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German Pages 308 Year 2011
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Frauke Berndt
Poema /Gedicht Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750
De Gruyter
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Robert Fajen, Wolfgang Hirschmann, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling Redaktion: Julia Thiemann Satz: Kornelia Grün
Ralf ⫺ in Dankbarkeit
ISBN 978-3-11-025391-7 e-ISBN 978-3-11-025392-4 ISSN 0948-6070 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
I
Die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ . . . . . . . . . . . . . . .
1
II Alexander Gottlieb Baumgartens ästhetische Theorie . . . . . . . . . . . . .
12
1 Die Struktur des Gedichts . . . . . . . . . . 1.1 Die Ambiguität der Ästhetik . . . . . 1.2 Psychologische Versuchsanordnung 1.3 Rhetorische Übersetzung . . . . . . . . 1.4 Semiotische Übersetzung . . . . . . . . 1.5 Poetologische Übersetzung . . . . . . 1.5.1 Räumlichkeit . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Unanschaulichkeit . . . . . . . . 1.5.3 Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . .
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2 Die Wahrscheinlichkeit des Gedichts 2.1 Die Metaphysik des Schönen . . . 2.1.1 Vollkommenheit . . . . . . . 2.1.2 Wahrheit . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Zwielichtigkeit . . . . . . . . . 2.2 Die Medialität des Schönen . . . .
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3 Die Ethik des Gedichts . . . . . . . 3.1 ‚Symbolica‘ . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Kopf und Herz . . . . . . 3.1.2 Flamme und Feile . . . . 3.2 ‚Parrhesia‘ . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Der Wille zum Ziel . . . 3.2.2 Der Wille zur Wahrheit
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4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III Friedrich Gottlieb Klopstocks poetische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Die Medialität des Gedichts 1.1 Gedanken-Stücke . . . . 1.2 Schreib-Szene . . . . . . 1.3 Schau-Platz . . . . . . . .
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1.4 Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Deklamation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Läppische Gedichte: Cidli 1752 2.1 Das anakreontische Format 2.2 Symbolische Konzentrik . . 2.2.1 Unanschaulichkeit . . 2.2.2 Räumlichkeit . . . . . . 2.2.3 Zeitlichkeit . . . . . . .
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3 Monströse Gedichte: Der Messias 3.1 Das enzyklopädische Format . 3.2 Symbolische Exzentrik . . . . . 3.2.1 Schreib-Szene . . . . . . . 3.2.2 Schau-Platz . . . . . . . . . 3.2.3 Körper . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Komposition . . . 3.2.3.2 Deklamation . . .
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4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV Das epistemische Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zu A. G. Baumgarten Literatur zu F. G. Klopstock . Sonstige Literatur . . . . . . . . .
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I Die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘
Oratio sensitiva perfecta est poema. Baumgarten, Meditationes Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen. Heidegger, Holzwege
Im Schwellenraum von Frühneuzeit und Moderne machen der maßgeblichste Philosoph und der kühnste Dichter der Zeit unabhängig voneinander die gleiche aufregende Entdeckung: Bei ihrer Arbeit an antiker Lyrik und Epik stoßen sie – der eine lesend, der andere schreibend – auf die Sinnlichkeit der Literatur.1 Diese Entdeckung hat die Welt verändert. Den Philosophen veranlasst sie zur Korrektur der Enzyklopädie, den Dichter führt die Sinnlichkeit der Literatur auf neue Wege der Poesie. Dabei sind sich Alexander Gottlieb Baumgarten und Friedrich Gottlieb Klopstock weder je begegnet, noch hat der eine zum Werk des anderen Stellung bezogen, obwohl als Kuppler ohne Frage Baumgartens Schüler Georg Friedrich Meier sowie als Ort der Verkuppelung das kulturelle Zentrum Halle in Frage kämen – jedenfalls dann, wenn man das, was sich zwischen beiden ereignet, als Beziehungsgeschichte erzählen wollte. Meiers Verteidigung von Baumgartens 1735 erschienenen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus2 gegen die Gottschedianer im sogenannten ‚Kleinen Dichterkrieg‘ während der 1740er Jahre ist nicht ohne Einfluss auf Klopstocks Arbeit am religiösen Versepos Der Messias geblieben,3 ebenso wenig wie die Auge in Auge mit Baumgartens Medita1
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Zur kulturwissenschaftlichen Perspektivierung der Sinnlichkeit in der Epoche der sogenannten Empfindsamkeit vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974; Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988; Albrecht Koschorkes kulturanthropologische Studie: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. 2. Auflage. München 2003. Zur rezeptionsästhetischen Perspektivierung vgl. Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003; dazu meine Rezension: Frauke Berndt: Performativität und Ästhetische Erfahrung. In: IASLonline [Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur]. o.O. 23.02.2004: , 31.03.2010. Vgl. Georg Friedrich Meier: Verteidigung der Baumgartenschen Erklärung eines Gedichts. Wider das 5. Stück des 1. Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und Künste. Halle 1746. Vgl. Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777). Tübingen 2007, S. 151–155; Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911.
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tiones konzeptualisierte Anakreontik des ‚Zweiten Halleschen Dichterkreises‘ auf seine Oden. Darüber hinaus mag Klopstock durch Meiers kongeniale Bearbeitung auch mit Baumgartens 1750 und 1758 verlegter Aesthetica4 in Berührung gekommen sein. Und auch umgekehrt kann dem Philosophen das große Aufsehen kaum entgangen sein, das der Messias seit dem Erscheinen der ersten drei Gesänge 1748 in den Bremer Beyträgen sowie der von Meier in den 1750er Jahren besorgten Bände der Halleschen Ausgabe erregt hat.5 Nicht zuletzt hat Meier das Werk bereits 1749 öffentlich gegen die Vorwürfe aus Leipzig verteidigt.6 Doch weder im unmittelbaren noch im mittelbaren Kontakt, sondern mit dem sinnlichen Impuls der Literatur einhergehend oder von ihm ausgehend, entsteht zwischen Baumgarten und Klopstock diejenige Konfiguration, auf die allein es mir in diesem Buch ankommt – Beziehung hin oder her. Gemeint ist eine etwa von 1730 bis 1770, und das heißt nur für vergleichsweise kurze Zeit akute Position in der Wissensordnung, die ich mit Baumgarten und Klopstock einfach tentativ ‚Poema / Gedicht‘ nennen möchte. An dieser Position wird das Denken, Können, Handeln, Sollen und Wollen der Literatur buchstäblich vom vernünftigen Kopf auf die sinnlichen Füße gestellt, was nichts Geringeres bedeutet, als dass genau an dieser Stelle der moderne Literaturbegriff geprägt wird. Denn mit der anthropologischen Wende der Episteme um die Jahrhundertmitte werden sowohl Philosoph als auch Dichter an den unbegrifflichen Stellen literarischer Texte auf das ganz eigene, durch nichts anderes zu ersetzende Vermögen „sinnliche[r] ‚Zeichen‘ und ‚Bilder‘“ bei der menschlichen Selbst- und Welterschließung aufmerksam7 – signa visibiles, wie sie in der grammatischen, oder symbolische Zeichen, wie sie in der rhetorischen Tradition heißen –:8 Sie werden also auf das Vermögen der symbo4 5 6 7
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Vgl. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Bde. Hildesheim u. New York 1976 [ND der Ausg. Halle 1754, 1755, 1759]. Vgl. Franz Muncker: Briefwechsel Klopstocks und seiner Eltern mit Karl Hermann Hemmerde und Georg Friedrich Meier. In: Archiv für Literaturgeschichte 12 (1884), S. 225–288. Vgl. Georg Friedrich Meier: Beurtheilung des Heldengedichtes des Messias. In: Ders.: Frühe Schriften. Teil 2. Halle 1752. Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Brigitte Recki. Bd. 16: Aufsätze und Kleine Schriften 1922–1926. Bearb. v. Julia Clemens. Hamburg 2003, S. 75–104, hier S. 78. Louis de Jaucourt: Art. Symbole. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Hg. v. Denis Diderot u. Jean LeRond d’Alembert. Bd. 15. Stuttgart-Bad Cannstatt 1967 [ND der Ausg. Paris 1765], S. 726–734, hier S. 726; vgl. Art. Symbol. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste welche bisshero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Hg. v. Johann Heinrich Zedler. Bd. 41. Graz 1961 [ND der Ausg. Halle, Leipzig 1744], Sp. 638; zur Wort- und Begriffsgeschichte u.a. Max Schlesinger: Geschichte des Symbols. Ein Versuch. Berlin 1912; E. Buess: Art. Symbol. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Kurt Galling. Bd. 6. Tübingen 1962, Sp. 540f.; K. Wessel: Art. Symbole. Ebd., Sp. 541–548; Manfred Lurker (Hg.): Beiträge zu Symbol, Symbolbegriff und Symbolforschung. Baden-Baden 1982; Peter Kobbe: Art. Symbol. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Klaus Kanzog u.a. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin 1984, S. 308–333; Art. Symbol. In: The New Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Hg. v. Alex Preminger. Princeton 1993, S. 1250–1254; M. Seils: Art.
lischen Struktur des sogenannten Gedichts aufmerksam, wie beide für den literarischen Text sagen. Während der akribischen Textarbeit, der sich sowohl Baumgarten als auch Klopstock aussetzen, treten nämlich die medialen, kognitiven, metaphysischen und ethischen Leistungen des Gedichts bei der Vermittlung von Selbst und Welt in den Vordergrund, die dienenden Aufgaben der Literatur bei der Übermittlung kultureller Inhalte in den Hintergrund. In diesem Prozess – Soziologen und Historiker interessiert er im Hinblick auf die Ausdifferenzierung der Kunst als autonomes System9 –, oder genauer und pointierter formuliert: Genau zu diesem Zeitpunkt wird der literarische Text epistemisch konfiguriert, was zur Folge hat, dass die Literatur von den unscharfen Rändern der Wissensordnung in deren zentrales Sichtfeld rückt, um dort zu bleiben. Das Attribut ‚epistemisch‘ markiert dementsprechend jenen initialen Akt um 1750, aufgrund dessen ‚Poema / Gedicht‘ nicht eine, sondern die epistemische Konfiguration des literarischen Textes darstellt, egal welche Korrekturen später an dieser Konfiguration vorgenommen werden oder unter welchen Begriffen sie weiter verhandelt wird. Zu epistemischem, das heißt zu genuin wissenschaftlichem Wissen über den Menschen und mithin zu einer unhintergehbaren Größe in der modernen Erkenntnistheorie wird der literarische Text in der mittleren Aufklärung aber nicht deshalb, weil sich Baumgarten oder Klopstock aus vernünftigen Gründen dafür entscheiden, sondern weil beide am Schreibtisch, im akademischen Kollegium und vor dem Publikum schlicht und ergreifend literarische Texte beobachten, sie analysieren, synthetisieren, perspektivieren, kontextualisieren und – im Falle des Dichters – sogar beginnen, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch mit ihnen zu experimentieren. Die Texte werden also zu Objekten, an denen sich Wissen formt und ausbildet bzw. formen und ausbilden lässt. Denn es ist die Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird.10
Wenn die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘, oder sagen wir lieber etwas vorsichtiger: Wenn „Systeme von Behauptungen“ über die symbolische Struktur des Gedichts nach 1770 schließlich in die Symbolkonzepte um 1800 ein-
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Symbol. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u.a. Bd. 10. Darmstadt 1999, Sp. 710–739; Henning Schröer: Art. Symbol. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Krause u. Gerhard Müller. Bd. 32. Berlin u. New York 2001, S. 479–496; Roger W. Müller Farguell: Art. Symbol2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar u.a. Bd. 3. Berlin u. New York 2003, S. 550–555; H. Hamm: Art. Symbol. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck. Bd. 5. Stuttgart u. Weimar 2003, S. 803–805. Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, S. 215–300. Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007, S. 11.
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gehen,11 sobald ein alter, allgemein verwendeter Begriff für das neue, besondere Funktions- und Leistungsprofil des literarischen Textes mobil gemacht worden ist, dann ist diese geschlossene Versuchsanordnung bereits Geschichte. Im Fehlen einer solchen Laborsituation mag der Grund dafür liegen, dass die Sach- und Begriffsarbeit in den ästhetischen und poetologischen Symbolkonzepten des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts gegenüber der ursprünglichen Konfiguration einiges an epistemischer Evidenz eingebüßt hat. Aber das steht auf einem anderen Blatt als demjenigen der Vorgeschichte solcher Konzepte im Vorfeld der Moderne, der mein Interesse gilt.12 Der Weg zum Gedicht führt zunächst in den Osten des deutschsprachigen Territoriums: Ab 1742 lehrt der Professor für Philosophie Alexander Gottlieb Baumgarten an der Viadrina in Frankfurt an der Oder bekanntermaßen die „Wissenschaft von allem, was sinnlich ist“ (KOLL § 1).13 Deren Keimzelle sind die 117 Paragraphen besagter Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, die im Laufe jahrzehntelanger Arbeit zu den 904 Paragraphen der 1750/1758 ebenfalls in Halle veröffentlichten Aesthetica anwachsen. Unter dem Strich integriert Baumgarten der Wissensordnung eine neue Disziplin. Dadurch, dass er „Allstedts Encyclopädie“ modernisiert – gemeint ist Johann Heinrich Alsteds 1630 erschienene Encyclopaedia septem tomis distincta, das Standardwerk frühneuzeitlichen Wissens –, legt er das Fundament der modernen Kulturwissenschaften.14 „Warum sollte nicht ein geschickter Philosoph sich an eine philosophische Encyclopädie machen können“, fragt sich Baumgarten, „darin er die zur Philosophie gehörende[n] Wissenschaften insgesamt in ihrer Verbindung vorstellte?“ Dieser „Schatten-Riss“ hätte sowohl die oberen Erkenntnisvermögen als auch die unteren zu berücksichtigen,15 was zur Folge hat, dass Baumgarten die Enzyklopädie neu organisiert. Denn in seinem Entwurf stellt sich der Philosoph die Logik 11
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Eckard Rolf: Symboltheorien. Der Symbolbegriff im Theoriekontext. Berlin, New York 2006, S. 1. Zum problematischen Verhältnis von „Wort“ und „Sache“ des Symbols vgl. Tzvetan Todorov: Symboltheorien. Übers. v. Beat Gyger. Tübingen 1995, S. 1. Zur Sach- und Begriffsgeschichte um 1750 vgl. Frauke Berndt: Symbolisches Wissen. Zur Ökonomie der ‚anderen‘ Logik bei A. G. Baumgarten. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2008, S. 383–390. Grundlegend für das 19. Jahrhundert nach wie vor: Michael Titzmann: Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800–1880. Der Symbolbegriff als Paradigma. München 1978. Alexander Gottlieb Baumgarten: Kollegium über die Ästhetik. Zit. nach: Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Leipzig 1907; zitiert mit der Sigle [KOLL] und der Paragraphenzahl. Vgl. Anselm Haverkamp: Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag. Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaften. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 3–26. Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Briefe von Aletheophilus. Frankfurt, Leipzig 1741, zit. nach: Philosophischer Briefe zweites Schreiben. In: Ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, S. 68. Erst postum er-
als eine Wissenschaft der Erkenntnis des Verstandes oder der deutlichen Einsicht vor und behält, die Gesetze der sinnlichen und lebhaften Erkenntnis, wenn sie auch nicht bis zur Deutlichkeit, in genauester Bedeutung, aufsteigen sollte, zu einer besondern Wissenschaft zurück. Diese letztere nennt er die Ästhetik […].16
Dergestalt begründet Baumgarten also die „Ästhetische Erfahrungs-Kunst“17 – eine theoretische, keine empirische Wissenschaft – als ältere Schwester (soror eius natu maior) der Logik (vgl. AE § 13).18 Und indem er „die Ästhetik aus der Logik“ entfaltet (so würdigt Cassirer den bereits von Kant bewunderten Analysten), deckt Baumgarten „zugleich die immanente Schranke der traditionellen Schullogik auf“,19 weil die alte Wissensordnung bei der Modernisierung mächtig in Bewegung gerät. Am Schluss umfasst die Ästhetik nicht nur Teile der Psychologie, Metaphysik und Ethik, sondern auch der Semiotik und Rhetorik / Poetik, weil Baumgarten, wie es Thomas Abbt auf den Punkt bringt, die „Metapoetik“ der Sinnlichkeit entwirft.20 Doch es ist weniger der philosophischen Vernunft als vielmehr der Arbeit am literarischen Text und der daraus folgenden Überarbeitung der Paragraphen zu verdanken, dass die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ entstehen kann. Während Mitte des 18. Jahrhunderts „alle ästhetischen Reflexionen [...] einen poetologischen Zuschnitt“ aufweisen, sodass die Literatur schon bald als die „Protoform poietischer Weltgestaltung“ gilt,21 drängt sich Baumgarten am literarischen Text etwas Anderes, etwas ganz Bestimmtes auf, das der Forschung bisher entgan-
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scheint Alexander Gottlieb Baumgarten: Sciagraphia encyclopaediae philosophicae. Hg. v. Johann Christian Förster. Halle 1769. Baumgarten: Philosophische Briefe von Aletheophilus, S. 69. Ebd., S. 71. Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. Hildesheim u. New York 1961 [ND der Ausg. Frankfurt a.d.O. 1750/1758]; zitiert mit der Sigle [AE] und der Paragraphenzahl. Die deutschen Übersetzungen folgen mit Sigle und Paragraphenzahl den Ausgaben: Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der Aesthetica (1750/58). Übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. 2. Auflage Hamburg 1988; Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. 2 Bde. Übers. u. hg. v. Dagmar Mirbach, Hamburg 2007. Der bzw. die Übersetzer/in wird in Klammern genannt. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. In: ECW. Bd. 15. Bearb. v. Friederike Plaga. Darmstadt 2003, S. 354. Thomas Abbt: Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens. In: Ders.: Vermischte Werke. 3 Bde. Bd. 2. Hg. v. Friedrich Nicolai, Hildesheim u. New York 1978 [ND der Ausg. 1780], S. 215–244, hier S. 222. Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A.G. Baumgarten und I. Kant. Tübingen 2004, S. 74. Vgl. dazu meine Rezension: Frauke Berndt: Was heißt ›Darstellen‹? Petra Bahrs religionsphilosophische Antwort auf eine literaturtheoretische Frage. In: Literaturkritik.de. 7 (2005), Ausgabe 1: , 31.03.2010; Vgl. Stefanie Buchenau: Die Sprache der Sinnlichkeit. Baumgartens poetische Begründung der Ästhetik in den Meditationes philosophicae. In: Lothar Kreimedahl, Monika Neugebauer-Wölk u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Themenschwerpunkt: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus 20 (2008), S. 151–173.
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gen ist. Seine Arbeit führt ihn nämlich zu einer spezifischen Akzentuierung dieser Gestaltung an den sinnlichen ‚Zeichen‘ und ‚Bilder[n]‘ literarischer Texte, und das heißt an den unbegrifflichen Stellen, an denen nicht allein die Tropen (Metapher, Metonymie, Synekdoche oder Allegorie), sondern die Summe aller „rhetorische[n] Elocutionstechniken der amplificatio (Figuren der Detaillierung) und hypotyposis (Figuren der Vergegenwärtigung)“ die symbolische Struktur erzeugen.22 An diesen Stellen stößt Baumgarten auf das Gedicht als Medium, oder anders gewendet auf die Medien des Gedichts und markiert mit der Materialität des Mediums den systematisch begründeten Punkt, an dem das philosophische Projekt einer „Kritik der Vernunft“ von einer „Kritik der Kultur“ abgelöst wird.23 Im Verlauf der über zwanzig Jahre währenden Reflexionen auf das Gedicht profiliert es Baumgarten nun als interdisziplinäres Relais, das nicht nur Verstand und Sinnlichkeit vermittelt, sondern per definitionem fünf Aspekte miteinander verschaltet: psychologische, semiotische, rhetorisch / poetologische, metaphysische und ethische: Das Gedicht tritt nicht nur in Erscheinung, sondern ist sowohl schön als auch gut. Denn „[s]ymbolisch“, so umreißt Luhmann dieses Problem von Materialität und Idealität, „ist die Kunst vor ihrer Ausdifferenzierung, wenn sie für ihre ornamental verdichteten Zusammenhänge einen höheren Sinn sucht [Herv. F.B.]“.24 Ich gehe indes davon aus, dass Baumgarten das Gedicht nicht entweder in diesem oder jenem Aspekt, entweder in seiner Materialität oder in seinem ‚höheren‘: schönen, wahren oder guten Sinn interessiert. Zur Diskussion steht das Super-Medium als komplexer Schaltplan stets in allen seinen fünf Aspekten – und zwar genau in diesen fünf Aspekten. Das Gegenstück der epistemischen Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ führt im Norden über die Grenze des deutschsprachigen Territoriums. Ab 1751 arbeitet der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock am Hof seines Mäzens Friedrich V. von Dänemark jahrzehntelang am Messias, dessen Bände 1751, 1756 (zweite verbesserte Auflage 1760), 1769 und 1773 in Halle erscheinen. Experimentell ist auch diese Arbeit insofern, als es Klopstock mit dem Messias – dem sinnlichen „Mittler“ des christlichen Gottes (pass.)25 – vor allem um eines geht: um das Medium dieser
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Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 5. Dementsprechend gibt es „différentes fortes des symboles, comme types, énigmes, paraboles, fables, allégories, emblèmes, hiéroglyphes, que l’on trouvera sous leurs articles particuliers, type, énigme, etc.“ Jaucourt, Symbole, S. 726. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen I. In: ECW. Bd. 11: Die Sprache. Bearb. v. Claus Rosenkranz. Darmstadt 2001, S. 9. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 271. Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias. In: Ders.: Ausgewählte Werke. 2 Bde. Hg. v. Karl August Schleiden. Bd. 1. 4. Auflage. München u. Wien 1981; zitiert mit römischer Ziffer für den Gesang und arabischer für den Vers. Ich verwende diese Ausgabe, obwohl der Textstand nicht der Halleschen Erstausgabe 1751–1773, sondern der Altonaer-Ausgabe ‚letzter Hand‘ von 1780/81 folgt, aber allgemein zugänglich ist. Sowohl die Sämmtlichen Werke (1823–1830) als auch die Historisch-kritische Ausgabe folgen dem Textstand der späteren Göschen-Ausgabe
Erfahrung eines ‚höheren Sinns‘. Die mühevolle Arbeit an diesem Text sowie an der zeitgleich entstehenden Lyrik begleitet Klopstock daher in einem Prozess andauernder Selbstbeobachtung. In diesem Prozess wird er auf die Probleme aufmerksam, die bei der medialen Vermittlung der beiden großen, sinnstiftenden Systeme der Moderne entstehen – gemeint ist neben der Religion auf der einen Seite das der Liebe auf der anderen. Während das Gedicht für Baumgarten die Protoform der sinnlichen Erkenntnis darstellt, bestimmt es Klopstock zum exklusiven Medium von immanenter, und das heißt nach der anthropologischen Wende auf die sinnliche Vermittlung angewiesener Transzendenzerfahrung.26 Diese theoretische Zuspitzung der unbegrifflichen Stellen literarischer Texte auf das Problem der Erfahrung eines ‚höheren Sinns‘ begründet die zwei exemplarischen Lektüren in diesem Buch: Klopstocks Hauptwerk Der Messias ist der Gründungstext bürgerlich-pietistischer Gotteserfahrung, seine berühmteste Ode Cidli 1752 (besser unter einem ihrer späteren Titel als Das Rosenband bekannt) der Gründungstext bürgerlich-empfindsamer Liebeserfahrung. In seinen poetologischen Fragmenten beschäftigen ihn anders als die Schweizer, Haller und Leipziger daher weniger die heiligen oder profanen Inhalte des Gedichts als vielmehr das mediale Ereignis des Gedichts. Um ein solches angemessen, und das heißt in allen seinen Aspekten zu beschreiben, greift Klopstock auf psychologische, semiotische und rhetorisch / poetologische sowie auf metaphysische und ethische Argumente zurück, die er im Gegensatz zum Frankfurter Philosophen aber keineswegs systematisch herleitet, sondern irgendwo findet und irgendwie – in einem ‚wilden‘ Modus der Theoriebildung – darstellt. Dem Publikum hält Klopstock die Ergebnisse dieser Selbstbeobachtung sowie der vergleichenden Beobachtung antiker wie moderner Beispiele ebenso wenig vor, wie es Baumgarten getan hat. In öffentlichen Reden, Abhandlungen in Zeitschriften, Vorwörtern zu den Ausgaben seiner Werke und schließlich in der 1773, zeitgleich mit dem Abschluss der ersten vollständigen Ausgabe des Messias subskribierten Deutschen Gelehrtenrepublik tut Klopstock kund, was ein Gedicht sei und was es zu leisten habe. Doch schreibt auch er wie Baumgarten dem literarischen Text keine Regeln vor, sondern er leitet sie vom Gedicht ab. Dabei trifft er vor den sinnlichen ‚Zeichen‘ und ‚Bildern‘ zunächst vor allem auf eines: auf die Sprache, oder genauer: auf das historische Medium der deutschen Sprache. Für das Deutsche, das Klopstock im Gegensatz zum systematischen Interesse des Philosophen sowohl synchron als auch diachron beschreibt, formuliert er als erster Vertreter der dichterischen Zunft Gesetze, weil er die genauen Möglichkeiten seiner Muttersprache im Positiven wie im Negativen erkundet. Das Deutsche, so die Quintessenz der bildungspolitischen Mission Klopstocks, kann nicht mehr oder weniger als das Griechische, an dem er
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‚des letzten Fingers‘ von 1799/1800. Die Werkausgabe wird im Folgenden mit der Sigle [AW] ausgewiesen. Vgl. Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik. 2. Aufl. München 2010, S. 13–33.
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es bemisst, sondern es hat andere Stärken und Schwächen. Dass Klopstock dabei lernt, alle „Kleinigkeiten“ als Größe der Sprache zu schätzen,27 dass er nicht nur Etymologie und Grammatik, sondern vor allem Silben, Klänge, Betonungen, Längen und Kürzen in allen Facetten ihrer Sinnlichkeit prüft, hat ihm – die Entscheidung liegt im Auge des Betrachters – entweder die Kritik eines schon zu seiner Zeit unzeitgemäßen Formalisten und Manieristen eingetragen oder den Ruf eines Avantgardisten, ja Postmodernen avant la lettre.28 Obwohl Klopstocks Sprach- und Metriktheorie, die in der Forschung viel beachtet worden ist, ohne Frage einen wesentlichen Teil der Selbstbeobachtung ausmacht, bildet diese ebenso attraktive wie elegante Theorie der bedeutungslosen Wortbewegung in der epistemischen Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ lediglich das Fundament der poetologischen Reflexionen. Diese führen ihn ebenso wie Baumgarten selbstverständlich zu der symbolischen Struktur des Gedichts, deren Sinnlichkeit für Klopstock freilich noch weniger als für Baumgarten in ihrer Bildlichkeit besteht. Mit den ‚ornamental verdichteten‘ Stellen rückt für Klopstock einerseits deren Sprachlichkeit, andererseits der Rahmen ins Visier, in dem diese Sprach-Bilder sowohl lautlich als auch graphisch in Erscheinung treten, und das heißt ganz konkret: sämtliche historischen Strophen- und Gedichtformen. Nicht nur für das Epos, sondern auch für Hymnen und Oden stöbert Klopstock daher im Fundus der zweitausendjährigen Literaturgeschichte und sucht dort nach Formatvorlagen für seine poetische Arbeit. Dergestalt vertieft Klopstock also die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ nicht nur medientheoretisch im Hinblick auf die Lautlichkeit und Schriftlichkeit des Gedichts, sondern er erweitert dessen Gegenstandsbereich von der symbolischen Struktur der unbegrifflichen Stellen in einem literarischen Text auf die symbolische „Gesamttextstruktur“.29 Ihr integriert er dabei das, was Lessing 1766 in der Studie zum Laokoon um den Preis medialer Komplexitätsreduktion trennen wird:30 Zeit und Raum als die beiden Anschauungsformen, in denen ein literarischer Text dem Bewusstsein gegeben ist. In der Auseinandersetzung mit den historischen Gattungsformaten gelingt Klopstock nämlich die Synthese aller medialen Aspekte des Gedichts, der zeitlichen wie der räumlichen, in ihrer Zusammen-
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Friedrich Gottlieb Klopstock: Grammatische Gespräche. Erste Abteilung. In: Klopstocks sämmtliche sprachwissenschaftliche und ästhetische Schriften nebst den übrigen bis jetzt noch ungesammelten Abhandlungen, Gedichten, Briefen etc. 6 Bde. Hg. v. August Leberecht Back u. Albert Richard Constantin Spindler, Leipzig 1830 (= Klopstocks sämmtliche Werke. Leipzig 1823–1830. Bde. 13–18), pass. Vgl. Winfried Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Hg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt a.M. 1989, S. 259–361, hier S. 343. Teile des Aufsatzes (S. 306–326; 341–351) sind mit einer neuen Einleitung unter dem Titel erschienen: Dichtung als Tanz – Zu Klopstocks Poetik der Wortbewegung. In: Comparatio 3 (1991), S. 129–150. Titzmann: Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800–1880, S. 112 pass. Vgl. Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung. Hamburg 2006, S. 36.
schau. Indem er die zeitliche Anschauungsform der Sprache mit der räumlichen der Gattung eng führt, komponiert er sowohl auf einem kleinen, feinen Blatt die nur zwölf Zeilen umfassende Ode, die auf der graphischen und akustischen Wiederholung von zwei Elementen basiert, als auch das ‚dicke‘ enzyklopädische Epos, dessen mehr als 20.000 Verse einen gewaltigen Spiegel- und Echoraum bilden. So erweist sich die Ode über die Liebe gewissermaßen als Minimalform eines Gedichts, das Epos über die Religion als Maximalform. An diesen winzig kleinen wie riesig großen medialen Ereignissen arbeitet Klopstock mit einer Mühe und Sorgfalt, die ihresgleichen sucht. Karl Valentins ironische Sentenz, Kunst sei schön, mache aber auch viel Arbeit, trifft wohl auf kaum einen Dichter stärker zu als auf Klopstock. Tatsächlich mögen solche synästhetischen Spektakel den Eindruck erwecken, als habe Klopstock seine Texte, die wie Cidli 1752 den anakreontischen Liebescode variieren oder wie Der Messias im Dienst der Religion stehen, ganz von ihrer Aufgabe entbunden, etwas oder gar etwas ‚Höheres‘ zu bedeuten. Doch der Schein trügt. Allerdings verändert sich in der epistemischen Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ die Art und Weise, in der ein literarischer Text seine Bedeutungseffekte erzielt. Klopstock vertraut weder (nur) auf das Lexikon, semantische Codes, Handlungs- oder Erzählmuster noch auf die regulierten hermeneutischen Verfahren der literarischen Tradition noch auf die genrespezifischen Praktiken und Strategien, sondern er stellt auch die Bedeutung auf den Boden der Sinnlichkeit. Im Spannungsfeld von erinnertem Sinn und sich ereignender Versinnlichung entfalten sich die Bedeutungseffekte literarischer Texte nun buchstäblich jederzeit und allerorts und entwickeln dabei ein Bewusstsein für ihre eigene kognitive wie mediale Komplexität. Sowohl Klopstock als auch Baumgarten treffen also jeder für sich und unter verschiedenen Voraussetzungen auf die Sinnlichkeit der Literatur, mit der zwischen beiden in der Wissensordnung um 1750 die Position für das Gedicht entsteht. An dieser Position rückt die Literatur aufgrund einer doppelten Bewegung in das Zentrum der Episteme, weil mit der Reflexion auf die Bedingungen und Möglichkeiten des literarischen Textes dessen praktische Selbstreflexivität einhergeht. Im Folgenden geht es mir darum, die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ so genau wie möglich zu rekonstruieren, indem ich Baumgarten mit Klopstock und Klopstock mit Baumgarten lese, ohne bei dieser Lektüre auf die üblichen Strategien von Begriffs- oder Rezeptionsgeschichte zu vertrauen. Stattdessen ist es eher so, dass die Gedanken und Vorstellungen des einen die Aufmerksamkeit für diejenigen des anderen steuern und umgekehrt – und nur im ‚Dazwischen‘ kann das Gedicht sein Profil gewinnen. Aber nicht nur in systematischer, sondern auch in historischer Hinsicht würde ein begriffs- oder rezeptionsgeschichtlicher Zugriff wenig fruchten. Denn vor 1730 bezeichnet der Begriff ‚Gedicht‘ eine andere Sache, während nach 1770 für die Sache andere Begriffe verwendet werden. Oder anders gewendet: Vor 1730 gibt es zwar Gedichte, aber (noch) keine epistemische Konfiguration der Literatur, während es nach 1770 zwar nach wie vor eine solche 9
Sache gibt, die epistemische Konfiguration der Literatur aber bis 1800 Stück für Stück den Symbolkonzepten integriert worden ist, die seitdem im Zentrum der poetologischen und ästhetischen Reflexionen stehen. Eine solche Rekonstruktion oder genauer gesagt eine solche Konstruktion wirft aber auch in philologischer Hinsicht Probleme auf, weil beide Autoren (sowohl Baumgarten als auch Klopstock, sobald dieser beginnt seine poetische Arbeit poetologisch zu reflektieren) das Objekt der Erkenntnis weder behandeln noch verhandeln. Offenbar können sie gar nicht anders, als den literarischen Text selbst dicht zu beschreiben, was zur Folge hat, dass die Grenzen von Meta- und Objektsprache verschwimmen. Begriffe weichen Bildern: Vergleichen, Metaphern, Metonymien, Allegorien und Personifikationen; Beweisführungen treten hinter assoziativen, narrativen und szenischen Verknüpfungen zurück. Und das ist eben die eigentliche Pointe: Die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ entsteht nämlich erst mit und auf der Suche nach etwas Neuem, für das dem Philosophen lediglich alte bzw. veraltete Begriffe, Denkmuster, Rechtfertigungen und Hintergrundannahmen, dem Dichter bloß die traditionellen Ausdrucks- und Darstellungsverfahren zur Verfügung stehen. Sowohl Baumgarten als auch Klopstock experimentieren daher mit dem Vorgefundenen, strapazieren es – und das nicht selten bis an die Grenze der völligen Überforderung. Es ist nicht die präzise Frage, nicht das exakte Ergebnis, es ist die Arbeit an den Problemen als solchen – am ‚Vor-Geworfenen‘ oder ‚VorGesetzten‘ –, die nachzuzeichnen mein Ziel ist. Diese Vorgabe hat sich auf meinen genuin philologischen Umgang mit den Gegenständen ausgewirkt und die Entscheidung für ‚sorgfältige‘ Lektüren motiviert: Baumgartens Theorie wird in weiten Strecken als bzw. wie Literatur gelesen – mit ebenso viel Geduld für ihren propositionalen Gehalt wie für ihre Darstellungsverfahren –, wohingegen die Lektüre der Klopstockschen Dichtung der Maxime des Dichters folgt: Poetische „Darstellung h a t T h e o r i e “ (GR 9).31 In der Gliederung des Buches trage ich diesen Vorentscheidungen folgendermaßen Rechnung: Meine Lektüre von Baumgartens ästhetischer Theorie konzentriert sich zunächst auf die Medialität des Gedichts (1), die vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Ambiguität der Ästhetik (1.1) von der psychologischen Versuchsanordnung (1.2) zu deren rhetorischer (1.3), semiotischer (1.4) und poetologischer Übersetzung (1.5) führt. Weil diese ästhetische Theorie universal gedacht ist, führt sie mich zur Wahrscheinlichkeit des Gedichts (2), in deren Zusammenhang Baumgarten die Metaphysik des Schönen (2.1) zu einer Theorie der Medialität des Schönen (2.2) modifiziert. Schließlich verfolge ich, wie das Funktions- und Leistungs31
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Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Ihre Einrichtung. Ihre Gesetze. Geschichte des letzten Landtags. Auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar. Herausgegeben von Klopstock. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begr. v. Adolf Beck u.a. Hg. v. Horst Gronemeyer u.a. Abt. Werke: VII/1. Hg. v. Rose-Maria Hurlebusch. Berlin u. New York 1975; zitiert mit der Sigle [GR] und der Seitenzahl. Die Werkausgabe wird im Folgenden mit der Sigle [HKA] zitiert.
profil des literarischen Textes in eine Ethik mündet (3), in der Baumgarten einen Agenten des Gedichts auf den Plan ruft. Dessen Profil entwerfe ich unter den Schlagwörtern ‚Symbolica‘ (3.1) und ‚Parrhesia‘ (3.2). Meine Klopstock-Lektüren umfassen sowohl die poetologischen Fragmente als auch die beiden genannten Beispiele der poetischen Praxis, die ich im Hinblick auf die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ für repräsentativ halte. Im ersten Teil rekonstruiere ich Klopstocks Überlegungen zur Medialität des Gedichts (1). In Gedanken-Stücken (1.1) bilden sie dieselben Nuklei von Problemen ab, die Baumgarten behandelt. Dabei organisieren drei Modelle die Fragmente: das zeitliche der Schreib-Szene (1.2), das räumliche des Schau-Platzes (1.3) und das raum-zeitliche des Körpers (1.4). Unter dem Kant entliehenen Etikett des ‚Läppischen‘ analysiere ich die Ode Cidli 1752 (2), deren anakreontisches Format (2.1) die Konzentrik der symbolischen Struktur des Gedichts realisiert (2.2), während der ‚monströse‘ Messias (3) im enzyklopädischen Format (3.1) deren Exzentrik vorführt (3.2). Zum Abschluss der Arbeit werde ich skizzieren, inwiefern die Symbolkonzepte um 1800 die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ beerben und der Literatur ihren Stellenwert in der modernen Wissensordnung sichern.
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II Alexander Gottlieb Baumgartens ästhetische Theorie
̕ϾΐΆΓΏ΅, Symbole, Lat. Collatio, ist eine dererjenigen Rhetorischen Figuren, welche in Sachen bestehen, und zwar besonders dererjenigen, nach welchen man etwas amplificirt. Zedlers Universal-Lexikon
1 Die Struktur des Gedichts 1.1 Die Ambiguität der Ästhetik „Reichtum, Adel, Wahrheit, Licht, Gründlichkeit und Leben, / Wer das meiner Einsicht gibt, hat mir viel gegeben“ (KOLL § 22). Der Einprägsamkeit halber skandiert Alexander Gottlieb Baumgarten die Quintessenz seiner ästhetischen Theorie während des Winters 1750/51 im Frankfurter ‚Kollegium über die Ästhetik‘ in den Trochäen einer bemühten Vagantenstrophe. Im selben Jahr ist der erste Teil der Aesthetica erschienen, deren 613 Paragraphen Baumgarten für das Kolleg sinngemäß aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Paragraph für Paragraph entwirft er in dieser „Scientia sensitive cognoscendi et proponendi“ (MET § 533) den Modus der sinnlichen ‚Einsicht‘,1 den Baumgarten vom mathematisch-logischen Kalkül abhebt und der ihn zu jenen Gesetzen der Rede führt, wie er sie in der Frankfurter Faustformel ins Gedächtnis ruft: ‚Reichtum, Adel, Wahrheit, Licht, Gründlichkeit und Leben‘. Im Verhältnis von erkenntnistheoretischer Frage und rhetorischer Antwort tritt die ungeheure Spannung offen zutage, die Baumgartens Ästhetik auszuhalten hat. Diese Spannung entsteht zwischen den beiden aus philosophischer Perspektive schier unvereinbaren Polen der ‚Wissenschaft von allem, was sinnlich ist‘ – dem logischen Pol der ‚Einsicht‘ und dem medialen Pol der Rede. Denn als „auf das Gedankliche übertragene Stil-‚Schönheiten‘“ qualifizieren die sechs Begriffe des Merksatzes gleichermaßen die sinnliche Erkenntnis wie das Medium der sinnlichen 1
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„Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung“ (MET § 533). Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Hildesheim u. New York 1963 [ND der 7. Aufl. Halle 1779]; zitiert mit der Sigle [MET] und der Paragraphenzahl. Die deutschen Übersetzungen folgen, wenn nicht anders angegeben, mit Sigle und Paragraphenzahl der Ausgabe: Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983.
Darstellung: die Rede.2 Den Vorwurf einer mangelhaften Systematik dieses „Ich weiß nicht Was“, dessen „Vermischung […] natürlich ein Ungeheuer von Ästhetik“ ergibt,3 handelt sich Baumgarten daher bereits bei Herder ein – einem seiner ersten und aufmerksamsten Leser. Es ist allerdings „gewiss“ kein „Zeichen für das mangelnde methodische Bewusstsein Baumgartens“, dass „die den beiden Hauptgesichtspunkten [der Erkenntnistheorie und Medientheorie, F.B.] entsprechenden Gedankengänge ständig nebeneinander herlaufen“,4 sondern die Doppelwertigkeit ist das Herzstück, die Pointe, die Quintessenz der Position, die Baumgarten in der Wissensordnung einzurichten gedenkt. Diese Doppelwertigkeit ist nämlich der Ausdruck eines Problembewusstseins, für das die zeitgenössische Philosophie weder eine Systematik noch Begriffe bereitstellt. Und dieses Bewusstsein gilt dem Problem der Medialität der Erkenntnis.5 Für die Erkundung der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung kann Baumgarten auf kein Vorbild zurückgreifen. Mutig verbindet er deshalb in einem gewagten Experiment die ‚Theorie der freien Künste‘, die ‚untere Erkenntnislehre‘, die ‚Kunst des schönen Denkens‘ und die ‚Kunst des der Vernunft analogen Denkens‘ zu einer einzigen Disziplin, der ‚Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‘ (vgl. AE § 1), in der theoretische Logik, empirische Psychologie, technische Rhetorik (ars) und spekulative Metaphysik nicht nur in den vier Teildisziplinen,6 sondern auch im programmatischen Namen jeder einzelnen miteinander konfrontiert werden, sodass diese Konfrontation einen Chiasmus bildet. Die neue Superdisziplin ‚Ästhetik‘ verschaltet eine Theorie, eine psychologisch-empirische Lehre und zwei Techniken; die Theorie selbst hat wiederum die technische Redekunst, eine der beiden Künste hat das theoretische Analogon der Vernunft zum Gegenstand.7 Die Probleme, die sich Baumgarten mit diesem Schaltplan einhandelt, sind absehbar. 1758 –
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Vgl. Marie-Luise Linn: A.G. Baumgartens Aesthetica und die antike Rhetorik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 41 (1967), S. 424–443, hier S. 441. Johann Gottfried Herder: Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a.M. 1993, S. 247–442, hier S. 267; die Werkausgabe wird im Folgenden mit der Sigle [FA] zitiert. Hans Rudolf Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der Aesthetica A. G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des lateinischen Textes und deutscher Übersetzung. Basel u. Stuttgart 1973, S. 25. Zum wissenschaftshistorischen Kontext vgl. Rüdiger Campe: Der Effekt der Form. Baumgartens Ästhetik am Rande der Metaphysik. In: Eva Horn u.a. (Hg): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur. München 2006, S. 17–34. Die Gleichsetzung von „Theorie der schönen Wissenschaften“ mit „Rhetorik und Poetik“ begründet Klaus Weimar aus der Verschiebung der Disziplinen innerhalb der Septem Artes Liberales, vor allem innerhalb des Triviums, um 1750. Vgl. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2003, S. 68, Anm. 54. Zu den Prolegomena vgl. Michael Jäger: Kommentierende Einführung in Baumgartens Aesthetica. Zur entstehenden wissenschaftlichen Ästhetik des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Hildesheim u. New York 1980, S. 92–190.
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sieben Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – bricht er mit dem zweiten Band das Experiment ab. Dokument einer kolossalen Überforderung, gilt die Aesthetica seitdem als unvollendetes Projekt. Den Abbruch verantwortet kein biographisch begründeter Zufall – Baumgarten stirbt erst vier Jahre später und veröffentlicht 1760 noch die Initia philosophiae practicae primae acroamatice und 1761 die Acroasis logica –, der Abbruch des Experiments ist ein Notfall. In den zwei Jahrzehnten, in denen Baumgarten an seiner Ästhetik arbeitet, stößt er auf etwas so Neues, dass es das philosophisch Denkmögliche seiner Zeit übersteigt. Spuren eines permanenten Ringens um Systematik und Begrifflichkeit finden sich in Baumgartens ästhetischen Schriften aber allenthalben. Den deutlichsten Hinweis auf das agonale Verhältnis von Erkenntnistheorie und Medientheorie geben die Klammern im ersten Paragraphen der Aesthetica. Sie umschließen ein Asyndeton der vier Disziplinen (Rhetorik, Psychologie, Metaphysik und Logik), innerhalb dessen diese Disziplinen nun als Apposition der neuen Superdisziplin ‚Ästhetik‘ ihr unfreies Dasein fristen: „AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis,) est scientia cognitionis sensitivae“ (AE § 1).8 In dieser beiläufigen Definition kassiert Baumgarten die Ambiguität der Ästhetik: Die Ambiguität, der er in seinen anderen ästhetischen Schriften durchaus offen begegnet – „Scientia sensitive cognoscendi & proponendi est AESTHETICA, (Logica facultatis cognoscitivae inferioris, Philosophia gratiarum & musarum, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis)“ (MET § 533) – definiert er zwischen 1739 und 1757 in allen selbst von ihm besorgten Auflagen der Metaphysica.9 1735 geht dieser Definition im Vorwort zu den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus der Hinweis auf die freundschaftlichste Ehe (amicissimum connubium) voraus, die Erkenntnistheorie und Medientheorie miteinander eingehen sollen. Die Prolegomena zur Aesthetica bezeugen hingegen keine glückliche und fruchtbare Verbindung, sondern einen fünfzehn Jahre währenden Rosenkrieg, der mit der Scheidung des unglücklichen Paares im ersten Paragraphen beendet wird. Tatsächlich hat der junge Baumgarten ein höchst ungleiches Paar verkuppelt: Geist und Materie, Wahrheit und Methode, Wissenschaft
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„Die Ästhetik (als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“ (AE § 1; Schweizer). „Die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung ist die Ästhetik (als Logik des unteren Erkenntnisvermögens, als Philosophie der Grazien und der Musen, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens, als Kunst des der Vernunft analogen Denkens“ (MET § 533). Zur Editionsgeschichte der sieben Auflagen zu und nach Baumgartens Lebzeiten vgl. Dagmar Mirbach: Einführung. Baumgartens Metaphysica und Baumgartens Metaphysik. In: Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik. Übers. v. Georg Friedrich Meier, nach dem Text der zweiten, von Johann August Eberhard besorgten Ausg. 1783. Hg. v. Dagmar Mirbach. Jena 2004, S. IX–XXIII, hier S. IX.
(scientia) und Fertigkeit (ars) – zwischen all diesen fundamentalen Gegensätzen hätte die Ehe von ‚Erkennen‘ und ‚Darstellen‘ zu vermitteln gehabt. Die Prolegomena weisen daher deutliche Korrekturen des Ehevertrags auf. In der Aesthetica macht Baumgarten aus dem Adverb ‚sensitive‘, das in der Metaphysica die Art und Weise eines doppelwertigen Verfahrens bezeichnet, ein Attribut; aus zwei Gerundien macht er ein Substantiv, sodass aus der dynamischen Tätigkeit, sinnlich zu denken und darzustellen, im Rahmen der alten Definition in der neuen ein statischer Gegenstand wird: die sinnliche Erkenntnis. Die Darstellung dagegen verbannt Baumgarten als ‚Theorie der freien Künste‘ in die Klammer. Während jedoch die ‚Philosophie der Grazien und der Musen‘, die in der Metaphysica eingeklammert ist, ihr Recht auch außerhalb der Klammer behauptet, weil Baumgarten die Ästhetik nun einmal als ‚Wissenschaft des sinnlichen Denkens und Darstellens‘ definiert, wird die ‚Theorie der freien Künste‘ durch die neue Definition in die Latenz verdrängt. Die Aesthetica definiert tatsächlich nur noch eine Wissenschaft – die ‚Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‘. Wie jede andere Erkenntnis auch kann sie Baumgarten nun durch sechs Perfektionskategorien qualifizieren: „Ubertas, magnitudo, veritas, claritas, certitudo, et vita cognitionis“ – Reichtum, Adel, Wahrheit, Licht, Gründlichkeit und Leben (AE § 22; vgl. MET § 515).10 Die rhetorische Herkunft dieser Kategorien kann Baumgarten nach den syntaktisch-semantischen Korrekturen der alten Definition in der Aesthetica getrost vernachlässigen.11 Denn diese Korrekturen ziehen in die zur Superdisziplin verschalteten Disziplinen eine Hierarchie ein, die das Darstellen dem Denken unterordnet. Erst wird gedacht, dann dargestellt; und weil dem so ist, kann die disziplinäre Herkunft der Kategorien einer philosophischen Bestimmung keine Streiche mehr spielen. Eine solche Disambiguierung ist die Voraussetzung dafür, dass Baumgarten die Gelehrtenrepublik von der philosophischen Dignität der Ästhetik überzeugen kann. Eines Philosophen ist sie würdig, weil ihr Gegenstand wahrheitsfähig ist,12 während sie es nicht wäre, wenn Baumgarten die Ambiguität der Ästhetik, ihre Doppelwertigkeit als Wissenschaft des sinnlichen Denkens und Darstellens, nicht hätte korrigieren und der Rhetorik ihre Eigenständigkeit absprechen können. Denn eine rhetorische Darstellung ist im philosophischen Sinn nicht wahrheitsfähig, weil jede Darstellung materialgebunden ist, also nur in der individuellen Erfahrung des Mediums gegeben ist. Die rhetorische Darstellung bedroht das philo10 11
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Vgl. David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge u.a. 1984, S. 53. Vgl. Heinz Paetzold: Rhetorik-Kritik und Theorie der Künste in der philosophischen Ästhetik von Baumgarten bis Kant. In: Gérard Raulet (Hg.): Von der Rhetorik zur Ästhetik: Studien zur Entstehung der modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert. Rennes 1995, S. 7–37; Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger. In: ZfdtPhil 99 (1980), S. 481–506. Zum philologischen, hermeneutischen, exegetischen, rhetorischen, homiletischen, poetischen und musischen Nutzen des Projektes vgl. AE § 4. Zur Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen vgl. AE §§ 5–12.
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sophische Projekt der Ästhetik, es sei denn, Baumgarten kann die Rhetorik in den Dienst eines philosophischen „Prinzips“ stellen, so wie er es in den entsprechenden Paragraphen der Aesthetica vorschlägt: Indigent hinc artes speciales, si veras a spuriis regulis seiungere sit animus, ulteriori principio, ex quo speciales suas regulas cognoscere possint, et hoc, ars aesthetica, ne per eandem male fidam expectationem casuum similium unice stabiliendum sit, ut in formam scientiae redigatur, § 70 (AE § 73).13
Unter dieser heuristischen Voraussetzung kann Baumgarten von den rhetorischen Darstellungen die „Empfindungs-Gesetze“ ableiten, so nennt er die Gesetze der sinnlichen Erkenntnis auch.14 Diese Gesetze beanspruchen Gültigkeit a priori – vor jeder Erfahrung –, während die Darstellungen selbst diesen Gesetzen eine Anschauung unterlegen: „Hinc opus est perspicientia veritatis regularum graviorum a priori, quam dein confirmet ac illustret experientia, sicut illius inveniendae forte primum fuit subsidium“ (AE § 73).15 Bei diesem Vorhaben hat die traditionelle Rhetorik, indem sie das Beschreibungsinventar empirischer Daten bereitstellt, als mediendifferenzierende Theorie der Darstellung, hat die ars gegenüber der scientia eine dienende Funktion inne: Rhetorische Darstellungen veranschaulichen die Prinzipien sinnlicher Erkenntnis. Deshalb ist es für Baumgarten kein Problem, dass er der neuen Superdisziplin der Darstellung erwartungsgemäß mehr Aufmerksamkeit zollt als der Erkenntnis: „hinc aestheticae pars de proponendo prolixior esset quam logicae“ (MED § 117).16 Wenn Menninghaus daher behauptet, „der Begriff ‚Darstellung‘ [sei] in Philosophie, Poetik und Rhetorik [vor 1774] kaum anzutreffen; nach 1790 dagegen [werde] er omnipräsent und zu einer Art Markenzeichen jedes bedeutenden theoretischen Projekts“,17 das mit der Medialität der Erkenntnis kalkuliert, dann muss 13
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„Die speziellen Künste bedürfen also, wenn die wahren Regeln von den unechten abgesondert werden sollen, eines weiter entfernten Prinzips, aus dem sie das Wesen ihrer besondern Regeln erkennen können, und dieses Prinzip, die ästhetische Kunstlehre, muß in die Form einer Wissenschaft gebracht werden, damit sie nicht einzig und allein durch jene unzuverlässige Erwartung ähnlicher Fälle gefestigt werden muß“ (AE § 73; Schweizer). Baumgarten. Philosophische Briefe von Aletheophilus, S. 70. „Daher ist eine deutliche, a priori gültige Erkenntnis der wichtigeren Regeln und ihrer Wahrheit unumgänglich, und es ist die Aufgabe der Erfahrung, diese Wahrheit zu festigen und einleuchtend zu machen, so wie sie vielleicht schon den ersten Anstoß gegeben hat, diese zu finden“ (AE § 73; Schweizer). Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Halle 1735. Zit. nach: Alexander Baumgarten: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Übers. u. hg. v. Heinz Paetzold. Hamburg 1983, S. 3; zitiert mit der Sigle [MED] und der Paragraphenzahl. Die deutschen Übersetzungen folgen derselben Ausgabe: „Über das Darstellen dürfte daher der Teil der Ästhetik umfangreicher als der Teil der Logik sein“ (MED § 117). Winfried Menninghaus: „Darstellung“. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas. In: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt „Darstellen“?. Frankfurt a.M. 1994, S. 205–226, hier S. 205. Vgl. Claudia Albes, Christiane Frey (Hg.): Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800. Würzburg 2003.
Baumgarten als eine der wichtigsten, wenn nicht als die wichtigste Karrierestation des Begriffs betrachtet werden.18 Obwohl Baumgarten in den Prolegomena zur Aesthetica nun eine Reihe von Beispielen für Darstellungen auflistet – Empfindungen, Einbildungen oder Erdichtungen (vgl. AE § 6), eine Liste, die im übrigen völlig unbeschwert erkenntnistheoretische und medientheoretische Begriffe mischt –, hält er die Literatur oder, wie es bei Baumgarten heißt, das Gedicht (poema), für die prototypische Darstellung. Literarische Texte sind der eigentliche Analysegegenstand von Baumgartens ästhetischer Theorie. „Er sah nemlich, damals schon“, erklärt Abbt, wie bey einer Dämmerung: daß die Regeln, nach welchen die Dichter arbeiten, aus Grundsätzen herstiessen müsten, die vielleicht allgemeiner wären, als man sich es jetzt noch vorstellete, und daß sie eines schärfern Beweises fähig seyn dürften, als man bishero davon gegeben.19
Als Grundriss der Aesthetica sind daher die Meditationes der zentrale Ort für die Rekonstruktion einer ihre Gesetze von der Literatur herleitenden ästhetischen Theorie. „[S]o war es doch bereits im 18. Jahrhundert bekannt,“ darauf weist Caygill hin, dass die Aesthetica „lediglich die ausführliche Ausarbeitung der vollständigen Ästhetik war, welche in den Meditationes zu finden ist“20 – der Keimzelle der epistemischen Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘, um deren Rekonstruktion es mir geht. Im Gedicht erkennt der Philosoph zwar andere Prinzipien als diejenigen der Logik, aber immerhin Prinzipien. „Die Erkenntnisbedeutung sensitiver Vorstellungen“ wird „Baumgarten zunächst am Verfahren der Dichtung deutlich“,21 erklärt Scheer im Hinblick auf das Verhältnis von Erkenntnis- und Medientheorie in Baumgartens ästhetischen Schriften. Diese Verfahren analysiert Baumgarten in allen seinen Schriften anhand der unbegrifflichen Stellen in literarischen Texten, das sind zwei- oder mehrgliedrige Strukturen (collationes; vgl. AE § 734). Die collatio „besteht eigentlich darinnen, wenn eine Substanz oder ein Accidens mit einem Accidente zusammen gehalten wird, damit daher erhelle, wie weit sie mit einander übereinkommen, oder auch von einander unterschieden sind“, wie es Zedelers Universal-Lexicon unter dem Lemma „̕ϾΐΆΓΏ΅, Symbole“ definiert.22 Im Gedicht – diesen Begriff verwendet Baumgarten für diese Stellen totum pro parte – „als Inbegriff ästhetisch dichter Beschreibung“ findet Baumgarten nämlich „eine angemessene methodische Heuristik von Verfahrensmodalitäten“ vor, die er „als ars aus dem rhetorischen Repertoire ableitet[].23 18 19 20 21 22 23
Vgl. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Erster Teil: Von der Imitatio-Lehre zur Darstellungstheorie – die Theorie der ‚repraesentatio sensitiva‘ bei A.G. Baumgarten. Abbt: Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens, S. 222f. Howard Caygill: Erfindung und Neuerfindung der Ästhetik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), S. 233–242, hier S. 236. Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt 1997, S. 56. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexivon, Sp. 638. Haverkamp: Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag, S. 17.
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Die Schlussfolgerung, Baumgartens Ästhetik basiere auf einer „Tieferlegung der rhetorischen Techniken“,24 auf der „Internalisierung“ und „Individualisierung“ der Rhetorik,25 liegt infolgedessen durchaus nahe: Wo ein Gedicht – eine (vollkommene) sinnliche Rede (oratio sensitiva perfecta) – ist, da muss eine sinnliche Erkenntnis (cognitio sensitiva) gewesen sein. In den Meditationes und der Aesthetica analysiert Baumgarten ein ums andere Mal Beispiele der Weltliteratur – vor allem der antiken Lyrik und Epik – und präpariert fein säuberlich die symbolische Struktur des Gedichts heraus. Dadurch, dass er ganz im Stillen auf die ‚Vorhernachher‘-, ‚Weil‘-, ‚Indem‘-, ‚Wenn-dann‘- oder ‚Um-zu‘-Relationen zwischen Erkenntnis und Darstellung vertraut, offenbart und vermittelt der literarische Text Baumgarten die Gesetze der sinnlichen Erkenntnis. Der eigentliche Operator dieses Vertrauens ist jedoch das schlichte ‚Wie‘ des Vergleichs. Es sorgt dafür, dass Baumgarten im Gedicht die sinnliche Erkenntnis analysieren und umgekehrt mit den Empfindungsgesetzen die Wahrheit der Literatur legitimieren kann. Als schlichte Sprachoperation führt dieses Denken in Analogien aber gerade nicht in irgendeine Tiefe, und schon gar nicht in eine proto-unbewusste, wie sie Haverkamp vorschwebt; der Vergleich bleibt vielmehr ganz und gar an der Oberfläche der Baumgartenschen Argumentationsbildung. Das aber heißt, dass Baumgarten die sinnliche Erkenntnis und das Gedicht nicht einfach gleichsetzt. Die Analogie operiert vielmehr mit zwei Gegenständen, mit demjenigen der Erkenntnis und mit demjenigen des literarischen Textes, deren buchstäbliche Unvereinbarkeit jeder Vergleich durch die zweistellige Relation abbildet. Weil die Forschung die sprachlichen Verfahren vernachlässigt, mit deren Hilfe Baumgarten die neue Superdisziplin ‚Ästhetik‘ konstituiert; weil sie darüber hinaus die Ambiguität der Disziplin im Zaum hält und die rhetorische ars der ästhetischen Wissenschaft unterwirft; weil sie stets die philosophischen Argumente von der rhetorischen Argumentationsbildung abstrahiert, tritt diese Forschung heute auf der Stelle. Baumgarten bleibt das, was er immer gewesen ist: Der Philosoph, der Logik und Sinnlichkeit am Beginn der Moderne verbindet. Doch in Baumgartens sprachlichen Verfahren liegt eine unerkannte, ja unerhörte Modernität des ansonsten traditionellen, der Leibniz-Wolffschen Schule verpflichteten Philosophen. Sie stellen – gewissermaßen quer zu den durch und durch metaphysischen Positionen, die Baumgarten auf der Suche nach den Empfindungsgesetzen verhandelt – sein ganz und gar unmetaphysisches Denken aus. Denn es sind die figuralen Operationen, die Baumgartens Selbstzensur, die seine Disambiguierung der Ästhetik hintertreiben. Diese Operationen zu verfolgen, verlangt zwar einiges an Geduld, eröffnet dafür aber vielversprechende Möglichkeiten, ausgetretene Pfade der Forschung zu verlassen und die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ zu profilieren.
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Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, S. 52, Anm. 109. Ebd., S. 51.
In den sogenannten „Vorstufen“ zur Aesthetica lassen sich mit dem archäologischen Instrumentarium der Literaturwissenschaft die Spuren der Sprach- und Denkoperationen freilegen,26 die Baumgarten in der Aesthetica größtenteils verschüttet hat. Im Spannungsfeld von Erkenntnis- und Medientheorie entstehen drei Schriften mit unterschiedlichen disziplinären Schwerpunkten, die Baumgarten zunächst nebeneinander stehen lässt, ohne sie auf einen gemeinsamen sachlichen Nenner zu bringen, wie ich es im Folgenden vorhabe: eine Poetik (Meditationes), eine Psychologie und Ontologie (Metaphysica) sowie eine Erkenntnistheorie (Aesthetica). Im dichten Geflecht von Querverweisen nehmen die über tausend Paragraphen sowohl aufeinander als auch auf die zeitgenössischen Standardwerke der jeweiligen Disziplinen Bezug, indem sie ein fortgesetztes Gespräch veranstalten. Es schaltet zwischen den verschiedenen disziplinären Registern hin- und her bzw. verschaltet sie so miteinander, dass gewissermaßen ein interdisziplinäres Relais entsteht. Vom Denken reden, Texte analysieren, Wahrheit wollen – in dieser dreifachen Bewegung entsteht die Sache oder besser: der Gegenstand von Baumgartens ästhetischer Theorie. Seine Konturen sind das Ergebnis einer Arbeit an den eigenen Paragraphen, in denen Baumgarten tentative Begriffe ebenso beharrlich wie umständlich von einer Disziplin in die andere verschiebt. Dabei funktioniert die Rede über das Gedicht mit Hilfe einer Übersetzungsmaschine. Dessen unterschiedliche Aspekte kann Baumgarten nämlich immer mit denselben Begriffen attribuieren, auf die er im Frankfurter Kolleg Verse gemacht hat: ‚Reichtum, Adel, Wahrheit, Licht, Gründlichkeit und Leben‘. Diese Verschiebungen haben keinen Ursprung, vielmehr schließen Baumgartens Paragraphen an jedem einzelnen Attribut den Zirkel der Disziplinen, der im Folgenden an einer (beliebigen) Stelle angehalten werden soll: an der Stelle der Psychologie. Damit bediene ich den Gemeinplatz, dass Baumgartens Ästhetik in der empirischen Psychologie und der dort entwickelten Lehre von den Seelenvermögen gründet. 1.2 Psychologische Versuchsanordnung „Ich trete dem Innern der Baumgartenschen Philosophie näher,“ entkräftet Herder diesen empirischen Zuschnitt der Ästhetik ebenso fein- wie scharfsinnig, „und bemerke, wie sehr dieselbe mit der Sprache verknüpft sei, so daß sich seine Erklärungen, Unterschiede und Beweise oft in das Namentliche zu weben scheinen“.27 Herders Irritation ist dem Umstand geschuldet, dass Baumgarten während der Arbeit an den Paragraphen der Aesthetica in ungewöhnlicher Weise das Gewicht 26 27
Armand Nivelle: Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik. Berlin 1960, S. 7. Johann Gottfried Herder: Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften. In: FA. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985, S. 653–676, hier S. 653.
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von der Sache auf die Begriffe verschiebt, welche die Sache konstituieren, dass er also weniger philosophisch oder psychologisch als philologisch verfährt. Namentlich bemerkenswert ist der zentrale Begriff, den Baumgarten als häufigstes Attribut verwendet – der Begriff ‚sinnlich‘. Weil Baumgarten mit diesem Begriff alles Mögliche und nichts Besonderes attribuiert, rauft sich Herder die Haare. „Wir Deutsche streiten um Worte, wie andre Nationen um Sachen“, räsoniert er anlässlich seiner Lektüre von Riedels Theorie der schönen Künste, die auf der Folie Baumgartens erfolgt, wir sind in Erklärungen so glücklich, als andre in Erfindungen, und so hat auch in dieser Erklärung Baumgarten ein Wort gebraucht, das bis zur Vieldeutigkeit reich und prägnant ist, das also auch bis zum Streit und zum Mißbrauch vieldeutig werden kann: das Wort: sinnlich. Wie viel Begriffe paaret die Deutsche Philosophie mit diesem Worte! Sinnlich leitet auf die Quelle und das Medium gewisser Vorstellungen, und das sind Sinne: es bedeutet die Seelenkräfte, die solche Vorstellungen bilden, das sind die sogenannten untern Fähigkeiten des Geistes: es charakterisiert die Art der Vorstellung, verworren und eben in der reichen, beschäftigenden Verworrenheit angenehm zu denken, d.i. sinnlich: es weiset endlich auch auf die Stärke der Vorstellungen, mit der sie begeistern, und sinnliche Leidenschaften erregen – auf alle vier Gedankenwege zeigt das vielseitige Wort sinnlich, sensitiv, nach Wolfs, Baumgartens, und Moses Bestimmung.28
Alle Stufen im Prozess der vernunft-analogen Datenverarbeitung: Daten (Sinne), Organon (Erkenntnisvermögen) und Produkte (Vorstellungen) – letztere sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht – werden mit ein und demselben Wort bezeichnet; und Baumgartens Begriffspolitik hat zu dieser Inflation nicht unwesentlich beigetragen. Die Meditationes und die Metaphysica leisten die Vorarbeiten, aufgrund deren der Begriff ‚sinnlich‘ für die Aesthetica einsatzbereit wird. Vor allem die Metaphysica, in der Baumgarten sowohl die empirische als auch die rationale Psychologie behandelt, gilt deshalb als Grundlage der Ästhetik, in der Baumgarten sein Glaubensbekenntnis ausarbeitet: „Sint ergo ΑΓΘΣ cognoscenda facultate superiore obiectum Logices; ΅ϢΗΟΘΣǰȱ πΔΗΘφΐΖȱ ΅ϢΗΟΘΛϛΖ sive AESTHETICAE“ (MED § 116; vgl. AE § 631),29 so legt er nämlich bereits in den Meditationes fest. In der Erfahrungspsychologie (psychologia empirica) profiliert Baumgarten die Sinnnlichkeit „als ein dem Verstand gegenüber eigenständiges Organon der Erkenntnis“, weil es „in einer ihr eigentümlichen Weise den Zusammenhang der Dinge“ vergegenwärtigen kann.30 Daher werden in dieser Konzeption die Gesetze der „empfindende[n] Weltvergegenwärtigung“31 oder „empfindende[n]
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Herder: Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste, S. 377f. „Es seien also die ΑΓΘΣ – das, was durch das höhere Vermögen erkannt werden kann – Gegenstand der Logik, die ΅ϢΗΟΘΣ dagegen seien Gegenstand der πΔΗΘφΐȱ ΅ϢΗΟΘΛϛ (= der ästhetischen Wissenschaft) oder der ÄSTHETIK“ (MED § 116). Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972, S. 37. Ebd., S. 41.
Weltaneignung“ von der Psychologie geschrieben.32 Bekanntermaßen widerspricht Baumgartens Gleichstellung von Verstand und Sinnlichkeit der von Leibniz begründeten und in Wolffs Psychologia empirica (1732) festgelegten topischen Ordnung der Seelenvermögen, in der die Erkenntnis in einen oberen hellen Teil und einen unteren dunklen Grund (fundus animae) parzelliert wird. Baumgarten überführt Leibniz’ vertikale Raumordnung in eine horizontale, in der die Sinnlichkeit gleichrangig und gleichwertig neben dem Verstand steht. Im Gegensatz zum Affekt des 17. und dem Gefühl des späten 18. Jahrhunderts folgt die sinnliche Erkenntnis auch logischen, und zwar analogischen Gesetzmäßigkeiten. Sie ist in ihren formalen Verfahren analysierbar, sodass es für Baumgarten keine emphatische Irrationalität wie später für Herder gibt. Die wichtigste Figur der Baumgartenschen Theoriebildung ist daher die Analogie, die ‚Wie‘-Relation, die dazu führt, dass Baumgarten zunächst das Wort ratio von der Logik zur Ästhetik verschiebt, wo es als analogon rationis diese figurale Operation sowohl benennt als auch abbildet. Sobald diese vollzogen ist, gelten für die sinnliche Erkenntnis zwar nicht die gleichen, aber doch vergleichbare Gesetze wie für die logische: ‚Reichtum, Adel, Wahrheit, Licht, Gründlichkeit und Leben‘. Willer fasst solche figuralen Operationen unter dem Schlagwort der Etymologie zusammen. Darunter fallen für ihn „alle sogenannten symbolischen oder analogen Figuren“, die der etymologischen Arbeit der Verschiebung und Übertragung dienen.33 Dass diese Textarbeit als Etymologie bezeichnet wird, begründet Willer mit der rhetorischen Tradition, die einerseits bestimmte Verfahren in der Findungslehre der Beweisgründe (inventio / Topik), andererseits bestimmte Figuren in der Stillehre (elocutio / Evidenz) als etymologische bezeichnet. Am Ende der langjährigen Suche nach den Grundfesten der Ästhetik macht Baumgarten im Frankfurter ‚Kollegium über die Ästhetik‘ eine Szene auf, die zeigt, dass seiner Analogie zwischen Sinnlichkeit und Verstand tatsächlich ein solches etymologisches „Sprachdenken“ zugrunde liegt. Im ersten Paragraphen der Kollegnachschrift stellt Baumgarten die annoncierte Superdisziplin auf das psychologische Fundament der sinnlichen Wahrnehmung, das sich bereits bei der ersten Erwähnung des Wortes als „Fundament von Wörtlichkeit“ entpuppt.34 Mit der Geste, die ‚Wissenschaft von allem, was sinnlich ist‘, auf ihre ursprüngliche Bedeutung, und das heißt auf ein Stammwort, zurückzuführen, das in möglichst engem, am besten ontologisch motiviertem Verhältnis zur Sache steht, wählt Baumgarten das entsprechende 32 33
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Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart 1990, S. 20. Jacques Derrida: Weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Übers. v. Gerhard Ahrens. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1988, S. 208– 231, hier S. 210. Stefan Willer: Orte, Örter, Wörter. Zum locus ab etymologia zwischen Cicero und Derrida. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz. DFG-Symposion 2002. Stuttgart u. Weimar 2004, S. 39–58, hier S. 39. Vgl. Ders.: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik. Berlin 2003, S. 27–80.
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Mittel der rhetorischen Beweisführung: die Herleitung des Wortes vom locus ab etymologia.35 Die so gewonnenen argumenta ex vi verbi fasst er in der Definition der Stammwörter zusammen, die den wesensmäßigen Grund der Ästhetik – des Wortes ‚Ästhetik‘ – bilden: Es kommt eigentlich von ΅ΗΟ΅ΑΓΐ΅ her; dieses Wort bezeichnet das, was sentio im Lateinischen bezeichnet, nämlich alle klaren Empfindungen. Da die Empfindungen in äußerliche und innerliche eingeteilt werden, in solche, die in meinem Körper als mir bewußt vorgehen und sich auf alle Sinne beziehen, oder in solche, die nur in meiner Seele vorgehen, so wird dieses Wort, das klare Empfindungen überhaupt bezeichnet, auf beides gehen. Da ferner das Wort sentio etwas sinnlich wahrnehmen bezeichnet, das griechische aber mit ihm völlig einerlei ist, so wird es auch sinnliche Vorstellungen bezeichnen (KOLL § 1; vgl. MET § 535).
Doch Baumgartens Etymologie schlägt Haken, sie stellt ein figurales Verfahren aus, das nicht den Ursprung, „ein semantisches Jenseits“ der Sprache, erreicht, sondern in einem Prozess „fortwährende[r] Verschiebung […] immer nur auf andere Wörter“ verweist.36 In einem durchaus zirkulären Schluss setzt Baumgarten nämlich eine Tätigkeit: ‚Ich nehme sinnlich wahr‘ (aisthanomai / sentio) oder ‚ich empfinde‘,37 mit dem Ergebnis dieser Tätigkeit gleich: der (äußeren oder inneren) ‚klaren Empfindung‘, der dann – etymo-logisch begründet – die gleiche Qualität zukommt, die das Verb bezeichnet: das Haben der ‚sinnlichen Vorstellung‘. In dieser Definition verkehrt Baumgarten das topische Verfahren der Beweissicherung in ein stilistisches der Ausschmückung – in eine figura etymologica im weiteren Sinn, die aufgrund der Verschiebungen des Wortstamms von einem Wort oder einer Wortart zur anderen zwar sicherlich Wörter hervorbringt, der Disziplin aber keinen ontologischen Ursprung sichert. Dabei verwandelt sich die Etymologie von einer Methode mit semantischer Tiefenwirkung zu einem ornamentalen Verfahren an der Oberfläche des Diskurses – zu einem Verfahren, das gleichwohl semantische Effekte zu zeitigen versteht. Ein solches etymologisches Verfahren, das im schulphilosophischen Wörterbuch operiert, sei in der Philosophie „zu neuen Bahnen förderlich“, wie Herder präzise erkennt:38 Allein, wenn ein deutscher Philosoph sich fände, der allen Gebrauch der Schulen und alle griechische und römische Philosophie vergessen könnte, (eine sehr schwere Kunst!) und in unsrer Sprache gleichsam von Grund aus philosophierte; nicht die Benennungen derselben als Anhänge hinter das angenommene Schulwort setzte, es mag nun Latein oder lateinisch Deutsch sein – sondern sich zur Hauptabsicht nähme, unsrer Sprache eine Philosophie anzuschaffen. Er ginge von dem gewöhnlichen Gebrauch eines Worts aus, suchte seinen Begriff zu entwickeln, zu bestimmen, zu erklären, und wo es Not tut, aus der rezipierten Philosophie andrer Sprachen zu verbessern.39
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Vgl. Cic. Top. 2, 8ff. Willer: Orte, Örter, Wörter, S. 19. Vgl. Baumgartens eigene Übersetzung in [MET], § 534, Anm. Herder: Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften, S. 654. Ebd., S. 653f.
Baumgartens Verfahren der Argumentationsbildung lässt sich nur um den Preis grober Vereinfachung von den philosophischen Argumenten abheben, für die sich die Forschung bisher interessiert hat. Denn diese Argumente gehen nicht auf das Konto der Sache, sondern der Begriffe, sobald Baumgarten beispielsweise in der Metaphysica die vernunft-analoge Erkenntnis auf der Grundlage der traditionellen Annahme definiert, dass die Seele als reflexives Organon eine vorstellende Kraft (vis repraesentativa) ist: Cogito statum meum praesentem. Ergo repraesento statum meum praesentem, i.e. SENTIO. Repraesentationes status mei praesentis seu SENSATIONES (apparitiones) sunt repraesentationes status mundi praesentis, § 369 (MET § 534; vgl. MED § 24; § 27).40
Tatsächlich buchstabiert die philosophische Definition der Empfindung (sensatio) als Vorstellung (repraesentatio) aber nur das nach, was Baumgarten in der Textarbeit im literalen Sinn des Wortes vorgeschrieben hat. Im etymologischen Prozess der Worterzeugung wird aus sensio (vgl. MED § 27), dem Substantiv, das sich von sentire herleitet – Baumgarten verwendet es vor allem in den Meditationes – durch die Einfügung der Buchstaben at die sensatio. Dadurch, dass Baumgarten im etymologisch-figuralen Verfahren erstens den Wortstamm von einer Wortart zur anderen verschiebt und zweitens zwei Buchstaben ergänzt, antizipiert er materialiter, was die Definition erst mühsam nachträgt bzw. als logische Ableitung verkleidet. Die Buchstaben at markieren den konzeptuellen Aspekt der Sinnlichkeit, das heißt sowohl die Wiederholbarkeit der Empfindung als auch deren Ausrichtung an einem Bewusstsein, für das diese Empfindung gegeben ist. Das Argument der Wiederholung wird durch das Präfix re abgebildet, dasjenige der Anschauung durch das Präfix prae. Zusammen ergeben sie mit der sensatio das der Sache nach längst überflüssige Wort: re/prae/sentatio, bei dem lediglich noch das s von sensatio gegen das t in /sentatio ausgetauscht wird. Empfindungen – oder sinnliche Vorstellungen – analysiert Baumgarten nun erstens im Hinblick auf die zeitlichen Relationen von Vergegenwärtigung und vergegenwärtigten Zuständen sowie deren Veränderungen (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft), zweitens im Hinblick auf die Medien der Vergegenwärtigung (Einbildung, Dichtung, Voraussicht, Wahrsagung) und drittens im Hinblick auf diejenigen grundsätzlichen sinnlichen Operationen, die Zustände miteinander vergleichen (Ähnlichkeit und Verschiedenheit). In der Metaphysica leitet er von den Eigenschaften der Empfindungen die Reihe der Empfindungsvermögen (facultates sentiendi) ab, die das untere Erkenntnisvermögen (facultas inferior) differenzieren: Die Einbildungskraft (phantasia) (MET §§ 557ff.; vgl. AE § 31) Vermögen durchdringender Einsicht (perspicacia) (MET §§ 572ff.; vgl. AE § 32) 40
„Ich denke meinen gegenwärtigen Zustand. Also stelle ich mir meinen gegenwärtigen Zustand vor, d.h. ich empfinde. Die Vorstellungen meines gegenwärtigen Zustandes oder die Empfindungen (Erscheinungen) sind Vorstellungen des gegenwärtigen Zustandes der Welt“ (MET § 534).
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Vermögen, Ähnlichkeiten zu erfassen (ingenium) (MET § 572) Vermögen, Verschiedenheiten zu erfassen (acumen) (MET § 573) Das Gedächtnis (memoria) (MET §§ 579ff.; vgl. AE § 33) Das Dichtungsvermögen (facultas fingendi) (MET §§ 589ff.; vgl. AE § 34) Das Urteilsvermögen (iudicium) (MET §§ 606ff.; AE § 35) Das Vermögen der Voraussicht (praevisio) (MET §§ 595ff.; vgl. AE § 36) Das Erwartungs- und Ahnungsvermögen (praesagitio) (MET §§ 610ff.; vgl. AE § 36) Das Bezeichnungsvermögen (facultas characteristica) (MET §§ 619ff.; AE § 37)41
Gemessen an dem etymologischen Aufwand ist es nun freilich erstaunlich, dass Baumgarten an dem Punkt, an dem er sich mit den Empfindungen eingehender beschäftigt, nicht auf die Stammwörter vertraut, sondern ein Fremdwort einführt, um die sinnlichen Vorstellungen angemessen zu charakterisieren: „REPRAESENTATIO non distincta SENSITIVA vocatur. Ergo vis animae meae repraesentat per facultatem inferiorem perceptiones sensitivas“ (MET § 521).42 Während das Attribut ‚distinctus‘ die sinnlich-undeutliche von der logisch-deutlichen Vorstellung in qualitativer Hinsicht unterscheidet, scheint das Attribut ‚sensitivus‘ zunächst überflüssig zu sein. Denn die sinnlichen Vorstellungen (sensationes) waren doch aufgrund ihrer Etymologie bereits sinnlich. Sind sie jetzt etwa noch sinnlicher geworden? Die Verwendung des Begriffs ‚sensitivus‘, klärt Franke das Missverständnis auf, impliziert „eine Unterscheidung“ der Empfindung „vom Sensuellen“.43 Soll heißen: Der Begriff stellt eine bestimmte Perspektive auf den Prozess sinnlicher Datenverarbeitung ein, die weniger psychologischen als vielmehr erkenntnistheoretischen Interessen geschuldet ist. Das Attribut ‚sensitivus‘ markiert eine Differenz zum Attribut ‚sensualis‘ – dem vom Substantiv ‚sensus‘ abgeleiteten Adjektiv –, die das Unsinnliche am Sinnlichen betont: „[S]ensitiv meint nicht sensual“.44 Dabei ergänzt diese Differenz das konzeptuelle Argument um ein anderes, das es im Folgenden zu bestimmen gilt. Die Kollegschrift bietet dazu einen aufmuntern41
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Eine etwas andere Zusammenfassung bietet Baumgarten einige Paragraphen später an: „1) inferior facultas identitates rerum cognoscendi, §. 572, 279 quo ingenium sensitivum, §. 575. 2) inferior facultas diversitates rerum cognoscendi, §. 572, 279. quo acumen sensitivum pertinet, §. 575. 3) memoria sensitiva, §. 579, 306. 4) facultas fingendi, §. 589. 5) facultas diiudicandi, § 606, 94. quo iudicium sensitivum, §. 607. & sensuum, §. 608. 6) exspectatio casuum similium, §. 610, 612. 7) facultas characteristica sensitiva, §. 619, 347. Hae omnes, quatenus in repraesentando rerum nexu rationi similes sunt, constituunt ANALOGON RATIONIS, §. 70. complexum facultatum animae nexum confuse repraesentantium“ (MET § 640). „Eine nicht deutliche Vorstellung wird sinnlich genannt. Also vergegenwärtigt die Kraft meiner Seele durch das untere Erkenntnisvermögen sinnliche Vorstellungen“ (MET § 521). Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 40. Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Darmstadt 1981 [ND der 2. Ausg. 1967], S. 214. Vgl. hingegen Schweizer: „Wir haben daher keinen Grund, zwischen ‚sensualis‘ und ‚sensitivus‘ zu unterscheiden“ (Schweitzer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 22).
den Hinweis an: „Man sehe hier nicht auf die Werkzeuge derselben [der scharfen Sinne, F.B.], z.B. auf das Auge oder Ohr“ (KOLL § 29), auf die „Hülfs-Mittel“, „Waffen“ oder „Werkzeuge[]“ der Empfindung.45 Die Fähigkeit des Empfindens (facultas sentiendi) bezieht sich primär auf „ein inneres Bewußtsein“, ein „innere[s] Gefühl“ (KOLL § 29) oder den inneren Sinn (sensus internus) und nur sekundär auf den äußeren Sinn (sensus externus), der lediglich den Grundstoff (materia) der Empfindung liefert (vgl. MET § 535; AE § 30). Die beiden konkurrierenden Attribute ‚sensualis‘ und ‚sensitivus‘ treffen als Marker eines je verschiedenen Interesses an der Sinnlichkeit daher auch lediglich in den Meditationes und dort auch nur ein einziges Mal aufeinander: „REPRAESENTATIONES mutationum repraesentantis praesentium sunt SENSUALES eaeque sensitivae“ (MED § 24).46 Als sogenannte „originale Definition“ importiert Baumgarten den Begriff ‚sensitivus‘ samt seiner ethischen Implikationen aus Wolffs Psychologie in die eigenen Schriften. Wolff unterscheidet zwischen Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen, wobei er das ‚sensitive Begehren des Guten‘ vom verstandesbzw. vernunftgemäßen Wollen absetzt: „Appetitus sensitivus dicitur qui oritur ex idea boni confusa“.47 Wichtiger als die Sache ist zunächst wiederum Baumgartens etymologisches Verfahren der Argumentationsbildung – die Übertragung des Begriffs ‚sensitivus‘ aus der Triebtheorie in die Erkenntnistheorie: „REPRAESENTATIONES per partem facultatis cognoscitivae inferiorem comparatae sint SENSITIVAE“ (MED § 3),48 definiert Baumgarten und rechtfertigt die Übersetzung, die aus dem ‚sensitiven Begehren‘ (appetitus sensitivus) die ‚sensitiven Vorstellungen‘ (repraesentationes sensitivae) macht, mit der Analogie. Trieb und Vorstellung gleichen sich in der ihnen gemeinsamen Eigenschaft des Verworrenen (confusus): Quoniam appetitus quam diu ex confusa boni repraesentatione manat, sensitivus appellatur: confusa autem cum obscura repraesentatione comparatur per facultatis cognoscitivae inferiorem partem, poterit idem nominis ad ipsas etiam repraesentationes applicari, ut distinguantur ita ab intellectualibus distinctis per omnes gradus possibiles (MED § 3, Anm.; Hervorh. F.B.).49
Die Analogie der Sachen täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Baumgarten den Begriff ‚sensitivus‘ zunächst semantisch entleeren muss, um ihn überhaupt verschieben und in der fremden Disziplin wieder füllen zu können. Durch diese Ent45 46 47 48 49
Baumgarten: Philosophische Briefe von Aletheophilus, S. 72. „VORSTELLUNGEN von gegenwärtigen Veränderungen des Vorstellenden sind EMPFINDUNGEN. Diese sind sensitiv“ (MED § 24). Vgl. Christian Wolff: Psychologia empirica. In: Gesammelte Werke. Hg. v. Jean École u.a. 2. Abt. Bd. 5 Hildesheim u. New York 1968 [ND d. Ausg. Frankfurt / Leipzig 1738], § 580. „VORSTELLUNGEN, die durch den niederen Teil des Erkenntnisvermögens erworben worden sind, sollen SENSITIV heißen“ (MED § 3). „Da das Streben, solange es aus einer verworrenen Vorstellung des Guten herrührt, sensitiv genannt wird, und da eine verworrene Vorstellung zusammen mit einer dunklen durch den niederen Teil des Erkenntnisvermögens erworben wird, so kann man denselben Namen auch auf die Vorstellungen selbst anwenden, damit man sie so von den verstandesmäßigen, in allen möglichen Graden deutlichen unterscheiden kann“ (MED § 3 Anm.).
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leerung des Begriffs rückt das etymologische Oberflächenverfahren in den Vordergrund, die Sache selbst tritt in den Hintergrund. Das so geschaffene Kunstwort unterscheidet sich von den bisher eingeführten Stammwörtern sentire-sensio-sensatio deshalb vor allem durch die Ergänzung der Buchstaben itiv, die im Adjektiv den generativen Aspekt der Sinnlichkeit markieren. Herder ist einer der ersten, der in der Gleichsetzung ‚sinnlich, sensitivus‘ diese etymologisch hergestellte Differenz der Begriffe kassiert. Ihm folgen die deutschen Übersetzungen, die alles, was irgendwie mit der Buchstabenfolge sens beginnt, pauschal mit ‚sinnlich‘ übersetzen. Lediglich die Übersetzungen der Meditationes verdeutschen das fremde Wort: sensitiv. Wenn ich daher im Folgenden weiterhin durchgängig den Sachbegriff ‚sinnlich‘ verwende, dann trotz Baumgartens Begriffspolitik im Hinblick auf die größere Anschlussfähigkeit des Begriffs in der ästhetischen Tradition. Die Konsequenzen, die das etymologische Verfahren in inhaltlicher Hinsicht zeitigt, bringt die Forschung allenthalben auf den Begriff, während sie das Verfahren selbst übergeht, ja es gar nicht erst bemerkt. Man hat sich seit langem darauf verständigt, dass der Begriff ‚sensitivus‘ an der Empfindung ein selbstständiges, „produktives Gestalten“ betone.50 Die cognitio sensitiva stelle „die Befähigung des Menschen zum strukturierten Hervorbringen, zum sinnhaft-gestaltenden Handeln“,51 eine Aktivität oder ein „eigenständiges Organon“ dar,52 das die Zustände des Selbst und der Welt, deren Veränderungen und Zusammenhänge auf eine bestimmte Art und Weise vergegenwärtige. Aufgrund einer gewissen philosophischen Betriebsblindheit erreichen die Diskussionen schnell ein Niveau, das von Baumgartens konkreter Textarbeit abstrahiert. Sie treffen sich bei der Beurteilung der Baumgartenschen Empfindungsaktivität stattdessen auf einem philosophiegeschichtlichen Nenner: Welche Beziehung besteht zwischen Baumgartens psychologisch begründeter Ästhetik und Kants transzendentalphilosophisch begründeter? Während Paetzold unterstellt, dass Baumgartens Fundierungen der Ästhetik bei Kant ihr Ziel erreichen,53 verneint Schweizer eine solche Teleologie. „Die ‚transzendentale Ästhetik‘ als die ‚Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori‘ hat mit der neuen Disziplin Baumgartens fast nur noch den Namen gemeinsam“.54 Im Gegensatz zu Kant betone Baumgarten „die Kontinuität zwischen Sinnlichkeit und Vernunft an Stelle einer strikten Trennung zwischen Verstandes- und sinnlichem Vermögen“; beide seien „dem Grad und nicht der Art nach verschieden“, erläutert Caygill diese Inkompatibilität,55 die für Bahr einen schier unüberwindbaren „Abstand“ darstellt.
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Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 22. Steffen W. Groß: Felix aestheticus. Die Ästhetik als Lehre vom Menschen. Zum 250. Jahrestag des Erscheinens von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica. Würzburg 2001, S. 70. Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 37. Vgl. Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer. Wiesbaden 1983, S. 54. Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 23. Caygill: Erfindung und Neuerfindung der Ästhetik, S. 239.
Während Baumgarten im unwägbaren Schwellenraum auf der Grenze zur Schulphilosophie ausharrt, die er gehörig strapaziert, aber doch nicht überwinden kann, sieht Kant die Landschaft des menschlichen Bewusstseins in neuem Licht – und erkennt die Grenzverläufe, für die er in der Transzendentalphilosophie eine Karte anlegt.56
Hinter dieser gelehrten Diskussion verbirgt sich jedoch nichts anderes als ein etymologischer Streit – der Streit um die Bedeutung des Wortes ‚sensitivus‘. Hat ‚sensitivus‘ transzendentale Bedeutung, oder anders gewendet: Fragt Baumgarten ‚schon‘ nach den Bedingungen der Möglichkeit der sinnlichen Datenverarbeitung und unterstellt dabei ein Betriebssystem (sensitivus), auf dessen Grundlage der Prozess abläuft, das aber selbst von diesem Prozess unabhängig ist? Oder hat das Wort eine andere Bedeutung, und anders kann in diesem Zusammenhang nur heißen: keine transzendentale? Die Etymologie entscheidet ebenso über die Sachfrage, ob das Verhältnis von Verstand und Sinnlichkeit auf einer Kontinuität oder Differenz beruhe; und sie entscheidet damit auch über das Verhältnis, das Baumgartens und Kants Ästhetiken unterhalten. Zu den Feinheiten des Wortes ‚Ästhetik‘ und der Sache, die dieses Wort benennt, führt freilich nur die noch genauere Beobachtung von Baumgartens Textarbeit, die sich nicht auf einfache Aussagen reduzieren lässt, sondern deren Verfahren selbst bedeutungsrelevant sind. Im Falle des Wortes ‚sensitivus‘ führen diese etymologischen Operationen aus der Psychologie in die Rhetorik, wo der Begriff sein Profil erhält. 1.3 Rhetorische Übersetzung ‚Sensitivus‘ ist das fremde Wort, das Baumgarten von seinen angestammten Bedeutungsinhalten entleert, um es danach mit neuen Bedeutungsinhalten aufzufüllen. Dieser Prozess von Entleerung und Auffüllung geht der Metaphysica voraus, in der Baumgarten mit Hilfe des Begriffs lediglich den erkenntnistheoretischen Mehrwert der Psychologie abschöpft: Empfindungen sind nicht bloß Konzepte, sondern generative Konzepte. Der disziplinäre Kontext, in dem der Begriff ‚sensitivus‘ das erste Mal auftaucht, ist nicht derjenige der Psychologie, sondern derjenige der Rhetorik. In den Meditationes verwendet Baumgarten den Begriff, um in den ersten sechs Paragraphen die Rede zu definieren, bevor er das Gedicht als besondere Form der Rede behandelt – bevor er von der allgemeinen Disziplin der Rhetorik in die besondere der Poetik wechselt. „ORATIONEM cum dicimus, seriem vocum repraesentationes connexas significantium intelligimus“ (MED § 1),57 definiert Baumgarten und schließt umgekehrt: „Ex oratione repraesentationes connexae cognoscendae sunt, § 1“ (MED § 2).58 Nachdem er im dritten Paragraphen das unerwartete 56 57
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Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, S. 173. Baumgarten verweist bei dieser Definition auf Aristoteles (Herm. 16 b): „Unter einer REDE verstehen wir eine Reihe von Wörtern, die zusammenhängende Vorstellungen bezeichnen“ (MED § 1). „Aus einer Rede sind zusammenhängende Vorstellungen zu erkennen, § 1“ (MED § 2).
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Fremdwort ‚sensitivus‘ für Vorstellungen eingeführt hat, die vom unteren Teil des Seelenvermögens gebildet werden, spezifiziert er die Definition der Rede, die ihren Gegenstand nicht auf den Begriff bringt, sondern veranschaulicht: „ORATIO repraesentationum sensitivarum sit SENSITIVA“ (MED § 4).59 Während sich am etymologischen Verfahren der Argumentationsbildung nichts ändert – das Wort ‚sensitivus‘ wird von der einen Seite der Definition auf die andere übertragen und dadurch auf beiden Seiten abgebildet, auf der Seite der Rede wie auf der Seite der Wörter –, spielen sich in den ersten Paragraphen dennoch dramatische Dinge ab. Denn der Begriff ‚sensitivus‘ ist das Einfallstor der Rhetorik in die Psychologie bzw. in die Erkenntnistheorie. Er attribuiert sowohl die Vorstellung (cognitio / repraesentatio sensitiva)60 als auch das Medium (oratio sensitiva). Zu Recht fragt Campe daher, ob Baumgartens „phänomenale Ästhetik“ die Rhetorik interpretiere, oder ob die Aesthetica „eine materiale Rhetorik und Poetik“ entwerfe.61 Welche Rolle spielt also die Rhetorik in Baumgartens Theorie? Er selbst fordert einen experimentellen Einsatz der Rhetorik, den er vom üblichen „actum compilationis“ abgrenzt (KOLL § 114). Gemessen an diesem Anspruch scheint die Funktion der Rhetorik in den ästhetischen Schriften eher konventionell auszufallen. Wie viele andere vor ihm auch verwendet Baumgarten sie als argumentative Formatvorlage.62 Bereits die Hallenser Magisterarbeit ist nach den klassischen officia oratoris gegliedert (vgl. MED § 10; AE §§ 13, 18–20): Heuristik (inventio), Methodik (dispositio) und Semiotik (elocutio). Obwohl Baumgarten die Paragraphen der Meditationes schlicht durchnummeriert und weder Teile noch Kapitel hervorhebt, behandelt er doch nacheinander den Gegenstand des Gedichts (vgl. MED §§ 12–64), dessen Ordnung (vgl. MED §§ 65–71) und dessen Ausdruck (vgl. MED §§ 72–117). Lehrbuchmäßig organisiert er später die Aesthetica in zwei Teile, einen theoretischen (aesthetica docens) und einen praktischen (aesthetica utens). Der erste Teil der theoretischen Ästhetik (aesthetica theoretica) umfasst die Kapitel inventio (Gegenstand), dispositio (Ordnung) und elocutio (Ausdruck): Aesthetica nostra §. 1. sicuti logica, soror eius natu maior, est I) THEORETICA, docens, generalis, P[ars] I. praecipiens 1) de rebus et cogitandis HEURISTICE. C[aput] I. 2) de lucido ordine, METHODOLOGIA C[aput] II. 3) de signis pulcre cogitatorum et dispositorum, SEMIOTICA, C[aput] III. II) PRACTICA, utens, specialis. P[ars] II (AE § 13).63
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„Eine REDE, die aus sensitiven Vorstellungen besteht, sei SENSITIV genannt“ (MED § 4). Bei Baumgarten sind ‚cognitio‘ und ‚repraesentatio‘ synonyme Begriffe. Rüdiger Campe: Bella evidentia. Begriff und Figur von Evidenz in Baumgartens Ästhetik. In: Zeitschrift für deutsche Philosophie 49 (2001), S. 243–255, hier S. 252. Die Gliederung folgt Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica. In: Ders., Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente. Bd. 6. Hg. v. Johann Nicolaus Frobes. Hildesheim u. New York 1980 [ ND der Ausg. Helmstedt 1746]. „Unsere Ästhetik gliedert sich wie die Logik, ihre ältere Schwester, wie folgt: I) Theoretische Ästhetik. Sie lehrt und gibt allgemeine Regeln an die Hand (1. Teil): a) über die Sachen und die Gedanken: Kap. 1, Heuristik, b) über die klare Ordnung: Kap. 2, Methodenlehre, c) über die
Quer zu dieser Gliederung nach den partes rhetorices verläuft bereits in den Meditationes eine zweite: Sie organisiert die Paragraphen von der Stillehre (elocutio) her. Denn Baumgarten behandelt drei Begriffe, die das Attribut der Rede – ‚sensitivus‘ – in drei Aspekten entfalten: confusus, clarus, vividus.64 Leicht kann man in diesen Begriffen die drei wichtigsten der sechs rhetorischen Stilkategorien entdecken, um die sich bei Baumgarten alles dreht: ubertas aesthetica, lux aesthetica, vita cognitionis aesthetica. Konsequent organisiert Baumgarten auch die 53 fertiggestellten Abschnitte der Heuristik (inventio) seiner Aesthetica nach sechs stilistischen Argumentationsorten: ubertas aesthetica, magnitudo aesthetica, veritas aesthetica, lux aesthetica, persuasio aesthetica und vita cognitionis aesthetica.65 Innerhalb dieser Argumentationsorte greift mit der Untergliederung der einzelnen Topoi in ‚generatim‘ und ‚speciatim‘ nicht nur ein weiteres zweiteiliges Schema antiker Rhetorik,66 sondern unter ‚speciatim‘ werden auf breitem Raum auch die Figuren der elocutio behandelt, die den Gegenstandsbereich der inventio überschreiten. In der Frankfurter Kollegnachschrift bekennt sich Baumgarten zu diesem Experiment, die Figuren einmal nicht wie „sonst noch nach der gewöhnlichen Leier“ einzuteilen, sondern sie stattdessen auf die Argumentationsorte zu verteilen: „[W]ir werden sie aber mit Grund nach den sechs Stücken der Erkenntnis einteilen“ (KOLL § 26). Im 11. Abschnitt der Aesthetica analysiert er am Ort des ‚ästhetischen Reichtums‘ (ubertas aesthetica) ‚bereichernde Argumente‘ (argumenta locupletantia), im 23. Abschnitt am Ort der ‚ästhetischen Größe‘ (magnitudo aesthetica) ‚erweiternde Argumente‘ (argumenta augentia), im 33. Abschnitt am Ort der ‚ästhetischen Wahrheit‘ (veritas aesthetica) ,beweisende Argumente‘ (argumenta probantia), im 43. Abschnitt am Ort des ‚ästhetischen Lichts‘ (lux aesthetica) ‚veranschaulichende Argumente‘ (argumenta illustrantia), im 53. Abschnitt am Ort der ästhetischen Überredung (persuasio aesthetica) ‚überredende Argumente‘ (argumenta persuasoria); und in einem Abschnitt am geplanten Ort des ‚ästhetischen Lebens der Erkenntnis‘ (vita cognitionis aesthetica) hätte Baumgarten der Vollständigkeit halber noch ‚leidenschaftliche Argumente’ (argumenta ardentia) analysieren müssen. Die Abschnitte sind aber nicht wirklich nebengeordnet, der 43. Abschnitt, der die sogenannten Lumina behandelt, ist den anderen überge-
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Ausdrucksmittel des schön Gedachten und Angeordneten: Kap. 3, Semiotik. II) Praktische Ästhetik. Sie behandelt die Anwendung im Einzelfall (2. Teil)“ (AE § 13; Schweizer). Der in der Aesthetica neu hinzukommende Argumentationsort ‚ästhetische Wahrheit‘ (veritas aesthetica) entwirft eine Wahrheitstheorie, der Ort ‚ästhetische Größe‘ (magnitudo aesthetica) behandelt ethische Fragen. In der Synopsis der Aesthetica werden die Begriffe ‚claritas‘ und ‚certitudo‘ durch ‚lux‘ und ‚persuasio‘ ersetzt. Vgl. Klaus Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg v.d.H. u.a. 1968. Linn beschreibt exemplarisch das Strukturschema des Argumentationsortes der ‚ästhetischen Größe‘ (magnitudo aesthetica). Vgl. A.G. Baumgartens Aesthetica und die antike Rhetorik, S. 429.
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ordnet, weil er deren Systematik enthält. Denn Anschaulichkeit bzw. evidentia dient Baumgarten als „Sammelname“ für die Figurenlehre, wie Campe erläutert,67 während Bahr Baumgartens evidentia flott als „Mastertrope seiner Darstellungslehre“ bezeichnet.68 Baumgartens Intention liegt auf der Hand. Im Gedicht bzw. in dessen symbolischer Struktur, die auf der Grundlage der rhetorischen Figurenlehre beschrieben werden kann, treten die Gesetze der sinnlichen Erkenntnis in Erscheinung. So entwirft er „das Einzelne und Vielgestaltige der Dinge“ – im Vertrauen auf die Analogie – nach den Figuren der Detaillierung (amplificatio) und Vergegenwärtigung (hypotyposis).69 Denn wie das Gedicht operiert auch die sinnliche Erkenntnis, deren Vorstellungen Baumgarten dementsprechend mit den deutschen Begriffen klassifiziert: PERCEPTIO, cuius vis se exserit in veritate alterius perceptionis cognoscenda, & VIS EIUS, est PROBANS [die beweist, wahrmacht],70 cuius vis alteram claram reddit, & VIS EIUS, est EXPLICANS (declarans) [die entdeckt, anzeigt, woraus erhellt], cuius vis alteram vividam reddit, & VIS EIUS, est ILLUSTRANS (pingens) [die erläutert, aufhellt], quae alteram distinctam, & VIS EIUS, est RESOLVENS (evolvens) [die aufschließt, aus einander setzt, entwickelt] (MET § 531).71
Innerhalb des rhetorischen Systems stellt Baumgartens Analogie die Produktionsphasen vom Kopf auf die Füße. Diese Analogie erfolgt nicht von der sinnlichen Erkenntnis (inventio) aus, sondern von der sinnlichen Darstellung (elocutio).72 In Baumgartens Argumentation geht die Ausdrucksanalyse der Gedankenanalyse daher stets voran, sodass die Aussagen an den Systemstellen der inventio und dispositio als Übersetzungen von Aussagen an der Systemstelle der elocutio auftreten. In „der Ausführung wird allerdings“, bestätigt Linn, „nicht immer scharf von Gesichtspunkten des sprachlichen Ausdrucks getrennt“.73 Baumgartens Argumentation am anderen Ort, die zu einer Rhetorisierung der Erkenntnistheorie führt – so könnte man die Übersetzung des Darstellens in ein Denken bezeichnen –, zeitigt große Effekte. „Das Interesse für Darstellung“, erläutert Caygill,
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Campe: Bella evidentia, S. 253. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, S. 109. Vgl. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 5. Vgl. Baumgartens eigene Übersetzung in [MET], § 531, Anm. „Eine Vorstellung, deren Kraft sich darin äußert, daß die Wahrheit einer andern Vorstellung erkannt wird, ist samt ihrer Kraft beweisend; deren Kraft eine andere klar macht, ist samt ihrer Kraft erklärend (anzeigend), deren Kraft eine andere lebhaft macht, ist samt ihrer Kraft erhellend (malend); eine Vorstellung, die eine andere deutlich macht, ist samt ihrer Kraft erschließend (entwickelnd)“ (MET § 531). Die allgemeine Übersetzung des Begriffs ‚elocutio‘ durch denjenigen der ‚Darstellung‘ setzt sich indes erst um 1800 durch. Linn: A.G. Baumgartens Aesthetica und die antike Rhetorik, S. 428.
korrespondiert mit einem Wandel in der Gewichtung von ästhetischer inventio und elocutio zu Gunsten der letzteren. Wie sich gezeigt hat, wird Meier später die Bedeutung der ästhetischen elocutio so weit ausdehnen, dass sie fast die gesamte Wissenschaft der Ästhetik ausmacht.74
Da eine solche Ausdehnung nicht ohne Folgen bleiben kann, überlegt Campe, ob „die philosophische Ästhetik die Rhetorik in einem ihrer Teile nicht als (Wort-) Technik, sondern vielmehr als einfache oder vorangehende Gegebenheit menschlichen (Erkenntnis-)Vermögens veranschlagt“.75 Die Analogie, mit deren Hilfe Baumgarten die Figurenlehre auf die Findungslehre projiziert, setzt tatsächlich erhebliche Veränderungen innerhalb des rhetorischen Systems ebenso voraus wie in Gang. Dadurch werden nämlich sowohl die dispositio als auch die inventio aus der Rhetorik gestrichen, sodass die Darstellung nun „koextensiv mit dem Rhetorischen überhaupt“ werden kann.76 Für das 18. Jahrhundert mag diese Materialisierung der inventio typisch sein; es handelt sich aber um eine Tendenz, mit der bereits die klassische Rhetorik konfrontiert ist. Vor allem an den Entwürfen der Topik, die von Aristoteles bis Cicero eine zunehmende Materialisierung, ja Substantialisierung bezeugen, lässt sich diese Tendenz ablesen. Während die Aristotelischen Topika eine dialektische Methode zur Bildung wahrer Schlüsse aus wahrscheinlichen Sätzen (endoxa) – logische Algorithmen des Suchens (enthymemata) – behandeln, ersetzt Cicero den formalen Weg durch das materiale Suchergebnis – durch ausformulierte Textbausteine. Mit diesen loci communes kassiert bereits Cicero die Differenz von inventio und elocutio; an die Stelle des Denkens tritt die Darstellung. Unabhängig von solchen die Systematik der Rhetorik selbst betreffenden Überlegungen diagnostiziert Gaier an der „Rhetorisierung des Denkens“, wie er sie außer bei Baumgarten auch schon bei Leibniz und Wolff beobachtet, einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel der Episteme. Die „Rückstufung der Rhetorik in die Philosophie“ steht am Ende der klassischen Episteme, die Denken und Darstellen in wechselseitiger Transparenz und Transitivität aufeinander abbildet. Nachdem die Rhetorik in die Philosophie übersiedelt, ist indes Schluss mit dem reinen, freien Gedanken der rationalistischen Logik, weil „nicht mehr die sprachliche Äußerung, sondern schon der Gedanke prinzipiell eine Form der wählbaren elocutio wird“.77 Menninghaus pointiert diese Schlussfolgerung, auch wenn die elocutio trotzdem noch Reste der topischen inventio – nun als Arsenal der Ausdrücke – aufweist.
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Caygill: Über Erfindung und Neuerfindung der Ästhetik, S. 238. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 5f. Menninghaus: „Darstellung“, S. 220. Ulrich Gaier: Rhetorisierung des Denkens. In: Stefan Metzger u. Wolfgang Rapp (Hg.): Homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik. Tübingen 2003, S. 19–32, hier S. 19.
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Darstellung in ‚moderner‘ Perspektive ist nicht länger nur nachträglich schmückende Ausführung, sondern setzt selbst das Feld des Dargestellten, das sonst in der inventio gefunden und in der dispositio geordnet wurde. Die elocutio wird damit theoretisch.78
Das 18. Jahrhundert, allen voran Baumgarten selbst, reagiert irritiert auf die Effekte, die der experimentelle Einsatz der Rhetorik erzeugt. Diese Irritation offenbart sich zunächst in der schlichten Tatsache, dass Baumgarten die Aesthetica nach dem ersten Teil (der selbst nur vier von sechs Argumentationsorten bearbeitet) abbricht – oder besser gesagt abbrechen muss, weil er nämlich schon alles gesagt hat. Was könnte er über dispositio und elocutio noch hinzufügen, wenn er die Figurenlehre bereits in der inventio erschöpfend behandelt hat? Genau genommen nichts mehr. Irritationen erzeugt aber auch der Begriff der Darstellung selbst, dessen medientheoretisches Potential Baumgarten deshalb nicht ausschöpfen kann, weil er trotz der in seiner Argumentationsbildung waltenden Innovationskraft dem rationalistischen Ideal transparenter Erkenntnis verpflichtet bleibt. Dieses Ideal wird von der Materialität der Darstellung stets durchkreuzt, für die es in der rationalistischen Philosophie keine Begriffe gibt; und es wird noch lange dauern, bis die Phänomenologie die Begriffe bereitstellen kann, auf welche die Medientheorie heute vertraut. Baumgarten greift deshalb auf rhetorische Begriffe zurück, um seinem medientheoretischen Interesse Gehör zu verschaffen. Sie fungieren als „Suchbegriff[e] nach den materialen, den vorprädikativen Formgebungen unserer Sprachlichkeit“79 – bzw. genauer als Suchbegriffe nach dem materialen Vorprädikativen der Darstellung. Im Gebälk der Baumgartenschen Philosophie kracht es daher gewaltig. Obwohl Baumgarten in der Aesthetica alles dafür getan hat, die Rhetorik der Philosophie dienend unterzuordnen, die Medientheorie zur Propädeutik der Erkenntnistheorie zu degradieren, bricht sich die Ambiguität der Ästhetik genau an dem Punkt wieder Bahn, an dem Baumgarten inventio in elocutio übersetzt. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass diese Übersetzung, anders als die Forschung bisher angenommen hat, keine Ersetzung vornimmt, sondern dass sie die konstitutive Doppelrede unterhält. Weder behandelt Baumgarten das Darstellen, um von dort auf das Denken zu schließen, noch einfach nur das Darstellen. Wie in einer argumentativen Kippfigur entpuppen sich vielmehr die erkenntnistheoretischen Argumente als rhetorische, die rhetorischen als erkenntnistheoretische, ohne dass es einen Weg aus dieser Ambiguität heraus geben könnte. In der Übersetzung von einer Disziplin
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Menninghaus: „Darstellung“, S. 220f. „Man hat immer wieder übersehen, daß die erklärte Verabschiedung des rhetorischen Diskursmodells nur die eine Seite eines Prozesses ist, auf dessen Rückseite eine genuin rhetorische Auffassung der Sprache als intransparenter Handlung in die Grundannahmen der Poetik und Philosophie einwandert“ (Ebd., S. 221). Sybille Krämer: Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 323–346, hier S. 332.
in die andere tritt sie zutage; durch die Übersetzung wird Ambiguität stets aufs Neue erzeugt. Es ist ausgerechnet Kant, der unfreiwilligerweise den Sack zumacht, den Baumgarten geöffnet hat. Das ist insofern erstaunlich, als Kants Begriffe der reinen Sinnlichkeit und der reinen Anschauung, und das heißt „des Gegebenseins der Dinge an sich, unmittelbar und in ihrer ‚empirischen‘ Einzigartigkeit“, nur auf einer Seite, auf der erkenntnistheoretischen, angesiedelt sind.80 Der Begriff der Darstellung, den Kant in diesem Zusammenhang verwendet, ist im Unterschied zu demjenigen Baumgartens nicht medial „im Sinne von re-praesentatio, also Wiedergabe, gemeint“, „sondern ganz allgemein in der Bedeutung von ‚sinnlich auffaßbar‘, ‚anschaubar‘, ‚für die Sinne unmittelbar erfahrbar‘“.81 Bei Baumgarten markiert der Begriff ‚sensitivus‘ hingegen gerade ein spezifisch materiales Interesse an der Repräsentation. Es gibt bei Kant allerdings eine Stelle, die mit Baumgarten vergleichbar ist. Genau diese Stelle zwingt Kant aus systematischen Gründen zu einem etymologischen Verfahren, das auch sofort einen mit Baumgarten vergleichbaren, medientheoretischen Mehrwert erwirtschaftet. Im großen dritten Projekt der Erkenntniskritik, in dem es wie im ersten immer noch um die Frage geht, auf welche Art und Weise Begriff und Anschauung zueinander finden, trifft Kant auf die Vernunftbegriffe. Weil ihnen keine unmittelbare Anschauung entspricht, muss ihnen der Verstand auf dem mühseligen Weg, den die rhetorische Metapher für Kant gebahnt hat, eine mittelbare Anschauung unterlegen. Das doppelte Geschäft der Übertragung, das die produktive Einbildungskraft zu diesem Zweck zu leisten hat, führt jedoch weit über den Rahmen der Transzendentalphilosophie hinaus. An diesem Punkt übersetzt auch Kant Erkenntnistheorie in Medientheorie. Denn die Form der Anschauung von Vernunftideen ist eine, die Kant in ihrer Materialität beschreiben muss, wofür er wie Baumgarten auf die rhetorischen Verfahren der evidentia zurückgreift. Eine solche Anschauung ist gleichfalls eine Figur, genauer gesagt eine Hypotypose, das heißt eine „Darstellung, subiectio sub adspectum“.82 Um einen Begriff verlegen, importiert Kant für diese Verstandesleistung ein Fremdwort aus der Logik: ‚Symbol‘ bzw. das vom Substantiv abgeleitete Adjektiv ‚symbolisch‘: Es ist ein von den neuern Logikern zwar angenommener, aber sinnverkehrender, unrechter Gebrauch des Worts s y m b o l i s c h , wenn man es der i n t u i t i v e n Vorstellungsart entgegensetzt; denn die symbolische ist nur eine A r t der intuitiven. Die letztere (die intuitive) kann
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François Laruelle: Philosophie der Repräsentation und Repräsentation der Philosophie. In: Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt „Darstellen“?, S. 80–101, hier S. 81. Vgl. Klaus Erich Kaehler: Baumgartens Metaphysik der Erkenntnis zwischen Leibniz und Kant. In: Aufklärung 20 (2008), S. 117–136. Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, S. 107. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Werkausgabe. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 10. Frankfurt a. M. 1974, A 251/B 255. Vgl. Rodolphe Gasché: Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant. In: Hart-Nibbrig (Hg.): Was heißt „Darstellen“?, S. 152–174.
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nämlich in die s c h e m a t i s c h e und in die s y m b o l i s c h e Vorstellungsart eingeteilt werden. Beide sind Hypotyposen, d.i. Darstellungen (exhibitiones).83
Der Begriff wird in dem Moment fällig, in dem die Ästhetik ambig wird, weil ihr für dasjenige, was sie sagen will, keine Begriffe zur Verfügung stehen. Wo Kant nach Worten ringt, taucht die Figurenlehre in der Erkenntnistheorie auf. Anders als in der dritten Kritik stellt das Problem, auf das Baumgarten stößt, nun allerdings keinen erkenntnistheoretischen Ausnahmezustand, sondern die Regel dar. Wie Kant bezeichnet auch Baumgarten die sinnliche Erkenntnis im traditionellen philosophischen Sinn als anschauende Erkenntnis (cognitio intuitiva) (vgl. MET § 620). Weil diese Anschaulichkeit indes ein materiales Medium voraussetzt, hat Baumgarten die systematischen Probleme zu bewältigen, für die Kant den Begriff ‚symbolisch‘ einsetzen wird, während Baumgarten selbst nur die logische als symbolische Erkenntnis bezeichnet (cognitio symbolica). Für die Probleme, die im Spannungsfeld von Erkenntnis- und Medientheorie entstehen, mobilisiert Baumgarten stattdessen das Fremdwort ‚sensitivus‘. In diesem Attribut bündelt sich also die Ambiguität der Ästhetik, sodass ‚sensitivus‘ nicht nur selbst ein ambiger Begriff ist, sondern auch ein Begriff, der das Prinzip der Ambiguität bezeichnet. Keine Strategie der Disambiguierung ist in der Lage, die von diesem Begriff lancierte Doppelwertigkeit aufzuheben. Denn er bezeichnet stets zweierlei: sowohl einen Modus des Denkens als auch einen Modus der Darstellung. Das eine ist nie unmittelbar, sondern stets nur mittelbar im Spiegel des anderen zu haben, sodass der permanente Verweis des Denkens auf das Darstellen, des Darstellens auf das Denken die Rede über das Gedicht zwangsläufig in einen Regress treibt. Wie könnte man die Darstellung auch nur noch eine Sekunde lang als Index (als schriftlich fixierte Spur) des Denkens anerkennen, wenn man dieses Denken immer nur von der Darstellung aus hochrechnet? Damit kann freilich auch die kategoriale Trennung von Erkenntnistheorie und Rhetorik verabschiedet werden. Es gibt nämlich bei Baumgarten kein Feld des Gedankens, das nicht medientheoretisch vermessen wäre. 1.4 Semiotische Übersetzung Dort, wo der Begriff der Darstellung Einzug in die Philosophie des 18. Jahrhunderts hält, konfrontiert er den Rationalismus mit seinem anderen, dem materialen Rest, der sich dem Ideal der Transparenz des Denkens entzieht. Der disziplinäre Ort, an dem diese Konfrontation stattfindet, ist weder die Psychologie (die Seelenlehre) noch die Rhetorik (die Darstellungslehre), sondern vor allem die Semiotik (die Zeichenlehre), in der auch Baumgarten rhetorische Argumente reflektiert.84 83 84
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Kant: Kritik der Urteilskraft, A 252/B255. Vgl. Hans Poser: Signum, notio und idea. Elemente der Leibnizschen Zeichentheorie. In: Zeitschrift für Semiotik 1 (1979), S. 309–324, S. 309; Hans Werner Arndt: Semiotik und
Letztere basiert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auf dem rationalistischen Paradigma der Repräsentation, dessen Theorien die Relation von Zeichen und Bedeutung von allen Ähnlichkeitsbeziehungen entkoppelt haben und als psychologischen Prozess der Vergegenwärtigung beschreiben. „The representational theory replaces rhetoric with semiotics“, erläutert Wellbery. „Semiotics makes possible the comparative study of different types of aesthetic representation, the description of their intrinsic limits and possibilities, the measurement of their relative efficacy“.85 Vor Baumgarten ist die Rhetorik „sicher nur selten explizit mit der Repräsentationstheorie des Zeichens konfrontiert“ worden86 – im 17. Jahrhundert vor allem bei Lamy87 –, nach Baumgarten indes allenthalben. Dennoch, Baumgarten begründet keine semiotische Ästhetik. Von einer „general theory of signs“ unterscheidet ihn sein spezifisches Interesse an der in Erscheinung tretenden Darstellung.88 Baumgarten ist kein Semiotiker (scientia), er bleibt Medientheoretiker (ars), und das heißt in allen Argumentationsschritten: Das Interesse am literarischen Text gilt dessen Materialität. Deshalb ersetzt die Semiotik (scientia de significanda) auch nicht die Rhetorik (scientia de proponenda) (vgl. KOLL § 1), sondern stellt nur eine weitere Perspektive auf die Ambiguität der Ästhetik ein. Die Grundlagen seiner Semiotik findet Baumgarten wie gehabt bei Leibniz und Wolff. In Anlehnung an diese unterscheidet er die Vorstellung des Bezeichneten (repraesentatio signati) von derjenigen des Zeichens (repraesentatio signi). Zu diesen beiden Vorstellungen kommt eine dritte Vorstellung hinzu. Denn ein Zeichen „wird nur unter der Bedingung dazu, dass es unter anderem die Beziehung manifestiert, die es mit dem verbindet, was es bezeichnet“, erklärt Foucault das Prinzip rationalistischer Semiotik. Ein Zeichen „muß repräsentieren, aber diese Beziehung muß ihrerseits in ihm repräsentiert sein“.89 Gemäß seiner Systematik unterscheidet Baumgarten verstandesmäßige von sinnlichen Zeichen: Signa cum signatis una percipio; ergo habeo facultatem signa cum signatis repraesentando coniungendi, quae FACULTAS CHARACTERISTICA [das Vermögen der Zeichen-Kunde, F. B.] dici
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Sprachtheorie im klassischen Rationalismus der deutschen Aufklärung. Eine historische Einordnung. In: Zeitschrift für Semiotik 1 (1979), S. 305–308; Ursula Franke: Die Semiotik als Abschluß der Ästhetik. A.G. Baumgartens Bestimmung der Semiotik als ästhetische Propädeutik. In: Zeitschrift für Semiotik 1 (1979), S. 345–359; Sylvia Knops: Bestimmung und Ursprung literarisch-ästhetischer Erkenntnis im frühen und mittleren 18. Jahrhundert (Gottsched, Breitinger und Baumgarten). Aachen 1999, S. 208–231; Dietfried Gerhardus: Sprachphilosophie in der Ästhetik. In: Marcelo Dascal u.a. (Hg.): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 7, 2. Berlin u. New York 1996, S. 1519–1528; Mildred Galland-Szymkowiak: Le changement des sens du symbole entre Leibniz et Kant. In: Revue Germanique Internationale 4 (2006), S. 73–91, bes. S. 81–83. Wellbery: Lessing’s Laocoon, S. 47. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 473. Vgl. Bernard Lamy: L’art de parler. Hg. v. Ernstpeter Ruh. München 1980 [ND d. Ausg. Paris 1676 u. Altenburg 1753]. Wellbery: Lessing’s Laocoon, S. 70. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 1971 u.ö., S. 98.
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potest. […] Nexus significativus vel distincte, vel indistincte cognoscitur, hinc facultas characteristica vel sensitiva erit, §. 521. vel intellectualis, §. 402 (MET § 619; vgl. MED § 77f.).90
Hier also das Bezeichnete, dort das Zeichen; und nur ein Wunder – eine ‚Funktion‘ – sorgt dafür, dass das Zeichen etwas bedeutet, weil es dieses Etwas vergegenwärtigt. „The Enlightenment“, erläutert Wellbery dieses Dilemma, „can be considered as fundamentally in conflict with the sign“91 – fundamental deshalb, weil die materialen Aspekte des Zeichens stets unterdrückt werden müssen, auf die Baumgarten im Gedicht stößt. Den Konflikt bewältigt Baumgarten mit dem rhetorischen Begriff der Darstellung – ‚proponere‘ –,92 der immer schon anderes am Zeichenprozess hervorgehoben hat „als die Ordnung des Repräsentationalen“.93 Bahr stellt fest, dass Baumgartens Semiotik „nie ohne ihre Qualifizierung durch die Rhetorik“ auskommt. „Nur so kann er sie von den logischen Zeichentheorien der Zeit absetzen […]. Eine semiotisierte Rhetorik soll die indexikalischen und ikonischen Aspekte des Zeichens […] retten“.94 Es ist aber nicht die Ikonizität (Bildlichkeit), die ikonische Repräsentationsfunktion des Zeichens, es ist dessen eigene, im Falle des schriftlich fixierten Gedichts buchstäbliche Materialität, die das Paradigma der Repräsentation unterläuft und auf die Baumgarten wohl oder übel aufmerksam wird. Der Weg dorthin führt über ein neues Interesse an Repräsentationen, die ja zunächst im Wesentlichen auf einer Beziehungslogik basieren: Ein Zeichen steht für etwas anderes. Es bezeichnet dieses andere, vergegenwärtigt es oder stellt es vor. Eine solche Negativität gilt sowohl für Baumgartens logische Repräsentationen als auch für seine sinnlichen. Darstellungen sind demgegenüber affirmativ: „Nicht nur repräsentieren oder substituieren diese etwas“, folgert Mersch, der die Semiotik medientheoretisch erweitert, „sondern mit ihnen kommt die Sache selbst in den Blick – nicht die Sache der Referenz, des Bezeichneten, sondern der Wirklichkeit des Symbolischen oder der Darstellung selber, ihre spezifische Materialität oder Medialität“.95 Und in einer etymologischen Volte ergänzt er: Darstellungen kommt „zugleich auch die Weise
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„Ich erfasse die Zeichen zugleich mit den bezeichneten Dingen; also habe ich die Fähigkeit, die Zeichen mit den bezeichneten Dingen in der Vorstellung zu verbinden; diese Fähigkeit kann Bezeichnungsvermögen genannt werden. […] Der Zusammenhang der Zeichen wird entweder deutlich oder undeutlich erkannt, daher ist das Bezeichnungsvermögen entweder sinnlich oder verstandesgemäß“ (MET § 619 – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten). Wellbery: Lessing’s Laocoon, S. 71. Zur Bedeutung des Begriffes ‚proponere‘ vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. 2. Aufl. Bd. 2. München 1973, S. 788. Dieter Mersch: Paradoxien der Verkörperung, in: Frauke Berndt u. Christoph Brecht (Hg.): Aktualität des Symbols. Freiburg i.Br. 2005, S. 33–52, hier S. 34. Vgl. ders.: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002, S. 53ff.; ders.: Einleitung. Wort, Bild, Ton, Zahl – Modalitäten medialen Darstellens. In: Ders. (Hg.): Die Medien der Künste. Beiträge zu einer Theorie des Darstellens. München 2003, S. 9–49. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, S. 51. Mersch: Paradoxien der Verkörperung, S. 34.
des ‚Ausstellens‘, ‚Zeigens‘ und ‚Vorführens‘ zu“.96 Dem rationalistischen Ideal von Transparenz und Transitivität des Zeichens hält Baumgarten wie andere Theoretiker nach ihm ein Zeichen entgegen, dessen Materialität es undurchsichtig und intransitiv macht. Dieses semiotische Modell stellt den „Überschuß des Signifikanten über das Signifikat in der Darstellung ästhetischer Ideen“ sowie „die (reflexive) Hereinnahme von Undarstellbarkeit in die Darstellung selbst“ in Rechnung.97 Deshalb zeichnet der materiale Überschuss des Mediums bei Baumgarten den sinnlichen Zeichenprozess gegenüber dem verstandesmäßigen aus: Si signum & signatum percipiendo coniungitur, & maior est signi, quam signati perceptio, COGNITIO talis SYMBOLICA dicitur, si maior signati repraesentatio, quam signi, COGNITIO erit INTUITIVA (intuitus) (MET § 620).98
Einen solchen Zeichenüberschuss reserviert Baumgarten in der Aesthetica später für kein spezifisches Darstellungsmedium. Im Gegenteil, die verschiedenen Darstellungsmedien der einen sinnlichen Vorstellung stehen problemlos füreinander ein: „Wir verstehen hier nicht bloß die Sprache. Man kann auch durch andere Zeichen sich dem anderen erklären“ (KOLL § 37), erläutert Baumgarten im Kolleg, und zwar „in Mienen, in Worten, in Pinselstrichen usw.“ (KOLL § 13). Sämtliche figuralen Operationen können daher mit jedem beliebigen Zeichenmaterial ausgeführt werden, wie beispielsweise die figurale Operation des Ersetzens. Als eine solche Metapher bezeichnet Baumgarten nämlich omnem elegantem perceptionis unius pro altera substitutionem, sive vocabulis translatis significetur, quod notissimum, sive sonis sibi invicem substitutis a musico, sive coloribus a pictore, sive per aliud quodcunque signorum genus eleganter te pro uno aliud cogitasse exprimas (AE § 780).99
Das Problem der Mediendifferenz und -konkurrenz spielt in dieser „frühe[n] Zeichen- und Kommunikationstheorie“,100 anders als vor allem in Lessings mediendifferenzierender Semiotik im Laokoon (1766), keine oder eine nur untergeordnete Rolle (vgl. MED §§ 40–41). Im „Verzicht auf die Festlegung eines Kanons zugelassener Ausdrucksformen bzw. -medien“ erkennt Groß „Modernität und Aktuali96 97 98
Mersch: Paradoxien der Verkörperung, S. 35. Menninghaus: „Darstellung“, S. 219. „Wenn das Zeichen und das Bezeichnete in der Vorstellung verbunden werden und die Vorstellung des Zeichens bedeutender ist als diejenige des Bezeichneten, wird die entsprechende Erkenntnis symbolisch genannt. Wenn dagegen die Vorstellung des Bezeichneten bedeutender ist als diejenige des Zeichens, so handelt es sich um die anschauende Erkenntnis“ (MET § 620). 99 „jeden kunstgerechten Ersatz einer Vorstellung durch eine andere, sei es, dass etwas Allbekanntes durch Wendungen ausgedrückt wird, die metaphorischen Charakter haben, sei es, dass vom Musiker Töne, vom Maler Farben so eingesetzt werden, dass sie einander wechselseitig vertreten, sei es, dass man durch irgendeine andere Art von Zeichen ausdrücken will, dass man in Gedanken das eine mit einem andern kunstgerecht vertauscht hat“ (AE § 780; Schweizer, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 340). 100 Groß: Felix aestheticus, S. 88.
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tät“ der inter- bzw. transmedial angelegten Aesthetica, deren Nutzen Baumgarten für sämtliche Künste annonciert (vgl. AE § 4).101 Tatsächlich büßt die Aesthetica mit diesem abstrakten Zeichenbegriff, der verschiedene Medien gleichschaltet, jedoch erheblich an Differenzierungsleistung ein. In den Meditationes dagegen schlägt Baumgartens Interesse an der Materialität des Gedichts zu Buche. Deshalb führt er die Semiotik in den Prolegomena der Meditationes mit dem dreistufigen Produktionsphasenmodell der Rhetorik eng – also mit der Disziplin, die für die Medien der Sprache in der erfahrbaren Materialität zuständig ist: „Orationis sensitivae varia sunt 1) repraesentationes sensitivae, 2) nexus earum, 3) voces sive soni articulati litteris constantes earum signa, § 4, 1“ (MED § 6).102 Semiotisch basiert das Zeichen einer sinnlichen Rede auf der Zweistelligkeit von Vorstellungen und Zeichen. Baumgarten nimmt aber die semiotische Abstraktion des Zeichenmodells vom sogenannten Zeichenträger zurück. Er schaltet zwischen die Vorstellung und die Zeichen das Argument der Verknüpfung (nexus), das er von der rhetorischen Systemstelle der dispositio in die Semiotik übernimmt. Dort wird es nun theoretisch relevant, weil es das erste Argument ist, das dem Begriff ‚sensitivus‘ ein konkretes medientheoretisches Profil verleiht. Eine sinnliche Rede ist nur dann eine solche, wenn sie auch eine aus mehreren Elementen verknüpfte ist: „Ex oratione sensitiva repraesentationes sensitivae connexae cognoscendae sunt, § 2, 4“ (MED § 5).103 In diesem Augenblick trifft Baumgarten eine Entscheidung, mit der er den Prozess der Bezeichnung kompliziert macht. Die Meditationes ziehen nämlich die Schriftlichkeit der sinnlichen Rede mit ins Kalkül. Wörter oder artikulierte Laute (voces sive soni articulati) bestehen aus Buchstaben (litterae) als deren Zeichen (signa). Diese Doppelung auf der Seite des Zeichens geht bis auf Aristoteles zurück. Von ihm übernimmt Baumgarten die Koppelung von sinnlichem Zeichen und Laut. „Es ist nun das in der Stimmäußerung Enthaltene Zeichen der Empfindung in der Seele, und das Geschriebene Zeichen des dieser Stimmäußerung Enthaltenen“.104 Für Aristoteles sind sowohl Laut als auch Buchstabe Darstellungsmedien, das heißt in ihrer Ereignishaftigkeit unwiederholbare Ereignisse:105 „Und wie die Buchstaben nicht bei allen dieselben sind, so sind auch die Stimmäußerungen nicht 101 102
Groß: Felix aestheticus, S. 87. „Die Bestandteile einer sensitiven Rede sind 1) sensitive Vorstellungen, 2) deren Verknüpfungen, 3) Wörter oder artikulierte Laute, die aus Buchstaben als ihren Zeichen bestehen, § 4, 1“ (MED § 6). 103 „Aus einer sensitiven Rede sind zusammenhängende sensitive Vorstellungen zu erkennen, § 2, 4“ (MED § 5). 104 Ar. Herm. 16a, vgl. Utz Maas: „Die Schrift ist ein Zeichen für das, was in dem Gesprochenen ist“. Zur Frühgeschichte der sprachwissenschaftlichen Schriftauffassung: Das aristotelische und nacharistotelische (phonographische) Schriftverständnis. In: Kodikas / Code 9 (1986), S. 247–292. 105 Vgl. Günther Grewendorf, Fritz Hamm, Wolfgang Sternefeld: Sprachliches Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung. 11. Auflage. Frankfurt a.M. 1999, S. 44.
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dieselben; wovon freilich diese als Primärem Zeichen sind, das ist bei allen dasselbe, nämlich die Empfindungen in der Seele“.106 Um diese Ereignishaftigkeit des Lautes – Zeichen einer sinnlichen Vorstellung – macht Baumgarten in allen seinen Schriften einen weiten Bogen, indem er den Laut gerade nicht definiert: „[S]ed haec ipsi cum imperfecta sensitiva oratione communia facile transimus, pro fine ne nimii simus. Nihil ergo de qualitate poematis, qua series sonorum articulatorum“ (MED § 97; Hervorh. F.B.).107 Statt mit dem Lautereignis kalkuliert Baumgarten daher mit einer konzeptualisierten Stimme – einer Stimme der Schrift, die zur Erscheinung des Gedichts gehört. Denn er wird am literarischen Text auf das problematische Verhältnis aufmerksam, das die beiden Darstellungsmedien – Schrift und Stimme – zueinander unterhalten. Im Rahmen der wenigen Paragraphen zur Metrik stößt Baumgarten in den Meditationes darauf, dass die Transformation vom akustischen Medium der Stimme in das graphische der Schrift nicht ohne Reibungsverluste vonstatten geht: „QUANTITAS SYLLABAE est quicquid in ea non potest cognosci sine compraesentia alterius syllabae. Ergo ex moris elementorum non potest cognosci quantitas“ (MED § 98).108 So unterscheidet sich auch die orthographische grundsätzlich von der prosodischen Silbenmessung, weil letztere nicht auf der Anzahl an Buchstaben, sondern auf der Silbe als intern strukturierter lautlicher Einheit basiert. Deren Bestimmung erfolgt vor dem Hintergrund einer quantifizierenden, relationalen Metrik, die mit einem Verhältnis der Längen zu Kürzen im Verhältnis von 1:2 rechnet (vgl. MED § 100): Mora in grammaticis est pars temporis elemento efferendo necessaria, iam ergo quum de syllabis solum agendum est, mutandis mutatis per moram syllabae intelligimus partem temporis efferendae syllabae necessariam (MED § 100 Anm.).109
Der Hinweis auf die Grammatiker – sowohl diejenigen der Antike wie Quintilian oder Cicero als auch diejenigen des Renaissance-Humanismus wie Scaliger oder Vossius (vgl. MED § 9) – zeigt, worauf Baumgarten abzielt. In De causis linguae latinae (1540) bindet Scaliger nämlich das Distinktionsprinzip der Sprache an das Paradigma des Lautes. Dieses Prinzip klar unterscheidbarer Laute wird aber nicht nur vom graphischen Medium der Schrift her entworfen, sondern auch mit einem Wort bezeichnet, das Scaliger an die Vorstellung des geschriebenen Buchstabens
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Ar. Herm. 16a. „Aber da das Gedicht dies mit der unvollkommenen sensitiven Rede gemeinsam hat, übergehen wir es leicht, damit wir nicht zu weit über unser Ziel hinaus gelangen. Nichts also über die Beschaffenheit des Gedichtes als einer Reihe artikulierter Laute“ (MED § 97). 108 „DIE QUANTITÄT EINER SILBE ist das, was man an ihr nicht ohne Mitgegenwart einer anderen Silbe erkennen kann. Also kann man aus den Zeitwerten der Buchstaben nicht die Quantität erkennen“ (MED § 98). 109 „Bei den Grammatikern ist der Zeitwert derjenige Teil der Zeit, der nötig ist, um einen Buchstaben auszusprechen. Wenn man nun von den Silben allein handeln will, dann verstehen wir unter dem Zeitwert der Silbe entsprechend denjenigen Teil der Zeit, der nötig ist, um die Silbe auszusprechen“ (MED § 100 Anm.). 107
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knüpft: littera.110 Als regelrechte Stimme der Schrift produziert die sogenannte vox ideale Laute, die sich gegenüber den realen Lautereignissen durch Wiederholbarkeit auszeichnen. Diese vox tritt in den Meditationes neben eine Stimme, deren Laute von den Buchstaben nicht, oder zumindest nicht vollständig, bezeichnet werden können. Bei der Konstruktion der vox kann man Baumgarten gut über die Schulter sehen, weil er in eigentümlich penibler Art und Weise diese Stimme der Schrift einer rationalistischen Semiotik abringt. So kann zunächst kein Zweifel daran bestehen, dass Baumgarten zwischen „medialen Aspekte[n]“ und „konzeptionellen Aspekten“ von geschriebener wie gesprochener Sprache unterscheidet.111 Baumgartens rationalistisches Zeichenmodell setzt sowohl die Vorstellung des Lautes als auch des ihn bezeichnenden Buchstabens voraus. Damit der Buchstabe den Laut bezeichnen kann, muss er an das Laut-Konzept, muss er also an das Konzept des anderen Mediums erinnern können. In diesem Sinn legt Peirce für die Bedeutung eines Zeichens fest, dass es „the translation of a sign into another system of signs“ stets in seinem Interpretanden enthält.112 Die Generierung eines solchen Interpretanden ist für Baumgarten durch und durch nachvollziehbar. Baumgarten führt sie auf eine aisthetische Wahrnehmung zurück, aufgrund deren jedes Zeichen einen historisch-psychologischen Index erhält. Doch Baumgarten unterscheidet nicht nur zwischen psychologischen Konzepten und den Medien ihrer Realisierung, sondern er geht auch davon aus, dass die medialen Eigenschaften selbst im Gedächtnis gespeichert, auf dem Wege der Erinnerung abrufbar sind. Jede Stimulierung der Sinne (sensus), die durch optische, olfaktorische, haptische oder eben auch durch akustische Impulse von einem Gegenstand ausgeht, wird zu einer sinnlichen Vorstellung verarbeitet. Baumgarten überführt daher das Verhältnis von Konzept und Ereignis in einen Kreislauf, in dem die Lautfolge des artikulierten Wortes wahrgenommen wird und diese Wahrnehmung wiederum das Konzept der Lautfolge voraussetzt: „Voces, qua soni articulati, pertinent ad audibilia, hinc ideas sensuales producunt“ (MED § 91).113 Dieses Zeichenmodell bietet die Möglichkeit, alle Eigenschaften eines Darstellungsmediums – auch etwa die graphischen Eigenschaften des Schriftbildes, die 110
Vgl. Gregor Vogt-Spira: Vox und littera. Der Buchstabe zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der grammatischen Tradition. In: Poetica 23 (1991), S. 295–327, bes. S. 311– 315; Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 323–346. 111 Wulf Oesterreicher: Grenzen der Arbitrarität. Zum Verhältnis von Laut und Schrift. In: Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation. Freiburg i.Br. 1998, S. 211– 233, hier S. 218. Vgl. Peter Koch: Graphé. Ihre Entwicklung zur Schrift, zum Kalkül und zur Liste. In: Ders.: Sybille Krämer (Hg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes. Tübingen 1997, S. 43–81. 112 Charles Sanders Peirce: Collected Papers. Hg. v. Charles Hartshorne, Paul Weiss u. Arthur W. Burks. Bd. 4. Cambridge Mass. 1933, 4.127. Daraus folgt: „The meaning of a sign is the sign it has to be translated into“ (4.132). 113 „Wörter als artikulierte Laute gehören in den Bereich des Hörbaren. Daher erzeugen sie sinnliche Ideen“ (MED § 91).
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der Leser (lector) wahrnimmt (vgl. MED § 113) – selbst als sinnliche Vorstellungen zu bestimmen. Dadurch wird das sinnliche Zeichen zu einem komplexen Zeichen; auf der Basis der Schrift (littera) integriert es eine Stimme (vox), die sich – paradoxerweise – durch eine konzeptualisierte Performativität auszeichnet. An die Stelle des einfachen rationalistischen Zeichenmodells tritt deshalb bei Baumgarten ein komplexer Zeichenprozess. Er integriert einerseits die syntaktische Komplexität, die aus den Zeichen eine Verknüpfung von Zeichen macht; er integriert andererseits die mediale Komplexität von Schrift (littera) und Stimme (vox) und durchbricht in mehrfacher Hinsicht die rationalistische Fixierung auf das Einzelwort. Oder mit anderen Worten: Bei Baumgarten verschwindet der Bote – das Medium – nicht, nachdem er die Nachricht überbracht hat, sondern er bleibt auf der semiotischen Szene des Gedichts anwesend. 1.5 Poetologische Übersetzung Die bisherigen Überlegungen zeigen, wie Baumgarten auf der Grundlage eines etymologischen Verfahrens der Verschiebung den Begriff ‚sensitivus‘ aus der Trieb- in die Erkenntnistheorie (cognitio sensitiva) übersetzt. Dort wird das Fremdwort ‚sensitivus‘ zum Einfallstor der Rhetorik, sodass jene Doppelwertigkeit der Rede in Gang gesetzt wird. Diese Doppelwertigkeit entsteht, weil Baumgarten Erkenntnis- und Medientheorie innerhalb der officia oratoris nicht mehr auf zwei rhetorische Systemstellen verteilt, sondern die Systemstelle der elocutio auf die Systemstelle der inventio projiziert. Dadurch wird man das Denken und das Darstellen nie mehr voneinander unterscheiden können. Das eine ist die conditio sine qua non der Rede über das andere. Mit der medientheoretischen Wende der Erkenntnistheorie geht Baumgartens Interesse an der Materialität der Darstellung einher, für die er rhetorische Begriffe als Suchbegriffe verwendet. Dabei tritt am schriftlich codierten Gedicht die Komplexität der symbolischen Struktur in Erscheinung, auf die Baumgarten eine semiotische Perspektive einstellt, damit er die Repräsentationstheorie um materiale Aspekte erweitern kann. Die Ausarbeitung dieser medientheoretischen Aspekte des literarischen Textes erfolgt in den technischen Paragraphen zu den rhetorischen Figuren und Tropen, in denen Baumgarten die genauen Umrisse seiner Theorie ausarbeitet. Bereits am Anfang der Arbeit muss Baumgarten deshalb den Stellenwert des Gedichts innerhalb des rhetorischen Argumentationsrahmens heuristisch bestimmen. Dass er nämlich mit einer kategorialen Unterscheidung von ‚rhetoricus‘ und ‚poeticus‘ umgeht, wird durch die wichtigste Analogie in den Meditationes angezeigt – durch Baumgartens notorisch wiederholte Formel: ‚sensitivus ergo poeticus‘ (vgl. MED § 12 pass.). Mit dieser Übersetzung der Rhetorik in die Poetik erwirtschaftet Baumgarten den Mehrwert der ästhetischen gegenüber einer ‚nur‘ sinnlichen, schließlich doch auf einen Begriff abzielenden Erkenntnis – den Mehrwert, der 41
sich dem harmlosen Austausch zweier Wörter verdankt. Er sorgt dafür, dass die „sinnliche Verfassung“,114 und das heißt der „Bestand“ aller sinnlich wahrnehmbaren115 Eigenschaften eines Gegenstands nicht nur erkannt und begrifflich klassifiziert wird, sondern dass dieser Prozess mit der Aufmerksamkeit auf die unbegriffliche, „phänomenale Präsenz“ des Gegenstands einhergeht,116 die eben nicht „in das Archiv des Für-wahr-Gehaltenen, des akkumulierten Wissens“ eingeht.117 Seel unterscheidet daher die sinnliche von der ästhetischen Erkenntnis; ich schlage im Hinblick auf die rhetorische Grundierung der ästhetischen Theorie vor, von symbolischer Erkenntnis zu sprechen. Baumgarten ersetzt in der Definition die Rede zunächst durch das Gedicht, für das dann ebenso wie zuvor für die Rede gilt: „Poematis varia sunt, 1) repraesentationes sensitivae, 2) earum nexus, 3) voces earum signa, § 9, 6“ (MED § 10).118 Diese Ersetzung spezifiziert die Voraussetzungen der Rede, die Baumgarten mit dem Begriff ‚sensitivus‘ geschaffen hat. Statt der sinnlichen Rede steht nämlich plötzlich die perfekte, sinnliche Rede auf dem Prüfstand: „ORATIO SENSITIVA PERFECTA est cuius varia tendunt ad cognitionem repraesentationum sensitivarum, § 5“ (MED § 7).119 Neben den qualitativen Unterschied zwischen Logik und Sinnlichkeit tritt ein quantitativer Unterschied von sinnlicher Rede und perfekter, sinnlicher Rede – kein wesensmäßiger, sondern ein gradueller Unterschied –, sodass ich es im Unterschied zu den beiden deutschen Übersetzungen der Meditationes tatsächlich für legitim halte, ‚perfectus‘ an der disziplinären Schnittstelle von Poetik und Rhetorik zunächst mit dem wortgetreuen Begriff ‚vollständig‘ zu übersetzen, anstatt wie Paetzold die Übersetzung ‚vollkommene sinnliche Rede‘ zu wählen, mit der sich der Argumentationskontext in die Metaphysik verlagern würde.120 Eine Rede ist um so vollständiger, je mehr Elemente sie integriert: „Quo plura varia in oratione sensitiva facient ad excitandas repraesentationes sensitivas, eo erit illa perfectior, § 4, 7“ (MED § 8).121 Nachdem Baumgarten diese Differenzierung vorgenommen hat, ersetzt er lediglich noch den Begriff der vollständigen, sinnlichen Rede durch denjenigen des Gedichts, das am Ende der graduellen Skalierung steht, weil es offenbar die meisten Elemente integriert: „Oratio sensitiva perfecta est POEMA“ (MED § 9).122 Hinter der Definition verbirgt sich 114 115 116
Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a.M. 2003, S. 82. Ebd., S. 84. Ebd., S. 52. 117 Heinz J. Drügh: „Allenthalben auf seiner Oberfläche“. Zur Präsenz des Körpers im klassizistischen Symbol. In: Berndt u. Brecht (Hg.): Aktualität des Symbols, S. 135–159, hier S. 139. 118 „Die Bestandteile eines Gedichtes sind 1) sensitive Vorstellungen, 2) deren Verknüpfung, 3) die Wörter als deren Zeichen, § 9, 6“ (MED § 10). 119 „EINE VOLLKOMMENE SENSITIVE REDE ist eine solche, deren Bestandteile zur Erkenntnis sensitiver Vorstellungen streben, § 5“ (MED § 7). 120 Zu den metaphysischen Implikationen des Begriffs ‚perfectus‘ vgl. 2.1.1. Vollkommenheit. 121 „Eine sensitive Rede wird umso vollkommener, je mehr Bestandteile in ihr dazu beitragen, sensitive Vorstellungen anzureizen, § 4, 7“ (MED § 8). 122 „Eine vollkommene sensitive Rede ist EIN GEDICHT“ (MED § 9).
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indes nichts anderes als die Affirmation der „phänomenale[n] Individualität“,123 die der literarische Text leistet. Im Hinblick auf die sinnliche Erkenntnis markiert das jene Differenz, aufgrund deren die sinnliche zu einer symbolischen und als symbolische zu einer unabschließbaren Erkenntnis wird. Während die sinnliche Erkenntnis ihren Gegenstand am Ende doch in einem Begriffsarchiv ablegen kann, zeichnet sich der literarische Text also an seinen unbegrifflichen Stellen durch einen möglichst hohen Grad an Vollständigkeit und damit tendenziell durch eine Offenheit aus, die auf keine begriffliche Fixierung abzielt. In einem raffinierten etymologischen Hakenschlag verwandelt Baumgarten diese Quantität zu einem Attribut der symbolischen Struktur, indem er nun das Substantiv poema in das Adjektiv poeticus verwandelt: „POETICUM dicetur quicquid ad perfectionem poematis aliquid facere potest“ (MED § 11).124 Diese Struktur, die Baumgarten mit dem Begriff ‚poeticus‘ attribuiert, weil er sie an einer quantitativen Exzellenz ausrichtet, indem er den materialen Überschuss des Gedichts zu einem Unterscheidungskriterium gegenüber der Rede aufwertet, führt ihn zu drei weiteren Begriffen. In den Meditationes sind das die Begriffe ‚confusus‘, ‚clarus‘ und ‚vividus‘, denen in der Aesthetica die Begriffe ‚ubertas aesthetica‘, ‚lux aesthetica‘ und ‚vita cognitionis aesthetica‘ entsprechen. Mit ihrer Hilfe konzipiert Baumgarten an der symbolischen Struktur des Gedichts drei Funktionen, die der Begriff ‚sensitivus‘ impliziert: die Funktionen der Unbegrifflichkeit (confusus), der Anschaulichkeit (clarus) und der Generativität, das heißt des Sich-selbst-Erzeugenden (vividus), die sowohl auf- als auch auseinander folgen. Zu ihrer Beschreibung kann Baumgarten, nachdem er einmal die disziplinären Weichen gestellt hat, weiterhin auf die bekannten rhetorischen Kategorien vertrauen, die in der Übersetzung lediglich zu poetologischen umgemünzt werden: „Ergo quo vastior, quo nobilior, quo verior, quo clarior, hinc vividior vel distinctior, quo certior, quo ardentior cognitio est, hoc maior est“ (MET § 669).125 1.5.1 Räumlichkeit Eine dergestalt vielsagende Vorstellung (repraesentatio praegnans) wie die poetische kann nicht auf einen Begriff gebracht werden, obwohl sich die einzelnen Merkmale sinnlich diskriminieren lassen. Diese Leitidee führt Baumgarten in den Meditationes in einem descensus von den Gegenständen der höheren Gattung, der niederen Gattung sowie der Art bis hinunter zu den individuellen Gegenständen (vgl. MED § 20): „Individua sunt omnimode determinata, ergo repraesentationes
123 Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 56. 124 „POETISCH soll alles das genannt werden,
was zur Vollkommenheit eines Gedichtes irgendetwas beizutragen vermag“ (MED § 11). 125 „Also je unermeßlicher, je edler, je wahrer, je klarer, daher lebendiger oder deutlicher, je gewisser, je leidenschaftlicher die Vorstellung ist, desto größer ist sie“ (MET § 669; F.B.).
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singulares sunt admodum poeticae, § 18“ (MED § 19).126 In den Meditationes legt er deshalb der ästhetischen Theorie das Beispiel (exemplum) zugrunde (vgl. MED §§ 21–22; § 58), das als Individualbegriff jedem Allgemeinbegriff vorzuziehen ist (vgl. MED § 20 Anm.; § 23),127 weil das Beispiel eine Merkmalsbündelung darstellt. Überraschenderweise demonstriert Baumgarten diese Individualität am Eigennamen, der – einer rhetorischen Antonomasie vergleichbar – ein solch poetischer Begriff ist (vgl. MED §§ 31, 50, 54f.): „Nomina propria sunt individua significantia, quae quum admodum poetica, poetica etiam nomina propria, § 19“ (MED § 89).128 An dieser begrifflich wie praktisch unbestimmbaren Mannigfaltigkeit der Vorstellung hängt der materiale Aspekt des Gedichts. Die Affirmation des Individuellen setzt für Baumgarten nämlich die Affirmation eines Zusammenhangs (consensus) voraus,129 der, wie es in der Aesthetica immer wieder heißt, in Erscheinung tritt – „qui phaenomenon sit“ (AE § 18). Weil Baumgarten Erkenntnis- und Medientheorie stets verschaltet, ‚zeigt sich‘ der Zusammenhang in den Gedanken (inventio), der Ordnung (dispositio) und den Zeichen (elocutio) – in den Gedanken freilich nie anders als in der Rede über die Ordnung und die Zeichen. Weil Baumgarten die Phänomene um ihres Erscheinens willen beachtet, kalkuliert er auch in der Aesthetica mit dem Unterschied zwischen „sinnlichem Sosein und ästhetischem Erscheinen“, dem in den Meditationes der Unterschied von ‚rhetoricus‘ und ‚poeticus‘ entspricht. „Beides sind Arten“, bemerkt Seel dazu, „in denen die empirische Erscheinung eines Gegenstandes zugänglich ist. Das ästhetische Erscheinen ist demnach ein Modus des sinnlichen Gegebenseins von etwas“. Denn ästhetische Gegenstände „sind uns in einer ausgezeichneten Weise sinnlich gegeben; sie werden von uns in einer ausgezeichneten Weise sinnlich erfaßt“.130 Diese quantitative Exzellenz beurteilt nach Baumgarten vor allem Kant als Modus der ästhetischen Idee. Darunter versteht Kant diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.
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„Individuen sind durchgängig bestimmt. Folglich sind Einzelvorstellungen besonders poetisch, § 18“. (MED § 19) – Vgl. Gottfried Gabriel: Baumgartens Begriff der „perceptio praegnans“ und seine systematische Bedeutung. In: Aufklärung 20 (2008), S. 69–71. 127 Vgl. Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten). München 1982, S. 177f.; Poser: Signum, notio und idea, S. 316; Knops: Bestimmung und Ursprung literarisch-ästhetischer Erkenntnis im frühen und mittleren 18. Jahrhundert, S. 215. 128 „Eigennamen sind Namen, die Individuen bezeichnen. Da Individuen besonders poetisch sind, so sind auch Eigennamen poetisch, § 19“ (MED § 89; zur Einschränkung vgl. [MED], § 90). 129 Zu den metaphysischen Implikationen des Begriffs ‚consensus‘ vgl. 2.1.1. Vollkommenheit. 130 Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 47.
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In vergleichbarer Weise wie Baumgarten meint auch Kant dieses ‚Viel-zu-denkenGeben‘ durchaus in einem quantitativen Sinn: [D]ie ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.131
Unter solchen quantitativen Gesichtspunkten definiert Baumgarten die unbegriffliche Empfindung, indem er die beiden Erkenntnisvermögen, das logische und das ästhetische, in das doppelte Koordinatensystem Leibniz-Wolffscher Provenienz einträgt. Dessen eine Achse skaliert die Wiedererkennbarkeit einer Vorstellung und reicht von dunkel (cognitio obscura) bis klar (cognitio clara); dessen andere Achse skaliert die Unterscheidbarkeit der Merkmale einer Vorstellung und reicht von deutlich (cognitio distincta) bis verworren (cognitio confusa).132 Logische Vorstellungen sind klar und deutlich; Empfindungen hingegen sind keineswegs dunkel und verworren. Auf der Skala der Merkmalsdifferenzierung ist eine Empfindung vielmehr auch klar, obwohl nicht deutlich, dafür aber verworren (repraesentatio clara et confusa) (vgl. MED § 12; MET §§ 519–533). Klare, verworrene Vorstellungen garantieren zwar die Wiedererkennbarkeit und Wiederholbarkeit ihrer Merkmale, nicht jedoch die begriffliche Differenzierung oder Identifikation (vgl. MED §§ 13–14). „Verworren“ ist eine Erkenntnis dann, erläutert bereits Leibniz, wenn ich freilich nicht genügend Kennzeichen gesondert aufzählen kann, um die Sache von anderen zu unterscheiden, wenn auch jene Sache solche Kennzeichen und Merkmale tatsächlich besitzt, in welche ihr Begriff aufgelöst werden kann: so erkennen wir zwar Farben, Gerüche, Geschmacksempfindungen, und andere den Sinnen eigentümliche Gegenstände hinreichend klar und unterscheiden sie voneinander, aber auf Grund des einfachen Zeugnisses der Sinne, nicht jedoch auf Grund aussagbarer Kennzeichen.133
Tatsächlich haben Baumgartens Begriffe jedoch weniger mit Leibniz’ Originalen zu tun, als man zunächst annehmen möchte. Vor allem den Begriff ‚confusus‘ scheint Baumgarten viel wörtlicher zu nehmen, als es die deutsche Übersetzung verworren ausdrücken kann. Obwohl die beiden Funktionen der symbolischen Struktur – ‚confusus‘ und ‚clarus‘ – komplementäre Begriffe sind, hebt schon ihre jeweilige Etymologie verschiedene Aspekte hervor. „When it is said that poetry is 131 132
Kant: Kritik der Urteilskraft, A 195f./B 198. Baumgarten selbst folgt – der Frankfurter Kollegnachschrift zufolge [KOLL pass.] – der zeitgenössischen Übersetzung ‚verworren‘. 133 Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis / Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen. In: Ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Übers. u. hg. v. Hans Heinz Holz. Frankfurt a.M. 1996, S. 32–47, hier S. 34f. Vgl. Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus, S. 14–29.
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confused“, erläutern daher Aschenbrenner und Holther ihre englische Übersetzung des Begriffs ‚confusus‘, „it is meant that its representations are fused together and not sharply discriminated (The reader of the Reflections must be careful to keep fusion foremost here and not confusion in the derogatory sense.)“.134 Das etymologische Spiel basiert auf der Bedeutung der lateinischen Wörter fusio und confusio. Die Amerikaner betonen, dass die Vorstellungen im Gedicht ineinanderfließen, wie sich zwei Flüssigkeiten vermischen. Durch eine weitere etymologisch hergestellte Analogie zum Stammwort fusus: Spindel (der Parzen), würde sich die Bedeutung des Wortes sogar noch vom Liquiden ins Textile verschieben. Einen dementsprechend konnotierten Wechselbegriff für ‚confusus‘, der das Miteinander-Verknüpfen gegenüber dem Ineinander-Fließen stärker betont, führt Baumgarten mit dem Begriff ‚(con-)nexus‘ selbst ein: „Nexus repraesentationum poeticarum debet facere ad cognitionem sensitivam, § 7, 9; ergo debet esse poeticus, § 11“ (MED § 65; vgl. § 68).135 Unter dem Strich bilanziert Baumgarten weniger die verworrene als vielmehr die verdichtete oder besser die dicht verknüpfte Erkenntnis. Wie materialistisch Baumgarten dabei tatsächlich denkt – von Schöngeistigkeit keine Spur –, vermag ein Seitenblick auf die Frankfurter Kollegnachschrift zu belegen, in der er Komplexität schlechterdings errechnet und Vorschläge zur Verbesserung macht. „[E]rstlich“ hat man „nur 10 Kennzeichen von einer Sache und hernach in der Mischung vom Klaren und Dunkeln denkt man die Sache vielleicht in 150 Kennzeichen“ (KOLL § 80 pass.). Auf dieser Grundlage werden beispielsweise die verschiedenen genera dicendi durch den jeweiligen Grad ihrer Merkmalskomplexität überschlagen: Gesetzt, ich dächte in der niedrigen Denkungsart = 10˚ vollkommen gut, in der mittleren = 100˚, in der Erhabenen sollte ich 1000˚ erlangen, ich erlangte sie aber nur – 100˚ und – 10˚, so hätte ich nur 89˚ Vollkommenheiten, die aber bei allen ihren Fehlern doch noch größer wären als jene 100 und als jene 10 Vollkommenheiten, die ich ohne Fehler in den anderen Denkungsarten erlanget hätte (KOLL § 210).
Eine komplexe Erkenntnis (cognitio complexa) setzt freilich eine bestimmte Anschauungsform voraus, in der die Vorstellung dem Bewusstsein gegeben ist. Im Zentrum der ästhetischen Theorie steht daher für Baumgarten das Phänomen der Reihe, das er bereits im ersten Paragraphen der Hallenser Magisterarbeit als das alles entscheidende Definitionskriterium für das Gedicht festlegt (vgl. MED § 1). In der Reihe folgen die Elemente nicht nur aufeinander, sondern sie sind in ihrer Abfolge auch fest verortet, um nicht zu sagen lokalisierbar, sodass die räumlichen 134
Alexander Gottlieb Baumgarten: Reflections on Poetry. Alexander Gottlieb Baumgarten’s Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Translated, with the Original Text, an Introduction, and Notes. Hg. v. Karl Aschenbrenner u. William B. Holther. Berkeley u. Los Angeles 1954, S. 21. 135 „Die Verknüpfung der poetischen Vorstellungen muß zur sensitiven Erkenntnis beitragen, § 7, 9, folglich muß sie poetisch sein, § 11“ (MED § 65; vgl. Hor. Ar. poet. v. 242).
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Beziehungen der verknüpften Elemente beschrieben werden können. In dieser Argumentation spielt die Frage eigentlich keine Rolle, ob Baumgarten die räumliche Anschauungsform des Gedichts an das graphische Medium der Schrift bindet oder nicht. Selbst wenn man nicht – wie Baumgarten es ja tut – von der Buchstabenfolge, sondern nur von der Lautfolge ausgehen würde, bliebe die räumliche Anschauungsform der Schrift für das Gedicht konstitutiv. Man hätte in diesem Fall eine Art Schrift-Lautlichkeit zu behandeln, die entweder graphisch oder akustisch realisiert werden kann. Die unbegrifflichen Stellen in literarischen Texten führen Baumgarten also zu einer syntagmatischen, mindestens zweigliedrigen, aber tendenziell nicht nur mehrgliedrigen, sondern unendlich vielgliedrigen Struktur, die er entlang eines langen, um nicht zu sagen langweiligen Streifzugs durch die Figuren der Detaillierung (amplificatio) durchdekliniert. Auf der Suche nach der Logik des Sinnlichen trifft er dort nämlich auf die sogenannten Äquivalenzfiguren, die Figuren, die ihre Elemente nach der Maxime Ähnliches mit Ähnlichem (simile cum simili), Verwandtes mit Verwandtem (cognatum cum cognato) verbinden (vgl. MED § 72; § 69) – zu einem räumlichen „compositum“ (MED § 39). Baumgarten verteilt die Analyse der Äquivalenzfiguren in der Aesthetica ohne nachvollziehbare Systematik auf die Abschnitte über die bereichernden, erweiternden und beweisenden Argumente. Dort katalogisiert er auch die bewährten phonologischen und morphologischen Äquivalenzfiguren: das Homoioteleuton, die Anapher, die Epipher, die Symploke, die Repetitio, die Epizeuxis, die Epanalepsis, die Anadiplose, die Ploke, der Pleonasmus oder das Polyptoton. Sie basieren auf der Wiederholung eines identischen Signifikantenmaterials – auf der Wiederholung, die also die Matrix des Gedichts prägt. Jede Form der Wiederholung ist zunächst einmal wie diejenige des identischen signifikanten Materials eine „intratextuelle Abbildung“, weil das „als (‚bloße‘) Wiederholung qualifizierte Element […] auf ein früheres“ verweist. Dadurch steht freilich für den Phänomenologen mit der Anschauungsform, in der diese ‚räumliche Gleichzeitigkeit‘ gegeben ist, wohl oder übel sofort eine zweite zur Diskussion: die zeitliche Anschauungsform. Von einer Wiederholung kann nur gesprochen werden, wenn die Wahrnehmung eines Elementes (A) ausdrücklich von dem Bewußtsein begleitet wird, es handele sich hier in der Tat um die Wiederholung eines Früheren (also um Aº oder genauer Aº[A]).136
Sobald ein Bewusstsein zwei Elemente der Reihe miteinander verknüpft, tritt diese wechselseitige Abhängigkeit der räumlichen und der zeitlichen Anschauungsformen zutage. „Die rhetorische Wiederholung“, perspektiviert Lobsien die raumzeitliche Matrix des Gedichts, „hebt die Gleichheit von Zeichen (von der Ebene der Phoneme bis zur Ebene des ganzen Textes) in der Ordnung der Sukzession heraus; sie baut Korrespondenzreihen und paradigmatische Sequenzen in der linearen 136
Eckhard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache. München 1995, S. 15. Vgl. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. Übers. v. Joseph Vogl. München 1992.
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Aufeinanderfolge“ auf,137 weil „ein und derselbe Sachverhalt […] an zwei unterschiedenen Zeitstellen“ auftaucht.138 In seiner ästhetischen Theorie sieht Baumgarten allerdings keine ästhetische Wiederholung vor, in der die Elemente in ihrer räumlichen „Simultaneität“ erfahren werden können.139 Auch als ästhetische bleibt die Wiederholung das, was sie als rhetorische ist: Eine Beziehung von Elementen, die in der Reihe abgebildet sind, in der sie in ihren Verknüpfungen nur sukzessiv erfahren werden können. In der weiteren Ausführung unterscheidet Baumgarten zwischen drei Ähnlichkeitsrelationen (a simili, aequali, congruente) – Ähnlichkeitsrelationen, die sich von der Identität, der Gleichheit oder der Übereinstimmung der Elemente herleiten (vgl. AE § 735).140 Es ist möglich, dass er die Kategorien aus der Aristotelischen Metaphysik oder aus der rationalistischen Philosophie importiert hat. Verschiedene Ähnlichkeiten sind jedoch bereits seit Aristoteles auch Bestandteil der Topik, in deren disziplinärem Kontext vor allem Cicero die logischen und ontologischen Relationen in sprachlich-materiale übersetzt.141 Im Zuge dieser Materialisierung verliert die kategoriale Differenz der Ähnlichkeitsrelationen an Trennschärfe, sodass auch Baumgarten, der solche materialen Formate betrachtet, mit den Begriffen nur noch das Mehr oder Weniger an Ähnlichkeit bewertet, was einen strukturellen Zugriff auf das Phänomen zur Folge hat. Eine Figur basiert auf den Verfahren der sinnlichen Mnemonik und des sinnlichen Witzes (vgl. MED § 73), weil sie entweder Ähnlichkeits- (ingenium) oder Differenzbeziehungen (acumen) konstituiert. Ich schlage daher – in Anlehnung an Jakobson – vor zu überlegen, ob Baumgartens Typologie figuraler Operationen nicht eigentlich nur Identitätsbeziehungen (also Wiederholungen des gleichen signifikanten Materials) von Similaritäts- und Kontiguitätsbeziehungen unterscheiden will; wobei jede dieser Beziehungen – und nicht bloß die Verfahren der Kontextbildung – das Äquivalenzprinzip vom Paradigma auf das Syntagma projiziert,142 und das heißt auf die Reihe, die diese Beziehung abbildet. Deshalb interessieren Baumgarten vor allem diejenigen Formate, die unter dem Oberbegriff der Detaillierung (amplificatio) eines Redegegenstands zusammenge-
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Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 23. Ebd., S. 22. 139 Ebd., S. 23. 140 Die Philosophie unterscheidet zwischen absoluter Identität (Selbigkeit), qualitativer Identität (Gleichheit) und partieller Identität (Übereinstimmung) von Gegenständen. Die erste Identität basiert auf einer einstelligen Relation (vgl. Ar. Met. 1018a), die beiden anderen auf einer zweistelligen Relation (x und y sind verschiedene Gegenstände) sowie einer dreistelligen Relation (x und y sind verschiedene, aber im Hinblick auf ein Drittes identisch, das sowohl Bestandteil von x als auch y ist). 141 Vgl. Cic. Top. 2, 7ff.; Cic. De or. 2, 130. 142 Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921– 1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M. 1979, S. 83–121.
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fasst werden können.143 Als Figuren der Quantität erzeugen sie Text, indem sie einen Redegegenstand in alle seine Eigenschaften zergliedern und die Elemente nach den Regeln der Syntax aneinanderreihen (vgl. MED § 20 Anm.). Grundsätzlich unterscheidet Baumgarten in klassischer Art und Weise zwischen inner- und außerthematischen Detaillierungen – zwischen Detaillierungen, die nur einen Gegenstand bestimmen, und solchen, welche die Grenze von einem Gegenstand zum anderen überschreiten. Zu dieser ersten Unterscheidung kommt eine zweite hinzu. Denn es gibt Detaillierungen, die einen Gegenstand in seine Eigenschaften gliedern und diese subordinieren. Solche Detaillierungen bezwecken eine abgeschlossene bzw. geschlossene Darstellung des Gegenstands, die ihn in sämtlichen Eigenschaften erfassen soll. Hierzu gehören Aufzählung (enumeratio), Auflösung (distributio) und Bestimmung des Begriffs (determinatio) (vgl. MED §§ 19ff.; §§ 50ff.), Ergänzung (epitheton) (vgl. MED § 86) sowie Beschreibung (descriptio) (vgl. MED §§ 54f.). Diese Figuren komplettiert Baumgarten in der Aesthetica um bereichernde,144 erweiternde,145 beweisende,146 veranschaulichende147 und überredende Figuren.148 Solche Detaillierungen können jedoch auch die Eigenschaften eines Gegenstands bloß sammeln und in einer Darstellung koordinieren, die den Gegenstand in seinen mannigfaltigen Eigenschaften und Beziehungen allerdings nie vollständig erfassen kann. „Texte dieser Art“, bemerkt Plett, als bezöge er sich direkt auf Baumgartens Gedichte, „können entweder anschaulicher als auch kryptischer sein als andere“.149 So oder so sind Detaillierungen freilich stets davon bedroht, den Gegenstand ‚aus den Augen zu verlieren‘ bzw. ihn buchstäblich zu zerreden. Dabei zeigen Baumgartens Beispiele, wie die zunehmende Merkmalsbestimmung die Grenze von der Wahrnehmung zum Wissen immer wieder über143
Als übergeordneten Begriff für dieses Verfahren wählt Mainberger denjenigen der Aufzählung, den sie von seiner rhetorischen Definition im engeren Sinn entbindet. Vgl. Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin u. New York 2003, S. 5. Heinz J. Drügh wählt dafür denjenigen der Beschreibung: Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (1700–2000). Tübingen 2006. 144 11. Abschnitt: ‚argumenta locupletantia‘: pleonasmus (vgl. AE § 145, synonymia, synthesis, ellipsis (vgl. AE § 146), hypallage, homoioteleuton, periphrasis (vgl. AE § 147), praeteritio, synathroismus (vgl. AE § 148). 145 23. Abschnitt: ‚argumenta augentia‘ – entlang Pseudo-Longin De sublimate: augmentum / incrementum (vgl. AE § 330), meteora (vgl. AE § 331), hypotyposis (vgl. AE § 332), repetitio (vgl. AE § 333), hyperbaton, climax, gradatio (vgl. AE § 334), anticlimax (vgl. AE § 335), metaphora, similia, comparatio (vgl. AE § 336), hyperbole (vgl. AE §§ 339–341), polyptoton (vgl. AE § 342), anaphora (vgl. AE § 343), epistrophe / epiphora (vgl. AE § 344), symploce, epanalepsis, anadiplosis, ploce, epizeuxis (vgl. AE § 345), synathroismus (vgl. AE § 348), parrhesia (vgl. AE § 349), exclamatio (vgl. AE § 351). 146 33. Abschnitt: ‚argumenta probantia‘: sententia (vg. AE § 549), definitio, descriptio (vgl. AE § 551). 147 Zum 43. Abschnitt: ‚argumenta illustrantia‘ vgl. 1.5.2. Unanschaulichkeit. 148 Zu den vier Paragraphen des 53. Abschnitts: ‚argumenta persuasoria‘, die keine neuen Figuren hinzufügen, sondern nur die Perspektive auf die Figuren neu einstellen, vgl. 3.2.2. Der Wille zur Wahrheit. 149 Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse. 8. Auflage. Hamburg 1991, S. 45.
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schreitet, sodass Baumgarten solche berühmten Beispiele degressiver Reihenbildung wie etwa den berühmten Homerischen Schiffskatalog rechtfertigt: Nostris Choerilis tantum abest, ut observetur haec poematis elegantia, ut potius naso adunco suspendant Homerum Il. E ψ·ΉΐϱΑ΅Ζȱ Λ΅Ϡȱ ΛΓΕΣΑΓΙΖǰȱ ΦΕΛΓϿΖȱ ΅Іȱ ΑЗΑǰȱ ΑϛΣΖȱ ΘΉȱ ΔΕΓΔΣΗ΅Ζ dicentem, narrantem Il. K omnes, Hectori qui obviam ire sustinebant, in Hymno autem Apollinis plurima regnantis dei loca sacra recensentem. Idem in Virgilii Aeneide, qui libr. VII finem et posteriores evoluerit satis superque notare poterit. Addatur et Ovidii catalogus canum dominum lacerantium in Metamorphosi (MED § 19 Anm.).150
Das signifikanteste Beispiel für eine solche Digression findet Baumgarten jedoch in der ersten Ode des Horaz, in der ein mythologisch-narrativer Intertext die symbolische Struktur des Gedichts als eine enzyklopädische ausweist, in der sich jedes Wort als „Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen“ auf das kollektive Gedächtnis hin öffnet:151 Cur in ea atavi pro maioribus, pulvis olympicus pro pulvere ludorum, palma pro praemio, Lybicae areae pro terris frugiferis, Attalicae conditiones pro magnis, trabs Cypria pro mercatoria, mare myrtoum pro periculoso, luctans Icariis fluctibus Africus pro vento, vetus Massicum pro vino generoso, Marsus aper pro fulmineo etc., nisi virtutis esset substituere conceptibus latioribus angustiores? (MED § 20 Anm.)152
Ähnlichkeit ist schließlich auch die zentrale Kategorie derjenigen innerthematischen Detaillierungen, die zum Herzstück der Figurenlehre führen – zu den Vergleichen: SIMILIA sunt, quibus idem convenit conceptus superior, ergo similia ad eandem speciem vel genus idem pertinent. Ergo cum repraesentando phantasmate uno repraesentare similia admodum poeticum, § 35 (MED § 36).153
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„Weit entfernt, daß unsere Dichterlinge diese Feinheit eines Gedichtes beachten. Vielmehr rümpfen sie über Homer die Nase, wenn er in der ‚Ilias‘ sagt: ‚Die Führer und Herrscher und Lenker der Schiffe will ich jetzt aufzählen und die Schiffe selbst’ [2. Gesang, Vers 493; F.B.]. Im 7. Gesang der ‚Ilias‘ schildert er alle, die versuchten, dem Hektor in den Weg zu treten; im Hymnus auf Apoll zählt er die meisten heiligen Orte auf, in denen der Gott gebietet. In Vergils ‚Aeneis‘ wird der dasselbe genug und noch mehr beobachten können, der das Ende des 7. Buches und die folgenden Bücher studiert. Man mag auch Ovids Aufstellung der Hunde hinzufügen, die ihre Herren zerfleischen, in den ‚Metamorphosen‘“ (MED § 19 Anm.). 151 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud. Bd. II/III. Frankfurt a.M. 1999 [ND der Ausg. London 1942], S. 346. 152 „Warum steht in ihr ‚Ahnen‘ für Vorfahren, ‚olympischer Staub‘ für Staub der Spiele, ‚Palme‘ für Preis, ‚lybische Plätze‘ für fruchtbare Gebiete, ‚attalische Verhältnisse‘ für Überfluß, ‚cyprischer Balken‘ für Handelsschiff, ‚myrtenartiges Meer‘ für gefährliches Meer, ‚der mit den ikarischen Fluten ringende Afrikus‘ für Wind, ‚alter Massiker‘ für edler Wein, ‚marsischer Eber‘ für mörderisches Tier usw., wenn es nicht verdienstvoll wäre, an die Stelle von weiteren Begriffen engere zu setzen?“ (MED § 20 Anm.). 153 „GLEICHNISSE nennt man DINGE, die unter denselben höheren Begriff fallen. Folglich gehören Gleichnisse derselben Art oder derselben Gattung an. Daher ist es besonders poetisch, mit einer vorzustellenden Einbildung zugleich ähnliche vorzustellen“ (MED § 36).
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Was in den Meditationes angelegt ist, führt Baumgarten im 23. Abschnitt der Aesthetica über die ‚veranschaulichenden Argumente‘ (argumenta illustrantia) aus,154 deren Systematik er am achten und neunten Buch der Institutionis oratoriae ausrichtet. Obwohl Baumgarten seinen „Meisterdenker[]“155 Quintilian nicht im emphatischen Sinn „neu“ schreibt,156 sondern ihn einfach nur abschreibt, bricht sich in der weitschweifigen Kompilation, in der Baumgarten gewissermaßen Quintilian gegen Quintilian ausspielt, Neues Bahn. Im Zentrum dieses Neuen profiliert Baumgarten nämlich den Vergleich im weiteren Sinn (comparatio latius dicta), der als „figura princeps illustrantium“ alle bisher angeführten Spezialfälle der Komplexitätserzeugung qua Ähnlichkeit umfasst (AE § 742; vgl. § 735). Der Vergleich basiert darauf, Wörter, die miteinander in einer Beziehung der Ähnlichkeit oder Verwandtschaft stehen, gegeneinander auszutauschen oder miteinander zu verbinden: Hinc substitutio illius pro hac pulcre cogitanda, vel coniunctio illius cum hac, non sine vividitate, dabit ARGUMENTUM illustrans A COMPARATIS, quod aliqui dicunt A MEDITATIONE, §. 730, nos dicamus figuram, §. 26, COMPARATIONEM et collationem LATIUS, quae complectitur assimilationem, sed in multa etiam alia argumentorum genera diffunditur, quam quae petantur a simili (AE § 734).157
Als Masterfigur unterteilt Baumgarten den Vergleich in vier Gruppen, von denen er zunächst die auf den drei Qualitäten der Ähnlichkeit basierende nennt: [C]omparatio latius dicta sub se comprehendet argumentum illustrans 1) a simili, aequali, congruente, notabilius eodem, quod figura dicitur a potiori ASSIMILATIO, §. 734 si similia, aequalia, congruentia, notabilius eadem coniungantur. Potest et eorundem unum cogitando substitui pro altero (AE § 735).158
Doch zum Vergleich im weiteren Sinn gehören auch die Vergleiche, in denen das Verhältnis von Gegenstand und Detail nach anderen, wiederum auf die Topik zurückreichenden Beziehungen reguliert ist: die Vergleiche, die auf den Relationen von Teil und Ganzem basieren (comparatio maioris et minoris / comparatio adscen-
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Zur Gleichsetzung von ‚complexus‘ und ‚ubertas‘ vgl. [AE], § 731. Baumgarten entwickelt die Systematik in Anlehnung an Quintilian. Vgl. Quint. Inst. or. VIII 4. 155 Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, S. 48. 156 Haverkamp: Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag, S. 17. 157 „Daher wird die Ersetzung jener durch diese schön zu denkende Vorstellung oder die Verbindung jener mit dieser, nicht ohne Lebhaftigkeit, ein aufhellendes ARGUMENT DURCH VERGLICHENES darbieten, das manche ein Argument DURCH ÜBERLEGUNG nennen. Wir aber wollen sie eine Figur, eine VERGLEICHUNG und eine Verhältnisbestimmung IM WEITEREN SINNE nennen, welche die Verähnlichung einschließt, sich aber auch auf viele andere Gattungen von Argumenten erstreckt als nur auf diejenigen, die von Ähnlichem hergeholt werden mögen“ (AE § 734; Mirbach). 158 „[D]ie Vergleichung im weiteren Sinne [mag] unter sich ein aufhellendes Argument 1) aus Ähnlichem, Gleichem, Gleichartigen und einem in bemerkbarerer Weise Selben begreifen, was als Figur besser eine VERÄHNLICHUNG genannt wird, wenn Ähnliche, Gleiche, Gleichartige und in bemerkbarerer Weise Selbe verbunden werden. Es kann auch im Denken derselben das eine durch das andere ersetzt werden“ (AE § 735; Mirbach).
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dens et descendens),159 der Gegensatz (antithesis)160 und der Vergleich im engeren Sinn (comparatio strictius dicta) – unter letzterem verhandelt Baumgarten die außerthematischen Detaillierungen.161 Durch diese Ausdifferenzierung aller Verknüpfungsverfahren des Vergleichs, die das Gefälle zwischen Figur und Text einebnet, wird die besondere mikrostrukturelle Operation der Figur zur allgemeinen makrostrukturellen Operation der Vertextung auf- oder umgewertet. Bereits in der Hallenser Magisterarbeit propagiert Baumgarten daher die kausale und finale Verknüpfung von Vorstellungen zu narrativen Einheiten mit dem Ziel der Detaillierung eines Themas (vgl. MED §§ 66–68), die Verknüpfung verschiedener Themen sowie die Verknüpfung eines Themas mit anderen (noch unverknüpften) Vorstellungen zu einem Text, sodass am Ende dieser Analyse im Hinblick auf die unbegrifflichen Stellen des literarischen Textes nur ein Schluss möglich ist: Die symbolische Struktur des Gedichts verknüpft in ihrem Umfang mindestens zwei Elemente miteinander, tendenziell aber – netzartig – unendlich viele. 1.5.2 Unanschaulichkeit Die Verfahren der Verknüpfung von allem Wahrnehmbaren und Wissbaren, die in der räumlichen Anschauungsform gegeben sind, haben nun aber für Baumgarten durchaus Methode – und zwar eine ‚lichtvolle‘ Methode (methodus lucida): 159
„Comparatio latius dicta […] comprehendit sub se 2) comparationem partis cum toto, totius cum partibus, superioris, generum, specierum cum inferioribus generibus, speciebus et individuis, inferioris, individui, speciei, generis cum superiore, specie, vel genere, sub quibus contineatur“ (AE § 742) – „Der Vergleich im weitern Sinne umfasst den Vergleich des Teils mit dem Ganzen und des Ganzen mit den Teilen: des Oberen, nämlich der Gattungen und Arten, mit den untern Gattungsbegriffen, den Arten und den Individuen, und des Untern, nämlich des Individuums, der Art und der Gattung, mit dem Oberen, nämlich der Art oder der Gattung, in der es enthalten ist“ (AE § 742; Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 338). Die in den Meditationes genannten Figuren der innerthematischen Detaillierung fallen unter die compartiones descendentes, bei denen Baumgarten im 44. Abschnitt über den ‚Vergleich des Größeren mit dem Kleineren‘ (comparatio maioris et minoris) nach der schlichten Rechnung verfährt: Je mehr Unterteilung oder Zergliederung des Themas (partitio), desto komplexer die Darstellung (vgl. AE §§ 746–749). 160 „Comparatio latius dicta, §. 735. sub se continet 3) comparationem oppositorum“ (AE § 763). „Der Vergleich im weiteren Sinne enthält [3)] die Zusammenstellung der Gegensätze in sich“ (AE § 763; Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 339). Genannt werden außerdem: antisagoge, antithesis, antitheton, crama, antimetabole, paradiastole, oxymoron. 161 „Comparatio latius dicta, §. 734. cum illustrando conferens, ideam quancunque sociam, coniunctam et connexam, quae neque simile, §. 735. nec pars, nec totum, nec illius superius, nec inferius, […] nec oppositum sit, […] quoniam peculiare nomen non accepit, generale retineat 4) COMPARATIO STRICTIUS DICTA“ (AE § 773) – „Weil der Vergleich im weiteren Sinne, der eine beliebige eng verwandte und im gleichen Zusammenhang stehende individuelle Vorstellung heranzieht, die weder eine Ähnlichkeit enthält, noch einen Teil, noch ein Ganzes, noch dessen Ober-, noch dessen Unterbegriff, noch einen Gegensatz darstellt, keinen besondern Namen bekommen hat, möge er ganz allgemein Vergleich im engern Sinne heissen“ (AE § 773; Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 339).
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Quum ordo in repraesentationum successione dicatur methodus, methodus est poetica, § 69, eam vero METHODUM, quae poetica, dicamus, cum poeta lucidum ordinem poetis tribuente, LUCIDAM (MED § 70).162
Doch weder Horaz, auf den sich Baumgarten in diesem Zusammenhang beruft, noch ihm selbst stehen für diese Methode deutliche Begriffe zur Verfügung (vgl. MED § 73 Anm.). Also greift Baumgarten zur Attribuierung der Methode auf die visuelle Metapher ‚lucidus‘ zurück, die unweigerlich in ein spannungsvolles Verhältnis zur textilen Metapher ‚confusus‘ tritt. Denn die allgemeine Regel dieser lichtvollen Methode verpflichtet die dichte Verknüpfung auf Klarheit: „Methodi lucidae generalis regula est: ita se excipiant repraesentationes poeticae, ut thema extensive clarius sensim clariusque repraesentetur“ (MED § 71).163 Baumgarten stellt das Gedicht in das Licht der Aufklärung, indem er es auf ein rhetorisches Gesetz verpflichtet, das dem erkenntniskritischen Vorrang der Anschaulichkeit im 18. Jahrhundert Rechnung trägt: Anschauliches leuchtet ein, Einleuchtendes ist anschaulich. In den Paragraphen, die er der lichtvollen Methode widmet, verschaltet Baumgarten daher die textile mit der visuellen Metaphorik zu einem Algorithmus: Je komplexer eine Vorstellung, desto klarer ist sie – desto extensiv klarer. Für diese Differenzierung erweitert Baumgarten das Leibniz-Wolffsche Koordinatensystem um eine dritte Achse, die zwischen intensiver und extensiver Klarheit der Erkenntnis unterscheidet. Eine sinnliche Vorstellung ist demnach nicht deutlich, sondern verworren, nicht dunkel, sondern klar, in dieser Eigenschaft aber nicht intensiv, sondern extensiv klar. „Ergo multitudine notarum augetur claritas“, heißt es in der Metaphysica im Zusammenhang mit der Lehre von den unteren Erkenntnisvermögen: Ergo multitudine notarum augetur claritas, §§. 162. CLARITAS claritate notarum maior, INTENSIVE [ein schärferes, strengeres], multitudine notarum, EXTENSIVE MAIOR [ein verbreiteteres Licht] dici potest (MET § 531).164
Das Ergebnis dieser Verschaltung präsentiert sich als Paradoxon: Das Licht einer Vorstellung nimmt zu, je dichter die Merkmale in- und miteinander verwoben sind (vgl. AE § 747). In dem Maße, in dem der Komplexitätsgrad einer Vorstellung aufgrund der Anzahl der Merkmale zunimmt, steigert sich daher auch der Grad an Klarheit: 162
„Da die Ordnung in der Abfolge der Vorstellungen Methode genannt wird, ist die Methode poetisch, § 69. Aber diese METHODE, welche poetisch ist, wollen wir mit dem Dichter, der den Dichtern eine lichtvolle Methode zuschreibt, LICHTVOLLE Methode nennen“ (MED § 70; vgl. Hor. Ar. Poet. v. 41). 163 „Die allgemeine Regel der lichtvollen Methode lautet: Die poetischen Vorstellungen sollen einander so folgen, daß das Thema nach und nach extensiv klarer und klarer vorgestellt wird“ (MED § 71). 164 „Also wird die Klarheit durch die Menge der Merkmale erhöht. Die größere Klarheit, die auf der Klarheit der Merkmale beruht, kann intensiv größer, diejenige, die auf der Menge der Merkmale beruht, extensiv größer genannt werden“ (MET § 531 – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten).
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Si in repraesentatione A plura repraesententur quam in B C D etc., sint tamen omnes confusae, A erit reliquis EXTENSIVE CLARIOR. [Anm.] Addenda fuit restrictio, ut distinguerentur hi claritatis gradus a satis cognitis illis, qui per notarum distinctionem descendunt ad cognitionis profunditatem et unam repraesentationem altera intensive reddunt clariorem (MED § 16, vgl. §§ 15 u. 17).165
Mit diesem Paradoxon hält Baumgartens ästhetische Theorie einige Zumutungen bereit. Denn wie soll etwas anschaulich sein, wenn es gleichzeitig dicht verknüpft ist? Oder anders gefragt: Wie soll die Sukzessivität der Verknüpfung in die Simultaneität einer visio überführt werden? Sie allein nämlich gestattet den Durchblick und Überblick der Sache, was das Ideal der Evidenz sowohl in seinem philosophischen als auch in seinem rhetorischen Zuschnitt verspricht. Dieses Ideal verhandelt Baumgarten in der Aesthetica an den Argumentationsorten des ‚ästhetischen Lichts‘ (lux aesthetica) und der ‚ästhetischen Überredung‘ (persuasio aesthetica), nachdem er den Begriff der Evidenz in der Metaphysica im Kontext der Definition des unteren, anschaulichen Erkenntnisvermögens eingeführt hat: „Quo clarior, quo vividior, quo distinctior, quo certior cognitio est, hoc maior est. […] Certa perspicuitas est EVIDENTIA [das völlig ausgemachte]“ (MET § 531).166 Die Bestimmung der Evidenz erfolgt im traditionellen Spannungsfeld von Logik (vgl. AE § 617, §§ 451ff.) und Rhetorik: „Certitudo sensitiva est PERSUASIO [Ueberredung], intellectualis CONVICTIO [Ueberzeugung, Ueberführung]“ (MET § 531).167 Wird der Begriff dann am Argumentationsort der ‚ästhetischen Überredung‘ (persuasio aesthetica) definiert, an dem die Affektenlehre des 17. Jahrhunderts ihrer wirkungsästhetischen Zukunft im 18. Jahrhundert begegnet, unterscheidet Baumgarten zunächst die sinnliche von der logischen Evidenz: Verisimilibus eiusmodi, §. 843–846. dum aesthetica suada, §. 838. circumfundit perspicuitatem sensitivam, §. 618. nascitur inde evidentia, M. §. 531. sensitiva, quam alii demonstrationem ad oculum, ad sensus, et palpabilem dixerint, demonstrationis intellectualiter convincentis analogon (AE § 847).168
Im großzügigen Rückgriff auf Quintilians Lehre der Stilqualitäten bindet er diese sinnliche Evidenz freilich nicht nur – hier wirkt eine weitere Analogie Baumgar165
„Wenn in der Vorstellung A mehr vorgestellt wird als in B, C, D usw., dennoch alle verworren sind, so wird A EXTENSIV KLARER als die übrigen sein. [Anm.] Diese Einschränkung mußte hinzugefügt werden, damit man diese Grade der Klarheit von den genügend erkannten unterscheidet, welche durch die Deutlichkeit der Merkmale zur Vertiefung der Erkenntnis hinführen, und welche eine Vorstellung intensiv klarer als eine andere machen“ (MED § 16). 166 „Je klarer also, je lebhafter, je deutlicher, je gewisser eine Erkenntnis ist, desto bedeutender ist sie. […] Die sichere Verständlichkeit ist die Evidenz“ (MET § 531 – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten, vgl. Quint. Inst. or. VIII 3, 63). 167 „Die sinnliche Gewissheit ist die Überredung, die verstandesgemäße die Überzeugung“ (MET § 531 – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten). 168 „Aus solcherart Wahrscheinlichem, wenn es die ästhetische Göttin der Überredung mit sinnlicher Faßlichkeit umgibt, erwächst dann die sinnliche Ausgemachtheit, die andere einen Erweis für das Auge, für den Sinn und einen handgreiflichen Erweis nennen, das Analogon des verstandesmäßig überzeugenden Erweises“ (AE § 847; Mirbach).
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tens – an die ‚Wahrähnlichkeit‘ (versimilitudo), sondern vor allem auch an die Leuchtkraft, die Klarheit und die Durchsichtigkeit der Gedanken in ihrer Verknüpfung169 – an diejenige sinnliche Durchsichtigkeit (perspicuitas), die von der sich schrittweise einstellenden Cartesianisch-logischen kategorial unterschieden werden muss: „quae vel analogo rationis ad discrimina rei percipienda sufficiat, § 22, M. § 531“ (AE § 614).170 Sinnliche Evidenz und das ihr zugeordnete Stilprinzip der sinnlichen Durchsichtigkeit (perspicuitas) führen Baumgarten erneut zur Figurenlehre (vgl. AE § 852). Im 43. Abschnitt über die ‚veranschaulichenden Argumente‘ (argumenta illustrantia) erhält der Begriff ‚clarus‘ dasjenige Profil, das die symbolische Struktur des Gedichts schärfen soll: ARGUMENTA, quorum (vel unica, vel potior, vel nunc maxime consideranda,) vis est, lucem datae perceptioni affundere, sunt DECLARANTIA (explicantia). Dabunt itaque perspicuitatem vel intellectualem, RESOLVENTIA (analytica) quale est definitio, propriam cuius[que] rei vim declarans, Cic. de Or. I. 190. vel sensitivam, § 614, 618. nunc absolutam certe, §. 617, 625, nunc omnino nitorem aliquem exhibent, et a potiori dicuntur ILLUSTRANTIA (pingentia) (AE § 730).171
Mit den veranschaulichenden, ja sogar malenden Argumenten (argumenta pingentia) steht nun tatsächlich das sinnliche Bild im Zentrum von Baumgartens ästhetischer Theorie. Doch diese Theorie hält überraschende Pointen bereit, weil sie weder mit der Simultaneität des Bildes kalkuliert, noch einem emphatischen Bildbegriff Vorschub leistet, wie ihn Bahr als „dramaturgisch-psychomediale Überbietung“ durch „ein In-Erscheinungtreten im Simultanen“ verheißt: „Das Bild ist, was es zeigt“.172 Der Ausgangspunkt der Überlegungen, die Baumgarten anstellt, ist vielmehr die Integration der Bildlichkeit in die Komplexität des Gedichts. Wie alle Theorien literarischer Bildlichkeit im 18. Jahrhundert zeichnet sich auch diejenige Baumgartens durch ein Übersetzungsverfahren aus: Aussagen über das Medium des Bildes werden auf das Medium der Sprache angewandt, was zur Folge hat, dass die Theorien eine ikonische Repräsentationsfunktion der Sprache profilieren können. In den Paragraphen der Meditationes leitet Baumgarten in diesem Sinn die besonderen sinnlichen Vorstellungen – die Einbildungen (phantasmata) – vom Bild ab: „quis enim negaret phantasma esse quod imaginati sumus? 169 170
Vgl. Quint. Inst. or. VIII 2, 22f. „[…], die wenigstens im intuitiven Denken ausreicht, um die verschiedenen Merkmale eines Dinges zu erkennen“ (AE § 614; Schweizer, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 295–297). 171 „ARGUMENTE, deren (entweder einzige oder vorzüglichere oder jetzt gerade am meisten zu beachtende) Kraft es ist, Licht über eine gegebene Vorstellung zu ergießen, sind AUFKLÄREND (erhellend). Sie werden also entweder, wie die AUSEINANDERSETZENDEN (zergliedernden) Argumente, eine verstandesmäßige Faßlichkeit verschaffen, gleichwie eine Definition die spezifische Bedeutung einer jeden Sache klärt, oder eine sinnliche Faßlichkeit. Letztere werden einmal sicherlich eine absolute sinnliche Faßlichkeit, einmal überhaupt irgendein Schimmern darbieten und werden dann besser AUFHELLENDE (malende) Argumente genannt“ (AE § 730; Mirbach). 172 Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, S. 118.
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[…] Quid ergo phantasmata, nisi refictae (reproductae) sensualium imagines (repraesentationes) a sensatione acceptae“ (MED § 28, Anm.)?173 Baumgarten unterscheidet die beiden Medien Bild und Text zunächst dadurch voneinander, dass er das eine als Einbildung auf der Bildfläche (phantasma in superficie), das andere als Einbildungen der Wörter und der Rede (phantasmata vocum et orationis) bezeichnet. Auf das rationalistische Paradigma der Repräsentation hochgerechnet, können sich beide zu der Horatischen Analogie verbinden: „Ut pictura, poesis erit“ (MED § 39 Anm.).174 Diese rationalistisch grundierte Medien-Analogie ergänzt Baumgarten um die Analogie von phantasma (Einbildung) und sinnlicher Vorstellung. Denn sowohl die Vorstellung der Malerei (repraesentatio picturae) als auch die Einbildung (phantasma) ähneln der sinnlichen Idee (idea sensualis) dessen, was sie repräsentieren (vgl. MED §§ 38–41). Daher schlussfolgert Baumgarten: „Ergo poema et pictura similia“ (MED § 39).175 Weil die beiden Analogien freilich so schlicht ausfallen wie das Referenzmedium des Bildes selbst, taugen weder das Analogie-Verfahren noch das Referenzmedium für die Bestimmung der Funktion ‚clarus‘, obwohl Baumgarten über die Gründe dieser Untauglichkeit keine Rechenschaft ablegt. Er bemerkt lediglich: Pictura cum repraesentet phantasma in superficie tantum, eius non est omnem situm ullumque motum repraesentare, sed est poeticum, quia his etiam repraesentatis plura in obiecto repraesentantur quam non repraesentatis iis et hinc fit illud extensive clarius (MED § 40).176
Medientheorie und Medienkritik des Bildes gehen in den Meditationes daher Hand in Hand, wenn Baumgarten in einer Kehrtwende die Einbildungen in Bezug auf die anderen sinnlichen Vorstellungen für weniger klar, das heißt weniger poetisch hält (vgl. MED § 29) und solche durch Bilder (visiones) hervorgerufene Täuschungen sogar deutlich negativ bewertet (vgl. AE § 490). Allerdings nehmen Medienvergleich und Medienkritik nicht die Argumente über die Simultaneität des Bildes und die Sukzessivität des Textes vorweg (vgl. MED §§ 49–51) – Argumente, wie sie die einige Jahre nach Baumgarten in Frankreich und Deutschland einsetzende semiotische Debatte bestimmen. Tatsächlich kann Baumgarten die Textualität des
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„Wer würde denn abstreiten, daß Einbildungen das sind, was wir uns bildhaft vorgestellt haben? […] Was also sind Einbildungen anderes als wiedererschaffene (reproduzierte) Bilder (Vorstellungen) von sinnlichen Dingen, die von den Sinnen aufgenommen worden sind“ (MED § 28 Anm.)? 174 Vgl. Heinz J. Drügh: Ut pictura poesis. In: Der neue Pauly. Bd. 15/3: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart 2003, S. 929–935. 175 „Also sind ein Gedicht und ein Gemälde ähnlich“ (MED § 39). 176 „Da die Malerei eine Einbildung in der Fläche vorstellt, ist es nicht ihre Aufgabe, die ganze Lage und jede Bewegung vorzustellen. Aber es ist poetisch, das zu tun, weil auch durch diese Vorstellungen mehr im Gegenstand vorgestellt wird, als wenn sie nicht vorgestellt würden, und dadurch wird jener Gegenstand extensiv klarer“ (MED § 40).
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Bildes,177 die er in seiner ästhetischen Theorie voraussetzt, weder thematisieren noch reflektieren; das Interesse am Referenzmedium des Bildes erlahmt vielmehr einfach nur, sodass das Bild schließlich ganz aus der Argumentation verschwindet. An die Stelle des Bildes tritt zunächst die bildliche Repräsentationsfunktion des literarischen Textes, dessen Beschreibung sich auf das Referenzmedium des Bildes hätte auswirken können oder müssen, hätte Baumgarten überhaupt noch einmal einen Seitenblick auf das Bild riskiert. Am poetischen Bild (imago poetica) betont er von Anfang an dessen netzartige Verknüpfungen, die zwar in der räumlichen Anschauungsform gespeichert sind, aber gerade keine simultane visio zulassen. Für den umfangreichen Figurenkatalog der Aesthetica, der das ganze Register solcher unter dem Oberbegriff der Vergegenwärtigung (hypotyposis) stehenden Figuren enthält, wie sie für die komplexe sinnliche Evidenz verantwortlich zeichnen, obwohl sie ihren Gegenstand malen, gilt daher ein und derselbe Begriff ‚clarus‘: „Quoniam HYPOTYPOSIS, vivida, alicuius descriptio, non illustrat solum, §. 618, sed etiam probat, §. 550, 551. inter meliora pingentium argumenta merito refertur, § 731“ (AE § 733).178 Vor-Augen-Stellen (ob oculos ponere) ist demzufolge die Aufgabe des Gedichts (vgl. AE § 39 pass.), wie Baumgarten bei Quintilian abschreibt: Die Figur nun, die Cicero als Unmittelbar-vor-Augen-Stellen bezeichnet, pflegt dann einzutreten, wenn ein Vorgang nicht als geschehen angegeben, sondern so, wie er geschehen ist, vorgeführt wird, und nicht im Ganzen, sondern in seinen Abschnitten. […] Celsus hat auch die Figur selbst ‚Anschaulichkeit‘ benannt, bei anderen heißt sie ЀΔΓΘϾΔΝΗΖ (Ausprägung), eine in Worten so ausgeprägte Gestaltung von Vorgängen, daß man eher glaubt, sie zu sehen als zu hören.179
‚Nicht im Ganzen (Simultaneität), sondern in seinen Abschnitten (Sukzessivität)‘: Unschwer lässt sich diese Formulierung Quintilians mit den Aspekten in Einklang bringen, die Baumgarten anhand der Detaillierungen (amplificationes) für die symbolische Struktur des Gedichts vorsieht. Die Forderung, Vorgänge zu sehen, verweist auf eine neue Funktion dieser Struktur, die Baumgarten anhand der figuralen Techniken der Veranschaulichung (enargeia) erörtert.180 In der „Fülle seiner
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Vgl. Oliver R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung. 2. Auflage Frankfurt a.M. 2004; Klaus Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2003. 178 „Weil ja die HYPOTYPOSE, die lebhafte Beschreibung von etwas, nicht allein aufhellt, sondern auch etwas beweist, wird sie zu Recht zu den besseren malenden Argumenten gezählt“ (AE § 733; Mirbach). 179 Quint. Inst. or. IX 2, 40. 180 Vgl. die „Verfahren der Detaillierung (enárgeia; im Anschluß vor allem an die stoische Philosophie): ausmalende Beschreibung, plastische Ausprägung und Modellierung; Beispiele sind hier hypotyposis, diatyposis, illustratio, demonstratio mit den Unterformen effictio, conformatio, descriptio, topographia“. A. Kemman: Art. Evidentia, Evidenz. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 33–47, hier Sp. 40. Zur literarischen Ekphrasis und ihrer rhetorischen Tradition vgl. Georg Willems: Anschaulich-
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Rollen und der Vielfalt in Ersetzungsart und Wirkung erscheint das Vor-AugenStellen ‚selbst‘ wie die Unbekannte einer Funktion“ – einer Funktion, die Baumgarten erkundet, ohne dabei mehr als ein untaugliches Referenzmedium (Bild) und einen sperrigen rhetorischen Figurenkatalog zur Verfügung zu haben.181 Dem Mediologen bleibt also nichts anderes übrig, als sich der unzureichenden Begriffe mit bester Absicht zu bedienen. In den Meditationes nimmt aus diesem Grund das textuelle Bildgebungsverfahren der Beschreibung (descriptio) den breitesten Raum ein. In vier Varianten rückt Baumgarten mit diesem Begriff einen alten Zopf der Barockpoetik in das Zentrum der neuen Theorie: descriptio rei, descriptio personae, descriptio loci, descriptio temporis (vgl. MED §§ 31f.; §§ 54f., § 58), weil jede Beschreibung ihr Bild in seine Bestandteile zerlegt und diese zu einem Netz verknüpft. Mit dieser Aufwertung der Beschreibung folgt Baumgarten zwar den ansonsten zerstrittenen Parteien zeitgenössischer Poetologen der Einbildungskraft,182 bevorzugt die Beschreibung allerdings aus einem anderen systematischen Grund als Gottsched oder die Schweizer. Die Beschreibung trägt nämlich Baumgartens Forderung nach phänomenaler Individualität und Komplexität dadurch Rechnung, dass sie ihre Gegenstände in deren räumlichen und zeitlichen Bezügen darstellt: [D]eterminationes loci et temporis numericae, saltim specificae, ergo rem maxime determinant, ergo repraesentare omnia, ergo et phantasmata indicando coexistentia per locum et tempus determinare poeticum (MED § 32).183
„Wenn Baumgarten die Vollkommenheit des ästhetischen Gegenstandes“, sprich Vollständigkeit, „seine durchgängige Bestimmtheit nennt“, so perspektiviert Campe diese Aufwertung der Beschreibung in der Mitte des 18. Jahrhunderts, macht er aus der anschaulichen descriptio barocker Poetik den die sinnliche Erkenntnis der Ästhetik einfassenden Grundbegriff. Nirgendwo wird deutlicher, daß Rhetorik im 18. Jahrhundert in der Evidenz mancher ihrer Konzepte aufgeht.184
keit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehung und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. 181 Rüdiger Campe: Vor Augen-Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. DFGSymposion 1995. Stuttgart u. Weimar 1997, S. 208–225, hier S. 209. 182 Vgl. Johann Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Darmstadt 1962 [ND der 4., verm. Aufl. Leipzig 1751], S. 327f. Zur generativen und logischen Bestimmung der Einbildungskraft vgl. Johann Jakob Breitinger: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Hg. v. Manfred Windfuhr, Stuttgart 1967 [ND der Ausg. Zürich 1740]; Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger: Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft […]. Frankfurt und Leipzig 1727. Vgl. Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert, S. 481–484; Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 273–291. 183 „Bestimmungen des Raumes und der Zeit sind numerische, wenigstens spezifische. Also bestimmen sie eine Sache sehr. Folglich ist es poetisch, alles vorzustellen und demzufolge Einbildungen zu bestimmen, indem man das in Raum und Zeit Mitwirkliche angibt“ (MED § 32).
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Poetische Bilder, Gleichnisse und Beschreibungen werden daher auch von den Popularphilosophen, die wie Mendelssohn und die Vertreter einer sinnespsychologischen Ästhetik Baumgarten beeinflusst haben, für geeignet gehalten, Anschauungen zu erzeugen.185 Doch mit der Anschaulichkeit im herkömmlichen Sinn kann Baumgarten nicht kalkulieren – weder mit der unmittelbaren Anschauung einer simultanen visio noch mit der sukzessiv hergestellten logischen Durchsichtigkeit (perspicuitas). Sinnliche Evidenz ist nämlich ganz und gar unanschaulich, weil sich der Blick nicht stillstellen und zu keinem Bild fixieren lässt. Vielmehr ‚irrt‘ dieser Blick durch den Raum, indem er so viele Verknüpfungsmöglichkeiten realisiert wie möglich, bis das Bild in der Bewegung dieser Operationen vollends opak wird. So muss Baumgarten auch im Herzstück der Figurenlehre – der Tropologie – einige Korrekturen an Quintilian im Besonderen und dem Ideal der Anschaulichkeit im Allgemeinen vornehmen. Denn von alters her werden die Tropen für die bildgebenden Verfahren eines literarischen Textes schlechthin gehalten, was sich nicht zuletzt in der Bezeichnung der Metapher als ‚Sprachbild‘ sowie in rhetorischen Modellen niederschlägt, die metaphorische Operationen für ein Geben und Nehmen von Bildern halten. Gerade die Metapher könnte die simultane visio garantieren, hofft jedenfalls Bahr im Hinblick auf Baumgartens „Metaphorologie“.186 Doch schwört Baumgartens Tropologie tatsächlich plötzlich der syntagmatischen Verknüpfung von Elementen ab, bloß weil er sich der paradigmatischen Ersetzung von Elementen in den Tropen zuwendet? Keineswegs! Weder in den Meditationes noch in der Aesthetica redet Baumgarten der Bildlichkeit der Metapher das Wort. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Baumgartens Metapher wird von der Komplexität nicht ausgeschlossen, die sie zu einer Figur sui generis macht. Im 47. Abschnitt der Aesthetica lässt Baumgarten die Katze aus dem Sack. Dort definiert er die ‚Tropen‘ (tropi), indem er nicht nur beherzt Position in einem alten rhetorischen Streit bezieht,187 sondern gleichzeitig auch den Widerstreit zwischen Text (Sukzessivität) und Bild (Simultaneität) auflöst. Zunächst bestätigt Baumgarten die Substitution als vorrangige Operation der Tropen, die weder bloßer Ornat sind noch einer lexikalischen Notwendigkeit folgen: TROPUM hic non attendo tantum, quatenus est verbi vel sermonis a propria significatione in aliam cum virtute mutatio, Quint. VIII. 6. multo minus, quem necessitas et linguae paupertas necessarium facit, quoties significandum est, cuius non est in data lingua proprium vocabulum,
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Campe: Vor Augen-Stellen, S. 209. Vgl. Moses Mendelssohn: Ästhetische Schriften. Hg. v. Otto F. Best. 3. Auflage. Darmstadt 1994, S. 183. 186 Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, S. 74. 187 Baumgarten katalogisiert: exceptio, metaphora, synecdoche, ironia, metonymia, antonomasia, allegoria, metalepsis, aenigma, catachresis, hyperbole, emphasis.
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minime, quem ignorantia proprietatis in loquendo procudit: sed omnem elegantem perceptionis unius pro altera substitutionem (AE § 780).188
Im Gegensatz zu Quintilian, der die Metapher als Substitution einer Bedeutung (translatio) definiert,189 verhandelt Baumgarten diese Operation in den Meditationes nicht auf der Seite des Signifikats. Ihn beschäftigt auch an der Metapher deren Komplexität, die ihr, wie allen anderen Tropen, aufgrund ihrer eigenen phänomenalen Individualität zukommt; und diese Individualität hängt zunächst an der Wörtlichkeit. Daher definiert Baumgarten den Tropus zwar auch im Spannungsfeld von Wort und Bedeutung, kalkuliert aber – darin Aristoteles näher als Quintilian – nicht mit der übertragenen, sondern mit der wörtlichen Bedeutung der Metapher: Significatus improprius est in voce impropria. Improprii autem termini, quum plerunque sint proprii repraesentationis sensitivae, tropi poetici: 1) quia repraesentatio per tropum accedens sensitiva est, hinc poetica, § 10, 11; 2) quia suppeditant repraesentationes complexas confusas, § 23 (MED § 79).190
Und die Aesthetica bilanziert unter dem Strich das gleiche Ergebnis: Die Metapher ist eine Figur. Um diese These zu formulieren, dekonstruiert Baumgarten Quintilian, der ja Operationen mit Wörtern im eigentlichen Sinn (figura) von solchen mit Wörtern im uneigentlichen Sinn (tropus) unterscheidet, bis Baumgarten ihn mit einem Zitat schlägt, in dem die Verfahrensfrage vor der Bedeutungsfrage rangiert: „[D]ie Rede läßt sich ebenso mit Worten im übertragenen wie im eigentlichen Sinn zur Figur gestalten“,191 so steht es jedenfalls an einer Stelle bei Quintilian geschrieben; und diese eine Stelle reicht Baumgarten zur Rechtfertigung der eigenen ästhetischen Theorie (vgl. AE § 783). Nachdem Baumgarten aber erst einmal alle Tropen über den Leisten der Figur geschlagen hat, drängt es ihn zu feineren Mitteln, die den Tropen ihre Sonderstellung in der evidentia-Lehre zu veränderten Bedingungen sichern. ‚Normale‘ Figuren ersetzen einen Gegenstand durch seine Merkmale und bilden diese Operation in der Reihe ab. Im Gegensatz dazu spricht Baumgarten von kryptischen Figuren, wenn die Ersetzung des einen Elements durch ein anderes gewissermaßen auf 188
„Auf den Tropus gebe ich hier nicht so sehr acht, insofern er die kunstvolle Vertauschung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Ausdrucks mit einer anderen ist, noch viel weniger auf den Tropus, den die Notwendigkeit und die Armut der Sprache unabdingbar macht, sooft etwas bezeichnet werden soll, für das es in einer gegebenen Sprache kein eigenes Wort gibt, und am wenigsten auf denjenigen, den die Unwissenheit bezüglich der Eigentümlichkeit einer Sprache beim Sprechen hervorbringt: Sondern ich gebe acht auf jede geschmackvolle Ersetzung einer Vorstellung durch eine andere“ (AE § 780; Mirbach). 189 Vgl. Quint. Inst. or. VIII 6, 4. 190 „Eine uneigentliche (bildliche) Bedeutung finden wir in einem uneigentlichen Wort. Da aber die uneigentlichen Ausdrücke meistens die eigentlichen Bezeichnungen für eine sensitive Vorstellung sind, so sind die Figuren poetisch: 1. Weil die Vorstellung, die durch figürliche Umschreibung hinzutritt, sensitiv und damit poetisch ist, § 10, 11. 2. Weil sie, d.h. die poetischen Figuren, zusammengesetzte verworrene Vorstellungen verschaffen, § 23“ (MED § 79). 191 Vgl. Quint. Inst. or. IX 1, 1–10.
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kleinstem Raum zusammengezogen wird: „Omnis tropus, quem definivi, est FIGURA, sed CRYPTICA, cuius genuina forma non statim apparet, quoniam est figura contracta per substitutionem, § 782“ (AE § 784).192 Mit dem Begriff ‚crypticus‘ importiert Baumgarten ein „Petrus Ramus“ entliehenes Fremdwort in seine Ästhetik (KOLL § 1), das er auf seine Bedürfnisse zuschneidet: Logici scholasticorum docent PROPOSITIONEM EXPONIBILEM, ex affirmanti et negante cryptice compositam, quales exclusivae, exceptivae, restrictivae, e. c. Nisi vererer latinis incommodus esse auribus, tropos figuras dicerem exponibiles (AE § 785).193
Kretzmann erläutert diesen Begriff der Ramistischen Philosophie mit dem Hinweis auf die Aufklärungsbedürftigkeit solcher Sätze bzw. Figuren, will man den logischen Begriff der Ästhetik integrieren: “An exponible proposition is a proposition that has an obscure sense requiring exposition in virtue of some syncategorema occurring either explicitly or included within some word“.194 Baumgarten interessiert indes weniger die Dunkelheit der figura exponibilis oder figura cryptica als vielmehr deren Verräumlichung durch den notwendigen Ko-Text – die Verräumlichung, aufgrund deren Baumgarten dem Begriff ‚clarus‘ die räumliche Anschauungsform der symbolischen Struktur des Gedichts unterlegt. Denn diese Anschauungsform ist es, die den Tropus gewissermaßen zum Bild macht – zum (Schrift-)Bild des Textes – und nicht zum vermeintlichen ‚Sprachbild‘. Dafür bindet Baumgarten zunächst die Tropen an die im Zentrum der Detaillierungen stehenden Verfahren des Vergleichs: „Unde nascitur substitutio termini comparationis pro subiecto eiusdem non inelegans, tropus“ (AE § 781),195 um nach dieser Weichenstellung die Typologie des Vergleichs im weiteren Sinn (comparatio latius dicta) einfach auf die Tropen anzuwenden, die er als zusammengezogene Spielarten der figuralen Verfahren definiert: contracta assimilatio, contracta comparatio maioris et minoris, contracta antithesis (vgl. AE § 782): Metaphoram exponens habebis manifestam assimilationem, §. 735. Synekdochen exponens videbis comparationem maioris et minoris. Est ergo vel ADSCENDENS SYNEKDOCHE, vel DESCENDENS, §. 742. Expone ironiam: habebis antithesin, §. 763. Metonymia denique resol192
„Jeder Tropus, den ich als solchen definiert habe, ist eine FIGUR, aber eine VERBORGENE, deren echte Form nicht sogleich in Erscheinung tritt, weil sie ja eine durch die Ersetzung verkürzte Figur ist“ (AE § 784; Mirbach). 193 „Die scholastischen Logiker lehren, daß EIN ZU ENTWICKELNDER SATZ aus einer bejahenden und einer verneinenden Aussage in verborgener Weise zusammengesetzt ist, dergleichen es ausschließende, ausnehmende, einschränkende usw. Sätze gibt. Wenn ich nicht fürchtete, Ohren, die gutes Latein gewöhnt sind, unbequem zu sein, würde ich die Tropen zu entwickelnde Figuren nennen“ (AE § 785; Mirbach). 194 Norman Kretzmann: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism 1100–1600. Cambridge u.a. 1982, S. 215. Zur ramistischen Tradition Baumgartens vgl. Haverkamp: Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag, S. 16; ders.: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt a.M. 2002, S. 14 pass. 195 „Von daher erwächst die nicht ungeschmackvolle Einsetzung des Hauptbegriffs der Vergleichung anstelle des Subjekts, der Tropus“ (AE § 781; Mirbach).
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vetur in aliquam comparationem strictius dictam. §§. 773, 782. Quicquid itaque de figuris commemoratis huc usque dictum est. §§. 730–779. illud ut de tropis, earum crypsesi, repetamus, non est necesse (AE § 786).196
Vor diesem Hintergrund rückt Quintilians Definition der Metapher, die Baumgarten seiner eigenen zugrunde legt, in ein neues Licht: Im ganzen aber ist die Metapher ein kürzeres Gleichnis und unterscheidet sich dadurch, daß das Gleichnis einen Vergleich mit dem Sachverhalt bietet, den wir darstellen wollen, während die Metapher für die Sache selbst steht. Eine Vergleichung ist es, wenn ich sage, ein Mann habe etwas getan ‚wie ein Löwe‘, eine Metapher, wenn ich von dem Manne sage: ‚er ist ein Löwe‘ [vgl. AE § 787].197
Während bei den ‚normalen‘ Figuren Substituens und Substitutum an zwei Positionen der Reihe auftauchen, lenkt die kryptische Figur die Aufmerksamkeit von der Oberfläche des Textes ab. Das Augenmerk richtet sich auf das, was in den auf Ähnlichkeit oder Verwandtschaft basierenden Verfahren zusammengezogen wird – auf das Substitutum, das in der Krypta des Textes vermutet wird. Haverkamp spricht von den „elementaren Tiefenstrukturen des kryptischen Funktionierens der Sinne für jede Sinngebung“ und wittert gleich den gehörigen Tiefsinn „in den die Oberfläche motivierenden Tiefenmomenten, die Baumgartens ars analogi rationis en detail theoretisiert“.198 Doch diese Krypta kennt weder Tiefe noch Tiefsinn. Nach allem, was Baumgarten an Überlegungen angestrengt hat, kann der Tropus nichts anderes sein als eine weitere Figuration an der Oberfläche des Textes – ein Ornament. Während sich indes die ‚normalen‘ Figuren dadurch auszeichnen, dass sie das Äquivalenzprinzip von der Achse der Selektion (Paradigma) auf die Achse der Kombination (Syntagma) projizieren, verfahren die kryptischen Figuren genau andersherum. Sie unterstellen dem Paradigma bereits diejenige syntagmatische Struktur, welche die Figur eigentlich durch den Projektionsprozess erst herstellen soll: „Nihil est in paradigmate, quod non fuerit in syntagmate“,199 könnte man mit Baßler für Baumgartens kryptische Methode festhalten. Das Ergebnis liegt auf der Hand. Die Oberfläche des Gedichts und die Tiefenstruktur der Krypta lassen sich nicht mehr unterscheiden. Die kryptische Figur verbindet im Gegensatz zur ‚normalen‘ Figur bloß eine Figuration mit einer oder mehreren anderen, sodass sich
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„Wenn du eine Metapher aufklärst, wirst du eine offenbare Verähnlichung haben. Wenn du eine Synekdoche aufklärst, wirst du eine Vergleichung des Größeren und des Kleineren erblicken. Sie ist dann also entweder eine AUFSTEIGENDE oder eine ABSTEIGENDE SYNEKDOCHE. Kläre die Ironie auf und du wirst eine Entgegensetzung haben. Die Metonymie schließlich wird in irgendeine Vergleichung im engeren Sinne aufgelöst werden. Was also über die bisher angeführten Figuren gesagt worden ist, von dem ist nicht notwendig, daß wir es nun in bezug auf die Tropen und die Verborgenheit der Figuren in ihnen wiederholen“ (AE § 786; Mirbach). 197 Quint. Inst. or. VIII 6, 8f. 198 Haverkamp: Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag, S. 16. 199 Baßler: Die kulturpoetische Funktion des Symbols, S. 277.
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jeder Tropus an dieser Schnittstelle auf den intertextuellen Raum des kollektiven Gedächtnisses hin öffnet. Auch bei den kryptischen Figuren markiert Baumgarten daher den Punkt, an dem die symbolische Struktur des Gedichts zur enzyklopädischen wird (vgl. MED § 84); gemeint ist der Punkt, an dem der Tropus als Individualbegriff in seiner wörtlichen Bedeutung Baumgartens Aufmerksamkeit erhält. Dabei erweist sich die medienspezifischere Argumentation in den Meditationes gegenüber der Aesthetica ein weiteres Mal als überlegen. In der Hallenser Magisterarbeit favorisiert Baumgarten nämlich die ersten beiden der vier Aristotelischen Metapherntypen – die Metapher, in der ein Begriff der Art durch einen der Gattung oder ein Begriff der Gattung durch einen der Art ersetzt wird (vgl. MED §§ 77ff.). Die Beziehung führt Baumgarten zunächst zu den Synekdochen der Art für die Gattung und des Individuums für die Art (vgl. MED § 84),200 sodann zur Allegorie, was zur Folge hat, dass dieser Tropus – die an der räumlichen Anschauungsform ausgerichtete symbolische Struktur des Gedichts lässt eigentlich auch nichts anderes zu – der Metapher den Rang als Mastertrope abläuft. Wegen ihrer doppelten Verknüpfung – einer paradigmatischen (Wort) und einer syntagmatischen (Satz) – übertrifft die Allegorie jeden anderen Tropus bei weitem an Komplexität und wird von Baumgarten zum figuralen Prinzip des Symbolischen aufgewertet: ALLEGORIA, cum metaphorarum connexarum sit series, in ea et repraesentationes singulae poeticae, § 79, et maior nexus, quam ubi heterogeneae confluunt metaphorae. Ergo allegoria admodum poetica, § 65, 8 (MED § 85; vgl. AE §§ 802–805).201
An und für sich ist auch dieses Allegoriekonzept nicht wirklich neu; es entspricht dem Typus der Allegorie, für den Quintilian die Bezeichnung ‚Allegorie ohne Metapher‘ (allegoria sine translatione) vorsieht. Im Gegensatz zu den anderen, durch die geläufigen Signale erkennbaren Typen der Allegorie zeichnet sich dieser lediglich durch eine raum-zeitliche Struktur aus.202 Lange bevor de Man die Intentionalität der Allegorie in ihrer Zeitlichkeit erkennt, hat Quintilian daher die ‚Allegorie ohne Metapher‘ mit der Erzählung (narratio) enggeführt,203 sodass Baumgarten ohne großen Aufwand auf einen ganz und gar raum-zeitlichen Tropus zurückgreifen kann. 200 201
Vgl. Ar. Poet. 1457b; 22, 1459a; Rhet. 1412a. „Da eine ALLEGORIE eine Reihe verbundener Metaphern ist, so enthält sie sowohl einzelne poetische Vorstellungen, § 79, als auch eine größere Verknüpfung als wenn verschiedenartige Metaphern lediglich zusammenfließen. Folglich ist die Allegorie besonders poetisch, § 65, 8“ (MED § 85). 202 Kurz unterscheidet daher explikative von implikativen Allegorien. Vgl. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 3. Aufl. Göttingen 1993, S. 40f. 203 Vgl. Quint. Inst. or. VIII 6, 46. Weder Heinz J. Drügh (Anders-Rede. Zur Struktur und historischen Systematik des Allegorischen. Freiburg i.Br. 2000) noch Peter-André Alt (Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995) weisen auf diese eigentliche Pointe der Quintilianschen Allegoriekonzeption hin, in der die Ursache für ihre Theoriefähigkeit im Kontext von Moderne und Postmoderne zu suchen ist.
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Campes Vorschlag, das Konzept figuraler Evidenz für „diejenigen Figuren“ zu reservieren, „die nicht Tropen sind, das heißt für syntaktische, klangliche und morphologische Figuren“, kann vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen getrost verworfen werden.204 Tropen sind Figuren, weil sie so wie alle anderen Figuren mindestens zwei Elemente an zwei Positionen eines Raumes abbilden. In Baumgartens ästhetischer Theorie rückt daher die Kategorie der Vergegenwärtigung (hypotyposis) zum Oberbegriff von Figuralität auf. Die sinnliche Evidenz der Tropen resultiert bei Baumgarten nicht aus der Bildlichkeit, sondern aus der Verknüpfung der Positionen von Substitutum und Substituens. Baumgarten ersetzt nicht nur die traditionellen Modelle von Evidenz durch ein Modell komplexer Textualität, ja geradezu enzyklopädischer Intertextualität, sondern er verlagert mit der Betonung der Opazität des Gedichts sein Interesse von der Bedeutung des Zeichens auf dessen Materialität. Damit führt er konsequent zu Ende, was die rhetorischen Quellen immerhin bereits als Möglichkeit anbieten, wenn beispielsweise Baumgartens Gewährsmann Quintilian an den Verfahren der Veranschaulichung (enargeia) das Moment der Selbstreferenz, des sich selbst ‚Zur-SchauStellens‘ der Figur, hervorhebt, das er von der rhetorischen Aufgabe der Veranschaulichung loslöst: Deshalb wollen wir die πΑΣ˕·Ή΅ […] zu den Schmuckmitteln stellen, weil die Veranschaulichung [evidentia] oder, wie andere sagen, Vergegenwärtigung [repraesentatio] mehr ist als die Durchsichtigkeit [perspicuitas], weil nämlich die letztere nur den Durchblick gestattet, während die erstere sich gewissermaßen selbst zur Schau stellt.205
Diese phänomenale ‚Zur-Schau-Stellung‘ weist auf den materialen Aspekt des Gedichts hin, der im systematischen Zentrum der ästhetischen Theorie steht, obwohl Baumgarten – nach wie vor – keine anderen als die rhetorischen Begriffe zur Verfügung stehen. 1.5.3 Zeitlichkeit Zur Komplexität (confusus) und Opazität (clarus) kommt – als sei das Gedicht nicht schon aufwendig genug analysiert worden – im Folgenden noch eine dritte Funktion der symbolischen Struktur hinzu, deren Zeitlichkeit mit der räumlichen Anschauungsform stets aufs engste verbunden ist. Wann immer Baumgarten in den Meditationes die symbolische Struktur des Gedichts definiert, weist die Grammatik seiner Sätze nämlich entweder der Rede selbst oder deren Teilen (und Elementen) die Rolle des Agens zu – des ‚Handelnden‘: „cuius varia tendunt ad cognitionem repraesentationum sensitivarum, § 5“ (MED § 7).206 Indem Baumgarten an der
204 Campe: Bella evidentia, S. 253. 205 Quint. Inst. or. VIII 3, 61; die eingefügten Begriffe folgen Quintilian. 206. „ […] deren Bestandteile zur Erkenntnis sensitiver Vorstellungen streben,
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§ 5“ (MED § 7).
vollständigen, sinnlichen Rede eine Aktivität, eine Tendenz, ein Streben (tendere) betont, erhält die Verknüpfung der Elemente im Raum sowohl eine Richtung als auch ein Ziel – das Ziel der Vollständigkeit.207 An die Herkunft des Begriffs ‚sensitivus‘ aus der rationalistischen Triebtheorie gemahnend versieht dieses ‚Streben‘ die symbolische Struktur des Gedichts mit einem generativen Index, sodass umgekehrt gilt: Ohne Rücksicht auf dieses Streben spräche man nicht über das Gedicht, sondern über eine andere Form der sinnlichen Rede. Baumgartens Mobilmachung schlägt sich als regelrechte Teleologie in den Definitionen der zuständigen Disziplinen nieder. Wie die Poetik die sinnliche Rede zur Vollkommenheit zu lenken hat (vgl. MED § 115), so zielt auch die Ästhetik auf Vollkommenheit ab, was innerhalb des rhetorisch-poetischen Argumentationszusammenhangs immer noch die Vollständigkeit der Rede bedeutet. In diesem Sinn fordert die berühmte Definition der Ästhetik in den Prolegomena: „Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis“ (AE § 14).208 Die syntaktische Konstruktion, darauf hat Jäger hingewiesen, lässt offen, ob die Wendung ‚perfectio cognitionis sensitivae‘ nun als genitivus objectivus oder als genitivus subjectivus zu lesen sei. Als genitivus subjectivus allerdings wäre die sinnliche Erkenntnis in tätiger Verwirklichung begriffen; sie würde selbst auf ihre Vervollständigung abzielen,209 die sie als Möglichkeit in sich birgt. Diese grammatische Entscheidung ergänzt die stilistische Auffälligkeit, dass Baumgarten in diesem Paragraphen von einer Personifikation der sinnlichen Erkenntnis Gebrauch macht. Dadurch erscheint die cognitio sensitiva im besten Sinn des Wortes wie eine handelnde Person, die beflissentlich in Wirksamkeit begriffen ist. Mit der Aktivität des Gedichts verhält es sich ebenso wie mit dem Bild. Die Begriffe verlieren ihren angestammten Gegenstand und werden zu Eigenschaften der symbolischen Struktur des Gedichts umgewertet. In diesem Sinn beschränkt Baumgarten die Zeitlichkeit nicht auf die angestammten Gegenstände des Gedichts – auf sprachlich dargestellte Handlungen, wie es Lessing im Laokoon vorsieht. Aktivität zeichnet vielmehr diese Struktur aus. In den Meditationes testet Baumgarten dafür einen ersten Begriff: „VIVIDUM dicimus, in quo plura varia, seu simultanea fuerint seu successiva, appercipere datur“ (MED § 112).210 In der Aesthetica findet sich neben dem Begriff ‚vividus‘ (lebhaft) ein weiterer Aktivität anzeigender Begriff: ‚vivus‘ (lebendig, lebend). „Die Konzeption der Lebendigkeit“, erläutert Scheer diesen Begriff, der die Aufgabe hat, dem Gedicht eine zeitliche Anschauungsform zu unterlegen, 207 208
Quintilian betont den kombinatorischen Aspekt von enargeia. Vgl. Inst. or. III 61, 81. „Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher“ (AE § 14; Schweizer). 209 Vgl. Jäger: Kommentierende Einführung in Baumgartens Aesthetica, S. 31. Schweizer bietet zu Recht die alternative Übersetzung ‚Vervollkommnung‘ an. 210 „LEBHAFT nennen wir das, bei dem man gehalten ist, mehrere Bestandteile entweder gleichzeitig oder aufeinanderfolgend in der Wahrnehmung aufzufassen“ (MED § 112).
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steht in direktem Bezug zur Mannigfaltigkeit und Fülle von Anschauungen, die der Ästhetiker in seinem Gegenstand vereinigen möchte. Das schöne Denken wird dadurch zu einer nicht endenden Bewegung zwischen den Teilvorstellungen veranlaßt. Sehr viel weniger bewegt und lebendig verläuft dagegen das intellektuell bestimmte Denken, denn es tendiert dahin, den Prozeß der Repräsentation in einem Resultat zu finitisieren, das heißt seinen Gegenstand an Hand weniger Merkmalseinheiten durch den Begriff zu fixieren. Dieser Begriff macht das Stets-vonneuem-Durchlaufen der Merkmalsfülle der Gegenstände unnötig.211
Am Argumentationsort des ‚ästhetischen Lichts‘ (lux aesthetica) grenzt Baumgarten indes den Begriff der Lebendigkeit deutlich gegen denjenigen der Lebhaftigkeit ab, auf den er in den Meditationes noch gesetzt hat: Nitida vividitas venustae meditationes ne confundatur cum eius ardore ac vita, §. 22. de qua deinceps curatius. Recte pulcreque coniunguntur, quoties fieri potest, ut cogitationes non splendeant solum, sed et ardeant. §. 142, 143. cf. Quint. VIII.3. Natura tamen sua disiunctae sunt in cogitando veneres, per accuratam harum theoriam separatim expendendae (AE § 620).212
Im Gegensatz zum Begriff ‚lebendig‘ (vita / vivus), der jene von alters her zur Affektrhetorik gehörende Feuer-Metaphorik provoziert, hängt der Begriff ‚lebhaft‘ (vividitas / vividus) noch an der Licht-Metaphorik, die im Zusammenhang mit der sinnlichen Evidenz wichtig gewesen ist. In diesem Sinn schließt Baumgarten in der Metaphysica die lebhafteste Vorstellung (repraesentatio vividissima) mit der extensiv klaren kurz:213 „Extensive clarior PERCEPTIO est VIVIDA [eine lebhafte Vorstellung]“ (MET § 531; vgl. § 669)214 – eine Verschaltung von Evidenz und Affekt, wie sie in der zeitgenössischen Poetik und der dort geltend gemachten Forderung nach einer „lebhafte[n] Deutlichkeit“ der Dichtung durchaus üblich ist.215 Vor der Differenzierung übernimmt ausschließlich der Begriff ‚vividus‘ die Aufgabe, den Affekt in die symbolische Struktur des Gedichts zu integrieren,216 wenn auch in enger Koppelung an den Begriff ‚clarus‘, sodass das importierte deutsche Fremdwort „lebhafft[]“ wahlweise sowohl ein „Gemählde“ als auch einen „Vortrag“ und 211 212
Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, S. 64f. „Der lebendige Glanz des schönen Denkens darf nicht mit dessen leidenschaftlicher Glut und dessen vitaler Kraft – diese Begriffe werden wir bald erläutern – verwechselt werden. Es ist richtig und entspringt den Regeln der Schönheit, beides zu verbinden, so oft die Möglichkeit besteht, dass die Gedanken nicht nur von Glanz, sondern auch von Leidenschaft erfüllt sein müssen. Ihrer Natur nach treten diese Schönheiten im Denken freilich getrennt auf, und sie sind jede für sich nach einer besonderen genauen Theorie zu beurteilen“ (AE § 620; Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 301 u. 303). 213 Vgl. Erich Meuthen: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert. Freiburg i.Br. 1994, S. 96–101. 214 „Die extensiv klarere Vorstellung ist lebhaft“ (MET § 531 – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten). 215 Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. 2. Stuttgart 1966 [ND der Ausg. 1740], S. 260. 216 „[D]arum wurde Repräsentation auch zum Schlüsselbegriff für die Tilgung der Distanz zwischen Zeichentheorie und Rhetorik, indem deren Differenzkriterium Affekt selbst in die Repräsentation eingegliedert wurde“. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 75.
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den allgemeinen „Umgang“ miteinander attribuieren kann (MED § 112 Anm.). Man könnte daher auch von einer Überforderung des Begriffs ‚vividus‘ sprechen, angesichts deren Baumgarten mit dem Begriff ‚vivus‘ in der Aesthetica Abhilfe schafft und zwei Funktionen der symbolischen Struktur unterscheidet, die „ihrem systematischen Ort nach nicht mehr“ zusammenhängen,217 weil ‚vivus‘ die Trennung von Evidenz und Affekt vollzieht. Dass der Affekt in einer ästhetischen Theorie um 1750 eine Rolle spielen würde, war zu erwarten. Die Art und Weise, in der Baumgarten diese Rolle des Affekts theoretisch füllt, enttäuscht die Erwartungen jedoch gewaltig. Das Gedicht spreche keine Sprache der Affekte, kritisiert Baumgarten Walchs Definition im Philosophischen Lexikon und vermisst damit den Abstand zu den zeitgenössischen Entwürfen einer ‚Wissenschaft von der Sprache der Gemütsbewegungen‘, weil ihm diese Definition zu eng erscheint (vgl. MED § 114). Weder in den Meditationes noch in der Aesthetica hält Baumgarten daher eine ausführliche Affektenlehre bereit. Wie die Einbildung (phantasma) stellt auch der Affekt (affectus) für ihn lediglich einen Spezialfall der Empfindung dar, den er in der Hallenser Magisterarbeit binär (bonus / malus) codiert und dem er in der Metaphysica zwei eigene Abschnitte zuweist:218 Affectus cum sint notabiliores taedii et voluptatis gradus, dantur eorum repraesentationes sensuales in repraesentante sibi quid confuse, ut bonum et malum, ergo determinant repraesentationes poeticas, § 24; ergo affectus movere est poeticum, § 11 (MED § 25; vgl. MET §§ 655– 662).219
Die Konzeption setzt voraus, dass Baumgarten solche Phänomene, die Campe vor dem Hintergrund der barock-humanistischen Rhetoriktradition als Affekt bezeichnet, dem Paradigma der Repräsentation integrieren und „in ihrer Grundbestimmung als Arten der Wahrnehmung, der Empfindung und der Vorstellung“ verstehen kann,220 erläutert Campe vergleichbare theoretische Anstrengungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Gottsched oder den Schweizern. So kann der „Affekt in die Grammatikalität des schriftlichen Ausdrucks und in die Logik der Vorstellung-Darstellung (der Repräsentation)“ eingegliedert werden.221 Riemann weist darauf hin, dass den Affekten „überdies noch eine größere Klarheit zu[kommt]“ als anderen Empfindungen, weil Affekte „mit den Vorstellungen, denen sie anhaften, einen zusammengesetzten Begriff“ bilden, „der infolgedessen größere extensive 217
Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München 2002, S. 176. 218 14. Abschnitt ‚Indifferentia‘, 15. Abschnitt ‚Voluptas et taedium‘. 219 „Da Affekte merklichere Stufen der Unlust und der Lust sind, so werden ihre Empfindungen demjenigen, der sich etwas vorstellt, als in verworrener Weise Gutes und Schlechtes gegeben. Sie bestimmen also die poetischen Vorstellungen, § 24. Daher ist es poetisch, Affekte zu erregen, § 11“ (MED § 25). 220 Campe: Affekt und Ausdruck, S. 72. 221 Ebd., S. 73.
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Klarheit besitzt als der einfache“.222 Derart komplexe Vorstellungen legitimieren „die Poetizität des Affekts“ – aber nicht umgekehrt: die Affektivität der Poetik.223 Wie die Einbildungen sind auch die Affekte nur „eine Begleiterscheinung“ des Gedichts, „eine mögliche Implikation“.224 Das von ihnen abstrahierte Prinzip der Bewegung, das „reine Bewegungsgeschehen des Affekts“,225 ist jedoch eine der drei unhintergehbaren Funktionen der symbolischen Struktur des Gedichts, denen Baumgarten mit Hilfe der Figuralrhetorik zu Leibe rückt. Denn die „Bewegung, die der Affekt ist“, zeichnet sich für Baumgarten durch eine Analogie zu der Bewegung aus, „durch die der Gebrauch der Figur definiert ist“.226 Baumgarten kennt zunächst keine Konkurrenz zwischen dem Paradigma der Repräsentation und demjenigen der Bewegung.227 Erst in den 1770er Jahren wird diese „Verkettung von Repräsentation und Bewegung“ in demselben Zug aufgelöst,228 in dem das dann freigesetzte Gefühl eine eigene, seinen Diskurs regulierende Disziplin ausbildet: die moderne, nach- und anti-rationalistische Psychologie. ‚Vivus‘ ist der Begriff, der die Trennung von Evidenz und Affekt vollzieht und letzteren als selbstständige Funktion der symbolischen Struktur begreift. Dafür schaltet Baumgarten in seiner Argumentation von den Verfahren der Veranschaulichung (enargeia) auf diejenigen der Verlebendigung (energeia) um. Lebendigkeit eignet nämlich anderen Figuren des Vor-Augen-Stellens als denjenigen, die am Referenzmedium des Bildes entlang dekliniert werden,229 obwohl enargeia und energeia in ihrer langen Begriffsgeschichte sowohl in Konzepten der Ergänzung als auch des Ersatzes stets aufeinander bezogen worden sind.230 Diese zum Teil „innerterminologische Verwechselung“ geht auf die Rechnung einer „eklektische[n] Zusammenschau verschiedener Sprachkonzepte“, präzisiert Campe231 – der Zusammenschau des visuell-repräsentativen Sprachkonzepts der römischen Spätantike mit einem auf Aristoteles zurückgehenden energetisch-performativen Sprachkonzept, dessen Spuren auch in Quintilians selbstreferentieller Definition der enargeia noch 222
Albert Riemann: Die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens unter besonderer Berücksichtigung der Meditationes Philosophicae de Nonnullis ad Poema Pertinentibus nebst einer Übersetzung dieser Schrift. Halle a.d.S. 1928, S. 53f. 223 Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 175. 224 Knops: Bestimmung und Ursprung literarisch-ästhetischer Erkenntnis im frühen und mittleren 18. Jahrhundert, S. 215. 225 Campe: Affekt und Ausdruck, S. 34. 226 Ebd., S. 25. 227 Zur Problematik von Bezeichnung und Bewegung im 17. und frühen 18. Jahrhundert vgl. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 102ff. u. 465ff. 228 Ebd., S. 379, Anm. 213. 229 „Verfahren der Verlebendigung (in Anlehnung an Aristoteles’ enérgeia), der Vergegenwärtigung des Abwesenden, indem es gleichsam lebendig vorgeführt wird und so für alle in Erscheinung tritt; Beispiele hierfür sind lebendige Metaphern, die subiectio sub oculos, phantasia und visio“. Kemman: Evidentia, Evidenz, Sp. 40. 230 Vgl. Heinrich F. Plett: Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance. Tübingen 1975, S. 135f. 231 Campe: Affekt und Ausdruck, S. 230, Anm. 22.
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zu finden sind. In der Poetik definiert Aristoteles solche Verfahren der energeia wie folgt: „Ich verstehe aber unter Vor-Augen-Stellen (pro ommaton poiein) das, was Wirksamkeit zum Ausdruck bringt. […] In-Wirksamkeit-begriffen-sein aber ist Bewegung“. Bei den Tropen gewinnen vor diesem Hintergrund vor allem die Metonymie: „Unbeseeltes […] zu Beseeltem“, und die „analogisch gebildete Metapher“ an Bedeutung, sodass Aristoteles in der Rhetorik über Homer, der in den Epen immer wieder auf die Kraft gerade dieser beiden Tropen vertraut hat, äußert: „[E]r dichtet dies alles als in Bewegung und lebendig seiend; In-Wirksamkeitbegriffen-sein aber ist Bewegung“.232 Der eine Buchstabe ‚e‘, durch den sich energeia von enargeia unterscheidet, markiert aber eigentlich nichts anderes als die medientheoretisch motivierte Erweiterung der statischen Repräsentation (enargeia) zur dynamischen Darstellung (energeia). Das ist der Punkt, an dem Baumgarten in der Metaphysica das an und für sich nur potentielle Seelenvermögen von einer vorstellenden Kraft (vis repraesentativa) abhängig macht und diese Kraft durch ihre Wirkung bestimmt (vgl. MET § 506). Auf der Suche nach den Verfahren einer solchen Darstellung streift Baumgarten die zeitlich indizierten Darstellungsverfahren der Aktualisierung (Verbformen des Präsens, Imperativ, Apostrophe, direkte Rede), die auch Aristoteles vorsieht;233 wichtiger sind für ihn aber die figuralen Verfahren. Um sie theoretisch zu umstellen, greift Baumgarten, anders als er es bei den Verfahren der enargeia getan hat, auf kein Referenzmedium mehr zurück (auf welches auch, wo doch das Bild ausgedient hat), sondern auf ein physikalisches Modell, indem er wie Aristoteles eine Analogie von figuralem Verfahren, physikalischer Bewegung und sinnlicher Erkenntnis unterstellt. Aristoteles hat nämlich bereits das Prinzip der ‚Verwirklichung‘ von der Physik in die Metaphysik und die Nikomachische Ethik übersetzt, bevor er es als Prinzip der ‚Bewegung‘ in die Rhetorik und Poetik übernimmt. In letzteren zeichnet es die Metapher aus, die sich als Tätigkeit in der Bewegung auf ein Ziel hin verwirklicht (energeia).234 Weil Baumgarten mit dem Begriff ‚vivus‘ und dem physikalischen Modell der Bewegung die Aktivität bzw. die Generativität der symbolischen Struktur zu fassen versucht, spricht tatsächlich nichts dafür, eine Verschiebung des „Moment[s] der 232 233
Ar. Rhet. 1411b–1412a. Vgl. Ar. Rhet. 1410b; Long. De subl. 27, 1; Quint. Inst. or. IX 2 u. 9, 41. „Am meisten Relief“, erläutert Campe, „gewinnen zwei Typen von energeia: Zum einen die Veranschaulichung von Ereignissen und Charakteren durch ihre Inszenierungen, zum anderen die metaphorische Beseelung unbelebter Gegenstände“. Vor Augen-Stellen, S. 209. 234 Vgl. Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 185–196. Zum Einfluss der Physik auf Rhetorik und Ästhetik vgl. Anselm Haverkamp: Masse mal Beschleunigung. Rhetorik als Meta-Physik der Ästhetik. In: Inge Münz-Koenen u. Wolfgang Schäffner (Hg.): Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000. Berlin 2002, S. 65–77. Zum Einfluss moderner Naturwissenschaften auf Baumgarten vgl. Michael Jäger: Die Ästhetik als Antwort auf das kopernikanische Weltbild. Die Beziehungen zwischen der Naturwissenschaft und der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers. Hildesheim u. New York 1984.
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Belebung oder Wirksamkeit von der metaphorischen Inszenierung des Dargestellten auf das Verhältnis zwischen Rede und Zuhörer“ anzunehmen,235 wie TorraMattenklott in Anlehnung an Plett vorschlägt. Während in der Aristotelischen Rhetorik „Leben und Tätigkeit Qualitäten der Darstellung“ seien, beträfen sie „bei Baumgarten […] das Verhältnis zwischen Text und Rezipienten“.236 Die Methode, wie Torra-Mattenklott den Begriff ‚vivus‘ daher aus den Anfangsgründen zu entlehnen, weil Meier „manches bei seinem Lehrer nur Angedeutete weiterentwickelt, ohne wesentlich von den Implikationen der Baumgartenschen Begriffe abzuweichen“, birgt erhebliche Nachteile.237 Obwohl die Figuralrhetorik sowohl produktionsästhetische als auch rezeptionsästhetische Anschlussstellen bietet, die vor allem Meiers kongeniale Übersetzung der Aesthetica realisiert,238 rechnet Baumgarten die bewegenden Vorstellungen von den entsprechenden Figuren aus hoch. Diese Vorstellungen sind also auf dem Wege der Analogie gewonnene Phänomene, deren Bewegung figural erzeugt wird. Denn als Kraft der Worte (vis verborum) behandelt auch Scaliger – einer der wichtigen Dialogpartner Baumgartens – die Funktion energeia, ohne ‚Wirksamkeit‘ affektrhetorisch auf- bzw. umzuwerten.239 Tatsächlich weicht Meier durch seine entschieden rezeptionsästhetische Pointierung erheblich von Baumgartens primär am Material ausgerichteter Argumentation ab. Dass die Aesthetica Fragment geblieben ist, dass daher der entsprechende Argumentationsort des ‚ästhetischen Lebens der Erkenntnis‘ (vita cognitionis aesthetica) in der Synopsis zwar auf-, dann aber nicht mehr ausgeführt worden ist, erschwert die Rekonstruktion dieser dritten Funktion der symbolischen Struktur allerdings erheblich. An diesem Argumentationsort hätte der Logik des rhetorischen Systems nach ein Abschnitt folgen müssen, der die Figurenlehre komplementiert, ‚leidenschaftliche Argumente‘ (argumenta ardentia) typologisiert240 und die klassische Affektenlehre in die Ästhetik übersetzt hätte. In diesem Abschnitt wären wohl jene systematischen Bedingungen formuliert worden, die einer strukturellen Verwendung des Begriffs ‚vivus‘ an der Systemstelle der elocutio zugrunde liegen, ohne dass man diese Affektenlehre, wie Linn vorschlägt, an die traditionell dafür vorgesehenen Systemstellen der inventio und der dispositio anschließen muss.241 Einige Hinweise auf die Art und Weise, wie Baumgarten den Begriff ‚vivus‘ profiliert wissen wollte, finden sich indes in der Metaphysica. Sie müssen im Hin235
Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 189; vgl. Plett: Rhetorik der Affekte, S. 171. 236 Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 184. 237 Ebd., S. 142. Zur (Selbst-)Kritik vgl. ebd., S. 145. 238 Vgl. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Bde. Hildesheim u. New York 1976 [ND der Ausg. Halle 1754, 1755, 1759]. 239 Vgl. Plett: Rhetorik der Affekte, S. 116. 240 Zur Feuer-Metaphorik vgl. 3.1.2. Flamme und Feile. 241 Vgl. Linn: A.G. Baumgartens Aesthetica und die antike Rhetorik, S. 458, Anm. 17.
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blick auf die Relevanz ernstgenommen werden, die gerade diese dritte Funktion der symbolischen Struktur in der ästhetischen Theorie innehat. Denn eine komplexe, opake, aktive Struktur, die sich nicht darin erschöpft, etwas darzustellen, sondern darauf zielt, sich selbst auszustellen, erfüllt all diejenigen Kriterien, die im Hinblick auf die emphatischen Konzepte von Modernität wichtig werden. Die Tilgung der beiden Buchstaben ‚i‘ und ‚d‘ im Wort vividus, aus der das Wort vivus entsteht, führt zur Psychologie zurück, wo Wolff den Affekt sowohl im Bereich der empirischen als auch in demjenigen der rationalen Psychologie analysiert. Erstere charakterisiert und klassifiziert die einzelnen Affekte; letztere fragt, „wie die Leidenschaften aus gewissen Modifikationen der Vorstellungskraft eines körpergebundenen und darum innerweltlich positionierten Wahrnehmungsapparates zu erklären seien.“ Mit dieser Frage hat Wolff „die Gründe der Unanalysierbarkeit des Affekts, wie sie bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts bestanden“ haben, aufgelöst: die Stellung des Affekts „zwischen Wahrnehmung / Urteil und Begierde / Wille, zwischen wahrnehmungsinterner theoretischer Frage und disziplinatorisch moralischer Praktik“.242 In Bezug auf das Begehrungsvermögen (facultas appetitiva) unterscheiden Baumgarten wie Wolff grundsätzlich zwischen Begierde und Abneigung. Beide Impulse bezeichnet ersterer – gut mechanistisch – als „Triebfedern des Gemüths“:243 „[H]inc perceptiones intentionis eiusmodi rationem continentes caussae impulsivae sunt appetitiones aversationesque, unde ELATERES ANIMI [Triebfedern des Gemüths] vocantur“ (MET § 669).244 Auch die Triebfedern sind also Vorstellungen. Dadurch stehen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen in einer spezifischen Beziehung zueinander, der weder die Ausgrenzung des Begehrens noch dessen Ablösung vom Erkennen gerecht werden. Sowohl Schmidt als auch Casula haben daher auf die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens vom Erkenntnisvermögen hingewiesen.245 Baumgarten unterscheidet nun die motiva (die „Bewegungs-Gründe“ oder das verstandes- bzw. vernunftgemäße Wollen und Nicht-Wollen (MET § 690 Anm.)) von den stimuli (den „sinnliche[n] Triebfedern“ oder der sinnlichen Begierde und Abneigung (MET § 677 Anm.)). Letztere umfassen die Affekte (vgl. MET §§ 679ff.) und markieren die disziplinäre Schnittstelle von Affekt und Ästhetik: Appetitiones aversationesque (fortiores) ex confusa cognitione sunt AFFECTUS [Gemüthsbewegungen, Beunruhigungen, Leidenschaften] (passiones, affectiones, perturbationes animi), eorumque scientia PATHOLOGIA 1) PSYCHOLOGICA, eorundem theoriam explicans, 2) 242 243 244
Campe: Affekt und Ausdruck, S. 71. Die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten, vgl. [MET], § 669 Anm. „Daher sind Vorstellungen, die den so beschaffenen Grund dieser Absicht enthalten, die bewegenden Ursachen der Begierden und des Abscheus; und sie werden Triebfedern des Gemüts genannt“ (MET § 669; F.B. – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten). 245 Vgl. Mario Casula: La Metafisica di A.G. Baumgarten. Mailand 1973, S. 177–180. Zur Aufwertung des Begehrungsvermögens vgl. Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier, S. 166–172.
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AESTHETICA,
eorum excitandorum, compescendorum, significandorumque regulas continens, quo pertinet pathologia oratoria, rhetorica, poëtica, §. 622. 3) PRACTICA, obligationes hominis respectu affectuum exhibens (MET § 678).246
Die Beziehung von Erkenntnis- und Triebtheorie wird dort weiter präzisiert, wo Baumgarten die lebendige von der toten Erkenntnis unterscheidet. Lebendig, bewegend und leidenschaftlich ist die Erkenntnis, insofern sie wirksame Begierden und Abneigungen in Bewegung setzt; und wirksam ist eine Begierde oder Abneigung, wenn sie ihr Ziel erreicht. Denn diese zielstrebige Ausrichtung auf ein Objekt zeichnet die Struktur des Begehrens aus: „Appetens & aversatus intendit productionem alicuius perceptionis“ (MET § 669),247 oder: „si vim animae meae seu me determino ad certam perceptionem producendam, APPETO [so begehre ich]“ (MET § 663).248 Daraus folgt für die lebendige Vorstellung, dass diese entweder lebendig oder tot ist: COGNITIO249 MOVENS appetitiones aversationesve efficientes, & VIS EIUS MOTRIX, §. 222. est VIVA [die Erkenntniss und ihre bewegende Kraft ist lebendig] (strictius cf. §. 669. incendens, sufficiens ad agendum). COGNITIO & VIS EIUS MOTRIX, §. 222. appetitionum aversationumve inefficientium est MORTUA [todt und höchstens in blossen Reitzungen oder Rührungen bestehend] (strictius cf. §. 669. insufficiens ad agendum, sollicitatio). COGNIT[I]O movens appetitiones aversationesve plenas, & VIS EIUS est COMPLETE MOVENS [vollstaendig], movens tantum minus plenas est INCOMPLETE MOVENS [unvollstaendig bewegend]. Cognitio viva, caeteris paribus, maior est mortua, incomplete movens minor complete movente (MET § 671).250
In der Metaphysica bezeichnet der Begriff ‚vivus‘ also eine aktive, zielstrebig auf ihr Objekt gerichtete Erkenntnis, die ohne große Mühe aus der Psychologie in die Poetik oder Ästhetik hätte übersetzt werden können; ein grundsätzlicher Perspektivwechsel auf das Gedicht, der von dem in Erscheinung tretenden Phänomen zu 246
„Stärkere Begierden und Abscheu, die aus der verworrenen Erkenntnis stammen, sind Affekte (Leidenschaften, Gefühle, Gemütsbewegungen). Ihre Wissenschaft ist die Pathologie: 1) Die psychologische erklärt deren Theorie. 2) Die ästhetische beinhaltet die Regeln ihrer Erregung, Vermehrung und Bezeichnung; dazu gehört die Pathologie der Rede, der Rhetorik und der Poetik, 3) Die praktische lehrt die Pflichten der Menschen im Hinblick auf die Leidenschaften“ (MET § 678; F.B. – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten). 247 „Wer begehrt oder verabscheut, hat die Absicht, irgendeine Vorstellung hervorzubringen“ (MET § 669; F.B.). 248 „Wenn ich die Kraft meiner Seele oder mich selbst bestimme, eine gewisse Vorstellung hervorzubringen, so begehre ich“ (MET § 663; F.B. – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten). 249 Ich übersetze ‚cognitio‘ hier mit Vorstellung; vgl. „Cogitationes sunt repraesentationes“ (MET § 506). 250 „Eine Vorstellung, die Begierden oder Abscheu mit Wirkung bewegt, und ihre bewegende Kraft sind lebendig (im engeren Sinn entzündend, ausreichend zum Handeln). Eine Vorstellung und ihre bewegende Kraft, die Begierden oder Abscheu ohne Wirkung bewegt, ist tot (im engeren Sinn nicht ausreichend zum Handeln, Reiz). Eine Vorstellung, die Begierden oder Abscheu voll bewegt, und ihre Kraft sind vollständig bewegend, diejenige, die sie noch nicht voll bewegt, unvollständig bewegend. Die lebendige Vorstellung ist, wenn die übrigen Umstände gleich sind, größer als die tote, die unvollständig bewegende kleiner als die vollständig bewegende“ (MET § 671; F.B. – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten).
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dessen Wirkung auf den Rezipienten führt, wäre zwar denkbar, aber nicht wahrscheinlich gewesen. Obwohl „Rührung und Repräsentation […] im Rahmen derselben ästhetischen und epistemologischen Konfiguration“ koexistieren,251 spricht nämlich wenig dafür, den Begriff ‚vivus‘ am neuen Argumentationsort des ‚ästhetischen Lebens der Erkenntnis‘ (vita cognitionis aesthetica) wirkungsästhetisch zu verengen, wie Torra-Mattenklott vorschlägt. Baumgarten interessiert keineswegs die „Konstruktion des psychischen Apparats als einer ‚Wunschmaschine‘“,252 so reizvoll diese Baumgarten-Freud-Konstellation an und für sich auch sein mag, sondern nach wie vor diejenige des literarischen Textes. Aus diesem Grund programmiert er das Gedicht selbst zur Wunschmaschine. Es gibt also eine besondere Art von Vorstellungen, von denen Baumgarten auf die dritte Funktion der symbolischen Struktur schließt: COGNITIO, quatenus elateres animi continet, MOVENS [eine rührende, bewegende, thaetige, wircksame Kenntniss] (afficiens, tangens, ardens, pragmatica, practica & viva latius), quatenus minus, INERS [eine kalte, leblose Kenntniss] (theoretica & mortua latius) (MET § 669).253
Wie die beiden anderen Funktionen der symbolischen Struktur hat nun auch die dritte ihren medientheoretisch vermessenen Ort an der Systemstelle der elocutio. Sobald Baumgarten am Gedicht dessen zeitliche Anschauungsform qualifiziert, wendet er sich daher fast reflexartig von der räumlichen Anschauungsform des graphischen Mediums ab. An die Stelle des schriftlich codierten Textes rückt das akustische Medium der Stimme, das in einer zeitlichen Anschauungsform gegeben ist. Als ‚reine‘ vox verkörpert diese Stimme nun jene materialgebundene Bewegung, die Baumgarten als komplexitätssteigernd erachtet, sodass die Schrift (littera) an dieser Stelle sogar ganz aus der Definition des Gedichts verschwindet: „Quum poema excitet voluptatem aurium, qua series sonorum articulatorum, § 92, 91, qua tali etiam inesse debet perfectio, § 92, et quidem summa, § 94“ (MED § 96).254 Bei Poetologen wie Gottsched oder den Schweizern, die vor oder zeitgleich mit Baumgarten auf der Suche Neues bei der Analyse literarischer Texte entdecken, beobachtet Campe, dass die „Lehre der durchgängigen Zuordnung der Actio zu den Affekten […] ganz auf die Stimme (die pronuntiatio und in ihr die vox) hin ausgebildet“ ist.255 Für diese actio der Stimme hält Baumgarten das Met-
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Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 19. Ebd., S. 147. „Eine Vorstellung, insofern sie Triebfedern der Seele beinhaltet, ist bewegend (rührend, berührend, brennend, pragmatisch, praktisch und lebendig im weitesten Sinn), insofern keine, ist sie kalt (theoretisch und leblos im weitesten Sinn)“ (MET § 669; F.B. – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten). 254 „Da das Gedicht als Reihe artikulierter Laute zur Lust der Ohren anregt, § 92, 91, muß darin insofern eine Vollkommenheit enthalten sein, § 92, und sogar höchste Vollkommenheit, § 94“ (MED § 96). 255 Campe: Affekt und Ausdruck, S. 68; vgl. Ebd., Topos III: Die literarische Konjunktion: rhetorische Poetik und Theorie der Sprache.
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rum für zuständig: ein Versmaß (numerus), das alle Silben eines Gedichts nach demselben Schema von Kürzen und Längen ordnet (vgl. MED § 103): Quum metrum ideas sensuales producat, § 103, 102, eae vero extensive clarissimae adeoque maxime magisque poeticae, quam minus clarae, § 17, metri leges accuratissime observari admodum poeticum, coll. § 29 (MED § 107).256
In seiner Definition des Metrums scheint sich Baumgarten stur am quantifizierenden Prinzip der griechischen Metrik zu orientieren. Das akzentuierende Prinzip, das von Opitz für eine deutsche Metrik stark gemacht wird, interessiert den klassischen Philologen überhaupt nicht; ja, er wendet sich ausdrücklich gegen die Korrelation von Betonung und Länge einer Silbe (vgl. MED § 101 Anm.). Das griechische Gesetz ist für Baumgarten so selbstverständlich, dass er es nur ganz nebenbei abruft – in den übrigen Paragraphen dann allerdings permanent hintertreibt. Denn er bindet das Metrum in nahezu allen Argumenten an dessen materiales, lautliches In-Erscheinung-Treten: „[I]n scandendo ergo, quantum temporis syllabae quantitas postulat, tantum eius est morae“ (MED § 100 Anm.),257 erläutert Baumgarten beispielsweise den Zusammenhang von Länge und Skandierung der Silbe; und zwei Paragraphen später führt er das Ohr als graue Eminenz in seine Metriktheorie ein: „Numerus voluptatem auribus creat, § 101, ergo est poeticus, § 95“ (MED § 102).258 Immer wieder ruft Baumgarten dieses sinnliche Erkenntnisorgan an; und dabei folgt der Apostrophe die Personifikation auf dem Fuße: Das Ohr solle eine Silbe von der anderen unterscheiden, deren Länge oder Kürze bestimmen, deren Verknüpfungen zu Versmaßen oder gar Metren erkennen. Es ist diejenige Instanz des Bewusstseins, die eine zeitliche Relation als solche überhaupt erst konstituiert, weil das Ohr die Ähnlichkeit in der Abfolge von Silben erkennt (ingenium), sie von anderen Abfolgen unterscheidet (acumen), sich an vorherige Abfolgen erinnert (memoria) und zukünftige erwartet (praesagitio). Kurzum: Das Ohr gibt dem Gedicht die Zeit; auf dem sinnlichen Urteil (iudicium) des Ohres basiert die gesamte Komplexität der Bewegung. Was man als theoretische Unschärfe bezeichnen könnte, erweist sich im Hinblick auf die symbolische Struktur des Gedichts als ungemein konsequent. Denn die permanenten Urteile des Ohres über Längen, Kürzen und deren Relationen haben einen bedenkenswerten Effekt auf den Medienwechsel, den Baumgarten bei der Bestimmung der dritten Funktion der symbolischen Struktur vollzogen hat. Diese Urteile kehren den Fluss der Stimme gewissermaßen um, sie unterbrechen das zeitliche Kontinuum, sobald sie Beziehungen zwischen den Elementen her256
„Da das Metrum sinnliche Ideen erzeugt, § 103, 102, diese aber extensiv sehr klar und folglich sehr poetisch und mehr poetisch sind als weniger klare, § 17, so ist es besonders poetisch, die Gesetze des Metrums sehr sorgfältig zu beachten, vgl. § 29“ (MED § 107). 257 „Beim Skandieren gilt also: Ihr Zeitwert ist genau so groß, wie die Quantität der Silbe an Zeit erfordert“ (MED § 100 Anm.). 258 „Das Versmaß verschafft den Ohren Lust, § 101, folglich ist es poetisch, § 95“ (MED § 102).
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stellen. Dadurch bildet das Ohr die zeitliche Anschauungsform der Stimme in jedem einzelnen ‚Bewusstseinsakt‘ auf die räumliche Anschauungsform der Schrift ab. Das geschieht beispielhaft bei der Definition des Endreims, den Baumgarten nämlich nicht etwa von der akustischen Figur des Homoioteleutons ableitet, sondern von der graphischen Figur der paronomasia finalis. In derselben Aufzählung ordnet er diesem Schrift-Reim – der intratextuellen Abbildung von Buchstaben am Versende – das Buchstabenspiel (lusus litterarum) im Akrostichon und diejenigen Phänomene zu, die heute unter den Oberbegriff der visuellen Poesie fallen (expressiones figurarum). Von der Stimme fehlt in dieser Argumentation jede Spur, weil es offenbar für Baumgarten keine stabile Wiederholung ohne ein Gedächtnis geben kann; und dieses Gedächtnis bildet sich nur im Raum des Textes ab. So re-installiert das Ohr die räumliche Anschauungsform der Schrift, die der Ausgangspunkt von Baumgartens ästhetischer Theorie gewesen ist. Diese Verzeitlichung des Raumes oder andersherum gewendet: diese Verräumlichung der Zeit – und damit die Gleichzeitigkeit der beiden Anschauungsformen, der räumlichen der Schrift und der zeitlichen der Stimme – führt dazu, dass sich Baumgarten in der Frankfurter Kollegnachschrift an eine Kunstform erinnert, in der Zeit und Raum selbstverständlich aufeinander bezogen sind: „Man erfordert von einem jeden Menschen gute Füße und eine wohlgeordnete Stellung, man erfordert sie aber vorzüglich von einer Tänzerin, die den Vorsatz hat, uns durch die Geschicklichkeit ihrer Füße zu vergnügen“ (KOLL § 269 pass.). Ein gutes Gedicht sei wie ein guter Tanz – dieser Vergleich findet sich bereits in den Meditationes, in denen Baumgarten im Hinblick auf die Lieder der Hirten Damon und Alphesiboeus in Vergils fünfter Ecloga anmerkt: „Saltantes Satyros imitabitur Alphesiboeus“ (MED § 109).259 Mit diesem Vergleich hat Baumgarten das physikalische Referenzmodell der Bewegung, das er für die Bestimmung der letzten Funktion der symbolischen Struktur ‚vivus‘ benötigt, wieder an ein Referenzmedium aus dem Bereich der Künste angeschlossen – an ein Referenzmedium, das seit den 1770er Jahren unter dem Stichwort der Darstellung Karriere macht. Die entsprechenden Untersuchungen verweisen immer wieder darauf, dass Aristoteles betrachtende (theoria), handelnde (praxis) und hervorbringende (poiesis) Tätigkeiten unterscheidet, auf deren Grundlage Quintilian eine Dreiteilung der Künste in theoretische (z.B. Astronomie), handelnde (z.B. Tanz) und hervorbringende (z.B. Malerei, Dichtkunst) vornimmt. Während das Hervorbringen sein Ziel außerhalb seiner selbst nur im Werk hat (ergon), erschöpft sich das Handeln im Vollzug der Handlung selbst (energeia). Für die Korrektur der sinnlichen Evidenz, die eine dritte Funktion der symbolischen Struktur nötig macht, weil Baumgarten das Referenzmedium des Bildes verabschiedet hat, muss dem Ästhetiker das neue Referenzmedium des Tanzes deswegen äußerst attraktiv vorgekommen sein: „Das rhetorische Verfahren Ornat 259
„Die tanzenden Satyrn wird Alphesiboeus nachahmen“ (MED § 109).
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verbindet also das einfache Vor-sich-Sehen der enargeia mit einem Darstellen im Hinblick auf ein Handeln, das hier energeia heißt“.260 Mit der Implementierung dieser Funktion in das Gedicht begründet Baumgarten die Performativität von dessen symbolischer Struktur und erreicht ein Differenzierungsniveau für die Sache des literarischen Textes, wie es keine auf ihn folgende große Ästhetik des 19. Jahrhunderts zu leisten im Stande ist. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass Baumgarten in seiner ästhetischen Theorie erkenntnistheoretische und medientheoretische Aspekte des Gedichts verschaltet. Die Zweiwertigkeit der dabei entstehenden Rede ist unhintergehbar, sodass jede Strategie der Disambiguierung den argumentativen Sachverhalt in unzulässiger Weise verkürzt. Dabei übersetzt er die Rede über das Gedicht auf der Grundlage eines etymologisch-figuralen Verfahrens von einer Disziplin in die andere: von der Psychologie in die Rhetorik, von der Rhetorik in die Semiotik, von der Semiotik in die Poetik, um dessen symbolische Struktur zu analysieren. Obwohl meine Rekonstruktion der ästhetischen Theorie aus pragmatischen Erwägungen bei der psychologischen Versuchsanordnung angesetzt hat, wäre es kurzsichtig, zu behaupten, dass die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ ihren Ursprung in der Psychologie hat. Die Rede über das Gedicht ist vielmehr im besten Sinn ursprungslos, weil sich jene die Sache auszeichnenden Aspekte zu einem Zirkel der Disziplinen schließen. Im Laufe dieser Übersetzungsarbeit – und gewissermaßen als deren Effekt – lässt Baumgarten die Prämissen der rationalistischen Psychologie ebenso hinter sich wie diejenigen der rationalistischen Semiotik, weil sein Interesse dem materialen Überschuss des Gedichts gilt. Da Baumgarten für sein neues Problembewusstsein noch keine Begriffe zur Verfügung stehen, beschreibt er diese medialen Aspekte mit Begriffen und Konzepten der rhetorischen elocutio-Lehre. Die Analyse seiner Beispiele führt Baumgarten an der symbolischen Struktur des Gedichts zu drei Funktionen, deren Profilierung unter der Prämisse erfolgt, dass dem Gedicht die räumliche Anschauungsform der Schrift zugrunde liegt. Aussagen über das Gedicht setzen deshalb eine komplexe Anordnung von Elementen voraus, die in einer mindestens zweigliedrigen, aber tendenziell nicht nur mehrgliedrigen, sondern unendlich vielgliedrigen Struktur verknüpft sind, sodass Baumgarten das Modell simultaner Evidenz (Bild) in ein Modell sukzessiver Handlung (Tanz) überführt. Dergestalt kalkuliert er mit der Performativität des Gedichts, welche die räumliche Anschauungsform der Schrift mit der zeitlichen der Stimme in Beziehung setzt. Aussagen über das Gedicht setzen deshalb eine zeitliche Abfolge von Elementen voraus, in der jedes Element zielstrebig auf das folgende gerichtet ist.
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Campe: Vor Augen-Stellen, S. 218.
2 Die Wahrscheinlichkeit des Gedichts
Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. Hegel, Vorrede zur Philosophie des Rechts
2.1 Die Metaphysik des Schönen Nach den Gesetzen der sinnlichen Erkenntnis sucht Baumgarten nicht auf dem dunklen Seelengrund (fundus animae), auf dem man gemeinhin das Andere der Vernunft vermutet, sondern an der Oberfläche des Gedichts, genauer gesagt in den dichten Verknüpfungen an den unbegrifflichen Stellen (confusus), die ebenso opak (clarus) wie aktiv (vivus) in Erscheinung treten. Auf dieser Medialität basiert die ästhetische Theorie, deren Grundstock an Paragraphen Baumgarten in den Meditationes legt und in der Aesthetica ausarbeitet. Zur epistemischen Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ gehört indes noch mehr als die rhetorische, semiotische und poetologische Übersetzung der psychologischen Versuchsanordnung. Denn Baumgarten wird an der symbolischen Struktur des Gedichts vor allem auf eines aufmerksam: auf deren metaphysische Leistungen, sodass der literarische Text plötzlich nicht nur ontologische, kosmologische und theologische, kurzum metaphysische Probleme aufwirft, sondern diese Probleme auch – sinnlich – löst. „Denn das Sinnliche“, so könnte man es mit Gadamer ganz im Sinn Baumgartens ausdrücken, „ist nicht bloße Nichtigkeit und Finsternis, sondern Ausfluß und Abglanz des Wahren“.1 Das Gedicht ist also ohne seinen metaphysischen Hintergrund gar nicht zu verstehen, weil mit ihm sowohl ein Verfahren als auch dessen Wahrheit zur Diskussion steht. Die Qualität dieser Wahrheit kann Baumgarten mit Hilfe der sechs formalen Stilkategorien bestimmen, an denen entlang er die Gesetze der sinnlichen Erkenntnis geschrieben hat: Reichtum, Adel, Wahrheit, Licht, Gründlichkeit und Leben. Ausgangspunkt der Metaphysik ist der Begriff ‚perfectus‘, der zunächst und vornehmlich den Unterschied zwischen Rhetorik und Poetik dadurch markiert hat, dass das Gedicht im Gegensatz zu einer bloß sinnlichen Rede nach Komplexität strebt. Nun wird der Begriff ‚perfectus‘ um metaphysische Aspekte erweitert, weil für Baumgarten allein die angestrebte Vollständigkeit die Vollkommenheit des Gedichts ausmacht. Der Diskursivitätsbegründer der Ästhetik annonciert den meta-
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Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1. Tübingen 1990, S. 79.
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physischen Anspruch der neuen Superdisziplin bereits im ersten Paragraphen. Zur ‚Theorie der freien Künste‘, zur ‚unteren Erkenntnislehre‘ und zur ‚Kunst des der Vernunft analogen Denkens‘ gehört nämlich per definitionem stets auch die ‚Kunst des schönen Denkens‘ bzw. „die Wissenschaft des Schönen“ (MET § 533, Anm.). Im Frankfurter Kolleg bringt Baumgarten die neue Superdisziplin dementsprechend ganz klar auf den Punkt: „[S]o könnte man die Ästhetik nach einiger Ähnlichkeit die Metaphysik des Schönen nennen“ (KOLL § 1). Dass Baumgartens ästhetische Metaphysik damit die beste Zielscheibe für jede Form ideologiekritischer oder dekonstruktivistischer Logozentrismusschelte bieten könnte, scheint zunächst unabweisbar. Leitet er nicht einfach nur die Gesetze der sinnlichen Erkenntnis von den metaphysischen Weltgesetzen ab? Doch selbst wenn es Baumgarten in seiner Metaphysica auf den Ursprung der Ordnung abgesehen haben mag, dem logische wie der Vernunft analoge, sinnliche Erkenntnis entstammen, selbst wenn er als ein Hauptvertreter jener Ursprungs-Ableitungs-Relation dasteht,2 die im 20. Jahrhundert so verdächtig geworden ist, hat sich an Baumgartens Argumentationsbildung nichts geändert, die ihn an und für sich schon von jedem Verdacht freispricht. Denn am Anfang war hier nicht die Welt, am Anfang war das Wort – nicht das göttliche Wort, sondern das literale, dem weiterhin die Aufmerksamkeit in der Auseinandersetzung mit Baumgartens ästhetischer Theorie zu gelten hat. Denn der Philosoph treibt sein auf Analogien basierendes Sprachspiel – oder besser sein etymologisches Verfahren – in der Metaphysik des Schönen weiter, ohne je zum wesensmäßigen Grund der verschobenen Wörter vordringen zu können. Zelles Befund einer „paralogische[n] Programmatik“ trifft den Nagel auf den Kopf.3 „Im poetologischen bzw. ästhetischen Gewand sind“ die metaphysischen Attribute nämlich „alle schon aufgetreten, ehe der Wahrheitsbegriff systematisch abgehandelt wird“.4 Die ursprungslose wie im buchstäblichen Sinn grundlose Metaphysik bewahrt die ästhetische Theorie daher vor jeglichem Ideologieverdacht. 2.1.1 Vollkommenheit In der europäischen Kunstdiskussion des 18. Jahrhunderts bezieht Baumgarten mit der metaphysischen Verankerung seiner ‚Wissenschaft von allem, was sinnlich ist‘, eine provokant anachronistische Position. Während seine Gewährsmänner Bohours und Dubos die Schönheit dem sensus communis, und das heißt dem Geschmack des Publikums, unterstellen, will Baumgarten von solchen demokratischen Halb2
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Vgl. Hans Carl Finsen: Evidenz und Wirkung im ästhetischen Werk Baumgartens. Texttheorie zwischen Philosophie und Rhetorik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 198–212, hier S. 200. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart u. Weimar 1995, S. 70. Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, S. 70.
heiten nichts wissen. Die artes-orientierten Abhandlungen, die von Frankreich aus den deutschsprachigen Raum erobern, können das Problem des Schönen nicht „erschöpfen“ (KOLL § 1). Nicht um Rührung durch das Schöne ist Baumgarten bemüht (vgl. KOLL § 14), sondern um die Wahrheit des Schönen. Unter dieser metaphysischen Voraussetzung setzt er jedem nescio quid die Überzeugung entgegen, dass sich über Geschmack streiten lassen muss. Diese Behauptung ist aber nicht nur provokant, sondern sie markiert auch den Punkt, an dem sich die Diskurse des Schönen (pulchritudo, venustas) und des Gedichts in der ästhetischen Theorie treffen.5 Bei Baumgarten handelt es sich nicht um eine partielle Überschneidung der Literatur mit der Schönheit, wie sie Kant im 59. Paragraphen der Kritik der Urteilskraft vorsieht, in dem er das tropisch hergestellte Schöne als „Symbol des Sittlichguten“ bezeichnet,6 sondern um eine Überschneidung, die das Gedicht als exklusive sinnliche Darstellung von anderen Formen der sinnlichen Darstellung unterscheidet. Man wird nicht umhin können, in dieser Engführung der Literatur mit dem Schönen eine wichtige Szene der modernen Kunstmetaphysik anzuerkennen. Nur das Gedicht (nicht die Rede) ist schön; weil es schön ist, ist es wahr; und je schöner es ist – so die triviale, nichtsdestotrotz wirkungsmächtige Faustformel –, desto wahrer ist es auch. Den Zusammenhang von Schönheit und Wahrheit begründet Baumgarten metaphysisch in der Vollkommenheit phänomenaler Individualität:7 „Perfectio phaenomenon, s. gustui latius dicto observabilis, est PULCRITUDO [Schönheit], imperfectio phaenomenon, seu gustui latius dicto observabilis, est DEFORMITAS [Hässlichkeit]“ (MET § 662),8 heißt es in dem entsprechenden Paragraphen der Metaphysica, den Baumgarten seinem zentralen 14. Paragraphen der Aesthetica unterlegt: „Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis“, wiederholt der zentrale Paragraph der Aesthetica, „Haec autem est pulcritudo“ (AE § 14).9 Im Kolleg erklärt Baumgarten diese Wendung: „Die Ästhetik wird die Vollkommenheit haben müssen, die die Erkenntnis überhaupt haben muß, wann sie vollkommen sein soll“ (KOLL § 22). Sowohl die Vollkommenheit jeder Erkenntnis (perfectio omnis cognitionis) als auch die Schönheit der sinnlichen Erkenntnis (pulchritudo 5 6 7
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Vgl. die Pionierarbeit zu diesem Problemkomplex von Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Tübingen 2007. Kant: Kritik der Urteilskraft, A 255/B 259. Zur grundlegenden Analyse des Wahrheitsbegriffs vgl. Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 76– 116 (unter äußerst sorgfältiger Einbeziehung der älteren Forschungsdiskussion im Hinblick auf die philosophische Tradition); Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 40–81; Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus, S. 35–42; Groß: Felix Aestheticus, S. 143–163. „Vollkommenheit, die in Erscheinung tritt oder durch den Geschmack im weiteren Sinn beobachtet werden kann, ist Schönheit; Unvollkommenheit, die in Erscheinung tritt oder durch den Geschmack im weiteren Sinn beobachtet werden kann, ist Hässlichkeit“ (MET § 662; F.B. – die Übersetzung im Zitat folgt Baumgarten). „Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint“ (AE § 14; Schweizer).
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cognitionis sensitivae) bemisst er an den Perfektionskategorien: ‚Ubertas, magnitudo, veritas, claritas, certitudo et vita cognitionis‘. Schön ist die Vollkommenheit also dann, wenn sie der individuellen Erfahrung gegeben ist, wenn sie also als leibhafte Wahrheit in Erscheinung tritt.10 Mit dieser Wendung übersetzt Baumgarten aber nicht nur Logik in Ästhetik, sondern auch Ontologie in Logik und dann in Ästhetik. Diese Analogie setzt einen allgemeinen Begriff von Schönheit (pulchritudo universalis) voraus, aufgrund dessen Baumgarten „die Diskussion über das Schöne der Kunst in einem Problemfeld“ eröffnet, „das von Kant dann terminologisch durch die Bestimmungen des – teleologisch begründeten – Naturschönen einerseits und des Kunstschönen andererseits eingegrenzt worden ist“, erläutert Franke.11 Bei Baumgarten gibt es diese kategoriale Trennung naturgemäß nicht. Die allgemeine Schönheit der sinnlichen Erkenntnis (pulchritudo sensitivae cognitionis universalis) bemisst sich wie die besondere an denselben sechs Stilkategorien, die in der Aesthetica als „die ontologischen Prädikate des Seins zu Existenzbedingungen des Schönen gemacht“ werden.12 Sie treffen auf Gegenstände zu, „in quibus iuvat / Copia, nobilitas, veri lux certa moventis“ (AE § 22; vgl. MET § 539).13 Der ontologische Grund der Schönheit offenbart ein weiteres schulphilosophisches Erbe, an dem Croce die „Antiquiertheit“ der Aesthetica festmachen will.14 Im Wesentlichen besteht es aus den drei Sätzen der metaphysischen Ontologie: den Sätzen des Widerspruchs, des zureichenden Grundes und der Einheit (vgl. AE § 426).15 Doch gerade der kritisierte grobe Zuschnitt markiert die systematischen Stellen, an denen die präsenzmetaphysischen Konzepte der ästhetischen Theorien im 19. Jahrhundert anschließen werden. Baumgarten geht nämlich davon aus, dass in der Welt alles mit allem zu einer sinnvollen und sinnfälligen Einheit verknüpft ist, wie sie im Gedicht in Erscheinung tritt. Dieser Zusammenhang (consensus) – das Wort bezeichnet mehr als nur die formale Verknüpfung – macht sowohl die Vollkommenheiten und Schönheiten der Welt als auch diejenigen in der Welt aus, die um 1750 noch gut, sprich: gottgefällig ist. Indem Baumgarten einen der eingängigsten Sätze aus Leibniz’ Theodizee (1710) gewissermaßen ‚etymologisiert‘, bestätigt er die antike Dreieinheit des Gedichts: „pulcre! bene! recte“ (AE § 56). Für dessen Schönheit, Wahrheit und (moralische) Güte beleiht er aber Leibniz’ Vorstellung, dass die vollkommenste aller möglichen Welten auf die größte Harmonie und den größten Zusammenhang zurückzuführen ist, den miteinander ver-
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Vgl. Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995, S. 55–107. Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 79. Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, S. 70. „[…], in denen uns erfreut die Fülle, die edle Art, das Licht der bewegenden Wahrheit“ (AE § 22; Schweizer). Vgl. Benedetto Croce: Storia dell’estetica per saggi. Bari 1942, S. 93–122. Vgl. Finsen: Evidenz und Wirkung im ästhetischen Werk Baumgartens, S. 202.
knüpfte Elemente haben können: „In mundo perfectissimo est maximus, qui in mundo possibilis, nexus universalis, §. 437, 94. harmonia & consensus“ (MET § 441).16 Diese Vollkommenheit wird durch eine Ordnung geregelt, welche die Teile zu einem Ganzen zusammensetzt (ordo compositus): In omni perfectione est ordo, §. 95. Hinc in mundo perfectissimo maximus est ordo, qui in mundo possibilis, §. 437, 175. Ergo plurimae regulae perfectionis communes […] & ordo maxime compositus, §. 183. ita tamen, ut inferiores superioresque regulae tandem ad unam omnes ex una summa perfectionis regula, eademque fortissima, cognosci possint (MET § 444).17
Wenn dergestalt Schönheit Vollkommenheit, Vollkommenheit Zusammenhang, Zusammenhang Verknüpfung, Verknüpfung Ordnung und Ordnung Gesetz ist, dann ist eine Analogie gesichert, die Welt und sinnliche Erkenntnis gemäß der Gleichung verbindet: Wie die universale Schönheit, so die Schönheit des Denkens wie des Darstellens. Diese Schönheit besteht im „consensus“ mehrerer Elemente „inter se ad unum, qui phaenomenon sit“ (AE § 18) – und in Erscheinung tritt diese Schönheit natürlich im literarischen Text.18 Was da aber miteinander zu einem Zusammenhang verknüpft wird, der in Erscheinung tritt, das veranlasst Baumgarten zu einer weiteren Schleife seines eigenen Systemzwangs. An der rhetorischen Systemstelle der inventio unterscheidet er die Schönheit der Sachen von derjenigen der Gedanken (pulchritudo rerum et cogitationum), an der Systemstelle der dispositio findet er die Schönheit der Ordnung (pulchritudo ordinis) und an derjenigen der elocutio die der Ausdrucksmittel (pulchritudo significationis) (vgl. AE §§ 18– 20). Von diesen drei Schönheiten steht genauso wie von der allgemeinen Schönheit fest, dass sie zusammengesetzte Vollkommenheiten sind: „Pulcritudo cognitionis sensitivae, §. 14. et ipsa rerum elegantia, §. 18. sunt perfectiones compositae, § 18– 20, 22“ (AE § 24).19 Weil Welt und sinnliche Erkenntnis in eine Analogie-Beziehung überführt werden, bricht in die ästhetische Theorie zwar nicht unmotiviert, aber doch alle bisherigen Prämissen der Strukturanalyse unterbietend, die imitatio-Lehre ein, welche das Gedicht auf die Nachahmung der Natur verpflichtet. Die Natur bestimmt Baumgarten zunächst als verknüpften Zusammenhang der natura universa (naturata) (vgl. MET § 466). Vor allem die Meditationes sind noch einem äußerst traditionellen Mimesiskonzept verpflichtet, weil das Gedicht nicht nur die natura natu-
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„In der vollkommensten Welt herrschen die größte allgemeine Verknüpfung, Harmonie und Übereinstimmung, die in einer Welt möglich sind“ (MET § 441; F.B.). „In jeder Vollkommenheit ist Ordnung. Daher ist in der vollkommensten Welt die größte Ordnung, die in einer Welt möglich ist. Also sind die meisten Regeln der Ordnung allgemeine […]. Die Ordnung ist die größtmöglich zusammengesetzte, und zwar so, dass alle unteren und höheren Regeln schließlich aus einer höchsten und stärksten Regel der Vollkommenheit abgeleitet werden können“ (MET § 444; übers. F.B.). „[…] unter sich zur Einheit, die Erscheinung genannt sei“ (AE § 18; Schweizer). „Die Schönheit der sinnlichen Erkenntnis und die Feinheit der ästhetischen Gegenstände selbst stellen zusammengesetzte Vollkommenheiten dar“ (AE § 24; Schweizer).
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rata nachahme (vgl. MED §§ 108ff.),20 sondern auch die Spinozistisch schaffende natura naturans, die Baumgarten auf das innere Prinzip der Veränderung in der Welt zurückführt: „Hinc poema est imitamen naturae et actionum inde pendentium, § 108“ (MED § 110).21 Wie in der Hallenser Magisterarbeit finden sich auch in der Aesthetica immer wieder Argumente, die auf der Analogie von ontologischer Ordnung und poetologischen Gesetzen basieren und aus der zeitgenössischen Dramen- (Lessing), Erzähl- (Engel) oder Romantheorie (Blanckenburg) vertraut sind. Baumgarten verallgemeinert sie einerseits in der Forderung nach dem raum-zeitlichen Zusammenhang, andererseits nach dem Kausal- und Finalnexus einer Handlung (vgl. AE § 439). Von gelegentlichen, zu vernachlässigenden Einbrüchen des Alten in das Neue kann man aber vor allem deshalb sprechen, weil Baumgarten die Vollkommenheit des Gedichts in der Aesthetica mit der schlichten Bestimmung ‚consensus ad unum, qui phaenomenon sit‘ als autonome Schönheit anerkennt. In einer syntaktischen Analyse des 18. Paragraphen weist Schweizer nach, dass sich das „maskuline ‚qui‘, das den Relativsatz einleitet, nur auf den ‚consensus‘ zurückbeziehen“ kann. „Die Vorstellungen werden also nicht, wie es das ‚ad‘ in der Wendung ‚ad unum‘ zunächst erwarten lässt, auf etwas ausserhalb ihrer selbst Liegendes bezogen, sondern die Einheit, auf der ihr ‚Zusammenstimmen‘ beruht, wird mit der Erscheinung selbst gleichgesetzt“.22 In diesem Sinn betont Haverkamp in seiner Übersetzung des ersten Paragraphen – ‚Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis‘ –, dass sich die Apposition ‚qua talis‘ (als solche) auf perfectio (Vollkommenheit) und nicht auf das Genitivattribut bezieht.23 Obwohl Baumgarten das Tableau der sinnlichen Erkenntnis also mit ontologischen Versicherungen dicht umstellt, vollzieht die Grammatik der Definitionen eine selbstreferentielle Wende.24 In dieser Definition wird die Einheit von den heteronomen Bezugsgrößen (Welt, Gott, Natur) entbunden, weil die Elemente der sinnlichen Erkenntnis ‚in sich selbst‘ (inter se) verbunden sind, was sowohl die Beziehung der Elemente zueinander (determinationes internae) als auch die Beziehung zu anderen Gegenständen (determinationes externae) vorsieht (vgl. AE § 439). Baumgartens Metaphysik des Schönen situiert also die Literatur im Spannungsfeld von Heteronomie und Autonomie. In den auf Baumgarten folgenden ästhetischen Theorien des 19. Jahrhunderts nimmt diese Spannung vor allem in den dualistischen Konzepten des Symbols weiter zu, auf die hin ich meine Überlegun-
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Zum vorästhetischen Begriff der Wirkung als Illusion vgl. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 44. „Daher ist das Gedicht eine Nachahmung der Natur und der davon abhängenden Handlungen, § 108“ (MED § 110). Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 22. Vgl. Haverkamp: Wie die Morgenröthe zwischen Tag und Nacht, S. 15, Anm. 23. Vgl. Finsen: Evidenz und Wirkung im ästhetischen Werk Baumgartens, S. 211.
gen zur Vollkommenheit des Gedichts an diesem Punkt ein weiteres Mal öffnen möchte. Unter dem Schlagwort der sinnlichen Evidenz gehen solche Konzepte davon aus, dass das Symbol nie mit dem absoluten Ganzen (Welt, Gott, Natur) identisch sein kann, das es verkörpern soll. Noch in der Abhandlung über Die Aktualität des Schönen (1977) verhandelt Gadamer das Symbol als ein derartiges „Seinsbruchstück“.25 In der „Beschwörung einer möglichen heilen Ordnung“ stifte es die Erfahrung des Schönen, „wo immer es sei“.26 Jede Metaphysik des Schönen bewahrt daher – das machen solche unbestimmten Hoffnungen deutlich – noch etwas anderes als das, was die ‚Wissenschaft des Schönen‘ diskursivieren kann. Auch Baumgartens Metaphysik erinnert an die große Sehnsucht nach dem Absoluten, indem sie diese Sehnsucht auf die symbolische Struktur des Gedichts projiziert, deren Ursprung und deren Ziel auf das Absolute verweisen. Im Symposion erzählt Platon deshalb in Form einer Liebesgeschichte von der Allianz des Symbols mit der Schönheit. Als Mythos des Schönen handelt diese Geschichte vom ursprünglich ungeteilten Menschen, den Zeus in zwei symbola zerteilt – „zwei zusammengehörige Hälften eines Würfels“, wie Schleiermacher übersetzt,27 die einander nun immer suchen müssen. In Platons Mythos wird das Symbol „zu einem implikationsreichen metaphorischen Modell von Teil und Ganzem, Fragment und Vollkommenheit“, erläutert Jacob in seiner luziden Lektüre des Symposions. Schön ist bei Platon jedoch nicht das Symbol als ein ursprünglich einmal vollkommen ‚passendes‘ Teilstück einer harmonischen Ganzheit, sondern die ursprüngliche und nun verlorene Ganzheit. Das Symbol als abgetrenntes, ‚immer suchendes‘ Teilstück realisiert diese ursprünglich geeinte, schöne Vollkommenheit gerade nicht, aber das Verlangen nach ihr, Eros, stiftet eine Bewegung auf die schöne Vollkommenheit hin.28
Dieser Mythos verdeutlicht jene symbolische Erkenntnis, deren Struktur Baumgarten im ersten Paragraphen der Aesthetica in die Sprache der Metaphysik übersetzt: ‚Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis, haec autem est pulchritudo‘. In diesem Paragraphen macht Baumgarten auf die Mangelstruktur aufmerksam, durch die das Gedicht nicht als ein (Bruch-)Teil des Ganzen, sondern als eine Tätigkeit ausgewiesen wird. Diese Tätigkeit übersetzt die Funktion des Strebens – die dritte Funktion der symbolischen Struktur ,vivus‘: die zielstrebige Bewegung29 – in eine metaphysische: in jene nämlich, das Ziel der Vollkommen25 26 27
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Hans-Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart 1977, S. 42. Ebd., S. 43. Plat. Symp. 191d. Zum griechischen Brauch der Gastfreundschaft, der diesem Mythos möglicherweise zugrunde liegt vgl. Walter Müri: SYMBOLON: Wort- und sachgeschichtliche Studie. In: Ders.: Griechische Studien. Ausgewählte wort- und sachgeschichtliche Forschungen zur Antike. Hg. v. Eduard Vischer. Basel 1976, S. 1–44, hier S. 3–5. Joachim Jacob: „Versinnlichung“. Das Symbol als Darstellung des Schönen und die Materialität der Literatur. In: Berndt u. Brecht (Hg.): Aktualität des Symbols, S. 161–184, hier S. 171f. Vgl. 1.5.3 Zeitlichkeit.
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heit zu begehren. Mit anderen Worten ist dem symbolischen Prozess die „Liebe zu dem Schönen“ immer schon eingeschrieben.30 Ob ein Gedicht diese Vollkommenheit (maximus nexus universalis, harmonia et consensus) je erreichen kann, lässt Baumgartens Definition offen. Weil es „an das aktuelle In-die-Erscheinung-Treten an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit gebunden“ bleibt,31 wie Schweizer zu Recht anmerkt, beschreibt Baumgarten an der symbolischen Struktur des Gedichts einen unendlichen Prozess, den die Differenz zum Absoluten in Gang hält – zu einem Absoluten, das bei Baumgarten, anders als in den ästhetischen Theorien des 19. Jahrhunderts, dem Gedicht zu erreichen verwehrt bleibt. 2.1.2 Wahrheit ‚Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit bzw. Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis als solcher; damit aber ist die Schönheit gemeint‘ – Baumgartens Zielvereinbarung gibt nicht von ungefähr das „Rätsel dieser Ästhetik“ auf,32 indem das Ziel nicht nur das Verhältnis von schöner (vollkommener) und sinnlicher Erkenntnis offenlässt, sondern auch dasjenige von subjektivem und objektivem Moment der Definition von schöner Vorstellung und Darstellung. Lehrt Baumgarten eine Theorie der ästhetischen Erfahrung oder eine Ontologie des Schönen? „Beide Momente sind ambivalent“, stellt Franke zu Recht fest,33 und mit Scheer lässt sich die Ambivalenz folgendermaßen erklären: „Dieser zweifache Ort des Schönen bei Baumgarten macht diesen Denker zu einer Übergangsgestalt in der Ästhetik. Das Schöne ist objektiv (in der traditionellen Ontologie) und subjektiv (in den Funktionen der Sinnlichkeit) verankert“.34 Während die Kritik der Urteilskraft bekanntermaßen „keine Vollkommenheit irgend eines Objekts“, sondern „nichts als die subjektive Zweckmäßigkeit der Vorstellungen im Gemüte des Anschauenden“ anerkennt,35 sind Ontologie und Ästhetik bei Baumgarten noch die Kehrseiten derselben Medaille: Eine Seite zeigt die Schönheit des Objekts, die andere das sinnliche Geschmacksurteil (vgl. MET § 640). Die Notwendigkeit eines solchen Doppels liegt in der Ambiguität der Ästhetik selbst begründet, was zur Folge hat, dass sie nur zweiwertige Aussagen zulässt. Hat man diese Doppelung der Rede einmal begriffen, bereitet die Strategie auch im Argumentationszusammenhang der Metaphysik keinem mehr Kopfzerbrechen – keinem, außer offenbar Baumgarten selbst, der von der schönen Oberfläche des Gedichts zu dessen wahrer Tiefe vorzudringen versucht. Der Weg dorthin führt 30 31 32 33 34 35
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Plat. Symp. 204b. Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 44. Hans Georg Peters: Die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und ihre Beziehung zum Ethischen, Berlin 1934, S. 13. Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 89. Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, S. 78. Kant: Kritik der Urteilskraft, A 45/B 46.
über den 27. Abschnitt sowie die folgenden Abschnitte der Aesthetica, die von der ‚ästhetischen Wahrheit‘ (veritas aesthetica) handeln. An den Begriff der ästhetischen Wahrheit tritt derjenige der Schönheit nicht nur sämtliche Funktionen ab,36 sondern der Begriff bündelt auch die großen Anstrengungen des Philosophen, die Ambiguität der Ästhetik aufzuheben. Denn Baumgarten schafft einen Neologismus, der die durch den 14. Paragraphen verursachten Widersprüche miteinander aussöhnen soll. ‚Ästhetikologisch‘ (aestheticologicus) ist das Kompositum, das die Oppositionen objektiv / subjektiv und logisch / ästhetisch auszugleichen hat. Die Strategien dieser Disambiguierung erläutert Baumgarten im Frankfurter Kolleg in einer Graphik, anhand deren er die traditionellen metaphysischen Prämissen der Wahrheit erörtert und in die er seine eigene neue Position einträgt (KOLL § 424):
Die Opposition von metaphysica obiectiva und subiectiva betrifft das Verhältnis von Objekt- und Subjektästhetik und installiert einen Subjektbegriff, wie er in der modernen Erkenntnistheorie Verwendung findet. Während die objektive Wahrheit (veritas realis, materialis) auf der ontologischen ‚Einheit des Mannigfaltigen‘ basiert, bezeichnet Baumgarten die subjektive als logische Wahrheit im weiteren Sinn (vgl. § AE 424). Diese kann nach Baumgartens eigener Auskunft deshalb auch geistige Wahrheit (veritas mentalis) oder diejenige des Affiziertwerdens, der Verbindung oder Übereinstimmung (veritas afficientiae, correspondentiae et conformitatis) heißen. Aus diesem Modell folgt: „Posset metaphysica veritas obiectiva,
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Vgl. Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 40.
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obiective verorum repraesentatio in data anima SUBIECTIVA dici VERITAS“ (AE § 424).37 Natürlich stellt das Attribut ‚logicus‘, das Baumgarten für diese subjektive Wahrheit vorsieht, selbst im weiteren Sinn nur einen vorübergehenden Behelf dar, gleichsam eine Verbeugung vor der philosophischen Tradition, weil Baumgarten an der logischen Wahrheit im engeren Sinn nicht interessiert ist, sondern an der durch die unteren Erkenntnisvermögen zu erreichenden ästhetischen.38 Logisch ist diese ästhetische Wahrheit – oder auch umgekehrt: ästhetisch ist diese logische Wahrheit –, weil sie kunstgerecht veranschaulicht wird (eleganter intueri) (vgl. AE § 444). Diese Wahrheit trägt das Attribut ‚aestheticologicus‘, das wie die Schönheit keinen absoluten, sondern stets nur einen relativen Wert bezeichnet. Baumgarten lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die ästhetikologische gegenüber der höchsten, der logischen Wahrheit, deren Anschauung allein Gott vorbehalten bleibt, defizitär ausfallen muss. Die ästhetikologische Wahrheit ist demgegenüber im besten Sinn des Wortes menschlich: Non putaverim nunc opus esse demonstratione 1) nullam veritatem maximam esse aestheticologicam, sed strictius logicam, §. 424, 2) talem veritatem nullam in hominem cadere, nullam rem in veritate logica maxima ab ullo hominum intellectu cognosci, quoniam qui unam ita cognoscit, omnes novit. Hinc omnis veritatis apud hominem aestheticologicae, malum metaphysicum, defectus veritatis summae logicae in omniscientia tantum obviae infinite magnus (AE § 557).39
Lediglich die Allgemeinbegriffe (universalia) des wissenschaftlich-methodischen Denkens, die in logischen Kürzeln dargestellt werden, sind der Vernunft des Menschen vollkommen zugänglich. Baumgarten wertet sie jedoch gegenüber den Individualbegriffen (individua) ab. Je individueller etwas ist, desto komplexer und desto wahrer ist es auch, sodass von Begriffen der Gattung über die Art zum Indi37 38
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„Man könnte die metaphysische Wahrheit die objektive, die Vorstellung des objektiv Wahren in einer bestimmten Seele die subjektive Wahrheit nennen“ (AE § 424; Schweizer). I) Zur ästhetischen Wahrheit gehört die Möglichkeit der Gegenstände des schönen Denkens 1) die absolute Möglichkeit ihrer Gegenstände (vgl. AE § 431) 2) die hypothetische Möglichkeit ihrer Gegenstände (Ebd.) A) die natürliche Möglichkeit (vgl. AE § 432) B) die moralische Möglichkeit (Ebd.) a) im weiteren Sinn (vgl. AE § 433) b) im engeren Sinn (vgl. AE § 435) II) der Zusammenhang der Gegenstände schönen Denkens mit Gründen und Folgen, soweit er durch das Analogon der Vernunft sinnlich erfaßbar ist (vgl. AE § 437). „Ich glaube nicht, daß es nötig ist, darauf hinzuweisen, daß 1) keine höchste Wahrheit ästhetikologisch, sondern logisch im engern Sinne ist, 2) daß keine solche höchste Wahrheit dem Menschen zuteil wird, daß nichts von irgendeinem menschlichen Verstand auf der Stufe der höchsten, logischen Wahrheit erkannt wird, denn wer nur einen Gegenstand in dieser Weise erfaßt, der kennt alle zugleich. Daher ist der Abstand jeder dem Menschen zugänglichen ästhetikologischen Wahrheit gegenüber der höchsten logischen Wahrheit, die nur der Allwissenheit zugänglich ist, infolge einer metaphysischen Unvollkommenheit unendlich groß“ (AE § 557; Schweizer).
viduum auch die individuelle Wahrheit (veritas singularis) zunimmt: „Prima veri, secunda verioris, tertia verissimi” (AE § 441).40 Obwohl das Allgemeine von den individuellen Erscheinungen abstrahiert wird, mangelt es ihm an jener metaphysischen Wahrheit, die dem Besonderen in der materialen Fülle seiner bedeutenden Merkmale eignet (vgl. AE § 562). Mit diesem Argument bestreitet Baumgarten die Äquivalenz von logischer und ästhetischer Wahrheit: Equi[d]em arbitror philosophis apertissimum esse iam posse, cum iactura multae magnaeque perfectionis in cognitione et veritate logica materialis emendum fuisse, quicquid ipsi perfectionis formalis inest praecipuae. Quid enim est abstractio, si iactura non est? (AE § 560).41
In der sinnlichen Erkenntnis enthält daher nicht der Allgemeinbegriff den Individualbegriff (dieser wäre dann der Fall eines Allgemeinen), sondern umgekehrt: Die Objekte einer möglichst bis ins Einzelne bestimmten metaphysischen Wahrheit (obiecta veritatis metaphysicae) regulieren die Beziehung zum Allgemeinen: pars pro toto eben (vgl. AE § 561); ein Verhältnis, das Goethe später in den Maximen und Reflexionen auf die griffige Opposition von Allegorie und Symbol bringen wird. Weil diese Wahrheit jedoch nicht absolut ist, bemisst sie sich in gradueller Abstufung an den sechs Stilkategorien, die nun als Wahrheitskategorien fungieren: Minima est minima perceptio veritatis metaphysicae minimae. Hinc 1) quo uberior, 2) quo maior et dignior, 3) quo exactior, 4) quo clarior et distinctior, 5) quo certior et solidior, 6) quo ardentior est perceptio obiecti, 7) quo hoc plura, 8) quo maiora ac graviora, 9) quo fortioribus regulis, 10) quo convenientiora complectitur, hoc maior est veritas aestheticologica, § 437, M. § 184 (AE § 556).42
In der ästhetikologischen Wahrheit verbinden „sich die ästhetische Intuition und die logische Distinktion zur Einheit“, erläutert Schweizer die Tatsache, dass Baumgarten in der Wahrheit die längst überwundene Horizontale der Erkenntnisvermögen – die Messlatte der Vernunft – wieder einzieht, obwohl er abschwächend hinzufügt, „der Unterschied zwischen ‚ästhetisch‘ und ‚logisch‘“ sei „noch gar nicht aktuell geworden“.43 Selbstverständlich ist der Unterschied im 18. Jahrhundert aktuell – brandaktuell. Allerdings betrifft er weder die Hierarchie von Ver40 41
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„Die erste ist wahr, die zweite wahrer, die dritte am wahrsten“ (AE § 441; Schweizer). „Ich wenigstens glaube, es müßte den Philosophen völlig klar sein, daß nur mit einem großen und bedeutenden Verlust an materialer Vollkommenheit all das hat erkauft werden müssen, was in der Erkenntnis und in der logischen Wahrheit an besondrer formaler Vollkommenheit enthalten ist. Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust?“ (AE § 560; Schweizer). „Die geringste Wahrheit ist die geringste Erkenntnis der geringsten metaphysischen Wahrheit. [1)] Je reicher also, 2) je bedeutender und angemessener, 3) je exakter, 4) je klarer und deutlicher, 5) je zuverlässiger und gediegener, 6) je leuchtender die Vorstellung eines Gegenstandes ist, 7) je mehr, 8) je bedeutendere, je gewichtigere Einzelheiten dieser enthält, 9) je stärker die Bezüge sind, durch die jene Einzelheiten zusammengehalten werden, 10) je besser alles zusammenpaßt, was der Gegenstand enthält, um so bedeutender ist die ästhetikologische Wahrheit“ (AE § 556; Schweizer). Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 42.
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nunft und Empfindung noch die unterschiedlichen Mischungsverhältnisse ästhetischer und logischer Wahrheitsanteile (vgl. AE § 427f.). Er wurzelt vielmehr in dem Problem, dass ästhetische und logische Wahrheit an ein und demselben Absoluten ausgerichtet sein müssen – und das ist die logische Wahrheit des Ganzen (veritas totius logica), nach der auch das Gedicht strebt. Baumgarten setzt den Begriff ‚aestheticologicus‘ deshalb ein, um den spezifischen wahrheitsfunktionalen Modus der sinnlichen Erkenntnis zu betonen, den man im Vorgriff auf Kant als einen indirekten Modus der Wahrheit bezeichnen kann: Hoc unum observamus, veritatem ab aesthetico, quatenus intellectualis est, non directo intendi, si per indirectum ex veritatibus aestheticis pluribus una prodeat, aut cum aesthetice vero coincidat, de illo sibi gratulari aestheticum rationalem, § 38. neque tamen illud esse, quod nunc potissimum quaerebatur, § 423 (AE § 428).44
In der transzendentalen Ästhetik greift Kant dort auf Baumgartens materialgebundenen, indirekten Modus der Wahrheit zurück, wo er unter dem Stichwort der Darstellung (Hypotypose) das Verfahren erläutert, mit dessen Hilfe die produktive Einbildungskraft den Vernunftideen eine Anschauung unterlegt. Was bei Kant indes als erkenntnistheoretische Verlegenheitslösung die Ausnahme bildet, stellt bei Baumgarten die Regel dar.45 Während in die Transzendentalphilosophie nur an dieser einen Stelle das Prinzip der Medialität in das ‚reine‘ Denken einbricht, arbeitet sich Baumgartens ästhetische Theorie fortwährend an dem Problem ab, dass die sinnliche Erkenntnis nicht direkt zur absoluten Wahrheit gelangen kann, weil der (Um-)Weg stets über die Darstellung führen muss und deshalb kein Königsweg sein kann. Als materialgebundener, indirekter bleibt der symbolische Modus der Wahrheit jedoch am Ziel der Vollkommenheit ausgerichtet, an dem logische und ästhetische Wahrheit bzw. direkter und indirekter Modus zusammenfallen. Aufgrund dieser radikalen Medialisierung und der damit verbundenen Relativierung der darstellbaren bzw. darzustellenden Wahrheit bietet sich in den großen Ästhetiken des 19. Jahrhunderts im Grunde genommen nur Hegel für einen Vergleich mit Baumgarten an. Wenn Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik die Kunst als eine Form der bewussten Weltaneignung durch Darstellung bestimmt, deren Aufgabe darin besteht, die Wahrheit zu veranschaulichen, dann betont er gerade diese Medialität der Kunst, die bei Baumgarten so zentral ist. Der zweifache Ort des Schönen bei Baumgarten verweist also weiter in die Zukunft der sich konsolidierenden Moderne, als dies die schulphilosophische Ontologie zunächst vermuten ließe.46 44
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„Nur dies eine ziehen wir in Betracht: Die Wahrheit wird, soweit sie intellektuell erfaßbar ist, vom Ästhetiker nicht direkt angestrebt. Wenn sie indirekt aus mehreren ästhetischen Wahrheiten als Ganzheit hervortritt oder mit dem ästhetisch Wahren in der Tat zusammenfällt, kann sich der wissenschaftlich denkende Ästhetiker dazu nur beglückwünschen. Es ist aber nicht diese logische Wahrheit, was er gerade am eifrigsten gesucht hat“ (AE § 428; Schweizer). Vgl. 1.3 Rhetorische Übersetzung. Vgl. Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, S. 123.
2.1.3 Zwielichtigkeit Dass Baumgarten mit dem indirekten Modus der Wahrheit keineswegs die Anschaulichkeit der sinnlichen Erkenntnis restituieren will, zeigt die wahrheitsfunktionale Metaphorik, die sich wie ein roter Faden durch die ästhetischen Schriften zieht. Die wahrheitsfunktionale Wendung der Licht-Text-Metaphorik übersetzt die rhetorische Opazität des Gedichts in einen metaphysischen Nebel (nebula) (vgl. § AE 451) oder einen anderen undurchsichtigen Zustand. Denn die Schönheit, heißt es in der Frankfurter Kollegnachschrift, setzt erst mit der Dämmerung ein:47 Unsere Gegner sagen, die Verwirrung ist die Mutter des Irrtums; lasset uns die Metapher fortsetzen; eine Mutter darf nicht immer gebären, so darf auch die Verwirrung nicht immer Irrtümer hervorbringen. In der Natur ist nicht jetzt Nacht, und dann folgt gleich heller Mittag, sondern es ist eine Dämmerung dazwischen. So haben wir nicht gleich hellen Mittag der Kenntnis, sondern die Verwirrung als die Dämmerung ist dazwischen (KOLL § 7).
Beide Metaphern, vor allem aber diejenige der Dämmerung, messen die Wahrheit der in Erscheinung tretenden Vollkommenheit am logischen Ideal einer hell wie die Sonne (sol) scheinenden Vernunft (vgl. AE § 616). Von dieser wendet sich Baumgarten ab, indem er das Schöne nicht bei ihr, sondern im Schattenreich der weichenden Nacht sucht. Vor allem die Metaphysica sieht in der Dunkelheit das anthropologische Fundament der Ästhetik: „Sunt in anima perceptiones obscurae, §. 510. Harum complexus FUNDUS ANIMAE [der Grund der Seele] dicitur“ (MET § 511).48 Dunkle Vorstellungen sind solche, die keine trennscharfen Konturen (non distinctus), sondern ineinander verschwimmende (confusus) zeichnen: „Ergo confuse quid cogitans quaedam obscure repraesentat“ (MET § 510).49 In der Metaphysica erfolgt deshalb eine ganz eindeutige Korrelation der Begriffe ‚confusus‘ und ‚obscurus‘: Unde FACULTAS obscure confuseque seu indistincte aliquid cognoscendi COGNOSCITIVA INFERIOR [das untere Vermögen zu erkennen] est. Ergo anima mea habet facultatem cognoscitivam inferiorem (MET § 520).50
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Vgl. Ernst Osterkamp: Dämmerung. Poesie und bildende Kunst beim jungen Goethe. In: Waltraud Wiethölter (Hg.): Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Tübingen, Basel 2001, S. 145–161; ders.: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991. Osterkamp verweist auf einen Vortrag von Gerhard Sauder von 1999: Ästhetik der Dämmerung. Goethes Kupferstichrezensionen in den Frankfurter gelehrten Anzeigen. „Es gibt in der Seele dunkle Vorstellungen. Deren Gesamtheit wird der Grund der Seele genannt“ (MET § 511; die Übersetzung des Zitats folgt Baumgarten). Zur Metaphorik des Fließens vgl. 1.5.2 Unanschaulichkeit: „Wer also etwas verworren denkt, stellt sich einiges dunkel vor“ (MET § 510). „Daher heißt die Fähigkeit, etwas dunkel und verworren oder undeutlich zu erkennen, das untere Erkenntnisvermögen. Also hat meine Seele ein unteres Erkenntnisvermögen“ (MET § 520).
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Für Baumgarten folgt daraus, dass sinnliche, nicht trennscharfe Vorstellungen ins Reich der Finsternis (regnum tenebrarum) gehören, für welches das untere Erkenntnisvermögen zuständig ist (vgl. MET § 518). Dieses Schema malt buchstäblich schwarz-weiß: Hier das Feld der Vernunft – des Lichts (perspicuitas, lux) –, dort das der Empfindung – der Dunkelheit (obscuritas, caligo). Obwohl Baumgarten die Dunkelheit mit dem Hinweis auf die Natur (obscuritas naturae) rechtfertigt (vgl. AE § 653), lehnt er die Dunkelheit in den stärker als die Metaphysica am Medium interessierten Schriften, den Meditationes wie der Aesthetica, ab: „Defectus et oppositum lucis ac claritatis quum sit obscuritas“ (AE § 631).51 Was mit einem solchen Makel wie demjenigen der Dunkelheit versehen ist, das kann weder vollkommen noch schön sein. „Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis, §. 1. Haec autem est pulcritudo“, definiert Baumgarten und ergänzt: „et cavenda eiusdem, qua talis, imperfectio, §. 1. Haec autem est deformitas“ (AE § 14),52 sodass er in der Folge immer wieder – in guter rhetorischer Argumentationstradition – der schönen Durchsichtigkeit (perspicuitas) die hässliche Dunkelheit (obscuritas) gegenüberstellt. Ein vor-logisches, vor-sprachliches Dunkles ist in Baumgartens Ästhetik anders als in den an Herder anschließenden Modellen des Unbewussten nicht vorgesehen. Adler hat darauf hingewiesen, dass auch Leibniz und Wolff die dunklen Seelenprozesse im Zeichen des Rationalen konzipieren. Baumgartens Gründe dafür sind jedoch möglicherweise viel praktischer, als jeder ideologische Vorbehalt gegen den Irrationalismus es wäre. Weil in dunklen Vorstellungen weder Ähnlichkeiten (ingenium) noch Unterschiede (acumen) ausgemacht werden können, vertragen sich solche Vorstellungen, die er in das Hell-Dunkel-Schema integrieren können muss, nicht mit Baumgartens theoretischen Voraussetzungen für das Gedicht. Was liegt also näher, als die Schönheit irgendwo zwischen Licht und Dunkelheit in der Dämmerung zu vermuten, die Baumgarten nicht nur als zeitlichen Übergang, sondern auch als ein räumliches Zwischenreich bestimmt – ein Reich, das sich zwischen den himmlischen Gefilden und dem Grund der Seele (fundus animae) auftut (vgl. MET § 511): Unsere Seele ist so beschaffen (welches man vor der Verbesserung der Psychologie nicht bemerkte), daß eine erstaunende Menge von Vorstellungen im Grunde derselben dunkel bleiben, daß sie aber oft zu einem geringen Grade der Dunkelheit gelangen und sich gleichsam an das Reich der Klarheit anhängen. […] Das Reich der Klarheit und dieses Feld der dunklen Vorstellungen, das etwas an das Reich der Klarheit anrückt, geben zusammengenommen ein weites Feld für den schönen Geist (KOLL § 80; Hervorh. F.B.).
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„Der Mangel und Gegensatz von Licht und Klarheit ist Dunkelheit“ (AE § 631; F.B.). „Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint. Entsprechend ist die Unvollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher, gemeint ist die Häßlichkeit“ (AE § 14; Schweizer).
„[N]atura non facit saltum ex obscuritate in distinctionem“ (AE § 7),53 rechtfertigt Baumgarten die wahrheitsfunktionale Metapher der Dämmerung, deren rhetorische Lösung Zwei-, Doppel- oder Mehrdeutigkeit heißt (ambiguitas). Sie tut sich zwischen den Stilqualitäten der Durchsichtigkeit (perspicuitas) und der Dunkelheit (obscuritas) auf. Eine derartige Form der Ambiguität – eine erkenntnistheoretisch legitimierte und rhetorisch zwischen klarer Eindeutigkeit und dunkler Mehrdeutigkeit streng als Zweideutigkeit regulierte – kann freilich nicht in Baumgartens Absicht gelegen haben. Wenn er nämlich die Wahrheit des Verstands und die Schönheit der Empfindung miteinander in einem Tageszeitenmodell verbinden und dieser Verbindung auch noch einen Richtungsvektor zuweisen würde: aus der Nacht über die Morgenröte zum Mittag (ex noctis per auroram meridies) (vgl. AE § 7), dann wäre – daran führt kein Weg vorbei – Schluss mit der Autonomie der Ästhetik. Dann nämlich wäre jede Morgenröte immer nur ein Schritt auf dem Weg zum Mittag. Etwas umständlich fällt daher die Rechtfertigung der Dämmerung gegenüber dem Sonnenlicht aus: „Wir suchen“ die Dämmerung „auch nicht, weil sie verworren ist, sondern weil sie lebhaft ist; und dürfen wir ein Exempel aus der Theologie geben: Gott sucht den Sünder, aber nicht weil er ein Sünder ist“ (KOLL § 7). Trotz dieser Rechtfertigung liegt der Sachverhalt klar auf der Hand. Die Dämmerung taugt als wahrheitsfunktionale Metapher des Schönen nicht sonderlich, weil das Tageszeitenmodell Dämmerung und Mittag in einem zeitlichen Kontinuum aufeinander bezieht. Dieses Modell verfehlt aber offenbar die Schönheit des Gedichts, die Baumgarten zu einer anderen als der rhetorischen Ambiguität führt: zu einer genuin ästhetisch begründeten Ambiguität. Diese löst nicht nur die rhetorische Rechnung – eins, zwei, viele – ab, sondern sie ist in ihrem theoretischen Zuschnitt wesentlich voraussetzungsreicher, als es etwa auch Hegels Grundannahme einer symbolischen Zweideutigkeit in den Vorlesungen über die Ästhetik vorsieht.54 Erkenntnistheoretisch hat Baumgarten die Autonomie der Ästhetik gegenüber der Logik längst im Griff. Sinnliche Vorstellungen sind nicht deutlich, sondern verworren, nicht dunkel, sondern klar, nicht intensiv klar, sondern extensiv klar. Diese Differenzierungen leiten die wahrheitsfunktionale Metaphorik der Aesthetica, die im zweiten Teil des Werkes von der Dämmerung abrückt. Statt irgendwelcher Zwischenlösungen trägt Baumgarten nun auch Licht und Dunkelheit in zwei voneinander unabhängige Register ein, in dasjenige des Verstands und dasjenige der Empfindung: [L]ux autem et claritas vel sensitiva, vel intellectualis, S. XXXVII, rectissime iam veteres obscuritatem ̙΅Θȼȱ ΅ΗΟΗΑ ab obscuritate ̙΅Θ΅ȱ ΑΓΗΑ distinxerunt. Res et cogitatio, quae
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„[…] die Natur keinen Sprung macht aus der Dunkelheit in die Klarheit des Denkens“ (AE § 7; Schweizer). Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. In: Ders.: Werke. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 13. Frankfurt a.M. 1986, S. 397.
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sensitive percipienda non satis claritatis, extensivae scilicet, aestheticaeque lucis habet, est obscura ̙΅Θȼȱ΅ΗΟΗ˲Α (AE § 631).55
Der Empfindung scheint nun also ein anderes Licht als die Sonne der Logik. Dieses sinnliche Licht (lux sensitiva) strahlt nicht weniger hell als die Sonne, es strahlt anders, weil es sich um eine Art indirekter Beleuchtung handelt (vgl. AE § 617). Dieses indirekte Licht eignet der spezifischen Ordnung des Schönen, die Baumgarten in den Meditationes in so trefflicher Weise bereits als lichtvolle Methode (methodus lucida) bezeichnet hat – als Beleuchtungstechnik der extensiv klaren Vorstellungen. In wahrheitsfunktionaler Hinsicht unterscheidet Baumgarten bei diesem indirekt erzeugten Licht zwischen einem absoluten und einem relativen ästhetischen Licht. Während das absolute Licht am metaphysischen Ziel der sinnlichen Erkenntnis strahlt, findet das sinnliche Denken selbst im relativen Licht statt. Es tritt in diesem Licht als Mangelstruktur in Erscheinung – nach dem metaphysischen Ziel strebend, um es notwendigerweise zu verfehlen (vgl. AE § 617). Im Gegensatz zur aktiven Leuchtkraft reflektiert die sinnliche Erkenntnis dieses absolute Licht dementsprechend ausschließlich passiv. Der Glanz geht von einem Körper aus, der selbst nicht leuchtet, sondern nur angestrahlt wird: Omnis itaque lux aesthetica, quam in rebus intendas directo, perspicuitas rerum erit sensitiva, claritatis per multitudinem notarum extensio, §. 617. etiam absoluta, comparativa vero vividarum cogitationum et materiae nitor ac splendor, M. § 531 (AE § 618).56
In einer geradezu ungenierten Aneignung Quintilianscher Versatzstücke57 führt Baumgarten zwei Arten des schönen Denkens ein: das einfache, klare und deutliche (genus dilucidum et perspicuum) sowie das glänzende und strahlende (genus nitidum et splendidum) (vgl. AE § 625). Allein das zweite Genus besitzt den ‚Glanz der Schönheit‘, mit dem Baumgarten die mittelalterliche Vorstellung vom Schönen als splendor veritas wiederbelebt (Hegel wird diese Metapher von Baumgarten erben). Mit der Komplexität nimmt der Glanz weniger in der Intensität als vielmehr in der Extensität zu und erreicht dadurch seine ‚symbolische Prägnanz‘:58
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„Licht und Klarheit sind aber entweder sensitiv oder verstandesgemäß. Schon die Alten haben ganz richtig die Dunkelheit der sinnlichen Erkenntnis von der Dunkelheit des Verstandes unterschieden. Ein Gegenstand und eine Vorstellung, deren sinnlich zu erfassende Merkmale nicht genug extensive Klarheit und ästhetisches Licht haben, sind dunkel“ (AE § 631; F.B.). „Alle ästhetische Leuchtkraft, die man in den Sachen zur Geltung zu bringen sucht, liegt also in der sinnlichen Deutlichkeit der Dinge selbst, in der Klarheit, die durch die Menge der Merkmale an Umfang gewinnt, und zwar in der absoluten; die relative aber liegt in der Frische und dem Glanz der lebendigen Gedanken und des Stoffes“ (AE § 618; Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 299). Vgl. Quint. Inst. or. VIII 2–3. Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen III. In: ECW. Bd. 13: Phänomenologie der Erkenntnis. bearb. von Julia Clemens. Darmstadt 2002, Kap. V.
Perceptiones praegnantes, M. §. 517. et complexae, M. §. 530. et ipsae, caetera si fuerint paria, magis splendent, quam minus complexae, et totius, quam ingrediuntur, meditationis possunt argumenta fieri illustrantia, § 730 (AE § 732).59
Dieselbe Unterscheidung in absolut und relativ, wie sie das ästhetische Licht erfährt, hält in der Folge auch in der ästhetischen Dunkelheit Einzug. Ist sie absolut, spricht Baumgarten pejorativ von ästhetischer Finsternis (caligo aesthetica), ist sie relativ, vom ästhetischen Schatten (umbra aesthetica), den er im Gegensatz zu Finsternis (caligo) und reiner Nacht (nox) durchgängig positiv bestimmt (vgl. AE § 634).60 Im Verhältnis von absolutem Licht und relativem Glanz, absoluter Dunkelheit und relativem Schatten bemüht Baumgarten einen Vergleich, der die sinnliche Erkenntnis vollends auf einen Mangel verpflichtet. Wie bei einem Gemälde, das erst – und nur – im Wechselspiel von Glanzpunkten und Schattenflächen wahr wird, treten daher im Gedicht weder absolutes Licht noch absolute Dunkelheit in Erscheinung: Verum in omni venustate generatim, sicut in pictura, modo sint omnia luce, quam absolutam diximus, conspicua, non omnia, sed quaedam tantum, comparative lucida Ore floridulo nitent, Alba parthenice velut, Luteumve papaver, [Catull 61, v. 186 ff.; F.B.] quaedam sunt vere, sunt belle perspicua, quanquam, cum nitidis illis et admodum collustratis ubi comparentur, appareant opaca (AE § 624).61
Der Wahrheit des Gedichts wird also nicht die Vorstellung eines gleichmäßigen indirekten Lichts gerecht, sondern diejenige eines Spiels von Lichtreflexen, das im schnellen Wechsel von Glanz und Schatten entsteht. So wird das Gedicht zu einem simulacrum – zu einem Irrlicht, dessen Glanzpunkte in der symbolischen Struktur des Gedichts hin- und herhuschen.
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„Die vielsagenden und gehäuften Vorstellungen glänzen zum einen selbst, wenn die übrigen Umstände die gleichen sind, mehr als die weniger gehäuften, zum anderen können sie im Hinblick auf das Ganze der Überlegung, in die sie eingehen, zu aufhellenden Argumenten werden“ (AE § 732; Mirbach). Sechs Anwendungsregeln für die Kunst des Abschattierens (ars obumbrandi), die im symbolischen Zwielicht stehen, die also ‚zweierlei Licht‘ im differentiellen Spiel von Glanz und Schatten voraussetzen, sieht Baumgarten vor (vgl. AE §§ 657–662). „Doch wie in der Malerei, so gilt für alle Schönheit ganz allgemein: Vorausgesetzt, dass alles durch die Leuchtkraft, die wir die absolute genannt haben, deutlich wird, so glänzt doch nicht alles, sondern nur gewisse Einzelheiten, die relativ hell sind, ‚mit einem blühenden Gesicht, der schneeweissen Kamille gleich oder dem rötlichen Mohn‘, wieder andere Einzelheiten sind in der Tat wunderbar deutlich, auch wenn sie, verglichen mit jenen glänzenden und überaus hell leuchtenden, dunkel erscheinen“ (AE § 624; Schweizer, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 307).
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Dieses wahrheitsfunktionale Modell hat nicht nur unerhörte Auswirkungen auf die zeitgenössische Malerei gehabt;62 es ruft darüber hinaus Metaphern auf den Plan, die man geradezu als medientechnische Antizipationen bezeichnen kann. Meier ersetzt Baumgartens differentielle Lichteffekte durch die Metapher des „Körnichte[n]“.63 Im Hinblick auf die Technik der Silberphotographie, wie sie hundert Jahre nach Baumgarten entwickelt wird, ließe sich keine bessere Metapher für solche mannigfaltigen Relationen von belichteten und unbelichteten Stellen im Gedicht finden, die den Effekt des ‚ganzen‘ Bildes hervorrufen. Die eigentliche ‚Körnigkeit‘ solcher Bilder reizt dann auch zu formalen, reflexiv auf die eigenen medialen Bedingungen und Möglichkeiten ausgerichteten Experimenten, die in der Photographie des 20. Jahrhunderts gang und gäbe sind. Wenn Baumgarten am Ende zu einem wahrheitsfunktionalen Modell des Schönen gelangt, dann findet er es im komplexen Prozess indirekter Beleuchtung, der sich von der Dunkelheit des fundus animae und dem Sonnenlicht des Verstands ebenso unterscheidet wie von der Vorstellung einer Auf-Klärung von dunkel zu hell. Die Wahrheit des Gedichts liegt im Zwielicht, das im Gegensatz zur Dämmerung nicht von einem Bereich in den anderen führt, weil das Zwielicht in einer anderen Welt als der logischen herrscht. Das Schöne glänzt weder gleichmäßig, noch glänzen einige Punkte immer und andere nie; stattdessen changiert es in der permanenten Bewegung von Glanz und Schatten. Zweierlei schadet dem Gedicht daher gleichermaßen: das absolute ästhetische Licht, das Baumgarten als eine Art von Blendung versteht und das aus einem Überschuss an verworrener Klarheit entsteht, sowie die absolute ästhetische Dunkelheit, die einen Mangel an verworrener Klarheit hervorbringt (vgl. AE § 635). Weder die hellste Stelle noch der dunkelste Punkt offenbaren die Schönheit des Gedichts, weil diese eine zwielichtige Sache bleiben muss. Die wahrheitsfunktionale Metaphorik weist – sei es mit, sei es ohne Wissen des Philosophen – also einen erstaunlichen Befund auf: Während Baumgarten in den wichtigsten Weichenstellungen seiner ästhetischen Theorie gegen die Ambiguität der Ästhetik ankämpft,64 restituiert er das Prinzip der Ambiguität im Zentrum der Metaphysik des Schönen. Dort bildet Ambiguität (ambiguitas) aber nicht die Mittelstellung zwischen Durchsichtigkeit (perspicuitas) und Dunkelheit (obscuritas); die Doppelwertigkeit des Gedichts ist vielmehr absolut. Baumgarten entdeckt in seiner ästhetischen Theorie jenen „unumgängliche[n], weil materialspezifische[n] Effekt einer übergeordneten evolutionären Tendenz auf Selbstbezüglichkeit ästhetischer Strukturen“ – auf symbolische Strukturen, deren Ambiguität das Signum der Moderne
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Vgl. Andreas Jürgensen: Der ästhetische Horizont. Baumgartens Ästhetik und die Malerei um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Diss. Kiel 1993. Meier: Die Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, § 126. Vgl. 1.1 Die Ambiguität der Ästhetik.
ist.65 Die Wahrheit des Gedichts kann daher durch die Zahl Zwei ausgedrückt werden. Zum logischen Kürzel avanciert sie, weil Baumgarten das Gedicht nicht als Erscheinung des Absoluten – Eins – imaginiert, sondern die Differenz zum Absoluten – Zwei – anerkennt. In jener raum-zeitlichen Figuration, die aus eins stets zwei macht, bilden alle literarischen Texte – ihre rhetorische Matrix ist daher bei Baumgarten nicht von ungefähr die zweistellige Figur66 – diese Differenz ab. Als hätte Cassirer eine solche Logik des Gedichts im Blick gehabt, hält er in diesem Sinn für die Metaphysik des Schönen fest: „Das Schöne ist wesentlich und notwendig Symbol, weil und sofern es in sich selbst gespalten, weil es immer und überall eins und doppelt ist“.67 2.2 Die Medialität des Schönen Von den Aporien der Präsenzmetaphysik ist Baumgarten also weit entfernt. Als eine komplexe (confusus), opake (clarus) und aktive (vivus) Darstellung konzipiert, kann das Gedicht unter der Voraussetzung eine schöne Darstellung werden, dass deren Gesetze als vollkommene erachtet werden. Baumgarten sichert die Koinzidenz mit der Schönheit ab, indem er Welt und sinnliche Erkenntnis als austauschbare Variablen derselben Struktur voraussetzt. Gleichzeitig vollzieht er die selbstreferentielle Wendung der Vollkommenheit, indem er den in Erscheinung tretenden Zusammenhang (consensus) als autonome Ordnung bestimmt. Weil solch ein Gedicht schön ist, ist es auch wahr – ästhetikologisch wahr; der symbolische Modus, der diese Wahrheit vergegenwärtigt, ist indirekt. Im metaphysischen Annäherungsversuch lässt sich die grundsätzliche Mangelstruktur des Gedichts mit einem logischen Kürzel – der Zahl Zwei – abbilden, dessen wahrheitsfunktionale Metapher das Zwielicht ist. Schön kann demnach nur das sein, was in seiner material-medialen Beschränkung Dynamik aus der regulativen Idee der absoluten Wahrheit gewinnt; es erreicht aber dieses Ziel der absoluten Wahrheit notwendigerweise nicht und begnügt sich stattdessen mit der ambigen Wahrheit. Soweit lassen sich die Grundzüge der Metaphysik des Schönen zusammenfassen. In der Engführung der Literatur mit dem Schönen ereignet sich nun Erstaunliches; und es ereignet sich deshalb, weil Baumgartens Analyse des schönen Denkens wohl oder übel eine Medienästhetik voraussetzt: die Analyse des schönen Darstellens. Die sinnliche Schönheit kann dieser Medialität des Gedichts, die Baumgartens rhetorische Suchbegriffe gefunden haben, nämlich zu keiner Zeit entkommen. Vielmehr bleibt Schönheit im buchstäblichen Sinn immer an ihre Wahr-Scheinlichkeit gebunden – an eine Wahr-Scheinlichkeit, wie sie Baumgarten im 29. Abschnitt 65 66 67
Christoph Bode: Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. Tübingen 1988, S. 260. Vgl. 1.5.1 Räumlichkeit. Cassirer: Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, S. 254.
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über die ‚ästhetische Wahrscheinlichkeit‘ (verisimilitudo aesthetica) auf den Punkt bringt: „Est ergo veritas aesthetica […] a potiori dicta VERISIMILITUDO, ille veritatis gradus, qui, etiamsi non evectus sit ad completam certitudinem, tamen nihil contineat falsitatis observabilis“ (AE § 483).68 Dass dazu natürlich auch die in 14 Punkten dargelegten Spielregeln für die Simulation erfahrbarer quantitativer wie qualitativer Übereinstimmung von Darstellung und Welt erfüllt werden müssen (vgl. AE §§ 491–502),69 ist ein Aspekt, der gegenüber zwei anderen vernachlässigt werden kann – Aspekten, die aus der rhetorischen Vergangenheit in die ästhetische Zukunft des Begriffs führen. Mit dem Begriff Wahr-Scheinlichkeit schließt Baumgarten nämlich sowohl zum Aspekt des symbolischen Scheins oder Anscheins, des symbolischen Trugs oder Betrugs, der symbolischen Täuschung oder Vortäuschung als auch zum materialen Ort des Schönen auf. Denn in der Metaphysik des Schönen überdenkt Baumgarten nicht nur die Metaphysik phänomenaler Individualität, vielmehr überdenkt er diese als Metaphysik des Gedichts. Anders als bei seinem Schüler Meier, für den Medien lediglich „Canäle“ sind, „durch welche die schönen Gedanken aus einem schönen Geiste in den andern fliessen“,70 anders mithin als in der empfindsamen Praxis, die Materialität des Mediums zu verdrängen, zu leugnen oder durch Fetischisierung zu regeln, rücken die Medien bei Baumgarten in den Horizont der theoretischen Reflexion.71 Dort hat sich der Begriff der Schönheit bis zu diesem Zeitpunkt lediglich als allgemeiner Begriff abgezeichnet. Das Modell des schönen Textes – ein solches Modell ist angesichts der Tatsache, dass selbst Lessing im Laokoon „darauf verzichtet, einen […] auf die Erfordernisse des poetischen Mediums abgestimmten Begriff von Schönheit zu formulieren“,72 ein echtes Novum, das wie nahezu sämtliche materialästhetische Versuche Baumgartens später schlichtweg vergessen worden ist. Tatsächlich beschränkt sich die semiotische Ästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Frage nach der literarischen Darstellbarkeit des Schönen, während die schöne Darstellung weder im Hinblick auf die Sprache noch auf das schriftliche Gedicht beachtet wird. Die medienästhetischen Voraussetzungen der Debatte über den Zusammenhang von Medialität und Schönheit, wie sie in vergleichbarer Weise sowohl für Hogarths Analysis of Beauty oder Winckelmanns kunsttheoretische Schriften der 1760er Jahre gelten, bringt nahezu zeitgleich mit 68
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„Die ästhetische Wahrheit ist also in ihrer wesentlichen Bedeutung Wahrscheinlichkeit, jene Stufe der Wahrheit, auf der man, auch wenn man nicht zur vollständigen Gewißheit geführt worden ist, dennoch keine Falschheit beobachten kann“ (AE § 483; Schweizer). Vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting: Rhetorische und idealistische Kategorien der Ästhetik. In: Willi Oelmüller (Hg.): Kolloquium Kunst und Philosophie. Bd. 1: Ästhetische Erfahrung. Paderborn u.a. 1981, S. 94–110, hier S. 97f. Meier: Die Anfangsgründe der schönen Wissenschaften, § 711. Vgl. Karlheinz Stierle: Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Gunter Gebauer (Hg.): Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik. Stuttgart 1984, S. 23–58, hier S. 23f. Jacob: Die Schönheit der Literatur, S. 254.
Baumgarten der Ästhetiker Lord Kames (Henry Home) in den Elements of Criticism auf den Punkt: The term beauty, in its native signification, is appropriated to objects of sight. Objects of the other senses may be agreeable, such as the sounds of musical instruments, the smoothneß and softness of some surfaces: but the agreeableneß denominated beauty belongs to objects of sight.73
Für die Literatur gibt es vor diesem Hintergrund nur zwei Möglichkeiten, schön sein zu können. Entweder wird sie – im Rahmen eines kruden Illusionismus – auf das Paradigma der Anschaulichkeit bezogen; schön sind dann nicht die an und für sich arbiträren Zeichen selbst, sondern das (imaginäre) Bild, das sie repräsentieren und möglicherweise sogar besser vortäuschen, als es die natürlichen Zeichen der bildenden Kunst zu leisten im Stande sind. Oder die Literatur wird auf ihre eigene in Erscheinung tretende Schönheit befragt, die auf der spezifischen Sinnlichkeit von Laut und Schrift basiert. In den 1760er Jahren allerdings, in denen Lessing und Diderot den Grundstein für das theoretische Gebäude der semiotischen Ästhetik legen, kommt diese zweite Möglichkeit gar nicht in Frage. Um die Leistungsfähigkeit von Sprache und Bild im Hinblick auf die angestrebte Vortäuschung des Schönen zu analysieren, richten beide Theoretiker – Lessing wie Diderot – ihre Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Anschauungsformen der beiden Medien. Unter dem Strich der Überprüfung steht die Inkompatibilität von Bild und Sprache: „Ut pictura poesis non erit“, wie es Diderot 1767 im Salon auf eine neue, anti-Horatische Formel bringt.74 Lessing entwirft für das ‚non‘ dieser Analogie die beiden bekannten Formulare – hier die zeitliche Sukzessivität der Sprache, dort die räumliche Simultaneität des Bildes –, von denen aus er die Eignung des jeweiligen Mediums für die Darstellung des Schönen bewertet. Das Schöne an sich ist für die „sprachliche, sich im Verlauf der Rede entwickelnde Darstellung“ ‚unbequem‘, weil es, wie Lessing im Laokoon entwickelt, „eine Objektqualität ist, die sich angemessen nur einem simultanen Gesichtseindruck erschließt“.75 Der umsichtige Dichter enthält sich „der Schilderung körperlicher Schönheit, als Schönheit, gänzlich“, weil „der concentrierende Blick, den wir nach ihrer Enumeration auf sie zugleich zurück senden wollen, uns doch kein übereinstimmendes Bild gewähret“.76 Mit solchen Argumenten beugen sich die materialästhetischen Ansätze im 18. Jahrhundert einer Tyrannei der Anschaulichkeit, unter der die Möglichkeit literarischer Schönheit – die Schönheit der Literatur – zu leiden hat; schön in diesem 73 74 75 76
Henry Home: Elements of criticism. 3 Bde. Bd. 2. Hildesheim u. New York 1970 [ND d. Ausg. Edinburgh 1762], S. 242f. Denis Diderot: Ästhetische Schriften. Übers. u. hg. v. Friedrich Bassenge. 2 Bde. Bd. 2. Berlin u. Weimar 1984, S. 635. Jacob: Die Schönheit der Literatur, S. 187. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 5, 2: Werke 1766–1769. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a.M. 1990, S. 144.
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Sinn sind Gemälde oder Plastiken, keine Texte. Als „Index und Medium einer theoriegeschichtlichen Umwälzung“ dient daher der Begriff der Darstellung,77 der nach Baumgarten vor allem bei Lessing, später auch bei Herder sowohl die ästhetische Intuition als auch die Illusion kritisiert, weil diese Theoretiker mit dem nicht intuierbaren Rest des sprachlichen Mediums zu rechnen beginnen, mit dem sich die „neue Struktur“ einer sprachvermittelten „imaginative[n] Synthesis“ aus „durchaus unanschaulichen Sequenzen“ durchsetzt78 – eine symbolische Struktur, die selbst medial realisiert wird, indem sie im schriftlich fixierten Text das zusammenfügt, was Lessing trennt: die räumliche Anschauungsform des (Schrift-)Bildes mit der zeitlichen Anschauungsform der Stimme.79 Mit seiner Medio-Metaphysik des Gedichts stellt sich Baumgarten also gewissermaßen quer zu den Diskursen, welche die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschen, und er nimmt viele der Argumente vorweg, mit denen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die formalistische und phänomenologische Literaturästhetik die mediale Leistungsfähigkeit des Textes stark macht. Diese Argumentation richtet sich auf die symbolische Struktur des Gedichts, deren Funktionen ‚confusus‘, ‚clarus‘ und ‚vivus‘ Baumgarten systematisch entfaltet, und die ich im Folgenden an die materialästhetischen Diskurse des Schönen anschließen werde. Weil Baumgarten Schönheit vom Gesichtssinn (visus) entkoppelt – also vom Medium des Bildes im engeren Sinn – und zu einer Angelegenheit der Ordnung (ordo) und ihrer Gesetze macht (methodus), kann Schönheit auch in sprachlicher Form in Erscheinung treten: in den Buchstaben, den konzeptualisierten Lauten, an die diese Buchstaben erinnern, vor allem aber in der komplexen Ordnung des Gedichts, die Wörter und Sätze zusammenfügt. In dieser Struktur offenbart sich Baumgartens Interesse an den materialen Aspekten des Gedichts. Dass mit den Funktionen der symbolischen Struktur keine allgemeinen Sprachfunktionen zur Diskussion stehen, sondern besondere Textfunktionen, bezeugen die letzten Paragraphen der Meditationes. Mit Rücksicht auf die Vollkommenheit (Schönheit) umreißt Baumgarten dort das Verhältnis von rhetorischer Disziplin, deren Begriffsinventar er wohl oder übel übernehmen muss, und in Erscheinung tretender Vollkommenheit, der sein Interesse gilt: Iam quum perfecte hoc fieri possit et imperfecte, hoc doceret RHETORICA GENERALIS scientia de imperfecte repraesentationes sensitivas proponendo in genere et illud POETICA GENERALIS scientia de perfecte proponendo repraesentationes sensitivas in genere (MED § 117; vgl. MET § 533).80
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Menninghaus: „Darstellung“, S. 205. Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 142. Vgl. 1.5.3 Zeitlichkeit. „Da nun das Darstellen vollkommen und unvollkommen geschehen kann, so lehrt dies die ALLGEMEINE RHETORIK als die Wissenschaft, wie man im allgemeinen sensitive Vorstellungen unvollkommen darstellt. Jenes lehrt die ALLGEMEINE POETIK als die Wissenschaft, wie man im allgemeinen sensitive Vorstellungen vollkommen darstellt“ (MED § 117).
Die Bezeichnung einer Rede als Gedicht setzt deren Vollkommenheit voraus. Lediglich die unvollkommene sinnliche Rede kann daher noch Gegenstand einer deskriptiven Rhetorik sein (vgl. KOLL § 24), während die Beschreibung der vollkommenen sinnlichen Rede einer anderen Disziplin obliegt. In den Meditationes heißt diese Wissenschaft der vollkommenen sinnlichen Rede ‚Poetik‘, deren medialen Geltungsbereich Baumgarten in der Metaphysica zur ‚Ästhetik‘ auf alle Kunstformen erweitert: „Scientia sensitive cognoscendi et proponendi est AESTHETICA, meditationis et orationis sensitivae vel minorem intendens perfectionem, RHETORICA, vel maiorem POETICA UNIVERSALIS“ (MET § 533).81 Der zentrale Argumentationsort, an dem die symbolische Struktur des Gedichts metaphysisch übersetzt wird, ist derjenige des ‚ästhetischen Reichtums‘ (ubertas aesthetica),82 an dem Baumgarten alle Figuren – normale oder kryptische – auf Sukzessivität verpflichtet. In seiner phänomenalen Individualität (ubertas materiae, ubertas obiectiva), seiner Fülle, seinem Überfluss, seiner Menge an Eigenschaften und seinem Reichtum (vgl. AE § 115) entfalten sowohl die Figuren der Detaillierung (amplificatio) als auch diejenigen der Vergegenwärtigung (hypotyposis) ihren Gegenstand. Jede Figur umkleidet (vestire) ihn wie mit einem Gewebe (vgl. AE § 565), wobei Baumgarten aber offenbar weniger an ein schön fallendes Gewand als vielmehr an ein regelrechtes Gespinst denkt – eine textile Verdichtung, wie er sie für die erste Funktion der symbolischen Struktur ‚confusus‘ und von dort aus auch für die zweite ‚clarus‘ entworfen hat.83 Dass er in diesem Abschnitt vor allem Pseudo-Longins Über das Erhabene ausbeutet, kommt daher nicht von ungefähr. Für Baumgartens Vorliebe für Superlative schließen sich Erhabenheit und Schönheit anders als für Kant nämlich nicht aus, im Gegenteil: „Erit itaque secundum hanc intensionis scalam argumentum et figura pulcerrima, quae cognitionem et locupletiorem, et graviorem et veriorem et clariorem et certiorem et ardentiorem alterius […] simul efficiant, § 22“ (AE § 142).84 Der Begriff der ‚ubertas‘, erläutert Schweizer vor diesem Hintergrund treffend, „nimmt auf der Ebene der rhetorischen Anweisung das vorweg, was im Zusammenhang mit der erkenntnistheoretischen Fragestellung die ‚metaphysische‘ und zugleich die ‚reale‘ und ‚materiale‘ Wahrheit genannt wird“ (vgl. AE § 424). Und weiter: „Der ‚Reichtum‘ der erscheinenden Wirklichkeit kann weder von der logischen noch von der ästhetischen Er81
1. Aufl. 1739 [MET], S. 90, Anm. 80: „Die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung ist die Ästhetik; wird eine geringere Vollkommenheit der Überlegung und der sinnlichen Rede angestrebt, ist es die Rhetorik, wird eine größere Vollkommenheit angestrebt, ist es die universale Poetik“. 82 Die Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Reichtum entspricht derjenigen, die Baumgarten auch bei ästhetischem Licht und ästhetischer Dunkelheit vorgenommen hat: Sie betrifft das Verhältnis von allgemeinem Gesetz und individuellem Prozess. 83 Vgl. 1.5.1 Räumlichkeit; 1.5.2 Unanschaulichkeit. 84 „Es werden daher gemäß dieser Stufenleiter der Stärke dasjenige Argument und die Figur am schönsten sein, welche die Erkenntnis eines anderen […] zugleich sowohl reicher als auch bedeutsamer, wahrer, klarer, gewisser und feuriger machen“ (AE § 142; Mirbach).
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kenntnis auch nur annähernd vollständig erfasst werden, er transzendiert alle Erkenntnismöglichkeiten und erscheint auf der Ebene der erkenntnistheoretischen Fragestellung als ‚metaphysischer‘ Wahrheitshorizont“,85 sodass „der rhetorische Begriff der ‚ubertas‘ nur noch als Symbol des Reichtums der erscheinenden Wirklichkeit überhaupt“ verwendet wird.86 Ebenfalls nicht von ungefähr wählt Baumgarten für die mediale WahrScheinlichkeit – so wie nach ihm viele andere auch – die Plastik als Referenzmedium, ohne sich allerdings auf den menschlichen Körper (als symbolischer Anschauung der perfectio) festzulegen.87 Gegenüber der abstrakten logischen Vollkommenheit des Allgemeinbegriffs weist der individuelle Gegenstand die größere Schönheit auf: „Pari ratione ex marmore irregularis figurae non efficias globum marmoreum, nisi cum tanto saltim materiae detrimento, quantum postulabit maius rotunditatis pretium“ (AE § 560).88 Wenn Baumgarten dieses Beispiel im folgenden Paragraphen semiotisch interpretiert, dann legt er das symbolische „Zeichen“ keineswegs auf die (partielle) Übereinstimmung von Gestalt und Bedeutung fest (vgl. AE § 561). Dieses Zeichen generiert Bedeutung aufgrund seines eigenen Beziehungsreichtums, dessen materialer Überschuss schön ist. Der eigenen Argumentationsbildung treu bleibend versieht Baumgarten auch diese Schönheit nun noch mit einem Bewegungsindex. Während Winckelmann noch einmal versucht, Schönheit, Ruhe und Sittlichkeit zu einem Paket zu verzurren, stehen im Zentrum der Wirkungsästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Kategorien Energie und Leben, wie sie dem rezeptionsästhetischen Paradigmenwechsel vom docere zum movere entsprechen. „Das führt entweder zu der Konsequenz“, erläutert Jacob, „wie Lessing es vormacht, auch das Schöne mit Bewegung aufzuladen oder es nach dem Beispiel Edmund Burkes als in seiner ästhetischen Valenz tendenziell abgewertetes ‚ruhiges Schönes‘ in Opposition zu einem ‚bewegenden Erhabenen zu rücken“.89 Lessings Mobilisierung der Schönheit erfolgt im Zeichen eines Begriffs, den sich die Ästhetik nicht zufällig mit der zu dieser Zeit entstehenden Neurophysiologie teilen muss.90 „Reiz ist Schönheit in Bewegung“,91 definiert Lessing eine medienspezifische literarische Schönheit – eine Schönheit, der die Impulse zur Bewegung (wie durch Elektroden in einem Muskel ausgelöst) implementiert sind. 85 86 87 88
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Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 48. Ebd., S. 47. Vgl. Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, bes. S. 20–48. „Man kann, um einen Vergleich heranzuziehen, aus einem Marmorblock von unregelmäßiger Gestalt nur dann eine Marmorkugel herausarbeiten, wenn man einen Verlust an materialer Substanz in Kauf nimmt, der zum mindesten dem höheren Wert der regelmäßig runden Gestalt entspricht“ (AE § 560; Schweizer). Jacob: Die Schönheit der Literatur, S. 259. Vgl. Heinz J. Drügh: „Allenthalben auf seiner Oberfläche“. Zur Präsenz des Körpers im klassizistischen Symbol. In: Berndt u. Brecht (Hg.): Aktualität des Symbols, S. 135–160. Lessing: Laokoon, S. 155.
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Diese Bestimmung einer besonderen literarischen Schönheit fällt indes weit hinter diejenige Baumgartens zurück, für den jede Schönheit stets und notwendig bewegt ist, sobald er an der Schnittstelle zum Erhabenen – am Argumentationsort des ‚ästhetischen Reichtums‘ (ubertas aesthetica) – die allgemeinen Bedingungen der Schönheit festlegt. Im Frankfurter Kolleg definiert Baumgarten die Ästhetik daher als „Philosophie der Musen und Grazien“ (KOLL § 1), um der bewegten Schönheit des aktiven Gedichts eine adäquate Mythologie zu unterlegen. Möglicherweise hat Baumgarten von der Verwendung des Begriffs ‚grace‘ in der englischen Ästhetik Kenntnis gehabt; vor allem Hogarth wartet mit einem Konzept auf, das sich hervorragend an die von Baumgarten herausgearbeitete dritte Funktion der symbolischen Struktur ‚vivus‘ anschließen lässt – dem zielstrebigen Begehren, das von einem Merkmal ad infinitum zum nächsten drängt.92 Die „line of grace“ ist der „line of beauty“ in Hogarths Ausführungen sogar insofern überlegen, als sie dem Schönen im Technischen eine weitere Dimension hinzufügt und in die Tiefe ausgreifend in noch größerem Umfang Mannigfaltigkeit (variety) vereinen kann. ‚Beauty‘ und ‚Grace‘ sind für den Maler Hogarth also dezidiert malerisch-plastische Kategorien, die sich zueinander nach dem Maßstab der Komplexität der zur Darstellung, d.h. zur Sichtbarkeit gebrachten Mannigfaltigkeit verhalten.93
Die Möglichkeit, wie sie Baumgarten wahrnimmt, die Grazie von der bildenden Kunst in die Rhetorik zu übersetzen, wird vor allem von Home angeboten, der darauf hinweist, dass sowohl der Tanz als auch der öffentliche Vortrag (actio) Grazie zeigen können: „Dancing affords great opportunity for displaying grace, and haranguing still more“.94 Baumgartens eigene mythologische Anspielung auf die Grazie scheint indes eher einer Art topischem Gewohnheitsrecht zu folgen, als einem unmittelbaren Einfluss oder einer gezielten Begriffspolitik geschuldet zu sein. Denn der Sache nach verlangt die symbolische Struktur des Gedichts, die Baumgarten ja so radikal verzeitlicht hat, nach einem Bezugsmodell, das sowohl dem vorwärtsdrängenden, dem begehrlichen Aspekt dieser exzentrischen Funktion Rechnung trägt als auch der Ausrichtung der Bewegung auf ein Ziel – beides motiviert weniger die eleganten Bewegungen einer Tänzerin als vielmehr die ehrgeizigen eines Sportlers. Erlaubt sei in diesem Zusammenhang wenigstens die Randnotiz, dass kein Geringerer als Aristoteles in der kleinen seelenkundlichen Schrift Über die Weissagung im Schlaf seine eigene, an der Logik der Metapher ausgerichtete Theorie der symbolischen Erkenntnis durch das Bild des Werfenden in einem Wettkampf veranschaulicht. Dadurch setzt Aristoteles die Darstellungen des Träumenden, des Weissagenden, des Erinnernden und des Dichters in eins, denn als Melancholiker 92 93 94
Vgl. 1.5.3 Zeitlichkeit. Jacob: Die Schönheit der Literatur, S. 263. Henry Home: Elements of criticism, with Additions and Improvements. 2 Bde. Bd. 1. 3. Aufl. Edinburgh 1765, S. 348.
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„sagen und denken“ sie „(Dinge, in denen) das Ähnliche dem Ähnlichen zugeordnet ist, […] und reihen so Vorstellungen aneinander“.95 Einiges spricht also dafür, Baumgartens schönes Gedicht an die Diskurse des Erhabenen und der Grazie anzuschließen, etwas anderes jedoch entschieden dagegen. Im selben Abschnitt, in dem Baumgarten vom ästhetischen Reichtum die exzentrische Funktion des Gedichts ableitet, stellt er dieser eine konzentrische Funktion an die Seite, ohne die das Gedicht nicht schön sein kann. Baumgarten fordert vom Gedicht eine abgerundete Kürze (brevitas rotunda), die er in Anlehnung an Ciceros Lehre von den Stilqualitäten entwickelt.96 Damit nimmt Baumgarten einerseits die Reflexionsfigur des Kreises noch einmal auf, die er hier nicht für die Nachteile der Abstraktion, sondern für die Vorteile ästhetischer Vollkommenheit beansprucht, und verbindet sie andererseits mit dem klassischen Redeideal der Kürze. Erst diese abgerundete Kürze des Gedichts überträgt die unendliche Krümmung der metaphysischen Schönheitslinie (line of beauty) strukturanalog auf die formalen Verhältnisse des Gedichts, was Baumgarten zu einem Vergleich mit der Geodäsie veranlasst:97 „Sicut in geographicis horizon apparens, nunc latior est, nunc angustior, ita meus horizon aestheticus potest contrahi, potest dilatari“ (AE § 149).98 Der Horizont wird so lange gekrümmt, bis die unbegrenzt vielen Aspekte eines dergestalt einzigartigen Gegenstands in seiner abgerundeten Ganzheit erfasst werden können (vgl. AE § 561). „Der Begriff der ‚brevitas‘“, erläutert Schweizer daher zu Recht, deutet auf den einzelnen Akt der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung hin, auf die ‚Intuition‘, die in dem fluktuierenden Reichtum der Erscheinungen immer nur – bildlich gesprochen – ein ‚rundes Etwas‘ festhält, ob es sich nun um den dichterisch-rhetorischen Ausdruck oder um rein rezeptive Erkenntnisakte handelt.99
Gleichzeitig weist Schweizer auf Fliehkraft und Anziehungskraft der bewegten Schönheit hin, die Baumgarten als gegenläufige Tendenzen des Gedichts vorsieht: Brevitatem omne pulcre cogitandi genus decentem, §. 160, plenam illam et refertam, §. 158, non mancam, non hiulcam, §. 159. parcam tamen ac sobriam, §. 164, non luxuriantem aut maculosam, §. 165. uno nomine ROTUNDAM BREVITATEM dicere liceat (AE § 166; vgl. § 657).100 95 96 97
Ar. De div. per som. 464b. Wie beim Reichtum unterscheidet Baumgarten zwischen absoluter und relativer Kürze. Zur ästhetischen Reflexionsfigur des Horizonts vgl. Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a.M. 1990. 98 „Wie in der Geographie der erscheinende Horizont einmal weiter, einmal enger ist, so kann mein ästhetischer Horizont sich zusammenziehen, er kann sich erweitern“ (AE § 149; Mirbach). 99 Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 48. 100 „Wir wollen die Kürze, die dem schönen Denken jeder Art angemessen ist, jene ganz erfüllte, gesättigte Kürze nennen, die nichts vermissen lässt, keine Risse hat, die dennoch sparsam ist und nüchtern, nicht üppig oder voller Flecken, mit einem Wort: wir wollen sie die abgerundete Kürze nennen“ (AE § 166; Schweizer, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 323).
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Bereits in den Meditationes macht Baumgarten die Vollkommenheit des Gedichts daher von der konzentrischen Funktion der symbolischen Struktur abhängig: „INTRINSECE sive ABSOLUTE BREVIS est ORATIO cui nihil inest, quod salvo perfectionis gradu abesse posset. Talis brevitas, quum sit omnis orationis, est etiam poematis, § 9“ (MED § 74).101 Doch erst in der doppelten Bewegung von Exzentrik und Konzentrik tritt die Vollkommenheit des Gedichts in Erscheinung: „et placentem simul rotundam illam brevitatem […] et pulcram obtinebis cohaerentiam, § 437“ (AE § 439).102 Während die Exzentrik des Gedichts ihre mediale Entsprechung in den figuralen Verfahren der Detaillierung (amplificatio) und der Vergegenwärtigung (hypotyposis) hat, vollzieht die Konzentrik die selbstreflexive Wende des Gedichts, mit der Baumgarten im Grunde genommen nur dessen selbstreferentielle Wende in der Bestimmung der formalen Autonomie des Schönen ausbaut. An welchem medialen Ort biegt sich nun aber eine symbolische Struktur des Gedichts auf sich selbst zurück, damit sie im Baumgartenschen Sinn zu einer runden Sache werden kann? Innerhalb der Rhetorik bemisst sich die Kürze quantitativ: an der Anzahl der Argumente (räumliche Anschauungsform) oder an der Dauer des Vortrags (zeitliche Anschauungsform). Doch reicht es für die metaphysische Übersetzung des Gedichts aus, Quantität einfach nur in Qualität umzumünzen? Den Status des Symbolischen würde demnach ein möglichst kurzer Text oder eine möglichst kurze textuelle Einheit erreichen. Da Baumgarten sich jedes konkreten Hinweises enthält, an welchem Punkt schöne Kürze in hässliche Länge umschlägt, scheint aber ein anderes Modell als dasjenige quantitativer Bemessung zumindest denkbar – ein anderes Modell, nach dem man Kürze zwar berechnen kann, aber nicht einfach nur als ein Mehr oder Weniger an Verknüpfungen. Wie die Kehrseiten einer Medaille stellen Exzentrik und Konzentrik die beiden Aspekte der symbolischen Wahr-Scheinlichkeit an ein und demselben medienästhetischen Ort aus – an der rhetorischen Figur (figura) nämlich, mit der Baumgarten auf der Grundlage der Wiederholung die Matrix für das Gedicht geprägt hat.103 Exzentrisch ist die Doppelwertigkeit – die Zweiheit – der Figur insofern, als das erste Element der per definitionem mindestens zweistelligen Figur das zweite begehrt, das zweite das dritte und so weiter, ohne mit diesem Begehren je an ein Ziel gelangen zu können. Die logische Abbildung dieser Bewegung wäre: f (Gedicht) = 2x. Konzentrisch ist die Figur insofern, als sich die Elemente der Figur in ihrer Zweiheit selbst begegnen, indem innerhalb der Figur der Vektor des Begehrens vom Ziel abgelenkt, umgelenkt und auf das jeweils 101 „INNERLICH
oder ABSOLUT KURZ ist EINE REDE, der nichts zugehört, was fehlen könnte, ohne daß dadurch der Grad der Vollkommenheit beeinträchtigt würde. Da eine solche Kürze jeder Rede eignet, muß auch das Gedicht darüber verfügen, § 9“ (MED § 74). 102 „Und so wird man zugleich jene gefällige, abgerundete Kürze und den schönen Zusammenhang der Darstellung erreichen“ (AE § 439; Schweizer). 103 Vgl. 1.5.1 Räumlichkeit.
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vorangehende Element zurückgelenkt wird. Die logische Abbildung dieser Spiegelung wäre: f (Gedicht) = x2. Mit Bezug auf die sinnlichen Operationen könnte man auch sagen, dass in der exzentrischen Funktion der symbolischen Struktur das eine Element das andere (praesagitio) antizipiert, während es sich in der konzentrischen auch an das andere erinnert (memoria), das mit ihm durch Ähnlichkeits- (ingenium) wie Differenzrelationen (acumen) verbunden ist. Sowohl die Exzentrik als auch die Konzentrik des Gedichts machen es zu einer selbstreflexiven Größe, bei der Baumgarten mit der Zweiwertigkeit der Figur kalkuliert. Dadurch erhält die alte rhetorische Zweideutigkeit (ambiguitas) freilich einen letzten metaphysischen Dreh zur paradoxalen Ambiguität – zur symbolischen Struktur einer ‚unendlichen Endlichkeit‘ oder ‚begrenzten Unbegrenztheit‘, die das Gedicht in der unauflösbaren Spannung von Offenheit und Geschlossenheit hält.
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3 Die Ethik des Gedichts
no symbols where none intended Beckett, Watt
3.1 ‚Symbolica‘ Die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ zeichnet sich dadurch aus, dass die symbolische Struktur des Gedichts und deren drei Funktionen – ‚confusus‘, ‚clarus‘, ‚vivus‘ –, die in der Verschaltung von Psychologie, Semiotik und Rhetorik / Poetik entsteht, metaphysisch übersetzt wird. Die Medio-Metaphysik des Gedichts basiert auf der Spannung zwischen Exzentrik und Konzentrik, die sowohl in formaler Hinsicht (Schönheit) als auch in logischer (Wahr-Scheinlichkeit) als eine Mangelstruktur in Erscheinung tritt. In einer letzten Wendung der Aesthetica scheint Baumgarten die Weichen für die Zukunft des Gedichts freilich in eine ganz andere Richtung zu stellen, als sie die ‚symbolmachenden‘ Disziplinen der Psychologie, Logik, Semiotik, Rhetorik / Poetik und Metaphysik vorgeben. Indem er den sechs Argumentationsorten nämlich nun eine Ethik voranstellt, überführt er die ästhetische Theorie in die Praxis. Was bisher als symbolische Struktur des Denkens und Darstellens in verschiedenen Disziplinen philosophische Probleme aufgegeben hat, das wird nun zu einer Angelegenheit des Dichters.1 Gesellt sich an die Seite der Ästhetik also plötzlich auch noch eine Lehre über die Erziehung des Menschengeschlechts (in einer Reihe von Paragraphen)? In einer der Aesthetica unterlegten Kommunikation von ‚Mensch zu Mensch‘ – Baumgarten simuliert am eigenen Schreibtisch ein Kolleg – stellt er sich nämlich die pädagogisch-didaktische Aufgabe, zu klären, „wie das Subjekt beschaffen sein muß, das sie [die Ästhetik, F.B.] treiben“ (KOLL § 27) und sich im Denken und Darstellen vervollkommnen soll, damit es in seiner Vorbildlichkeit etwas zum Allgemeinwohl beitragen kann, indem es der Gemeinschaft Sinn stiftet.2 Eine solche Pragmatisierung der Theorie kann nur um den Preis einer endgültigen Disambiguierung der Ästhetik greifen. Wo einerseits ein Darstellen von 1
2
Zu den Grundzügen seiner philosophischen Ethik vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ethica philosophica. Hildesheim u. New York 1969 [ND d. 3. Aufl. Halle 1763]. Die ethischen Aspekte werden gerade erst entdeckt. Vgl. Dagmar Mirbach: Ingenium venustum und magnitudo pectoris. Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica. In: Aufklärung 20 (2008), S. 199–218; Clemens Schwaiger: Baumgartens Ansatz einer philosophischen Ethikbegründung. Ebd., S. 219–237. Vgl. Simon Grote: Pietistische Aisthesis und moralische Erziehung bei Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Aufklärung 20 (2008), S. 175–198.
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einem Denken zeugen würde – beides also nicht als doppelwertige Einheit anerkannt würde –, da würde das Denken wohl oder übel auch zum Denker führen; wo andererseits mit diesem nicht ein Subjekt, sondern ein Individuum zur Diskussion stehen würde, da wäre die Rede über den Dichter im besten Sinn des Wortes freigesetzt, wäre die Ethik von der Theorie abgespalten. Auf einer solchen Pragmatisierung basieren die Diskurse über Autorschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Baumgartens eigener skrupulöser Entwurf wechselt jedoch zu keiner Zeit aus den theoretischen in die praktischen Disziplinen. Wie jedes rhetorische Lehrbuch neben den technischen Anweisungen zur Abfassung einer formvollendeten Rede (oratio) sowohl den Redner (orator) als auch seine Erziehung (institutio) streift, handeln zwar auch Baumgartens Lehrbücher nicht nur vom schönen Denken und Darstellen, sondern auch von Natur und Ausbildung des Autors (auctor), der in seinem hölzernen Zuschnitt längst als Kopie des bei Cicero, Quintilian, Horaz oder Vergil profilierten Rednerideals entlarvt worden ist – des vir bonus.3 Doch Baumgarten setzt seinen Dichter stets gezielt als Argumentationsfigur ein, ohne dabei je von etwas anderem zu reden als vom Gedicht. Diese Abhängigkeit der Rede über den Dichter von der Rede über das Gedicht beginnt mit einem etymologisch-figuralen Zeugungsakt des ‚Dichters‘ in den Meditationes. Dort ersetzt Baumgarten das Produkt – poema – durch den Produzenten – poeta –, indem er in ein und demselben Wort einfach nur das m gegen ein t austauscht: „Oratio sensitiva perfecta est POEMA, […] habitus conficiendi poematis POESIS, eoque habitu gaudens POETA“ (MED § 9).4 Der Name, auf den dieser Dichter dann in der Aesthetica getauft wird, spricht Bände über das etymologischfigurale Verfahren seiner Herkunft. Baumgarten ändert einfach nur das Genus des Wortes, und schon wird aus der aesthetica ein aestheticus, dessen Bonität durch das Attribut felix qualifiziert wird. Die Konstruktion des felix aestheticus folgt dem Verfahren der Prosopopoiia (griech. prosopon poiein: eine Maske aufsetzen), obwohl Baumgarten dem schönen Geist keine Stimme verleiht, wie es Gottsched für die „Prosopopœia“ – die „Personendichtung“5– vorsieht, sondern nur ein getreues Bild vom Dichter zeichnet. Wie naheliegend das Verfahren der ‚Personendichtung‘ für den versierten Mythologen Baumgarten tatsächlich gewesen sein mag, zeigt ein Hinweis auf die „Götterlehre der alten Heiden“ (KOLL § 78), in welcher der Reigen der Musen von „nichts als verschiedene[n] Arten, sich von verschiedenen Gegenständen schön auszudrücken“, abgeleitet wird: „Einer jeden besonderen Art gab man contenable 3
4 5
Vgl. Hor. Ar. poet., v. 409; Cic. De or. III 189, II 194; Quint. Inst. or. II 8. Zur rhetorischen vir bonus-Konzeption in Bezug auf Baumgarten vgl. Finsen: Evidenz und Wirkung im ästhetischen Werk Baumgartens. S. 201; Linn: A.G. Baumgartens Aesthetica und die antike Rhetorik, S. 435f. „Eine vollkommene sensitive Rede ist EIN GEDICHT. […] Die Fähigkeit des Gedichtemachens ist DIE DICHTUNG, und wer sich dieser Fähigkeit erfreut, ist EIN DICHTER“ (MED § 9). Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 335.
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Namen und verwandelte sie in Personen“ (KOLL § 83; Hervorh. F.B.), erläutert er dem Frankfurter Kolleg. Nur unter der Bedingung, dass man die etymologischfigurale Herkunft des schönen Geistes verkennt oder sogar verleugnet, führen die in den Abschnitten zwei bis sieben sowie 34 bis 36 auf 144 Paragraphen explizit entfalteten und in vielen anderen implizit ergänzten Charaktereigenschaften und Aufgaben des felix aestheticus direkt zu ethischen, pädagogischen, politischen oder ökonomischen Problemen; ansonsten bleibt er das, was er von Geburt an gewesen ist: eine (Argumentations-)Figur. 3.1.1 Kopf und Herz Die Aesthetica fasst die ‚Wesenszüge des Ästhetikers‘ (character aesthetici) an der Systemstelle der inventio zusammen (vgl. AE §§ 28–114). In der Argumentation folgt einer ‚positiven‘ Bestimmung (vgl. AE §§ 28–103), die Anlagen und Ausbildung des Dichters verhandelt, die ‚negative‘ (vgl. AE §§ 104–114), die Warnungen und Ermahnungen enthält. Zwei angeborene bzw. zu vervollkommnende Seelenvermögen, die Baumgarten im zweiten Abschnitt der Aesthetica, der ‚aesthetica naturalis‘ (natürliche Ästhetik), definiert (vgl. AE §§ 28–46), zeichnen den Dichter aus: das angeborene schöne und feine ingenium (ingenium venustum et elegans connatum) und das angeborene ästhetische Temperament (temperamentum aestheticum connatum). Unter dem Begriff des Temperaments verhandelt Baumgarten das Begehrungsvermögen; unter dem Begriff ‚ingenium‘, der sich jeder einfachen Übersetzung entzieht und hier weniger als Begriff denn als begriffliche Spielmarke eines Jahrtausende alten Kreativitätsdiskurses aufgefasst werden soll, subsumiert Baumgarten sowohl die oberen Erkenntnisvermögen (facultates cognoscitivae superiores) (vgl. AE § 38) als auch die unteren (facultates cognoscitivae inferiores) (vgl. AE §§ 30–37), die er mit der üblichen Vorsicht so aufeinander bezieht, dass er die sinnliche Erkenntnis am Maßstab der logischen ausrichtet. Die Bestimmung des Begriffs ‚ingenium‘ erfolgt im erkenntnistheoretischen Register und bietet nichts Überraschendes: Die angeborene natürliche Ästhetik – dazu zählen auch die Physis, Natur, gute Anlage sowie früheste Prägung des Dichters (vgl. AE § 28) – umfasst die Empfindungsvermögen Witz, Scharfsinn, Gedächtnis, (Er-)Dichtungsvermögen, Voraussicht, Geschmack und Bezeichnungsvermögen, die Baumgarten in der Metaphysica zusammenfasst. Um den felix aestheticus durch eine Reihe natürlicher Veranlagungen (dispositio naturalis animae) auszuzeichnen, reicht es, dass Baumgarten die Teile der Erkenntnislehre anthropologisch in eine Charakterlehre übersetzt. So besitzt der felix aestheticus die Veranlagung, scharf zu empfinden (dispositio acute sentiendi), der die Fähigkeit der Empfindung (facultas sentiendi) entspricht (vgl. AE § 30); die Veranlagung, sich etwas bildlich vorzustellen (dispositio naturalis ad imaginandum), der die Einbildungskraft (phantasia) entspricht (vgl. AE § 31); die Veranlagung zur durchdringenden Ein107
sicht (dispositio naturalis ad perspicaciam), der die unteren Erkenntnisvermögen Witz (ingenium) und Scharfsinn (acumen) entsprechen (vgl. AE § 32); die Veranlagung, etwas wiederzuerkennen (dispositio naturalis ad recognoscendum), der das Gedächtnis (memoria) entspricht (vgl. AE § 33); eine poetische Veranlagung (dipositio poetica), der das (Er-)Dichtungsvermögen (facultas fingendi) entspricht (vgl. AE § 34); die Veranlagung zum guten Geschmack (dispositio ad saporem delicatum), welcher der Geschmack (facultas diiudicandi) entspricht (vgl. AE § 35); die Veranlagung, Zukünftiges vorauszusehen (dispositio ad praevidendum et praesagiendum), der die Voraussicht (facultas expectatio casuum similium) entspricht (vgl. AE § 36) und schließlich die Veranlagung, Vorstellungen auszudrücken (dispositio ad significandas perceptiones), der das Bezeichnungsvermögen (facultas characteristica sensitiva) entspricht (vgl. AE § 37). So kommt es, dass Baumgartens Dichter als ‚unterer Richter‘ (iudex inferior) über die Gesetze des unteren Erkenntnisvermögens (cognitio inferior) wacht (vgl. AE § 35). Etwas weniger mechanisch fällt Baumgartens Bestimmung des Begriffs ‚temperamentum‘ aus, für die er aus dem erkenntnistheoretischen ins triebtheoretische Register wechselt, auch wenn sich an dem Analogieverfahren der Konstruktion selbst nichts ändert. So wie der Dichter denkt, so begehrt er auch: Ad aestheticum natum, §. 28. requiritur […] indoles dignam et moventem cognitionem pronius se[c]utura, facultatumque appetitivarum ea proportio, qua in pulcram cognitionem facilius feratur, s. TEMPERAMENTUM AESTHETICUM CONNATUM, M. § 732 (AE § 44).6
Nachdem Baumgarten die Beispiele für das maßvolle Begehren nach Geld, Macht, Arbeit, Muße, Genuss, Freiheit, Ehre, Freundschaft, Stärke und Gesundheit memoriert und mit dem Begehren nach schöner Erkenntnis sowie der sie begleitenden liebenswürdigen Tugend und höheren Erkenntnis auch noch den empfindsamen Thesaurus in seine Charakterlehre integriert hat, bindet er das dergestalt maßvolle, also moralisch gute Begehren beiläufig an die angeborene Größe des Herzens (magnitudo pectoris connata) (vgl. AE § 45), sodass die Kollegnachschrift die doppelte Ausstattung des Dichters: einerseits mit ingenium, andererseits mit temperamentum, auf die griffige Formel von ‚einem guten Kopf und einem guten Herz“ (vgl. KOLL 28 pass.) bringt, wie es in der mittleren Aufklärung gang und gäbe ist. „Übung in beiden“, in Kopf und Herz, ist deshalb das Patentrezept, das Baumgarten für die Ausbildung des schönen Geistes anbietet (KOLL § 78). Dabei bleibt die feine Nuance dieser Formel zu berücksichtigen, die en passant einige Widersprüche des inflationären Umgangs mit den beiden zentralen ethischen Metaphern auflöst. Baumgartens ‚Kopf‘ ist als ein sensitiver Kopf konzipiert, sein ‚Herz‘ als 6
„Zum geborenen Ästhetiker gehört […] die Fähigkeit des Gemüts, derjenigen Erkenntnis, die ihm wertvoll erscheint und durch die es sich bewegen läßt, besonders gern nachzugehen, und ebenso dasjenige Verhältnis der Begehrungsvermögen, durch das es leichter zur schönen Erkenntnis geführt wird. Wir meinen damit das angeborene ästhetische Temperament“ (AE § 44; Schweizer).
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ein intelligentes Herz. Wie dieser Kopf nicht einfach nur ein denkender, sondern vor allem ein anders denkender, nämlich empfindender ist, versinnbildlicht das Herz in Baumgartens Anthropologie nicht das Andere der Vernunft – den dunklen Trieb –, weil es rational grundiert wird: „So können“ beispielsweise „immer durch die Nachahmung Triebfedern im Herzen entstehen“ (KOLL § 83); das Herz kann gebildet werden, es kann sowohl wählen (vgl. KOLL § 45) als auch irren (vgl. KOLL § 62); es kann gut, edel, aber auch böse sein, und im moralischen Sinn sowohl Schuld auf sich laden als auch gebessert werden (vgl. KOLL § 44), es kann ebenso roh (inoctum pectus aestheticum) wie ‚gekocht‘ sein (vgl. AE § 63), sodass die vermeintlich empfindsame Opposition von Kopf und Herz, von Verstand und Empfindung bei Baumgarten der argumentativen Praxis einer chiastisch interagierenden Doppeleinheit von Herzens-Verstand und Verstandes-Herz weicht. 3.1.2 Flamme und Feile Auch die feineren Züge, die Baumgarten der Maske, oder wie er sagt: dem Urbild des schön denkenden Menschens, einprägt (vgl. AE § 27), haben eine kulturelle Matrix – die Matrix des Melancholikers (vgl. AE § 46). Von alters her liegt sie unseren Vorstellungen von Kreativität zugrunde, weil der Begriff der Melancholie nicht nur in den theoretischen Disziplinen über Kreativität eine wichtige Rolle spielt, sondern weil im kollektiven Gedächtnis auch eine ganze Reihe von Attributen für diese Kreativität gespeichert ist. Diese prägen in der europäischen Bild- und Texttradition den Bildtypus der ‚Melancholia‘, der die Attribute unterschiedlichster Herkunft immer wieder neu kombiniert. Vor allem in der Kollegnachschrift verweist Baumgarten wie selbstverständlich auf das „göttliche Ingenium“ des schönen Geistes (KOLL § 58), das im Aristotelischen „Prä-Text“ des europäischen Melancholiediskurses,7 dem Problem XXX.1, sowohl Denker als auch Dichter nobilitiert. „[U]nter den Temperamenten“ befindet Baumgarten für den felix aestheticus „den Melancholicus zum Dichter am geschicktesten“ (KOLL § 46): [D]er schöne Geist denkt vielleicht so tief in seine Materien, daß er eine Ähnlichkeit mit den Melancholicis hat, und die Gedanken, wie er seinen Entwurf ausführen will, mit denen er sich eine Zeitlang trägt, und die ihn in dies Stillschweigen, oder auch zuweilen in eine seltsame Geberde bringen, sind Kennzeichen eines schönen Geistes. Dieses ist aber die natürliche Ordnung, und der Grad der Tollheit ist nicht da, von der man im Einwurfe sagt (KOLL § 40).
Zum Melancholiker macht den Dichter die doppelte Ausstattung mit ingenium und temperamentum, was zur Folge hat, dass er die ganze Ambivalenz des Melancholiediskurses zu tragen hat. Einerseits betrifft die melancholische Ambivalenz des schönen Geistes das Verhältnis von Arbeit und Begabung, das in Form der beiden
7
Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart u. Weimar 1997, S. 32.
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melancholisch indizierten Konzepte von poeta faber (vgl. AE § 95) und poeta vates (vgl. AE § 36) in die Aesthetica eingeht. Andererseits betrifft diese Ambivalenz das Verhältnis von kreativer Energie und technischer, rationaler Kontrolle, das sich in der sichtlich um Ausgleich bemühten Abschnittsanordnung der Aesthetica niederschlägt. Erst nachdem im dritten Abschnitt der positive Einfluss der ‚ästhetischen Übung‘ (exercitatio aesthetica) und im vierten derjenige der ‚ästhetischen Lehre‘ (disciplina aesthetica) auf den felix aestheticus entwickelt und der gesamte Katalog traditioneller Regelpoetik abgearbeitet worden ist, wendet sich Baumgarten dem – zumindest aus aufgeklärter Perspektive – heiklen fünften Abschnitt der ‚ästhetischen Begeisterung‘ (impetus aestheticus) zu, freilich nicht ohne die Produkte des Triebes im sechsten Abschnitt wieder auf ‚ästhetische Ausbesserung‘ (correctio aesthetica) zu verpflichten.8 Vor dem Hintergrund der Melancholie steht diese Begeisterung im Zusammenhang mit der später immer wieder aufgegriffenen Fähigkeit zur Voraussicht (praevisio) sowie zur Ahnung (praesagitio), aufgrund deren Baumgarten die Dichter – pars pro toto alle ‚Künstler‘ – im Sinn der Antike als Seher bestimmt: „Unde poetae denuo vates“ (AE § 36).9 Für diese Gabe des schönen Geistes ruft Baumgarten die Ahnen der melancholia generosa an, die an dieser Stelle für die Genie-Epoche in den Diskurs eingespeist werden: Homer, Pindar und ihr moderner Nachfahre Milton (vgl. KOLL § 29 u. § 53): Der Melancholicus ist gesetzter, und da wir wissen, ein schöner Geist muß in die Zukunft sehen können, weil er Begierden erregen muß, wer aber in die Zukunft sehen soll, ein gesetztes Nachdenken haben muß. Da sich dieses nun bei den Melancholicis befindet, und sie also am geschicktesten sind, in die Zukunft zu sehen, so haben sie auch die mehreste Anlage zu einem schönen Geiste (KOLL § 46).
Diese Anlage zum schönen Geist geht nun mit Zuständen der Begeisterung einher, die ein Dichter erreichen muss, damit er überhaupt dichten kann. Obwohl Übung und Ausbildung der Produktivität des Dichters zuträglich sind, bedarf es doch einer Energie, die Baumgarten zunächst in ihren möglichen Ausprägungen festlegt (vgl. AE §§ 78–95): „Ad characterem felicis aesthetici generalem, § 27 requiritur IV. IMPETUS AESTHETICUS (pulcra mentis incitatio, inflammatioque, Γ˕ΐ, ecstasis, furor, ΉΑΟϷΗ΅ΖΐΓΖ, ΔΑΉΙΐ΅ȱ ΟΉϷ)“ (AE § 78).10 Die in ihrer Ausprägung zu8
9 10
Zum konkurrierenden Kreativitätsmodell ‚Arbeit vs. Begeisterung‘ um 1770 vgl. Cornelia Blasberg: Werkstatt am „Strom“ oder Das Dädalus-Syndrom. Produktionsphantasien im Göttinger Hain. In: Christian Begemann u. David Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg i.Br. 2002, S. 151– 176. Zur Autorschaft vgl. Fotis Jannidis, u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999; Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft: Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001. Stuttgart, Weimar 2002. „Daher sind die Dichter auch eine Art Seher“ (AE § 36; Schweizer). „Der allgemeine Charakter des glücklichen Ästhetikers erfordert IV) die ÄSTHETISCHE BEGEISTERUNG (die schöne Erregung des Gemüts und Entflammung, den inneren Drang, die Entzückung, den Furor, den Enthusiasmus, einen gewissen göttlichen Geist)“ (AE § 78; Mirbach).
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nächst nicht bewerteten Erscheinungsformen poetischer Begeisterung führt Baumgarten in der Kollegnachschrift folgendermaßen aus: Der schöne Geist denkt mit so starken Attentionskräften auf sein Thema, daß er sie auf andere äußere Dinge zu der Zeit nicht wenden kann. […] Diese Begeisterung nimmt noch stärker zu, wann sie dem Phänomenis ähnlich wird, die man bei Rasenden wahrnimmt. Deshalb heiße sie auch furor. Es äußert sich hier eine besondere Stärke, und die Seele zwinget etwas, das sie ohne diesen furorem nicht würde gezwungen haben. […] Der Enthusiasmus ist eine neue Art der Begeisterung und bezeichnet hier nicht, wie in der Philosophie, den Irrtum, da man glaubt, göttliche Empfindungen zu haben, und sich betrügt, sondern die Benennung wird aus der Götterlehre der alten Heiden hergeleitet. Da sie eine so große Menge von Untergottheiten hatten, so schrieb man es einer von diesen Gottheiten zu, wann man in eine besondere Bewegung gesetzt wurde, und nannte es Enthusiasmum oder den Geist eines gewissen Gottes (ΔΑΉΙΐ΅ȱ ΟΉϷ) (KOLL § 78).
Und im Rückgriff auf entsprechende Paragraphen der Metaphysica münden die Ausführungen zur Begeisterung in der Aesthetica in die folgende Definition (vgl. MET §§ 504–518): Psychologis patet in tali impetu totam quidem animam vires suas intendere, maxime tamen facultates inferiores, ita, ut omnis quasi fundus animae, M. §. 511. surgat nonnihil altius, et maius aliquid spiret, pronusque suppeditet, quorum obliti, quae non experti, quae praevidere non posse nobis ipsis, multo magis aliis, videbamur (AE § 80).11
Diese Begeisterung entzieht sich keineswegs der Kontrolle des schönen Geistes, ja sie kann vielmehr in einem durch Vorsatz und Übung zu erreichenden Zustand der Selbstaffizierung künstlich hergestellt werden. Wenn die Begeisterung „bisher z.B. nur in vier Graden gewesen“, so rät Baumgarten, „sie so zu verstärken, daß sie etwa gleich bis sechzehn Grad wachsen, und nach der Handlung wieder zu vieren herunterfallen“ soll (KOLL § 78). In dreizehn Punkten fordert er den schönen Geist nicht nur dazu auf, mit der Schönheit anderer Produkte zu wetteifern, sondern empfiehlt ihm auch körperliche und geistige Gesundheit, unterstützt durch Muße, Trinkkuren, Wein und Liebe, damit er einem melancholisch „stockende[n] Geblüt“ vorbeugen möge (KOLL § 81). Auf der Tagesordnung des Dichters steht eine Diätetik der besonderen Art, die sich hervorragend mit der Tatsache verträgt, dass Baumgarten die bewegliche Jugend – in der Kollegnachschrift wird „das 35 bis 40ste Jahr“ als „die Spitze für den schönen Geist im Alter“ bestimmt (KOLL § 89) – dem erlahmenden Alter vorzieht. Doch auch die negativen Erfahrungen von Armut, Verdruss, Spott, Unannehmlichkeiten und traurigen Umständen regen den schönen Geist an (vgl. AE §§ 81–92). Alle Rezepte sind so lange kreativitätsför-
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„Die Psychologen wissen, dass unter der Einwirkung einer solchen Begeisterung die ganze Seele ihre Kräfte, [und zwar gleichwohl am meisten die unteren Vermögen], anspannt, dass so gleichsam der Grund der Seele als Ganzes höher emporgehoben und von grösserem Atem erfüllt wird und dass sie daher willig darbietet, was wir vergessen oder noch nicht erfahren zu haben und was wir niemals voraussehen zu können schienen“ (AE § 80; Schweizer, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, S. 317).
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dernd, wie sie nicht außer Kontrolle geraten und in die psychopathologische Symptomatik der Melancholie umschlagen: Colatur ingenium mortuis ac inertibus exercitiis, Ethic. §. 403. neglecta prorsus indole, vel omnino corrupta, depressaque, e.g. in passionem dominantem, praevalentemque cupidinem hypocriseos, ferociae athleticae, sodalitii nepotum, ambitionis, licentiae, bacchanalium, desidiae, pigritiae, curarum oeconomicarum, vel omnino pecuniae, §. 46. ubique pellucens pectoris exilis vilitas, quicquid venuste cogitatum videatur, deturpabit, § 48 (AE § 50).12
Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz fallen auch die ‚gewissen Vorsichtsmaßregeln‘ (cautiones) des siebten Abschnitts so aus, als entstammten sie einem Kompendium der Melancholie-Diagnostik. Folgende Denkarten (genera cogitandi) sind demnach zu vermeiden: die rohe, die ungebildete, die träge, die schulmäßige und scholastische, die gezwungene, affektierte, die kraftlose und frostige, die zügellos ausschweifende sowie die unvollkommene (vgl. AE §§ 106–113). Daher gilt für alle schönen Geister in gleicher Weise wie für die „Melancholicis […] Maß zu halten“ (KOLL § 29) und weder „die matte und frostige Art zu denken“ (KOLL § 111) noch die „ausschweifende[] Art zu denken“ überhandnehmen zu lassen (KOLL § 112). Trägheit wie Zügellosigkeit disqualifizieren den Ästhetiker gleichermaßen (vgl. MED § 68 Anm.). Sie werten ihn zum malus melancholicus ab, dessen Produkte mit denjenigen des felix aestheticus in einer Typologie verbunden sind: Die rührende, bewegende, leidenschaftliche, wirksame Vorstellung ist lebendig; die kalte, leblose, theoretische, unwirksame indes tot (vgl. MET § 669) – ja Baumgarten stellt dem Glanz (nitor) der einen Vorstellung gar die melancholische Trockenheit (siccitas) der anderen gegenüber (vgl. MET § 531). Diese Typologie trifft die Diätetik in einem Punkt: „Eo refero […] motionem agitationemque corporis, praesertim non nihil melancholici“. Physische und psychische Bewegung – „e.g. per equitationem celeriorem, § 46“ (AE § 81)13 – gelten nämlich als das MelancholieTherapeutikum schlechthin, das etwa Dubos, einer der Paten der Aesthetica, dem französischen Adel zur Kurierung des ‚ennui‘ empfiehlt.14 Nicht von ungefähr trägt Baumgarten sein ethisches Konzept daher auch in die empfindsame Land-HofTopik ein. Der melancholische Dichter ist ein braver Bürger, ein Mann der „artigen Aufführung in Gesellschaft“ (KOLL § 78, vgl. § 88), der „Zärtlichkeit im Urteilen“ über „schöne Gedanken“ (KOLL § 29), kein dekadenter Aristokrat.
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„Wenn aber das Gemüt vernachläßigt bleibt oder wenn es ganz verdorben und hinabgezogen wird in alles beherrschende Leidenschaft, in unwiderstehliche Sucht: nach Heuchelei, nach zügellosem Wetteifer, nach Verbrüderung, Liebedienerei, Ausschweifung, Orgien, Müßiggang, Faulheit, nach ökonomischer Geschäftigkeit oder überhaupt nach Geld, dann leuchtet überall die Dürftigkeit und die Armseligkeit des Gemüts hindurch, und sie wird alles, was schön gedacht zu sein scheint, verderben“ (AE § 50; Schweizer). „Dazu beziehe ich mich 1) auf die Bewegung und Regung des Leibes, vor allem bei einem etwas melancholischen Temperament, z.B. während eines schnelleren Rittes“ (AE § 81; Mirbach). Vgl. Jean Baptiste Dubos: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey. Übers. v. Gottfried Benedictus Funk. 3 Theile. Bd. 1. Kopenhagen 1760–1761, Vorbericht, o.S.
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In dieser Tradition liegt die Ursache dafür begründet, dass die Bewegung in das Zentrum der Aufmerksamkeit auf den melancholisch-begeisterten Dichter rückt, dessen Körper nun buchstäblich einer Lektüre unterzogen wird: Weil die Rasenden oft wunderliche Stellungen des Körpers haben, so hat man dieses auch angemerket und diese Stellung oft mit der Wut selbst verwechselt. Auch bei Leuten, die sich schön ausdrücken wollen, finden wir zuweilen seltsame Bewegungen des Körpers (KOLL § 78).
Je bewegter der schöne Körper ist, desto bewegter ist auch der schöne Geist – und desto komplexer, opaker und aktiver ist das Gedicht: „Wann wir dieses Phänomene wahrnehmen, so können wir sicher schließen, daß der Schriftsteller damals in einer Art von Begeisterung gewesen, durch welche er etwas ausführet, das wir jetzt bei kaltem Blute nicht zwingen können“. Im Hin und Her zwischen Gedicht und Dichter verlieren die vermeintlich differenten Positionen ihre kategoriale Selbstständigkeit. Nur so kann Baumgarten die Probe aufs Exempel machen und den Frankfurter Kollegiaten empfehlen: „Wenn man untersuchen will, ob diese Begeisterung bei einem schönen Schriftsteller gewesen ist, so lese man ihn genau“ (KOLL § 79). Unter der Voraussetzung, dass Text und Körper dieselben Bewegungen vollziehen, wird der felix aestheticus zur reinen figuralen Oberfläche – zum Textkörper. Erst diese Austauschbarkeit von Text und Körper, oder anders: Die Medialisierung des Dichters gewährleistet die identifikatorische Lektüre, wie sie um 1750 die mediale Praxis zu bestimmen beginnt. Baumgarten bezieht deshalb die Position des Lesers in den Austausch der variablen Positionen von Text und Dichter mit ein,15 indem die Anzahl seiner „Tränen“ der Menge an „Kennzeichen“ des Gedichts entspricht (KOLL § 80). Immaterial ist dieses cœur à cœur von Leser(in) und Dichter qua Gedicht also gerade nicht. Die Identifikation setzt nicht nur ein Medium voraus, sondern bleibt diesem Medium ganz und gar verhaftet – und das nicht nur im Falle solcher bekannten Fetische wie denjenigen der Briefe, die von Hand zu Hand wandern und unter so manchem Kopfkissen liegenbleiben.16 Als Kronzeuge für seinen melancholischen Dichter, der auf der Grenze von Kreativität und Pathologie laboriert, ruft Baumgarten schließlich nicht von ungefähr einen paganen Gott an: Apollon, den Gott der Mantik und der Poesie, der schon in Platons Phaidros als Melancholiker in zweifelhafter Gesellschaft mit den Musen (Kunst), Dionysos (Rausch) und Aphrodite (Liebe) steht.17 Auf ihn schneidet Baumgarten die Maske seines felix aestheticus passend zu.18 „Da Apollo ein Gott der Ärzte, der Zukunft und der Anführer der Musen ist, so nennt man einen 15 16 17
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Vgl. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2003, S. 72. Zum Fetisch vgl. 3. Teil, 2.2.1 Unanschaulichkeit. Vgl. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky u. Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt a.M. 1990, S. 499. Vgl. Art. Apollon. In: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Bd. 1. München 1979, Sp. 441–448.
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solchen Begeisterten ̘ΓΆΓΏΔΘΓΑ, einen, der von Phöbus begeistert ist“, erläutert er dem Frankfurter Kollegium (KOLL § 82). Die mit dieser Wendung aufgerufene Apollon-Phöbos-Konstellation und die aus ihr abgeleitete Licht- und Feuernatur des Gottes spiegeln sich sowohl in der Aesthetica als auch in der Kollegnachschrift in einem Attribut wider – im Attribut des Feuers, das Baumgarten für das ingenium des Dichters verwendet. Als Flamme derjenigen, die schön denken (flamma pulchre cogitandorum) (vgl. AE § 114), „wild[es] […] Feuer“ des sensitiven Enthusiasmus (KOLL § 78), Feuer des „Witzes“ (KOLL § 44) und sicherlich prometheisches Feuer der Schöpfungskraft symbolisiert die Flamme ein sensitives Begehrungsvermögen, ohne das kein kreativer Prozess stattfinden kann. In der häufigen Verwendung des Attributs gewinnt die Rede über den Dichter damit nicht nur etwas Anti-Diskursives, sondern Baumgarten unterlegt seiner Prosopopoiia auch eine regelrechte Ikonographie. Die Affirmation des Begehrens bereitet Baumgarten zweifellos große Mühe, sodass er versucht, die triebökonomische Grundierung der Kreativität sowohl rational als auch moralisch abzusichern. Gesund, sozialverträglich und zur Produktion von Vollkommenem befähigend ist nur ein „niedriger Grad“ an Begeisterung, erläutert die Kollegnachschrift, den die Griechen Trieb nennen (KOLL § 78) – ein sublimierter, um nicht zu sagen: zensierter Trieb. Jede Form der Begeisterung ist für Baumgarten deshalb an den iterativ-analytischen Prozess kritischer, regelgeleiteter Prüfung und Ausbesserung gebunden (studium correctionis): Wann auch der schöne Geist Natur, Kunst, Übung und Begeisterung hat, so muß er dennoch nicht vergessen, nach der Begeisterung und dem ersten Anfalle, da er geschrieben hat, die letzte Hand an das Werk zu legen und es noch feiner auszuarbeiten (KOLL § 113).
Einerseits ist die Ausbesserung selbst eine Produktionsphase des Schönen, sie „muß uns nicht im impetu stören, sondern sie muß hernach geschehen“ (KOLL § 98); Baumgarten diskutiert sie dementsprechend an den Systemstellen der dispositio, vor allem aber der elocutio, wie die Beispiele und Regeln des Abschnitts zeigen. Andererseits ist die Ausbesserung selbst ein „Teil von der Schönheit des Ganzen“ (KOLL § 98): „Wenn die Natur ohne disziplinarische Verbesserung bleibt, so denkt sie nicht edel“ (KOLL § 106). Dieses an die rhetorischen Produktionsphasen angelehnte zeitliche Argument bildet Baumgarten in einem weiteren Attribut des Dichters ab. Außer dem Begehren, versinnbildlicht durch das prometheische Feuer des Sehers (vates), gehört zur Maske des Dichters die Arbeits-Zeit, für die Baumgarten im kulturellen Fundus das Attribut der ehernen Feile eines Handwerkers (faber) findet: „limae labor et mora“ (AE § 97). Obwohl die Feile das Artefakt nicht zerreiben darf, bleibt das Produkt, welches das Feuer des schönen Denkens hervorgebracht hat, auf die Bearbeitung angewiesen; garantiert doch erst die Arbeit die Schönheit des Gedichts. Weil die ehrliche Arbeit mit der Feile dem empfindsamen Dichter ohnehin leichter von der Hand geht als der triebhafte Akt der Hervorbringung selbst (vgl. AE § 98), ist die 114
Feile – und nicht das Feuer, das erst um 1770 Karriere macht – auch das letzte Wort derjenigen Paragraphen, in denen Baumgarten seine Ethik des Gedichts entwirft. Der Arbeit und der Zeit Feile glättet sowohl ästhetische als auch ethische, das Gewissen betreffende Unebenheiten (vgl. AE § 99), und sie bewahrt den schönen Geist vor seinen prometheischen Allmachtsphantasien (vgl. AE § 114). Von einer originellen Kreativitätstheorie kann angesichts der Ergebnisse dieser Lektüre keine Rede sein. Baumgarten frischt vielmehr die Erinnerung an Kreativitätstopoi auf, die seit der Antike die loci communes im Diskurs über (künstlerische) Produktivität steuern. Indem er seinen felix aestheticus mit wohlfeilen Attributen ausstattet, folgt er weniger psychologischen als vielmehr mnemotechnischen Regeln der fictio personae. Baumgarten übersetzt zunächst die erkenntnistheoretischen Vermögen in charakterliche Anlagen des schönen Geistes. Um diesen Geist nicht nur zu profilieren, sondern auch zu porträtieren, greift Baumgarten auf die im kollektiven Gedächtnis abgelegten Attribute zurück. Das Bild, das er am Ende hergestellt hat, trägt weder individuelle noch historische Züge. Es könnte so oder so ähnlich in einem Kompendium des Renaissance-Humanismus wie Cesare Ripas Iconologia (1593) abgebildet sein. Unter dem Lemma ‚Symbolica‘ sähe man eine Figur: Angetan mit dem Blumenkleid (ornatus), das Baumgarten bei dem Bildtypus der ‚Poetica‘ geliehen hat, stünde sie da, in der einen Hand die Flamme der Begeisterung, in der anderen die Feile der Arbeits-Zeit. Um die Figur herum verstreut lägen einige wohlfeile Requisiten, wie man sie auch beim Bildtypus der ‚Melancholia‘ findet. 3.2 ‚Parrhesia‘ Nicht nur in seinen melancholischen Charakterzügen, sondern auch in allen seinen Handlungen ist der felix aestheticus ganz und gar unfrei – er ist ein anthropologischer und ethischer Agent des Gedichts. Denn „[d]er felix aestheticus ist als der verkörperte schöne Geist wesentlich ein poieticus“, bemerkt Groß in diesem Sinn hellsichtig,19 weil er in all seinen Willensäußerungen und Handlungen nur das kann, was die symbolische Struktur des Gedichts vorsieht. Obwohl das ethische Konzept in der Aesthetica aufgrund seiner starken, geradezu holzschnittartigen Schematisierung durchaus im Verdacht stehen könnte, nur Baumgartens Theoreme zu veranschaulichen,20 entfaltet die Maske des felix aestheticus jedoch ein nicht zu unterschätzendes Innovationspotential, ja es provoziert jene folgenreiche Verwechslung von (Argumentations-)Figur und ‚Mensch‘, auf der alle modernen Autorschaftskonzepte basieren, weil sie ein Merkbild historisieren und individualisieren. Das gilt vor allem für diejenigen Autorschaftskonzepte, die für die ausgezeichnete kulturelle Leistung ‚Literatur‘ einen entsprechend potenten Kulturheros 19 20
Groß: Felix aestheticus, S. 119. Vgl. ebd., S. 119.
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wie das Genie suchen. Prompt bestätigt daher auch Menzel diesen Zusammenhang von Gedicht und Genie, wenn er für Baumgartens Dichter den „Einfluß der Genielehre der Zeit“ reklamiert.21 Gerade weil das emphatische Genie um 1750 aber noch nicht so prominent ist, dass es diesen Einfluss überhaupt hätte ausüben können, wird umgekehrt ein Schuh aus diesem Argument. Baumgartens prometheischprophetischer Dichter übt seinerseits einen immensen Einfluss auf die spätere Genielehre aus, die mit Hilfe der kulturellen Attribute des schönen Geistes „die Konturen der neuen Figur des großen Einsamen“ zeichnet22 – des großen Einsamen, dem man eine solche Leistung wie diejenige, der Gemeinschaft Sinn zu stiften, ohne zu zögern zutrauen würde. Diese wechselseitige Abhängigkeit von Gedicht und Genie zeugt freilich von der „innere[n] Komplexität des Geniebegriffs, der eigentlich kein Begriff, sondern tatsächlich eine vielfach determinierte symbolische Position ist“.23 3.2.1 Der Wille zum Ziel Zur Verfeinerung der groben Konturen des Dichters integriert Baumgarten das Gedicht bereits in den Meditationes einer Arbeitsplatzbeschreibung des schönen Geistes: „Poematis varia sunt, 1) repraesentationes sensitivae, 2) earum nexus, 3) voces earum signa, § 9, 6“ (MED § 10; vgl. AE §§ 18–20),24 hat Baumgarten das Gedicht gemäß der partes rhetorices definiert, die er dem „Ästheticus“ in der Kollegnachschrift als officia auctoris überträgt. Zuerst muss er „ein Ding sich zum ersten Male so vorstellen, daß es in die Sinne fällt und rührt“, indem er „die Regeln schön und rührend von Dingen zu denken, davon man bisher noch nicht so gedacht“, einhält (KOLL § 14). Danach muss „man“, sprich: muss der erfolgreiche schöne Geist, noch „die Übereinstimmmung [sic!] der Zeichen und der Ordnung wahrnehmen“ (KOLL § 20), um etwas schön und rührend darzustellen. Die Synopsis der Aesthetica offenbart Baumgartens ursprünglichen Plan,25 alle sechs Stilkategorien, mit deren Hilfe er die symbolische Struktur des Gedichts analysiert hat, in Aufgaben und Handlungen des Dichters umzuwandeln. Diese Arbeitsplatzbeschreibung beginnt dort, wo der schöne Geist seine Argumente sucht 21 22 23 24 25
Norbert Menzel: Der anthropologische Charakter des Schönen bei Baumgarten. Diss. WanneEickel 1969, S. 296. Finsen: Evidenz und Wirkung im ästhetischen Werks Baumgartens, S. 212. David E. Wellbery: Die Form der Autonomie. Goethes Prometheus-Ode. In: Edgar Pankow u. Günter Peters (Hg.): Prometheus. Mythos der Kultur. München 1999, S. 109–126, hier S. 113. „Die Bestandteile eines Gedichtes sind 1) sensitive Vorstellungen, 2) deren Verknüpfung, 3) die Wörter als deren Zeichen, § 9, 6“ (MED § 10). Vgl. die Argumentationsorte des ‚ästhetischen Reichtums‘ (ubertas aesthetica) und der ‚ästhetischen Größe‘ (magnitudo aesthetica). Diese Fiktion lässt sich exemplarisch am Argumentationsort des ‚ästhetischen Reichtums‘ (ubertas aesthetica) nachvollziehen, wo im zwölften Abschnitt ‚Reichtum des Geistes‘ (ubertas ingenii) problemlos auf den ‚Reichtum des ästhetischen Kopfes‘, wie es in der Kollegnachschrift heißt, geschlossen wird.
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und zu diesem Zweck auf die uralte Suchmaschine der inventio vertraut. ‚Topik‘ (topica) überschreibt Baumgarten den zehnten Abschnitt der Aesthetica am Argumentationsort des ‚ästhetischen Reichtums‘ (ubertas aesthetica), an dem er sich kritisch mit den „elenden Topiken“ auseinandersetzt (KOLL § 130). Nachdem er den besonderen, auf einzelne Gegenstände anwendbaren Topoi (loci particulares) den Vorrang gegenüber den allgemeinen (loci universales) eingeräumt hat, fordert er von den Psychologen eine Topik, die dem sensitiven Erkenntnisvermögen Rechnung trägt. Leicht zu erraten, welche Fragen der schöne Geist zu stellen hat, nachdem er sich selbst auf Sinnlichkeit verpflichtet (vgl. KOLL § 38). Und diese Fragen formuliert er sowohl während des Suchprozesses in einem permanenten Selbstgespräch, das ihn vor dem triebgesteuerten Kontrollverlust in der regressiven Produktionsphase bewahrt, als auch während der Ausarbeitung des Gedichts in der progressiven Phase: Wann ich z.B. meinen eigenen Lebenslauf, auch nur zu meiner eigenen Belustigung aufsetzen wollte, so würde ich mich zuerst fragen: wie reich ist er wohl, wie groß ist die Verwandtschaft, was für Veränderungen werden darin vorkommen, ferner wie wichtig sind sie, was für Wahrheit, was für Wahrscheinlichkeit, was für Lebhaftigkeit ist da? Wo muß ich das volle Licht hinsetzen? Wo soll ich rühren? Dies ist die besondere Topik, die wir bei den ersten Übungen vorschlagen (KOLL § 139).
Alle sechs Aufgaben, die der felix aestheticus bewältigt, wandeln die drei Funktionen der symbolischen Struktur – ‚confusus‘, ‚clarus‘ und ‚vivus‘ – in ethische Funktionen um. Mit dem ‚Kopf‘ verknüpft und veranschaulicht der schöne Geist den Gegenstand seines Schaffens, mit dem ‚Herzen‘ mobilisiert er den Gegenstand – und zwar in drei Arbeitsschritten: Erstens setzt der Dichter die Bilder der Phantasie in Beziehung zueinander (combinare), zweitens beschneidet er die Bilder (praescindere) (vgl. AE § 34) und stellt sie dergestalt vor Augen (vgl. AE § 39), drittens verlebendigt er die Bilder. Mit dieser Tätigkeit des Zusammen- und InBeziehung-Setzens geht ein ausgesprochen modernes Kreativitätsmodell einher, das den Akzent vom Gegenstand auf die kombinatorische Methode verlagert: Der schöne Geist muß die natürliche poetische Anlage haben, etwas Neues zu schaffen, und wie es die Franzosen ausdrücken ein esprit createur sein. Was wir empfinden und empfunden haben, das ist alt, da er nun etwas Neues schaffen soll, so muß er nicht pur die alten Empfindungen wieder zeigen, sondern die alten mit Imagination verbunden mit neuen zusammensetzen (KOLL § 34).
Die (Argumentations-)Figur des Dichters hat aber vor allem die Aufgabe, die metaphysischen Implikationen des Gedichts dem gesunden Menschenverstand gewissermaßen über einen Umweg zugänglich zu machen – dadurch nämlich, dass diese der Zuständigkeit des Dichters zugeschlagen werden. Der schöne Geist ist nichts Geringeres als ein Agent in metaphysischer Mission, die bei der Exzentrik der symbolischen Mangelstruktur beginnt. Für die Energie, die diese Fliehkraft auslöst, macht Baumgarten nämlich den „Willen“ des Dichters verantwortlich (KOLL § 45): 117
Wir sahen, daß die natürliche Anlage das meiste, die Übung auch sehr viel und die Kenntniss etwas beitrage; allein, wann dieses alles nicht weiter kommt, so bleibt der schöne Geist noch immer in der Möglichkeit. Es sind tote Kräfte da, die aber nicht lebendig werden, wann nicht der Schluß gefaßt wird, sie lebendig zu machen. […] Daher erfordern wir ferner zu einem schönen Geist den Zustand, da seine Seele zu dem Vorsatze geht, diese Kräfte lebendig zu machen (KOLL § 78; Hervorh. F.B.).
Dem ‚Vorsatz‘ des Dichters entspricht jenes Begehren, das sich zielstrebig auf ein Objekt richtet und den symbolischen Prozess in Bewegung hält. Unbekannt ist die Herkunft desjenigen Narrativs, das Baumgarten für diese Tätigkeit des ‚ImpulsGebens‘ einsetzt: das Knabenspiel (ludus puerorum), „dum confabulatur puer, dum ludit, praesertim ubi ludorum inventor est, aut parvulus director inter commilitones, iisque gnaviter intentus iam sudat, et multa fert, multa facit“ (AE § 55).26 Hartlaub schlägt aber vor, das Knabenspiel auf ein alchemistisches Symbol zurückzuführen. In der Berliner Originalhandschrift Splendor Solis zeigt die fünfte Abbildung das ‚Ludus puerorum‘, das schon bei den alexandrinischen Hermetikern das Werk27 bzw. eine bestimmte Stufe im alchemistischen Verwandlungsprozess verkörpert: die coagulatio (Verbindung). Der in seiner Funktion innerhalb der Aesthetica rätselhafte Verweis auf ein alchemistisches Symbol gewinnt vor diesem Hintergrund sein argumentatives Relief. Baumgarten verpflichtet den verschwitzten kleinen Spielleiter darauf, die wahrheitsfunktionale Doppelwertigkeit des Gedichts zu dynamisieren, das heißt den Impuls zu geben, durch den sich ein Element – exzentrisch – immer auf ein anderes richtet, um mit diesem – konzentrisch – wieder zu verschmelzen. Erfolgreich ist der schöne Geist, wenn sich seine Kraft (vis) nicht verbraucht – noch erfolgreicher ist er, wenn er die Kraft vergrößern und das Gedicht nach der Initialzündung in weiteren Zündungsstufen beschleunigen kann. Neben Apollon unterstellt Baumgarten das Gedicht deshalb auch dem durchaus ambivalent gezeichneten „Orpheus“ (AE § 43), dem berühmtesten Sänger und Dichter der Alten. Orpheus’ Schirmherrschaft über das Gedicht liegt auf der Hand,28 soll er doch vom göttlichen Kitharoden Apollon abstammen oder sich ihm zumindest zugewandt haben. Orpheus’ Genealogie zeigt allerdings noch eine andere Traditionslinie, auf die Baumgarten den melancholischen Seher (vates) festlegt. Gemeint ist die Verwandtschaft mit oder die Anhängerschaft an Dionysos, den Gott der Ekstase, die 26
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„[…] wenn etwa ein Knabe plaudert und erzählt, wenn er spielt, vor allem, wenn er Spiele erfindet und sich als kleiner Spielleiter erweist, wenn er, mit großem Ernst auf die Spiele mit den Kameraden konzentriert, zum Schwitzen kommt und hin und her mit allem möglichen beschäftigt ist“ (AE § 55; Schweizer). „Das Ludus puerorum ist eine der paradoxen Bezeichnungen für das alchemistische Werk, das zwar fast unmöglich zu vollenden ist. Gleichzeitig aber ist es nur ein Kinderspiel, den Lapis herzustellen“. Gustav F. Hartlaub: Signa hermetis. Zwei alte alchemistische Bilderhandschriften. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 4 (1937), S. 93–112; S. 144–162, hier S. 149. Vgl. ders.: Arcana artis (Spuren alchemistischer Symbolik in der Kunst des 16. Jahrhunderts). In: Zeitschrift für Kunstgeschichte (1937), S. 298–324. Vgl. Art. Orpheus. In: Der Kleine Pauly, Bd. 4, Sp. 351–356.
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Orpheus zusätzlich als ‚Sänger der Exzentrizität‘ prädestiniert. Das orphische Wesensmerkmal, das sich Baumgarten freilich zunutze macht, betont weniger den Rausch, als vielmehr die Geschwindigkeit, die mit Orpheus in Verbindung gebracht wird: Das andere Kennzeichen der Begeisterung ist die Geschwindigkeit. Wir meinen hier nicht jene Gabe hurtig zu schreiben, da man jedes Mal getrost eine Wette anstellen kann, man z.B. mit seinem Gedicht eher fertig werde als ein anderer, sondern wir verstehen hier den Zustand der Seele, da sie sich entschließt, etwas auszuarbeiten, und indem sie ausarbeitet, spüret, daß es immer geschwinder geht und niemals ins Stocken gerät (KOLL § 79).
In der kombinatorisch verfahrenden Orphik erfolgt diese Attribuierung des Sängers mit der Zeit auf der Grundlage einer Verwechselung von Kronos (Saturn) mit der Zeit (Chronos),29 erläutern Klibansky, Panofsky und Saxl die Kronos-SaturnEtymologie. Man hielt den Titanen Kronos „für einen Seher, der als ΔΕΓΐ΅ΑΘΖ oder ̓ΕΓΐΟΉϾΖ bezeichnet wird. Die Grundlage hierfür bildete die vom Neuplatonismus ausdrücklich anerkannte Gleichsetzung zwischen Kronos und Chronos, d.h. der Zeit, die das Urprinzip der orphischen Theologie war“.30 Die Tatsache, dass die Kollegnachschrift über das Attribut der Zeit das gesamte mythologische Personal, das der Maske des Dichters die Züge leiht, zur kaum auszuschöpfenden mythologischen Quellenverbindung Chronos-Kronos-Saturn verschaltet, ist der Nebeneffekt eines Kreativitätsdiskurses, der in kulturell längst ausgetretenen Bahnen seinen semantischen Mehrwert erwirtschaftet. Der Haupteffekt besteht freilich darin, dass Baumgarten in der auf „Geschwindigkeit“ (KOLL § 79) ausgerichteten ästhetischen Theorie die Dreieinigkeit: „pulcre! bene! recte“, erstmals nicht nur schön bewegt, sondern radikal beschleunigt (AE § 56). Diese Beschleunigung bringt Klopstock in der Vorrede Von der heiligen Poesie zu den ersten Gesängen des Messias (1755) dementsprechend auf eine neue, durchaus hypertrophe Formel, die den Begriff des ‚Schönen‘ für ganz neue, gar nicht mehr schöne Inhalte öffnet: „schnell, groß und wahr“ (HP 1004).31 Immerhin soll nicht unerwähnt bleiben, dass Menninghaus, sicherlich in Anlehnung an Kosellecks Engführung von Modernisierung und Beschleunigung, gerade diesen Aspekt der Dynamisierung als ästhetische Antwort auf die fortschreitende Industrialisierung in der Mitte des 18. Jahrhunderts wertet. Und unbemerkt hat Baumgarten mit der „maschinenmäßigen Bewegung“ des Gedichts bei dieser Antwort Pate gestanden (KOLL § 29).
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Zum Phänomen der mythologischen Quellenverbindung vgl. Edgar Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance. Übers. v. Christa Münstermann. Frankfurt a.M. 1987, S. 36. Klibansky, Panofsky u. Saxl: Saturn und Melancholie, S. 239. Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Heiligen Poesie. In: AW. Bd. 2, S. 997–1009; zitiert mit der Sigle [HP] und der Seitenzahl.
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3.2.2 Der Wille zur Wahrheit Der Dynamisierung des Gedichts, die nicht nur dessen symbolische Struktur, sondern auch dessen Wahrheit festschreibt, entspricht die letzte Wendung des ethischen Konzepts. Baumgarten verhandelt die Wirksamkeit der Bewegung als äußere Wirksamkeit am Argumentationsort der ‚ästhetischen Überzeugung‘ (persuasio aesthetica), ohne die gesamte Theorie wirkungsästhetisch zu verengen. Das zweite Narrativ, das neben demjenigen des Knabenspiels den Dichter als Impuls-Geber inszeniert: das Narrativ der soldatischen Waffenübung, verbindet daher die Fliehkraft mit der rhetorischen Überzeugungskraft: „Palaria non poscunt milites, quantos pugna“ (AE § 49).32 Weil Plinius „auf der Jagd gut meditier[t]“, „Horaz […] auf der Reise oder im Wirtshause Verse“ macht, Lotichius „sehr viel auf der Schildwacht als Soldat“ verfertigt (KOLL § 81), setzt Baumgarten auf die kreativitätsfördernde Wirkung der disziplinierten Bewegung. In der Frankfurter Kollegnachschrift erläutert er diese Analogie von schönem Denken und militärischer Kunst: Die römischen Soldaten mußten, um sich zu üben, die Hiebe und Stöße in ihren Übungen auf einen Pfahl tun, dazu erforderte man nun noch keinen Soldaten, der schon die Übungen alle inne hätte. Man richte aber die Übungen, wann man den schönen Geist bilden will, ja so ein, daß er nicht sogleich niedergeschlagen wird und alle Hoffnung aufgibt, daß aus ihm etwas werden werde (KOLL § 49).
Solche Hiebe und Stöße rufen einerseits die fliegenden, nach ihrem Ziel verlangenden Pfeile, Speere und Geschosse auf den Plan. Deren „metapoetischer Charakter“ ist bekannt,33 seit Aristoteles sie zur Veranschaulichung der (energetischen) Metapher verwendet hat, während Baumgarten die Waffen metonymisch durch den Hauenden und Stechenden selbst ersetzt – durch den Dichter. Andererseits zeigt das Exerzitium den felix aestheticus in einer Pose, die der martialischen ‚Rhetorica‘ abgeschaut ist, gilt doch die Rhetorik sogar als eine „Schießkunst“.34 In der Ikonographie versinnbildlichen die Attribute der Rüstung und der Bewaffnung dieser Figur „die forza des persuadere“.35 Mit den Waffenübungen steht neben dem Willen des Dichters deshalb auch die Wirksamkeit (efficientia) des schönen Denkens nach außen auf dem Prüfstand. Denn zu den Aufgaben des schönen Geistes gehört es, bei sich eine Begeisterung hervorzurufen und dadurch die „natürliche Anlage des Kopfes und des Herzens“ aus der Möglichkeit in die tätige Verwirklichung einer Handlung zu überführen (KOLL § 78) – einer Handlung, die man als gewaltsame Unterwerfung des schön zu Denkenden durch das schöne Denken beschreiben kann und die zweifelsohne einen (auto-)aggressiven Akt darstellt, obwohl Baumgarten ihn hinter einer Allerweltsmetapher versteckt. In den entspre32 33 34 35
„Das Exerzieren verlangt noch keinen ausgebildeten Soldaten“ (AE § 49; Schweizer). Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 135. Vgl. Ar. Rhet. 1411b. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, S. 113. Plett: Rhetorik der Affekte, S. 150. Vgl. Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 191.
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chenden Paragraphen über den Überzeugungsakt geht es scheinbar unverdächtig um die Sprache des Herzens, die der schöne Geist zu beherrschen lernen muss, weil sie – wie es bei Breitinger heißt – „geraden Wegs auf die Bewegung des Herzens losgehet“.36 Es kann bei einem Soldaten Herz von Natur und Übung in den Waffen sein, allein dieses alles kann tot bleiben, wann er nicht wirklich mit ins Treffen kommt. […] Und dadurch bekommt man das Vermögen, eine Sache zu zwingen, von der man nach vollbrachtem acte merket, daß man sie jetzt nicht würde zwingen können und von der ein anderer zugestehen muß, daß er sie in diesen Umständen ebenfalls nicht würde zwingen können (KOLL § 78).
Gleichzeitig ist das Herz jedoch auch dasjenige Attribut, das die gewaltsame, rhetorische Überredung mit einer anderen Form der Überzeugung verbindet. Diese Form versieht Baumgarten mit dem metaphysischen Attribut ‚schön‘, das die Sprache des Dichters auf Wahrheit verpflichtet. Denn derjenige, der in der Herzenssprache redet, rührt nicht nur andere (und ist selbst gerührt), sondern er spricht auch schön: Er muß die Sprache des Herzens reden, das ist rühren, soll er andere rühren, so muß er selbst zuvor gerührt sein. Er kann nicht rühren, wann er nicht Begierden erregt, und er kann nicht Begierden erregen, wann der Gegenstand derselben nicht zukünftig ist. Ja, will er besonders schön sein, so muß er zuweilen alle Empfindungen unterdrücken können, und die Einsicht in die Zukunft allein herrschen lassen, und über alles erheben. Er muß die mittlere Erkenntnis (Scientia media) stark üben. Er muß immer gewisse Welten sehen, die wirklich wären, wann gewisse Hypothesen wären. So stark muß er dichten und das Vorhersehungsvermögen üben (KOLL § 36).
Aus der Annahme, dass die Schönheit des Gedichts dessen in Erscheinung tretende Wahrheit ist, folgt notwendigerweise, dass am Argumentationsort der ‚ästhetischen Überredung‘ (persuasio aesthetica) der Dichter aufgrund seines exklusiven Talents auf eine Tätigkeit verpflichtet wird, die zur Beförderung der allgemeinen Wahrheit beiträgt, ohne dass diese Wahrheit je ganz von der Frage der Machtausübung gelöst werden könnte. Denn im Hintergrund der Argumentation klirren weiterhin, wenn auch leise, die Waffen. Dass Baumgarten eine rhetorische Systemstelle nunmehr auch ethisch besetzt, steht außer Frage. Doch kommt nicht nur die Cartesianische evidentia als Quelle in Frage, „aus der die ästhetische Persuasion sich speist“,37 sondern vor allem eine ethische Praxis, die seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert ihre Wurzeln in der politischen Praxis des Wahrsprechens und in der dazugehörigen performativen „Rolle“ bzw. Maske oder Prosopopoiia des Wahrsprechers hat.38 Die freie, besser die freimütige Rede (parrhesia), darauf weist Campe hin, ist dem Rechts- und 36 37 38
Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. 2, S. 353. Campe: Bella evidentia, S. 253. Michel Foucault: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der parrhesia. 6 Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität von Berkeley / Kalifornien. Hg. v. Joseph Perason. Übers. v. Mira Köller. Berlin 1996, S. 26.
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Staatstheoretiker Baumgarten sicherlich gut vertraut.39 Erstmals unter den ‚erweiternden Argumenten‘ (argumenta augentia) erwähnt (vgl. AE § 349), verbindet die Parrhesie in den ‚überredenden Argumenten‘ (argumenta persuasoria) die rhetorische Überredung mit der philosophischen Überzeugung (vgl. AE § 904). „Bei parrhesia“, erläutert Foucault die Regeln des politischen Sprachspiels, „gebraucht der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit anstelle von Überredung, die Wahrheit anstelle von Falschheit oder Schweigen, das Risiko des Todes anstelle von Leben und Sicherheit, die Kritik anstelle von Schmeichelei, und die moralische Pflicht anstelle von Eigennutz und moralischer Gleichgültigkeit“.40 Foucault beobachtet die Problematisierung der Parrhesie in einem Zeitraum, der von Sokrates und Platon über Euripides bis Seneca und Galen ins zweite nachchristliche Jahrhundert reicht, und skizziert die Entpragmatisierung dieser politischen Praxis als Voraussetzung der philosophischen Parrhesie. Dabei erkennt er in dieser philosophischen Praxis eine Form der Selbstsorge, die das Verhältnis von Wahrheit und Lebensführung betrifft. Von der Wahrheit muss nun nicht mehr die öffentliche Versammlung, sondern (irgend-)jemand überzeugt werden, damit dieser Jemand sein Leben ändert. Schließlich führt eine weitere „Verschiebung dieser Art von parrhesiastischem Spiel“, anderen die Wahrheit zu sagen, „hin zu einem anderen Wahrheitsspiel, das nun darin besteht, mutig genug zu sein, die Wahrheit über sich selbst zu enthüllen“.41 Den gesamten Prozess kann man auch als stufenweise vollzogene Verinnerlichung der Parrhesie bezeichnen; sie wird von einem Mittel realpolitischer Machterhaltung zu einer Art permanenter Gewissensprüfung. Mit dieser Entpragmatisierung geht die Repragmatisierung der Parrhesie in der Rhetorik einher, in der die freie Rede als unmarkierte, durch keine Technik manipulierte in den Figurenkatalog integriert wird (licentia): „Parrhesia ist der Nullpunkt jener rhetorischen Figuren, die die Emotionen der Zuhörer steigern“.42 Baumgartens Parrhesie setzt eine solche ethische Praxis der Überzeugung auf der Basis der Selbstüberzeugung für das Gedicht voraus. Als Seelenführer besetzt der Dichter eine Rolle, die für den Propheten (vates) und den Dichter (poeta) ohnehin wie maßgeschneidert ist. Im 34. Abschnitt wird die Parrhesie dementsprechend als ‚unbedingtes ästhetisches Streben nach Wahrheit‘ (studium veritatis aestheticum absolutum) zur Willenssache des Dichters erklärt, was zur Folge hat, dass der schöne Geist für die ästhetische Wahrheit und gegen jegliche ‚ästhetische Falschheit‘ (falsitas aesthetica) kämpft.43 Dieses Wahrsprechen setzt eine Reihe von Übungen voraus, an deren Anfang Baumgarten eine Art Selbstgespräch des Dichters inszeniert. Ebenso kritisch wie analytisch überprüft dieser seine eigene moralische, ethische und seelische Disposition: 39 40 41 42 43
Vgl. Campe: Bella evidentia, S. 254f. Foucault: Diskurs und Wahrheit, S. 19. Foucault: Diskurs und Wahrheit, S. 150. Ebd., S. 21. Vgl. Quint. Inst. or. IX 2. Vgl. den 28. Abschnitt der Aesthetica.
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Ich muß fragen: Wie ist mein Horizont beschaffen, werde ich aus dem einen in den anderen gehen können? Werde ich alles in dieser Stunde, zu dieser Zeit, unter diesen Umständen zwingen können? Dies ist die erste Beurteilung, die der schöne Geist oder der ästhetisch reiche machen muß (KOLL § 149).
Des Weiteren muss der Dichter als parrhesiastes aestheticus nicht nur sich selbst gegenüber aufrichtig sein, sondern auch die Methode des Wahrsprechens beherrschen. Dass Baumgarten für diese Methode die sechs rhetorischen Stilkategorien als ethische Prinzipien bereitstehen, versteht sich fast von selbst; sie beweisen einmal mehr ihren Charakter als begriffliche Spielmarken im Diskurs über das Gedicht (vgl. AE § 556; § 440). Dieser Wille zur Wahrheit, der dem schönen Geist einerseits angeboren ist, den er andererseits durch eine Reihe von Übungen im Rahmen einer durchaus langwierigen Ausbildung zum parrhesiastes aestheticus trainiert hat, befähigt ihn dazu, die objektive metaphysische Wahrheit in ihrer materialen Komplexität zu erfassen (vgl. AE § 561). Das ist der Punkt, an dem Baumgartens Ikonographie der ‚Symbolica‘ und die Inszenierung des Dichters als diejenige eines Wahrsprechers einander kreuzen, ja in dieser Überschneidung zum neuen Bildtypus der ‚Parrhesia‘ verschmelzen. Denn auch alles theoretische Streben nach ästhetischer Wahrheit entbindet den schönen Geist – ohne Fleiß kein Preis – nicht von der praktischen Arbeit mit der Feile (vgl. AE § 564), deren Geschicklichkeit erst zur angestrebten Vervollkommnung des Werkes wie des Selbst durch Parrhesie führt. Allerdings hat Baumgartens Parrhesie einen Haken, der, so klein er auch sein mag, eine Differenz zum antiken Programm markiert. Im Gegensatz zu jedem anderen parrhesiastes strebt Baumgartens Dichter nämlich nicht nach der absoluten logischen Wahrheit, die in der politischen Parrhesie mit dem Gesetz (nomos), in der philosophischen mit dem Leben (bios) in Einklang gebracht werden muss. Der parrhesiastes aestheticus kann nur nach derjenigen Wahrheit streben, die auch tatsächlich Angelegenheit der Ästhetik ist – nach der zweiwertigen Wahrheit des Gedichts. Baumgartens Parrhesie ist daher zwangsläufig ein ‚Sprechen mit gespaltener Zunge‘, was in jedem philosophischen oder ethischen Diskurs und erst recht im antiken undenkbar wäre. Denn wer nicht die eine und das heißt einwertige Wahrheit spricht, der lügt; so einfach ist das, auch wenn Baumgarten dieses ethische Problem als demütigen Verzicht auf die eine Wahrheit kaschiert: Adeoque mentis bene sanae studium veri amantissimum quoniam ferri tamen non potest in ea, quae nosse potest non posse fieri, nec omnino nihil velle, quam primum se non posse nancisci omnia cognoverit: contentum esse debet, parte veritatis logicae latius sum[p]tae summae infinite parva, ea scilicet, quam adipisci potest, § 556 (AE § 557).44
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„Und weil daher ein gesunder Geist auch mit der liebevollsten Bemühung um die Wahrheit nicht bis zu den Erkenntnissen gelangt, von denen er wissen kann, daß sie nicht möglich sind, wobei er aber nicht auf jede Erkenntnis verzichten will, sobald er erkannt hat, daß ihm nicht alles zugänglich werden kann: so muß er mit einem unendlich kleinen Teil der höchsten, lo-
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Darin, dass er Wahrheit als Lüge denkt, offenbart Baumgarten einmal mehr ein enormes Potential für die ästhetische Theorie im Allgemeinen, die Literatur im Besonderen – die um 1750 nicht nur eine ambige, sondern eine höchst ambivalente Sache ist, also keineswegs wie im 19. Jahrhundert auf das ideologisch verdächtige ‚Schöne, Gute und Wahre‘ verpflichtet wird. Dass die letzten Worte der Aesthetica die rhetorische dubitatio in die ästhetische Parrhesie überführen wollen, kann diese prinzipiellen Zweifel nämlich nicht beseitigen, „praesertim si venuste transeas ab hac ad bellam evidentiae parrhesian, § 349“ (AE § 904).45 Die ethische Zielvereinbarung richtet sich hier ja auch nicht mehr an den freien attischen Bürger, der in ferner Vergangenheit auf dem Marktplatz (agora) öffentlich Rede und Antwort gestanden hatte, sondern an Verleger und Publikum, vor denen der bürgerliche Autor auf dem freien Markt der Kunst zu bestehen hat. Dass dieser Autor nicht weniger gefährdet ist als die antiken „Wahrheits-Sprecher“ liegt auf der Hand,46 hat er sich doch gegen eine ganz neue Form der Tyrannei zu behaupten. Im Zuge jener mit der Industrialisierung einhergehenden Kapitalisierung der Rezeptions- und Produktionsverhältnisse gerät der Autor in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur immer tiefer in die alte Abhängigkeit von den Zensurbehörden – Staat und Kirche haben ihre Macht an der Schwelle von Frühneuzeit und Moderne noch fest institutionalisiert –, sondern er gerät darüber hinaus in die neue Abhängigkeit vom Literaturbetrieb, was gewiefte Inszenierungen der vermeintlich freimütigen Rede notwendig macht. Die Parrhesie wird nun mit „großer List“ eingesetzt und hat den Zweck, „die Neugier“ zu erregen, indem „man eine Sache als wichtig verstellet und eine Art von Wankelmut blicken läßt, ehe man sie heraussagt und sie endlich doch sagt“. Das Ziel besteht darin, ein Publikum glauben zu machen, „daß es wirklich eine Sache von Wichtigkeit sein müsse“ (KOLL § 349), die es sich zu kaufen lohnt. Kein Wunder also, dass die Kunst in dieser Zeit zur heiligen Sache wird, weil sie dem Genie schlicht und ergreifend nur dann das Leben retten kann, wenn sie als dessen besondere Leistung anerkannt wird – eine Leistung, welche die Allianz von Genie und Gedicht begründet, sodass aus der vollkommenen sinnlichen Rede die Gabe des Genies wird. Vor diesem Hintergrund stellt Klopstocks Subskription der Deutschen Gelehrtenrepublik sowohl das erste als auch das kühnste Beispiel einer modernen Parrhesie dar. Im Subskriptionsplan vom 8. Juni 1773 (ver-)zweifelt er öffentlich, „ob es möglich sey, daß die Gelehrten durch so eingerichtete Subscriptionen Eigenthümer
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gischen Wahrheit im weitern Sinne zufrieden sein, wohlgemerkt mit demjenigen, den er überhaupt erlangen kann“ (AE § 557; Schweizer). „[…], wenn du von hier aus auf feine Weise zu der in schöner Freimütigkeit zu äußernden Anschaulichkeit gelangst“ (AE § 904; F.B.) – Zu diesem Übersetzungsvorschlag, der den Begriff ‚evidentia‘ als Ausdrucksverfahren akzentuiert vgl. Campe: Bella evidentia, S. 254; Mirbachs Übersetzung grundiert den Begriff ontologisch: „[…], wenn du von hier aus auf anmutige Weise zu einer schönen Parresie [sic!] bezüglich völlig ausgemachter Dinge übergehst“. Foucault: Diskurs und Wahrheit, S. 14.
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ihrer Schriften werden. Denn jetzt sind sie dies n u r d e m S c h e i n e n a c h ; die Buchhändler sind die w i r k l i c h e n Eigenthümer“.47 Indem sie die bittere Wahrheit ökonomischer Abhängigkeit im Verstellen ausstellt, stiftet Klopstocks dubitatio eine Evidenz der besonderen Art – eine Evidenz, die Wahrheit zu barer Münze macht: „Hier drängte sich nun Jedermann hinzu“, erinnert Goethe den Coup, selbst Jünglinge und Mädchen, die nicht viel aufzuwenden hatten, eröffneten ihre Sparbüchsen; Männer und Frauen, der obere, der mittlere Stand trugen zu dieser heiligen Spende bei, und es kamen vielleicht tausend Pränumeranten zusammen.48
Die programmierte Verwechslung von Produzent und Produkt, aufgrund deren „es hieß, daß man nicht sowohl das Buch bezahlen, als den Verfasser, bei dieser Gelegenheit, für seine Verdienste um das Vaterland belohnen sollte“,49 kalkuliert jedenfalls mit einer einfachen parrhesiastischen Strategie: Wer frei spricht, dem glaubt das Publikum, und wem das Publikum glaubt, dessen Bücher kauft es auch. Im Erfolg dieses Marketings erkennt Goethe folgerichtig die Geburtsstunde des Genies: Nun sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen verstünde. Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begründen.50
Gemeint ist natürlich die Kunstepoche, in deren Zentrum das klassisch-klassizistische Kunst- oder Anschauungssymbol lokalisiert worden ist. Dabei lenkt aber gerade die erfolgreiche Sicherung des Lebensunterhalts die Aufmerksamkeit auf jene doppelte Verkennung, die der Behauptung autonomer Autorschaft des Genies zugrunde liegt: die Verkennung derjenigen politischen, ethischen und ökonomischen Machtverhältnisse, die der Rede des sich selbst annoncierenden „Wahrsprecher[s]“ erst einen Raum eröffnen,51 wie die Verkennung desjenigen Modus der ‚Einsicht‘ und Darstellung, dessen Funktionen der Dichter besetzt. „Wer hat das Recht, die Pflicht und den Mut, die Wahrheit zu sprechen?“,52 fragt Foucault. Der schöne Geist, hätte Baumgarten ihm antworten können, im Namen des Gedichts!
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Helmut Pape: Die gesellschaftlich-wirtschaftliche Stellung F.G. Klopstocks. Diss. Bonn 1961, S. 405. Vgl. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u.a. 1981, S. 8–9; S. 37–49; Steffen Martus: Werkpolitik: zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin u. New York 2007. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. 1. Bd. 14. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a.M. 1986, S. 564. Ebd., S. 564. Ebd., S. 433f. Foucault, Diskurs und Wahrheit, S. 26. Ebd., S. 25.
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4 Zusammenfassung
Am Ende meiner Lektüre, die Baumgartens Paragraphen nicht nur auf deren sprachliche Verfahren – ihre Analogien, Vergleiche und Reflexionsmodelle – hin untersucht hat, sondern diese Paragraphen auch oft gegen den Strich gebürstet und dabei Verdrängtes wie Verleugnetes, Brüche wie Wiederholungen freigelegt hat, zeigen sich die Konturen der epistemischen Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘. Ausgangspunkt ist die symbolische Struktur des literarischen Textes, von deren Sinnlichkeit Baumgarten auf die Gesetze der sinnlichen Erkenntnis schließt. In einer Rede, die permanent zwischen erkenntnistheoretischen und medientheoretischen Argumenten hin- und herschaltet, analysiert Baumgarten drei Funktionen dieser symbolischen Struktur, deren Matrix die zweistellige Figur (figura / figura cryptica) ist: Komplexität, Opazität sowie Aktivität. Dabei stößt er immer wieder auf deren mediale Realisierung: auf die Schrift (littera) und die konzeptualisierte Stimme (vox), an welche die Schrift erinnert. Für die Analyse des Medialen dienen Baumgarten rhetorische Termini als Suchbegriffe. Baumgarten erweitert die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ dadurch, dass er neben psychologischen, semiotischen, rhetorisch / poetologischen auch die metaphysischen Aspekte des literarischen Textes erwägt. So bestimmt er die Vollkommenheit des Gedichts, die als Schönheit in Erscheinung tritt, ohne dabei freilich je etwas anderes als ‚wahr-scheinlich‘ sein zu können. Das Argument des In-Erscheinung-Tretens führt Baumgarten zu einer Medio-Metaphysik des Gedichts, in der er festhält, dass es weder vollkommen ist, noch das Absolute repräsentiert, sondern sich durch eine untilgbare Differenz zum Absoluten auszeichnet. Der symbolischen Struktur des Gedichts wird aufgrund dieses Mangels ein Begehren implementiert, das einen unabschließbaren Prozess in Gang setzt und unterhält. Diese Struktur zeichnet sich daher einerseits durch ihre Exzentrik (f 2 (Gedicht) = 2x), andererseits durch ihre Konzentrik aus (f (Gedicht) = x ) – ein metaphysischer Problemkomplex, für den man als logisches Kürzel die Zahl Zwei einsetzen kann und für den Baumgarten die wahrheitsfunktionale Metapher der Dämmerung wählt. Unter dem Strich bilanziert er mit dem Gedicht die paradoxale Ambiguität der Moderne. Schließlich betont Baumgarten auch noch die ethischen Aspekte des Gedichts, indem er der ästhetischen Theorie sowohl eine anthropologische Charakterlehre des felix aestheticus als auch Erziehungsmethoden für ein glückliches Denken und Darstellen integriert. Sie führen zum ethischen Modell der Parrhesie, das Baumgarten nach aufgeklärt-bürgerlichen Maßstäben zuschneidet. Damit legt Baumgar126
ten die Grundlagen für alle modernen Autorschaftskonzepte, ohne aber seinen Dichter (poeta) zu historisieren oder zu individualisieren, wie es in den auf ihn folgenden Geniekonzepten üblich ist. Denn dieser auctor leistet nur das, was das Gedicht zu leisten im Stande ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei veranschaulicht Baumgarten mit dem felix aestheticus nicht nur die ästhetische Theorie, sondern er macht gewissermaßen die Steuerbefehle einer Verwechslung sichtbar, die dafür sorgen, dass das Genie als Kulturheros gefeiert wird und auf dem freien Kunstmarkt bestehen kann, weil nur ein Genie in der Lage ist, der Gemeinschaft Sinn zu stiften. Wenn Baumgarten 1758 nach mehr als 25 Jahren die Arbeit an den über tausend Paragraphen abbricht, dann ist er nicht gescheitert, sondern er hat dafür gesorgt, dass die Literatur als interdisziplinäres Relais, das Psychologie, Semiotik, Rhetorik / Poetik, Metaphysik und Ethik verschaltet, von den unscharfen Rändern der Episteme in deren zentrales Sichtfeld gerückt ist.
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III Friedrich Gottlieb Klopstocks poetische Praxis
Ihre Sprache war der Körper. Rilke, Auguste Rodin
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Die Medialität des Gedichts
1.1 Gedanken-Stücke Obwohl es – abgesehen vom Bindeglied Georg Friedrich Meier in Halle – keinen Nachweis dafür gibt, dass Klopstock Baumgartens ästhetische Schriften unmittelbar oder mittelbar zur Kenntnis genommen hat, besteht zwischen dem ersten modernen Dichter und dem Diskursivitätsbegründer der Ästhetik eine enge Beziehung, weil beide der Sinnlichkeit der Literatur auf der Spur sind und dabei den literarischen Text epistemisch konfigurieren (vgl. HP, GNP, SP, GR).1 Wenn auch in einem ganz anderen Amalgam als bei Baumgarten, bilden sich in Klopstocks poetologischen Reflexionen nämlich die Nuklei von Problemen ab, die Baumgarten behandelt, obwohl Klopstocks Nachforschungen keiner allgemeinen ästhetischen Theorie gelten, sondern der besonderen poetischen Praxis – nicht zuletzt der von ihm aufmerksam beobachteten eigenen, die sich bis heute auf keinen der gängigen Begriffe bringen lässt. Sie macht „sich weder das nüchterne Gedankenbild der Aufklärungsdichtung zu eigen, noch nimmt sie spätere Formen symbolischer ‚Bildlichkeit‘ vorweg“, weiß Menninghaus sicher: Klopstocks „Sprache ist weder
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Folgende Schriften werden mit Sigle und Seitenzahl zitiert: [P]: Von dem Publico. In: AW, S. 930–934. [GG]: Gespräche von der Glückseligkeit. In: AW, S. 951–967. [GS]: Zur Geschichte unserer Sprache. In: AW, S. 968–970. [ETA]: Über Etymologie und Aussprache. In: AW, S. 970–973. [VV]: Von den abwechselnden Verbindungen und dem Worte „Verstehen“. In: AW, S. 973–975. [EA]: Vom edlen Ausdrucke. In: AW, S. 975–980. [RKW]: Vom Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften. In: AW, S. 981–990. [GNP]: Gedanken über die Natur der Poesie. In: AW, S. 992–997. [HP]: Von der Heiligen Poesie. In: AW, S. 997–1009. [GL]: Einleitung zu den geistlichen Liedern. In: AW, S. 1009–1016. [SP]: Von der Sprache der Poesie. In: AW, S. 1016–1026. [W]: Von der Wortfolge. In: AW, S. 1026–1031. [D]: Von der Darstellung. In: AW, S. 1031–1038. [GSD]: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen. In: AW, S. 1038– 1048. [DD]: Von der Deklamation. In: AW, S. 1048–1049.
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eine der Allegorie noch des Symbols“,2 weil sich die poetischen Experimente vom „symbolischen Ausdruck des plastischen Ideals“ unterscheiden,3 wie Benning ergänzt. Beide haben recht: Klopstock versteht seine poetische Praxis tatsächlich nicht als allegorische und selbstredend auch noch nicht als symbolische im klassisch-klassizistischen Sinn, weil er sie schlecht an ‚Idealen‘, sprich: Konzepten ausrichten kann, die erst Jahrzehnte später die ästhetischen und poetologischen Reflexionen bestimmen werden. In Klopstocks Dichtung entwickelt der literarische Text stattdessen – deshalb das merkwürdige Dazwischen-Sein der Experimente – ein Bewusstsein für seine kognitive und mediale Komplexität, die tatsächlich weder im Horizont der Allegorie noch des Kunst- oder Anschauungssymbols gedacht werden kann. Dieses neue Selbstbewusstsein entsteht an den unbegrifflichen Stellen des literarischen Textes, an deren symbolischer Struktur Klopstock arbeitet und die er poetologisch reflektiert.4 Wenn er dabei die Aufmerksamkeit vom Sinn auf die Sinnlichkeit, vom Sagen auf das Zeigen verlagert, dann stehen auch ihm, wie Baumgarten, dafür nur die alten Begriffe zur Verfügung, die in der mittleren Aufklärung in Umlauf sind. Bescheiden scheint Klopstock daher 1759 im Nordischen Aufseher anzutreten, wenn er seine „zerstreute[n]“ Gedanken zur Natur der Poesie annonciert: Es sind so wenige, die sich einen rechten Begriff von dem machen, was eigentlich die Poesie ist, daß ich glaube, daß es für die meisten von ihren Liebhabern nicht überflüssig sein wird, folgende zerstreute Gedanken darüber zu lesen. Ich habe bei weitem nicht alles darüber, und ich habe dies wenige auf keine Art systematisch sagen wollen, um sie durch die Idee einer langen Abhandlung nicht abzuschrecken (GNP 992).
Von dieser captatio benevolentiae sollte man sich indes über die Ansprüche des Poetologen nicht täuschen lassen. Weniger durch den Anspruch als vielmehr durch die Inszenierung dieses Neuen, für das die ‚rechten Begriffe‘ fehlen, unterscheidet sich Klopstock von der vorangegangenen Generation der Poetologen und der Ästhetiker. Deren geschlossenen Systemen setzt er in seinen poetologischen Reflexionen freilich eine andere Form entgegen: die fragmentarische, sodass die „Werkgrenzen“ der Schriften „nicht klar zu definieren sind“,5 in denen Klopstock seine ‚Gedanken zerstreut‘: Nach dem Debüt am 21. September 1745 im Internat Schulpforta, der Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores,6 verfasst er 1755 die Vor-
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Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 328. Hildegard Benning: Rhetorische Ästhetik. Die poetologische Konzeption Klopstocks im Kontext der Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1997, S. 14. Vgl. 2. Teil, 1.1 Die Ambiguität der Ästhetik. Mark Emanuel Amtstätter: Beseelte Töne. Die Sprache des Körpers und der Dichtung in Klopstocks Eislaufoden. Tübingen 2005, S. 111. Friedrich Gottlieb Klopstock: Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores. In: C.F. Cramer: Klopstock. Er und über ihn. Bd. 1. Hamburg 1780, S. 54–98; lat.: S. 99–132. Die deutschen Zitate sind im laufenden Text mit der Sigle [DA] und der Seitenzahl ausgewiesen.
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reden zum ersten Band des Messias, Von der heiligen Poesie, 1756 die Vorrede zum zweiten Band, Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen, sowie 1758 die Vorrede zu den Geistlichen Liedern. In den folgenden zwei Jahren veröffentlicht er kurz hintereinander im Nordischen Aufseher die Abhandlungen Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften (1758), Von der Sprache der Poesie, Gedanken über die Natur der Poesie (1759), Von der Beurteilung der Winckelmannschen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in den schönen Künsten (1760). Außerdem entsteht in dieser Zeit die Abhandlung vom Silbenmaße, an der Klopstock zwischen 1764 und 1769 arbeitet und deren Bruchstücke in die 1774 erscheinende Deutsche Gelehrtenrepublik eingehen; der in der Gelehrtenrepublik angelegte enzyklopädische Entwurf der Wissenschaften und Künste hat daher „als Inbegriff von Klopstocks geistigem Selbstverständnis sowie seiner Sprach- und Dichtungsauffassung zu gelten“.7 Quantitativ mag Klopstock daher wohl lediglich „wenige Blätter“ hervorgebracht haben, qualitativ jedoch „viel Neues“ (GNP 992). Denn sein eigentlicher Maßstab bleibt die „vollständige Poetik“ – eine Poetik, die Klopstock den „überflüssige[n]“ und „mit Ekel“ wiederholten „Regeln der Poesie“ entgegenhält. Nur die „notwendigsten“ Regeln will er zur Sprache bringen, „ohne sie durch Beispiele praktisch zu machen“ (GNP 992). Im Kernstück der Gelehrtenrepublik hält er sie im „Vorschlag zu einer Poetik, deren Regeln sich auf die Erfahrung gründen“, fest (GR 172), in der er, weniger systematisch als Baumgarten in seiner „Ästhetische[n] Erfahrungs-Kunst“,8 aber immerhin sehr vage Vorstellungen über die Seele mit sehr präzisen Vorstellungen über den Text zu Kehrseiten einer Medaille macht: Da sezen sich nun die Regulgeber hin, und meinen’s auszugrübeln, was da Natur sey, und kennen doch keine E r f a h r u n g ; und ertappen sie ja ’mal was, das nach Natur aussieht, so können sie doch nicht damit umgehn, stellen’s schief hin, werfen’s durch ’nander; und wenn’s nun gar recht zu dem geht, worauf’s allein ankomt, so wissen sie vollends weder aus noch ein (GR 85).
„The idea of basing lyric poetry on personal experience itself is not quite what it might seem“, erläutert Hilliard diesen Vorschlag, it is neither quite the same thing as self-expression from an autobiographical impulse, nor does it necessarily imply that original experiences form the stuff of poetry. […] What Klopstock is offering us is not confession or ,Erlebnis‘, but exemplary qualities of mind –
,and literary texts‘, so möchte man ergänzen.9 Erfahrung: Mit diesem Begriff markiert Klopstock, dass sein Interesse nicht dem „individuelle[n] Gemüt“ gilt,10 sondern dem literarischen Text. Ebenso lang wie Klopstocks Publikationsliste ist
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Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart u. Weimar 2000, S. 111. Baumgarten: Philosophische Briefe von Aletheophilus, S. 71. Kevin Hilliard: Philosophy, Letters and the Fine Arts in Klopstock’s Thought. London 1987, S. 172. Ulrich Schödlbauer: Entwurf der Lyrik. Berlin 1994, S. 171.
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daher auch seine Leseliste, die den stets am Material arbeitenden poetologischen Fragmenten – fragmentarisch – zugrunde liegt, obwohl er in seinen poetologischen Reflexionen keine Beispiele geben will. Sie umfasst Werke aus dem Kanon der griechischen und römischen Antike, springt dann zu Milton (vgl. DA), Luther, Opitz (vgl. GNP) und erwähnt von den Zeitgenossen nur, aber bezeichnenderweise Young (vgl. HP) und Haller (vgl. GNP). Ja selbst die „Psalmen“ (HP 1009) und Schriften der Propheten – „sofern ihre Werke Meisterstücke der Beredsamkeit sind“ (HP 1008) – sowie die „erste und zweite Offenbarung“ der Bibel und der geistlichen Dichtung (GL 1009 pass.) werden einer vergleichenden Analyse der „Schreibarten“ unterzogen (HP 1009), damit die „Regeln“ für das Gedicht gewonnen werden können (GL 1013). Die Aufgabe des Beispiels hat sich geändert: Klopstock gibt keine besonderen Beispiele für den guten oder schlechten Geschmack, die er aus allgemeinen Regeln herleitet, sondern er leitet vom literarischen Text die Gesetze der Erfahrung ab, die in Erscheinung treten. Seine Arbeit an literarischen Texten führt Klopstock mit einer gewissen Zwangsläufigkeit immer weiter von der Erfahrung weg, dafür aber immer näher zum ‚Nachgesagten‘ hin, das zusammen mit den Gesetzen seiner Struktur im „Affektausdruck-Archiv“ abgelegt ist,11 weil sich die Regeln, die Klopstock sucht, im besten Sinn einem „ [ N ] a c h e r f a h r e n “ verdanken (GR 173) – vor allem der „Werke der Alten“, welche „die Erfahrungen von Jahrhunderten für sich“ haben (GR 173). Dort findet er die wahren „Regeln, nach welchen“ er „glaub[t], daß Gesänge und Lieder gearbeitet werden müssen“ (GL 1011), ebenso wie die „größern Gedichte“ (HP 1003): [D]ie erste [Regel, F.B.]: Er [der Dichter, F.B.] bemerkt die Eindrücke, welche Gedichte von allen Arten auf ihn, und auf andre machen, das heist: er e r f ä h r t , und s a m m e l t d i e E r f a h r u n g A n d r e r ; die zweyte [Regel, F.B.]: Er sondert die Beschaffenheiten der verschiednen Gedichte mit genauen Bestimmungen von einander ab, oder er zergliedert das in Dichtarten, was Wirkung hervorgebracht hat (GR 173).
Angesichts einer solchen Empirie zweiter Ordnung – der medialen Erfahrung – liegt es nahe, Klopstocks ‚Zerpflücken von Gedichten‘ mit der Arbeit in einem Labor zu vergleichen, in der die Grenzen von Praxis, Theorie und Kritik fließend sind, wie Klopstock immer wieder selbst betont: Weit entfernt ein Sklav gewisser allgemeiner Regeln zu sein, die eben dadurch fast nichts mehr sagen, weil sie allgemein sind, findet er [der Richter, F.B.] die neue Regel zu der neuen Schönheit aus. Er tut hier nichts anders, als was Aristoteles, durch eben die Werke veranlaßt, auch getan haben würde. Und da die Regel seit jeher auf das Meisterstück gefolgt ist; so veranlassen ihn [den Richter, F.B.] zum Exempel Clarissa und Grandison, zu neuen Regeln (P 931).
Mit den poetologischen Fragmenten steht also ein völlig anderer Modus der Theoriebildung zur Diskussion als derjenige Baumgartens – wenn man so will ein ‚wil11
Campe: Affekt und Ausdruck, S. 39.
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der‘. Während der Philosoph seine unerhörten Einfälle in das Prokrustesbett seiner Paragraphen zwängen muss, während ihm innerhalb des Systems allenthalben Dinge unterlaufen, die das System sprengen, bewegt sich der ‚wilde‘ Theoretiker selbstbewusst auf dem ungesicherten Terrain der Literatur. Dort agiert er schon deshalb gefahrlos, weil ihm jeder Maßstab dafür fehlt, was ein Unfall oder Zufall und was Gesetz sein könnte. Die ‚wilde‘ Theorie steuert deshalb immer wieder alte oder veraltete Begriffe, Denkmuster, Rechtfertigungen und Hintergrundannahmen an, als ob diese den Halt gewähren könnten, den die Inszenierung selbst nicht mehr garantiert. Paradoxerweise steht Klopstocks „unusual literary conservatism“ im Dienst einer in den Fragmenten ‚wild‘ um sich greifenden Revolution,12 sodass sich Baumgartens zwanghaft-logische und Klopstocks hysterisch-intuitive Theoriebildung in bemerkenswerter Weise ergänzen: Dort eine Theorie der symbolischen Struktur des Gedichts, hier darüber hinaus auch eine in symbolischer Form. Das Innovationspotential dieser Theoriebildung ebnet freilich das vermeintliche „Radikalitäts- und Innovationsgefälle“ ein, das „von den technisch-metrischen Schriften über die zu Gegenstand und Darstellung“ in Klopstocks späteren Fragmenten von 1779/80 Über Sprache und Dichtung „bis ‚hinunter‘ zu den rein gegenstandsästhetischen Schriften“ führt.13 Insbesondere den Selbstbeobachtungen, die Klopstocks poetische Experimente in den 1750er und 1760er Jahren begleiten, erteilt die symbolische Form des Fragments nämlich die Lizenz zu einer produktiven Unbegrifflichkeit – eine Lizenz, die sich im Hinblick auf die Sache des Gedichts als ungeheuer produktiv erweist. Idealtypisch für dieses fragmentarische Denken in symbolischer Form steht die Deutsche Gelehrtenrepublik – ein Fall kunstgerechter Universalpoesie, in dem Klopstock nicht nur verschiedene Gattungsformate wie Lehrgespräch, Essay oder Aphorismus dem fiktionalen Rahmen der Republikgründung integriert, sondern in dem das Prinzip des Fragments unter den Stichwörtern „Darstellung“ und „Abhandlung“ (GR 9 pass.) in verschiedenen Einträgen immer wieder auch reflexiv wird. Wenn die Grenzen von Meta- und Objektsprache fallen, dann sind „Handeln und Schreiben“ in der Tat „weniger unterschieden, als man gewöhnlich glaubt“ (GR 22). Mülder-Bach verweist auf den performativen Charakter einer solchen poetologischen Schreib-Handlung, in der Klopstock den Gegenstand des Gedichts nicht logisch-diskursiv, sondern symbolisch-handelnd herstellt: „Theorie ‚hat‘ die Darstellung, insofern sie auf jener ausgezeichneten Form des Wissens beruht, die wir nur von dem haben können, was wir selbst ‚machen‘ oder ‚hervorbringen‘“.14 Eine solche Darstellung erzielt daher auch andere „Wirkungen“ als die bloße Abhandlung (GR 22). Denn eine nicht gedachte, sondern gemachte, nicht gesagte, 12 13 14
Hilliard: Philosophy, Letters and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. 32. Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 317. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 189f. Sie verweist auf Vico (verum et factum convertuntur).
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sondern gezeigte Theorie wirkt überzeugender und erreicht den Adressaten besser und unmittelbarer, wenn sie alle Register einer guten Rede zieht, und das heißt vor allem: wenn sie anschaulich ist, weil sie die Metapher dem Begriff vorzieht, Narrationen und Szenen integriert, Allegorien und Personifikationen verwendet, Anekdoten einstreut, ja selbst prosodische Effekte kalkuliert.15 Mit drei Modellen umstellt Klopstock daher symbolisch-handelnd das Gedicht auf der Suche nach dessen Regeln: mit der ‚Schreib-Szene‘, dem ‚Schau-Platz‘ und dem ‚Körper‘. In diesen Modellen behandelt Klopstock Gedichte als Gedichte, und das heißt nicht als theoretische Probleme, sondern als mediale Ereignisse. Bilder, Narrative und Szenen erweitern dabei Baumgartens Repertoire an rhetorischen ‚Suchbegriffen nach den materialen, den vorprädikativen Formgebungen‘ des literarischen Textes. Indem ich im Folgenden Klopstock dergestalt mit Baumgarten und Baumgarten – im Blick zurück – mit Klopstock lese, beschreibe ich also eine zweite Versuchsanordnung, in der das Gedicht epistemisch konfiguriert wird. Denn so brüchig Klopstocks Reflexionen sein mögen, so ‚zerstreut die Gedanken‘ auf viele Schriften, kann der „Effekt des Fragmentarischen“ doch nur deshalb entstehen, weil sich quer zu der syntagmatischen Ordnung des einzelnen Bruchstücks eine paradigmatische der wissenschaftlichen Disziplinen entfaltet, die Baumgarten zum interdisziplinären Relais des Gedichts verschaltet hat: Psychologie, Semiotik, Rhetorik / Poetik, Metaphysik und Ethik. In der Beziehung vom poetologischen Fragment zum wissenschaftlichen Ganzen richten sich Klopstocks sowohl formale als auch gedankliche Brüche daher stets an einer „‚virtuellen‘ Vollständigkeit“ der epistemischen Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ aus,16 deren Profil sie dabei gleichzeitig schärfen. 1.2 Schreib-Szene Die Ambiguität der Ästhetik, die Baumgarten permanent dadurch erzeugt, dass er sowohl das Denken im Horizont des Darstellens als auch das Darstellen im Horizont des Denkens behandelt:17 Diese Ambiguität organisiert auch Klopstocks Rede über das Gedicht, wird aber zusätzlich durch Modelle vermittelt. Als erstes verwendet Klopstock das Modell der ‚Schreib-Szene‘, weil er die Erfahrung auch dort, wo er sie psychologisch auf die beiden Seelenvermögen der Einbildungskraft und der Empfindung zuschneidet, im Horizont des Gedichts verhandelt, indem er nicht etwa nach den Erkenntnis- und Begehrungsvermögen des Menschen, sondern nach der logischen Form der „höhere[n] Poesie“ fragt (HP 1000). Diese reflexive
15 16 17
Vgl. Eberhard Ostermann: Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee. München 1991, S. 101–132. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Übers. v. Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 2003, S. 29. Vgl. 2. Teil, 1.1 Die Ambiguität der Ästhetik.
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Wende des Modells möchte ich in Anlehnung an Campe mit einem Bindestrich markieren: Denn die „Singularität jeder einzelnen ‚Schreibszene‘ entspringt der Prozessualität des Schreibens“, erläutert Stingelin den Bindestrich im Kompositum; „die Singularität jeder einzelnen ‚Schreib-Szene‘ der Problematisierung des Schreibens, die (es) zur (Auto-)Reflexion anhält“.18 Im Zentrum der ‚Schreib-Szene‘ steht vielmehr ein ziemlich konventioneller Vergleich, der seinen systematisch begründeten Ort bereits in Baumgartens ästhetischer Theorie erhalten hat – der Vergleich des Triebes mit einer Flamme. Dieser Trieb ist es, der die mit dem Gedicht zur Diskussion stehende komplexe, opake Struktur als eine aktive, und das heißt als eine zielstrebig auf ihr Objekt gerichtete qualifiziert.19 Auch Klopstock führt den Vergleich von Trieb und Flamme auf dem Feld der Psychologie ein, wo er der Seele und ihren Kräften bzw. ihren Vermögen ein Struktur- und Funktionsmodell unterlegt: Der Wille (wenn ich diese unvollständige Vergleichung brauchen darf) ist eine Flamme auf einer wächsern Tafel, auf die ihr, weil sie durch die Flamme weich erhalten wird, nach eu|rem| Belieben Eindrücke allerhand Arten machen könnt (AT 123).20
Die Seele ist eine Oberfläche (Wachstafel), auf die mit einem Werkzeug (Gerät zum Eindrücken) Erfahrungen geschrieben werden, wobei die Flamme des Triebes die Aufgabe inne hat, das Wachs der Seele so weich zu halten, dass der Stilus der (sinnlichen) Eindrücke eindringen und auf der Tafel die Spur seiner Bewegung hinterlassen kann. Dass die Prozesse der Seele, ja die Seele selbst, dergestalt als Schreibmaschine aufgefasst werden, hat eine lange Tradition – man denke etwa an die von der Mnemosyne, der Mutter der Musen, gestiftete Wachstafel, von der Platon im Theaitetos berichtet und die im Freudschen Wunderblock fröhliche Urständ feiert.21 Die ‚Denkform‘ des Gedichts, die das Modell der ‚Schreib-Szene‘ vermitteln soll, reflektiert Klopstock in den 1750er Jahren sowohl in der Messias-Vorrede Von der heiligen Poesie (1755) als auch in der Abhandlung Von der besten Art über Gott zu denken (1758) sowie in einem Arbeitstagebuch, das Klopstock vom 13. November 1755 bis zum 1. August 1756 geführt hat. In allen drei Fragmenten sucht er nach den Alternativen zu einer logisch-begrifflichen Abstraktion oder, wie es in Von der besten Art von Gott zu denken heißt: zu der „kalte[n], metaphys18
19 20
21
Martin Stingelin: ‚Schreiben‘. Einleitung. In: Ders. (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 7–21, hier S. 15. Vgl. Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: .Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M. 1988, S. 759–772. Vgl. 2. Teil, 1.5.3 Zeitlichkeit. Friedrich Gottlieb Klopstock: Arbeitstagebuch. In: HKA. Abt. Addenda: II. Hg. v. Klaus Hurlebusch. Berlin u. New York 1977. Die Zitate sind im laufenden Text mit der Sigle [AT] und der Seitenzahl ausgewiesen. Der Titel stammt nicht von Klopstock, sondern von den Herausgebern. Vgl. Plat. Theait. 191d.
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ische[n]“ Art des Denkens. Im Archiv der um 1750 nicht zuletzt durch Baumgarten und seinen Schüler Georg Friedrich Meier in Umlauf gebrachten Gemeinplätze rationalistischer Provenienz findet Klopstock die anschauende und die bewegende Erkenntnis,22 bei der „die g a n z e Seele von dem, was sie denkt […], so erfüllt ist, daß alle ihre übrigen Kräfte von der Anstrengung ihres Denkens in eine solche Bewegung gebracht sind, daß sie zugleich und zu einem Endzwecke wirken“. Unterm Strich bilanziert dieses andere Denken nicht das Anschauungsideal der Evidenz (enargeia), sondern das Bewegungsideal der Aktivität (energeia), weil Klopstock eine „Reihe“, und das heißt ein „Gedränge dieser schnell fortgesetzten Gedanken“ beobachtet (AGD 210).23 Klopstocks „ekstatisches Erkennen, sein denkendes Fühlen“ an der Elle der rationalistischen Psychologie messend,24 trifft Lessing den Nagel auf den Kopf, indem er Klopstock vorwirft, dieser nenne „Denken […], was andere ehrliche Leute Empfinden heissen“.25 Vor diesem Hintergrund versucht auch Kaiser, Klopstock als Kronzeugen dafür aufzurufen, dass „der Intellekt […] von der Empfindung übergriffen und in Bewegung gesetzt“ wird. „Erkenntnis ist ein Totalakt der Gesamtpersönlichkeit geworden, dem die eigentlich rationalen Vorgänge nur als Teilmoment beigemischt sind, das die intuitiv gewonnenen Positionen nachvollziehend erhellt“.26 Ihren Ursprung hat Klopstocks Psychologie, die logisches und intuitives Denken aufeinander bezieht, indes nachgewiesenermaßen nicht in der modernen Psychologie, sondern in der vormodernen Affektrhetorik, weil diese Typologie des Denkens die Wirkung der drei Redefunktionen: zu belehren, zu erfreuen und zu bewegen, nachbildet. So erkennt Hurlebusch in den Redefunktionen „des ‚probare‘, wofür der Verstand zuständig ist, des ‚conciliare‘, dem die gelassene Empfindung zugeordnet ist, und des ‚movere‘, das vor allem die seelischen Begierden treffen soll“, das Referenzmodell für die psychologische Skizze im Arbeitstagebuch. Denn die Rhetorik enthält „bereits das psychologische Schema zur Ausbildung einer DreiKräfte-Lehre“, der Klopstock dort folgt.27 Über „d i e A r t i h r e s [der Seele, F.B.] L e b e n s “ notiert er dementsprechend: „Und diese ist: daß sie 1) denkt, 2) einen Trieb zu handeln hat, und 3) empfindet“ (AT 119). Aus dieser affektrhetorischen Bestimmung leitet Klopstock drei Seelenkräfte ab: den „Trieb zu handeln“, die „Kraft zu empfinden“ und die „Kraft zu denken“. Letztere wird aufgeteilt in: erstens „V e r s t a n d o d e r : Vorstellungskraft unsinnliche Dinge zu denken“, zweitens 22 23 24
25 26 27
Vgl. 2. Teil, 1.2 Psychologische Versuchsanordnung. Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der besten Art über Gott zu denken. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. XI. Leipzig 1823; zitiert mit der Sigle [AGD] und der Seitenzahl ausgewiesen. Gerhard Kaiser: Denken und Empfinden: Ein Beitrag zur Sprache und Poetik Klopstocks. In: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband: Friedrich Gottlieb Klopstock. München 1981, S. 10–28, hier S. 25 (=Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 321–342). Zit. Kaiser: Denken und Empfinden, S. 14. Kaiser: Denken und Empfinden, S. 16. HKA. Abt. Addenda: II, S. 300.
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„E i n b i l d u n g s < - > o d e r Vorstellungskraft, sinnliche Dinge zu denken, oder Bilder davon zu haben“, drittens „G e d ä c h t n i ß oder: Die Fähigkeit gehabte Vorstellungen zu wiederholen“ (AT 122). Wie bei Baumgarten ist in dieser psychologischen Ökonomie die schulphilosophische Hierarchie der einen Seelenkraft in obere und untere Erkenntnisvermögen aufgehoben, weil Klopstock die vertikale Stufung in eine horizontale Ordnung der Seelenkräfte ummünzt. Doch obwohl Klopstock die rationalistische Psychologie abfällig als „Geschwätz“ bezeichnet (AGD 210), ist er – wie die Tagebuchnotizen zeigen – dem Denken der Schule in der Unterscheidung der drei Seelenkräfte durchaus verpflichtet. Es ist daher eher unwahrscheinlich, „daß Klopstocks Psychologie nicht von einer philosophischen Metaphysik abgeleitet“ wird,28 obwohl diese Ableitung nur ‚irgendwie‘ erfolgt, will heißen auf keiner allzu intensiven Beschäftigung mit der Deutschen Metaphysik (1720) oder der Psychologia empirica (1732) basiert, selbst wenn Klopstock allein „Wolfen“ und nicht etwa dem Autor der Aesthetica oder demjenigen der Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften zugesteht, „Epoke […] in der Weltweisheit“ gemacht zu haben.29 Ebenso unzuverlässig wie unscharf sind deshalb die Begriffe für die drei Seelenkräfte, die der Kritiker der ‚kalten, metaphysischen Art‘ zu denken der rationalistischen Psychologie entgegensetzt. In den beiden psychologischen Fragmenten verwendet Klopstock ganz unterschiedliche Begriffe, die er auch noch verschieden gewichtet, indem er sie entweder als Ober- oder als Unterbegriff verwendet, wie folgender Überblick zeigt: Arbeitstagebuch Von der heiligen Poesie _________________________________________________ Denkkraft Verstand Urteilskraft Witz Scharfsinn Lebhaftigkeit Einbildungskraft Witz Gedächtnis Empfindungskraft Trieb
Verstand
Einbildungskraft
Wille
Grundsätzlich unterscheidet Klopstock bei den Seelenkräften also wohl Verstand von Trieb (Wille), zwischen denen sich eine Art von Grauzone auftut. Das eine Mal nennt Klopstock dieses unbestimmte Dritte Empfindungskraft, das andere Mal Einbildungskraft. Die drei Seelenkräfte stehen nun aber – unabhängig davon, wie 28 29
HKA. Abt. Addenda: II, S. 298. Friedrich Gottlieb Klopstock: Nachlaß. zit. in: HKA. Abt. Addenda: II, S. 301.
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das Grauzonen-Problem zu bewerten sein wird – keineswegs gleichberechtigt nebeneinander. Der Trieb / Wille rangiert über dem Verstand und der Empfindungskraft. Die Seele „ist ein Baum der eine Hauptwurzel und zwo nebenwurzeln hat. Der Trieb zu handeln, ist die erste, das Denken und das Empfinden die beyden letzten“ (AT 119). Damit wird das sinnliche Begehrungsvermögen nicht nur gegenüber dem sinnlichen Erkenntnisvermögen auf-, sondern zur Libido umgewertet, die immer im Spiel ist, „so bald sich objeckte zeigen“ (AT 120). Wo sich kein Trieb regt, da wird weder gedacht noch empfunden; und erst Freuds Ausrichtung des Seelenhaushalts an der Libido vermag diese Implikationen vollends einzulösen. Obwohl Klopstock im Gegensatz zur rationalistischen Psychologie, die der Seele eine einheitliche, den Seelenvermögen übergeordnete Kraft unterstellt: die Vorstellungskraft (vis repraesentativa), also von drei unabhängigen Seelenkräften ausgeht, bleibt er dem Rationalismus durchaus verpflichtet. Alle drei Seelenkräfte – der Trieb (Wille) nicht ausgenommen – setzen nämlich ‚Repräsentation‘ als Grundprinzip der Seele voraus. In diesem Sinn gibt Klopstock den Verstandesleistungen das Attribut „Vorstellungskraft“ bei, die Empfindungen bindet er an das Bewusstsein des Körpers und der Veränderung körperlicher (und seelischer) Zustände: „die Empfindung unsers Körpers, und der sinnlichen Wirkung, die auf ihm geschehn“ (AT 121). Ein solches Bewusstsein setzt Vorstellungen (repraesentationes) bzw. Gedanken (cogitationes) voraus (vgl. AT 122; GL 1011), sodass die Empfindungen wie in der rationalistischen Psychologie Vorstellungen (sensationes) sind.30 Klopstock wertet also wie Baumgarten das Begehrungsvermögen gegenüber dem Erkenntnisvermögen auf, ohne sich vollends vom Rationalismus zu lösen. Beide, Philosoph wie Dilettant, bringen dabei freilich Bewegung in das statische System der Seelenvermögen. Das mag der Grund dafür sein, dass Klopstock tatsächlich von Kräften spricht, obwohl er lediglich die Vermögen neu sortiert. Per definitionem betont der Begriff der Kraft sowohl die Wirklichkeit als auch die Wirksamkeit der Seele, während der Begriff des Vermögens nur eine Möglichkeit bezeichnet. Deshalb versieht bereits Baumgarten in den Paragraphen über das Begehrungsvermögen der Metaphysica die Vorstellungen mit dem Zusatz ‚cogitationes et eius vis‘, um die Aktivität der Vorstellungen zu unterstreichen. Dementsprechend verweist Klopstock auf die Unmöglichkeit, sich eine inaktive Seele vorzustellen: So bald wir sie [die Seele, F.B.] uns ausser diesem Zustand der Gleichgültigkeit vorstellen, (und sie ist allezeit ausser diesem Zustande (denn die erste Vorstellung war nur eine Abstraktion) so denken wir von ihr das sie l e b t . So bald wir diesen Begriff haben, müssen wir notwendig, a u f d i e A r t i h r e s L e b e n s , kommen (AT 119).
30
Zur Gleichsetzung von Gedanken und Vorstellungen vgl. Baumgartens Metaphysica: „cognitiones sunt repraesentationes“ (MET § 505).
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Sobald Klopstock indes diese Inaktivität für einen Moment unterstellt, kommt er zu keinem anderen Ergebnis als zu dem rationalistischen Repräsentationsprinzip, das auf einem einheitlichen Bewusstsein fußt: Wenn man sich die Seele in einem Zustande der Gleichgültigkeit vorstellt, so daß ihre Kräfte auf keinen besondern Gegenstand gerichtet wären; so entdecken wir, daß sie in diesem Zustande doch sich ihres Daseyns bewust sey. Das erste also was wir von der Seele uns vorstellen ist das B e w u s s t s e y n (AT 119).
Diese generelle Tendenz, die Korrelation von Gedanken und Empfindungen durch eine Bewegung – eine Bewegung, die diese miteinander verbindet –, macht die Entscheidung, ob Klopstock der Seele drei Hauptkräfte statt einer zuspricht, überflüssig. „Vermögen oder Kräfte“31 – so lapidar wie Schödlbauer die Bemerkung dahinwirft, betont er den Sachverhalt, dass Klopstocks Fragmente keine zuverlässigen Anhaltspunkte für die „pluralistische Annahme von drei Seelenkräften“ geben.32 Auch als Vermögen machen sie die Seele zu einem aktiven, generativen Organon, das nun Gedanken oder Empfindungen bzw. Einbildungen hervorbringt, denn nach wie vor reiben sich in Klopstocks Bestimmung der dritten Seelenkraft die Begriffe Empfindungskraft (vgl. AT 121) und Einbildungskraft (vgl. HP 1002). Was aber sind Empfindungen: Sensationen (Repräsentationen) oder Gefühle? Während Baumgarten die Empfindung als den der Vernunft analogen Modus der Erkenntnis von den Affekten im engeren Sinn unterscheidet – diese sind genauso Gegenstand der sinnlichen Erkenntnis wie Einbildungen oder Erinnerungen –, vermischt Klopstock im Arbeitstagebuch die Niveaus, auf denen der Begriff ‚Empfindung‘ systematisch verortet wird. Erstens führt er in rationalistischer Manier die affektiven Daten von „Vergnügungen“ und „Mißvergnügungen“ auf, indem er diese in das ‚Affektausdruck-Archiv‘ sortiert: Genuss, Ruhe, Freude, Bewunderung, Erstaunen und Entzücken auf der einen Seite, Furcht, Unruhe, Traurigkeit, Schrecken, Entsetzen und Verzweiflung auf der anderen; dann bildet er die Schnittmenge dieser Gefühle, in die Wehmut und Mitleid sortiert werden. Zweitens nennt Klopstock unter dem Lemma der Empfindungskraft aber auch kognitive Vermögen: die gegenwärtige Empfindung, die Hoffnung auf eine zukünftige Empfindung und die Erinnerung an eine vergangene (vgl. AT 121). Diese Vermögen sind ebenso wenig logisch wie diejenigen, die Klopstock im Arbeitstagebuch unter der ‚Kraft des Denkens‘ an der Systemstelle der Einbildungskraft bzw. des Gedächtnisses einträgt und neben dem Verstand als einen diesem analogen Modus, „sinnliche Dinge zu denken, oder Bilder davon zu haben“, bestimmt (AT 122). Die Formulierung ‚sinnliche Dinge denken‘ oder ‚Bilder haben‘ verbindet zweierlei miteinander: sowohl den Modus der Verarbeitung als auch das Datum der Bilder. Überträgt man diese Doppelung auf die Empfindungs-
31 32
Schödlbauer: Entwurf der Lyrik, S. 191. HKA. Abt. Addenda: II, S. 301.
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und Einbildungskraft, so muss man jeweils den Modus der Datenverarbeitung: sinnliche Dinge zu denken – oder, löst man die Hypallage auf: Dinge sinnlich zu denken – von den Daten dieses Denkens: den Bildern oder Empfindungen, unterscheiden, die der jeweiligen Kraft dann als Attribut ihren Namen geben. Beide Kräfte können deshalb in der Gelehrtenrepublik auf gleichem Niveau rangieren (vgl. GR 83; HP 999), auch wenn sich in den poetologischen Fragmenten – rein quantitativ gesehen – schließlich die Empfindungskraft als Oberbegriff für den der Vernunft analogen Modus des Denkens durchsetzt, der sowohl Bilder als auch Empfindungen (Affekte) bearbeitet. In diesem Sinn ist bei Klopstock immer wieder von der Opposition zwischen „Empfindung“ und „Nachdenken“ (GL 1013) die Rede, zwischen „Gedanken und Empfindungen“ (SP 1019), zwischen „G e g e n s t ä n d e n d e s D e n k e n s u n d d e r E mp f i n d u n g “ (GR 22). Obwohl der Begriff des Gegenstands fällt, ist der „referentielle[] Bezugspunkt“ in dieser Rechnung völlig sekundär,33 weil sich Klopstock nur „um die Gegenstände“ kümmert, die „vorgestellt werden“ (GR 74). Diese „Gegenstände […] in dem Geiste“ (EA 975) können nun, insofern es sich um Einbildungen handelt, „angesehn“, insofern es um Empfindungen geht, „ganz empfunden“ werden (GR 74; vgl. GSP 953); wobei der sinnliche Erkenntnismodus stets reflexiv die „Gewißheit […] seiner Empfindung“ beinhaltet (P 932). Das Interesse am dergestalt sinnlich bearbeiteten Gegenstand mag – das nur nebenbei bemerkt – einer der Gründe dafür sein, warum Klopstock den von den Schweizern forcierten Konflikt zwischen Nachahmung und Erfindung ohne Rücksicht auf freundschaftliche Gefühle derart radikal löst, dass die traditionelle poetologische Kategorie der „Erdichtung“ in der Gelehrtenrepublik lediglich als Notlösung überlebt (GR 171; vgl. GNP 992f.). Welche Form der sinnlichen Datenverarbeitung Klopstock vorgeschwebt haben mag, lässt sich aus der knappen psychologischen Skizze im Arbeitstagebuch nur erahnen. Dort verdoppelt er den „Wiz“ (ingenium) – also das Vermögen, Ähnlichkeiten zu erkennen – an der Systemstelle des logischen und des sinnlichen Denkens; ihm entsprechen die „Vorempfindung“ und die erinnernde Wiederholung (AT 121). Deutlich markiert ist hingegen ein anderer Aspekt – der zeitliche Aspekt der Bewegung. Sowohl die Denkkraft als auch die Empfindungskraft „wirken, indem ihre Kräfte izt beschäftigt sind […]. Die Empfindungen thun es stärker als die Gedanken“; und wenn letzteren „Lebhaftigkeit, oder die Fähigkeit schnell zu denken“, zugestanden wird, dann konsequenterweise auch ersteren. Der Trieb wirkt auf diese generelle Aktivität lediglich wie ein Hilfsmotor, sodass Erkenntnisund Begehrungsvermögen in einem wechselseitigen Prozess aufeinander bezogen werden: Der Trieb zu handeln, ist die schnellste und stärkste unter den drey angeführten Hauptkräften der Seele. Die beyden lezten wirken nur, wenn sich ihnen Objeckte zeigen. Sie würden viel33
Benning: Rhetorische Ästhetik, S. 13.
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leicht oft ohne Objeckte, und also ohne Wirksamkeit seyn, wenn nicht die beständige Thätigkeit der ersten, sie unaufhörlich in Bewegung brächte, und durch das miterregte Gedächtniß sie auf vergangne Objeckte zurükführte. Beyde wirken, indem ihre Kräfte izt beschäftigt sind, wieder an ihrer Seite auf den Willen. Die Empfindungen thun es stärker, als die Gedanken (AT 123).
Dem gesamten Problemkomplex von Geschwindigkeit und „Zeit“ (GR 172), der in Klopstocks poetologischen Fragmenten eine allen anderen Fragen übergeordnete Rolle spielt, begegnet er also das erste Mal in den 1750er Jahren auf psychologischem Terrain. Dort übersetzt er diesen Komplex aus dem Begehrungsvermögen in eine Funktion der Empfindung und des (logischen) Denkens. Weil Klopstock mit der Empfindung von Anfang an eine energetische Funktion des Denkens und Darstellens verhandelt, scheitern zwangsläufig sämtliche Versuche, ihn als Vertreter für die „Aufwertung des Emotionalbereichs“ zu beanspruchen.34 „Wir stehen also vor der paradoxen Situation“ – bemüht sich Kaiser, die Modernität eines Theoretikers zu retten, der rationalistischere Begriffe verwendet, als es einem ‚echten‘ Vertreter der Gefühlskultur eigentlich zusteht –, „daß Klopstock mit einer altertümlich anmutenden Terminologie eine revolutionäre Position vertritt“.35 Das Revolutionäre liegt freilich nicht darin begründet, dass sich in Klopstocks vermögenspsychologischen Fragmenten das Gefühl Bahn bricht, sondern darin, dass er mit der Empfindung eine Struktur bzw. eine ihrer Funktionen besetzt, die rational grundiert, und das heißt vor allem in ihren der Vernunft analogen Operationen beschreibbar ist. Indem Klopstock die Empfindung in seinen psychologischen Fragmenten verfolgt, sorgt das reflexive Potential der ‚Schreib-Szene‘ dafür, dass die Rede über die Empfindung ihren ambigen Charakter bewahrt. Nur aufgrund dieser in der Rede über das Gedicht unhintergehbaren Ambiguität vermag Klopstock im Folgenden völlig problemlos zwischen den „Bücher[n]“ und der „Seele“ hin- und herzuspringen, die beide – mit „Bildern“ angefüllt – „das Herz zu lebhaftern und feinern Empfindungen fortreißen“ (RKW 990). Die Austauschbarkeit der beiden Variablen ein und derselben symbolischen Struktur des Gedichts führt zu den Gedanken über die Natur der Poesie zurück, in denen Klopstock abwägt, ob das empfundene oder das nachgeahmte Gedicht das wirkungsvollere sei. „Nur alsdann hat“ der Dichter nachgeahmt, erläutert Klopstock, wenn ich nicht weinen werde. Er ist an der Stelle desjenigen gewesen, der gelitten hat. Er hat selbst gelitten. Wenn mein Freund beinahe eben das empfindet, was ich empfinde, weil ich meine Geliebte verloren habe; und diesen Anteil an meiner Traurigkeit andern erzählt: ahmt er nach? Von dem Poeten hier weiter nichts als Nachahmung fordern, heißt ihn in einen Akteur verwandeln. […] Und vollends der, der seinen eignen Schmerz beschreibt! der ahmt also sich selbst nach? (GNP 993)
34 35
Kaiser: Denken und Empfinden, S. 13. Ebd., S. 16.
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Die kurze Passage, in der Fragen und Ausrufe einander in rascher Folge abwechseln, basiert auf einer triangulären Struktur von Ego, Alter und einem verlorenen Objekt, auf das sich die Trauer von Ego und Alter richtet. In ihrer Trauer stehen beide in der Art und Weise füreinander ein, wie Horaz’ rhetorische Poetik fordert: „Willst du mich weinen sehen, so mußt du zuvor selbst leiden“.36 In der Übertragung des Schmerzes vom Ego auf das Alter und in der Identifikation des Alters mit dieser Empfindung des Egos bzw. in der Identifikation des Egos mit dem eigenen Schmerz wird der Schmerz zum Medium – zum Tränenfluss –, und das heißt zu etwas, das nicht nur zwischen den Positionen von Ego und Alter vermittelt, sondern das sich in der Anerkennung des Anderen überhaupt erst konstituiert. In dieser Übertragung gewinnt der Schmerz seine medialen Konturen. Aus den Elokutionstechniken der Detaillierung (amplificatio) wählt Klopstock die Erzählung (narratio) und die Beschreibung (descriptio), mit deren Hilfe Schmerz dargestellt werden kann. In dem Moment, in dem Schmerz und Figur dergestalt ununterscheidbar geworden sind, können Klopstocks Arbeitsanweisungen für den ‚Theoristen‘ greifen, die er in der Deutschen Gelehrtenrepublik unter dem Stichwort der Erfahrung gegeben hat. Denn der dargestellte Schmerz ist jetzt lesbar, sodass es jedem möglich wird, die eigenen „Eindrücke“ und die „E r f a h r u n g A n d r e r “ zu sammeln, weil der Dichter „die Beschaffenheiten der verschiednen Gedichte mit genauen Bestimmungen von einander ab[sondert], oder […] das in Dichtarten, was Wirkung hervorgebracht hat“, zergliedert (GR 173). Als Effekt dieser Übertragung tauschen Ego und Alter also nicht nur permanent die Positionen, sondern beide sind auch durch das Medium der Empfindung ersetzt worden – mit der Folge, dass Klopstock in seinen poetologischen Fragmenten völlig unbekümmert eine Analogie von Dichter, Leser und Gedicht herstellen kann. Nicht zuletzt der Umgang mit der Metapher des Herzens, die bereits Baumgarten für den sich der rationalen Kontrolle entziehenden Teil der Seele einsetzt,37 bezeugt ein Denken in Analogien, wie es für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts durchaus üblich ist. An prominenter Stelle spricht Klopstock vom „Willen oder dem Herzen“ als „vielseitige[r] und gewaltigste[r] Kraft der Seele“ (HP 1002; vgl. GR 22). Die Gleichsetzung des Willens mit dem „Trieb zu handeln“ (AT 120) täuscht indes nicht darüber hinweg, dass Klopstock die Libido ebenso wie Baumgarten in die moralische Anstalt schickt: Nur „ein gutes Herz“ ist ein poetisches Herz (HP 1000); es kann ebenso „gebildet“ (HP 999) oder „erweiter[t]“ (HP 1002) wie auch „beweg[t]“ werden (HP 1003). Die „Empfindung des Herzens“ (HP 1008; vgl. RKW 990) macht aus der Opposition von „Herz“ und „Verstand“ (HP 1009) also wie bei Baumgarten eine chiastisch interagierende Doppeleinheit von HerzensVerstand und Verstandes-Herz.
36 37
Hor. Ar poet., v. 102. Vgl. 2. Teil, 3.1.1 Kopf und Herz.
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Dabei wechselt die Funktion, die durch das Herz bezeichnet wird, in den Fragmenten buchstäblich den Ort. Denn Klopstock unterscheidet nicht zwischen dem anthropologischen System – dem Herzen von Dichter und Leser (vgl. HP 999f.) – und dem poetologischen System. Denn so wie Klopstock „Werke des Witzes“ an ihrer Struktur erkennt (HP 1000), analysiert er auch „Meisterstücke“ (HP 1002), deren „Züge“ das Herzens-Design aufweisen (HP 1004). Das können „Geschichten“ sein, in denen das „Feuer des Herzens oder der Einbildungskraft“ brennt (HP 999); das kann aber ebenso ein „feurig[er] […] Gesang“ (GL 1011) oder das „gewisse Feuer“ solcher „Stellen“ sein, „wo in dem Gedichte die Einbildungskraft herrscht“ (SP 1021f.). Wie der felix aestheticus ist das Klopstocksche „Originalgenie“ nämlich lediglich eine Personifikation derjenigen symbolischen Struktur des Gedichts, die es hervorbringt (GNP 995) und aus der es – vice versa – selbst hervorgeht. Auf dieser Grundlage kann die energetische Funktion dieser Struktur in den Willensakt des Genies übersetzt werden, weil „sich der Poet vorgesetzt“ hat, „in einer gewissen wichtigen Stelle unser Herz in einem sehr hohen Grade zu bewegen“ (HP 1003; Hervorh. F.B.). So heißt es zuerst über die „durch die Hoheit der Gedanken, oder durch das Feuer der Empfindungen stark bewegt[e] […] Seele“ des „Dichter[s]“: „Sie eilt fort“ (GL 1011f.). Dann wird das ursprüngliche Ziel der Arbeit, die Bewegung der Seelen anderer, zu einer Tätigkeit umgemünzt: Der Dichter „bringt uns mit schneller Gewalt dahin“ (HP 1002). 1.3 Schau-Platz Das Modell der ‚Schreib-Szene‘, an dem Klopstock seine psychologischen Fragmente ausrichtet, vermittelt die ‚Denkform‘ des Gedichts als Textform und erzeugt die für die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ unvermeidliche Ambiguität. Dabei versammeln die Fragmente Bruchstücke, die sowohl den Disziplinen der Psychologie als auch der Rhetorik und Poetik entlehnt sind, ja sogar ethische Aspekte der Autorschaft berühren. Gleichzeitig unterlegt Klopstock dem Gedicht mit der ‚Schreib-Szene‘ eine zeitliche Anschauungsform: die Spur, die der Schreibakt auf dem materialen Untergrund hinterlassen hat, weil das weiche Wachs die einprägende Bewegung des Schreibwerkzeugs zulässt. Als Wille (Trieb) ist die Bewegung also bereits dem Modell der Seele in den psychologischen Fragmenten integriert, bevor Klopstock sie semiotisch, rhetorisch / poetologisch, metaphysisch und ethisch übersetzt. Der ‚Schreib-Szene‘ steht in den poetologischen Fragmenten nun jedoch ein zweites Modell gegenüber, das die Perspektive auf das Gedicht zu ganz anderen Bedingungen einstellt als zu denjenigen der Zeitlichkeit. Gemeint ist der „Schauplatz“ (HP 1000 pass.), der dadurch zum selbstreflexiven ‚Schau-Platz‘ wird, 38
38
Vgl. 2. Teil, 1.5.1 Räumlichkeit.
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dass Klopstock dem Gedicht mit der zeitlichen auch eine räumliche Anschauungsform unterlegt.39 Diese führt zu den Fragmenten, die sowohl rhetorisch / poetologisch als vor allem auch metaphysisch argumentieren. Den Weg zum ‚Schau-Platz‘ vermittelt eine Reihe von Begriffen aus dem theatralen Bereich, die Klopstock von der Schreibmaschine auf die Bühne der Seele wie des Textes führen.40 „Das Wesen der Poesie besteht darin“, legt Klopstock ganz traditionell fest, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andre wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt (GNP 992; vgl. HP 1000).
Das der Schauspielkunst entlehnte ‚Zeigen‘ unterstreicht den szenisch-gestischen Aspekt des Gedichts, das dergestalt im besten theatralen Sinn zu einer Vorstellung auf der Bühne der Seele wird. So definiert er das Wort ‚vorstellen‘ später einmal folgendermaßen: „Sich etwas vorstellen. Man stellt also das Ding, das man betrachten will, vor sich hin“ (VV 974), so wie man es – vice versa – auch beim Darstellen tut. In Bezug auf die Darstellung betont Mülder-Bach daher vor allem die theatralische Präsentation „an ein Gegenüber, das sie im Gestus eines Gebens und Präsentierens adressiert“.41 Obwohl der Begriff der Darstellung, der die Medialität der Vorstellung unterstreicht, bereits bei Baumgarten im Zentrum der ästhetischen Theorie steht, hat ihn erst Klopstock berühmt gemacht. Und das nicht (nur), weil er ihn als ersten medientheoretischen Begriff avant la lettre codiert, sondern auch weil er – so meine These – den literarischen Text am Raum ausrichtet. Klopstocks „‚Entdeckung‘ der Darstellung fällt in die Jahre 1768 bis 1771“, datiert Mülder-Bach. „Der terminus ad quem wird durch die […] Gründungsurkunden“ – gemeint sind die Epigramme in der Hamburgischen Neuen Zeitung (1771) und die poetologische Ode Der Unterschied (1771) – eingeführt, „der terminus a quo durch den so genannten ‚Wiener Plan‘ der Deutschen Gelehrtenrepublik (1774), in dem viel von ‚Ausarbeitung‘, ‚Ausführung‘ und ‚Ausdruck‘, aber nicht ein einziges Mal von ‚Darstellen‘ die Rede ist“.42 Weil Klopstock seit den 1750er Jahren Begriffe wie Bewegung, Leidenschaft, Handlung und Täuschung verwendet, die zum semantischen Hof der Darstellung gehören, bestätigt Hilliard: „The concept of ‘Darstellung’ does not appear before the 1770s; but the matter itself is there well before that“.43 Im Abschnitt Von den Zünften der Deutschen Gelehrtenrepublik führt Klopstock den Begriff der Darstellung 1774 innerhalb einer enzyklopädischen Ordnung der
39 40 41 42 43
Zu Raum- und Zeitmodellen vgl. Benning: Rhetorische Ästhetik, S. 85–101. Vgl. 2. Teil, 1.3 Rhetorische Übersetzung. Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 193. Ebd., S. 152. Vgl. GR 219–226 (Apparatband); Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. 228–231; Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 42–44. Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. 166.
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Wissenschaften ein. Innerhalb des idealen Staates humanistischer Provenienz unterscheidet Klopstock vier ruhende ‚Unterzünfte‘ von elf wirksamen ‚Oberzünften‘: Die Geschichtsschreiber, Redner, Dichter, Gottesgelehrten, Naturforscher, Rechtsgelehrten, Astronomen, Mathematiker, Weltweisen, Scholiasten und eine „gemischte Zunft“ haben miteinander gemein (GR 11), „daß diese oder jene derselben [der Oberzünfte, F.B.] entweder e n t d e c k e oder e r f i n d e , oder auch b e y d e s v e r e i n e “ (GR 8). Horizontal zu dieser vertikalen Ordnung verläuft eine zweite, denn „einige Oberzünfte sind d a r s t e l l e n d e , und andre a b h a n d e l n d e “ (GR 9). Aus diesen Koordinaten ergibt sich für die Dichter, dass sie „theils durch die Erdichtung, und theils durch neue Arten der Darstellung Erfinder“ sind (GR 10). Was Klopstock damit meint, vermittelt ein Seitenblick auf die Zunft der empirischen „Naturforscher“: „[S]ie b r i n g e n h e r v o r , oder s t e l l e n d a r . (Man sieht, daß hier Darstellung in einer andern Bedeutung genommen wird)“ (GR 10f.) – in einer Bedeutung, die am Akt der Hervorbringung die Handlung betont. Mit dieser Parallele treten die medialen Aspekte des Gedichts in den Vordergrund. „Ein Werk der Darstellung, (wenn es sonst zu bleiben verdient,)“ erläutert Klopstock in diesem Sinn, „bleibt auch nach Erscheinung eines bessern über eben den Inhalt“ (GR 9). Handlung und Hervorbringung gehen also in der Darstellung eine neue Allianz ein, indem Klopstock nicht mehr in Aristotelischer Tradition zwischen hervorbringenden (z.B. Dichtung) und handelnden Künsten (z.B. Tanz) unterscheidet, sondern dem Medium des Gedichts eine energetische Funktion implementiert. „Dichterische Darstellung im Sinne Klopstocks […] durchkreuzt die Opposition von [praxis] und [poiesis]“,44 erläutert Menninghaus, „statt Handlung nur zu ihrem Gegenstand zu haben, ist sie selbst eine Handlung, deren Dignität in ihr selbst besteht, ja die selbst das ist oder zumindest zu sein scheint, was sie darstellt“.45 „In diesem Gedicht ist viel Handlung! rufen die Theoristen bisweilen aus; und doch enthält es nur Begebenheiten“. Mit dieser Sentenz grenzt Klopstock die energetische Funktion des Gedichts von einem mimetischen Handlungsbegriff ab: Handlung besteht in der Anwendung der Willenskraft zu Erreichung eines Zwecks. Es ist ein falscher Begriff, den man sich von ihr macht, wenn man sie vornämlich in der äusserlichen That sezt. Die Handlung fängt mit dem gefasten Entschlusse an, und geht (wenn sie nicht gehindert wird) in verschiednen Graden und Wendungen bis zu dem erreichten Zwecke fort (GR 171; vgl. HP 1002).
Die Trias von Darstellung, Handlung und Leidenschaft – unter letzterer versteht Klopstock eine „beginnende Handlung“ (GR 171) – ist daher die poetologische Kehrseite für diejenige Aktivität des Gedichts, die in den psychologischen Fragmenten als Trieb (Wille) bestimmt worden ist. Indem Klopstock nun der Handlung 44 45
Zur Typologie der Künste in theoretische, praktische und poietische vgl. 2. Teil, 1.5.3 Zeitlichkeit. Menninghaus: „Darstellung“, S. 208.
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des Gedichts selbst eine ‚Willenskraft‘ zuspricht, übersetzt er die psychologische in die poetologische Begründung des Gedichts. Diese Bewegung verbindet einen Anfangs-(Entschluss) mit einem Endpunkt (Zweck), indem sie von einem zum anderen führt. Unschwer lässt sich erkennen, wie Klopstock mit dieser zielgerichteten Bewegung jene Aristotelische Tradition der Verlebendigung (energeia) aufgreift,46 auf die auch Baumgarten in seiner Analyse der symbolischen Struktur des Gedichts vertraut hat. Die Definition der Deutschen Gelehrtenrepublik betont dementsprechend: „Leblose Dinge sind nur dann der Darstellung fähig, wenn sie in Bewegung, oder als in Bewegung gezeigt werden“ (GR 171). Dergestalt liegen die „tiefsten Geheimnisse der Poesie […] in der Aktion, in welche sie unsre Seele setzt. Überhaupt ist uns Aktion zu unserm Vergnügen wesentlich“, hält Klopstock schon 1759 im Hinblick auf das Gedicht fest (GNP 993). Wie die stetige Wiederholung des Zeigens in den poetologischen Fragmenten und der Hinweis auf den Ort der Aktion nahelegen, an dem der lebendige Gegenstand auch gesehen werden kann, bleibt freilich der ‚Schau-Platz‘ die Voraussetzung für die „gewaltige[n] Beweg- und Erschüttrungen“ (GR 87), welche die ‚Aktion‘ aufführen und auslösen soll. Wie stark diese Bewegung daher auf den Raum zugeschnitten ist, bestätigt ein Blick auf das berühmte Fragment Von der Darstellung (1779), in dem Klopstock die Erkenntnisse der Newtonschen Physik in die Poetik der „Zeigung“ übersetzt: „Wenn, Schlag auf Schlag, Lebendiges Lebendigem folgt; so nimmt dadurch seine Kraft beinahe so sehr zu, als die Schnelligkeit der fallenden Last durch den größeren Raum zunimmt“ (D 1034). In diesem Raum des Denkens bzw. Darstellens übernimmt das ‚Herz‘ die Funktion der Beschleunigung. „Denn obgleich einige Leidenschaften eine gewisse ruhige Art zu denken ganz unterbrechen, so feuert uns doch überhaupt das bewegte Herz an, schnell, groß und wahr zu denken“ (HP 1004). Ein solches physikalisch grundiertes Modell des zu durchmessenden Raumes, das Klopstocks poetologische Fragmente mit Baumgartens ästhetischer Theorie verbindet, kann also durchaus als „monströse[] Werbung für die Moderne“ angesehen werden. „Temporalisierung und Beschleunigung prägen gerade in ihrer Abstraktheit die – wie Marx sagt – Verflüssigung aller überkommenen Werte- und Sozialstrukturen; je schneller, desto besser. […] In der Poetik Klopstocks schreibt sich damit geradezu ein Reklametext der Industrialisierung“.47 Dass auf einem Schauplatz Handlungen aufgeführt und (dramatische) Personen in Bewegung gezeigt werden, ist selbstverständlich; dass die Poetik der ‚Zeigung‘ das Gedicht aber als ‚Schau-Platz‘ versteht, kann nur ein Theoretiker plausibel machen, der sich weniger auf den Abstraktionsgehalt seiner Begriffe als vielmehr auf die Anschaulichkeit seiner Metaphern, Allegorien und Vergleiche verlässt – ein ‚wilder‘ Theoretiker wie Klopstock eben. Zunächst erprobt Klopstock für das ‚Ge46 47
Vgl. 2. Teil, 1.5.3 Zeitlichkeit. Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 343.
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dicht‘ daher drei Raummodelle: die Reihe, den Riss und das Labyrinth. Bereits in der Abschiedsrede von Schulpforta ist von der „unendliche[n] Reihe der Dinge“ die Rede (DA 55), die im ‚Gedicht‘ durch die komplexen „Reihen mannigfaltiger Gedanken und Empfindungen“ abgebildet wird (RKW 987). Eine „Reihe der Hauptbegebenheiten“ organisiert alle Gedichte (HP 1003), in denen die „neue[] Ordnung“ der Wörter (DA 55) die Ordnung der Dinge ersetzt. Aus der linearen Struktur der Reihe entwickelt Klopstock das zweite Modell: die „Anordnung des Plans“ (GNP 994), die er nach Maßgabe der rhetorischen Produktionsphasen als Disposition des Gedichts einführt: Hier das Herz mit dieser Stärke zu bewegen, saget er [der Dichter, F.B.] zu sich, muß ich immer, und so steigen, daß jeder meiner vorhergehenden Schritte Vorbereitung sei. […] Es gehören diese Vorbereitungen ohnedies zu meinem übrigen Plane; und itzt will ich sie, aus dieser Ursache, so anordnen (HP 1003f.).
Mehr noch: Mit dem zweidimensionalen Riss eines Gebäudes oder eines Landschaftsraumes, für dessen Herstellung es eines geschickten Zeichners bedarf, überblendet Klopstock sogar die beiden Modelle des literarischen Textes –‚SchreibSzene‘ und ‚Schau-Platz‘: Es gibt eine Anordnung des Plans eines Gedichts, die einem Gebäude gleichet; und sie sollte einer schönen Gegend gleichen. Der Poet ist kein Baumeister; er ist ein Maler. Ich nenne ihn hier in einem andern Verstande einen Maler, als man diesen Ausdruck gewöhnlich nimmt. Ich rede von ihm, als von dem Zeichner seines Grundrisses. Wie wenig Kunst gehört dazu, eine gewisse Symmetrie gerader Linien zu machen. Durch die Zusammensetzung krummer Linien Schönheit hervorzubringen, erfordert eine andre Meisterhand (GNP 994).
Dass diesem Riss nicht nur in seiner Materialität – der Zeichnung – eine räumliche Zweidimensionalität zukommt, sondern dass der Plan durch das, was er aufreißt, an das topische Ordnungsmodell der rhetorischen Gedächtniskunst erinnert, unterstreicht den Stellenwert der Raummodelle für Klopstock. „So wählen sie“, gemeint sind die Mnemoniker, „denn Örtlichkeiten aus, die möglichst geräumig und recht abwechslungsreich und einprägsam ausgestattet sind, etwa ein großes Haus, das in viele Räume zerfällt“,48 um ihre Redegegenstände wie Bilder (imagines) in der räumlichen Struktur (loci) zu deponieren und bei Bedarf im Vortrag wieder abzurufen, erläutert etwa Quintilian; und Augustinus träumt: „Da komme ich denn in die Gefilde und die weiten Hallen des Gedächtnisses, wo die gehäuften Schätze sind der unzählbaren Bilder, die von Dingen aller Art meine Sinne mir zusammentrugen“.49 Klopstocks Rückgriff auf die Memorialtopik bestätigt nicht nur die Möglichkeit, Gedicht und Raum aufeinander abzubilden, der Plan markiert gleichzeitig auch die Schnittstelle von rhetorischem ordo und symbolischer Struktur, weil der Riss nicht 48 49
Quint. Inst. or., XI 2, 18. Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. lat.-dt. Übers. v. Joseph Bernhart. Frankfurt a.M. 1987, S. 503/507.
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den pragmatischen Anforderungen einer technischen Zeichnung, der ‚Symmetrie gerader Linien‘, zu entsprechen hat, sondern metaphysischen Anforderungen der Kunst: der Schönheit. In der Aufwertung der Rhetorik in Bezug auf Klopstocks Poetik stellt sich bei Benning eine gewisse Betriebsblindheit ein, wenn sie diese poetologischen Reflexionen „von der Frage nach der substantiellen moralischen bzw. vernünftigen Wahrheit“ abkoppelt „und mit dem Blick auf die praxisbezogene Wahrscheinlichkeit der überzeugenden Rede vom rhetorischen Produktionsmodell her“ aufrollt.50 Wie Baumgarten übersetzt nämlich auch Klopstock in seinen poetologischen Fragmenten Rhetorik (symbolische Struktur) in Metaphysik (Schönheit), ohne sich um die zwei Jahrtausende währende Feindschaft zwischen Rhetorik und Philosophie weiter zu scheren. Klopstock überschreibt das rhetorische Modell schlichtweg mit einer Reihe metaphysischer Begriffe. Von einer Ablösung der Rhetorik oder ihrem Ende lässt sich bei diesem Verfahren allerdings nicht sprechen, viel eher schon von einer metaphysischen Wendung der Rhetorik. Denn Klopstocks Dichtung „will im umfassenden, normativen Sinne Wahrheitsverkündung sein“, bemerkt Kaiser.51 Mit den ‚wahren Regeln‘ der Dichtung steht eine der logischen Wahrheit gegenüber autonome Wahrheit zur Diskussion. Das ‚Gedicht‘ ist in der Lage, „neue Wahrheiten“ darzustellen (AGD 210), auf die es nur den ‚gefühlten‘ Zugriff gibt, sodass Klopstock, ähnlich wie die Schweizer, das „Wahre des Verstandes“ vom „Wahre[n] der Einbildungskraft“,52 bzw. wie Baumgarten die logische von der ästhetischen Wahrheit qualitativ – nicht graduell – unterscheidet.53 Diese disziplinäre Erweiterung macht aber vor allem deutlich, dass Klopstocks Interesse am Gedicht einer ‚Gesamttextstruktur‘ – der symbolischen Komposition – gilt, nicht bloß der symbolischen Struktur des Gedichts an dessen unbegrifflichen Stellen. Folgt man nämlich der Aussage, der Dichter sei kein Baumeister, sondern ein Maler, noch ein wenig weiter, ereignen sich über den propositionalen Gehalt dieser Aussage hinausgehende Effekte, die einer genaueren Betrachtung lohnen. Der Begriff des Baumeisters steht in einer engen metonymischen Beziehung zum „Gebäude“, der Begriff des Malers zur „schöne[n] Gegend“, obwohl Klopstock „Maler […] in einem andern Verstande“ gebraucht wissen möchte, „als man diesen Ausdruck gewöhnlich nimmt“ (GNP 994); er – der Maler – sei ein ,Zeichner seines Grundrisses‘. Nach dieser metonymischen Verschiebung der Begriffe bilden die vier Elemente einen Chiasmus: Baumeister / Maler – Maler / Zeichner – einen Chiasmus, in dem der Baumeister und der Zeichner einander gegenüberstehen. Beide treffen am Ende der Klopstockschen Reflexion im Begriff ,Meisterhand‘ aufeinander, der aus dem zweiten Teil des Wortes ,Baumeister‘ und dem metony-
50 51 52 53
Benning: Rhetorische Ästhetik, S. 13. Kaiser: Denken und Empfinden, S. 17. Breitinger: Critische Dichtkunst, S. 139. Vgl. 2. Teil, 2.1.2 Wahrheit.
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mischen Ersatz für den Zeichner: Zeichner – Zeichnen – Hand, zusammengesetzt ist (vgl. HP 998). In dieser Konzentration auf die vom Körper isolierte Hand offenbart sich eine „fetischisierende[] Überhöhung“ der Spur, welche die Hand auf dem Plan hinterlassen hat – eine Überhöhung der ‚Zusammensetzung krummer Linien‘,54 mit der Klopstock Anleihen bei Hogarths metaphysischer Schönheitslinie (line of beauty) macht. Hart an der Grenze zum Tropus – ‚Meisterhand‘ im übertragenen Sinn als ‚Können‘ verstanden – wird die Hand in dieser Nahaufnahme zur formalen Funktion. Diese organisiert „die Verbindung und die abgemeßne Abwechslung“ der „Szenen“ zu einem „Ganzen“ (HP 1003), in dem „[g]ewisse Wahrheiten […] uns so offenbart [sind], daß sie so viel Winke zu sein scheinen, weiter über diese Wahrheiten nachzudenken“ (HP 1006). Obwohl das „Genie […] des Poeten“ – hier verwendet Klopstock den Begriff des Genies in der frühaufklärerischen Bedeutung von ‚technischer Fertigkeit‘ – für den „Teil des Entwurfs“ zuständig ist, wie sein „Geschmacke“ für dessen „Ausbildung“ (HP 999), wird diese ‚Verbindung‘ nicht mehr durch das rhetorische aptum geregelt. Denn auf den „Grundriß des Ganzen“ wendet Klopstock den Vollkommenheits-Topos ‚Einheit des Mannigfaltigen‘ an, den er aus der Metaphysik in die Poetik übersetzt:55 Das Wesentlichste dieses Grundrisses ist, Einfalt und Mannigfaltigkeit auf eine Art verbinden, die großen Endzwecken angemessen ist; […] die Hauptgegebenheiten Hand in Hand so auf einem Schauplatz fortleiten, daß die Episode immer um sie und neben ihnen ist, und sich so wenig jenseits der Berge verirrt, daß sie sich vielmehr oft in die Reihe der Hauptbegebenheiten einflicht (HP 1003).
Damit rückt die symbolische Struktur des ‚Ganzen‘ in den Vordergrund der Schönheit. „Auch das gehört zu dem V o l l e n d e t e n einer Schrift, daß alles darinn Beziehungen und Verhältnisse unter sich habe“, heißt es in der Deutschen Gelehrtenrepublik (GR 82). Doch versucht Klopstock keineswegs „die angeschlagene moralische Dimension“ des Gedichts „durch Re-Substantialisierung und Überbietung zu retten“, wie Menninghaus behauptet.56 Vielmehr trifft Klopstock auf das Problem, wie ein Gedicht schön sein kann, während die Sprache allenfalls zur imaginären Vergegenwärtigung schöner, weil nämlich sichtbarer Objekte beitragen kann – im Idealfall bis hin zur „Täuschung“ (GR 172).57 Die Antwort auf diese Frage führt zum letzten Raummodell, das Klopstock für das Gedicht entwickelt – zum Labyrinth. Mit ihm erreicht man gewissermaßen das Ziel der Dreierreihe, mit dem Klopstock die Synthese von Raum und Zeit in ihrer Zusammenschau gelingt. Im Labyrinth verbindet er nämlich die räumliche Anschauungsform der ‚Reihe‘ 54
55 56 57
Vgl. Stephan Kammer: Reflexionen der Hand. Zur Poetologie der Differenz von Schreiben und Schrift. In: Davide Giuriato u. ders. (Hg.): Bilder der Handschrift. Basel u. Frankfurt a.M. 2006, S. 131–161. Vgl. 2. Teil, 2.1.1 Vollkommenheit. Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 317. Vgl. 2. Teil, 2.2 Die Medialität des Schönen.
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von Elementen und des ‚Planes‘ eines ‚Ganzen‘ mit der zeitlichen Anschauungsform des Tanzes. Man könnte daher überlegen, ob dieses Modell nicht die metaphysische Antwort auf die erst psychologisch, dann rhetorisch / poetologisch reflektierte symbolische Struktur des Gedichts ist. Denn der in Erscheinung tretenden „Tanzkunst“ gesteht er vor allen anderen Künsten Schönheit zu (RKW 991). Den Alten gilt der Baumeister Daidalos sowohl als Erfinder „des LabyrinthGebäudes wie auch des Labyrinth-Tanzes“. Die „charakteristische Pendelbewegung“ dieses Tanzes wird durch den Grundriss des Labyrinths abgebildet,58 sodass räumliche und zeitliche Anschauungsformen im Labyrinth stets zusammenfallen. Unabhängig davon, ob der quadratische Mäander oder aber die Doppelspirale für die Grundform des Labyrinths gehalten werden, stets bleibt die Linearität der ‚Reihe‘ im dreidimensionalen Modell wirksam, sie verschlingt sich in der Bewegung zum Ornament, dessen „Grundbestimmung“ im „Ausschluß des Bildhaften“ liegt: „[E]inem Mäander kann weder ein Oben noch ein Unten zugesprochen werden noch eine Richtungsfixierung“,59 weil er in einer ständigen Bewegung begriffen ist. Drügh weist deshalb darauf hin, dass der Komplex Labyrinth-MäanderTanz „systematisch in die Nähe der manieristischen figura serpentinata gerückt wurde“,60 jenes „S-Schwunges“, den man mit seinem „Hin und Her des Bewegungsflusses“, so Maurer, in ästhetischen Traktaten seit dem 16. Jahrhundert immer wieder empfohlen und variiert findet – nicht zuletzt natürlich in Hogarths Schönheitslinie (line of beauty).61 Schließlich setzt Klopstock nicht nur den Tanz als Allegorie des Gedichts (vgl. RKW 991), den Tänzer als Personifikation der energetischen Funktion ein, sondern er erhebt das Tanzen via negationis zum Maßstab der Schönheit schlechthin: „Ein Gedicht ohne Darstellung […] ist ein Tänzer, der geht“ (GR 171). In dieser Verzeitlichung des Raumes oder Verräumlichung der Zeit entsteht eine einzige, doppelte Anschauungsform des schönen Gedichts. In verschiedenen Varianten greift Klopstock die Korrelation der räumlichen mit der zeitlichen Anschauungsform wieder auf. In den 1760er Jahren dominiert Klopstocks vieldiskutierte Leidenschaft für das Eislaufen,62 das in der Selbstinszenierung des Autors eine wichtige Rolle spielt, vor allem in den Briefen und poetologischen Oden. In den sogenannten Eislaufoden verschränkt Klopstock den ‚SchauPlatz‘ mit der ‚Schreib-Szene‘, indem er die Reflexion auf Sprachlichkeit, Instrumentalität und Körperlichkeit poetischen Schreibens aufs Eis verlegt. Handlung und Personal der Oden werden dabei selbstreflexiv aufeinander bezogen, sodass 58 59 60 61 62
Hermann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. 4. Aufl. München 1999, S. 49. Vgl. Homer: Ilias, 18, v. 590–606. Günter Irmscher: Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornaments seit der Frühen Neuzeit (1400–1900). Darmstadt 1984, S. 7f. Drügh: „Allenthalben auf seiner Oberfläche“, S. 151. Emil Maurer: Manierismus. Figura serpentinata und andere Figurenideale. Studien, Essays, Berichte. München 2001, S. 37. Vgl. Hilliard (1989); Menninghaus (1989); Albert (1994); Mülder-Bach (1998); Amtstätter (2005) u.a.
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„Eiskunstlauf, Tanz und Dichtung“ – die ‚Seele‘ nicht zu vergessen – „im Zeichen der Schlangenlinie“ zu Synonymen werden63 und Cramer Klopstock sogar einen „Eisnoverre“ nennt.64 In der Begeisterung für dieses exotische Modell übersieht die Forschung allerdings einen wichtigen Punkt. Ohne räumliche Grenzen – Klopstock vermisst sie im Übrigen auch auf dem gern zitierten Feld, auf dem das „Wortlose“ umherwandelt „wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehnen Götter“ (D 1036f.) – würde Klopstock zwar eine Bewegung, aber keinen Tanz aufführen. Denn die das Eis spurenden Schlittschuhe tragen den Dichter nicht nur „pfeilschnell“ davon, sondern in einem „schlängelnden“, „halbkreisend[en]“ Bogen auch immer wieder zurück.65 In dieser doppelten, ebenso exzentrischen wie konzentrischen Bewegung kommt es erst zur „gefühlte[n] Harmonie“ des Gedichts (HP 1003) – eines Gedichts, das Klopstock mit Hilfe des ‚Schau-Platzes‘ nicht nur als symbolische Struktur, sondern als symbolische Komposition bestimmt. 1.4 Körper Mit der ‚Schreib-Szene‘ und dem ‚Schau-Platz‘ vermittelt Klopstock seine Rede über das Gedicht, die so wie Baumgartens Rede auf dem Doppel von Denken und Darstellen auf demjenigen von Seele und Text basiert. Dort, wo die Argumentation psychologisch verfährt, entwirft Klopstock eine ‚Schreib-Szene‘, die dem Gedicht eine zeitliche Anschauungsform unterlegt. Dort, wo die Argumentation metaphysische Interessen verfolgt, entsteht ein ‚Schau-Platz‘, der dem Gedicht eine räumliche Anschauungsform unterlegt – eine räumliche Anschauungsform, der Klopstock im Modell des Labyrinths die zeitliche Anschauungsform der Bewegung integriert. Die Zusammenschau beider Anschauungsformen führt Klopstock – der Weg ist metonymisch gespurt – freilich immer wieder von der Gravur (im Wachs), der Spur (auf dem Eis) und der (Schlangen-)Linie des Labyrinth-Tanzes zum Agenten von Gravur, Spur und Linie – zum Körper der Bewegung eben: „Ein Gedicht ohne Handlung und Leidenschaft ist ein Körper ohne Seele“ (GR 171). Damit verlagert sich das Interesse an der symbolischen Komposition ganz von deren psychologischen und metaphysischen auf ihre rhetorisch / poetologischen sowie semiotischen Aspekte. Nicht nur in den Eislaufoden setzt Klopstock „die getrennten Systeme des Körpers und der Sprache“ in eins, indem er im „Körper etwas Sprachhaftes, KörperSprachliches […], d.h. etwas Sprachanaloges“ erkennt und etwa im Hinblick auf 63 64
65
Gerhart von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlage neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes West-östlichen Divan. Stuttgart u. Weimar 1994, S. 88. Carl Friedrich Cramer: Klopstock. In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa. Bd. 2: Fortsetzung. Bern 1971 [ND d. Ausg. Hamburg 1777], S. 278. Den Hinweis auf Jean George Noverres Lettres sur le danse et sur le balett (1760) verfolgt: Amtstätter: Beseelte Töne, S. 16– 27. Cramer: Klopstock, S. 278.
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die Ode Braga (1771) behauptet:66 „Ihr Silbenmaß bildete ich auf dem Eise nach meinen Bewegungen“.67 Auch die Bewegung des Wortlosen auf dem Schlachtfeld imaginiert im Darstellungs-Fragment einen (unsichtbaren) Körper als Medium dieser Bewegung, der bei Klopstock zur zentralen Allegorie des Gedichts wird. Diese Allegorie verbindet die berühmten Fragmente Über Sprache und Dichtkunst von 1779/1780 mit denjenigen der 1750er und 1760er Jahre. So heißt es bereits in der Messias-Vorrede über die symbolische „Schreibart“ der Bibel: „Die Religion ist, in der Offenbarung selbst, ein gesunder männlicher Körper. Unsere Lehrbücher haben ein Gerippe daraus gemacht“ (HP 1005), während der weibliche Körper dessen Zerrbild darstellt, weil er weder „Statue“ noch „Bildung“ hat: „Die eine Hand ist zu groß; der eine Fuß zu breit. Die Gelenke sind geschwollen. Sie hat nichts Fleischiges, kein Leben“ (SP 1023). Die Tatsache, dass Klopstocks Körper ein Sprach-Körper ist, heißt aber noch lange nicht, dass das ‚Gedicht‘ in einer Art und Weise belebt wird, die es zu etwas anderem als zu einem Text macht. Im Gegenteil, der Körper dient Klopstock als Modell für die Medialität des Gedichts – als ein Modell, das nun die räumliche Anschauungsform mit dem Medium der Schrift und die zeitliche mit demjenigen der Stimme verbindet, wie es auch Baumgartens ästhetische Theorie vorsieht. 1.4.1 Komposition Im „Phantasma des ‚lebendigen‘ Körpers“ erkennt Mülder-Bach ein symbolisches Äquivalent zur rhetorischen actio – zur Körpersprache.68 Eine so verstandene phantasmatische Verkörperung erzeugt ihre Präsenzeffekte nicht durch die Sprache, sondern tritt als sprachliches Ereignis in Erscheinung. Mit diesem Argument der Materialität baut Mülder-Bach die Brücke, die von Klopstocks Darstellung zu Kants Hypotypose führt – und nur deshalb nicht zu Baumgartens ‚scientia sensitive cognoscendi & proponendi‘, weil Mülder-Bach sie ganz offenbar nicht für wichtig hält.69 Sowohl Baumgarten als auch Kant stoßen auf jenen „genuin symbolischen Überschuß […], der durch die Sprache allererst hervorgebracht wird und folglich jenseits der Sprache keinen Bestand hat“. Dadurch öffnet sich Klopstocks „Poetik der Darstellung auf eine neue theoretische Kategorie“.70 Auch bei Klopstock fungiert ‚Darstellung‘ daher als Suchbegriff nach den materialen Aspekten des Gedichts. Der Begriff hebt nämlich „am Zeichenprozeß anderes hervor als die Ordnung des Repräsentationalen“,71 erwägt Mersch, indem er das „Paradigma der
66 67 68 69 70 71
Amtstätter: Beseelte Töne, S. 161. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke. Bd. I: Oden, Leipzig 1798, S. 328. Vgl. Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 177. Vgl. ebd., S. 232–236. Ebd., S. 202. Mersch: Paradoxien der Verkörperung, S. 34; Vgl. 2. Teil, 1.3 Rhetorische Übersetzung.
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Repräsentation und der zeichenfreien Vorstellung“ im Horizont der Darstellung zum Paradigma der Performativität zu erweitern trachtet.72 Doch Klopstock rechnet nach ganz eigenen Regeln mit dem bewegten, lebendigen, dem animierten Körper, auf dessen Evokation er die Dichtung verpflichtet, damit die psychologische Wirkung auf den Leser „die Darstellung bis zur Täuschung lebhaft“ macht. Ein „Gedicht vergegenwärtigt das Abwesende, durch Hülfe der Sprache, in verschiedenen Graden der Täuschung“ (GR 172), lautet die der Illusionsästhetik des 18. Jahrhunderts verpflichtete Definition, die natürlich überhaupt kein Interesse an irgendeiner materialen Widerständigkeit hat, ganz im Gegenteil: Täuschung macht das Medium vergessen. Im Epigramm Beschreibung und Darstellung (1771) erinnert Klopstock zur Veranschaulichung dieser sprachlichen Vergegenwärtigung folgerichtig an den Pygmalion-Mythos, der davon erzählt, wie das Material – die Plastik – belebt wird: In der Dichtkunst, gleicht Beschreibung der Schönheit Pygmalions Bilde, Da es nur noch Marmor war; Darstellung der Schönheit gleicht dem verwandelten Bilde, Da es lebend herab von den hohen Stufen stieg. Geht hin in Tempel der Ehre, Bey den Malen umher der grauen Zeit, Bey den Malen der späteren Zeit umher, Und seht, wenn’s anders eurem Auge In des Tempels heiligen Dämmerung tagt, Wie viele der Male nur Bilder von Marmor sind, Wie wenige leben (E 19).73
Mit Hilfe des Vergleichs – ‚in der Dichtkunst gleicht‘ – schließt Klopstock von diesem Körper auf eine energetische Funktion der Sprache, was freilich zu einem Bruch mit dem illusionsästhetischen Mythos der Anschaulichkeit führt. Mit dem ‚lebendigen‘ Körper verlagert Klopstock sein Augenmerk vom Gegenstand, der vergegenwärtigt, auf das Medium, das diesen Gegenstand vergegenwärtigt. Qua Gegenwärtigkeit wird das Gedicht dabei selbst zum Körper – zu einem „fastwirkliche[n] Ding“, wie es im Darstellungs-Fragment später heißen wird (D 1035). Mülder-Bach schließt diese ‚Wirklichkeit‘ des Gedichts mit der Wirkung kurz, die es hervorbringt. „Nun ist ‚Wirkung‘ gewiß kein gegenständliches Produkt. Aber Klopstock hat sich alle Mühe gegeben, sie dazu zu machen“,74 weil er seine poetologischen Reflexionen im Aufführungsmodell der Rhetorik verankert. „Denn erst in seiner Poetik wird die irreduzible Zeitlichkeit sprachlicher ‚Gegenwärtigung‘ mit jenem anderen Aspekt der Poesie zusammengedacht, dem das pygmalionische Epigramm gewidmet ist. Körper, Bewegung und täuschende Gegenwart: Diese drei auseinanderstrebenden Momente sucht Klopstocks Darstellungstheorie 72 73 74
Menninghaus: „Darstellung“, S. 210. Friedrich Gottlieb Klopstock: Epigramme. In: HKA. Abt. Werke: II. Hg. v. Klaus Hurlebusch. Berlin u. New York 1982; zitiert mit der Sigle [E] und der Seitenzahl. Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 188.
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zu verschränken“,75 resümiert Mülder-Bach im Hinblick auf das theoretische Spätwerk, vor allem auf die Fragmente Über Sprache und Dichtkunst. Obwohl Mülder-Bach die ‚Lebendigkeit‘ des Gedichts an dessen Wirkung bindet, kommt sie nicht an der Tatsache vorbei, dass Klopstock die Performativität als Funktion des Gedichts behandelt. „Aus dem Vers erwachsen der Poesie jene Qualitäten, die Klopstock später als pygmalionische Elemente für die ‚Darstellung‘ beansprucht“.76 Es spricht also einiges dagegen, ‚Wirkung‘ für eine affektrhetorisch begründete, rezeptionsästhetisch gewendete ‚Wirklichkeit‘ zu halten. Nicht die ‚Wirkung‘ wird zum Körper, sondern das Gedicht als Medium, wobei die Kraft des Gedichts – die vis verborum, wie sie Scaliger in Anlehnung an Aristoteles als sprachliches Phänomen bestimmt77 – weit mehr als nur das Metrum umfasst. Nachdem Klopstock die zeitliche und die räumliche Anschauungsform des Gedichts in den Fragmenten bereits mit Hilfe der Modelle der ‚Schreib-Szene‘ und des ‚SchauPlatzes‘ inszeniert hat, versieht er beide Anschauungsformen nun mit einem medialen Index: die räumliche Anschauungsform mit dem Index der Schrift, die zeitliche mit dem der Stimme. Beide Anschauungsformen sorgen dafür, dass sich Klopstock mit dem Gedicht für das Medium des geschriebenen Textes interessiert – des schriftlichen Textes, dem er die Stimme implementiert: Wenn die A u s s p r a c h e , die S t i m m e , die K e n t n i s , die E m p f i n d u n g , und die B e g e i s t e r u n g in einem G e d i c h t e , das ein Gedicht ist, Hand in Hand, einen Tanz halten: so stehest du in einem Zauberkreise, und kanst da nicht eher heraus, als bis die Tänzerinnen ausruhn (GR 69).
Klopstocks Reflexionen über das Gedicht sind daher wie diejenigen Baumgartens auf das Medium des literarischen Textes zugeschnitten. Die Doppelung – ‚Gedicht, das ein Gedicht ist‘ – und der diese Selbstbezüglichkeit symbolisierende ‚Zauberkreis‘ verorten die Bewegung der Tänzerin in einem Raum, den nur die graphische Anordnung der Buchstaben und Zeilen bilden kann. „Während die Lautsprache trotz des akustischen Raums, den sie beansprucht, zumeist als ein Medium betrachtet wird, das sich nur in der Dimension der Zeit“ entfaltet, erläutert Nöth, „führt die Schrift zur Verräumlichung der Sprache“. Diese räumliche Dimension, die jeder Zeile eigen ist, entfaltet sich „durch den Zeilenumbruch […] im geschriebenen Text […] zu einem gänzlich zweidimensionalen Gebilde“.78 Ein solches Gebilde ergänzt die Möglichkeiten linearer Verknüpfungen um weitere, nicht an die Zeilenreihe – den Vers – gebundene. „Wenn man die non-verbalen Beziehungen, die zwischen Zeichen oder zwischen Gruppen von Zeichen auf einer Seite
75 76 77 78
Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 152. Ebd., S. 155. Vgl. Plett: Rhetorik der Affekte, S. 116. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2000, S. 358.
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bestehen, erfassen will, dann erfordert dies bisweilen ein nicht-lineares Lesen“.79 Auch wenn Klopstock nicht mit der „Aisthesis der Schrift“ selbst kalkuliert – mit jenem Köper der Schrift, „der droht, sich seiner Referenzfunktion zu entkleiden“ –, so setzt das ‚Gedicht, das ein Gedicht ist‘, „Medialität und Materialität der Schrift“ voraus, die der schöne, pygmalionische Körper der Stimme zu passieren hat.80 Insofern hat Mülder-Bach völlig recht, obwohl sie das Pygmalionische (Denk-)Mal mit der schriftlichen Notation verwechselt. „Schließlich benennt das Epigramm ausdrücklich die mediale Bedingung, unter der die poetische Darstellung ihr ‚Leben‘ zu entfalten hat: Es ist die Bedingung des sprachlichen ‚Mals‘, also der Schrift“.81 Den Umgang mit der Schrift vermittelt bei Klopstock noch ganz die Rhetorik; auch dieser Umstand verbindet seine poetologischen Fragmente mit Baumgartens ästhetischer Theorie.82 Hilliard hat nachgewiesen, wie stark der Einfluss des rhetorischen Systems auf Klopstocks poetologische Reflexionen ist, die in den 1750er Jahren auf den Disziplinen des Triviums: Rhetorik, Grammatik und Dialektik, aufbauen: „Where does the poet get his ideas from?“83 – mit dieser Frage klagt Hilliard die Aufmerksamkeit auf den rhetorischen Ursprung der Lehre von der Textkonstruktion und -komposition ein: In the seventeenth century, logic had leaped out in rhetorical and poetic invention; after the eclipse of logic, rhetoric itself remained – only that different aspects of the rhetorical theory moved to the fore. Not only was the eigtheenth-century psychology of aesthetic effect heavily indebted to rhetoric.84
Der Rhetorik sind also Klopstocks Fragmente verpflichtet. In diesem Zusammenhang führt Benning „die produktionsästhetischen […] Fundamentalverfahren INVENTIO und DISPOSITIO“ an. „Durch die Analyse der ordnungsbildenden Funktionen des IUDICIUM in der poetologischen Konzeption Klopstocks“ hofft sie, eine Lücke schließen zu können, welche die vorzügliche Darstellung des artistisch-topischen Verfahrens in Wilhelm Schmidt-Biggemanns Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft im Bereich der rhetorischen Ästhetik läßt.85
Iudicium – die „Schärfe des Urtheils“ (GR 83) – ist sicherlich das angemessene Mittel, mit dessen Hilfe ein Dichter seinen Gegenstand im „Gewimmel der Dinge“ 79
80
81 82 83 84 85
Jean Gérard Lapacherie: Der Text als Gefüge aus Schrift (Über die Grammatextualität). In: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt a.M. 1990, S. 69–88, hier S. 85. Susanne Strätling u. Georg Witte: Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität. Zur Einführung in diesen Band. In: Dies. (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München 2006, S. 7. Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 150. Vgl. 2. Teil, 1.5.1 Räumlichkeit. Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. 114. Ebd., S. 117. Benning: Rhetorische Ästhetik, S. 13.
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(GR 67) sucht. Tatsächlich findet er diesen Gegenstand nämlich nur im kulturellen Archiv – im Erfahrungsschatz –, sodass topisches (Er-)Finden (invenire) und dialektisches Urteilen (iudicare) bei Klopstock die Kehrseiten einer Medaille des Gedichts bilden. Unter Verzicht auf jegliche Originalitätsbekundung heißt es daher in der Deutschen Gelehrtenrepublik: Wer erfindet, sezt Vorhandnes auf neue Art und Weise zusammen. W i e du nun zusammensezest, und was zulezt, hast du’s bewerkstelligt, vor ein Zwek, Ziel, und Absicht daraus hervorblicken, das ist’s eben, worauf es dabey gar sonderlich ankomt (GR 67).
Diese „Arbeit“ der Zusammensetzung erfordert ein profundes Wissen (GR 83). Daher umstellt Klopstock das Gedicht mit dem Regelwerk, das die „Grammatici“ des Renaissance-Humanismus (GSD 1042), wie beispielsweise Scaliger in De causis linguae latinae, dem 18. Jahrhundert überliefert haben. Als Ursprung jeglichen Wissens schreibt die Grammatik das Wissen über die Wörter, über ihre Bildung, ihre Aussprache und Rechtschreibung, ihre Herkunft und Bedeutung vor. Nicht von ungefähr integriert Flusser diese alte Vorstellung eines sprachlichen Wissens dem Modell der ‚Schreib-Szene‘, die ich bisher nur in ihren technischen Aspekten berücksichtig habe: eine Oberfläche (Blatt Papier), ein Werkzeug (Füllfeder), Zeichen (Buchstaben), eine Konvention (Bedeutung der Buchstaben), Regeln (Orthographie), ein System (Grammatik), ein durch das System der Sprache bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache), eine zu schreibende Botschaft (Ideen) und das Schreiben.86
Für Klopstock spielt zunächst das Wissen über die historische Herkunft und Bedeutung der Wörter – die Etymologie – eine wichtige Rolle, wobei er mit dieser grammatischen Teildisziplin weniger die metaphysische ‚Lehre vom Wahren‘ als vielmehr ein „praktiziertes Sprachdenken“ betreibt, auf dessen Grundlage ein lexikalisches Element in seinen diachronen und synchronen Konstellationen betrachtet wird.87 Dadurch verwendet Klopstock das räumliche Modell des literarischen Textes für zweierlei: erstens für das (inter-)textuelle Erfahrungswissen, das die lexikalischen Elemente in einem topisch organisierten Speicher bewahrt, zweitens für das Gedicht selbst, das sich aufgrund seiner Strukturanalogie zu dem kulturellen Archiv auszeichnet. Dementsprechend beachtet Klopstock im Gedicht sowohl die syntagmatische „Verbindung“ als auch die paradigmatische „Stellung“ der lexikalischen Elemente (GR 71). Eine solche Etymologie kombiniert also das systematische Wissen über die Sprache mit dem historischen und erweitert den Anspruch der Wissenschaft gegenüber einer bloßen „Deklinations- und Konjugationsetymologie“ (ETA 970), für die Klopstock nur Hohn und Spott übrig hat.
86 87
Vilém Flusser: Die Geste des Schreibens. In: Ders.: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf u. Bensheim 1991, S. 39–49, hier S. 40. Willer: Orte, Örter, Wörter, S. 39.
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Gleichzeitig verzichtet Klopstock im Zuge dieses Selbstverständnisses immer wieder, beispielsweise im Fragment Von der Wortfolge (1779), auf die zu erwartende genieästhetische Originalitätsemphase, weil der Dichter „sogar das Wiederholte wiederholen, und dennoch neu sein“ kann (W 1051). „Bey der eigentlichen und vorzüglichsten Sprachkentnis kommt es darauf an“, so erläutert Klopstock, „daß man die Bedeutung der Wörter in ihrem g a n z e n U mf a n g e wisse“ (GR 71). Die Bedeutung eines lexikalischen Elements in ‚seinem ganzen Umfange‘ erweitert das Wörterbuch einerseits um eine diachrone, andererseits um ein synchrone Dimension, unterliegt die Semantik doch nicht nur historischen Veränderungen, die es zu berücksichtigen gilt, sondern auch dem Kontext, in den ein lexikalisches Element eingebettet ist, sodass die Anforderungen an den Kenntnisstand des Dichters erheblich gesteigert werden: Gleichwohl muß eine genaue Kenntnis aller Bestimmungen dieser Zeichen, die sie haben, und durch gewisse neue Stellungen haben können, zu erlangen, eine von den vornehmsten Beschäftigungen eines guten Dichters und eines Lesers sein (GNP 995).
Kein Wunder also, dass der Dichter permanent an den Grenzen des Wissbaren arbeiten muss. Denn er „begreift unter andern den Sinn in sich, den ein Wort, in der oder jener Verbindung der Gedanken, auch haben kann“, ja er weiß außerdem, „was ein Wort nicht bedeuten“ darf. Das führt mitunter sogar dazu, dass sich die Bedeutung des lexikalischen Elements der Kontrolle ganz entzieht: „Manche Wörter wimmeln, (ich rede besonders von unsrer Sprache) von vielfachen Bestimmungen der Hauptbedeutung oder Hauptbedeutungen“, das heißt von den konventionalisierten Bedeutungen des Lexikons, die im Laufe der Geschichte angereichert werden; „manche haben überdieß eine gewisse Biegsamkeit noch neue Bestimmungen anzunehmen, vorausgesezt, daß die Stelle, wo sie stehen, es erfodre [sic!], oder wenigstens zulasse“ (GR 71). In diesem Sinn bestimmt Klopstock in dem späteren dichtungstheoretischen Fragment Vom edlen Ausdrucke (1779) das Wörterbuch der Sprache selbst als externalisierten Speicher des kollektiven Gedächtnisses: Die Sprache eines Volkes bewahrt seine Begriffe, Empfindungen, Leidenschaften, dies alles oft bis zur feinsten Nebenausbildung, wie in einem Behältnis auf. Man könnte das Aufbewahren die Seele der Sprache nennen (EA 979).
Mit den Aspekten von ‚Stellung‘ und ‚Verbindung‘ werden für Klopstock zwei Disziplinen wichtig: Einerseits die Grammatik, in der er der ars combinatoria ihre Spielregeln diktiert – diese Disziplinen baut er in den Grammatischen Gesprächen (1794) zu einer Poetik der Grammatik aus –, andererseits die Rhetorik, und zwar diejenigen Teile, die an der Systemstelle des Ausdrucks (elocutio)88 die Regeln für 88
Die große Schnittmenge der Begriffe verfolgt Mülder-Bach ausführlich. Im Zeichen Pygmalions, S. 179–183. „Der Ausdruck bleibt nicht, was er war“, elocutio, „weil er als symbolisches Äquivalent der rhetorischen actio selbst theatralische Qualitäten gewinnt“ (S. 182). Zur Perio-
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Addition, Subtraktion, Permutation und Äquivalenz festhalten.89 Klopstock behandelt nämlich stets die Verbindungen mehrerer Wörter, angefangen bei der Wiederholung über das rhetorische Kolon90 bis zum ganzen Satz: „Ich nehme an, daß die Wörter des Perioden und die Ordnung derselben, der Handlung, die der Periode ausdrücken soll, gemäß sind“ (SP 1022). Innerhalb dieser syntaktischen Struktur sind sämtliche Elemente „dem Gedanken, den sie ausdrücken sollen, alsdenn erst angemessen, wenn sie an der rechten Stelle stehn“ (SP 1021). Um eine explizite Figuralrhetorik, welche die Regeln der rhetorisch-syntaktischen Verknüpfungen systematisiert, klassifiziert oder auch nur sammelt, ist Klopstock indes nicht bemüht, obwohl seine Argumentation immer wieder von Deskriptionen, Narrationen und Allegorien ihren Ausgang nimmt. Der Gedanke, dass das kühne Spiel der kombinatorischen Fügung dabei stets vom Unsinn bedroht ist, begleitet Klopstocks Überlegungen seit den 1750er Jahren. Denn je mehr Variablen sich im syntaktisch und rhetorisch regulierten Kombinationsspiel befinden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, alle Bedeutungseffekte kontrollieren zu können: Die Regel der zu verändernden Wortfügung ist die: Wir müssen die Gegenstände, die in einer Vorstellung am meisten rühren, zuerst zeigen […], die Wörter anders, als nach der gewöhnlichen Ordnung der Prosa zusammenzusetzen. […] Eine fast unmerkliche Verändrung der Wortfügung möchte auch denen Stellen manchmal angemessen sein, wo wir zwar vornehmlich beschäftigt sind, den Verstand zu unterhalten, aber uns auch erinnern, daß wir es als Poeten tun müssen (SP 1021f.).
In der Konsequenz führen Klopstock diese Beobachtungen zu den semantischen Effekten der Verknüpfung, weil die „geänderte Verbindung“ der Wörter auch deren Bedeutung verändert (SP 1022). Wenn Klopstock diesen Ansatz im Fragment Von der Darstellung (1779) wieder aufnimmt, dann geht er sogar noch einen Schritt weiter, denn dann vermittelt die syntaktische Struktur sogar etwas, für das es selbst kein Wort gibt: Der Dichter kann diejenigen Empfindungen, für welche die Sprache keine Worte hat, oder vielmehr nur (ich sage dies in Beziehung auf den Reichtum unserer Sprache) die Nebenausbildungen solcher Empfindungen, er kann sie, durch die Stärke und die Stellung der völlig ausgedrückten ähnlichen, mit ausdrücken (D 1036).
Es liegt auf der Hand, dass Klopstock die Analyse der Perioden auf den Text ausweitet und dabei auch dessen materiale Beschaffenheit berücksichtigt. Denn was hat stärkeren Einfluss auf die Stellung eines Wortes als dessen graphische Positio-
89 90
disierung des 18. Jahrhunderts nach Performanz – Repräsentation – Ausdruck vgl. Wellbery: Lessing’s Laocoon. Vgl. Quint. Inst. or. IX 3. Vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 94; dies.: Rhetoric, the Bible, and the Origin of Free Verse. The Early ‘Hymns’ of Friedrich Gottlieb Klopstock. Berlin u. New York 1990, S. 62 pass.
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nierung, mit der daher auch eine Reihe von Figuren wie beispielsweise Anapher, Epipher, Symploke oder Chiasmus kalkulieren? Albertsen erklärt, dass Klopstock aus diesem Grund die „Freien Rhythmen“ erfunden hat, in denen die zeitliche Anschauungsform außer Kraft gesetzt wird, weil freie Verse „keine eindeutige akustische Aktualisierung besitzen müssen“. Stattdessen treten die graphischen Elemente im ‚Gedicht‘ in einer rein „mathematisch-optischen Weise“ in Erscheinung.91 Die dabei entstehenden „[r]adikalen Enjambements“ in den Oden der 1750er Jahre zeigen,92 dass Klopstock mit seiner Poetik der Grammatik eine Poetik der Graphik vorwegnimmt, zu der erst die Historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts wieder aufschließen. Die Spuren, die Klopstocks historischer Zugang zur Sprache in den poetologischen Fragmenten hinterlässt, lassen sich vor allem in den semiotischen Bruchstücken nachweisen. Diese tragen den Konflikt zwischen der rationalistischen Semiotik, in der die Bedeutung eines Wortes (Ausdruck) der Vorstellung (Gedanke) entspricht,93 die es repräsentiert, und der pragmatischen Semiotik aus, in der Bedeutung eine kontextabhängige Größe ist. In einer Reihe einschlägiger Allegorien memoriert Klopstock die rationalistische Sprachauffassung, wenn er beispielsweise die Sprache mit einem „Schatten“ vergleicht, der sich „mit dem Baume bewegt“ (GNP 994; vgl. GR 67), oder mit einem anschmiegsamen Kleid: „Wie dem Mädchen, das aus dem Bade steigt, das Gewand anliegt, so solt es die Sprache dem Gedanken“. Der Nachsatz verzerrt freilich das rationalistische Ideal semiotischer Transparenz in bemerkenswerter Art und Weise: „und gleichwol immer noch zehn Röcke über einander, und ein Wulst darunter“ (GR 66). In dem Moment, in dem das Gewand den Körper vermummt, scheint Klopstock auf die Disproportionalität von Gedanke und Ausdruck aufmerksam zu werden – gewissermaßen auf den Überschuss an Bekleidung. Dieser Überschuss verstellt den Blick auf den schönen, weiblichen Körper, dessen Konturen durch das vom Bade nasse Kleid dem Betrachter gerade noch offenbart worden sind. Die Relation von res und verba beschäftigt Klopstock allenthalben. Beim sogenannten „Idiotismos“ stößt er darauf, dass ein Gegenstand nicht in jeder Sprache denk- und ausdrückbar ist (SP 1024), und schließt auf das Verhältnis von Ausdruck und Vorstellung: Es ist nichts gewöhnlicher, als daß man den Ausdruck mit dem Gedanken verwechselt. Man sagt: Es ist eben der Gedanke; es ist nur ein andrer Ausdruck. Und der Gedanke wird doch geändert, sobald der Ausdruck geändert wird (GNP 995).
91
92 93
Leif Ludwig Albertsen: Poetische Form bei Klopstock. In: Kevin Hilliard u. Katrin Kohl (Hg.): Klopstock an der Grenze der Epochen. Mit Klopstock-Bibliographie 1972–1992 v. Helmut Riege. Berlin u. New York 1995, S. 69–79, hier S. 68f. Vgl. ders.: Freie Rhythmen. Rationale Bemerkungen im allgemeinen und zu Klopstock. Aarhus 1971. Albertsen: Poetische Form bei Klopstock, S. 76. Vgl. 2. Teil, 1.4 Semiotische Übersetzung.
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Deshalb betreffen „Regeln des Ausdrucks“, die in der „Grammatik“ wurzeln (SP 1025), auch die Beziehung von Wort und Gegenstand. Klopstocks Wörter entstehen weniger dadurch, dass sie für einen Gedanken stehen, als vielmehr dadurch, dass sie alte Einheiten zu neuen kombinieren, die auf einen Gedanken zeigen. Komposita, worterzeugende Präfixe sowie Neologismen tragen dem Prinzip der Zusammensetzung zu einem Ganzen Rechnung – einem Ganzen, das unter rhetorisch-semiotischen Gesichtspunkten die Vollständigkeit des Ausdrucks markiert, unter metaphysischen die Vollkommenheit. „Wenn wir“ Gedanken „ausdrücken; so müssen wir Wörter wählen, die sie ganz ausdrücken“ (GL 1019). Das gelingt vor allem solchen „Wörtern“, „die mit Geschmack zusammengesetzt sind“ (SP 1020), konstatiert Klopstock. Diese Semiotik setzt eine intelligente Funktion des Zeichens voraus, die permanent die materiale Basis mit dem (unerreichbaren) Ziel abgleicht: „Der Leser“, erläutert Klopstock diese Funktion, „macht besonders hier eine beständige, zwar sehr schnell gedachte, aber dennoch genaue Vergleichung zwischen dem Gedanken und dem Worte. Er fühlts, was wir haben sagen wollen, was wir gesagt und was wir nicht gesagt haben“ (SP 1021). Vor allem „[d]ie deutsche Sprache“, führt Klopstock weiter aus, „die nun anfängt gebildet zu werden, hat noch neue Wörter nötig“ (SP 1020). Sobald diese zu einer komplexen, das heißt mindestens zweiwertigen Einheit verschmelzen, genügen sie der Forderung nach ästhetischem „Reichtum“, zu dem der rhetorische „Überfluß“ umgemünzt wird (SP 1023). Diese Generierung neuer, zusammengesetzter Wörter zu einer Textur – einem „Gewebe von feinen Bestimmungen“ (DH 107)94 – beschäftigt Klopstock so sehr, dass er später sogar eine kleine ars combinatoria der „zehn abwechselnden Verbindungen“ durch Präpositionen entwirft: „bei, an, in, vor, auf, unter, über, zwischen, neben und hinter“. Eine solche Kunst funktioniert nach den Gesetzen einer jeden topischen Inventionsmaschine: „Die abwechselnden Verbindungen haben auf die Fragen: Wann oder Wo die Abzweckung; und auf: Wie lange oder Wohin die Behandlung“ (VV 973). Mehr oder weniger, und das heißt quantitative Befunde, die Klopstock in qualitative ummünzt, unterscheiden schließlich auch die literarischen Gattungen voneinander, über deren Hierarchie Klopstock nicht die Spur eines Zweifels erkennen lässt. Es ist die poetische Sprache, die der prosaischen überlegen ist, weil sie schlicht und ergreifend mehr Abweichungen von der unmarkierten Sprache der Prosa aufweist. „Wenn man alle Stufen des prosaischen Ausdrucks hinauf gestiegen ist, so kömmt man an die unterste des poetischen. Die höchste prosaische und die letzte poetische scheinen sich ineinander zu verlieren“ (SP 1018). Diese poetische Sprache ist per se eine Kunstsprache, da sie qua rhetorischer Methode hergestellt werden muss: 94
Friedrich Gottlieb Klopstock: Vom deutschen Hexameter. Fragment. In: Ders.: Gedanken über die Natur der Poesie. Hg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt a.M. 1989, S. 60–156; zitiert mit der Sigle [DH] und der Seitenzahl.
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Die Sprache hat also für den Poeten weniger Wörter, und dies ist der erste Unterschied der Poesie und der Prosa. Wir erfinden ferner viele Wörter, die zwar, in dieser oder jener Art der Poesie, noch edel genug wären, die es aber für die Art, in der wir arbeiten, nicht sind; ein neuer Unterschied, mindestens für diejenigen, die in jener Art der Poesie schreiben (SP 1019).
Was „das Wort, das auch in der Prosa gebräuchlich“ ist, zu einem poetischen macht, sind die figuralen Operationen: „Eben wurde durch eine Silbe mehr oder weniger, durch Hinzusetzung, Wegnehmung, oder Veränderung eines Buchstabens“ wird ein Wort „zum poetischen Worte gemacht“ (SP 1017) – ein Argument, das, nebenbei bemerkt, jeder Kunstmetaphysik den Riegel vorschiebt und der strukturalistischen Abweichungspoetik des 20. Jahrhunderts Vorschub leistet. Nach dem Grad an Komplexität unterscheidet Klopstock nicht nur die Prosa von der Poesie, sondern er unterwirft die Poesie selbst einem kruden quantitativen Prinzip, indem er das Minimum an Komplexität in den Liedern sucht, das Maximum in der erhabenen bzw. heiligen Poesie wie dem Epos (vgl. HP 997 pass.): „Wir können hier einige Stufen der starken und der stärkern Empfindung hinaufsteigen. Dies ist der Schauplatz des Erhabnen“ (HP 1000). Mit dem Hinweis auf das Erhabene betont Klopstock noch einmal das quantitative Prinzip, mit dem er wie Baumgarten in seiner ästhetischen Theorie den Abschied vom rhetorischen Ideal der Evidenz einleitet.95 Wie der ‚Wulst‘ an Röcken den Blick auf den Körper nicht preisgibt, so verstellt das Erhabene wegen des materialen Überschusses den Blick auf den Gedanken – ein Widerstreit zwischen Begriff und Anschauung, aus dem Kant die Analytik des Erhabenen entwickelt.96 Auch Klopstock weiß bereits, dass „erhabne Gegenstände“ (GR 74) der „philosophischen Erkenntnis“ – nämlich „höher[e] Wesen“ wie beispielsweise Engel – „nach unsrer Art zu denken, auch für die Einbildungskraft gebildet“ werden müssen (HP 1008). Dabei hintertreiben die „feinere[n] Bestimmungen“ der symbolischen Komposition die „Deutlichkeit“ des Gedichts, die – wie Klopstock in der Vorrede zu den Geistlichen Liedern bemerkt – Gefahr läuft, abzunehmen: Die erhabne Schreibart hat feinere Bestimmungen als die gemilderte. Der Gesang ist daher einer hellern Deutlichkeit fähig als das Lied. Er bekömmt von der Kürze, dem Feuer, und der Stärke der Gedanken noch mehr Licht (GL 1012).
Wann immer Klopstock in gut illusionistischer Absicht der Anschaulichkeit des Gedichts das Wort redet, bricht sich in den Fragmenten eine gewisse Unentschiedenheit Bahn – eine Unentschiedenheit, die Hilliard durch seine akribische Analyse der visuellen Metaphorik in Klopstocks Argumenten mit dem Hinweis auf den „classical device of enargeia or evidentia“ beiseite schiebt. Nach dieser Voreinstellung ist es ein Leichtes zu behaupten: „Klopstock’s theory of ‘Darstellung’ could be found virtually ready-made in Quintilian; and if he did not find it in the 95 96
Vgl. 2. Teil, 1.5.2 Unanschaulichkeit. Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, §§ 23–29.
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original, the crucial passages were helpfully quoted and explained by Breitinger in his ,Critische Dichtkunst‘“.97 Doch die Grauzone, die sich bereits in den psychologischen Fragmenten zwischen Einbildungskraft und Empfindungskraft aufgetan hat, greift auch auf die ‚Bilder‘ über, in denen Einbildung und Empfindung widerstreiten: Der Verfasser des heiligen Gedichts ist hier auf eine ganz neue Szene der Einbildungskraft geführt. Hier kann er besonders seinem großen Zwecke am nächsten kommen, den Bildern solche Züge zu geben, daß er zugleich den Verstand beschäftigt, oder die Empfindungen des Herzens in Bewegung setzt (HP 1008).
Klopstock bestätigt das Gedicht in seiner Aufgabe, die Vernunftideen so zu veranschaulichen, dass die ‚Bilder‘ den ‚Verstand beschäftigen‘ und gleichzeitig die ‚Empfindung des Herzens‘ mobilisieren. Dabei steht das empfindende ‚Herz‘ wie beispielsweise im Wettstreits-Fragment zunächst neben der Einbildungskraft, wenn es dort heißt, dass die bildenden Künste, „die Bildhauerkunst, die Malerei, die Kupferstecherkunst“ durch ihre „Nachahmung unmittelbar auf die Sinne und durch ihre Hülfe zugleich auf die Einbildungskraft und aufs Herz wirken“ kann (RKW 983). Gelegentlich seiner Konzeption der enargeia folgend wechselt Klopstock jedoch immer wieder vom visuellen ins affektive Register und behauptet, dass erst die gefühlten Bilder zu deutlichen werden: Die Deutlichkeit der Rede stehet nicht allein mit dem Verstande, den Kenntnissen und der Aufmerksamkeit der Zuhörer in Verhältnissen; sondern auch mit den Gegenständen, die vorgestellt werden. Diese bestimmen nämlich, durch ihre verschiedene Beschaffenheit, die bei ihnen erreichbaren Grade der Deutlichkeit: Erhabne Gegenstände, wenn man sie von der rechten Seite angesehn und mit wahrem Gefühl ganz empfunden hat, können vorzüglich deutlich vorgestellt werden (GR 74).
Die „Grade der Deutlichkeit“ solch erhabener Bilder nehmen in dem Maße zu (GR 74), in dem Klopstock die Abbildungs- durch eine Empfindungsfunktion in der symbolischen Komposition ersetzt: „Das Erhabne, wenn es zu seiner vollen Reife gekommen ist, bewegt die ganze Seele“ (HP 1004). „On a higher level of abstraction“, erläutert Hilliard, Klopstock „therefore, will always speak of emotion and imagination in the same breath, as joint agents both in creation and recaption“.98 Diesen höheren Level erreicht Klopstock jedoch nicht dadurch, dass er die Evidenz der ‚Bilder‘ affektrhetorisch auf deren Wirkung verengt. Denn er argumentiert selbst dann figuralrhetorisch, wenn er die Beschreibung (descriptio) als Modus literarischer Bildlichkeit gegenüber dem bewegten, lebendigen Bild abwertet: Wenn die leblosen Dinge nicht in Bewegung, oder als in Bewegung, gezeigt werden; so ist das, was alsdann von ihnen gesagt wird, bloß B e s c h r e i b u n g . Und durch diese darf der Dichter den Leser nur selten ausruhen lassen (GR 171).
97 98
Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. 118. Ebd., S. 119.
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Dasselbe Verdikt trifft auch den Vergleich, den Baumgarten immerhin zur Matrix des Gedichts aufgewertet hat:99 Untersuchest du deinen Gegenstand nur in Vergleichung mit andern; so wird es bald um dich von kleinen und grossen Irthümern wimmeln; untersuchest du ihn aber allein und für sich; so kanst du bisweilen dahin kommen, daß du ihn ganz siehest, und du stehest dann, in Absicht auf die Erkentnis, e i n e S t u f e h ö h e r , als die Vergleicher (GR 75).
Dieses lebendige oder lebhafte Bild – Klopstock differenziert im Gegensatz zu Baumgarten nicht zwischen den beiden Attributen – führt zu der energetischen Funktion der symbolischen Struktur zurück, die Klopstock schon in den psychologischen Fragmenten mit dem Cluster ‚Trieb – Bewegung – Empfindung‘ bezeichnet hat und ihn vom Referenzmedium des Bildes zum Medium des geschriebenen Textes zurückbringt. Denn Klopstock gesteht der Malerei zu, dass sie ‚schnelle Vorstellungen‘ erlaubt, während die Dichtkunst eine ‚gewisse Zeit‘ in Anspruch nimmt: Die Malerey zeigt ihre Gegenstände auf Einmal; die Dichtkunst zeigt sie in einer gewissen Zeit. Die schnelle Vorstellung giebt jener so wenig einen Vorzug, daß diese vielmehr eben dadurch einen bekomt, daß man ihre Gegenstände nur nach und nach entdekt. Dort war der Eindruk z u s c h l e u n i g entstanden, um g e n u n g zu wirken (GR 171f.).
Das Argument der Zeitlichkeit markiert also ein Trägheitsmoment, das dem Gedicht aufgrund seiner dichten Verknüpfungen eignet. Innerhalb der symbolischen Komposition strebt Klopstock allerdings eine Erhöhung des Tempos an, damit die Verknüpfungen ‚schnell, groß und wahr‘ realisiert werden können. Dieses sportliche Motto, stellt Menninghaus fest, ersetzt bei Klopstock die „(pseudo) klassische Dreieinheit von schön, gut und wahr“,100 indem es für die Abwertung der simultanen Vergegenwärtigung qua visio steht. Ebenso ‚schleunig‘ wie das Bild den Blick auf den Gegenstand scheinbar medienneutral freigibt, verschwindet der schnelle Eindruck nämlich auch wieder. Den Eindruck der Schnelligkeit vermittelt also die Menge aktualisierter Verknüpfungen, was dazu führt, dass Klopstock die Zeit des Mediums von der Zeit der medialen Gegenwärtigkeit unterscheidet. Tatsächlich dehnt sich diese Zeit aus, je dichter die Verknüpfungen werden, und das heißt je opaker der Text wird; die Zeit vergeht gerade nicht wie im ‚Flug‘, sondern „eilt fort“ – und fort und fort: Der erste [Dichter, F.B.] erlaubt sichs nicht nur, sondern es ist eine von seinen Hauptpflichten, daß er schnell von einem großen Gedanken zum andern forteile. Er fliegt von Gebirge zu Gebirge, und läßt die Täler, wie schön und blumenvoll sie auch sein möchten, unberührt liegen (GL 1012).
99 100
Vgl. 2. Teil, 1.5.1 Räumlichkeit. Menninghaus: Dichtung als Tanz – Zu Klopstocks Poetik der Wortbewegung, S. 144. Vgl. Schödlbauer, Entwurf der Lyrik, Dritter Teil. Klopstock: Poetik der reinen Bewegung, S. 169– 231.
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1.4.2 Deklamation Mit der ‚Aktion‘ leitet Klopstock einen Wechsel des Referenzmediums für das Gedicht ein, den er unter dem Stichwort der Deklamation handhabt (vgl. GR 72), damit die Sprache nicht zur „Bildsäule“ erstarre, sondern „lebendig“ werden könne (DD 1049) – so wiederholt ein 1821 aus dem Nachlass veröffentlichtes Fragment Von der Deklamation die pygmalionische Szene des Epigramms von 1771.101 Was in der Argumentation als Referenzmedium fungiert – die Deklamation –, wird in der Forschung ohne Ausnahme mit einem Medienwechsel gleichgesetzt: mit dem Medienwechsel des Gedichts, das nun nicht mehr als räumliche Komposition „fürs Auge“, sondern als zeitliches „Ding fürs Ohr“ verhandelt wird (GR 126). Im Hinblick auf den mit der Deklamation einhergehenden Medienwechsel vom graphischen Medium des Textes zum akustischen Medium der Stimme schlussfolgert Menninghaus: Dabei ist immer zu berücksichtigen, daß Klopstocks Gedichte deklamiert werden wollen, in gehobenem Ton und mit einigem Pathos deklamiert, unter Hervorhebung und nicht unter Mäßigung der metrischen Schemata, deren Zäsuren oft in planvollem Kontrast zu Syntax und Semantik stehen.102
Dadurch rückt der „actus […] der Deklamation“ für Klopstock zur „‚eigentlichen‘ Daseinsweise des Gedichts“ auf.103 Mülder-Bach bemerkt zwar „eine latente Konkurrenz zwischen zwei Pygmalioniken: einer neuen Pygmalionik der lebendigen Bewegung und einer traditionellen der belebenden Stimme“, entscheidet sich aber für die einfache, den Konflikt herunterspielende chronologische Erklärung: „Während seine theoretische Aufmerksamkeit vor allem der ersten gilt, scheint er [Klopstock, F.B.] den pygmalionischen Wettstreit am Ende doch zugunsten der letzteren entschieden zu haben“.104 Klopstocks Gedichte warten jedoch nicht darauf, den Text-Raum in den KlangKörper zu entlassen. Im Gegenteil, die Stimme der Deklamation kalkuliert stets mit der Schrift. Das beginnt bereits bei dem Umstand, dass Klopstock die Bestandteile der Deklamation – „Klang“ und „Bewegung“ – der symbolischen Komposition integriert, sodass die Deklamation einerseits an die Stellung und Verknüpfung im geschriebenen Text, andererseits an die Bedeutung des Wortes gebunden bleibt:
101
Vgl. Frauke Berndt: ‚Mit der Stimme lesen‘ – F.G. Klopstocks Tonkunst. In: Waltraud Wiethölter, Hans-Georg Pott u. Alfred Messerli (Hg.): Stimme und Schrift. Zur Geschichte und Systematik sekundärer Oralität. München 2008, S. 149–171; Lothar van Laak: Sprachbildung und Musikalität. Zur ästhetischen Erfahrung bei Klopstock. In: Kevin Hilliard u. Katrin Kohl (Hg.): Wort und Schrift – das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Halle 2008, S. 221–239. 102 Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 269. Vgl. Hans-Heinrich Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock. München 1973, S. 19. 103 Menninghaus: „Darstellung“, S. 208. 104 Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 178.
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Zu den vielfachen Bestimmungen der Hauptbedeutungen gehört auch sanfter und starker Klang, langsame und schnelle Bewegung der Wörter, ja sogar die verschiedne Stellung dieser Bewegungen (GR 71).
Dadurch wird die konzeptualisierte Deklamation zur festen Größe der symbolischen Komposition: „Bisweilen darf uns sogar der dadurch zu erreichende Wohlklang veranlassen, die Wörter zu versetzen“ (SP 1022). Begriff, Klang und Bewegung bilden folglich in den poetologischen Fragmenten eine untrennbare Einheit, die Klopstock in seinen semiotischen Bruchstücken in die Triplizität des poetischen Zeichens übersetzt.105 In der Kritik der Urteilskraft unterscheidet später Kant die drei Zeichenfunktionen, die er wie Baumgarten von den drei Medien: der Dichtung, der bildenden Kunst und der Musik ableitet, damit Ausdruck, Anschauung und Empfindung – oder mit anderen Worten: Begriff, Bild und Ton – eine Einheit bilden. Kants Interesse an dieser Unterscheidung gilt der Art des Ausdrucks, dessen sich Menschen im Sprechen bedienen, um sich, so vollkommen als möglich ist, einander, d.i. nicht bloß ihren Begriffen, sondern auch Empfindungen nach, mitzuteilen. – Dieser besteht in dem W o r t e , der G e b ä r d u n g , und dem T o n e (Artikulation, Gestikulation, und Modulation). Nur die Verbindung dieser drei Arten des Ausdrucks macht die vollständige Mitteilung des Sprechenden aus. Denn Gedanke, Anschauung und Empfindung werden dadurch zugleich und vereinigt auf den andern übergetragen.106
Doch darf diese „Verklanglichung“ nicht darüber hinwegtäuschen,107 dass Klopstock – wie gesagt – keinen Medienwechsel von der Schrift zur Stimme vorsieht, sondern gewissermaßen eine ‚Stimme der Schrift‘ erfindet – und diese Stimme bleibt stumm. Die Möglichkeit für dieses Paradoxon eröffnet er in seinen semiotischen Fragmenten, in denen er den rationalistischen Zeichenbegriff mit dem Aufführungsmodell der Rhetorik konfrontiert. Das Ergebnis fasst er in der Deutschen Gelehrtenrepublik im Konzept der „doppelte[n] Tonbildung“ zusammen. Die erste „Tonbildung“ lehrt die „Bildung der Töne“ – der Laute –, die „zweyte Tonbildung“ viererlei: „1 D i e W i r k u n g e n d e s W o h l k l a n g s “, „2 D i e W i r k u n g e n d e s S i l b e n ma a s s e s “, „3 W i e v i e l d i e W ö r t e r a u s d r ü c k e n k ö n n e n “, „4 W a s d i e W ö r t e r n i c h t a u s d r ü c k e n k ö n n e n “ (GR 72). Vor allem der dritte und der vierte Punkt argumentieren in enger Anlehnung an Klopstocks Bedeutungslehre, das heißt sie problematisieren die nachträgliche Ausdrückbarkeit eines zuvor gegebenen Gegenstands. Die Aufgabe des Tons besteht darin – Klopstock argumentiert rationalistisch –, einen Gedanken zu bezeichnen. Wenn auch die „Töne“ nun „Zeichen der Gedanken sind, durch die Stimme […] gebildet“ (GR 72), dann aber muss Klopstock das Lautereignis auf ein konzeptualisierbares Datum beziehen. Erst ein solches Datum fixiert den Laut und identifiziert ihn so, dass er einen ‚Interpretanden‘ generieren 105 106 107
Vgl. Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002, S. 100–125. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 51, S. 258. Amtstätter: Beseelte Töne, S. 2.
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und zum ‚genuinen Zeichen‘ werden kann.108 Diese Aufgabe überträgt Klopstock der Schrift, deren Buchstaben die Wiederholbarkeit der diskriminierbaren Laute garantieren, indem sie an die Lautkonzepte erinnern. „Wir müssen“, führt Klopstock später Über Etymologie und Aussprache aus, „die Aussprache noch etwas näher bestimmen, insofern sie nämlich geschrieben werden kann“ (ETA 971). Eine solche Vorstellung wie diejenige der Skripturalität des Lautes erbt Klopstock ebenfalls von den humanistischen Grammatikern, auf die auch Baumgarten bei der Analyse der medialen Aspekte des Gedichts vertraut.109 Sie konzipieren nämlich das Distinktionsprinzip der Sprache auf der Grundlage einer wechselseitigen Abhängigkeit von Laut und Buchstaben110 – ein Konzept, das die orthographische Regulierung der Aussprache vorsieht, ohne eine strukturelle Symmetrie beider Medien zu unterstellen. Das Ergebnis dieser Form der Schrift-Lautlichkeit realisiert kein Lautereignis; den skripturalen Lauten der vox, die auch Baumgarten entdeckt, liegt vielmehr eine ideale Lautung zugrunde – ein Lautkonzept bzw. in rationalistischer Terminologie: die Vorstellung eines Lautes. Jeder Laut ist an dieser Matrix ausgerichtet, jeder verfehlt, was immer die Vorstellung war, sie notwendigerweise – doch jeder Buchstabe frischt trotz dieser notwendigen Verfehlungen das Ideal im Gedächtnis immer wieder auf.111 Vor diesem Hintergrund nimmt das Projekt einer einheitlichen Rechtschreibung des Deutschen für Klopstock nicht nur die Ausmaße einer national- und bildungspolitischen Mission an, sondern gilt ihm auch als ernste Angelegenheit der Dichtung:112 „Unter dieser Einschränkung also haben wir eine nicht landschaftische, sondern deutsche und von der Nation durch die allgemeine Orthographie dafür erkannte Aussprache“, die der „Rechtschreibung zum Grunde“ liegt und der „Aussprache“ (ETA 971). Deshalb besteht er auf dem „Hochdeutsche[n]“, der „Sprache der Skribenten, und der guten Gesellschaften“ (GSD 1040), auch wenn sich in Deutschland – anders als in Frankreich das kulturelle Zentrum Paris – keine „große Stadt […] als Richterin der rechten Aussprache“ hat durchsetzen können (GSD 1041). Durch den Anspruch auf eine Regulierung des Lautes lässt sich Klopstock sogar zu der spekulativen Frage verleiten, ob eigentlich die Stammwörter selbst „nicht aus anfangs unwillkürlichen, durch Verwechselung, und zuweilen wohl gar Auslassung der Buchstaben schon damals zu willkürlichen geworden waren“ (GS 968). Allerdings führt für ihn kein Weg ins Paradies zurück. Im Gegenteil, die Mutter-
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Vgl. Peirce: The Icon, Index, and Symbol, S. 156–173; und andere Schriften von Peirce. Vgl. 2. Teil, 1.4 Semiotische Übersetzung. Vgl. Gregor: Vox und littera, S. 311–315. Vgl. Christian Stetter: Schrift und Sprache. Frankfurt a.M. 1999, S. 41. Zu Klopstocks sprachwissenschaftlichen Schriften vgl. Renate Baudusch-Walker: Klopstock als Sprachwissenschaftler und Orthographiereformer. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Grammatik im 18. Jahrhundert. Berlin 1958; Burkhardt Garbe: Klopstocks Vorschläge zur Rechtschreibreform. In: Arnold (Hg.): Sonderband: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 45–58.
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sprache gilt ihm als ein historisches Datum auf dem fortschrittlichen Weg zur „männliche[n] und ungekünstelte[n] deutschen Sprache“ (SP 1026), auf dem das Mütterliche bzw. das als Bedrohung imaginierte Weibliche domestiziert werden muss. So finden sich beispielsweise im Fragment Zur Geschichte unserer Sprache (1779) bemerkenswert aggressive Allegorien über Defloration wie Kolonialisierung, wenn Luther als Erzieher der Sprache auf den Plan tritt: Unsere Sprache war bisher unter ihren Müttern den Mundarten (denn die Sprachen haben viele Mütter) mit der Wildheit unerzogner Kinder herumgeirrt. Luther, ein Mann, der finden konnte, suchte sie dort auf, und führte sie in sein Haus. Sie mochte damals etwa zwölf Jahr alt sein. Der gute Alte gewann sie gleich innig lieb. Er ging sehr freundlich mit ihr um. Denn sie war ein samftes und heftiges Kind. Er lernte von ihr; und lehrte sie auch wohl, mit aller seiner Freundlichkeit, versteht sich: aber wenn sie störrisch wurde, so setzte er ihr den Kopf zurecht. Er gab ihr volle schmackhafte Trauben; und merkte es ihr bald ab, welche so recht für ihren Gaumen wären. Diese las er ihr aus. Und danach gedieh und wuchs sie, daß es eine Lust zu sehen war. Aber er gab ihr noch etwas, das seit jeher nur wenige haben geben können. Es sind Morgen, heilige Frühen, an denen etliche Tautropfen vom Himmel fallen […]. Luther brachte der jungen Sprache nicht wenig dieses Taues, so wie er in seiner Schönheit und Frische noch am Palmblatte herunterhing, und stärkte ihre innersten Lebensgeister damit (GS 968f.; vgl. GSD 1040).
Eine Angelegenheit des Gedächtnisses ist aber nicht nur der Laut, sondern sind auch sein ‚Klang‘ und seine ‚Bewegung‘. Sie ergänzen die ‚erste‘ um eine ‚zweite‘ Tonbildung, „die, in sehr vielen und sehr fein verschiednen Graden, Leidenschaft ausdrükt“ und „besonders das in sich“ begreift, was das Sanfte oder Starke, das Weiche oder Rauhe, das Langsame und Langsamere, oder das Schnelle und Schnellere dazu beytragen, dass die Töne völlig zu solchen Gedankenzeichen werden, als sie seyn sollen.
‚Silbenmaß‘ oder „Tonmaaß“ sowie ‚Wohlklang‘ oder „T o n h a l t [ ] “ (GR 72), die ersten beiden der vier Aspekte der ‚zweiten Tonbildung‘ (vgl. GR 125 u. 185), stehen seit 1764 im Zentrum von Klopstocks Metriktheorie,113 deren Argumente er in den 1760er Jahren während der experimentellen Arbeit an eigenen metrischen Formaten in der Abhandlung vom Silbenmaße ausgearbeitet hat. In der Sache unverändert, in der Begrifflichkeit leicht variiert, hat Klopstock die Fragmente dieser nie fertiggestellten Abhandlung sowohl in Die deutsche Gelehrtenrepublik als auch in das wichtigste metriktheoretische Fragment Vom deutschen Hexameter (1779) kopiert.114 Von einem „anti-phänomenalen, nicht-tönenden Zug“ des Gedichts kann in dieser Theorie freilich keine Rede sein.115 Klopstock entwirft keine immaterielle
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Zur Profilierung der Begriffe in der Abhandlung vom Sylbenmasse vgl. Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 223. Zur Editionsgeschichte vgl. ebd., S. 34–46; Amtstätter: Beseelte Töne, S. 49–65. 114 Vgl. Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 31. 115 Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 325.
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„Poesie der Grammatik und der Metrik“,116 er verhandelt ‚erste‘ und ‚zweite Tonbildung‘ vielmehr als untrennbare Einheit. Während vor allem Menninghaus und diejenigen, die seinen wegweisenden Überlegungen folgen, die „körperliche Realität“ des Gedichts, „weil und sofern sie gerade ein genuin struktureller und vom phonetischen wie semantischen So-Sein der einzelnen Wortkörper abstrahierter Effekt des Verses ist“,117 als phantasmatische begreifen, avanciert sie in der Theorie von der ‚Stimme der Schrift‘ zu einer erinnerbaren Realität. „Ich möchte betonen“, stützt Schneider diese Voreinstellung, daß Klopstocks Bewegungs-Vorstellung nicht an die konkrete lautliche Realisation von Sprache gebunden ist. Der phonetischen Beschaffenheit der Silben hat Klopstock wesentlich weniger Bedeutung beigemessen als ihrer Zeitlichkeit und Bewegungsenergie.118
Obwohl Klopstock die Autonomisierung der Bewegung „fast gänzlich als eine genuin sprachliche vollzogen“ hat, „als Theorie und Praxis metrisch-rhythmischer Wortbewegung“,119 hat die Lehre von der doppelten Tonbildung gerade nicht die „metrische[] Struktur gegen deren materielles klangliches Substrat“ ausgespielt.120 In diesem Sinn betont Amtstätter das materiale Substrat des Metrums und dessen Bedeutung: „Es findet zwar durchaus eine Aufwertung und […] auch Autonomisierung des Klanglichen, d.h. des Rhythmischen statt“ – Amtstätter unterscheidet das „abstrakte[] Metrum“ vom „real-stofflichen Rhythmus“121 –, dieses Rhythmische „rückt zentral in den Vordergrund, aber nie losgelöst von Bedeutung oder Sinn“.122 Beide Einschätzungen haben ihre Berechtigung. Tatsächlich argumentieren eine Reihe metriktheoretischer Fragmente so strukturell, dass die Koppelung von melos und rhythmos in den Hintergrund, die „Verbindung der langen und kurzen Silben“ (GNP 997), auf der Klopstocks kombinatorische Metren basieren, in den Vordergrund tritt: „Es sind daher eigentlich nur sechs verschiedene Füße, auf deren gute Zusammensetzung die ganze Harmonie der Prosa und der Poesie beruht“ (GNP 996). Diese Schemata sind ebenso wie die Affekte im kulturellen Archiv gespeichert, stellen also prosodische Konzepte dar, auf die der Dichter Zugriff hat, sobald er die Metren kennengelernt und im Gedächtnis behalten hat. Daher erkennt Klopstock Metrik, Syntax und Rhetorik als bedeutungsrelevant an und integriert sie seiner Semantik: 116
Ebd., S. 278. Dagegen argumentiert auch: Hildegard Benning: Ut Pictura Poesis – Ut Musica Poesis. Paradigmenwechsel im poetologischen Denken Klopstocks. In: Hilliard u. Kohl (Hg.): Klopstock an der Grenze der Epochen, S. 80–96, insbes. S. 88–95. 117 Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 315. 118 Johannes Nikolaus Schneider: Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst zwischen 1750 und 1800. Göttingen 2004, S. 138. 119 Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 312. 120 Ebd., S. 326. 121 Amtstätter: Beseelte Töne, S. 90. 122 Ebd., S. 49.
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Den Gesang erhebt der Dichter durch andre Silbenmaße. Bald braucht er das Silbenmaß der Alten. Bald setzt er dies auf neue Art zusammen. Bald wählt er diejenigen unter den eingeführten Silbenmaßen der Lieder, in welchen der Trochäus bisweilen den Jamben, oder dieser jenen unterbricht. Allein den Reim läßt er weg. Vielleicht würde es auch dem Inhalte gewisser Gesänge sehr angemessen sein, wenn sie Strophen von ungleicher Länge hätten, und die Silbenmaße der Alten mit den unsrigen so verbänden, daß die Art der Harmonie mit der Art der Gedanken beständig übereinstimmte (GL 1013).
Dass diese Kombinationen auf die räumliche Anschauungsform angewiesen sind, wie sie nur der geschriebene Text haben kann, zeigen die räumlichen Schemata, die Klopstock für seine metrischen Erfindungen voraussetzt und konsequenterweise in den Hamburger und Darmstädter Oden-Ausgaben von 1771 über den Texten notiert. Dabei kalkuliert er mit drei raumabhängigen Variablen: der graphischen Vierzeiligkeit (Vers), dem metrischen Strophenschema und dem Wort – mit Variablen, die vier Grundkonstellationen zulassen. Hellmuth hat nachgewiesen, dass den vierzeiligen Strophenschemata entweder eine verbindliche Wortfußgliederung zugrunde liegt oder dass diese zumindest erschlossen werden kann,123 während Amtstätter diesem Verhältnis drei Variationen gegenüberstellt. Erstens gibt es vierzeilige Oden mit Strophenschema und mit Wortfußgliederung, zweitens vierzeilige Oden ohne Strophenschema und ohne Wortfußgliederung und schließlich, drittens, nicht-vierzeilige Texte ohne metrisches Schema und ohne Wortfußgliederung – Texte also, in denen nur Syntax und Rhetorik für die Ordnung des Textes zuständig sind. Je intensiver sich Klopstock den metrischen Einheiten des Wortes oder den semantisch eng zusammengehörigen Wortgruppen widmet, die im Zentrum der Metriktheorie stehen und die Klopstock veranlassen, das antike Prinzip der „Versfüße“ zu sogenannten „Wortfüßen“ zu verändern,124 desto stärker rückt freilich der materiale Träger des Metrums in den Vordergrund. Da ist zunächst der überraschende Hinweis darauf, dass auch das Metrum etymologisch und orthographisch reguliert ist: Und wie einer von diesen seine Sprache spricht, so rein, so volltönig, so jeden Ton und Buchstaben, den die richtige Rechtschreibung setzt, zwar ganz, aber doch nicht selten, bei der Häufung der Buchstaben, mit unübertriebner Leisigkeit: dies ist die Regel der längern und kürzern Silben, der Art ihrer Länge und Kürze, und also auch der Harmonie des Verses überhaupt (GSD 1040).
In den Fragmenten, die sich mit dem ‚Ton‘ beschäftigen, hebt Klopstock die starke Abstraktion des Metrums vom Laut, die der mechanischen Zeitmessung von grie-
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Vgl. Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 176–190. Zur wichtigen Unterscheidung zwischen künstlichen Versfüßen und ‚sinnvollen‘ Wortfüßen und deren Kritik vgl. Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 75–83. Vgl. außerdem „Grundzüge der Metriktheorie Klopstocks“, ebd., S. 211–267, sowie die Abschnitte zur „Verslehre“ bei: Karl August Schleiden: Klopstocks Dichtungstheorie als Beitrag zur Geschichte der deutschen Poetik. Saarbrücken 1954, S. 53–73.
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chischer (und lateinischer) Metrik geschuldet ist, allenthalben auf und hält deren quantifizierendem Prinzip das akzentuierende der deutschen Metrik entgegen. Diese Akzentuierung kann nur in Abhängigkeit von der prosodischen Kompetenz erfolgen, weil der ‚Ton‘ bei Klopstock ebenso an ein morphologisches wie an ein psychologisches Argument gebunden wird. Den Ton trägt nämlich die „Stammsilbe“ (DH 90), während der Akzent „weder lang noch kurz“ macht, solange er nicht als „leidenschaftliche[r] Ton“ verstanden wird (DH 70). In der Folge münzt Klopstock die quantitative Messung der Längen und Kürzen, die auch das akzentuierende Prinzip noch mitbestimmt, vollends in eine qualitative um. Bei dieser Entzeitlichung der Zeit geht es Klopstock nicht mehr darum zu messen, „wie viel Zeit der Redende, sondern wie er seine Zeit zubringe“. Für das Verhältnis von Länge und ‚Ton‘ folgt daraus: „Aber der Ton macht ja die Länge nicht, sondern sie, die es aus andern Ursachen ist, hat den Ton“ (DH 82; Hervorh. F.B.).125 Ein solch argumentativer Umgang mit der Zeit bezeugt, dass Klopstock die Zeit nicht als absolute, sondern als relative Größe behandelt. Der Eindruck von Länge kann, insofern die Silbe den ‚Ton‘ hat, auch bei einer kurzen Silbe entstehen, der Eindruck von Kürze auch bei einer langen: Wenn man in der Leidenschaft so schnell spricht, dass die Buchstaben nur eben gehört werden, und darüber die Länge beinah weniger Zeit als sonst die Kürze hat, so ist es der Ton, was als unterscheidend hervorschallt (DH 82).126
Die Umwertung der Zeit zu einer Affekt-Zeit führt Klopstock zur Unterscheidung zwischen „Zeitausdruck“ und „Tonverhalt“ eines Wortes oder einer Wortfolge (DH 135)127 bzw. zwischen ‚Tonmaß‘ und ‚Tonhalt‘. „Verschiedne Langsamkeit oder Schnelligkeit ist das Wesentliche des Zeitausdrucks“, erläutert Klopstock. „Sein Gebiet ist vornehmlich das Sinnliche; und er drückt nur so fern etwas von der Empfindung oder Leidenschaft aus, als Langsamkeit oder Schnelligkeit auch Beschaffenheiten derselben“, nämlich der Leidenschaft, „sind“ (DH 135f.). Dies hat zur Folge, dass es sich bei ‚Zeitausdruck‘ / ‚Tonmaß‘ um einen „durativen und dynamischen Wert“ handelt,128 auch wenn dieser Wert zwar von der phonischen Realisierung,129 nicht aber vom phonologischen Konzept des ‚Tons‘ als Laut abstrahiert werden kann: Wir müssen bey ihm voraus sezen, daß er seine Sprache und also auch ihr Tonmaaß kenne. Dieß also vorausgesezt, so hat er gar nichts weiter zu thun, als die L ä n g e n g e n u n g u n d r e c h t h ö r e n z u l a s s e n . Recht läst er aber die Längen nicht eher hören, als bis der Zuhörer 125
Vgl. zur Kritik von Klopstocks Argumentation: Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 252; zu deren Dekonstruktion: Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 297. 126 Zur humanistischen Tradition vgl. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 190–219. 127 In den letzten Jahren: Menninghaus (1989); Schödlbauer (1990); Mülder-Bach (1998); Schneider (2004); Amtsätter (2005) u.a. 128 Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 307. 129 Vgl. ebd., S. 314.
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die V e r s c h i e d e n h e i t e n derselben, die durch die D e h n u n g , und, im a b g e b r o c h n e n T o n h a l t e , durch die Zahl und Beschaffenheit der Mitlaute, entstehn, bemerken kann. […] Mehr oder weniger Schnelligkeit, oder auch mehr oder weniger Langsamkeit entstehn von selbst aus der rechten Tonbildung der Leidenschaft (GR 72).
Die Affekt-Zeit bemisst sich indes nach ‚Zeitausdruck‘ / ‚Tonmaß‘ und ‚Tonverhalt‘ / ‚Tonhalt‘: Was den Tonverhalt anlangt, so vergleicht das Ohr in den Füßen: Silben mit Silben; in den Abschnitten oder Versen: Füße mit Füßen; und in den Perioden: entweder Abschnitte mit Abschnitten, oder Verse mit Versen (DH 127f.).130
Als Relationsbegriff bleibt der ‚Tonverhalt‘ / ‚Tonhalt‘ an das phonologische Konzept des Lautes gebunden.131 Beide Begriffe behandeln also nicht verschiedene Gegenstände, sondern denselben Gegenstand in verschiedenen Anschauungsformen. Während der ‚Zeitausdruck‘ / ‚Tonmaß‘ dem Metrum eine zeitliche Anschauungsform unterlegt, bezieht es Klopstock mit dem ‚Tonverhalt‘ / ‚Tonhalt‘auf eine räumliche Anschauungsform. Beide Anschauungsformen, die zeitliche wie die räumliche, machen das Metrum freilich zu einer intelligenten Angelegenheit. Dergestalt auf Vergleichsoperationen angewiesen, setzen sie wie Baumgarten in seiner ästhetischen Theorie einen logischen Operator voraus, zu dem schon in der Messias-Vorrede das Ohr avanciert (vgl. GSD 1039 pass.). Dabei stellen die „Empfindungen des Ohrs“ (GSD 1042) für Klopstock sinnliche „Urteil[e] des Ohrs“ dar (GSD 1043),132 ohne die kein Wortfuß erkannt werden könnte: Ich verstehe durch einen Fuß so viele Silben, als das Ohr auf einmal miteinander vergleicht. Es vergleicht eine lange mit der andern langen, indem es hört: Schutzgeist. Es vergleicht die lange mit ihrer Hälfte, der kurzen, auf zweierlei Art, entweder so: Gestalt, oder so: Freudig; es vergleicht die lange mit zwo kurzen und dies auf dreierlei Art, als: ewige, oder: unerhört, oder auch: Geliebte (GNP 996).
Die ständigen Vergleiche über Ähnlichkeiten und Unterschiede von Elementen, über deren Stellung, Längen und Kürzen, kurzum über die inter- und intratextuellen Abbildungen der Elemente innerhalb des Gedichts beurteilen aber nicht nur die
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Amtstätter missversteht diese Definition, wenn er feststellt: „Unter diesem Gesichtspunkt wird also zusammenfassend unter ‚Zeitausdruck‘ das anteilige Verhältnis von betonten und unbetonten Silben verstanden, nicht nur auf der Ebene der Wortfüße, sondern auch oder sogar in erster Linie bezogen auf die Verszeile und auf das Strophenschema, das hier unter die Lupe genommen wird als reine Silbenfolge von Betonungsqualitäten – ungeachtet der möglichen Untergliederung durch Wortfüße oder Versfüße. Der ‚Tonverhalt‘ beruht dagegen gerade auf dieser Untergliederung und geht von der rhythmischen Bewegung ‚in‘ den Wortfüßen aus, von der jeweiligen Struktur der Betonungsverhältnisse“ (Amtstätter: Beseelte Töne, S. 42). 131 Hellmuth unterscheidet die Horizontale (Zeitausdruck) von der Vertikalen (Tonverhalt). Vgl. Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 224–226. 132 Zur Koppelung dieser Urteilsinstanz an die zeitliche Anschauungsform der Stimme vgl. Schödlbauer: Entwurf der Lyrik, S. 175–190.
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Metrik des Wortfußes; diese Vergleiche der Beziehungen installieren auch den Raum des Textes: Es sind nämlich am gewöhnlichsten nicht die Verse, sondern ihre Abschnitte die eigentlichen Teile des poetischen Perioden; und von diesem urteilt das Ohr, insofern auch Vergleichung der Teile bei dem Urteile zum Grunde liegt, nur nach den angeführten eigentlichen Teilen (DH 135).
Wenn Menninghaus im Hinblick auf Klopstocks Metrik und ihre vermeintlich ausschließliche Ausrichtung an der zeitlichen Anschauungsform des akustischen Mediums der Stimme bemerkt: „Raumbegriffe, auch wenn sie wie bei Breitinger verzeitlicht sind, werden der Poesie nicht mehr gerecht“,133 dann polarisiert er mit dieser Einschätzung zu sehr zwischen den beiden Anschauungsformen von Stimme und Schrift, die für Klopstocks Metriktheorie konstitutiv sind. Nur unter der Voraussetzung eines Medienwechsels kann Menninghaus versichern: „Der Zuhörer einer solchen Deklamation hat nicht die Möglichkeit lesenden Vor- und Zurückschaltens, um sich zu vergewissern; er ist vielmehr einem unumkehrbaren Zeichenstrom ausgesetzt“.134 Doch selbst wenn dieser Medienwechsel tatsächlich vollzogen, wenn das ‚Gedicht‘ vorgetragen oder vorgelesen würde: Ohne sein Ohr, mit dessen Hilfe der zuhörende Leser die zeitliche Anschauungsform der Stimme auf die räumliche Anschauungsform der Schrift in seinem Gedächtnis projiziert, mit dessen Hilfe er also den Zeichenstrom permanent unterbricht, ihn umkehrt bzw. auf den Raum bezieht, würde er lediglich ein mediales ‚Rauschen‘ vernehmen, aber keinen ‚Ton‘ hören können. Allein die urteilende Empfindung von ‚Zeitausdruck‘ / ‚Tonmaß‘ und ‚Tonverhalt‘ / ‚Tonhalt‘ in der Strophe kann ihm „das Vergnügen an ihrer Wiederkehr“ bereiten, „wenn sie ihm das erstemal gefiel“ (DH 135). Seine heimliche Vorliebe für die Wiederholung offenbart Klopstock daher auch bei der Bewertung der Ohr-Arbeit. Denn tatsächlich muss ja das Ohr den Raum nicht jedesmal neu vermessen, sondern kann auf Raummaße für „Sanftes“, „Starkes“, „Muntres“, „Heftiges“, „Ernstvolles“, „Feierliches“ oder „Unruhiges“ zurückgreifen (DH 138f.), die wie die Wortfüße selbst ebenfalls unter den entsprechenden Begriffen der Leidenschaften archiviert und als wiederholbare Exempla vorgesagt werden können: Das Sanfte, das Starke, Muntre, Heftige, Ernstvolle, Feierliche und Unruhige, sind, oder können Beschaffenheiten der Empfindung und der Leidenschaft sein. Dies kömmt mir, wenn ich vom Sinnlichen die gehinderte Bewegung noch mitnehme, als der Inbegriff von dem vor, was der Tonverhalt ausdrücken kann (DH 136).135
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Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 327. Ebd., S. 269. „Die Lehre der durchgängigen Zuordnung der Actio zu den Affekten ist hier“, stellt Campe auch im Hinblick auf Gottsched fest, „ganz auf die Stimme (die pronuntiatio und in ihr die vox) hin ausgebildet. Z.B.: der Haß muß mit ‚einer rauhen und verdrüßlichen Stimme‘ ausgespro-
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Diese Reproduzierbarkeit gilt nicht nur für den einzelnen ‚Ton‘, Klopstock weiß auch, warum verschiedene Gattungen verschiedene ‚Haupttöne‘ haben und sich beispielsweise der „Hauptton[], den die Ode haben soll“, von dem „Tone des Lehrgedichts“ unterscheidet (GNP 995), ohne dass dabei die Kategorie des ‚Tons‘ eine bloße, vom materialen Substrat abstrahierbare Metapher wäre.136 Wie selbstverständlich mündet die Theorie von der ‚Stimme der Schrift‘ in der zweiten MessiasVorrede in ein didaktisches, die Gattungen und ihre Metren in ansteigender Linie anordnendes Programm, das die Stimme trainiert, bis sie schließlich ihr Ziel, den Götterhimmel der klassischen Lyrik und dessen affektive Formatvorlagen, erreicht: Zu unsern Zeiten, da man so sehr aufgehört hat, sich aus der guten Vorlesung ein Geschäft zu machen, ist es genung, dies Wenige davon zu sagen. Zuerst müßten wir die Biegsamkeit unsrer Stimme, und den Grad ihrer Fähigkeit, den Wendungen und dem Schwunge des Gedanken mit dem Tone zu folgen, durch leichte und scherzhafte Prosa, kennenlernen. Hierauf versuchten wir die poetische Erzählung, und das Lied. Ein Schritt, der schwerer ist, als er scheint. Dann gingen wir zu dem Lehrgedichte, oder dem Trauerspiele fort […]. Von den Jamben erhüben wir uns weiter zu den volleren Perioden der Redner. Wenn wir diese lesen könnten; so fingen wir mit dem Hexameter an […]. Zuletzt könnten wir uns mit den lyrischen Stücken beschäftigen, die dem Alkäus, der Sappho, oder dem Horaz gefolgt sind (GSD 1047f.).
Wenn Klopstocks ‚Töne‘ stumm sind, was verbirgt sich dann aber hinter der Kernaussage zur Medialität des Gedichts: „Nur der declamirt gut, dem diese doppelte Tonbildung gelingt“ (GR 72)? Die Antwort auf diese Frage ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber einfach: Die Deklamation ist ein Bestandteil des Textes und darf nicht vorschnell mit Klopstocks Begeisterung für die Praxis von Rhapsoden, Barden und anderen Tonkünstlern verwechselt werden. Gerade mit der Materialität und Medialität des aufgeführten Lautes hat Klopstock nämlich erhebliche Probleme – mit dem Unlehrbaren des ‚Tons‘, das jeder Bedeutung vorgängig und weder repräsentierbar noch zu wiederholen ist: Die unlehrbare Bildung der Töne begreift besonders das in sich, was das Sanfte oder Starke, das Weiche oder Rauhe, das Langsame und Langsamere, oder das Schnelle und Schnellere dazu beytragen, daß die Töne völlig zu solchen Gedankenzeichen werden, als sie seyn sollen (GR 72).
Mit großem Unbehagen begegnet er diesen anderen, nicht konzeptualisierbaren Aspekten der Stimme bzw. deren Ereignishaftigkeit: „S i e h a t s o g a r me h r S c h a t t i e r u n g e n , a l s d e r G e s a n g “ (GR 72), bemerkt er fasziniert. Gleichzeitig ist ein akustischer Auftritt der Stimme immer vom ‚Rauschen‘ im Übertragungskanal bedroht. Im späteren Fragment Vom edlen Ausdrucke (1779) heißt es: Die Gegenstände sind hier in dem Geiste des Dichters so vollendet, daß sie, sobald sie durch die Sprache hörbar werden, in nicht kleiner und oft wiederkommender Gefahr sind, in Tönen, die sie nicht ganz und nicht rein ausdrücken, zu verhallen (EA 975).
136
chen werden; mit ‚einem störrigen und heftigen Tone der Sprache‘ bewege ich den Hörer zum Haß“ (Campe: Affekt und Ausdruck, S. 68). Vgl. Schödlbauer: Entwurf der Lyrik, S. 175f.
172
Rhetorische actio und die Lehre der ‚doppelten Tonbildung‘ fallen offenbar nicht so idealtypisch zusammen, dass die Gleichung ‚Deklamation gleich doppelte Tonbildung‘ reibungslos aufginge. Gegen die Gefahr einer dergestalt unreinen Sprache und die von ihr verantworteten (akustischen) Ununterscheidbarkeiten sowie (semantischen) Uneindeutigkeiten rufen die Abschnitte Aus einer neuen deutschen Grammatik in der Gelehrtenrepublik eine ganze Phalanx an Regeln und Verhaltensmaßnahmen auf den Plan, von denen hier nur zwei angeführt seien. Die Wörter müssen „d u r c h d i e A u s s p r a c h e s o g e b i l d e t w e r d e n , d a ß s i e s i c h v o r d e n a n d e r n a u s n e h me n “, heißt es zum einen, und zum anderen erinnert Klopstock daran, dass die „T o n w a n d l u n g “ , das heißt die Schwankung in der Modulation, „ n i c h t s p r u n g w e i s e g e s c h e h n “ muss, obwohl er diese Gefahr für geringer als diejenige der ambigen Aussprache hält. „Denn wir sind zu mänlich, um beym Sprechen, oder bey Haltung einer Rede, Geschrey zu machen“ (GR 125). Die Bedenken gegenüber der actio führen Klopstock zu einer Medienkritik, in der er „Buchstaben“ und „Vortrag“ einander gegenüberstellt: Man macht sich von dem, was die Sprache ausdrücken kann, keinen richtigen Begrif, wenn man sie sich, auf der einen Seite, durch Buchstaben bezeichnet; und auf der andern, von der Action des Redenden begleitet, vorstelt (GR 71f.).
Sowohl ‚bezeichnende‘ Schrift als auch ‚begleitende‘ Stimme sind jedoch defizitäre Medien; die Schrift, weil sie keine, oder besser: so lange sie keine ‚Töne‘ hat, die Stimme – darin liegen Pointe und Paradoxon der akustischen Aufführung –, weil sie zu viele hat: „Der eigentliche Umfang der Sprache ist das“, behauptet Klopstock daher, „was man, ohne den Redenden zu sehn, höret“. Mit dieser Wendung abstrahiert Klopstock vom Modell des Vortrags das ‚Hörbare‘ – eine Stimme, die ohne alle medialen Störfaktoren reine Stimme ist; nur dieser gelingt eine vollkommene ‚doppelte Tonbildung‘: Man hört aber Töne, die Zeichen der Gedanken sind, durch die Stimme so gebildet, daß vieles von dieser Bildung nicht gelehrt werden kann, sondern vorgesagt werden muß, um gelernt zu werden (GR 72).
Mit dem gleichen Vorwurf des ‚Zuviels‘ begegnet Klopstock daher auch der Musik, die er als Referenzmedium des Gedichts nur im Hinblick auf deren errechenbare Rhythmik, Harmonik und Leitmotivik,137 nicht aber im Hinblick auf die Tonalität schätzt. Weil sie ihre Töne nicht deutlich genug unterscheidet, ist die Musik kein Maßstab für die Deklamation, die Klopstock zunächst an das Wort bindet: Auch in der Musik entdekt man nach und nach. Wenn sie ohne Worte reden will; so ist ihr Ausdruk sehr unvollkommen, und das nicht allein deswegen, weil er allgemein ist, und keine einzelnen Gegenstände bezeichnet, sondern auch, weil er noch dazu nur w e n i g A l l g e -
137
Vgl. Amtstätter: Beseelte Töne, S. 65 pass.
173
m e i n h e i t e n hat. […] Die Musik, welche Worte ausdrükt, oder die e i g e n t l i c h e M u s i k ist Declamation (GR 172).
Was Klopstock also offenbar vorschwebt, ist eine vom Medium der Schrift abhängige ‚Kunst-Stimme‘. „Indem Klopstock die Stimme als das Element isoliert, das zur Schrift hinzukommen muß, weist er implizit auf ein anderes Element, das nicht mehr hinzukommen muß, weil es schon in sie eingeführt wurde“, erläutert MülderBach diese Stimme. „Im Unterschied zum rhetorischen Vortrag, zu dem wesentlich auch die actio des Redners gehört, bestimmt Klopstock die Deklamation als einen Vorgang, bei dem allein die vox zu hören ist“.138 Mülder-Bach verfehlt freilich die konzeptualisierte ‚Stimme der Schrift‘ (vox) um Haaresbreite, auf der Klopstocks poetologische Reflexionen eigentlich basieren. Das „in der Disziplin synästhetischer Simulation geschulte[] Auge“ kann zwar die „Minen und Gesten der Wortbewegung“ in den metrischen „Partituren“ lesen, die ‚Kunst-Stimme‘ steht aber offenbar nirgendwo geschrieben.139 Weil Klopstock nicht auf die klangliche Dimension der Worte vertraue, sondern lediglich auf das Metrum setze, entwerfe er im Medium der Schrift das Phantasma eines lebendigen Körpers, ohne dass „die Stimme die stummen Charaktere der Schrift in einen lebendigen Transport verwandelt“.140 Tatsächlich erweist sich Klopstocks Deklamation jedoch als Lese-Stimme (vox) – als eine Stimme des „lautlosen Lesen[s]“,141 die weder vom Metrum isoliert werden kann noch gegen die phonisch realisierte Stimme abfällt, sondern diese gerade deshalb bei weitem übertrifft, weil die Deklamation stumm bleibt. „Denn dieß Gedicht, und kein anderes, v ö l l i g a n g e me s s e n auszudrücken, davon war ja hier die Rede; und ganz und gar nicht davon, überhaupt zu zeigen, wie gut man declamiren könne“ (GR 172). ‚Völlig‘ – damit hebt Klopstock zunächst auf die Summe der (typo-)graphischen, syntaktischen, rhetorischen, phonologischen, prosodischen und etymologischen Konzepte des Gedichts ab. Die Deklamation ist also der Algorithmus, der diese Konzepte zu einer synästhetischen Komposition verrechnet, oder anders gewendet: zum Körper des Gedichts. ‚Völlig‘ beinhaltet aber gleichzeitig auch eine Richtungsangabe, besser gesagt eine Zielvorgabe auf dem Weg zur Vollständigkeit der Verschaltung und erinnert in dieser Doppelung an Baumgartens Attribuierung der symbolischen Struktur des Gedichts durch den Begriff ‚perfectus‘.142 Daher ist der Deklamator, dem Klopstock die Aufgabe der Vervollständigung anvertraut, nichts anderes als eine Personifikation des synästhetischen Algorithmus, wie ja auch Baumgarten die symbolische Struktur des Gedichts zur Angele138 139 140 141 142
Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 177. Ebd., S. 177. Ebd., S. 179. Ebd., S. 177. Vgl. 2. Teil, 1.5 Poetologische Übersetzung; 2.1.1 Vollkommenheit.
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genheit des felix aestheticus macht.143 Dieser Deklamator begibt sich an die Arbeit, um eine vollständige Verknüpfung der Elemente im Text zu erreichen. Dabei sorgt sein Wunsch, das Ziel zu erreichen, dafür, dass er immer wieder nach Möglichkeiten der Abkürzung sucht: „Unsre Sprache“, heißt es in der Gelehrtenrepublik, „ist einer Wortfolge fähig, welche die Erwartung sehr reizen, und einer Kürze, durch die der Dichter machen kann, dass die genung gereizte Erwartung nun auch früh genung zu ihrem Ziele komme“ (GR 172). Doch im Hinblick auf die Anzahl der Verknüpfungsparameter: Graphik, Rhetorik, Syntax, Phonologie, Prosodie und Etymologie, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass der kurze Weg des Deklamators nicht nur ein langer, sondern auch ein unwägbarer Weg sein wird. Er führt ihn nicht nur geradewegs von einer Verknüpfung zur nächsten, sondern jede hält – als „Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen“ – mehrere Abzweigungen und mithin „sozusagen eine prädestinierte Vieldeutigkeit“ bereit,144 mit der das Ziel permanent aufgeschoben und der Weg zum Ziel ein unendlicher wird. Mit dem Algorithmus der Deklamation sorgt Klopstock daher (nicht anders als Baumgarten) für die Ambiguität des Gedichts – und zwar für jene genuine Ambiguität, welche mit der rhetorisch kalkulierbaren ambiguitas nichts zu tun. Die Deklamation macht nämlich aus der klassischen, regelmäßigen Labyrinthanlage des Gedichts das von Ovid beschriebene Bauwerk mit den vielfältig gewundenen Wegen145 oder einen Irrgarten oder ein Rhizom.146 „Überdies sind diese feinen Entwicklungen, die den Faden durch das ganze Labyrinth ziehn, zu sehr der Gefahr ausgesetzt, unrichtig, durch ihre Feinheit, zu werden“ (HP 1002), sorgt sich Klopstock um das Gedicht. An diesem Ort zu wandeln ist eine Sache des Göttergünstlings; und es ist keineswegs sicher, ob der Deklamator die ‚Gefahr‘ überwinden und den Minotaurus besiegen kann. „Geschieht dieses“ jedoch, „so erfolgt alles übrige von selbst, und der Rhythmus fängt auf einmal an zu tanzen“ (GR 72) – und der Deklamator wird zum Kulturheros, der in der Lage ist, einer Gemeinschaft Gedichte zu stiften. Mit der Deklamation zielt Klopstock also auf ein ganz anderes Problem als auf die bloße Unterscheidung von aufgeschriebenem Metrum und aufgeführtem Rhythmus ab.147 Der weitere Begriff des Rhythmus ist freilich anders als der engere des Metrums dazu in der Lage, die Perspektive auf die Deklamation scharf zu stellen. In diesem Sinn spricht Frey von der „rhythmische[n] Ordnung“ eines Textes, die er als eine Erfahrung von Gliederung versteht – eine Erfahrung, die eine
143 144 145 146
Vgl. 2. Teil, 3. Die Ethik des Symbols. Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Gesammelte Werke. S. 346. Vgl. Ovid Met. 8, v. 162. Zur Typologie des Labyrinths vgl. Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose. München u. Wien 1984, S. 64f. Zum poetologischen Reflexionsmodell des Labyrinths vgl. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, S. 196–214. 147 Vgl. die einschlägigen Artikel im Reallexikon der Literaturgeschichte und Reallexikon der Literaturwissenschaft sowie im Historischen Wörterbuch der Rhetorik.
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Orientierung im Raum erfordert, die jedoch keinem „metrische[n] Gesetz“ folgt.148 Im Rückgriff auf das Reflexionsmodell des Gehenden betont Frey, „daß Rhythmus sich nur als Erfahrung konstituieren kann, und daß es deshalb nicht nur darauf ankommt, wie gegangen wird, sondern auch darauf, daß es jemand ist, der geht, und darauf, wie er sein Gehen erfährt“.149 Mit diesem ‚daß‘ und diesem ‚wie‘ bezieht Frey die zeitliche Anschauungsform der Erfahrung auf die räumliche des Textes. Aber das Mitgerissenwerden hat als Voraussetzung eine künstliche Ordnung, welche durch die Erzeugung von Erwartung in die Zukunft des noch Ausstehenden zieht, und diese Ordnung, nicht der Rausch, ist das Auszeichnende des Rhythmischen.150
Damit eignen dem Rhythmus dieselben Funktionen, mit denen Baumgarten die Exzentrik des Gedichts – die Drift – und die Konzentrik – die Rückbezüglichkeit – bestimmt hat.151 Klopstocks Algorithmus der Deklamation erzeugt daher weder ein Phantasma der lebendigen Stimme noch eines des lebendigen Körpers, wie es Mülder-Bach für das pygmalionische Modell vorsieht. Die Deklamation erzeugt gar kein Phantasma, weil mit ihr das Paradoxon einer konzeptualisierten, das heißt erinnerbaren, ergo wiederholbaren Performativität zur Diskussion steht – einer Performativität, die nicht bloß auf Zeit- und Betonungsverhältnissen gründet, sondern alle Aspekte des Gedichts in einer Zusammenschau aktualisiert. Die eigentliche Deklamation, wie sie beispielsweise der Vortrag realisiert, verhält sich im Vergleich zu einer solchen Deklamation wie ein unangemessenes Übersetzungsmodell. Die Deklamation realisiert also die symbolische Struktur des Gedichts medial, was bei Klopstock die Komposition voraussetzt. So ist es kein Wunder, dass auch Klopstock für die symbolische Komposition dieselbe wahrheitsfunktionale Lichtmetaphorik verwendet, mit deren Hilfe Baumgarten der logischen, hell wie die Sonne strahlenden Wahrheit die ästhetische gegenüberstellt. In diesem Sinn heißt es über das ‚Gedicht‘, dass es weder die „grossen Lichtmasse[n]“ versammelt noch der „Dunkelheit“ beschuldigt werden darf (GR 74), sondern auch bei Klopstock ein lebendiges Spiel von Licht und Schatten aufweist, in dem einzelne Stellen heller, andere dunkler sind, die aber zusammen ein Zwielicht erzeugen:152 Ein solcher muß vor anderm Augen haben, und auch Feuers, und Ausdaurens genung, lang und oft hinzusehn, insonders dahin, wo ihm nun, wär’s auch nur noch in der Dämmerung, etwa ein Lichtlein aufgeht. Solche Flämlein pflegen immer heller zu werden, je länger man hinschaut (GR 67).
148 149 150 151 152
Hans Jost Frey: Vier Veränderungen über Rhythmus. Basel u.a. 2001, S. 93f. Ebd., S. 89. Ebd., S. 107. Vgl. 2.2 Die Medialität des Schönen. Vgl. 2. Teil, 2.1.3 Zwielichtigkeit.
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Und so führt auch Klopstock den Leser seines Gedichts schließlich in „des Tempels heilige[] Dämmerung“ (E 19; vgl. EA 978). Mit der ‚Schreib-Szene‘ verbindet Klopstock die psychologischen und die rhetorisch / poetologischen Aspekte des Gedichts zu jener für die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ charakteristischen Ambiguität. Dabei betont die zeitliche Anschauungsform der ‚Schreib-Szene‘ die Bewegung der symbolischen Struktur des Gedichts. Mit dem ‚Schau-Platz‘ integriert Klopstock diese zeitliche Anschauungsform einer räumlichen, die er im Horizont der Metaphysik analysiert und das Gedicht als schönes ‚Ganzes‘ der symbolischen Komposition bestimmt. Der Körper schließlich gilt den medialen Aspekten der Komposition. Ihre Analyse weist weit über Baumgartens Möglichkeit hinaus, das In-Erscheinung-Treten des Gedichts reflektieren zu können. Klopstock analysiert einerseits die symbolische Komposition, in der das Prinzip der Verknüpfung (typo-)graphisch, syntaktisch, rhetorisch, phonologisch, prosodisch und etymologisch realisiert wird; andererseits programmiert er einen Algorithmus, der das Gedicht zu einem konzeptualisierten synästhetischen Ereignis macht. Klopstocks eigene poetische Texte nehmen – „operativ und beobachtend“ zugleich153 – nun die gattungsspezifische Figuration des Gedichts vor, oder anders gewendet: Diese Texte werden dadurch zu meta-poetischen Texten, dass sie sich zu Klopstocks poetologischen Reflexionen um 1750 verhalten. Bemerkt man in diesem Zusammenhang, dass sich Klopstock ältester, standardisierter Gattungsformate bedient – der anakreontischen Ode wie in Cidli 1752 oder des enzyklopädischen Epos wie im Messias –, möchte man ihn für einen „contemporary of the generation of 1500 or 1600“ oder einen Nachzügler rhetorisch regulierter Poesie halten.154 Betont man demgegenüber die medialen, vor allem die metrischen Experimente in Klopstocks poetischen Texten, könnte man ihn vorbehaltlos „als einen frühen ‚Postmodernen‘“ adeln,155 wenn es denn sein müsste. Beide Stammbaumvarianten sind gleichermaßen hilflos, so lange man die Spannung zwischen fester Formatierung und experimenteller Medialisierung nicht als den Kern einer poetischen Praxis erachtet, die im Zusammenhang mit der epistemischen Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ um 1750 steht. Ein literarischer Text, der diesem Funktions- und Leistungsprofil entspricht, kann, wie ich im Folgenden exemplarisch vorführen werde, sowohl die Komposition einer anakreontischen Ode wie Cidli 1752 haben und nur wenige Elemente zu einem ‚Ganzen‘ verbinden als auch diejenige eines Epos wie Der Messias und eine schier unendliche Menge von Elementen einer ‚Gesamttextstruktur‘ integrieren. 153
Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 202. Er bezieht sich in Anm. 58 auf Brooks: „The poem is an instance of the doctrine which it asserts; it is both the assertion and the realization of the assertion“ (Cleanth Brooks: The Well Wrought Urn. Studies in the Structure of Poetry. New York 1947, S. 17). 154 Hilliard: Philosophy, Letters and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. IX. 155 Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 343.
177
Als symbolische Kompositionen entwickeln Klopstocks poetische Texte dabei stets ein gattungsspezifisches Bewusstsein für ihre kognitive und mediale Komplexität wie auch für die semantischen Effekte, die sie als mediale Ereignisse erzielen. Meine Lektüre der Ode richtet sich daher im Folgenden an den drei Funktionen der symbolischen Struktur des Gedichts aus, wie sie Baumgarten analysiert hat: Unanschaulichkeit, Räumlichkeit, Zeitlichkeit; die Lektüre des Epos an den drei Modellen, die Klopstock der symbolischen Komposition unterlegt: Schreib-Szene, Schau-Platz, Körper.
178
/lSSLVFKH*HGLFKWHCidli 1752 $QDNUHRQWLVFKH*HGLFKWHVLQGJHPHLQLJOLFKVHKUQDKHEHLP/lSSLVFKHQ .DQWBeobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen 'DLFK(LQVXQGGRSSHOWELQ *RHWKH, Gingo biloba
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UHLWVLQGHUGULWWHQXQGVHFKVWHQ=HLOHKDW$XFKGRUWN|QQWHHVVLFKHQWZHGHUDXI MHZHLOV HLQH RGHU DXI EHLGH +DQGOXQJHQ GHU $EVFKQLWWH EH]LHKHQ ,Q GHU VHFKVWHQ =HLOH LVW GDUEHU KLQDXV QRFK QLFKW HLQPDO PLW 6LFKHUKHLW ]X HQWVFKHLGHQ RE GLH EHLGHQ3URQRPHQGLHDQ]ZHLYHUVFKLHGHQH9HUEHQJHEXQGHQZHUGHQWDWVlFKOLFK GHQJOHLFKHQ6DFKEH]XJKDEHQÃ,FKIKOW¶HVZRKOXQGZXW¶HVQLFKWµ 8QWHU GHU 9RUDXVVHW]XQJ GDVV Ã(O\VLXPµ LQ GHU OHW]WHQ =HLOH JUDPPDWLNDOLVFK ZHGHU DOV 2UWV QRFK DOV =HLWDQJDEH IXQJLHUW N|QQWH GLH DGYHUELDOH %HVWLPPXQJ GHV6DW]HVGXUFKGDV/RNDODGYHUEÃXPµEHVHW]WVHLQGDPLWGLH+DQGOXQJLP6LQQ YRQÃXPXQVKHUXPZDUG¶V(O\VLXPµOHVEDUZLUG(LQVROFKHUXQEHVWLPPWHU2UWist GDQQ QLFKW HWZD GDV (O\VLXP VRQGHUQ ZLUG GXUFK GLH .RQQRWDWLRQHQ GHV Ã(O\ VLXPVµ FKDUDNWHULVLHUW ± HLQH JUDPPDWLVFK EHZLUNWH (QWUlXPOLFKXQJ XQG (QW]HLW OLFKXQJ GHV &KURQRWRSRV GLH QRFK SODXVLEOHU ZLUG ZHQQ PDQ GLH :HQGXQJ ÃXP XQVµDOV3UlSRVLWLRQDOREMHNWLP6LQQYRQÃIUXQVµOLHVW'XUFKGLHVHJUDPPDWLND OLVFKH(QWVFKHLGXQJZLUGGHU%H]XJYRQÃHVµXQGÃ(O\VLXPµDQGDV'DIUKDOWHQGHU EHLGHQ GXUFK GLH 3HUVRQDOSURQRPLQD YHUWUHWHQHQ $JHQWHQ GHU 2GH JHEXQGHQ LQ GHUHQ,PDJLQDWLRQÃHV(O\VLXPZLUGµ ,QVROFKHQV\QWDNWLVFKHQ$PSKLEROLHQYHUZLVFKHQGLHUDXP]HLWOLFKHQ(FNGDWHQ GHU*HVFKLFKWHZHLOGLH2UWVDQJDEHQHQWUlXPOLFKWXQGGLH=HLWDQJDEHQHQW]HLWOLFKW ZHUGHQ9RQLKUHQUHIHUHQWLHOOHQ$XIJDEHQLQGHU*HVFKLFKWHHQWEXQGHQ|IIQHQVLH VLFKDXIGDVNXOWXUHOOH$UFKLYLKUHU%HGHXWXQJHQ'LH=ZHLIHODQGHU7UDJIlKLJNHLW QDUUDWRORJLVFKHU6WUXNWXUHQZHUGHQGXUFKGLH]HLWOLFKH6WUXNWXUGHU2GHYHUVWlUNW± GXUFKHLQH6WUXNWXULQGHUGLH]HLWOLFKHQ%H]JH]ZLVFKHQHU]lKOWHU=HLWKLVWRLUH XQG (U]lKO]HLW GLVFRXUV LQ HLQHU 3VHXGR6WRU\ QXU YRUJHWlXVFKW VLQG 'LHVH 6L PXODWLRQ MD 9RUWlXVFKXQJ YRQ =HLWOLFKNHLW EHWULIIW ]XQlFKVW GLH EHLGHQ HLQ]LJHQ $GYHUELHQÃGDµLPHUVWHQXQGGULWWHQ$EVFKQLWWGLHHLQH%H]LHKXQJ]ZLVFKHQGHQ +DQGOXQJHQEHKDXSWHQRKQHGDVVHQWVFKLHGHQZHUGHQN|QQWHREGLHVH%H]LHKXQJ DOV HLQH ORNDOH ÃGRUWµ RGHU WHPSRUDOH ÃGDUDXIKLQµ TXDOLIL]LHUW ZLUG Ã,Q )UK OLQJVVFKDWWHQ IDQG LFK 6LH 'D EDQG LFK 6LH PLW 5RVHQElQGHUQµ :LH ODQJH GDV )LQGHQXQGGDV%LQGHQGDXHUWGDVGLHHUVWHQEHLGHQ=HLOHQGHU2GHHU]lKOHQRE GLHEHLGHQ+DQGOXQJHQXQPLWWHOEDUDXIHLQDQGHUIROJHQRGHUREGHU=HLOHQXPEUXFK ]ZLVFKHQ GHQ EHLGHQ 6lW]HQ DOV (OOLSVH YHUVWULFKHQHU =HLW GHU Ã*HVFKLFKWHµ IXQ JLHUW GDUEHU JLEW GHU 'LVNXUV HEHQVRZHQLJ $XVNXQIW ZLH LP GULWWHQ $EVFKQLWW EHU GLH ]HLWOLFKHQ 9HUKlOWQLVVH ]ZLVFKHQ /LVSHOQ 5DXVFKHQ XQG $XIZDFKHQ 6R EHQGHQQVRJDUGLH9HUEHQLKUH)XQNWLRQHLQGHU2GHHLQHUHIHUHQWLHOOH=HLW]X JHEHQ 8QG ZHLO MHGHV HLQ]HOQH 9HUE GLH $QWZRUWHQ DXI GLH )UDJHQ ,Q ZHOFKHU )ROJH" :LH ODQJH" :LH RIW" VFKXOGLJ EOHLEHQ PXVV NDQQ GLH QDUUDWRORJLVFKH 3UlPLVVHHLQHUGRSSHOWHQ=HLWOLFKNHLWYRQHU]lKOWHU=HLWXQG(U]lKO]HLWQLFKWJUHL IHQ9RP$XJHQ %OLFN,FKVDK6LHDQ6LHVDKPLFKDQ ELV]XP(O\VLXPGDV VHLQ ZLUG VFKDOWHW GLH 2GH YLHOPHKU LKUH =HLWHQ JOHLFK XQG NDVVLHUW GLH 8QWHU VFKLHGH]ZLVFKHQ(QGOLFKNHLWXQG8QHQGOLFKNHLW :R7HPSRUDODGYHUELHQIHKOHQXQG9HUEHQYHUVDJHQGDPVVHQDQGHUHV\QWDNW LVFKH(OHPHQWHGHU2GHLKUH=HLWJHEHQ,QCidli 1752 NRPPWGDIUDOOHQIDOOVGLH
NRRUGLQLHUHQGH.RQMXQNWLRQÃXQGµLQ)UDJHGLHPDQLPWHPSRUDOHQ6LQQYRQÃXQG GDQQµOHVHQN|QQWHXQGGLHLQMHGHP$EVFKQLWWLPPHUKLQHLQPDOYHUZHQGHWZLUG GDPLWVLHHQWZHGHU]ZHL+DQGOXQJHQPLWHLQDQGHUYHUELQGHW= RGHUGHQ OHW]WHQ9HUVDQGLHYRUDQJHJDQJHQHQ+DQGOXQJHQDQVFKOLHWÃ8QGXPXQVZDUG¶V (O\VLXPµ 'HUJHVWDOW OHLVWHW GDV ÃXQGµ HLQH ]HLWOLFKH .RRUGLQDWLRQ RKQH GLH MHQH +DQGOXQJHQLQGHQDV\QGHWLVFKHQ)JXQJHQGHU+DXSWVlW]HYHUELQGXQJVORVQHEHQ HLQDQGHUVWHKHQZUGHQ'DVVGLH$EIROJHGHU6lW]HLQGHVDXFKDOV+DQGOXQJVIROJH JLOWHQWSXSSWVLFKQXUDOVHLQHZHLWHUH6WUDWHJLHGHU'LVDPELJXLHUXQJ]XGHUCidli 1752 LQ VHLQHU VFKHLQEDUHQ 6LPSOL]LWlW YHUIKUW 'HU HUVWH $EVFKQLWW PDFKW DOOHU GLQJV GHXWOLFK GDVV GLH $EIROJH GHU 6lW]H NHLQHVZHJV GHU +DQGOXQJVIROJH HQW VSULFKW'HQQFKURQRORJLVFKEHWUDFKWHWJHKWGDV6FKOXPPHUQGHUGULWWHQ=HLOHGHP )LQGHQXQG%LQGHQGHUHUVWHQEHLGHQLP6LQQHLQHU$QDOHSVHYRUDXVRGHUHVXQWHU OLHJWGHUJDQ]HQ+DQGOXQJVVHTXHQ]]XPLQGHVWGXUDWLY'LHV\QWDNWLVFKH.RRUGLQD WLRQ GLHVHV )LQGHQV XQG %LQGHQV XQG GHV 1LFKW:LVVHQV HUZHLVW VLFK GDGXUFK DOV HLQH/HLVWXQJGHV'LVNXUVHVQLFKWDOV1RWZHQGLJNHLWGHU*HVFKLFKWH'DV*OHLFKH JLOWIUGLHDQGHUHQ.RRUGLQDWLRQHQYRUDOOHPDEHUIUGHQ$QVFKOXVVGHUOHW]WHQ =HLOH 'DV ÃXQGµ VWHOOW HLQH 5HODWLRQ ]ZLVFKHQ ]ZHL (OHPHQWHQ GHU 2GH DXI GHU (EHQHGHV'LVNXUVHVKHUTXDOLIL]LHUWGLHVH9HUELQGXQJDEHUQLFKW]HLWOLFKDXIGHU (EHQHGHU*HVFKLFKWHVRQGHUQSRLQWLHUWVLHÃ8QGXPXQVZDUG¶V(O\VLXPµ 'RFKQLFKWQXUGLH]HLWOLFKHQDXFKGLHNDXVDOHQ6WUXNWXUHQGLHHLQH*HVFKLFKWH OHVEDU PDFKHQ IHKOHQ LQ GHU 2GH %HUHLWV GLH HUVWHQ EHLGHQ 6lW]H GHV HUVWHQ $E VFKQLWWV JHEHQ PLW LKUHP 3VHXGR3ORW 5lWVHO DXI Ã,Q )UKOLQJVVFKDWWHQ IDQG LFK 6LH 'D EDQG LFK 6LH PLW 5RVHQElQGHUQµ ± 5lWVHOGLHHEHQVRGHQhEHUJDQJYRQ GHUDFKWHQ]XUQHXQWHQ=HLOHEHWUHIIHQ'LHV\QWDNWLVFKH$PSKLEROLHHUODXEWHVGDV ÃGDµDOV/RNDORGHU7HPSRUDODGYHUE]XOHVHQ]XJOHLFKXQGEHUGLHVDEHUDXFKDOV NDXVDOH.RQMXQNWLRQÃGHVKDOEµ Ã'DZDFKWH6LHYRP6FKOXPPHUDXIµRKQHGDVV HLQH .DXVDOLWlW ]ZLQJHQG ZlUH 7DWVlFKOLFK JLEW HV DQVRQVWHQ DXFK QXU QRFK HLQH ]ZHLWH.RQMXQNWLRQGLHGHQhEHUJDQJYRQHLQHU+DQGOXQJ]XUQlFKVWHQPRWLYLH UHQ ZUGH GLH YHUPHLQWOLFK DGYHUVDWLYH .RQMXQNWLRQ ÃGRFKµ LQ GHU VLHEWHQ =HLOH GLH GDV VSUDFKORVH /LVSHOQ XQG 5DXVFKHQ HLQOHLWHW HV VHL GHQQ PDQ HQWVFKHLGHW VLFKGDIUGDVÃGRFKµDOVEHGHXWXQJVOHHUH3DUWLNHO]XYHUQDFKOlVVLJHQ'XUFKZH QLJH +LQZHLVH JHOLQJW HV GHU 2GH DOVR GHQ (LQGUXFN ]X HUZHFNHQ DOV RE LKUH +DQGOXQJHQNDXVDOYHUNQSIWZlUHQZlKUHQGLKQHQJOHLFK]HLWLJDXIJUXQGV\QWDN WLVFKHU$PSKLEROLHQGLHNDXVDOH7LHIHQVFKlUIHIHKOW 'HUDUWLJ VFKZDFK PDUNLHUWH RGHU IHKOHQGH QDUUDWRORJLVFKH 6WUXNWXUHQ ± NHLQH 6WRU\NHLQ3ORW±VWHLJHUQLQGHVGLH$XIPHUNVDPNHLWDXIGLHPDWHULDOHQ(OHPHQWH GHV7H[WHVGLHLQDQDNUHRQWLVFKHU$UWXQG:HLVHLKUH$XWRQRPLHHUKDOWHQ.ORS VWRFN EHVFKUlQNW GDV LQ Cidli 1752 YHUZHQGHWH /H[LNRQ DXI VHFKV YHUVFKLHGHQH HLQ]HOQH RGHU ZLHGHUKROWH 1RPHQ Ã)UKOLQJVVFKDWWHQ 5RVHQElQGHU 6FKOXP PHU/HEHQ %OLFN (O\VLXPµHOI9HUEHQÃIDQGEDQGZXVVW¶ VFKOXP PHUWHVDK KLQJ IKOW¶OLVSHOW¶UDXVFKWHZDFKWHZDUG¶µXQGHLQ$GYHUE ÃVSUDFKORVµ GDUEHU KLQDXV GHNOLQLHUW Cidli 1752 GLH 3URQRPLQD GHU HUVWHQ XQG
]ZHLWHQ 3HUVRQ 6LQJXODU VRZLH ± LQ GHU OHW]WHQ =HLOH ± GHU HUVWHQ 3HUVRQ 3OXUDO Ã,FK PHLQPLFK6LH LKULKUHPXQVµ'DVVGLHVHV/H[LNRQEHUKDXSWLQGHU /DJHLVW%HGHXWXQJVHIIHNWH]XHU]HXJHQOLHJWGDUDQGDVV.ORSVWRFNJDQ]DXIGLH DQDNUHRQWLVFKH 7RSLN YHUWUDXW (U KDQWLHUW DOVR PLW OH[LNDOLVFKHQ (OHPHQWHQ GLH QLFKWQXULKUHHLJHQH(W\PRORJLHKDEHQVRQGHUQGLHGDUEHUKLQDXVDXFKDOVDQD NUHRQWLVFKH9HUVDW]VWFNHDQYHUWUDXWH6]HQHQRGHU1DUUDWLYHHULQQHUQ'LHVHOHJHQ VLFK ZLH HLQ DVVR]LDWLYLPDJLQlUHV *HZDQG YRU DOOHP XP GDV GUUH *HULSSH GHU VLQJXOlUHQ 7HUPLQL XQG |IIQHQ GLHVH VLQQOLFKHQ Ã=HLFKHQµ XQG Ã%LOGHUµ ± ZLH HV %DXPJDUWHQ IU ,QGLYLGXDOEHJULIIH HUZlJW ± DOV Ä.QRWHQSXQNW PHKUIDFKHU 9RU VWHOOXQJHQ³DXIGDVNROOHNWLYH*HGlFKWQLVKLQ:DVQXQIROJWVHW]WYRUDXVGDVV .ORSVWRFNLQVHLQHPSRHWLVFKHQ([SHULPHQWPLW]ZHLHUOHLNDONXOLHUW(LQHUVHLWVPLW GHUV\PEROLVFKHQ6WUXNWXUGHV*HGLFKWVHU]HXJWPLW+LOIHGHUUKHWRULVFKHQ(ORNX WLRQVWHFKQLNHQ ZLH HU VLH DOV PHGLDOHV (UHLJQLV UHIOHNWLHUW DQGHUHUVHLWV PLW GHU 6HPDQWLNGHU:|UWHUGLHHULP*HGLFKWYHUZHQGHWXQGGLHDXIJUXQGLKUHUODQJHQ hEHUOLHIHUXQJVJHVFKLFKWH DOV NXOWXUHOOH 6\PEROH LQ HLQHP JDQ] XQVSH]LILVFKHQ 6LQQEH]HLFKQHWZHUGHQN|QQHQ 2IIHQEDULVWGDV*HZDQGGHU,QGLYLGXDOEHJULIIHVLQJXOlUHQ7HUPLQL LQDXVJH ]HLFKQHWHU :HLVH LQ GHU /DJH GLH 8QOHVEDUNHLW YRQCidli 1752 YHUJHVVHQ ]X PD FKHQ*HJHQGLHÄUDGLNDOH8QDQVFKDXOLFKNHLWGHU7H[WZHOW³ELHWHW.ORSVWRFNVLQQ OLFKH Ã=HLFKHQµ XQG Ã%LOGHUµ DXI GLH VLFK LQ LKUHU *HGlFKWQLVOHLVWXQJ ]X HLQHP WULYLDOHQÄ0RWLY³±HLQHU6]HQHRGHUHLQHP1DUUDWLY±YHUELQGHQODVVHQDXFKZHQQ GDV 0RWLY GHU LP 6FKODI EHUUDVFKWHQ *HOLHEWHQ EHL .ORSVWRFN GHQ ÄHKHPDOLJHQ VWRIIOLFKHQ5HL]³P|JOLFKHUZHLVHVFKRQYHUORUHQKDWZLH:HLPDUEHUOHJW'LH VHV 0RWLY LVW EHL .ORSVWRFN EXFKVWlEOLFK 9HUKDQGOXQJVVDFKH GHQQ HU PHPRULHUW HV± DOV 7UDXP YHUSDFNW ± DP 2NWREHU LQ HLQHP %ULHI DQ 0HWD 0ROOHU EHYRUHUHVPLWLKUHU=XVWLPPXQJLQCidli 1752 YHUGLFKWHW ,FKKDEHGLHVH1DFKWVHKUYRQ'LUJHWUlXPWPHLQ)(VZDUHLQUHFKWHUQlUULVFKHU7UDXP'X ODJVWXVFKOLHIVWXLFKZROOWH'LFKVDQIWDXIZHFNHQXGDKDWWHLFKGLH*ULOOHLFKPWHGHLQHQ ODQJHQ6FKlIHUVWDEQHKPHQGDPLW'XQLFKW]X]HLWLJDXIZDFKWHVWZHQQLFK'LU]XQDKNlPHX GD ODJ HEHQ HLQHU 'HLQHU %RQQHWHRQGV EH\ PLU GHQ %DQG LFK XQWHQ DQ GHQ 6WRFN GDPLW LFK VDQIWVWRVVHQN|QQWH,QGHPLFKGDVQXQWKDWVRZDFKWHVW'XDXIHLQPDOVDXIXZLOGZLOG XPIDVWHVW GX PLFK X ZROOWHVW PLFK JDU QLFKW ORVODVVHQ X GDV ZDU QRFK VRQGHUEDU GDEH\ LFK ZROOWHJDQ]XJDUQLFKWORVXGXGDFKWHVWGRFKLPPHUGDLFKIRUWZROOWHXNWHVWPLFKLP PHUXVDJWHVWLFKVROOWHGXUFKDXVKHXWHGHQJDQ]HQ7DJLQGHLQHP&ORVHWVRQHQQWHVWGXGHLQ =LPPHU EOHLEHQ )UHXG'LH7UDXPGHXWXQJ6 :HLPDU'DV:DQGHOQGHV:RUWORVHQLQGHU6SUDFKHGHV*HGLFKWV6 9JOGLH,PDJLQDWLRQGHUVFKODIHQGHQ*HOLHEWHQ VRZLHGDV:HFNHQPLWHLQHP6DPW
EDQG GDV VSUDFKORVH :LHGHUVHKHQ VRZLH GLH 6SUDFKH GHU /LHEH GHU%OLFNNRQWDNW LQ+.$$EW%ULHIH,,+JY5DLQHU6FKPLGW%HUOLQ X1HZ1'G$XVJ%G5±6FKLHIH/HLS]LJ@6S
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QDFKJHNRPPHQ LVW DOV HU GHQ 7LWHO YRQCidli 1752NRUULJLHUWVHLGD KLQJHVWHOOW)HVWVWHKWMHGHQIDOOVGDVVGHUQHXH7LWHODas Rosenband,GLH5DKPHQ EHGLQJXQJHQGHU/HNWUHPDJHEOLFKYHUlQGHUW±XQG]ZDULQHLQHU$UWXQG:HLVH GLHHUVWnachGHUHSLVWHPLVFKHQ.RQILJXUDWLRQGHU/LWHUDWXULP+RUL]RQWGHU6LQQ OLFKNHLWP|JOLFKLVW'LHVH.RUUHNWXUOHJWDOVRHLQEHUHGWHV=HXJQLVGDYRQDEZLH .ORSVWRFN ± DOV KLVWRULVFKH 3HUVRQ ± VHLQH HLJHQHQ ([SHULPHQWH GHU HU XQG HU-DKUHDQXQGPLWGHUV\PEROLVFKHQ6WUXNWXUGHV*HGLFKWVDQMHQH6\PERO NRQ]HSWH DQVFKOLHW GLH DQGHUH XP DXVIRUPXOLHUW KDEHQ ZlKUHQG HU VHOEVW GHQ%HJULIIQLFKWYHUZHQGHWREZRKO.ORSVWRFNVRZRKOGLHÃ)RUPHQV\PEROLVFKHU %LOGOLFKNHLW YRUZHJQLPPWµ DOV DXFK GDV )XQNWLRQV XQG /HLVWXQJVSURILO GHV OLWHUDULVFKHQ7H[WHVLP6SDQQXQJVIHOGYRQ6LQQOLFKNHLWXQG9HUVLQQOLFKXQJÃK|KH UHQ 6LQQVµ VR IRUPXOLHUW GDVV GLHVH 6\PERONRQ]HSWH EHUKDXSW GHQNEDU VLQG .XU]XP.ORSVWRFNV.RUUHNWXUJLEWEHUGLH=XNXQIWGHV*HGLFKWV$XVNXQIW :lKUHQG GHU 7LWHO Das schlafende Mädchen GHQ GDV *HGLFKW LP Musenalmanach WUlJW OHGLJOLFK GDV WULYLDOH 0RWLY PDUNLHUW ]HXJW GHU 7LWHOCidli GHQ .ORS VWRFNIUGLH$EVFKULIWZlKOWYRQGHUPHGLDOHQ3UD[LVGHUVRJHQDQQWHQ(PSILQG VDPNHLWGLH7H[WXQG/HEHQDXIHLQDQGHUDE]XELOGHQWUDFKWHW&LGOLLVWGHU$OWWHV WDPHQWDULVFKH1DPHGHQ.ORSVWRFN]XQlFKVWLPMessias YHUZHQGHWVSlWHUIUVHL QH9HUOREWH0HWD0ROOHUXQGGDQQZLHGHUXPLQVHLQHU/LHEHVO\ULNVRGDVVGHU1D PHIRUWDQLQ]ZHL'LVNXUVHQGHPKLVWRULVFKHQZLHGHPOLWHUDULVFKHQNXUVLHUW'HU 1DPHÃ&LGOLµ YHUELQGHWDOVR/HEHQXQG:HUNXQGVRUJWGDIUGDVVGDV*HGLFKWELV KHXWH DOV .RQIHVVLRQ JLOW ZHLO 6LH PLW &LGOL0HWD XQG GDV ,FK PLW .ORSVWRFN JOHLFKJHVHW]W ZHUGHQ 6R JHVHKHQ LVW Cidli 1752 DXFK HLQHV GHU *UQGXQJVGRNX PHQWH MHQHU ÄDXWRU]HQWULVFKHQ³ 3UD[LV GLH HLQHP 6WFN KLVWRULVFKHQ 6R]LDONLW VFKHV9RUVFKXEOHLVWHW±GHU/HJHQGHYRP'LFKWHU.ORSVWRFNXQGVHLQHU0XVH0HWD 'LH$XWRULVLHUXQJGLHVHV'LVNXUVHVHUIROJWMHGRFKHUVWEHUGHQ7LWHOGHU$XV JDEH OHW]WHU +DQG Das Rosenband. 2EZRKO HV LQ GHU $QDNUHRQWLN DXVUHLFKHQG YLHOH%HOHJHIUGHUDUWLJEHUVFKULHEHQHÃ'LQJµ*HGLFKWHJLEWEH]HXJW.ORSVWRFNV 7LWHOZDKOHLQHZHLWHUHLQWHU WH[WXHOOH9HUQHW]XQJ.ORSVWRFNSURML]LHUWGDVOHW]WH :RUW DXV *RHWKHV *HGLFKW Ã5RVHQEDQGµ DXI GLH 7LWHOSRVLWLRQ GHU HLJHQHQ 2GH VRGDVV GDV /HPPD Ã5RVHQEDQGµ GHU LQ ]Z|OI =HLOHQ HQWZLFNHOWHQ NOHLQHQ 6]HQH E]Z GHP 1DUUDWLY HLQ 0RWWR KLQ]XIJW 0LW DQGHUHQ :RUWHQ .ORSVWRFN OLHVW .ORSVWRFN YLD *RHWKH ± XQGGDVLQGRSSHOWHU+LQVLFKW'HQQ*RHWKHNODXEWQLFKW QXUGLHÃ5RVHQElQGHUµDXV.ORSVWRFNV*HGLFKWKHUDXVVRQGHUQHUVWHKWOlQJVW 9JO*HGDQNHQ6WFNH 9JO.RVFKRUNH.|USHUVWU|PH6FKULIWYHUNHKUGHUV'LH9HUVFKULIWOLFKXQJGHU/LHEHXQGLKUH
HPSILQGVDPHQ)ROJHQ=X0RGHOOHQHURWLVFKHU$XWRUVFKDIWEHL*OHLP/HVVLQJXQG.ORSVWRFN ,Q3DXO*RHWVFK+J /HVHQXQG6FKUHLEHQLPXQG-DKUKXQGHUW6WXGLHQ]XLKUHU%H ZHUWXQJLQ'HXWVFKODQG(QJODQG)UDQNUHLFK7ELQJHQ6± .ODXV +XUOHEXVFK .ORSVWRFN +DPDQQ XQG +HUGHU DOV :HJEHUHLWHU DXWRU]HQWULVFKHQ 6FKUHL EHQV (LQ SKLORORJLVFKHU %HLWUDJ ]XU &KDUDNWHULVLHUXQJ GHU OLWHUDULVFKHQ 0RGHUQH 7ELQJHQ
3DWHIUGLH6WUDWHJLHGLH$XIPHUNVDPNHLWGHV/HVHUVGXUFKGHQ7LWHODXIHLQVLQQ OLFKHVÃ=HLFKHQµRGHUÃ%LOGµXQGMHQH7UDQV]HQGHQ]HUIDKUXQJ]XOHQNHQGLHVLHLQ $XVVLFKWVWHOOHQ%LVKlWWHPDQHLQHVROFKH]ZHLJOLHGULJHPDQFKPDO±ZHQQ ]XGHP HLQH $EELOGXQJ LP 6SLHO LVW ± GUHLJOLHGULJH HPEOHPDWLVFKH .RPSRVLWLRQ OHGLJOLFK DXIJUXQG LKUHU %LOGOLFKNHLW HYLGHQWLD V\PEROLVFK JHQDQQW $E ZLUG PDQ 7H[WH GLH GXUFK 7LWHO :LHGHUKROXQJ RGHU QLFKW VHOWHQ HSLJUDPPD WLVFKH3RLQWLHUXQJLKUHUVLQQOLFKHQÃ=HLFKHQµXQGÃ%LOGHUµJHVWHXHUWZHUGHQwieder V\PEROLVFKQHQQHQXQG]ZDULQGHU+RIIQXQJDXIGDV9HUJHVVHQLKUHUDOOHJRULVFK HPEOHPDWLVFKHQ+HUNXQIW:HQQGLHVJHOLQJWGDQQNDQQPDQQlPOLFKGLHÄSDUHU JRQDOH 5DKPXQJ³ JHJHQEHU LKUHU DOWHQ 7UDGLWLRQ DOV QHXH 6WUDWHJLH GHU .XQVW EHKDXSWHQ.ORSVWRFNV7LWHONRUUHNWXULVWGDKHULPEHVWHQ6LQQHEHQVRPDUNWNRQ IRUP ZLH JHVFKlIWVWFKWLJ VLH O|VW GDV HPSILQGVDPH 3URJUDPP GDV GXUFK GHQ 1DPHQ Ã&LGOLµ FRGLHUW ZLUG GXUFK GDV QHXH GDV NODVVLVFKH 3URJUDPP DE GDV GXUFK GHQ +LQZHLV DXI GDV VLQQOLFKH Ã=HLFKHQµ RGHU Ã%LOGµ GHV 5RVHQEDQGHV JH VWHXHUWZLUG&LGOL0HWDLVWWRWHVOHEHGDV5RVHQEDQG :lKUHQG GHU Ä0RGXV GHU DOOHJRULVFKHQ 5HGH >«@ HLQH $QZHLVXQJ³ HQWKlOW ÄZLHVLH]XYHUVWHKHQVHL³IHKOHGHPPHWDSK\VLVFKYHUDQNHUWHQ6\PEROXP VR.XU]HLQHVROFKH$QZHLVXQJVRGDVVHVELVKHXWHIUHLQHKHUPHQHXWLVFKH=X PXWXQJ IU GLH 3URWRIRUP VHPDQWLVFKHU $PELJXLWlW JHKDOWHQ ZLUG 6\PEROH VLQG VLQQOLFKH Ã=HLFKHQµ XQG Ã%LOGHUµ PLW ÄJDQ]KHLWOLFKHU PHKUGLPHQVLRQDOHU XQG DP ELJXRVHU %HGHXWXQJ³ $XIJUXQG LKUHV NRPSOH[HQ 6LQQV ELOGHQ VLH GHQ *HJHQVDW] ]XU ÄUDWLRQDO DXIO|VEDUHQ HLQVFKLFKWLJHQ $OOHJRULH³ .ORSVWRFNV 7LWHO3ROLWLN PDFKW IUHLOLFK GHXWOLFK GDVV GHU Ã0RGXV GHU V\PEROLVFKHQ 5HGHµ XP QLFKW QXUZLHGHUMHQLJHGHUDOOHJRULVFKHQHLQH$QZHLVXQJHQWKDOWHQPXVVVRQGHUQGDVV HUVRJDUGLHVHOEH$QZHLVXQJHQWKlOWZLHGHUÃ0RGXVGHUDOOHJRULVFKHQ5HGHµ-HGH )RUP GHU :LHGHUKROXQJ LQVEHVRQGHUH DEHU GLH :LHGHUKROXQJ HLQHV OH[LNDOLVFKHQ (OHPHQWV DQ GHU 7LWHOSRVLWLRQ IRNXVVLHUW GLH $XIPHUNVDPNHLW GHV /HVHUV $OV 6WHXHU]HLFKHQ LQWHJULHUW GDV 7LWHOVFKODJZRUW Ã5RVHQEDQGµ GLH HLQ]HOQHQ +DQGOXQ JHQ ]X HLQHU 6HTXHQ] 'DV )LQGHQ %LQGHQ 1LFKW:LVVHQ 6FKOXPPHUQ 6HKHQ +lQJHQ)KOHQ/LVSHOQ5DXVFKHQ$XIZDFKHQ6HKHQ+lQJHQXQG:HUGHQ±]X HLQHU6HTXHQ]GLHQXQHLQH6]HQHE]ZHLQ1DUUDWLY]XGHPYRQGHQÃ5RVHQElQ GHUQµDEVWUDKLHUWHQ/HPPDÃ5RVHQEDQGµELOGHW'HP%HIHKOGHUYRQGLHVHP6WHX HU]HLFKHQDXVJHKWIROJW/DQGIHVWHU6LHVLHKWLQGHU6LQJXODU3OXUDO'LIIHUHQ]GDV 6LJQDO GDIU GDVV .ORSVWRFN HLQHQ ÄIXQGDPHQWDOHQ :DQGHO LQ GHU 5HGH EHU GLH =X GHQ VHPLRWLVFKUKHWRULVFKHQ lVWKHWLVFKHQ XQG LQVWLWXWLRQHOOHQ $VSHNWHQ GHV 6\PEROV YJO
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