihr Leben verantwortlich. »Alles Große und Wertvolle«, erklärt Lee, »ist mit Einsamkeit verknüpft.«52 Einsamkeit und Schuld ergeben sich aus der Begründungslosigkeit menschlicher Existenz, die nirgendwo auf gewisse Fundamente bauen kann. Wie der Roman zeigt, ereignen sie sich in konkreten Konstellationen menschlichen Lebens. Als solche müssen sie bedacht werden. Dazu verhelfen Fiktionen und Mythen. Hierin und in deren Auslegung wird »Schuld« phänomenal konkret, während Heidegger »Schuld« formal als »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein« versteht, das ein Dasein beschreibt, das seines Lebens nie mächtig zu werden vermag.53
4.3 Abraxas Entfaltet John Steinbeck den Mythos von Kain und Abel als Reflexion auf zwischenmenschliche Umgangsweisen mit Schuld, Liebe und Freiheit, spiegelt Hermann Hesse die Geschichte in die innerlich ambivalente Konstitution des Menschen. Abraxas, der mythische Gott, fungiert in Hesses Roman »Demian« als Chiffre der schöpferi schen Zerrissenheit des Menschen. Ursprünglicher als alle Religio nen, verweist die Figur des Abraxas auf das Zusammenbestehen von Unterschieden, die sich nicht in logischen, grammatischen oder semantischen Uneindeutigkeiten erschöpfen, sondern Einzelne in existentielle Krisen stürzen. Mit der Wahl des Namens für die Erzählerfigur des Romans – Emil Sinclair – deutet Hesse seine Verbundenheit mit Friedrich Hölderlin an, den eine ähnlich enge Freundschaft mit Isaac von Sinclair verband wie Emil mit der Figur Max Demian.54 Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges fragt Hesse nach der Bedeutung des einzelnen Menschen in einer von Gewalt und Orientierungslosigkeit gepeinigten Welt. Wie kann es gelingen, ein freier Mensch zu werden? Woran finden Einzelne Halt, wenn doch auf keine Anschauung, keine Glaubenslehre, keine Werte und kein moralisches System Verlaß ist? Auf seinem Weg aus behü teter Kindheit zum Erwachsensein muß Emil Sinclair lernen, worin Ebenda, S. 633. Heidegger, M.: Sein und Zeit. A.a.O., S. 283. 54 Zunächst erschien der Roman unter Pseudonym. Emil Sinclair: Demian. Die Geschichte einer Jugend. Berlin 1919. Ich zitiere aus Hesse, H.: Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Frankfurt/M. 1980. 52
53
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die Herausforderung besteht, Gegensätze der menschlichen Natur zu begreifen, anzunehmen und zu gestalten. Romantisch ist das Motiv, innere Unendlichkeit einerseits als schöpferische Kraft zu bejahen, andererseits aber auch die Einsamkeit zu akzeptieren, die mit ihr einhergeht. Ähnlich wie acht Jahre später Martin Heideggers Analyse des »Man« in »Sein und Zeit« bleibt in Hesses »Demian« dem »eigentlichen« Leben das Aufgehobensein in den üblichen Formen der Geselligkeit verwehrt. Wer lebt, wie »man« lebt, vergeudet die Schöpferkraft, die in ihm wohnt, zugunsten der Gemütlichkeit und des fraglosen Aufgehobenseins im Erleben und Verstehen aller. Das heißt nicht, Einzelne dürften sich dem Leben der Gesellschaft verweigern. Niemand lebt außerhalb der Gesellschaft. Worauf es ankommt, sind Haltung und die Konsequenz, seinen eigenen Lebensweg zu finden und zu gehen. Diesen Weg lernt nur kennen, wer ihn beschreitet. Im Mythos des Abraxas, wie Hesse ihn erzählt, lassen sich Züge der Philosophie Heraklits entdecken. Mit der Logos-Vorstellung von Platon und Aristoteles harmoniert Heraklits Denken in Unterschei dungen so wenig wie mit der späteren Feier mathematischer Logik oder Wissenschaftstheorie. Schon gar nicht paßt sie zu formalen Moralkonzepten, wie sie das Denken über die Person in der modernen Gesellschaft dominieren. Heraklits Denken in Unterschieden bleibt eine Herausforderung für die meisten Varianten einer Vernunftphi losophie, wie sie moderne Vorstellungen von Rationalität, Moral, Fortschritt und Erkenntnis prägen. Zu den wenigen, die versuchen, an Heraklit anzuknüpfen, gehört Martin Heidegger. Hermann Hesses Roman entfaltet ein Bild menschlichen Lebens, das einerseits Motive von Heideggers Analyse des »Man« präludiert, andererseits aber einen Gedanken schöpferischer Existenz formuliert, die aus Gegen sätzen ihre Kraft zieht. Zwar ist für Heraklit der Logos allen Dingen gemeinsam, doch bewegen diese sich in Gegensätzen. Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Jugend und Alter stehen einander nicht als Widersprüche gegenüber; sie bedingen einander, bringen einander hervor und gehen ineinander über. Darum bewegt sich der Logos in allem, nicht nur in der Sprache und im Denken. Alles bringt er miteinander in Verbindung. »Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Som mer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger; er wandelt sich gerade so, wie Feuer, wenn man es mit Räucherwerk vermischt, nach dem Wohlge
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ruch jedes einzelnen (Duftstoffs) benannt wird.«55 Gegensätzliches steht miteinander im Streit, doch ist Streit die prozessuale Form kosmischer Balance. Was geschieht, geschieht »nach Maßgabe von Streit und Notwendigkeit«.56 Wenn »alles fließt«, so nicht als blindes Vergehen, in dem Identitäten sich auflösen, sondern als unendliches Werden von Formen, die der Strom des Logos verbindet und trennt. Als unterschiedene erschließen sie sich menschlicher Wahrnehmung und Denken, deren eigene Beweglichkeiten am Logos teilhaben und sich als verschmolzen mit dem Prinzip von Leben und Natur begrei fen. Heraklit mahnt, sich nicht außerhalb der Gemeinschaft zu stellen. »Daher ist es nötig, sich dem Gemeinschaftlichen anzuschließen. Aber obwohl die Darstellung gemeinschaftlich ist, leben die meisten Leute so, als ob sie eine private Einsicht besäßen.«57 Hesses Verbindung des Kain-und-Abel-Mythos mit der mythi schen Abraxas-Figur deutet das Gegensatzprinzip von Kosmos, Leben, Empfinden und Denken als Motiv schöpferischer Freiheit in Einsamkeit. Heidegger wird die »Eigentlichkeit« des »Daseins« als Sein zum Tode verstehen. Es romantisch als Gebären einer Idee zu begreifen, dem das einzelne Leben in seinem Schicksalslauf folgt, kommt ihm nicht in den Sinn. Deshalb reduziert er die Philosophie Friedrich Nietzsches in seiner Deutung auf Metaphysik. Schriften Friedrich Nietzsches, des oft zum Mythos des heroisch-einsamen Denkers stilisierten Dichter-Philosophen, begleiten hingegen den einsamen Kampf Emil Sinclairs mit sich selbst und den Herausfor derungen seines Erwachsenwerdens. Wer einen Stern gebären will, trägt das Kains-Mal als Zeichen derjenigen, die ihr Dasein ergriffen haben, um es mit Bewußtsein zu führen. Für Hesse besteht darin der Bildungsprozeß eines Menschen. Emil muß erleben und erleiden, was Freiheit und Einsamkeit bedeuten. Göttlich ist ein Mensch, wenn er dieses Prinzip erfaßt, es sich zu eigen macht und damit zu einer Sin gularität wird. Gerechtfertigt ist das Ganze des Kosmos im Einzelnen. »Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, göttlich, darum
55 Heraklit 204, zitiert nach Kirk, G.S./Raven, J.E./Schofield, M.: Die vorsokrati schen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare. Stuttgart, Weimar 1994, S. 208. 56 Heraklit 211. Ebenda, S. 212. 57 Heraklit 195. Ebenda, S. 205.
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ist jeder Mensch, solange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt, wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig.«58 Wer leben will, muß Überkommenes zerstören. So bricht das Kind aus der Sicherheit des behüteten Heims aus, indem es die Gottähnlichkeit des Vaters infrage stellt. Vielleicht war Kain, schlägt Max Demian seinem Freund vor, ein Mann, der anderen imponierte und ihnen Angst einflößte? Etwas Unheimliches, aus den Registern des Normalen Herausfallendes könnte ihm angehaftet haben. Mut und Charakter, nicht Schuld und Mord mögen zu seiner Stigmatisie rung geführt haben. Geradlinigkeit und Anderssein hätte er nicht in Schuldgefühle verwandelt, sondern als Haltung kultiviert. Das Kainszeichen wäre ein Merkmal derjenigen, die für einen furchtlosen Weg zu sich selbst stehen. »Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten immer sehr unheimlich. Daß da ein Geschlecht von Furchtlosen und Unheimlichen herumlief, war sehr unbequem, und nun hängte man diesem Geschlecht einen Übernamen und eine Fabel an, um sich an ihm zu rächen, um sich für alle die ausgestandne Furcht ein bißchen schadlos zu halten. – Begreifst du?«59 Religionslehrer verharmlosen in ihrer Darstellung der Geschichte Kains als des ersten Verbrechers in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft diese Möglichkeit. Mit blassen Farben der Moral übertünchen sie den Umstand, daß es im Leben um Starke und Schwache geht. Nietz sches »Genealogie der Moral« bildet den Hintergrund der Sichtweise Max Demians. Anlaß zu Überheblichkeit sollte das Kains-Zeichen nicht geben. Furchtlosigkeit und Suche nach dem eigenen Schicksal – »Werde, der du bist« – zeichnen keine gesellschaftliche Elite aus, die sich besser dünken könnte als ihre Mitmenschen.60 Starke Menschen finden ihre Berufung eher darin, an sich selbst zu arbeiten, als andere zu erziehen. Gleichgesinnten mögen sie phasenweise Freunde und Führer sein, politische Anführer sind sie kaum. Kommt es darauf an, stehen sie ihren Mann wie alle, doch tun sie dies nicht aus Verehrung falscher Ideale. Am Ende des Romans ziehen Max und Emil in den Ersten Weltkrieg, so wie »jeder Mann«, doch nicht wie jedermann. Erlösung gewährt kein Gott; allenfalls die Gesellschaft eines echten Freundes Hesse, H.: Demian. A.a.O., S. 10. Ebenda, S. 42. 60 Der Untertitel von Nietzsches Schrift »Ecce homo« lautet »Wie man wird, was man ist« [1888/1889]. Vgl. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, Bd. 6. München 1988, S. 255–374. 58
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macht die Einsamkeit erträglich und trägt, wie im Falle Max Demians, über den Tod hinaus. Ironie, statt Belehrung oder Strafe, ist die Weise der Einflußnahme zwischen Trägern des Kains-Zeichens. Emil muß herausfinden, wohin sein eigener Wille ihn führt. Ähnlich wie John Steinbeck es mit dem »ich kann« vorführt, um das alles Verstehen der Heiligen Schrift sich dreht, geht es Hermann Hesse um das Motiv der Freiheit als Verfolgung des eigenen Weges. Wer auf sich selbst hört und vertraut, wird sich nicht leichtfertig absurden Idealen oder Utopien verschreiben. Sein Streben bleibt auf realistische Dinge gerichtet, die den eigenen Kräften entsprechen. Einen Stern gebären zu wollen heißt nicht, auf andere Sterne zu wollen, wie jeder Nachtfalter instinktiv weiß.61 Wahres Verständnis der Religion mündet in die Liebe zur Welt – nicht nur des einen Gottes, sondern aller Geschöpfe, einschließlich des Teufels.62 Jenseits von Eden, jenseits der Kindheit, wartet kein Land, in dem Milch und Honig fließen. Oft bleiben wir auf dem Weg des Lebens im Unrat stecken, sehnen uns nach dem, was wir zurücklassen mußten, ohne zu wissen, wohin wir streben. Leben heißt, sich in Gegensätzlichem einrichten, es – wie Hera klit – zu bejahen und sich in möglichst harmonischen Balancen zu halten, ein Selbst zu werden, das sich in seiner Idee realisiert, ohne falschen Eindeutigkeiten, herrschenden Meinungen oder gauk lerischen Synthesen auf den Leim zu gehen. Zu Gott gehört der Teufel. Beide finden zusammen im Mythos – in Abraxas, aber auch in uns, als einzelnen Menschen auf dem Weg, ihr Leben zu führen und dieses vielleicht rückblickend als Strom von Gegensätzen erzählend zu literarischer Einheit zu formen. Worin sonst könnte die Suche nach Gott bestehen? »Wonne und Grauen, Mann und Weib gemischt, Heiligstes und Gräßliches ineinander verflochten, tiefe Schuld durch zarteste Unschuld zuckend – so war mein Liebestraumbild, und so war auch Abraxas. Liebe war nicht mehr tierisch dunkler Trieb, wie ich sie beängstigt im Anfang empfunden hatte, und sie war auch nicht mehr fromm vergeistigte Anbeterschaft ... Sie war beides, beides und noch viel mehr, sie war Engelbild und Satan, Mann und Weib in einem, Mensch und Tier, höchstes Gut und äußerstes Böses. Dies zu leben schien mir bestimmt, dies zu kosten mein Schicksal.«63 Ist 61 62 63
Vgl. Hesse, H.: Demian. A.a.O., S. 76f. Vgl. ebenda, S. 83. Ebenda, S. 124.
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Christus Weg und Ziel, ist jeder einzelne Mensch Christus. Und dieser Christus – oder der Gott der Gegensätze – erweist sich als revolutionäres Prinzip, dessen »Logos« die Welt in permanentem Aufbruch hält. Statt sich in Geduld zu üben und auf den jüngsten Tag zu warten, sollten Menschen unterwegs zu Neuem sein. An »Fortschritt« müssen sie nicht glauben. Festhalten an Ritualen und Relikten würde Menschen in antiquarischer Andacht fesseln, wo sie sich doch zu sich selbst befreien sollten. So wunderbar der Organist Pistorius auch den Geist kirchlicher Musik erklingen läßt – seine Verehrung alter Meister hindert ihn, sich auf die Suche nach seinem eigenen Leben zu begeben. Unterscheidungen zwischen Ich und Welt, Innen und Außen bleiben blasse Abstraktionen. Ebenso wie Menschen lebend, wahr nehmend und denkend, sprechend, fühlend und liebend Schöpfer ihrer Welt sind, haben sie ständig an der Welt, wie sie diese vorfinden, teil. Wieder ist es diese »unteilbare Gottheit, die in uns und die in der Natur tätig ist, und wenn die äußere Welt unterginge, so wäre einer von uns fähig, sie wieder aufzubauen, denn Berg und Strom, Baum und Blatt, Wurzel und Blüte, alles in der Natur liegt in uns vorgebildet, stammt aus der Seele, deren Wesen Ewigkeit ist, deren Wesen wir nicht kennen, das sich uns aber zumeist als Liebeskraft und Schöpferkraft zu fühlen gibt.«64 Wo alles aus beweglichen Unter scheidungen und Gegensätzen besteht, wo alles Prozeß ist, wo jeder Eindruck zum Ausdruck wird, wirkt die Trennung zwischen Ich und Du, Person und Gesellschaft lächerlich. Ist nicht alles in einem einzi gen Werden verbunden? Im Einzelmenschen, als einer kosmischen Singularität, kommen Gegensätze, finden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Ich und Gesellschaft, Mensch und Gott zusammen. Mythos, Wissenschaft und Religion, Philosophie und Literatur sind gleichermaßen geeignete Weisen, diesem Zusammenhang zur Dar stellung zu verhelfen. »Wir ziehen die Grenzen unserer Persönlichkeit immer viel zu eng! Wir rechnen zu unserer Person immer bloß das, was wir als individuell unterschieden, als abweichend erkennen. Wir bestehen aber aus dem ganzen Bestand der Welt, jeder von uns, und ebenso wie unser Körper die Stammtafeln der Entwicklung bis zum Fisch und noch viel weiter zurück in sich trägt, so haben wir in der Seele alles, was je in Menschenseelen gelebt hat. Alle Götter und Teufel, die je gewesen sind, sei es bei Griechen und Chinesen oder 64
Ebenda, S. 137.
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bei Zulukaffern, alle sind mit in uns, sind da, als Möglichkeiten, als Wünsche, als Auswege.«65 Göttlich ist der Mensch, der unterwegs ist zu sich selbst, ohne etwas aus falscher Scham und Schuldgefühl zu verwerfen. »Lieber Sinclair«, erklärt Demian, »unser Gott heißt Abraxas, und er ist Gott und ist Satan, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich. Abraxas hat gegen keinen Ihrer Gedanken, gegen keinen Ihrer Träume etwas einzuwenden. Vergessen Sie das nie. Aber er ver läßt Sie, wenn Sie einmal tadellos und normal geworden sind. Dann verläßt er Sie und sucht sich einen neuen Topf, um seine Gedanken drin zu kochen.«66 Was jemand, gemessen an den Maßstäben der Gesellschaft, wird, ob Heiliger oder Verbrecher, spielt keine Rolle. Worauf es einzig ankommt, ist, »den eigenen Weg vorwärts zu tasten, einerlei wohin er führte.«67 Ein Wurf ist der Mensch, »ein Wurf der Natur, ein Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu Nichts«.68 Wie Emil Sinclair begreift, heißt das, in der Nachfolge Christi zu leben. Keine Seligkeit bietet Trost; Einsamkeit und Ernüchterung über den Trug aller Vorbilder und Ideale sind zu ertragen. Allein im »kalten Weltenraum« steht der freie Mensch, so wie »Jesus im Garten Gethsemane«.69 Jenseits von Eden gibt es keine Heimat, versteht Emil Sinclair, doch manchmal, wenn die Wege von Freunden sich kreuzen, »da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus.«70 Dem Leben in der Herde Gleichgesinnter stellen Träger des Kainszeichens ihre Wachheit entgegen, ihre Bereitschaft zum Neuen, ihren Willen zum Zukünftigen und den Mut, zu werden, was sie sind. Weil niemand die Zukunft kennt, kommt es darauf an, sie nicht zu fürchten und ihr entgegenzugehen. Manchmal, so wie für Sinclair und Demian, führt dieser Weg in Leid und Tod. Beide müssen als Soldaten in den Krieg. Niemand weiß, was kommt. Des Mutes und der Freiheit – und des Mutes zur Freiheit – bedarf es, um ohne Furcht zu sein und den Weg als Ziel zu begreifen. Darin, zeigt Hermann Hesse in seinem Roman, kommen die großen Mythen und Religionen der Menschheit überein. 65 66 67 68 69 70
Ebenda, S. 138. Ebenda, S. 143. Ebenda, S. 166. Ebenda, S. 166f. Ebenda, S. 168. Ebenda, S. 182.
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Epilog: Kain
5 Rhetorik des Zorns Werner Herzogs Sicht auf die Genesis-Erzählung läßt für den Opti mismus, den John Steinbeck und Hermann Hesse in der Singularität eines jeden Menschen verankern, scheinbar wenig Spielraum. Dämo nische Aspekte der Unterscheidung zwischen Gut und Böse werden betont. Wohnt Satan nicht im Unterschied? Steckt der Teufel in der Logik? Ist er ein jedermann, einer von uns und jeder von uns? In seiner langen Geschichte trägt der Teufel viele Gesichter. Fratzenhaft und schauerlich, wie er durch Bildwelten von Hieronymus Bosch spukt oder auf den Tympana der Kathedralen hockt, ist der listenreiche Verführer keineswegs immer. Bei Goethe betritt er als eloquenter, scharfsinniger Mann von Welt die Bühne, der Doktor Faust das Leben zeigt. Menschliche Schwächen werden von ihm unterstützt und entlarvt. Statt zu verführen, verstärkt und vergrößert er Konse quenzen von Entscheidungen, die er nicht selber trifft. Ironisch ver wandelt Mephisto Wissenschaftsgläubigkeit und Aufklärungspathos in eine Beobachtungskunst, der nichts Menschliches fremd bleibt. Verstaubten Bildungsplunder verspottet Mephisto als Dressur des Geistes.71 Mit lüsternem Wahnsinn, wie in Kinskis Interpretation des »Aguirre«, kommt der Teufel ebenso daher wie als »man of wealth and taste«, ein Gentleman der Popkultur, der um Höflichkeit bitten darf, ist er doch einer von uns – ein »you and me«.72 Große Menschheitsverbrechen, Kriege und Morde mögen auf sein Konto gehen, doch ist er nichts anderes als die personifizierte Logik dieser Welt. Wer den Teufel erkennt, erkennt sich selbst. Im Zeichen Kains hält Satan den Mord in der Welt und exekutiert die ewige Strafe Gottes für den ersten Brudermord. Ihn zu erkennen, fällt nicht leicht, da er, wie Paulus erklärt, als »Gott dieser Welt« den »Sinn verblendet«.73 Listenreich und vielgestaltig wie er ist, läßt er sich schwer entdecken. Wir müssen die Zeichen der Welt richtig deuten. Dazu verhilft uns, wie jedenfalls Paulus behauptet, die Vernunft. Das Licht der Vernunft, Hoffnung der Aufklärung und Stolz europäischer Wissenschaft, scheint sich jedoch im Dschungel des 71 Vgl. Goethe; J.W.: Faust I [1808]. In: Werke in sechs Bänden Bd. III. Frankfurt/M. 1993, S. 5–136, hier S. 56ff. 72 The Rolling Stones: Sympathy for the Devil [1968]. Geschrieben von Mick Jagger, zuerst erschienen auf dem Album Beggars Banquet. 73 2 Kor 4, 4.
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Amazonas zu verfinstern. Geographische, religiöse oder moralische Maßstäbe kommen abhanden. Im Schicksal der Expedition scheint sich Paulus’ Wort zu bestätigen: »Gottes Zorn enthüllt sich vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Men schen ...«74 Wer von seiner Vernunft, dem Geschenk Gottes an die Menschen, keinen Gebrauch macht, wer sie sogar wissentlich igno riert oder zynisch ins Gegenteil verkehrt, den trifft der Zorn des Herrn. Darf man daraus umgekehrt schließen, daß, wer in der Welt gestraft ist, zu Recht gestraft ist? Ist das Böse Zeichen göttlicher Wut? Wäre demnach das Übel der Welt eine Rhetorik des Zorns, in der sich, umgekehrt, Wesen und Macht des Herrn bestätigen? Paulus immerhin versichert, Gott sei »an seinen Werken durch die Vernunft« zu erkennen.75 Er folgert daraus, daß es unentschuldbar sei, ihn nicht zu erkennen. Doch so zwiespältig wie der Mythos bleibt diese Behauptung. Wie ist das Gute vom Bösen – das paradiesische Erkenntnisparadox – in der Welt zu unterscheiden, wenn seit den Tagen Kains der Zorn seine mörderische Wirkung tut? Mit welchen Werken tritt Gott in Erscheinung? Wäre gar das Elend der Welt als negatives Zeichen für die Güte Gottes zu lesen, gegen das kein innerweltlicher Zorn hilft, weil Gott – die Paradoxie der Welt – als ein affektuell adressierbarer Jemand gar nicht in Frage kommt? Mündet »Vernunft« womöglich in Resignation, wenn nicht gar in apokalyptischem Zorn angesichts der Paradoxien der Welt? Sollen wir in Figuren wie Don Lope de Aguirre die Gottes-Logik als Vernunftpa radox erkennen? Wer so die Zeichen liest – und die Welt als Zeichen ordnung betrachtet –, mag in der Schöpfung eine Rhetorik des Zorns entdecken. Werner Herzogs Film über Abgründe der Vernunft am Rande der Zivilisation liefert ein exemplarisches Beispiel für solche Lektüren. Aguirres Wahn entpuppt sich als selbstdestruktive Realität der Vernunft in der Welt, in der wiederum »Vernunft« erscheint wie im Negativ: als das direkt nicht sichtbare Wesen Gottes. Logos und Bild bleiben ineinander verschränkt. Reflexion kommt als Form des Imaginären zustande, in der Vernunft sich vollzieht, indem sie sich als unmittelbare Erkenntnis verhüllt. Verschränkungen wie derjenigen von Logos und Mythos nachzu spüren, weil der selbstgefälligen Allmacht der Vernunft nicht einfach zu trauen ist, macht in Blumenbergs Augen einen zentralen Topos 74 75
Röm 1, 18f. Ebenda.
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Epilog: Kain
der Romantik aus. »Die Romantik ist sicher eine gegenphilosophi sche Bewegung, aber deshalb noch nicht eine für die Philosophie gleichgültige und unergiebige. Nichts müßten Philosophen eifriger analysieren als den Widerspruch gegen ihre Sache.«76 In diesen Widersprüchen meldet sich ein Grund der Vernunft, älter und ver borgener als ein mit Gründen und in Argumenten exerzierender Logos. Blumenberg bringt ihn mit der biblischen Erzählung von der adamitischen Namengebung in Verbindung. Benennend erschließt der Mensch schöpferisch seine Welt als eine verständliche Ordnung. Gegenständliches taucht er in die Farbigkeit von Bedeutungen – so schafft er symbolisch die Welt noch einmal und wird zum Ebenbild Gottes. Auf Sprache kommt alles an; sie ist mehr und anderes als Logik und Begriff. Adam erweckt Tiere durch die Taufe seiner Namengebung zur Form des Sinns. Im Horizont des Sinns erfährt er sich selbst als ein Wesen, dem es um die Welt geht, wie es ihm um sich geht, und dem es um sich geht, indem es zur Welt ist. Der Grund der Welt bleibt Gründen und Erklärungen unzugänglich. Indirekt zeigt er sich im Mythos der Namengebung. Reflexion auf den Mythos ist deshalb nicht bloß ein neuer Mythos. Mythisches erscheint wesentlich in wiederholenden Darstellungen, die nicht nur die Wiederholung des je schon Gewesenen beschwören. Als Form der Wiederholung ist der Mythos nicht notwendig identisch mit der Wiederkehr des vermeint lich Ursprünglichen. Davon zeugen mythische Geschichten wie die von Kain und Abel. Anders als Heideggers Mythos vom »anderen Anfang« zielt deren Wiederholung darauf, daß Menschen sich in ihrer jeweiligen Gegenwart – in ihrer daseinsmäßigen Befindlichkeit – ein Bild – einen Entwurf – ihres Daseins und ihrer Welt machen, mit dessen Hilfe sie auch kategoriale Ordnungen wie die von Schuld und Unschuld befragen. Bilder solcher Art bleiben von Weltbildern, wie Heidegger sie kritisiert, verschieden. Doch sie verhelfen zu »Hinsich ten«, mit denen allererst ein »Ganzes« in die »Sicht« kommt. Heidegger weiß um die Funktion des Mythos, eine Redeweise ins Leben zu rufen, die sich als Reflexion einer fundamentalen Differenz inszeniert, um nicht auf einer Seite der Unterscheidungen, auf der Seite der Wissenschaft und ihres Logos, zum Stehen zu kommen. Allerdings entfalten Mythen erst dann ihre ganze Kraft, wenn sie beginnen, auf eine Weise zu erzählen, die der Welt neue Farben 76
Blumenberg, H.: Arbeit am Mythos [1979]. Frankfurt/M. 19905, S. 56.
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5 Rhetorik des Zorns
verleiht.77 Darauf glaubt Heidegger verzichten zu müssen. Blumen bergs Vorwurf, Heideggers »Seinsgeschichte« sei nichts anderes als ein vermeintlich letzter Mythos, trifft Heidegger wohl zu recht, denn was Heidegger im Laufe der Jahre und in beredter Weise entfaltet, ist ein Motiv der Einsicht durch Verstummen. »Solche Totalentwürfe (wie die Seinsgeschichte, DR) sind gerade darin mythisch, daß sie die Lust austreiben, nach mehr zu fragen und weiteres dazu zu erfinden. Sie geben zwar keine Antworten auf Fragen, nehmen sich aber so aus, als bliebe nichts zu fragen übrig.«78 Von anderen Arten des Fiktionalen unterscheiden Mythen sich unter anderem dadurch, daß sie den Gedanken eines vergangenen Ursprungs im Imaginären substituieren. Lebendig werden sie in der je gegenwärtigen Entfaltung von Singulärem zu potentiell unendlichen Verweisungshorizonten. Was Gedanke ist, zeigt sich in der schöpferischen Gestaltung eines Konkreten in der Welt. Zeichen mögen in dissonante Resonanzen zueinander treten, ohne einander den Vorrang streitig zu machen oder sich in der Mechanik der Negationen zu erschöpfen. Im Gewand des Imaginären kennt der Gedanke, der die »Sache« ist, keine disponie rende Distanz zu seinem Gegenstand. Seine Bewegung streift logische Zwänge ebenso ab wie die Versuchung, sich messend, kategorisierend oder repräsentierend desjenigen zu versichern, worum es ihm zu tun ist. Gegenstandshorizonte, von denen noch Husserls phänome nologische Alternative zur Transzendentalphilosophie ihren Ausgang sucht, werden von Sinnhorizonten auf analoge Weise überlagert, wie der Mythos von Adams Namengebung die göttliche Schöpfung wiederholt und verändert.79 Wo Neues im Singulären entsteht, öffnet Vertrautes oder Gewohntes sich für Überraschungen und alternative Möglichkeiten. Gedanken werfen Fragen auf, statt Antworten zu versprechen. Anstöße empfangen sie weder von einer pseudoobjek tiven Natur noch von einem gesetzgebenden Bewußtsein, sondern von den je gegenwärtigen Herausforderungen, in die ein konkretes Dasein sich verwickelt findet. Mitunter sind solche Fragen existen tiell. Heideggers Rekonstruktion des Daseins in »Sein und Zeit« konfrontiert Leser mit der Möglichkeit, daß existentielle Fragen 77 Was auf meisterhafte Weise beispielsweise der Mythenforscher Claude LéviStrauss am Beispiel des Weihnachtsmanns vorführt. Vgl. Ders.: Der gemarterte Weih nachtsmann [1952]. In: Ders.: Wir sind alle Kannibalen. Frankfurt/M. 2017, S. 11–42. 78 Blumenberg, H.: Arbeit am Mythos. A.a.O., S. 319. 79 Hans Blumenberg beobachtet einen Mangel an Imagination in Husserls Phäno menologie. Vgl. Ders.: Zu den Sachen und zurück. Frankfurt/M. 20182, S. 156ff.
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Epilog: Kain
nach imaginären Sinnformen rufen könnten, in denen Menschen ihr Dasein auslegen und verstehen. Heideggers Mythos des »Seyns« oder der »Seynsvergessenheit« blockiert solche Formen des Imaginä ren zugunsten einer Entleerung der Reflexion von innerweltlicher Sinnfülle. Auf diese Weise beerbt er die Idee eines Absoluten, von dem kein Bild möglich oder zulässig wäre. Jeden Tag kann sich die Frage stellen, wer »Kain« und wer »Abel« ist. Abstrakt, ein für alle Mal, ist diese Frage unbeantwortbar. Was Gut und Böse jeweils unterscheidet, wird in der Welt entschieden. Refle xionen halten sich zwischen Seiendem auf, indem sie Überschüsse des Sinns gestaltend ins Auge fassen. »Seyn« oder »Denken«, im Singular, bleiben sterile Begriffe. Da hilft eher der Mythos, bewußt zu halten, wie solche Zuordnungen erfolgen. Er konfrontiert den Ein zelnen mit Möglichkeiten, sein Leben zu ergreifen. Antworten gibt er nicht vor. Als in eine Welt Geworfener, der sich zu sich verhalten muß, ist der Mensch ein geschichtliches Wesen. Ihre Freiheit zu ergreifen verlangt von Menschen, sich im Sinn einzurichten und zu Expeditio nen in die Welt des Möglichen aufzumachen. Denken, das auf reine Formen und universelle Gesetze zielt oder auch nichts bestimmen will, bleibt vom Leben unberührt, aber deshalb nicht unschuldig. Heideggers Denken in »Fugen« erliegt, bei aller Vehemenz, mit der es sich gegen den Mythos der »Vernunft« stemmt, dem Mythos reinen Denkens – und verkennt Potentiale des Mythos, poetische Gedan kenarabesken in Bewegung zu setzen, um, wie Friedrich Schlegels »Arabesken«, auf eine Universalpoesie hinzuarbeiten, die nach der Lebendigkeit der Freiheit in der Unendlichkeit des Universums fragt.
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Adorno, Th.W. 27f., 30f., 129, 155–157,163f., 225, 353 Arendt, H. 20, 32, 239f. Aristoteles 61f., 68, 73f., 176, 180, 208, 310, 322, 334, 358f., 370 Augustinus, A. 74, 76, 78, 83 Baecker, D. 245 Bateson, G. 331f. Beierwaltes, W. 158–160 Benjamin, W. 11, 163f., 166, 169 Bergson, H. 252 Berlin, I. 164 Biemel, W. 31, 34, 58 Blumenberg, H. 194, 233–236, 238–240, 247, 249, 377–379 Boehm, G. 58 Borges, J.L. 196–201, 211, 224, 233f. Bultmann, R. 235f. Carnap, R. 35, 141, 251 Cassirer, E. 51–55, 141, 154–157, 159, 162, 225–228, 242, 310, 312, 348, 350 Celan, P. 10 Dahrendorf, R. 29 Derrida, J. 31, 45, 64, 143, 212, 274 Descartes, R. 68, 102, 146, 149, 184, 221, 250f., 298, 306f., 309–329, 332–334, 336, 338, 345 Eco, U. 200f., 211 Eisenstein, S. 262–266 Feyerabend, P. 225 Fichte, J.G. 39, 54, 149, 164, 169–171, 307 Flasch, K. 77, 360 Foucault, M. 29, 267–269 Frank, M. 10, 166, 170 Freud, S. 211–218, 221f., 224–227, 239f. Freyer, H. 28 f.
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Personenregister
Gadamer, H.-G. 31, 59, 156, 159, 256, 261 Gehlen, A. 28f. Goethe; J.W. 54, 157, 164, 171, 183, 296, 376 Habermas, J. 29f. Hegel, G.W.F. 13, 31, 38–42, 54, 56, 59, 81f., 105, 165, 169f., 247f., 307, 313, 317 Heidegger, M. 9, 12–14, 19–27, 29–47, 49–70, 73f., 77–79, 81, 83f., 94–96, 98–109, 117-147, 149f., 152–164, 167, 172, 178, 181–184, 192, 194, 202, 225, 229f., 235–238, 245–252, 255f., 259, 262, 268f., 271, 273–275, 296, 298–301, 304f., 307–309, 319, 338, 343–353, 369–371, 378–380 Heisenberg, W. 139–142 Henrich, D. 39f. Heraklit von Ephesus 24f., 136f., 160–162, 318f., 370f., 373 Hesse, H. 81–83, 101, 369–373, 375f. Hobbes, Th. 94, 250f. Hölderlin, J.Ch.F. 9f., 12, 14f., 19f., 24f., 34, 36–42, 45f., 51, 54f., 57, 65, 67, 81, 136f., 152f., 156–160, 163f., 181, 225, 228, 234, 236, 307–309, 327f., 338, 346, 351f., 369 Hoffmann, E.T.A. 202f., 206 Horkheimer, M. 27f., 30, 353 Husserl, E. 59, 152, 181, 260f., 273, 344, 350, 379 Jaspers, K. 28, 30–32, 235f. Jünger, E. 27, 29 Kafka, F. 324 Kant, I. 11, 15, 31f., 39, 59, 70, 76, 88, 94, 130, 139f., 154, 165, 170, 176, 184, 191, 194–202, 204, 206, 210–212, 216, 219, 223, 226, 233, 247, 259, 307, 330, 343, 346, 356 Kierkegaard, S. 169, 173 Klemperer, V. 33 Konersmann, R. 356 Kracauer, S. 288 Krieck, E. 33 La Mettrie, J.O.d. 250 Leibniz, G.W. 94, 180, 250f., 328, 346 Lenz, S. 106 Lessing, Th. 28 Lévi-Strauss, C. 218–225, 234, 379 Lévinas, E. 271–276, 295f., 300f. Löwith, K. 22, 25 Lovejoy, A.O. 162 Luhmann, N. 29 Lukács, G. 28
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Personenregister
Mandelstam, O. 304f. Marlantes, K. 241–243 Martin, A. 10f., 84f., 88f., 91, 95–104, 121–125, 128f., 146 Meister Eckhart 77f., 80, 85, 88, 122 Merleau-Ponty, M. 107, 142f., 149–152 Mörchen, H. 156 Mohler, A. 27 Montaigne, M.d. 10, 332–337 Niehues-Pröbsting, H. 61f. Nietzsche, F. 11, 19, 22, 25, 31, 33f., 126–138, 146, 151–153, 180–182, 205–210, 214, 268f., 307, 371f. Novalis 10, 12f., 15, 106, 170, 174, 183, 304 O’Brien, T. 261 Peirce, Ch.S. 254f. Pessoa, F. 10 Plessner, H. 193 Pöggeler, O. 19, 129 Powell, A. 303–306, 308, 323–325, 331, 337, 339 Rath, N. 46, 211, 296 Riefenstahl, L. 283–288, 295 Rorty, R. 21, 351 Schapiro, M. 57f., 63f. Schelsky, H. 29, 31 Schlegel, F. 10, 12–15, 151, 157, 163–184, 206–208, 228, 237f., 250, 253f., 275, 298, 301f., 304, 309, 327, 351f., 380 Schleiermacher, F. 162, 255 Schrödinger, E. 142 Simmel, G. 288–291, 296–301 Solger, K.W.F. 170 Spengler, O. 27f. Steinbeck, J. 361f., 364, 366, 369, 373, 376 Stierle, K. 241, 333, 335f. Tarde, G. 247, 289 Taylor, Ch. 153 Taylor, F.W. 284 Thomas von Aquin 74f. Tieck, L. 166–168 Tugendhat, E. 41 Turing, A. 251
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Personenregister
Vico, G.B. 9f. Waldenfels, B. 261, 274 Weber, M. 23, 27–29, 125, 267–269, 298 Whitehead, A.N. 79f., 83, 142, 253f., 268, 304, 325–331, 338 Wittgenstein, L. 35f., 46, 95, 124, 144, 251, 347, 351 Zumthor, P. 111–114, 117–125, 128f., 146
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