Pluralismus und Monismus 9783534400065, 9783534400072, 9783534400089, 3534400062

Von Pluralismus wird heute oft gesprochen, von Monismus kaum. Und doch ist monistisches Denken nach wie vor verbreiteter

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German Pages 124 [126] Year 2018

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Title
Impressum
Inhalt
Prolog
1 Die Welt der Poleis – die Weltherrschaft Gottes
2 Die Welt der Götter – die Herrschaft des Einen und Wahren
3 Die Wissenschaft vom Kosmos – die Weisheit von Gott
4 Die pluralistische Kultur der Hellenen
5 Von Kyros zu Theodosius – und zum Widerstreit der Neuzeit
Epilog – Grundsätzliche Überlegungen
Beispiel einer extrem pluralistischen Konzeption
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Pluralismus und Monismus
 9783534400065, 9783534400072, 9783534400089, 3534400062

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Konrad Eugster Pluralismus und Monismus ❦

A mes élèves

Konrad Eugster PLURALISMUS UND MONISMUS

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Layout und Satz: Bernard Schlup, Atelier Lapislazuli, Bern Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40006-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-40007-2 eBook (epub): ISBN 978-3-534-40008-9

… nicht nur Völker, Zeiten, Kulturen, sondern auch innerhalb jeder Kultur die Stände heben sich im Zauberspiegel des Nietzscheschen Pluralismus mit einer so noch nicht dagewesenen Farbigkeit gegeneinander ab … Ludwig Klages Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches S. 150 | 2. Auflage

❦ Es kann geschehen, dass eine Bemerkung – wie diese – zur grossen Anregung wird. ❦

PROLOG

– Ist die Wirklichkeit begründet und beherrscht von Einem einzigen Willen, ist sie gar im Tiefsten nur Eins? – oder ist sie ­unermessliche Vielfalt eigenständiger Wesen? – Ist der Mensch als bewusste Person der höchste Zweck, Krone der Schöpfung, und darum dazu berufen, alles sich dienstbar zu machen? – oder trägt alles in der Welt seinen ­unrückführbaren Wert und seine Würde in sich selbst? – Ist es besser, wenn in der Gesellschaft Eine weise Macht alles verfügt? – oder wenn Viele mit- und gegeneinander in vernünftigem Ausgleich wirken? Vor diesen grossen Fragen standen und stehen alle Völker der Hochkulturen. Und ihre Entscheidungen bestimmten bis in die Tiefe ihr politisches, religiöses und kulturelles Leben, wenn auch nur die wenigsten Menschen die Fragen grundsätzlich durchdacht und bewusst beantwortet haben. ❦ Im praktischen Leben ist im Übrigen weder rein mo­nistisches Verhalten möglich noch rein pluralistisches. Auch der ­extreme Monist muss, wenn er sich bemüht, sein Tun immer wieder auf seinen einzig gültigen Wert auszurichten, Versuchungen durch andere Antriebe niederkämpfen, ihnen mindestens eine gewisse Wirkung zugestehen. Und die Pluralisten geraten bisweilen in die Lage, da sie sich für Eines entscheiden ­müssen, wenn es für sie, wie man sagt, ums Ganze geht. So sind denn alle Haltungen und Gedankensysteme, die wir als monistisch oder pluralistisch bezeichnen, genau genommen immer nur der Tendenz nach monistisch oder pluralistisch. In diesem Sinne also seien diese Begriffe hier verwendet. ❦

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Wenn nun im Folgenden ausführlich dargelegt wird, wie tief diese Tendenzen unsere religiöse, politische und geistige Welt geprägt haben, so sei hier doch in aller Deutlichkeit ­gesagt: Wir behaupten damit keineswegs, dass alles mensch­liche Denken und Verhalten allein im Lichte dieses Einen ­Gegensatzes zu deuten wäre. ❦

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DIE WELT DER POLEIS – DIE WELTHERRSCHAFT GOTTES

Nicht wir haben die Perser besiegt, sondern die Götter und Heroen, denen es nicht gefiel, dass ein Mann über Asien und Europa herrsche. Themistokles bei Herodot 8.109

Ich, Darius, der grosse König, der König der Könige, der König in Persien, der König der Länder. Nach dem Willen Ahuramazdas bin ich König. Dariusinschrift in Behistun

❦ Was nach Herodots Worten die Griechengötter dem Gross­ könig missgönnten, war ein uraltes Vorrecht der Fürsten des Alten Orients. Soweit unsere Quellen zurückreichen, finden wir dieselbe Vorstellung: Im Auftrag des obersten Gottes ­unterwirft ein erwählter Herrscher die Länder der ganzen Erde und errichtet auf ihr ein umfassendes Reich der Gerechtigkeit und der Wohlfahrt. Wer sich ihm widersetzt, ist nicht ein Gegner, mit dem er sich in ritterlichem Kampfe misst, ­sondern ein Aufrührer gegen die heiligste Macht, ein Frevler gegen die Wahrheit, der Schlimmeres verdient als blosse ­Vernichtung. Als Enlil, der Herr der Länder (Enlil ist der oberste Gott der Sumerer), an Lugalzaggesi das Königtum des Landes ver­ liehen hatte, … als er die Länder unter seine Füsse nieder­ geworfen hatte und sie vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne unter seine Gewalt gebracht hatte, damals hat er ihm die Wege vom Unteren Meer über Euphrat und Tigris bis zum Oberen Meer geebnet. Er liess die Länder in Sicherheit wohnen und bewässerte das Land mit Wasser der Freude.

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So lesen wir auf der Inschrift des Königs Lugalzaggesi von Umma, fast dem ältesten historischen Bericht, der uns überliefert ist (2350 v. Chr.). Wie Lugalzaggesi seine Widersacher behandelte, lässt die Chronik von Lagasch, einer eroberten Stadt, erkennen: Die Leute von Umma (der Stadt, von der Lugalzaggesis Macht ausging) … raubten das Silber und die Edelsteine, haben Blut im Palaste Tirasch vergossen, im Heiligtum Enlils und im Heiligtum Babas … (ebenso in zwölf weiteren Tempeln). Vom Felde Ningirsus (des Stadtgottes von Lagasch) haben sie das Korn geraubt, soweit es bebaut war. Hartmut Schmökel: Das Land Sumer, Urban Bücher 13, S. 66/67

Hier wird nun – voll ausgebildet – die Altorientalische Weltherrschaftsideologie erkennbar, die in der Geschichte der Hochkulturen in immer neuen Ausprägungen bis heute weiterwirkt: Die höchste Gottheit befiehlt ihrem erwählten König und seinem Volk, die Welt ihr untertan zu machen, die Widersacher zu bestrafen und das ewige Reich des Friedens und der Gerechtigkeit zu gründen. Lugalzaggesis Nachfolger variierten die hier geprägten Formeln nur noch unwesentlich. Der Bezwinger Lugalzaggesis, der Akkader Sargon, bezeichnet sich als Statthalter der Ischtar, geweihten Priester des Anu, König des Landes, Grossvikar des Enlil. Sargon, dem Herrn des Landes, hat Enlil keinen Rivalen gegeben: vom Nordmeer bis zum Südmeer hat er ihm die Herrschaft gewährt. Kurt Jaritz: Babylon, 1966 Franke Verlag, S. 37

Sein Enkel Naramsin verdeutlicht diesen Anspruch, indem er sich Herrn der vier Weltgegenden nennt; gemeint ist: Herr des Südens, Ostens, Nordens und Westens. Eine Spielart dieser

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­ ezeichnung lautet: König der Gesamtheit. Diese Titel tragen B nun regelmässig die Monarchen Mesopotamiens bis in die Zeit Neubabylons im ersten Jahrtausend vor Christus. Den klassischen Ausdruck finden diese Vorstellungen im Prolog des Hammurabigesetzes: Als Anu und Bel, der Herr von Himmel und Erde, dem Mar­duk, dem Sohne des Ea, des Weisen, die Herrschaft über die Men­ schen zuerteilt und Babylon mit seinem Namen nannten und gross auf Erden machten, und als sie ein ewiges Königtum in ihm errichteten, dessen Grundlagen fest wie Himmel und Erde sind, – damals haben sie mich, Hammurabi, als hohen Fürsten berufen, damit das Recht im Lande stark werde, um den Schlechten und Bösen zu vernichten, dass der Starke dem Schwachen nicht schade, damit ich wie der Sonnengott über den Menschen aufgehe, das Land erleuchte und das Wohl der Einwohner fördere. Ich schüttete Reichtum aus über die ­Städte … Der König, dem die vier Weltgegenden gehorchen, bin ich. … Den Menschen, die mir Bel geschenkt, entzog ich mich nicht, und war nicht säumig; eine Wohnstätte des Friedens ver­ schaffte ich ihnen; mit der mächtigen Waffe, welche Ischtar verliehen, mit der Klugheit, die Ea mir bestimmt, mit der Weisheit, die Marduk mir gegeben, habe ich die Feinde im Norden und Süden ausgerottet, die Erde unterworfen, dem Lande Wohlbefinden verschafft … Einen Unruhestifter habe ich nicht geduldet … Der gute Hirte bin ich, dessen Stab gerade ist, der gute Schatten, der über der Stadt liegt. An meiner Brust hege ich die Einwohner des Landes Sumer und Akkad, in meinem Schutze habe ich sie ausruhen lassen; in meinem Frieden und meiner Weisheit sind sie geborgen. Dass der Schwache nicht bedrängt werde, sind diese Worte auf ­meinem Denkstein geschrieben unter meinem Bildnis als des Königs der Gerechtigkeit.

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Abb.1 Mari, Mittelteil des grossen Wandgemäldes in Hof 106 des Zimrilim-Palastes: Der König vor der Göttin Ischtar in Gegenwart weiterer Gottheiten (obere Bildhälfte) und wasserspendende Gottheiten (untere Bildhälfte). Nach A. Parrot, Mari II, 1958

Bildlich dargestellt erscheint die Idee in einem der häufigsten Motive auf Siegeln und Bildsäulen: Der König steht vor seinem Gotte in ehrfürchtiger Haltung und empfängt von ihm Ring und Stab – vermutlich die Zeichen der ewigen und umfassenden Macht. Nicht selten spielt sich diese Handlung in paradiesischer Umgebung ab; neben den ehrwürdigen Gestalten erscheinen Bilder des Lebensbaumes oder des Lebenswassers, Allegorien für das Ergebnis des königlichen Wirkens: für das Reich der Wohlfahrt und der Gerechtigkeit.

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Abb. 2 Chephren | Hirmer, Ägypten, 1961

Noch ausgeprägter als in Mesopotamien entwickelte sich dieser theokratische Staatsgedanke in Ägypten. Während die Könige des Zweistromlandes – abgesehen von den Gottkönigen der Akkadzeit – nur als die Beauftragten des Weltgottes galten, waren die Herrscher des Alten Reichs der Grosse Horus selber, die menschliche Gestalt des Himmelsfalken, des höchsten Gottes. Unmittelbar sinnfällig erscheint diese Wesenseinheit im berühmten Sitzbild des Königs Chephren: Das Haupt des Herrschers wächst gleichsam aus den Flügeln des Horus­ falkens heraus, die Flächen der Flügel gehen ohne Unterbruch unmerklich in die Haube des Fürsten über.

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Dass der König der oberste Gott ist, sprechen – wie Herrmann Junker in seinem Buche über die Pyramidenzeit gezeigt hat – zahlreiche Eigennamen nichtköniglicher Personen aus. Chephren dauert ewig, heisst da etwa ein Ägypter, Besitzer des Lebens ist Cheops, Cheops hat mich errettet, heissen andere. Diese Namen, die dem Kind bei der Geburt beigelegt ­wurden, oft spontane Ausrufe der Eltern, sind nicht ­Zeichen einer Liebesdienerei oder Äusserungen eines Byzantinismus, sondern Beweise, dass der Glaube an die Göttlichkeit des Herrschers nicht leere Phrase war. Herrmann Junker: Pyramidenzeit, S. 49

Selbst als später der Sonnengott Re zum obersten Reichsgott aufstieg und die Pharaonen nur noch als Söhne des Re galten, führten sie den traditionellen Horustitel weiter. Auf dem ­Sarkophag des Königs Phiops I. am Ende des Alten Reichs steht als Titel: Horus des Lichtlandes, der Herr des Himmels und Der grosse Gott, der Herr des Lichtlandes; noch Ramses V. zur Zeit des Neuen Reichs wird in einem Hymnus als Horus angeredet: Du bist ein König wie Horus. Das Land ist froh in deiner Zeit, nachdem du dich auf den Thron gesetzt hast. Sie jubeln dei­ nem heiligen Namen zu wie dem des Horus, des Herrn der beiden Länder … Ein guter Nil kommt in deiner Zeit, nachdem du das Recht hergestellt hast. Der Nil bringt dir Fruchtbarkeit der Felder. … Die Fremdvölker leisten dir Tribut. Von der 5. Dynastie an galt also der König nur noch als Gottessohn. In reizvoller Darstellung wird im Tempel von Deir el Bahri berichtet, wie der Götterkönig Amun Re zur Gattin des regierenden Pharao geht, um mit ihr den Thronfolger zu zeugen: Es kam dieser herrliche Gott, Amun, Herr der Throne der Länder, nachdem er die Gestalt ihres Gatten angenommen hatte.

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… Sie erwachte vom Dufte des Gottes und lachte vor seiner Majestät. Er ging sofort zu ihr und entbrannte für sie. Er verlor an sie sein Herz. Sie konnte ihn schauen in der Gestalt eines Gottes, nachdem er ihr nahe gekommen war. Sie jauchzte, seine Schönheit zu sehen. Seine Liebe drang in ihre Glieder. Der Palast war überflutet vom Geruch des Gottes. All seine Düfte waren wie die Wohlgerüche von Punt. Die Majestät dieses Gottes Tat an ihr alles, was er wünschte. Sie erfreute ihn mit sich und küsste ihn. ❦ Der Weltherrschaftsanspruch des Gottessohnes nun ist unmissverständlich ausgesprochen im Krönungsritual von Karnak und zwar in der Formel, die uns von Mesopotamien her bekannt ist: durch die Erwähnung der vier Himmelsrichtungen. Rede des Amon, des Königs der Götter: ‹Mein Sohn von mei­ nem Leibe, mein Liebling … mein lebendes Abbild, den mein Körper geschaffen hat; … ich habe Dich als einzigen Herrn der Menschheit aufgezogen. … ich tue Wunder für Deine ­Majestät, damit Du wieder jung wirst, da ich Dich ja zur Sonne der beiden Länder eingesetzt habe. Ich wende mein Gesicht nach Süden und tue Wunder für Dich. Ich lasse die Grossen des Landes Nubien mit allen Tributen auf ihren Rücken zu Dir ziehn.

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Ich wende mein Gesicht nach Norden und tue Wunder für Dich. Ich lasse die Barbaren des äussersten Asiens mit all ihren Tributen auf dem Rücken zu dir kommen, damit sie Dir sich selbst und ihre Kinder darbringen. Ich wende mein Gesicht nach Westen und tue Wunder für Dich … Ich wende mein Gesicht nach Sonnenaufgang und tue Wunder für Dich …› Selbst der Neuerer Echnaton bleibt in dieser Vorstellung: Du bist in meinem Herzen, – kein anderer ist, der dich kennt, ausser deinem Sohne Echnaton. Du hast ihn eingeweiht in deine Pläne und in deine Kraft. Seit du die Erde gründetest, hast du sie aufgerichtet für deinen Sohn, der aus dir hervor­ ging, den König, der von der Wahrheit lebt. ❦ Diese Texte kommen christlichen Formulierungen so nahe, dass sich unwillkürlich die Frage nach geschichtlichen Zusammenhängen aufdrängt. Nicht nur die Vorstellung, dass der Gottessohn und der zukünftige Weltherrscher von Gott mit einer auserwählten sterblichen Frau gezeugt sei, sondern auch die feierlichen Einsetzungsworte, durch die er zum ­Gesalbten Gottes wird, erinnern an das Königsritual von Karnak: Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, sagt die himmlische Stimme bei Jesu Taufe (Luc. 3.22); einige Handschriften des Lukasevangeliums zitieren vollständiger: Du bist mein ­lieber Sohn, heute habe ich dich gezeugt. Es handelt sich nämlich um die Worte des Krönungspsalmes von Jerusalem (Psalm 2), Jesus wird also durch sie zum Messias: zum neuen König von Jerusalem erhoben, der bestimmt ist, das Gottesreich heraufzuführen.

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Habe ich doch meinen König eingesetzt auf Zion, meinem hei­ ligen Berg. Mein Sohn bist du, ich habe dich heute gezeugt. Heische von mir, so gebe ich dir die Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum. Psalm 2.6ff.

Dass wir es hier nicht mit ursprünglich hebräischem Gedankengut zu tun haben, leuchtet sofort ein. Zum Gotte Abrahams und Moses’ passt die Vorstellung, er sei der leibliche oder auch geistige Vater des jeweils herrschenden Königs von Jerusalem, denkbar schlecht. Die Juden haben offenbar das vorisraeli­ tische Inthronisierungsritual von Jerusalem übernommen, und dieses nun scheint eine verkürzte Nachahmung des eben zitierten Krönungstextes von Karnak gewesen zu sein. Jerusalem gehörte während des Neuen Reichs jahrhundertelang zum ägyptischen Machtbereich; dass der Kleinkönig von Jerusalem die Pharaonen nachahmte, zumal, als er dann selbständig wurde, ist so leicht verständlich wie etwa der Umstand, dass jeder Duodezfürst des achtzehnten Jahrhunderts sein kleines Versailles errichtete. Indessen wäre es verfehlt, die jüdische Ausprägung der theokratischen Weltherrschaftsvorstellung bloss als Nach­ ahmung der ägyptischen anzusehen. Zwar ist es nicht ausser­ gewöhnlich, dass Fürsten den Titel eines Weltherrn führten, die ihn unter gar keinen Umständen im Ernste wörtlich nehmen konnten; so nannte der König des Kleinstaates Eschnunna im 19. Jahrhundert v. Chr. seinen Stadtgott Tischpeh König der vier Weltgegenden. Die Propheten Israels aber haben unter dem ­Eindruck des Missverhältnisses zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit die Gottesreichsvorstellung in die Zukunft gewendet. Im Elend der Assyrerzeit geben sie dem Gedanken der Weltherrschaft eines Gottgesandten eine neue, vertiefte Bedeutung. Was Ausdruck eines stolzen Anspruchs in der Gegenwart gewesen war, vielleicht auch Ausdruck des Bewusstseins einer ethischen Verpflichtung, das wurde Hoffnung auf die endgültige Erfüllung aller menschlichen Sehnsucht am Ende der Zeit.

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Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heisst Wunder­ bar, Rat, Kraft, Held, Ewigvater, Friedefürst; auf dass seine Herrschaft gross werde und des Friedens kein Ende auf dem Stuhl Davids und in seinem Königreich, dass er’s zurichte und stärke mit Gericht und Gerechtigkeit von nun an bis in die Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth. Jesaia 9, 5 und 6

Der Geist des Herrn ist über mir, darum, dass der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass ihnen geöff­ net werde; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unseres Gottes, zu trösten alle Trau­ rigen. Jesaia 61, 1-2

Ich sah in diesem Gesichte des Nachts, und siehe, es kam einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn bis zu dem Alten und ward vor ihn gebracht. Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker aller Nationen und Zungen die­ nen sollten. Seine Gewalt ist ewig, und vergeht nicht, und sein Königreich hat kein Ende. Daniel 7, 13 – 14

In höchster Vergeistigung ist diese Hoffnung zum Inhalt des heiligsten Gebets der Christenheit geworden, und heute noch erflehen Millionen von Menschen täglich das Kommen des Reichs, in dem Gottes Wille auf Erden geschieht wie im ­Himmel, in dem Gerechtigkeit herrscht und die menschlichen Sünden vergeben sind. Ob nun die Deutung des rätselhaften epiousios artos als tägliches Brot richtig sei oder nicht, der Gedanke, dass im Reiche Gottes die Not der Fülle weiche, ist lebendig ge­ blieben. ❦

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Abb.3 Karnak. Tempel des Reichsgottes Amon, VII. Pylon: König Thutmosis III. schlägt die bezwungenen Asiaten

Lebendig blieb auch die Vorstellung, dass die Feinde des Gottesreichs der schlimmsten Strafe verfallen würden. Die Worte des Verses 9 in Psalm 2: Du magst sie zerschlagen mit eisernem Stabe, du magst sie zerschmeissen wie Töpfergeschirr wirken wie ein Nachklang auf ägyptische Darstellungen, die den Pharao zeigen, der die gefangenen Widersacher mit seiner Keule niederschlägt.

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Abb.4 2560 v. Chr. Sog. Geierstele: Siegesstele des Eannatum, des Gottesvogtes von Lagasch. Aus Tell Loh. Kalkstein. Höhe 1,80 m | Paris Louvre

Hier zeigt sich nun die dunkle Seite des politischen Monismus. Von früh an wurde auch in Mesopotamien dargestellt, wie ­Besiegte gefoltert und umgebracht werden. Auf dem ältesten historischen Dokument schon, das wir überhaupt kennen, der Geierstele von Lagasch, erscheint der Gott, der das Netz über die Gegner wirft und sie mit der Keule erschlägt. Die Akkader, Ende des 3. Jahrtausends, und dann im 1. vor allem die Assyrer, stellten immer wieder als gottgefälliges Werk dar, wie Gefangene gefoltert, gedemütigt und hingerichtet werden. Der Herr der vier Weltgegenden hat die Feinde seines Gottes zu bestrafen und auszurotten. Und wer wie Saul den von Gott befohlenen Völkermord nicht vollzieht, fällt in Ungnade. Fortan hat der politische Monismus seine blutige Spur durch die Jahrtausende gezogen: Völkermord, Folter, Terror im Namen der allein wahren Gottheit oder Ideologie.

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Abb.5 Reichsakkadisch II/III. Um 2415 – 2290 v. Chr. Fragment einer Stele aus Tell Loh. Kalkstein, Höhe 34cm | Paris Louvre

Wie die Gottesreichsidee etwa in der Lehre von Jesus ins Absolute vergeistigt ist, so wurde auch der Bestrafungsgedanke ins Metaphysische erhoben. Die Folterungen, mit denen die Assyrer die Widersacher ihres Gottes züchtigten, endeten mit der Vernichtung der Gepeinigten; die Rache des einzig wahren Gottes dagegen ist unendlich. Das jedenfalls war seit Zarathustra das Dogma der monotheistischen Religionen des Westens. ❦

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Der Schandfleck des westlichen Denkens

Auch die Höllen der Inder und Buddhisten sind Ausgeburt einer durch und durch perversen Phantasie, aber sie gelten wenigstens nicht als ewig; das Dogma einer ewigen Verdammnis ist das Niederträchtigste, was Menschen je gedacht haben: Der allweise Schöpfer wirft einen nicht geringen Teil seiner Geschöpfe in unendliche Pein, weil ihnen weder die Gnade zuteil wird, auf die richtigen Verkünder seiner Offenbarung zu treffen, noch die Einsicht und der Wille, ihnen zu glauben – freilich ist es Gott, der den Willen schafft. Und der Gipfel dieser Ungeheuerlichkeiten: Der Schöpfer hat in seiner unergründlichen Weisheit von Anfang an die einen in Gnade erwählt, die anderen verworfen, bestimmt zu absolutem Leiden. Auch mich hat die ewige Liebe geschaffen, steht am Eingang zu Dantes Hölle geschrieben: wahrlich nicht nur die Metaphysik des Hen­ kers, wie Nietzsche sagt, sondern vielmehr die Metaphysik des Folterknechts. Diese Vorstellung galt dem westlichen Denken Jahrtausende lang fast unbestritten als Ausdruck rechtgläubiger Gottesfurcht; und mag sie auch nichts als eben eine Vorstellung sein – sie hat das Leben unzähliger Menschen überschattet und durch abgrundtiefe Ängste vergiftet. Und das ist umso beschämender, als sich aus den heiligen Schriften, wenigstens den christlichen, nicht unzweifelhaft entnehmen lässt, dass die Höllenstrafen unbegrenzt dauern. Auch der sprachliche Befund ist keineswegs eindeutig. Was unbesehen als ewige Pein übersetzt wurde, kann ebenso gut heissen zeitliche Pein – aion bezeichnet die Lebens- oder die Weltzeit. Selbst bei Paulus findet sich der Gedanke, Gott nehme am Ende alle und alles in sich auf. Die Lehre der Allversöhnung blieb lebendig, etwa im Werk des Raimundus Lullus, so sehr die Kirchen sie immer wieder verdammten; und sie gewinnt in der heutigen Theologie mehr und mehr Zustimmung.

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Und vielleicht besinnen sich auch muslimische Schriftgelehrte darauf, dass der Koran, den sie sonst durchaus wörtlich nehmen, Allah den Allerbarmer nennt. ❦ Mit diesen Betrachtungen sind wir allerdings von unserem Gegenstand, der politischen Grundkonzeption des Alten Orients, abgekommen. Doch können sie uns in der wichtigen Frage weiterhelfen, was die beschriebenen Auffassungen ausserhalb der offiziellen Programme den Menschen bedeutet haben mögen. Wenn die tiefsten religiösen Lehren des Alten Orients in den Formeln vom Gottessohne ausgedrückt werden, vom Beauftragten des Herrn, der die gesamte Menschheit in einem ewigen Friedensreiche vereinigt und alle Widersacher für immer der gerechten Strafe zuführt; wenn ausserdem diese Vorstellungen eine so ungeheure weltgeschichtliche Macht geworden sind, dass sie bis heute das religiöse Empfinden grosser Teile der Menschheit beherrschen, so ist es wenig wahrscheinlich, dass sie ursprünglich nichts als ideologischer Überbau gewesen sind, plumpe Erfindungen zynischer Machthaber. Einleuchtender ist die Annahme, die genannten Formeln hätten von frühester Zeit an zutiefst den Sehnsüchten und Hoffnungen der altorientalischen Menschen entsprochen, und gerade darum sei es auch möglich gewesen, mit ihrer Hilfe die Massen zu blenden. Worauf allerdings diese Bereitschaft beruhte, den monarchischen Anspruch zu anerkennen, auf diese Frage werden wir noch zurückkommen müssen. Jedenfalls bestimmte die Weltherrschaftsidee in hohem Masse die politische Wirklichkeit im Ablauf der Geschichte. Seit dem Reiche des Lugalzaggesi und der Akkader entstanden und stürzten die Grossmächte eine nach der andern. ­Blutige Kriege, Deportationen, Folterung der Gefangenen und Völkermord überschatteten das Bild der altorientalischen Welt bis in die Zeit der persischen Grosskönige, die dem unablässi-

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gen Ringen für fast ein Vierteljahrtausend ein Ende setzten und sich als Herren eines Reiches vom Indus bis zur Donau und vom Nil bis ans Kaspische Meer mit weit höherem Rechte Herren der Welt nannten als ihre Vorgänger. Selbst das Versprechen von Wohlfahrt und Gerechtigkeit war nicht immer bloss leere Phrase. Hammurabis Briefe zum Beispiel beweisen, dass er sich unermüdlich darum bemüht hat, seinen Untertanen zu ihrem Recht zu verhelfen; die naturalistischen Büsten der Pharaonen des Mittleren Reichs stellen Menschen dar, deren Gesichter von der Last der Verantwortung und von der Sorge geprägt sind. Und es gab Zeiten, in denen auch wirklich ein beachtlicher Wohlstand herrschte, etwa die Spätsumerische Periode, die Blütezeiten des Alten, Mittleren und Neuen Reichs in Ägypten, die Spätbabylonische Epoche und schliesslich die Jahrhunderte der Perserherrschaft. ❦ Kehren wir zum Worte Herodots zurück, den Göttern habe es missfallen, dass ein Mann über Asien und Europa herrsche, so wird uns nun mit aller Deutlichkeit bewusst, wie tief sich die politische Gesinnung der Griechen von der des Alten Orients unterscheidet: Nicht Weltherrschaft, nicht Einheit der Menschen in einem Reich des Friedens und der Gerechtigkeit sind die Ziele ihrer Politik, sondern Autonomie und Freiheit. Auch kleine und kleinste Staaten bemühten sich, ihre Selbständigkeit zu bewahren, und trugen mit Stolz die Eigentümlichkeiten ihrer Lebensführung zur Schau; und die grössten in dieser Welt der Kleinstaaten sahen sich gezwungen, ihre Kämpfe um die Hegemonie als Kämpfe um die Freiheit aller Griechenstädte auszugeben. Dieser Zug zur Kleinstaaterei war so sehr ein Zug des hellenischen Lebens überhaupt, dass die Griechen auch in den äussersten Gefahren nie sich wirklich vereinigten. Gleich das erste literarische Dokument der griechischen Welt berichtet von der Unfähigkeit griechischer Herren, sich einer allgemeinen Führung vernünftig und diszipliniert unter-

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zuordnen: Die Ilias ist das Lied vom Zorne des Achill, der wegen eines Ehrenhandels dem Oberfeldherrn Agamemnon schlicht den Gehorsam aufkündigt und gewissenlos das ganze Unternehmen aufs Spiel setzt. Ob nun die Sagen, die im Epos überliefert wurden, vor allem aufschlussreich seien für die Zeit, von der sie berichten, oder für die Zeit, in der sie entstanden, so viel lässt sich sagen: Sie spiegeln eine Welt wider, die aus einer Vielfalt weitgehend selbständiger Mächte bestand, eine Welt von zahllosen Kleinfürsten, die sich nur selten und immer nur unter Schwierigkeiten zu grösseren Unternehmungen zusammenfanden, etwa zur Kalydonischen Jagd, zum Argonautenzug und den Zügen nach Theben oder Troia; und regelmässig entstanden unter den Teilnehmern verhängnisvolle Streitigkeiten. Diejenigen, die die undankbare Aufgabe hatten, diese disziplinlosen Haufen zu führen, sind von den Dichtern eher als tragische Gestalten denn als glanzvolle Herrscher geschildert. Agamemnon, Meleager und Jason enden alle drei aufs jammervollste. Die Sage hält genau das fest, was auch für die Welt der griechischen Staaten in der geschichtlichen Zeit gilt: das politische Leben war ein Nebeneinander, oft auch ein Gegeneinander verschiedener selbständiger Kräfte, die eifersüchtig darüber wachten, dass keine zu mächtig wurde. In der historischen Zeit war Inbegriff und Grundlage dieses politischen Lebens die Polis. Über die Polis ist viel geschrieben worden, am geistreichsten wohl von Kitto in seinem unvergleichlichen Buch über die Griechen. (H.D.F. Kitto: Die Griechen). Hier sei nur das wiederholt, was in diesem Zusammenhange wichtig ist: Zum Wesen der Polis gehören, wie schon erwähnt, Freiheit und Eigenständigkeit, Eleutheria und Autono­ mia. Autonomie bedeutet nun nicht nur die innenpolitische Eigenständigkeit, die es der Bürgerschaft ermöglicht, diejenige Verfassungsform zu wählen, die ihrem Willen entspricht, sondern vielmehr Eigenständigkeit auf allen Lebensgebieten. In der Sprache, Kleidung, in den Umgangsformen des täglichen Lebens unterschied sich ein Athener etwa von einem Korinther

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ebenso sehr wie sich ihre Gesetze, ihre Kulte und Mythen, ihre Feste, ihre Münzen und die Erzeugnisse ihrer Handwerker ­unterschieden. Jede der vielen hundert Poleis hatte ihr eigenes, unverwechselbares Gesicht und prägte mit ihrem Stil unverkennbar und verpflichtend die Lebensatmosphäre und die ­Lebensführung ihrer Mitglieder. Im Worte Autonomie steckt der wichtige Begriff Nomos, der Brauch, Sitte, Gesetz, kurz ­Lebensform bedeutet. Für seinen Nomos muss das Volk kämpfen wie für seine Mauer, sagt Heraklit von Ephesos. (Diels, Vor­ sokratiker, Her. 44), und Sophokles lässt den Chor in der Antigone singen: Im höchsten Sinne gehört zur Polis, wer dem Nomos sei­ ner Erde und dem beschworenen Recht der Götter nachlebt; nicht zur Polis gehört, wer sich vermisst, aus der schönen Ordnung ­herauszutreten. (Wörtlich übersetzt lautet der Satz: Nicht zu einer Polis gehört, mit wem, der Vermessenheit wegen, das NichtSchöne ist. Ant. 368ff.). Die bekannteste Prägung durch einen bestimmten Nomos mag die Zucht der Spartiaten sein. In ­Herodots berühmter Erzählung sagt der Spartaner ­Demarat zum Grosskönig Xerxes von seinen Mitbürgern: Frei sind sie, aber nicht zu allem. Es steht nämlich über ihnen der Nomos als Herr, den sie noch viel mehr fürchten als die Deinen dich. Sie tun, was er befiehlt. Nun befiehlt er ihnen ­unerbittlich, einer jeden Übermacht standzuhalten, in der Schlachtreihe auszuharren oder zu fallen. 7.104.4

Demarat erwähnt hier nur einen – freilich wichtigen – Zug des spartanischen Nomos; bekanntlich war das ganze Leben eines Spartiaten von derart strengen Formen geprägt, dass der spartanische Staat zu einem kaum erreichbaren Vorbild einer totalitären Ordnung geworden ist. Trotzdem nennt er die Spartaner zunächst einmal frei. Und damit sind wir beim zweiten Wesenszug der Polis. Freiheit ist einerseits die aussenpolitische Unabhängigkeit, wonach eine jede Polis strebt – und bei weitem nicht alle haben

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sie sich erhalten können – ; anderseits ist Freiheit eine der wichtigsten Bedingungen dafür, dass ein Mensch Polites: Bürger einer Polis sein kann. Aristoteles sagt geradewegs: Die Polis ist eine Gemeinschaft von Freien, und meint damit nicht allein den sozialen Status des Freien im Gegensatz zu den Sklaven, sondern einen wesentlichen Unterschied zwischen dem griechischen Staatsbürger und dem Untertanen eines orientalischen Reiches. Das Wesen des Polites lässt sich am besten definieren durch Teilhabe an Entscheidung und Herrschaft. Und: Diejenigen Staaten, die das Wohl aller Mitglieder im Auge haben, sind Staaten im wahren Sinn. Diejenigen, die nur dem Wohl der Herrschenden dienen, sind verfehlt und Entartungen eines eigentlichen Staats: sie sind despotische Staaten. Pol. III 1279 a

Aristoteles spielt hier offensichtlich auf die weitverbreitete Meinung der Griechen an, in einem orientalischen Staate gebe es gegenüber dem einen Herrn nichts als Knechte. Barbaren sind Sklaven, Hellenen sind frei, heisst es in Euripides’ Iphigenie in Aulis (1401). Und an berühmter Stelle sagt Aischylos stolz von seinem Volke: Keines Mannes Sklaven sind sie und keine Untertanen. (Perser 242). – So wenig nun die Hellenen dieser Einschätzung der orientalischen Friedensreichsidee gerecht geworden sind, so klar drücken sie mit ihr den Sinn ihrer eigenen politischen Konzeption aus: Wie die Welt der Poleis eine Vielfalt eigenständiger Mächte ist, so ist auch die Polis getragen von einer Vielheit von Mitgliedern, die um ihrer selbst willen existenzberechtigt sind und nicht erst im Hinblick auf eine übergeordnete Macht. Wir nennen einen Menschen frei, sagt Aristoteles, der um seiner selbst willen da ist. (Metaphysik 982 b). Es ist geradezu rührend zu beobachten, wie Aischylos in seiner grossen Auseinandersetzung mit der orientalischen Weltreichsideologie versucht, sogar ihr im Rahmen dieser

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Welt der Vielheit einen Platz zuzugestehen. Dem Perserkönig, lässt er den Geist des gerechten Darius sagen, sei es bestimmt, über Asien zu herrschen, über den Bereich also, in dem Menschen leben, die ihrem Wesen nach Untertanen sind. Erst wenn er über diesen Bereich hinausgreife und versuche, Hellenen zu unterwerfen, vergehe er sich gegen die göttliche Ordnung. (Perser 703 ff.). Wenn wir noch einmal mit Staunen bemerken, wie wenig der Grieche Aischylos vom orientalischen Gedankengut begriffen hat, dürfen wir doch nicht vergessen, dass den Griechen erst durch die Bedrohung der Perserkriege die Besonderheit ihres eigenen politischen Lebens überhaupt ­bewusst wurde, und dass sie ein tieferes Verständnis für fremde Auffassungen noch kaum hatten ausbilden können. Erst durch den Schock der Perserkriege ist der Begriff der Freiheit zur beherrschenden Idee der hellenischen Politik geworden. Das bedeutet nun nicht, dass die Griechen nicht schon lange vorher gelebt hätten, was ihnen in der entscheidenden Begegnung mit den Persern erst bewusst wurde. Gelebte Wirklichkeit ist zwar stets die Grundlage von Bewusstsein, in keiner Weise aber auf Bewusstsein angewiesen. Bereits im Homerischen Epos etwa wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass an allen Entscheidungen grundsätzlich alle Bürger teilnehmen. In den grossen Heeres- und Volksversammlungen der Ilias oder der Odyssee reden und streiten zwar gewiss die Fürsten und Vornehmen allein, aber die Menge der langhaarigen Achäer ist immer dabei, stimmt zu oder empört sich. Aber als sie sich ver­ sammelt hatten und alle beisammen waren, lautet der Formelvers, der solchen Szenen vorangeht. (z. B. Od. 2.8). Gleichgültig, ob eine Polis eine Monarchie, eine Aristokratie oder Demokratie war, die Behörden schuldeten den Bürgern Rechenschaft, und jeder, selbst der schmutzigste Prolet – und sei es der nichtsnutzige Thersites – nimmt sich das Recht, von den Herren ­Rechenschaft zu verlangen. Ein Staat, der nur einem Herrn g­ ehört, ist keine Polis, sagt Sophokles in der Antigone (737). Diese Einstellung der Staatsgewalt gegenüber mag schon lange vor der Homerischen Zeit geherrscht haben und bis auf

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Abb.6 Miniaturfresko aus Knossos: Kultversammlung (Wiederherstellung)

die vorindogermanische Bevölkerung der Ägäis zurückgehen. Denn was wir in den ersten Zeugnissen der griechischen Literatur gefunden haben, begegnet uns auch in den frühesten bildlichen Darstellungen gesellschaftlichen Lebens in der Ägäis überhaupt: Fresken aus minoischer Zeit zeigen grosse Versammlungen von Menschen, die sich – elegant gekleidet und sorgfältig frisiert – zusammengefunden haben, in ungezwungenem Gespräch. Nirgends sind ehrfurchtsgebietende Herrschergestalten sichtbar, etwa überlebensgrosse Gottfürsten, wie sie auf alt­ orientalischen Bildern thronen. Hervorgehoben sind jeweils lediglich einige besonders mondäne Damen, aber gerade sie wirken in keiner Weise als Autoritätspersonen. Ob sich da die obersten Priesterinnen oder gar Göttinnen um das Heiligtum in der Mitte versammelt haben – im Zentrum des Ganzen mag sich das Symbol des Mutterschosses befinden –, das alles lassen wir offen. Es gibt in der minoischen Kunst kaum etwas, das auf königliche Machtbekundung hinwiese und den zahllosen Darstellungen theokratischer Gewalt im Alten Orient vergleichbar

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wäre; es gibt auch nichts, was uns für die Zeit vor der mykenischen Besetzung die Annahme eines Königtums überhaupt ­nahelegen würde. Wenn wir auf Grund des vorliegenden ­Materials auf eine Staatsform schliessen wollten, so würde sich noch am ehesten die Vermutung aufdrängen, es habe sich um eine mutterrechtlich organisierte, wenig autoritäre Ordnung gehandelt. ❦ Während die politische Grundkonzeption des Alten Orients von früher Zeit an in fast stereotypen Wendungen immer wieder proklamiert wurde, war diejenige der Griechen zwar jahrhundertelang gelebte Wirklichkeit gewesen und wurde erst nach und nach bewusst, bis sie dann Aristoteles grundsätzlich durchdacht und systematisch dargestellt hat. Dass seine Theorien von Freiheit und Autonomie der Polis und der Bürger in ihr doch wohl etwas mehr sind als der ideologische Überbau, mit dem sich die griechischen Sklavenhalter rechtfertigten, dafür sprechen die Tatsachen der Geschichte: Die Hellenen haben im Allgemeinen die Autonomie der Polis geachtet; gewiss gab es Ausnahmen, aber sie machten einen ganz schlechten Eindruck. Dass die Peloponnesier ­Plataiai, die Athener Melos vernichteten, verzieh ihnen die ­öffentliche Meinung nie, und die Sieger konnten ihr schlechtes Gewissen nicht verdrängen. Sie versuchten immer wieder ihr Vergehen zu entschuldigen, aber niemals hätten sie sich seiner, wie ein altorientalischer Weltherrscher, als einer frommen Handlung im Auftrag der höchsten Gottheit gerühmt. Als Athen nach einem halben Jahrhundert erbitterter Kämpfe im Jahre 404 kapitulierte, verzichtete Sparta darauf, die besiegte Rivalin zu zerstören und beliess ihr, dem Namen nach wenigstens, die Autonomie. Und nun die Hauptsache: In der griechischen Geschichte gab es Kämpfe um Gebiete, um wirtschaftliche Vorteile, vor allem auch Kämpfe um Hegemonie, nie aber Kampf um Einherrschaft.

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Schon der Begriff der Hegemonie enthält die Vorstellung einer Gemeinschaft vieler eigenständiger Mitglieder, die dem Stärksten unter ihnen die Führung zuerkennen, ohne deswegen ihre Autonomie aufzugeben. Gewiss wurde die spartanische oder die athenische Grossmacht mehr um handfester ­Interessen willen aufgebaut als der idealen Zwecke wegen, die sie vorschützten; gewiss erstrebte die Spartiatenkaste mit Hilfe des Peloponnesischen Bundes vor allem die Sicherung ihrer ­sozialen Stellung; und gewiss verfolgte auch die athenische Bürgerschaft vor allem die ungeheuren wirtschaftlichen ­Vorteile, die sich aus der weitreichenden Seeherrschaft des ­Attischen Seebundes ergaben; aber es kann nicht bestritten werden, dass die Spartaner ausser Messenien kaum nennenswerte Gebiete wirklich annektierten, und dass die Athener erst in der höchsten Not des Verzweiflungskampfes da und dort die Autonomie der Verbündeten schwerwiegend verletzten. Wie immer man die Absichten und das Verhalten beurteile: Dass auch in der Wirklichkeit ein ungeheurer Unterschied zwischen der Politik dieser hellenischen Hegemonialmächte und der ­Politik etwa der Assyrerherrscher bestand, wird niemand im Ernste bezweifeln. Wir haben bereits gesagt, dass die beiden Poleis ihre Hegemoniebestrebungen als Kampf um die Freiheit bemänteln mussten: Athen zog seinen Seebund als Gemeinschaft gegen die Perser auf – und hat in Wirklichkeit auch fast alle asiatischen Griechenstädte von den Persern befreit – ; die Spartaner führten unter der Devise Autonomie der Hellenen den Bruderkrieg gegen Athen. In idealisierender Formulierung sagt Isokrates: Die Poleis (die nachher die Perserkriege führten, also Athen und Sparta) verhielten sich allen anderen Poleis ­gegenüber so, dass man sie eher mit Feldherren als mit Tyrannen vergleichen konnte, eher mit Anführern als mit Despoten. (Panegyr. 80); und vom Attischen Seebund: Wir (die Athener) befahlen, wie Verbündete befehlen, nicht wie Herren: Wir standen an der Spitze der ganzen Gemeinschaft, liessen aber die Einzelnen in ihrem eigenen Bereiche frei. Es sei noch bemerkt, dass das griechische Wort archein – herrschen zunächst

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einmal einfach der Erste sein bedeutet, darum auch anfangen heissen kann. Die Hegemoniekriege waren sicherlich nicht viel weniger schrecklich als die Weltherrschaftskämpfe des Orients; dass sie aber nicht nur mit anderen Zielen und unter anderen Vorwänden geführt wurden, sondern auch andere Ergebnisse nach sich zogen, das ist doch eben nicht unerheblich. Und in diesem Sinne scheint uns der Unterschied der politischen Grundauffassungen nicht bloss Sache der Programme und einer vorgeschobenen Ideologie zu sein, sondern auch die Wirklichkeit zu betreffen. ❦ Nun bleibt noch immer und bedeutsamer als vorher die Frage offen, worauf einerseits die Bereitschaft des Orientalen beruhte, den monarchischen Anspruch anzuerkennen, und worauf andererseits die ganz andere Haltung des Griechen, die wir hier beschrieben haben. Der Hinweis darauf, dass nicht nur der Orientale seinen Staat im religiösen Bereich verankert sah, sondern auch der Grieche als Zentrum seiner Polis die Stadtgottheit (den poliouchos theos) verehrte, mag uns weiterführen. Im Namen eines Weltgottes übt der Weltherrscher seine Macht aus; gottgebaut nennt Pindar (1.Pyth.61) die Freiheit. – Was Religion auch sein mag: In ihr äussert sich nicht wenig vom Selbstverständnis der Menschen und der Völker. ❦

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DIE WELT DER GÖTTER – DIE HERRSCHAFT DES EINEN UND WAHREN

Aphrodite, Göttin auf buntem Throne, dich, des Zeus listensinnende Tochter, ruf ich: zwing in Gram und Qualen nicht ganz darnieder, Herrin, das Herz mir, sondern komm hierher, wenn du sonst schon einstmals meiner Stimme Rufen von ferne hörtest und, des Vaters goldenes Haus verlassend, zu mir herabkamst hoch zu Wagen, den dein Gespann, die muntren Vögel, trugen über die schwarze Erde, flink die Flügel regend, aus Himmelshöhen und durch die Lüfte rasch ans Ziel der Fahrt, und du fragtest, Sel’ge, lächelnd mit unsterblichem Götterantlitz, was denn wieder dulden ich musste, warum wieder ich riefe und was nun ich Rasende wohl mir wünsche, dass es sich erfülle. ‹Wer ist’s, den Peitho wieder schenken soll deiner Liebe, wer denn, Sappho, tut weh dir? Flieht sie jetzt, so wird sie dich bald verfolgen, nimmt sie kein Geschenk, wird sie selbst bald schenken, liebt sie jetzt auch nicht, wird sie bald doch lieben, ohn’ es zu wollen!› Komm zu mir auch jetzt und erlös aus schwerer Sorge mich, und was meines Herzens Sehnsucht wünscht und hofft, erfülle es du, sei du mir Bundesgenossin! Sappho Übersetzung von Max Treu, Tusculum

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In dem Jahre, da der König Usia starb, sah ich den Herrn auf einem hohen und erhabenen Throne sitzen, und seine Säume füllten den Tempel. Saraphe standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: mit zweien bedeckte er sein Angesicht, mit zweien bedeckte er seine Füsse, und mit zweien flog er. Und einer rief dem andern zu und sprach: Heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen! Die ganze Erde ist seiner Herrlichkeit voll! Da erbebten die Grundlagen der Schwellen von der Stimme des Rufenden, und das Haus ward voll von Rauch. Da sprach ich: Wehe mir! Ich bin verloren! denn ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volke mit unreinen Lippen – und habe den König, den Herrn der Heerscharen, mit meinen Augen gesehen. Da flog einer der Saraphe zu mir her, einen glühenden Stein in der Hand, den er mit der Zange vom Altar genommen. Und er berührte damit meinen Mund und sprach: Siehe, das hat deine Lippen berührt, und deine Schuld ist gewichen und deine Sünde gesühnt. Da hörte ich die Stimme des Herrn, der sprach: Wen soll ich senden? wer wird uns gehen? Ich sprach: Ich will’s, sende mich! Und er sprach: Gehe und sprich zu diesem Volke. Jesaia 6, 1–9

Weit wesentlicher als alle religiösen Dogmen ist, was die Menschen der Gottheit gegenüber empfinden.

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Aphrodite tröstet ihren Liebling Sappho, begütigend und verständnisvoll lächelnd über so viel Unverstand, als ob sie eine vertraute Freundin der Dichterin wäre, mit der sie nahezu von gleich zu gleich verkehrt – welch ein Abgrund trennt diese Welt des frühen Griechentums von der des Hebräers! Da ­erscheint in überwältigender Erhabenheit der Herr der Schöpfung vor einem sündigen Knecht, der vor seinem Anblick ins Nichts versänke, erhielte ihn nicht die göttliche Gnade, die ihn zum Dienst im Namen der Wahrheit bestimmt. Dass der Mensch vor seinem Schöpfer in unermesslicher Schuld lebt, ist im Alten Orient ein Grundgedanke der Frömmigkeit. Noch nie gebar eine Mutter ein von Sünden freies Kind, heisst es in der sumerischen Hiobsdichtung. (Kramer: Mesopotamien, S. 108, rororo 22). Wer ist es, der gegen seinen Gott nie in Sünde gefallen wäre? Die Menschheit, soviel ihrer ist, weiss von der Sünde. Ich, der Knecht, habe immer wieder in allem gesün­ digt, bekennt ein Babylonier. (Falkenstein: Sumerische und ­Akkadische Hymmen, S. 272, Artemis). Der Mensch ist Lehm und Stroh, und Gott ist sein Baumeister. Vor ihm gibt es keine Vollkommenheit. Sage nicht: ich habe keine Sünde; was Sünde ist, ist Gottes Sache und von ihm besiegelt, steht im Weisheitsbuch des Ägypters Amenope; und in einem hethitischen Gebet: Es ist nur zu wahr, dass der Mensch sündig ist. (Schmökel: Kulturgeschichte des Alten Orients, S. 435, Krönerverlag). Herr, gehe nicht ins Gericht mit Deinem Knecht, kein Lebender ist ja vor dir gerecht!, beginnt der Psalm 143. Eine unermessliche Kluft trennt hier den Menschen von seinem Gotte, das sterbliche Geschöpf von seinem Schöpfer. Du kannst mein Angesicht nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der mich schaut. (2. Mos. 33.20). Sein Name ist geheim, und der ist so furchtbar, dass man auf der Stelle tot hinstürzte, wenn man ihn ausspräche. (Leidener Amunhymnus). – In demütiger Haltung mit gebeugtem Rücken und gefalteten Händen, mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen blicken die sumerischen Beterstatuten auf die Gottheit hin, mögen sie auch Stadtfürsten oder gar, wie Lugalzaggesi, Herr der Welt sein.

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Abb.7 Mesilim-Periode. Mann mit Becher, aus dem AbuTempel von Eschnunna

Das menschliche Dasein hat keinen Sinn unabhängig von Gott; der Mensch ist von Gott und zu Gott hin erschaffen: Mensch sei sein Name. Ihm auferlegt sei der Dienst der Götter, damit jene Ruhe haben, sagt Marduk, der Schöpfer im babylonischen Schöpfungsbericht Enuma-elisch. (Nach Jordan, Piper, 6.Tafel). Und in der ägyptischen Lehre für Merikare heissen die Menschen das Vieh Gottes. Besteht also die Berechtigung der menschlichen Existenz im Gottesdienst, so folgt daraus nun aber nicht nur die Verpflich-

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tung zur Demut, die der Knecht dem Herrn schuldet, sondern auch das Bewusstsein einer Sonderstellung innerhalb der Schöpfung. Die Menschen sind die Beauftragten des Herrn. Er hat Himmel und Erde um ihretwillen erschaffen und das Wasser­ untier zurückgeworfen. Er hat die Luft gemacht, damit ihre Nasen leben. Seine Abbilder sind sie, aus seinem Leibe hervorgegangen. Er geht (in der Gestalt der Sonne) um ihretwillen am Himmel auf. Er hat die Pflanzen für sie gemacht und die Tiere, Vögel und Fische, um sie zu ernähren …, fährt die Lehre für ­Merikare fort. Aber erst in Israel wurde aus diesen Vorstellungen die ­äusserste Konsequenz gezogen: Du hast ihn (den Menschen) zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füsse getan. (Psalm 8.7). Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde. Furcht und Schrecken vor euch sei über alle Tiere auf Erden und über alle Vögel unter dem Himmel, über alles, was auf dem Erdboden kriecht und über alle Fische im Meer; in eure Hände seien sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich euch alles gegeben. (1.Mos. 9, 2–4). Während im Zweistromland und in Ägypten die Natur zwar als Schöpfung eines göttlichen Willens galt, durchaus aber auch als belebt von vielerlei göttlichen Mächten, ist für den Hebräer die Welt nur noch Feld menschlichen Wirkens; auf diesem Felde aber gibt es keinen Platz mehr für Götter. ❦ Eigenartigerweise ist also ein spätes und wenig mächtiges Volk als einziges mit vollem Bewusstsein zu derjenigen Haltung gelangt, welche die geistige Grundlage zur Entwicklung der Hochzivilisation gewesen war: Die neolithischen Bauernstämme, die die sumpfigen Stromtäler besiedeln wollten, mussten sich einerseits zu viel mächtigeren und straffer organisierten politischen Einheiten zusammenschliessen, als es die alten dörflichen Stammesgemeinschaften gewesen waren; sonst hätten sie die Aufgabe der Entwässerung und Bewässerung durch ein weit gespanntes Kanalnetz niemals lösen kön-

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nen. Anderseits mussten sie sich von der bäuerlichen Frömmigkeit abkehren, die ganz auf die Gunst der mütterlichen Fruchtbarkeitsmächte ausgerichtet war, und aktiv den Kampf gegen die Elemente, vor allem die Schwemmwasser, aufnehmen. In der Herrschaftsideologie der Stromtalvölker spiegelt sich dieser – vielleicht gründlichste – Wandel der menschlichen Einstellung zur Natur wider: Die politische Gemeinschaft, deren Seele sozusagen die Staatsgottheit und deren ­lebendiger ­Repräsentant der Fürst ist, hat den Auftrag, die Welt in ein Reich des Wohlstandes und Glücks, in den Garten der Wonne zu verwandeln. Bezeichnenderweise wird im Enu­ ma-elisch-Epos die geordnete Welt aus dem Leichnam der alten Göttermutter, des Urwasserdämons Tiamat, gebildet, den der Weltherr Marduk bezwungen hat. Im zitierten Abschnitt der Lehre für Merikare findet sich ebenfalls der Hinweis auf das Wasserungeheuer, das Gott dem Menschen zuliebe zurück­ geworfen hat, und ebenso auf den Fürsten, … er hat ihnen Herr­ scher vom Ei an erschaffen, um den Rücken des Schwachen zu stützen. (E. Otto: Ägypten, Urbanbücher 4, S. 111). Dass nun die Weltherrschaftsidee und die Konzeption einer absoluten Staatsmacht vor allem in den frühen Stromtalkulturen entstanden ist, wird heute kaum mehr bestritten. Aber nicht nur ein einziger Grund und nicht überall die gleichen Ursachen veranlassten wohl neolithische Ackerbauvölker, grosse, teils unwirtliche, teils versumpfte Talebenen zu besiedeln. Sicher aber spielte eine wichtige Rolle der Klimawandel in den Jahrtausenden nach der letzten Eiszeit: Die zuvor sehr fruchtbare Umgebung der Stromtäler trocknete allmählich aus, und die dort Sesshaften gerieten mehr und mehr in Not; sie wurden wohl auch von benachbarten Viehzüchternomaden bedrängt, vielleicht auch unterworfen, und von mächtigen Anführern gezwungen, die bisher gemiedenen Sumpfebenen urbar zu machen, Bewässerungs- und Entwässerungssysteme anzulegen, Kanäle und Schutzdämme, gesicherte Siedlungen und schliesslich grosse Städte zu erbauen. Von diesen Vorgängen ist uns zwar nichts Schriftliches überlie-

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fert; ihr Ergebnis aber war in allen primären Hochkulturen – ausser in Kreta – ähnlich: Absolute Monarchie im Namen einer Gottheit, später des obersten Gottes; straff gelenkte Wirtschaft, zentral verwaltet von den Schriftkundigen; vaterrechtliche Klassengesellschaft. Schon im 18. Jahrhundert, wie später auch Karl Marx, sprach man von Asiatischer Despotie. In seinem grundlegenden Werk stellt Wittfogel die hydraulische Despotie in all in ihren Erscheinungen umfassend dar. (Karl A. Wittfogel: Die Orientalische Despotie, 1. Auflage 1977, Ullstein). Dass hier Menschen der Erde als Herren gegenübertraten, bedeutet den tiefsten Umbruch in unserer Geschichte. Unbelastet durch diese Entwicklung von der neolithischen Bauernfrömmigkeit zur Religiosität der Hochzivilisation, welche die grossen Kulturvölker der Stromtäler sicherlich unter schwersten inneren Krisen durchlaufen hatten, hat das spät sesshaft gewordene Nomadenvolk der Israeliten die Idee des menschlichen Herrschaftsanspruchs in einem weiteren Sinne über die älteren Vorstellungen hinausgeführt: Während die Stromtalvölker den göttlichen Auftrag vor allem als an den herrschenden König gerichtet dachten und erst mittelbar an dessen Staatsvolk und an die Unterworfenen, sah Israel von der Prophetenzeit an im ganzen Volke Gottes das Zentrum einer Weltgeschichte, die, wie es etwa gleichzeitig Zarathustra lehrte, im Wesentlichen auf die Zukunft ausgerichtet ist. Es bleibe dahingestellt, ob die Messiashoffnung noch rein national oder doch schon allgemeinmenschlich konzipiert gewesen sei; im Christentum jedenfalls wird das, was Vorrecht des Königs und des Messias gewesen war: die Gottessohnesschaft und das Weltkönigtum, den Nachfolgern Christi, das heisst den Gläubigen, verheissen, gleichgültig, ob sie Juden seien oder nicht, Freie oder Sklaven. Sie werden Söhne Gottes genannt werden. (Matth.5.9). Ihrer ist das Königtum des Himmels. (5.3). Sie werden die Erde erben. (5.5). Der Herr der Welt selbst ist Mensch geworden und erleidet für alle, die an ihn glauben, den Tod. Die alte Welt wird um der Erlösung der Menschen willen am Ende der Zeiten vernichtet werden und es wird eine

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Abb.8 Miniaturfresko aus Knossos, Kultischer Tanz und Zuschauermenge (Wiederherstellung)

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neue entstehen. Dieser anthropozentrische Glaube beherrscht das Abendland, das christliche und das moderne, beherrscht die Aufklärung mit ihren Fortschritts- und Heilslehren, mit ihrer weltunterwerfenden Wissenschaft und Technik. ❦ Die minoische Hochkultur war unter ganz anderen Voraus­ setzungen entstanden. Auf Kreta gab es keine Schwemmfluten, keine Ströme oder Sümpfe, die man hätte untertan ­machen müssen. Also blieb die alte Bauernfrömmigkeit, die Verehrung der neolithischen Mütter, ungebrochen erhalten. Ihr gegenüber empfanden sich die Menschen nicht als auserwählte Knechte, sondern als Kinder, gleich allen anderen Wesen der Natur. Daher traten sie, wie das auf den Bildern dargestellt wird, im Kulte der Gottheit aufrecht entgegen, die Arme ekstatisch ausgestreckt. Es ist die Stellung, die die Griechen der historischen Zeit sofort als ihre Gebetshaltung erkannt hätten. Sie ist zutiefst verschieden von jener Demutshaltung, in welcher die Menschen des Alten Orients, Muslim und Christen ihrer Gottheit nahen. In dieser Verschiedenheit kommt sinnfällig zum Ausdruck, worin sich die Frömmigkeit der ägäischen Menschen von der des Orients unterscheidet. Gewiss waren sich auch die Hellenen des Machtunterschiedes bewusst, der Sterbliche von Unsterblichen trennt; ­gewiss fürchteten auch sie die tödliche Gefahr, die dem Menschen aus der Selbstüberhebung, aus der Hybris erwächst; aber niemals empfand sich der griechische Mensch als ein Nichts vor seinem Gotte. Als Sklaven der Götter betrachtete sich kein freier Hellene, schon gar nicht als ihr Geschöpf, so wenig wie er die Welt für das Werk eines Schöpfergottes hielt. Vielmehr sind die Götter nach der gängigsten Tradition, nach Hesiods Theogonie, von den elementaren Urmächten gezeugt und geboren wie die Flüsse, Berge, die Nymphen, die Ungeheuer der Vorzeit, die Tiere und Pflanzen und Menschen. Eins ist das Geschlecht der Götter und Menschen, von Einer Mutter haben sie beide den Atem. (Pindar Nem. IV.1). Nicht sel-

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ten nennt Homer seine Helden göttergleich, göttlich auch seinen Schweinehirten Eumaios. Die Götter ihrerseits verschmähen es keineswegs, in Menschengestalt zu erscheinen oder sich von Künstlern als schöne Männer und Frauen abbilden zu lassen. – Nach einer anderen Tradition ist der Mensch das Werk des Titanen und Götterfeindes Prometheus. Selbst für Platon ist Gott nur ein Demiurg, das heisst ein blosser Techniker, der zu den ewigen Ideen aufblickend die Dinge, so gut es geht, ihnen nach­bildet, und durchaus kein Schöpfer, der die Welt aus absoluter Schöpfungsmacht entstehen liesse. Kurz: für die Griechen war der Mensch sicherlich nicht von gleicher Würde und Macht wie die Gottheit, aber er hatte unab­ hängig von ihr seine eigene Würde und seinen eigenen Bereich. In grossartiger Weise kommt diese Auffassung am Ende der Odyssee zum Ausdruck: Penelope weigert sich standhaft, den Fremdling, der Odysseus’ Gestalt hat, der wie Odysseus spricht und wirkt, als ihren Gatten anzuerkennen. Es könnte ein Dämon oder Gott sein, der um des Rechtes willen die frevlerischen Freier getötet hat, vielleicht auch einfach aus Güte ihr gegenüber. Aber von der Treue, die sie mit ihrem Manne verbindet, kann sie kein Dämon und kein Gott entbinden, was immer er ihr zuliebe tun mag. Vergässe sie die Pflicht zur Vorsicht und liesse sie sich täuschen, und wäre es von Zeus, es wäre unverzeihlich, es wäre Betrug, es wäre Verrat an der Treue, die sie als Mensch dem Menschen Odysseus schuldet. Dass nun, nach alledem, Penelope ihre Vorsicht ohne weiteres aufgibt, sobald sie feststellt, dass der Fremde ihr Ehegeheimnis: Bauart und Aussehen ihres Brautbettes kennt, erstaunt den modernen Leser nicht wenig; denn für uns gehört zum Wesen der Gottheit die Allwissenheit. Für den Griechen dagegen scheint jene plötzliche Wendung der Geschichte ganz natürlich gewesen zu sein, denn der Dichter erklärt sie mit keinem Worte. Offensichtlich setzt er als selbstverständlich voraus, dass es Bereiche gibt, die allein dem Menschen gehören und dem Zugriff anderer Mächte entzogen sind, eben etwa die Geheimnisse tiefster menschlicher Beziehungen, und dass die Götter deren Würde achten.

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Der Zusammenhang, von dem wir am Ende des ersten ­Kapitels sprachen, ist nun deutlicher geworden: Die Verschiedenheit der Haltungen, die die minoischen Kreter und die ­Hellenen einerseits, die Völker des Alten Orients anderseits ihrem ­Staate gegenüber einnahmen, ist begründet in ihrer Haltung der Gottheit gegenüber; denn letztlich stand für beide im ­Zentrum ihres Staates eine Gottheit. Der Grieche fühlte sich nicht als absoluten Untertan eines Staates, weil er in seinen Göttern keine absoluten Herren sah. ❦ An diese Feststellung schliesst sich sogleich die Frage an, ob denn auch die Verschiedenheit der politischen Konzeptionen auf einem grundsätzlichen Unterschied der religiösen Auffassungen beruhe. Entspricht etwa die Weltherrschaftsidee im Orient monistisch ausgerichteter Frömmigkeit, die Vielgestalt der Poliswelt dem bekannten Polytheismus der Griechen? Auf den ersten Blick sieht es nicht so aus. Scheint doch die ägyptische oder gar die mesopotamische Götterwelt fast so phantastisch und vielfältig wie die griechische; einen Götterkönig verehrten anderseits auch die Griechen und in späterer Zeit lehrten griechische Denker wie Xenophanes und der ­Stoiker Kleanthes die ausschliessliche Einheit Gottes mit ebenso grossem Ernste wie etwa die jüdischen Theologen. – Indessen finden wir bereits in den ältesten Mythentexten aus Sumer Vorstellungen, die sich auffällig von den griechischen unterscheiden. Zwar hat der Götterherr Enlil die Welt nicht aus dem Nichts geschaffen, aber er hat die chaotische Ureinheit von Himmel und Erde getrennt und damit die Grundlage zum ­geordneten Kosmos gelegt. (Kramer, S. 72). Zeus dagegen ist ein später Nachkomme der elementaren Urmächte, der erst nach langen Kämpfen die Macht über eine Welt übernommen hat, die längst vor ihm entstanden war. Diese Macht erhält er sich nicht ohne Mühe: Vorsichtig beachtet er die Wahrsprüche, die ihm seinen Sturz androhen; auf ein Liebesverhältnis mit der

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schönen Nereide Thetis verzichtet er, wie er erfährt, dass ihr Sohn stärker als der Vater werde. (Aeschylus bei Hygin. Poet. Astr. II, 15 und Apollonios Rhod. IV, 801ff). Dieselbe Thetis rettet ihn vor einer Familienverschwörung: Sie löst die Fesseln, mit denen ihn seine liebe Gattin Hera, seine Tochter Athena und sein Bruder Poseidon gebunden haben, und holt den Hundert­ armigen, den Briareos, an seine Seite, ein Kraftungeheuer, das selbst den versammelten Olympiern einen heilsamen Schreck einjagt. – Wie anders die Stellung des sumerischen Gottes­ fürsten! Er ist von Anfang an der unumschränkte Herr, dessen gesprochenes Wort unabänderlich ist, der in alle Ewigkeit die Geschicke bestimmt, dessen erhobene Augen das Herz aller Lande erforschen, der breit auf dem weissen Throne sitzt, auf dem erhabenen Thron, der die Entschlüsse der Macht, Herrschaft und Hoheit vollzieht. Die Erdgötter beugen sich in Furcht vor ihm, die Himmelsgötter erniedrigen sich vor ihm … (Kramer S. 78f). Wie anders als Zeus, der sich scheut, die schnelle Nacht zu verletzen! (Ilias 14, 261). Enlil beherrscht nicht nur die Götter und Menschen, die ganze Natur ist in seiner Verfügungsgewalt: Von Gebirge im Sonnenaufgang bis zum Gebirge im Sonnenuntergang Gibt es im Lande keinen Herrn – du allein bist der Herr, Starker, der Regen des Himmels, das Wasser der Erde ist in deiner Hand, Der Hirtenstab über die Götter ist in deiner Hand, Vater Mullil, das Gras lässt du wachsen, die Gerste lässt du wachsen, Mullil, dein schrecklicher Glanz kocht die Fische im Meer, Die Vögel im Himmel, die Fische im Meer zittern davor. Sumerischer Hymnus an Enlil, hier Mullil genannt. Schmökel, S. 145, Urban B.13

Deutlich wird bereits hier ein Gedanke fassbar, der später in einem babylonischen Hymnus auf Ninurta in sonderbarer Formulierung bis zum Monotheismus gesteigert erscheint:

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Herr, dein Gesicht ist die Sonne, … deine beiden Augen, Herr, sind Enlil und Ninlil, … die Regenbogenhaut deiner Augen, Herr, ist der (Glanz?) des Sin (des Mondes), … die Bildung deines ­Mundes, Herr, ist die Ischtar der Sterne, … Anu und Antu sind deine beiden Lippen, … deine beiden Ohren Ea (und) Damkina, … dein Hals ist Marduk, der Richter von Himmel und Erde, … deine Brust ist Schullat, … deine Hüften Chanisch …, und so wird das gesamte alte Pantheon Mesopotamiens als ein Organismus eines umfassenden Willens dargestellt. (Sumerische und Akkadische Hymnen und Gebete, S. 258 ff., Artemis 1953). Monotheistisch gedacht ist möglicherweise auch das Bekenntnis eines assyrischen Beamten um 800 v. Chr.: Auf Nabu vertraue allein, auf einen anderen Gott vertraue nicht. (Einleitung zu Sum. Akk. Hymn. S. 51). Aber ein allgemeiner Durchbruch zu folgerichtigem Monotheismus hat in Mesopotamien nicht stattgefunden; doch herrschte weiterhin die Vorstellung, dass alle die Gottheiten, Dämonen und Geister letzlich einem obersten Willen untertan sind, ob der nun Enlil, Marduk oder Assur genannt wurde – und das entspricht denn auch durchaus dem monarchischen Grundzug der mesopotamischen Staatsauffassung. Das Wort Enlils, das oben die Himmel erbeben lässt, das Wort, das unten die Erde wanken lässt, das Wort, das die Annunaki (die Unterweltsdämonen) zunichtemacht, dieses sein Wort hat keinen Seher, hat keinen Vorzeichendeuter, sein Wort ist eine sich erhebende Sturmflut, die einen Gegner nicht hat. Hymnus auf Enlil, nach Meissner: Babylon.Literatur, S. 36

Hingegen dürfen wir wohl den ursprünglichen Glauben der Achämeniden als echten Monotheismus bezeichnen – mag auch die Religion Zarathustras später eher dualistisch geworden sein; die ältesten Quellen, jedenfalls die Gathas, lehren, dass der Konflikt zwischen den Mächten des Lichts und der

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Finsternis – der Inhalt der Weltgeschichte – aus dem Streit der beiden ersterschaffenen Wesen entstanden ist und nicht zwischen zwei Urgöttern: nämlich aus dem Zerwürfnis des Heili­ gen Geistes und des Bösen Geistes: Als diese Geister aufeinan­ der trafen, da stifteten sie (dadurch) erstmals Leben und Tod. Der Schöpfer der uranfänglichen Geister, der Zwillinge, aber ist der einzige wahre Gott, Ahuramazda: Habe ich doch, Allweiser, Dich erkannt in meinem Sinn als den Ersten und Letzten. Er ist der Schöpfer aller Dinge, der Urewige, der wahre Stifter der Rechten Ordnung. (Nach Walther Hinz: Darius und die Perser I, S. 76/77). Nach dem Willen dieses einen und uranfänglichen Gottes – das besagt die Inschrift von Behistun, von der wir zu Beginn ausgegangen sind, - ist Darius der König der Könige und also der Herr der Welt. Auch hier entsprach offensichtlich der Glaube an den Einen Gott dem Weltherrschaftsanspruch des Einen Herrschers. Trotzdem duldeten die Achämeniden die Kulte und Religionen der unterworfenen Völker und wohl auch einen guten Teil der vorzarathustrischen Tradition im Iran selbst. (Hinz: Darius und die Perser, II, S. 189 ff). Weniger eindeutig ist das Bild, das sich uns im Nilland bietet. Wir finden zwar schon in der Zeit des Alten Reichs Äusserungen zur Einheit Gottes. So wird er etwa Herr des Alls, Herr bis an Ende, oder gar Einziger genannt (Junker: Pyramidenzeit, Benziger Verlag S. 16); und der Schöpfungsmythos von Memphis handelt von Ptah, der das All geschaffen und die Götter hervorgebracht hat. (ebenda S. 25). Aber das ist offensichtlich kein reiner Monotheismus, und in der Tat ist die Frage, wie sich im ägyptischen Denken der Eine zu den Vielen verhalten habe, seit langem umstritten. Der Eine wird denn auch mit den verschiedensten Gestalten des Pantheons gleichgesetzt und trägt immer wieder andere Namen; und auch in den grossartigen Worten des Leidener Amunhymnus fehlen die Vielen nicht: Selbst die Götter kennen seine wahre Gestalt nicht. Sein Bild ist nicht in den (heiligen) Büchern ausgebreitet. Es ist

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zu geheimnisvoll, als dass man seine Herrlichkeit entblössen könnte, und er ist zu stark, als dass man ihn kennen könnte. Sogar in der berühmten Lehre des Ani, in welcher die Einzelgötter wie Erscheinungen des Einzigen behandelt werden, bleibt eben damit für die Vielfalt der Vorstellungen ein weiter Raum. Er zeigt seine Gottesmacht in unzähligen Gestalten. Der Gott dieses Landes ist die Sonne; aber seine Bilder sind hier auf der Erde. Wenn man Räucherwerk täglich als Nahrung spendet, dann wird letzten Endes der Herr des Lichtglanzes erquickt. (Otto: Der Weg des Pharaonenreichs, S. 205). Im religiösen. Leben erhielten sich denn auch die zahllosen Kulte der traditionellen Götter bis in späteste Zeit, und das Denken der Ägypter blieb in bewunderungswürdiger Weise offen für ­beides: die umfassende Einheit des Göttlichen und seine vielgestaltige Fülle. Indessen hat sich aus den hier betrachteten Äusserungen deutlich genug ergeben, dass der Eine als unbedingter Herr der Welt und der Menschen galt, dass also auch in Ägypten das religiöse Denken der monarchischen Struktur des Staates entsprach. Jene Offenheit freilich wurde ein einziges Mal aufgegeben zugunsten einer radikalen Neuerung, die in Europa als Gipfel der ägyptischen Geistesgeschichte gefeiert wurde: In der Mitte des 14. Jahrhunderts erklärte der König Echnaton die Verehrung seines Gottes Aton zum einzig erlaubten Kult, Aton verkündete er als den einzig wahren Gott: Du einziger Gott, dessen Macht kein anderer hat! Du schufest die Erde nach deinem ­Begehren, während du allein warst … Du hast Millionen von Gestal­ ten gemacht aus dir allein. (Sonnenhymnus, nach A. Weigall, Benno Schwabe). Dieser erste durch zeitgenössische Quellen belegte reine und ausschliessliche Monotheismus nahm vorweg, was später die Religion Israels prägte: das Verbot, andere Götter neben dem Einen Wahren zu verehren. ❦

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So gelten denn heute diese Lehren von der Einheit Gottes auch denen, die dem christlichen Glauben ferne stehen, durchaus als vernünftige Ansätze; die Vielgötterei der Hellenen dagegen hält man für sonderbar kindlich angesichts der grossen kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen dieses Volkes. Unsere Einschätzung mag damit zusammenhängen, dass wir keine Theologie kennen, in welcher die Griechen systematisch überlegt hätten, wie es sich mit Vielfalt und Einheit des Göttlichen verhalte, – es gab überhaupt keine verbindliche ­religiöse Dogmatik in Hellas; erst in der Neuzeit haben die Götter Griechenlands die Ehre, Anhänger zu finden, die systematisch über das Verhältnis von Einheit und Vielfalt nachdenken. Der Gelehrteste unter ihnen, Wilamowitz, weist nachdrücklich darauf hin, dass seit Hesiod Zeus der persönliche Gott ist, der die Geschicke der Menschen bestimmt (moira Dios), sittliche Forderungen erhebt und ihre Verletzungen ahndet … Damit waren die Götter, die unter ihm standen, nicht verdrängt; manche von ihnen wurden im Kultus und auch von den gläubigen Menschen stärker verehrt, weil sie ihnen näher standen und die alte Religionsübung sich erhielt; der Höchste blieb er doch. Und: Daraus darf man keinen Zeus Schöpfer der Menschen oder der Erde ableiten, weder einen Schöpfergott noch den Begriff der ­Erschaffung von Himmel und Erde. Selbst im Spiel haben die ­Hellenen so etwas selten gesagt. Die plumpe Vorstellung einer Schöpfung aus dem Nichts verstiess gegen ihre altüberkommene Frömmigkeit, die in der Natur die ungeschaffene Offenbarung Gottes, also das Göttliche in ihr, nie verkannt hat, solange sie wirkliche Hellenen blieben. (Der Glaube der Hellenen I, S. 344 und 342, ed. 1955). Ähnlich äussert sich Walter F. Otto, der unter den modernen Menschen wohl am tiefsten über die griechische Religion nachgedacht hat: Die Vielgötterei der griechischen Religion, an der die Anders­ gläubigen Anstoss nehmen, steht nicht im Gegensatz zum

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Monotheismus, sondern ist vielleicht seine geistreichste Form. Was auch im einzelnen Fall von den göttlichen Schickungen gesagt werden mag, die Summe ist doch immer, dass der Wille des Zeus alles gefügt hat. Er ist also von einziger, allumfas­ sender Grösse. Und die Einheit des Göttlichen kommt schon bei Homer in den immer wiederkehrenden Wendungen zum Ausdruck, dass die Götter oder dass Gott über allem walte. Theophania, S. 79,ed 1956

Aber es gibt auch noch eine lebendige Erfahrung der göttli­ chen Einheit des Vielgestaltigen, die auch wir – da die Welt in ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit diese Einheit ist – den Grie­ chen nachempfinden können: die Gotterfülltheit allen Seins, wo Aphrodite lächelt, Apollons herrliches Auge leuchtet, Artemis mit den Nymphen tanzt und jagt, Athene zu Taten ruft, Hermes geistert und Dionysos in seliger Trunkenheit zu den Sternen blickt – das alles ein einziges göttliches Leben, die eine göttliche Wahrheit des Seins, gleich einer Sinfonie mit ihrem Ernst und Spiel, ihrem abgründigen Dunkel und ihrem majestätischen Glanz, die nach Mozarts bekanntem Wort alle in Einem da sind. Theophania, S. 81, ed 1956

Diese grossartigen Betrachtungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden Gelehrten doch noch unter dem Einfluss der christlich abendländischen Wertung stehen, nach welcher der Monotheismus als die höchste Form einer Gottesvorstellung gilt. Dieser Meinung waren auch die meisten griechischen Denker der späteren Zeit, Xenophanes, die Platoniker, Aristoteles und die Stoa – aber damals war die Blütezeit der Polis bereits vorbei. Auch hier bestätigt sich unsere Vermutung, dass politische und religiöse Haltung zusammenhingen. Trotzdem blieben, wie übrigens auch in Mesopotamien und Ägypten, im Kult und in der persönlichen Frömmigkeit die verschiedenen Göttergestalten nebeneinander wichtig bis in die Spätzeit. – Wir lassen die Streitfrage offen, was den Vorrang habe, Kult, Mythos oder Lehre, und wenden uns dem religiö-

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sen Denken der archaischen und frühklassischen Epoche zu, der grossen Zeit der Polis. Unsere Hauptquellen aus diesen Jahrhunderten sind die Werke der Dichter. In ihnen erscheinen die Geschehnisse der Welt als Auseinandersetzung zwischen selbständigen Mächten, die teils gegeneinander, teils miteinander wirken. Die Ilias ­berichtet von gewaltigen Streitigkeiten auf der Götterebene; die einen unterstützen die Achäer, die anderen die Troer – ihr Zwist steigert sich einmal geradezu zur offenen Götterschlacht. – Zeus selbst ergreift Partei: Auf die Bitte der Thetis, die ihn einst ­gerettet hat, stürzt er die Achäer, die Achill entehrt haben, in grösste Bedrängnis und erregt damit den Zorn seiner Gattin Hera, seiner Tochter Athena und seines Bruders Poseidon. Zwar prahlt er, der Stärkste von allen zu sein, und fordert die andern auf, ein goldenes Seil vom Himmel herabzuhängen und von unten anzufassen: Doch werdet ihr nicht vom Himmel auf den Boden niederziehen Zeus, den höchsten Ratgeber, auch nicht, wenn ihr noch so sehr euch mühet. Doch sobald auch ich dann im Ernste ziehen wollte: Mitsamt der Erde zöge ich euch herauf und mitsamt dem Meer. Ilias 8.21-25,Schadewaldt

Man hat später in dem goldenen Seil eine Allegorie der unverbrüchlichen Notwendigkeit gesehen; für den Dichter aber redet hier Zeus kaum in vollem Ernst: Auf Athenas Einspruch antwortet er lächelnd: Ich spreche ja nicht mit entschiedenem Mute, Sondern ich will dir freundlich sein. 8.39/40

Wie sehr die Worte des Götterkönigs rhetorische Übertreibung sind, weiss der Leser von der bereits erwähnten Szene her, in

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der Thetis daran erinnert, dass sie ihn einst mit Hilfe des hundertarmigen Briareos aus den Fesseln gelöst habe, in welchen ihn die anderen Götter gelegt hatten. Wenn sich auch im Trojanischen Kriege schliesslich Zeus’ Plan erfüllte (Ilias 1.5), so bleibt doch offensichtlich, dass die anderen Götter immer wieder selbständig wirken, oft auch ohne sein Wissen und ohne seine Billigung. Hera verstrickt ihn in Liebestollheit, versenkt ihn in tiefen Schlaf und ermöglicht es Poseidon, den Troern schweren Schaden zuzufügen; und endlich: die grossen Entscheide fallen alle in der Versammlung, in welcher – wie in den Volksversammlungen der hellenischen Menschen – alle zugegen sind. Nicht anders steht es in der Odyssee, dem zweiten grossen Werk der frühen Dichtung. Auch da werden alle wichtigen ­Beschlüsse in der Götterversammlung gefasst; und ferner: ­solange Poseidon sich der Rückkehr des Odysseus widersetzt, scheuen sich die andern, seinen Willen zu missachten. Erst während seiner Abwesenheit kann Athene einen Entscheid zugunsten ihres Lieblings erwirken. In den Werken und Tagen des Hesiod steht Zeus, dessen dreissigtausend Wächter das Verhalten der Menschen beobachten, und neben dem Dike, das Recht, und Horkos, der Eid, thronen, ohne Zweifel viel deutlicher im Vordergrund als in den homerischen Gedichten, und zwar so sehr, dass ein hervorragender Kenner wie Wilamowitz der Ansicht ist, in diesem Gedichte erscheine Zeus als der einzige Gott – und wenn auch seine Allmacht ganz besonders gepriesen wird, so glaubt doch Hesiod an seine Gerechtigkeit. (Glaube der Hellenen I 340). – Indessen findet sich auch in den Werken und Tagen die berühmte Geschichte vom Streit zwischen Zeus und Prometheus, der zugunsten der Menschen den Götterkönig betrügt, das Feuer raubt und von Zeus in grässlicher Weise bestraft wird; doch so sehr bleibt er ein unbeugsamer Gegner, dass ihn jener schliesslich anerkennen muss und ihn in den Olymp aufnimmt. Vollends ist das zweite Werk Hesiods, die Theogonie, geradezu das Lied der Götterkämpfe, in denen sich über Gene-

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rationen hin in gewaltigen Auseinandersetzungen allmählich die Ordnung der Welt herausbildet. Im Gefesselten Prometheus vertieft Aischylos diese Konzeption: Zeus hat den Titanen, der ihm durch seinen Rat zur Macht verholfen hatte, undankbar zur Seite geschoben, selbst dessen Schützlinge, die Menschen, will er untergehen lassen. Prometheus rettet sie, indem er ihnen Feuer, Künste und die Möglichkeiten des bewussten Denkens verschafft. Darum bestraft ihn Zeus in grässlicher Weise, lässt ihn an einen ­Felsen schmieden. Er vermag ihn zu foltern, nicht aber zu beugen; vor allem nicht, ihm das Geheimnis zu erpressen, dessen Kenntnis über des Götterkönigs Zukunft entscheidet. Durch seine Standhaftigkeit erhebt sich der Gepeinigte mehr und mehr zu eindrucksvoller Würde – unverhohlen schlägt das Herz des Dichters für ihn: Wie Zeus in der Schlussszene droht, ihn samt seinem Felsen in die tiefsten Abgründe versinken zu lassen, schart sich der Chor, der hier wohl den Standpunkt des Dichters vertritt, um ihn, bereit, mit ihm in die Katastrophe zu gehen. – Trotzdem bleibt klar: Beide beharren zwar unerbittlich auf ihrem Recht, in ihrer Verhärtung aber sind sie zu weit gegangen: Zeus, der im Rausch des Sieges das Mass verloren hat, und der die ganze Menschheit vernichten wollte, Prometheus, der ihr zu gefährliche, ja ungeheuerliche Mittel verschafft. In der Mitte des Dramas sagt der Chor: Fördere die Menschen nicht über das richtige Mass hin­ aus! (Aisch. Prom. 507). Während in diesem Konflikte zwei göttliche Mächte leiden, die eine unter erbarmungsloser Gewalttätigkeit, die andere unter den Qualen der Angst, werden in Euripides’ Hippolytos zwei Menschen Opfer des Widerstreits zwischen Aphrodite und Artemis. In der Orestie wiederum gerät Orest im Zusammenprall zweier Mächte in Schuld. Verpflichtet vom uralten Gesetz der Blutrache tötet er seine Mutter und verfällt selber den Rachedämonen, den Erinnyen. Gegen sie nimmt ihn Apoll – dessen Orakel übrigens den Muttermord befohlen hat – in Schutz; um

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das furchtbare Gesetz der Vorzeit zu brechen, ruft er das Areo­ paggericht in Athen an. Das Urteil in diesem Kampf göttlicher Mächte erfolgt mit Stimmengleichheit und, wie im demokratischen Athen später üblich, gibt der Vorsitzende – hier ist es die Stadtgöttin Pallas Athene – den Stichentscheid, in diesem Fall zugunsten des Angeklagten. Auch da steht göttliches Recht gegen göttliches Recht, altes Recht gegen neues. Kampf der Götter blieb zwar ein wichtiges Thema griechischer Kunst bis in die hellenistische Epoche und die Kaiserzeit; noch den grossen Altar von Pergamon schmücken die gewaltigen Szenen der Gigantomachie. In den meisten Tragödien des fünften Jahrhunderts aber wird der Widerstreit im Bereich des Göttlichen verinnerlicht: Es erwächst ungeheuerliches ­Geschehen auf der Ebene der Menschen aus einer Spannung innerhalb der göttlichen Sphäre, die nicht mehr durchwegs in individuelle Gestalten auseinandertritt. In der Alkestis des ­Euripides etwa widersetzt sich Apoll einem unfassbar düsteren Todesgeschick, das sich im Wahrspruch äus­sert, Admet werde sterben, wenn sich nicht jemand für ihn hingebe. Apoll sendet nun, um die opferbereite Gattin Alkestis zu retten, Herakles – der lauert dem Tode auf und entreisst ihm die Beute. Dämo­ nische Verblendung reissen Xerxes, die feindlichen Brüder von Theben, Deianeira, die Gattin des ­Herakles, Kreon, den Gegenspieler der Antigone, Pentheus, den Feind des jungen Dionysos, dazu hin, sich in Überheblichkeit gegen eine höhere Ordnung zu vergehen. Eine unfassbare Fügung führt Ödipus zum Bruch der heiligsten Satzungen, dämonische Leidenschaft reisst Medea wider ihre Vernunft zum Mord an den ­eigenen Kindern fort. Bisweilen sind die Mächte, welche die Sterblichen aus der richtigen Bahn werfen, klar als einzelne Götter gekennzeichnet: Athena verstrickt den Aias in so tiefe Schande, dass er nicht anders kann, als sich selber zu töten; Hera treibt den Herakles zum Mord an Gattin und Kindern, ­Artemis befiehlt Agamennon, seine Tochter Iphigenie zu opfern. Dass die Ordnung, welche diese Menschen verletzen, ihrerseits göttlich und gerecht sei, stand für Dichter und Zuschauer

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ausser Frage – und gerade darauf beruht die tragische Spannung der Geschehnisse. Hier bricht also ein abgründiger Widerstreit im göttlichen Wirken selbst auf; das grausame Leid, das den Menschen aus diesem Widerstreit erwächst, ihre Zweifel, ihre Anklagen, hat vor allem Euripides in seinen späteren ­Stücken immer deutlicher dargestellt, bisweilen – wie etwa in den Troerinnen, den Bakchen, der Elektra – ohne mehr die Spannung aufzulösen. Man hat daraus geschlossen, mindestens für ihn sei die alte Götterwelt unglaubwürdig geworden. Dem widerspricht aber offensichtlich, dass gerade seine Dramen nicht selten mit der Formel enden: Viel sind die Gestalten der Götter, Viel vollenden sie wider Erwarten; Und was man erwartete, geschah nicht, Für das Unerwartete fand die Gottheit einen Weg. So vollzog sich auch dieses Ereignis. Für den Hellenen noch des fünften Jahrhunderts ist die Gottheit eine Vielfalt, letztlich nie eindeutig festzulegen, sondern stets in sich spannungsgeladen – grossartig, segensreich und gütig und zugleich so grausam und unfassbar schrecklich wie Medeas dämonische Leidenschaft und das entsetzliche ­Geschick des Ödipus. Die Götter wachen über Recht und ­Unrecht und gleichzeitig stürzen sie Unschuldige in Schuld und Elend. Hinter dieser Konzeption steht die tiefe Erfahrung, dass die Wirklichkeit widersprüchlich und zweideutig, ebenso abgründig wie wunderbar ist. Diese Erfahrung ist gewiss allen Kulturen gemeinsam; darin unterscheiden sich aber die Hellenen von den Erben des Alten Orients, dem monotheistischen Morgen- und Abendland, dass denen diese Spannung als etwas Vorläufiges gilt, weil sie im Bösen und Schmerzlichen das Widergöttliche sehen, das dereinst überwunden sein wird, während für die Griechen der Frühzeit die Spannung im Göttlichen selbst lag. Die Natur, die Welt war ihnen göttlich, die Welt ein Widerstreit der Mächte.

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Ein ewiges Geschehen zwischen Hell und Dunkel, zwischen Liebe und Hass, so deutet Empedokles die Natur; ein ewiges Auf und Ab, so hören wir es vom Dichter Archilochos; und diese Daseinsspannung auszuhalten, darin liegt die Würde des Menschen: Herz, mein Herz, von übermächtigen Fluten des Leides fortgerissen, richt’ dich auf! Dem Feind entgegen halte die Brust und wehre dich!... Freue dich des Frohen, traure um Leidiges nicht zu sehr! Erkenne, welcher Rhythmus die Menschen hält! 67a D. Diese Zweideutigkeit des Göttlichen ist wohl einer der Haupt­ gründe, warum wir, geprägt von der monotheistischen Traditi­ on, immer wieder Mühe haben, im hellenischen Polytheismus eine sinnvolle Gottesvorstellung zu erkennen. Dass die Gesamtheit der göttlichen Mächte freundlich und gerecht und ebenso auch furchtbar und unverständlich wirken kann, wider­ spricht unserem tief verwurzelten Glauben an die Vollkommenheit Gottes. – Allerdings hätten wir allen Grund, in der griechischen Konzeption mehr zu sehen als bloss den Ausfluss eines wenig vernünftigen, noch in kindlichen Mythen befangenen Denkens. Betrachten wir sie im Lichte nüchterner Logik, so erweist sie sich dem Monotheismus zum mindesten in einer Hinsicht als weit überlegen: Es bleibt ihr dessen grosse Verlegenheit erspart: Wenn der Eine alles hervorbringt, alles beherrscht und wenn sein Wirken schlechthin gut ist, – wie kann dann Widergöttliches und damit Böses überhaupt entstehen? Man weiss es seit Jahrtausenden: Im Glauben lässt sich diese Verlegenheit allenfalls ertragen, menschliche Vernunft findet sich aus ihr niemals hinaus. Ein Zweites mag die modernen Betrachter dazu verleiten, den Polytheismus der Griechen nicht wirklich ernst zu nehmen, hinter ihm doch noch in irgendeiner Weise einen Monotheismus zu suchen: dass nämlich die spannungsvolle Vielheit des Göttlichen in den Werken der grossen Dichter auch immer wieder als ein Ganzes erscheint, als Ganzes wirkt, im Bereich der Menschen und im Bereich der Natur. In der Sinnfülle und Schönheit der Welt offenbart sich noch den Hellenen der Spätzeit göttliches Leben.

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Aber gerade hier unterscheidet sich die griechische Konzeption von der des Alten Orients und der seiner monotheistischen Erben grundlegend. Was die Mesopotamier, Ägypter, Juden und Perser, was Christentum und Islam als Werk Eines herrschenden Willens ansehen, erschien den Griechen als frei­ williges Zusammenwirken autonomer Kräfte, als Ausgleich der Gegensätze, als Zusammenstimmen des Widerstrebenden, wie Heraklit sagt: als Harmonie. Ohne diesen Ausgleich wäre die Welt ein wüstes Durcheinander und niemals, wie die Griechen es nannten, ein Kosmos. Das Wort bedeutet ursprünglich die schöne Ordnung, Schmuck. Dass sich die Mächte der Wirklichkeit nicht bis zum Letzten widerstreiten, sondern immer auch wieder ein Gleichgewicht suchen; dass sich – mythisch gesprochen – die kämpfenden Götter auch immer wieder versöhnen, finden wir, wie in allen folgenden Werken, bereits eindrücklich in der Ilias. Schon im ersten Gesang: Nachdem Hera Zeus’ Beschluss, die Achäer zu demütigen, erraten hat und ein wilder Streit ausgebrochen ist, bemüht sich sogleich Hephäst, den Zwist zu beschwichtigen, humpelt bereitwillig mit dem Nektar unter den versammelten Olympiern herum – Und unauslöschliches Gelächter erhob sich unter den seligen Göttern, Als sie sahen, wie Hephaistos durch das Haus hin keuchte. Ilias 1,599ff.Schadewaldt

In einer anderen Streitszene sagt Hera zu Zeus: Lass uns einander nachgeben, Dir ich und du mir, und es werden uns folgen die anderen Götter! 4.62ff.

Nachgeben muss auch Poseidon den anderen Göttern und Odysseus endlich nach Hause gelangen lassen – aber auch er wird versöhnt: Odysseus erhält den Auftrag, ein Ruder soweit

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ins Landesinnere zu bringen, bis jemand es für eine Worfelschaufel hält: Durch ein Sinnbild aus seiner Welt wird gleichsam der Machtbereich des Meeresgottes erweitert. Auch Zeus versöhnt sich selbst mit seinen gefährlichsten Gegnern: Den kinderverschlingenden Kronos, den er in hartem Kampfe gestürzt und in den Tartaros geworfen hat, holt er aus seinem Kerker wieder hervor und versetzt ihn auf die Insel der Glückseligen. (Hesiod, Werke und Tage, 169 ff.); und den ­Prometheus befreit schliesslich Herakles nicht ohne Wissen des Zeus. (Theogonie 526ff.). Aischylos’ Darstellung dieses Ausgleichs, Der befreite Prometheus, ist uns zwar nicht erhalten, aber aus den wenigen vorhandenen Hinweisen können wir mit einiger Wahrscheinlichkeit erschliessen, dass die beiden Feinde einander auf den Rat der Urmutter Gaia hin nachgeben – Prometheus teilt Zeus das Geheimnis mit, wie er seine Macht bewahren kann, und wird dafür in den Olymp aufgenommen. – Mit seinem besiegten Vorgänger also verträgt sich Zeus, vertragen muss er sich auch mit dem, in dessen Wissen seine Zukunft beschlossen ist – Prometheus heisst ja der Voraussinnende. Zeus’ Königtum ist somit nicht durch unbedingte Macht, sondern durch Ausgleich begründet; nicht als absolute Herrschaft verstanden es die Hellenen, sein Wesen beruhte für sie vielmehr darauf, dass es das Gleichgewicht der Kräfte herbeiführt und bewahrt. Wie Hektor und Achill sich nun zum entscheidenden Zweikampf gegenüberstehen, spannt Zeus die Schicksalswaage aus – Und legte zwei Lose des Todes hinein, Das des Achill und das des Pferdebändigers Hektor, Fasste sie in der Mitte und zog sie empor. Da senkte sich Hektors Schicksalstag bis hinab in den Hades. Ilias 22.209 ff.

Wir missverstehen den Dichter wohl nicht, wenn wir diese grossartige Stelle so deuten, dass abgewogen wird, was im Wesen der beiden Menschen angelegt ist: der einem jeden ­bestimmte Tod. – Nicht als absoluter Herr also, wie der orienta-

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lische Weltgott, bestimmt Zeus den Ausgang des ungeheuren Geschehens des Trojanischen Kriegs, in das verwickelt Menschen und Götter gegeneinander wirken. Vielmehr lässt er die naturgegebenen Kräfte frei spielen. Am Schluss der Orestie versöhnt Athena die Erinnyen, die durch ihren Stichentscheid den Prozess gegen Apoll und Orest verloren haben, – womit auch das alte Recht der Blutrache aufgehoben ist. Sie erhalten ein neues Ehrenamt: als Eumeniden – Wohlmeinende – segensreich für das Land zu wirken; sie werden fortan in Eleusis verehrt. – Man hat wohl zu Recht in diesem Mythos die Erinnerung an vorgeschichtliche Vorgänge gesehen: Die religiösen Vorstellungen und die Kulte der vorgriechischen Bevölkerung wurden von den Eingewanderten, den indoeuropäischen Stämmen, nicht einfach unterdrückt oder verfemt, sondern aufgenommen und mit den eigenen verschmolzen. Wie stark der vorindoeuropäische Einfluss weiterlebte, ersehen wir daraus, dass die meisten der späteren Götternamen nicht von der griechischen Sprache her deutbar sind. Und dass ein weitgehend vaterrechtlich organisiertes Volk wie die Hellenen mehr weibliche Gottheiten verehrte als männliche, dass Hesiod in der Erde den Ursprung allen Lebens und der Götter sah und noch Sophokles diese Urmutter die Höchste der Götter nannte (Antigone 338), beweist, wie mächtig vorgriechische Vorstellungen weiterwirkten. Auch hier zeigt sich der griechische Sinn für den Ausgleich, für das Nebeneinander des Verschiedenen; wie in den Auseinandersetzungen der Polis ging es auch im Bereich des Religiösen nie darum, dass Eine Macht allein anerkannt würde. In einer Welt des Kampfes und des Ausgleichs gibt es ebenso die Lust des Triumphs wie das Leiden im Nachgebenmüssen. Zwar vernehmen wir immer wieder, Götter seien ihrem Wesen nach glückselig, den Schmerzen und dem Schicksal entzogen; aber ebenso oft hören wir von Zorn, von Sorgen, von Kummer der Götter: Demeter trauert um ihre verlorene Tochter, Aphrodite um Adonis, Thetis um Achill; Hera quält die ­Eifersucht, Zeus die Not seines Sohnes Herakles. Beides gehört

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zur Gottheit, Seligkeit und Leiden. Erst spät haben die Hellenen das Bedürfnis empfunden, diesen Widerspruch aufzuheben. So lehrten denn einzelne Denker, Xenophanes etwa, dann Platon, Aristoteles und Epikur, man dürfe sich die Gottheit nicht anders vorstellen als glückselig, vernünftig und gut. Aber wir haben es bereits gesagt: Es gab in der griechischen Welt nie einen allgemein verbindlichen Glaubenskanon, sowenig es eine dogmatisch lehrende Institution gab. Die Anschauungen blieben bis in die späteste Zeit vielfältig, jeder Erzähler wirkte frei weiter am Gewebe des Mythos. So wird noch in der spätantiken Erzählung von Amor und Psyche jener Widerspruch ganz selbstverständlich hingenommen. Gerade die beglückendsten aller Mächte, Venus und ihr Sohn, geraten in die schwersten Nöte: Dieser liegt gepeinigt von seiner Brandwunde auf dem Krankenlager, unfähig, seiner Geliebten zu helfen, während Venus von heftigstem Ärger gequält sich am Ende ins Unvermeidliche zu fügen hat: ihre verhasste Rivalin als Schwiegertochter anzuerkennen. Gewiss ist dieses Märchen nur noch mythologische Spielerei, aber eben doch ein letzter Reflex der alten Auffassung, dass sich keine Macht in der Welt gänzlich durchsetzen darf und zuweilen unter schmerzlichem Verzicht einer anderen Raum geben muss. Euripides redete geradezu von einem Gesetz der Götter: Im Hippolytos sagt ­Artemis, nachdem ihr liebster Anhänger von Aphrodite ins Verderben gestürzt worden ist: Das Gesetz der Götter ist das: Kein Gott widersetzt sich dem, was ein anderer Gott wirkt, sondern wir lassen einander gewähren. Fürchtete ich nicht Zeus, niemals hätte ich meinen liebsten Menschen sterben lassen! (1328 ff.). Zeus erscheint hier als der Garant dieses Gesetzes, so wie er es ist, der die Schicksalswaage vor dem Schlusszweikampf der Ilias aufhebt und damit dafür sorgt, dass sich vollzieht, was im Wesen der beiden Menschen angelegt ist. Das griechische Wort für Schicksal, Moira, heisst ursprünglich der Anteil – das, was einem jeden seiner Natur nach zusteht. Das Geschehen in der Welt ergibt sich also nicht aus einem unbedingten Willen, sondern fügt sich aus dem Zusammenspiel der Kräfte

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– Fügung wiederum heisst griechisch Harmonia. – Darum konnten die Griechen das Schicksal Ratschluss des Zeus nennen und ohne weiteres auch sagen, Zeus füge sich dem Schicksal; selbst ein Gott vermöchte der verhängten Moira nicht zu entrinnen. (Herodot 1,91). Für die Hellenen war das kein ­Widerspruch; denn sie dachten sich ihren Götterkönig wie einen König einer Polis, der nie absoluter Herrscher war, sondern immer der Vorsitzende im Rat, im Gericht, in der Volksversammlung, auf deren Zustimmung er angewiesen blieb; und sie sahen anderseits im Schicksal keine mechanisch determinierte Notwendigkeit und keine allmächtige Prädestination, sondern das Ergebnis aus dem lebendigen Zusammenwirken freier Kräfte, eben Harmonie. In diesem Zusammenspiel hat auch die menschliche Freiheit ihren natürlichen Raum. Man hat sich immer wieder darüber verwundert, wie spät die griechische Philosophie auf das Problem der Willensfreiheit gestossen ist. Noch für Aristoteles ist es unwichtig; es spielt eine wesentliche Rolle überhaupt erst seit der Stoa, und deren Begründer waren denn auch bezeichnenderweise lauter Orientalen. Für die frühen Griechen galt – was auch heute noch für den unbefangenen Menschen gilt und was bereits der Dichter der Odyssee sagt: Einiges tun die Menschen aufgrund ihrer Bestimmung, anderes verführt von verderblichen oder begnadet von guten Mächten, wieder anderes tun sie aus freien Stücken; wenn sie dabei über ihre Moira hinaus in Unglück geraten, was klagen sie dann die Götter an? (Odyssee 1.32 ff.). ❦ Was wir am Anfang dieses Kapitels zur Stellung des Menschen ausgeführt haben, erscheint hier in neuem Licht: Die Menschenwelt ist im Rahmen des grossen Kosmos ein Bereich eigener Würde, eigenen Wertes, und empfängt ihren Sinn nicht einfach bloss von einem obersten göttlichen Willen her; aber deswegen zu leugnen, dass Menschen den Göttern vieles verdanken, Göt-

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tern gegenüber Pflichten haben, wäre den Griechen nie in den Sinn gekommen. Walter F. Otto zeigt sehr schön, dass die Griechen Offenbarung göttlicher Mächte immer wieder gerade auch im Wirken der Menschen erfahren haben. Der Mensch dieser griechischen Welt wird in bedeutenden Augenblicken gleichsam ins Göttliche hinein gehoben, oder der Gott ist ihm so nahe, dass er das göttliche Tun als sein eigenes empfindet und umgekehrt. ( S. 51). Damit ist keineswegs gesagt, Menschliches sei bedeutungslos, wenn es im Bereich des rein Menschlichen bleibe. In ihren tief­ sten Beziehungen zu einander etwa sind, wie wir gesehen haben, Penelope und Odysseus ohne Einmischung aussermenschlicher Mächte Menschen und nur Menschen. Göttliche Wirksamkeit dagegen äussert sich immer dann im menschlichen Handeln, wenn der Handelnde im Guten wie im Bösen in Lagen gerät, in denen seine rein menschlichen Kräfte nicht mehr ausreichen. Wenn etwa Odysseus, von stürmischer Meereswoge gegen die Felsen geworfen, blitzschnell zugreift und einen Felsvorsprung erfasst, an dem er sich festhalten kann, bis die Brandung zurückflutet, so sieht der Dichter darin das Wirken der Gottheit: Nun wäre seine Haut zerschunden worden, hätte nicht Glaukopis Athene ihm eingegeben … (Od. 5.427). Was wir mit den mythologischen Begriffen unserer Zeit instinktive Kräfte des Unbewussten nennen, die unerklärlichen Fähigkeiten, die uns bisweilen in Lagen zur Verfügung stehen, in denen wir bloss mit den Mitteln unseres bewussten Verstandes niemals mehr zum Handeln kämen, – diese geheimnisvollen Kräfte schienen den Griechen Offenbarung göttlicher Wirksamkeit zu sein. Dasselbe gilt für die ganz grossen Freveltaten, die jedes menschliche Mass sprengen. Xerxes etwa, der sein Reich ins Unglück stürzt, indem er alle gottgegebenen Grenzen missachtet, das heilige Meer auspeitscht und die Heiligtümer der Götter verbrennt, ist von einem Dämon verblendet (Aischylos, Perser 725ff.). Das Homerische Epos und die Tragödien sind voll von ähnlichen Beispielen. Wie nun die Götter allenthalben im menschlichen Leben wirken, ohne deshalb die Autonomie des menschlichen Bereichs aufzuheben, so verhalten sie sich auch in der Natur. Tiere,

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Pflanzen, Gewässer, Berge, selbst die Elemente sind von gött­ lichen Kräften durchwirkt, ohne darum aufzuhören, ganz das zu sein, was sie sind: Naturphänomene. Im Meere wirkt und erscheint Poseidon, im Gewitter Zeus, im Glanz der Sonne Phoibos Apollon, im Wachstum der Erde Demeter; die Gestalten der Tiere und Pflanzen sind würdig, Gottheit zu offen­ baren: als Vogel entschwindet Pallas Athene, die Eulenäugige, den Blicken Telemachs (Od.1.320), als Stier entführt Zeus Europa, im Rauschen der Eiche redet er zu den Menschen, die nach Dodona kommen. Alles hat seiner Natur nach etwas Göttliches, sagt noch Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (1153 b). In diesem Kosmos autonomer Mächte hat nun der Mensch zwar eine bedeutsame Stellung, niemals aber die Stellung einer Krone der Schöpfung. Er ist weder der Herr im Garten seines Herrn, der sich die Welt untertan machen soll, noch das Zentrum einer weltbestimmenden Heilsgeschichte. Der Hellene meinte vielmehr, dass es in der Natur zahllose Bereiche gebe, die heiliger seien als der menschliche. Darum war er sich auch seiner heiklen Stellung wohl bewusst. Um sein menschliches Lebensrecht wahrzunehmen, musste er Haine fällen, Boden urbar machen, Quellen zur Nutzung fassen und Gewässer ableiten wie jedes andere Volk höherer Zivilisation auch. Dass dieses Tun aber gefährlich und zweideutig sei, dass Menschen gefährdeter leben als andere Wesen, das kam in vielen griechischen Mythen zum Ausdruck. Am grossartigsten spricht es das berühmte Chorlied der ­Antigone aus, das wir bereits genannt haben: Ungeheuer ist viel, aber nichts ist ungeheurer als der Mensch. Er fährt übers Meer, ­bebaut die Erde, fängt die wilden Tiere. Er schützt sich vor der Wit­ terung und selbst vor den Krankheiten. Er spricht und denkt, er plant und bestimmt seine Zukunft. Die künstlichen Mittel, mit denen er sich wider Erwarten Macht verschafft, verwendet er bisweilen zum Bösen, bisweilen zum Guten – nun folgt die Stelle, die wir ­bereits kennen – im höchsten Sinne gehört zur Polis, wer dem Nomos seiner Erde und dem beschworenen Recht der Götter nach­ lebt; nicht zur Polis gehört, wer sich vermisst, aus der schönen ­Ordnung herauszutreten. Wir erkennen nun, dass der Satz, der für

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sich genommen zunächst nur politisch zu verstehen ist, dass ­dieser Satz im Zusammenhang eine viel weitere Bedeutung ­erhält: Was für den Polites im Hinblick auf seine Polis gilt, das gilt auch für den Menschen im Hinblick auf den gesamten Kosmos. Damit ist der Zusammenhang zwischen den politischen und religiösen Vorstellungen der Griechen klar geworden: Der Kosmos gilt als eine Polis im Grossen. ❦

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DIE WISSENSCHAFT VOM KOSMOS – DIE WEISHEIT VON GOTT

Alles ist voll von Göttern. Thales, Heraklit

Ich fragte die Erde, und sie antwortete: ‹Ich bin es nicht.› Und alles, was auf ihr ist, sprach ebenso. Ich fragte das Meer und seine Tiefen und das Gewürm in ihm, und sie antworteten: ‹Wir sind nicht dein Gott. Suche ihn über uns.› Ich fragte die wehenden Winde, und das ganze Luftreich mit all seinen ­Bewohnern sagte: ‹Anaximenes täuscht sich; ich bin nicht dein Gott.› Ich fragte den Himmel, die Sonne, den Mond, die Sterne. ‹Auch wir sind nicht dein Gott, den du suchst.› Ich redete zu allem, was meine Sinne umgibt: ‹Sprecht mir von meinem Gott, da ihr’s nicht seid, sagt mir etwas von ihm!› Und sie riefen mit lauter Stimme: ‹Er hat uns geschaffen!› Augustin, Confessiones 10.9

Dass das Wort, das Augustin bekämpft, Thales, dem legendären Begründer der theoretischen Naturwissenschaften, zugeschrieben wird, mag uns Menschen der Neuzeit paradox vorkommen, da wir von der Aufklärung her gewohnt sind, religiöse Haltung als Gegensatz zu kritischer Theorie zu betrachten. Dem Griechen dagegen war der Zusammenhang seiner Weltfrömmigkeit mit der theoretischen Forschung klar bewusst: Das Wort Theoria bezeichnete ursprünglich die festliche Schau eines kultischen Geschehens, womit etwa auch Theatron zusammenhängt, das Wort für den Raum, in welchem das heilige Schauspiel stattfand. Schon das Wort hielt also für die Griechen den unmittelbaren Zusammenhang ihrer religiösen Haltung mit ihrer Wissenschaft in Erinnerung. Diese Bedeutung von festlicher Schau hat das Wort Theoria selbst im Rahmen der rationalen Wissenschaft der Griechen stets behalten. Nie hiess für sie theoretisch das, was es im gän-

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gigen modernen Sprachgebrauch oft heisst, nämlich: lebens­ fern, abstrakt, nüchtern. Die Systeme der griechischen Wissenschafter und Denker haben alle den Charakter einer gross­ artigen, ästhetisch konzipierten Weltschau, ob wir nun die kühnen Entwürfe eines Anaximander, der Pythagoräer, eines Plato oder Aristoteles ins Auge fassen oder gar das Weltbild der Atomisten, das Lukrez zu seiner tiefgründigen Dichtung inspiriert hat, oder das heliozentrische Weltsystem des Aristarch. Dem entspricht die bekannte Tatsache, dass die Griechen ihre – zum Teil beachtlichen – theoretischen Erkenntnisse nie dazu ausgenützt haben, sich die Kräfte der Natur in grösserem Massstab dienstbar zu machen. Sie wussten zwar Bescheid über die technischen Anwendungsmöglichkeiten der Dampfkraft; sie entwarfen das Atommodell; sie kamen auf den Gedanken, die Welt lasse sich zahlenmässig erfassen, und – Grundlage unserer Computertechnik – mit Ja und Nein; Zenon spielte mit den Denkmethoden, die die Grundlage der Infinitesimalrechnung bilden: kurz, sie stellten das intellektuelle Rüstzeug bereit, das die abendländische Wissenschaft zu Beginn der Neuzeit aufnahm, um die Welt zu erobern, aber sie blieben beim Entwerfen immer neuer faszinierender Gedankengebäude, und was sie an Technik entwickelten, war harmlose Spielerei. Ludwig ­Klages hat in Mensch und Erde den aufschlussreichen Hinweis gegeben, dass diejenige Wissenschaftlichkeit, die auf die Bewältigung der Natur gerichtet ist, allein von den christlichen Völkern des Abendlands ausgegangen ist. In der Tat entspricht die moderne Haltung der Welt gegenüber – im «kapitalistischen» Westen wie im «kommunistischen» Osten – eher den Herrschaftsansprüchen des Persischen Grosskönigs, der das Meer auspeitschen liess, weil es sich seinem Willen widersetzt habe; sie entspricht eher der Aufforderung des Alten Testaments, die Menschen sollten sich die Erde untertan machen, eher dem Glauben, der Berge versetzt, als der festlichen Schau der griechischen Forscher. Es ist klar, sagt Aristoteles, dass sie rein um des Wissens willen geforscht haben, nicht um irgendeines Nutzens willen. Darauf weist auch folgender Umstand hin: Erst als alles

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vorhanden war, was man braucht, um zu leben und um angenehm zu leben, hat man sich um eine solche grundsätzliche Erkenntnis bemüht. So suchen wir sie offensichtlich nicht um irgend eines anderen Bedürfnisses willen, sondern – wie wir einen Menschen frei nennen, der um seiner selbst willen da ist und nicht einem anderen gehört – so suchen wir sie als die einzige freie Kenntnis unter allen anderen Kenntnissen; denn nur sie ist um ihrer selbst willen da. (Metaphysik 982 b 20). Dass hier der Begriff der Freiheit genannt wird, ist sehr aufschlussreich. Wie der Polites seinem Staat gegenüber letztlich frei ist, Würde und Existenzberechtigung in sich selber trägt; und wie das menschliche Leben der Gottheit gegenüber seinen eigenen Sinn hat, so trägt auch das theoretische Denken seinen Zweck in sich selber. Es ist also kein Zufall, dass das theoretische Denken gerade in der griechischen Welt entstanden ist; es ergab sich aus derselben Grundhaltung, die den Hellenen auch auf politischem und religiösem Gebiet vom Orientalen unterschied. – Diese Freiheit des Denkens von den praktischen Zwecken ermöglichte den grossartigen Aufschwung der griechischen Wissenschaft. Solange ein Denken bloss auf die unmittelbar naheliegenden Ziele der Praxis ausgerichtet und beschränkt ist, bleibt es, gleichsam in seiner Bewegungsfreiheit verengt, blind gegenüber allen neuartigen Wegen. Ein freies Denken hat ihm gegenüber gleichsam einen unbeschränkten Gesichtskreis, hält sich immer neuen Einfällen, immer neuen Möglichkeiten offen, ist bereit, sich immer neue Richtungen zu geben, kurz, es ist im echten Sinne schöpferisch. So kam es, dass Hellas die Methoden und Denkbahnen erschlossen hat, die zur Grundlage der modernen Wissenschaft werden sollten, während der Alte Orient, dessen Gesinnung der abendländischen so viel näher stand, nichts Vergleich­ bares leistete. Es bedarf kaum der Betonung, dass wir den Begriff der Wissenschaft in den Gelehrtenstuben des Alten Orients ver­ geblich suchen würden. Noch gibt es nichts von der kritischen Schärfe und souveränen Selbständigkeit des antiken Geistes.

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Das Wesen der altmesopotamischen Wissenschaft ist empirisch und erschöpft sich in der Zusammenfassung gegebener Daten, ohne je die Ebene der Abstraktion zu erreichen; sie reiht Tat­ sachen und Erkenntnisse aneinander, deren Ursprung letztlich in der göttlichen Offenbarung liegen. – Das sind die Worte eines der besten Kenner der Materie: Hartmut Schmökels, gewiss nicht eines missgünstigen Beurteilers. (Kulturgeschichte des Alten Orients, S. 176). Zwar besassen die Ägypter nicht unbeträchtliche Kenntnisse in der Medizin, die Babylonier in der Astronomie, grundlegende gedankliche Leistungen aber haben die Völker des Alten Orients nur auf dem Gebiete der Theologie erbracht. Und der wahrhaft ungeheuerliche Aufstieg der abendländischen Technik begann im Augenblick, als sich Europa allen Warnungen der Priester zum Trotz die Denkmethoden der Danaer schenken liess: die Abkehr von den Zwecken der unmittelbaren Praxis. ❦ Aber nicht nur das theoretische Denken ist nach griechischer Auffassung frei, wie es ein Polites ist, sondern auch die Gegenstände der Theorie sind es. Das Wort Theoria ist von derselben Wurzel gebildet wie das Wort thaumazein: staunen. Plato nennt das Staunen den Ursprung aller Philosophie: Es gibt keinen anderen Anfang der Philoso­ phie als eben diesen. (Theätet 155d). Aristoteles führt den ­Gedanken in seiner Metaphysik genauer aus: Die frühesten Denker haben zu philosophieren begonnen, weil sie über die Dinge staunten. Zunächst verwunderten sie sich über nahelie­ gende Seltsamkeiten, stiessen dann aber auf immer schwierigere Fragen: Sie begannen über die Mondphasen, die Sonnen- und Gestirnsbahnen zu staunen und schliesslich darüber, dass das All überhaupt entstanden sei … Wer aber über etwas zweifelt und staunt, glaubt es nicht zu kennen. Darum ist der Freund der ­Mythen auch eine Art von Philosoph; denn der Mythos besteht aus Staunenswürdigem. (982 b 11). Herodot, der Vater der Ge­

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schichtsschreibung, beginnt sein Werk mit den Worten: Hier wird dargelegt, was Herodot von Halikarnass erforscht hat, damit die menschlichen Ereignisse nicht vergessen würden, und damit die grossen und staunenswerten Werke der Griechen und Barbaren nicht ohne Ruhm vergingen. – Gegenstand der Theoria, des staunenden Schauens, war ursprünglich die Gottheit; Gottheit erschien aber den Griechen als unermessliche Vielfalt, von der alles voll ist. Was dieser Satz in frühgriechischer Ausdrucksweise besagt, hiesse in die Sprache der Neuzeit übertragen etwa folgendes: Alle die mannigfachen Bereiche und Erscheinungsmöglichkeiten der Wirklichkeit haben ihren eigenen, unrückführbaren Wert in sich, sind würdig des höchsten geistigen Interesses, sind existenzberechtigt und sinnvoll in sich selbst und nicht bloss im Hinblick auf etwas anderes, sei es ein bestimmter Zweck, sei es ein überweltlicher Schöpfer. Grundsätzlich jedes Phänomen der Welt, vom alltäglichen Sachverhalt bis zur Existenz des Alls, kann also, wie Aristoteles sagt, Gegenstand des Staunens: das heisst Gegenstand der theo­ retischen Betrachtung werden. Diese pluralistische Sichtweise kommt in der grossartigen Vielfalt der griechischen Forschung zum Ausdruck, die sich in fast grenzenloser Offenheit immer neue Bereiche der Welt erschloss. Nichts Menschliches ist mir fremd, sagte Menander aus derselben Sichtweise heraus; nichts Wirkliches ist uns fremd, hätten die griechischen Denker sagen können. Welch ein Reichtum an verschiedenartigsten Interessen tritt uns noch im Trümmerhaufen der Fragmente entgegen, die uns von den Werken der sogenannten Vorsokratiker übrig geblieben sind: Mathematisches steht neben Metaphysischem, Geographisches neben Biologischem; Astronomie hat sie ebenso beschäftigt wie Erkenntniskritik, Medizin, Theologie, Physik, die Lehre von den Stoffen und die Frage nach den ­Sitten. Eine lebendige Vorstellung einer solchen Fülle gibt uns das reizvolle Buch Herodots, das neben der historischen ­Erzählung breite ethnographische, religionsgeschichtliche, kulturkritische, aber auch geologische und klimatologische Abschnitte enthält und nicht zuletzt zahlreiche Anekdoten

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und ganze Novellen. Die grossartigste Bekundung dieser Vielseitigkeit ist das Werk des Aristoteles, der einzigartige Versuch, alle Bereiche der Wirklichkeit von der Physik, Zoologie und Botanik bis zur Logik und Metaphysik zu erhellen. Nicht wenige Disziplinen der heutigen Wissenschaften haben ihren Namen durch seine Bücher erhalten, etwa die Psychologie, die Ethik, die Physik, die Poetik, die Rhetorik, die Meteorologie. ❦ Warum der Alte Orient eine derartige Wissenschaft nicht entwickeln konnte, ist nun noch deutlicher sichtbar geworden: Gerade die religiöse Sichtweise, die Grundlage der griechischen Theoria war, musste den Menschen des Alten Orients nicht nur sinnlos, sondern schlechterdings frevelhaft vorkommen. Das Wesen und das Dasein der Dinge waren für sie im Willen Gottes begründet und konnte darum niemals Gegenstand menschlichen Fragens und Forschens sein. Die Dinge an sich waren kein bestaunenswertes Wunder. Wohl reden auch Echnatons Lobgesang und die Psalmen des Alten Testaments in begeisterten Worten von der Schönheit der Schöpfung, aber selbstverständlich nur, weil sie Gottes Werk ist. Nur darin liegt ihr Sinn und Wert. Ein Geschöpf, das sich auf sich selber stellt, sich von Gott sondert, ist sündig. Gottes Wesen ­allein war für sie der tiefsten Bemühung ihres Denkens wert, Gottes Wirken allein verdiente wahres Interesse; und von Gottes Wesen und Wirken galt nur das als erlaubter Gegenstand menschlicher Betrachtung, was Gott von sich aus offenbart hatte. Dieser Monismus scheint uns die geistige Grundhaltung des Alten Orients zu sein, in klarem Gegensatz zum Pluralismus der Griechen. Aber Gott ist für den Menschen des Alten Orients nicht nur der einzige sinnvolle Gegenstand des tiefsten Interesses, sondern auch die einzige Erfüllung wahrer Liebe. Gewiss verdient auch das Geschöpf liebevolle Zuwendung, aber eben nur, weil es Gottes Schöpfung ist, und die Nächsten- und Feindesliebe

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wird im Alten und Neuen Testament als ein Aspekt der Gottesliebe gekennzeichnet. Der Mensch ist liebenswert, weil er Gottes Ebenbild ist. Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und mit aller Kraft. (5.Mos. 6,5, zitiert in Matth. 22,37). Dies ist das grösste Gebot. Das zweite ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Matth.22,38/39). Der vollständige Wortlaut der alttestamentlichen Stelle, die Jesus hier nennt, lautet: Du sollst dich nicht ­rächen, auch deinen Volksgenossen nichts nachtragen, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin dein Herr. (3.Mos. 22,9). Diese Liebe ist durchaus ein Sollen, das ­Ergebnis eines Gehorsams, der von tiefem ethischem Ernst getragen ist. ❦ Wie vollständig verschieden davon die Sichtweise der griechischen Theoria war, erkennen wir, wenn wir etwa in Platos Gastmahl lesen, die Schau sei die Erfüllung des Eros. – Was heute noch jeder nachfühlen kann, dem irgendeine Liebha­ berei am Herzen liegt: einen passionierten Sammler, einen Kunstfreund, einen echten Forschergeist zieht die Sache, die ihn interessiert, unwillkürlich in ihren Bann, fast wie einen Verliebten. Und meistens vermag er letztlich gar nicht zu ­erklären, warum es gerade die betreffende Sache sei, und was denn an ihr ihm gefalle. Sie hat für ihn einen unrückführbaren Wert und Sinn, eine Art von Autonomie. Dem Musikfreund geht es, wenn er ehrlich ist, um Musik und nur um Musik: alle höheren Zwecke, mit denen er seine Leidenschaft rechtfertigen mag, religiöse oder ideologische Werte etwa, können nicht verständlich machen, warum er ihnen ausgerechnet damit dient, dass er sich mit Musik abgibt. – Es sei im übrigen nicht bestritten, dass die Forschungsrichtung einzelner Menschen, oft ganzer Generationen oder auch ganzer Zeitalter, von bewussten oder unbewussten Triebfedern bestimmt ist, die schliesslich erst in den Auswirkungen sichtbar werden. Dass

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die Forschungen eines Galilei, eines Newton, eines Pascal und ihrer grossen Nachfolger schliesslich zur Ausbeutung der Welt im Dienste des Profits und der totalitären Machtausübung geführt haben, weist auf die Wirksamkeit geschichtlicher Kräfte und Tendenzen hin, die weit stärker waren als alle subjektiven Ideale und Interessen; deswegen aber abzustreiten, dass diese grossen Menschen ehrlich und mit der ganzen Tiefe ihres ­Wesens von den Gegenständen ihrer Forschungen ergriffen waren, das wäre wahrhaft überheblich. Noch etwas anders steht es, wie wir schon gesehen haben, mit der Wissenschaft der antiken Hellenen. Selbst ihre Auswirkungen entsprachen der Versicherung des Aristoteles, die Theo­ ria werde um des Wissens und nicht um eines Nutzens willen betrieben. Der Gegenstand der Theoria ist frei, bewunderungsund liebenswürdig, ein autonomer Wert. Daher fallen für Aristoteles folgerichtig der Inbegriff des Begehrenswerten (das höchste Gut) und der Inbegriff des Schauenswerten (die höchste Wahrheit) zusammen: Der Geist (Ursprung und Ziel alles Strebens in der Welt und somit der Erste Beweger) wirkt, indem er – in ewiger Theoria – sich selber schaut. Hier beschreibt einer der hervorragendsten Vertreter des griechischen Denkens gleichsam das ideale Grundmuster des theoretischen Verhaltens – freilich in intellektualistischer Einseitigkeit, die bereits Ausdruck der Spätzeit des hellenischen Lebens ist. Das Wesen der Theoria besteht also in der innigsten Verbundenheit des Schauenden mit dem Geschauten, und sie erfüllt sich darin, dass sich das Subjekt vollkommen öffnet und das Objekt vollkommen erschliesst. Heidegger hat, von den Philologen zu ­Unrecht verlacht, darauf hingewiesen, dass das griechische Wort für Wahrheit nichts anderes heisst als Un-verborgenheit (a-letheia), also die vollendete Offenheit zwischen dem Schauenden und Geschauten bezeichnet: Diesem Zustand höchster Glückseligkeit, sagt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (1177b,27), könne ein sterblicher Mensch nur in wenigen Augenblicken seines Lebens nahekommen; in vollkommener Erfüllung werde er nur von der Gottheit erlebt.

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Dieser Beschreibung des Grundmusters entnehmen wir einen weiteren wichtigen Hinweis: In der göttlichen Theoria sind Subjekt und Objekt identisch; wenn der Mensch des Glücks teilhaftig wird, sich der göttlichen Theoria anzunähern, so ­öffnet sich offenbar dem Schauenden in uns etwas ihm Gleichartiges im Geschauten. Platonisch gesprochen: Dem menschlichen Geiste öffnet sich im Geschauten die geistige Idee. Noch hier wirkt die alte Vorstellung nach, dass in der Theoria ein Gottbegeisterter einen Gott schaue. Übertragen wir wiederum die antike Ausdrucksweise in die moderne, so mag das etwa heissen: Subjekt und Objekt sind in der theoretischen Betrachtung einander zutiefst wesensverwandt; Erkenntnis ist darum möglich, weil keine unüberbrückbare Kluft die Wirklichkeit vom menschlichen Erleben und Denken trennt. Dieser Grundempfindung entsprang der zunächst ganz naive Glaube, es gehe in der Wirklichkeit nicht wesentlich anders zu als in ­unserem Vorstellen und Denken, entsprang also der Glaube an die Ratio und die Logik, das Lieblingsvorurteil der Griechen. Da zudem in der pluralistischen Sicht vorausgesetzt wurde, die vielen Götter, von denen alles voll sei, seien autonom, das heisst die Dinge hätten ihren Grund in sich selber, ergab sich von selbst die Annahme, die Dinge müssten aus sich selber er­ klärt werden. Ein nicht geringer Teil der vorsokratischen Forschungen lief bekanntlich darauf hinaus, dass die natürlichen Ursachen bestimmter Phänomene nachgewiesen wurden. Es ging also darum zu zeigen, dass Erscheinungen und Vorgänge der Natur nicht auf undurchsichtige und willkürliche Kräfte ausserhalb ihrer selbst zurückgingen, sondern in ihr und ihrem Wesen begründet seien. So zeigt zum Beispiel Anaxagoras, dass die Winde entstehen, wenn sich die Luft unter der Sonnen­ einwirkung verdünnt, und wenn Teile der Luft gegen den Himmel ausweichen und dann wieder zurückströmen. Was als die grosse Wendung vom mythischen Denken zur rationalen Betrachtungsweise gilt, als die Geburt der aufgeklärten Weltsicht ­gefeiert wird, ergab sich also folgerichtig aus der religiösen Grundhaltung der Griechen und bedeutete – anders als zu

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­ eginn der Neuzeit – nicht einen Bruch. Selten nur empfanden B die Griechen einen Widerspruch zwischen offenbarter und rationaler Wahrheit; vielmehr setzten bedeutende Denker wie Xenophanes, Anaxagoras, Plato und Aristoteles den rationalen Geist mit dem göttlichen gleich. Und weil es auch die Stoiker taten, war deren sonst wenig hellenische Lehre den Hellenen erträglich. – Im Übrigen ist mit diesen Ausführungen ­belegt, was im zweiten Kapitel nur eben behauptet wurde: Die Griechen hätten Naturphänomene zugleich als durch und durch belebt von göttlichen Mächten betrachtet, ohne dass diese für sie aufgehört hätten, das zu sein, was sie sind: eben Naturphänomene. Indessen waren die Griechen zu sehr Pluralisten, als dass sie nicht auch den Gegenstandpunkt erprobt hätten: die Skepsis gegenüber der Vernunft. Von Heraklit an beschäftigten sich zahllose Denker mit der Frage, wie es der logische Geist, der mit nichts anderem als mit identisch verharrenden Begriffseinheiten operieren kann, wie es dieser Geist anstelle, die ­unaufhörlich fliessende Wirklichkeit der Sinnenwelt zu erfassen. Wie immer die Lösungen aussahen, keine entzog sich der Notwendigkeit, die menschliche Seele als eine Vielfalt zu denken. Selbst die Atomisten nahmen verschiedene Arten von Seelenatomen an, gröbere und feinere, je nachdem, ob sie bloss vegetative und animalische oder intellektuelle Funktionen zu erfüllen hätten. Darin aber äusserte sich wiederum derselbe Grundzug des hellenischen Lebens, den wir schon so oft getroffen haben: die pluralistische Haltung. ❦

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DIE PLURALISTISCHE KULTUR DER HELLENEN

Gewiss haben nicht erst die Griechen alle die Literaturgattungen geschaffen, die heute bei uns griechische Namen tragen, doch bei keinem Volk waren sie in solcher Vielfalt und so prägnant nebeneinander ausgebildet: das Epos, die Lyrik, das Drama, die Prosaerzählung, die Biographie, der rhetorische Kunstvortrag, der Aphorismus. Der politisch und ethisch engagierte Kämpfer, der belehren, bessern und verändern will, findet bei ihnen seine Vorbilder ebenso wie der Formkünstler, dem es ganz einfach darum geht, Vergnügen zu bereiten. Nicht zufälligerweise kennzeichnet die Freude am Erzählen und Schildern die griechische Literatur besonders; bereits ihr grosser Anfang, das Homerische Epos, ist lebendiger Ausdruck von ihr. Die Lust des Zuhörers und Lesers, sich in fremde Welten zu versetzen, immer Neues kennen zu lernen, weist grundsätzlich auf eine pluralistische Haltung hin, die ursprünglich sicher in allen Menschen stärker oder schwächer vorhanden ist. – Wie verschieden sind im Übrigen die Interessen und Meinungen der hellenischen Autoren! Wir finden glänzende Vertreter des kriegerischen Heldentums und ritterlicher Lebensweise neben den spöttischen Pazifisten der Komödie, den ernsten Mahner zu verantwortungsvoller Arbeit, Hesiod, neben den Sängern des leichtfertigen Lebensgenusses; ­abgründigen Pessimismus neben dem kühnen Selbstbehauptungswillen eines ­Archilochos. Aus derselben Kultur stammen die sokratischen und stoischen Lehren asketischer Vergeistigung und die Verherrlichung der erotischen Lust; und kein Volk mehr hat wohl so ­vorurteilslos die gleichgeschlechtlichen Neigungen neben den gegengeschlechtlichen besungen und überhaupt gelten lassen wie die Hellenen; kein Volk hat zugleich die Kultur des Intellektes und die Kultur der Sinnlichkeit mit solchem Ernste gefördert; kein Volk hat die Schönheit des menschlichen Leibes so unvoreingenommen zum Gegenstand höchster Kunst gemacht. ❦ 77

Kein Volk hat auch soviel Wert auf die Ausbildung der körperlichen Kräfte gelegt und ihnen so glänzende Gelegenheiten geschaffen, sich öffentlich zu bewähren. Eindrücklich hat Burckhardt in seiner Kulturgeschichte dargestellt, welche ­Bedeutung der Wettkampf, der Agon, im Leben der Griechen hatte. – Im Gegensatz zum modernen Wettbewerb aller gegen alle war der Agon kein Kampf ums Dasein oder um soziale Macht, sondern ein festliches Spiel, in welchem sich die Kräfte freier und eigenständiger Partner auslebten, indem sie sich miteinander massen. Weil der Agon kein monistischer Rangstreit war, spielte der Rekord keine Rolle; sein Reiz bestand stets im Neben- und Gegeneinander von Vielen. Die Analogie zum politischen Leben ist sehr deutlich; sie war den Hellenen auch bewusst. Im Panegyrikos beschreibt Isokrates das Verhältnis der Athener und Spartaner während der Perserkriege, indem er sagt, sie hätten sich wie Wettkämpfer um den Preis der Tapferkeit bemüht. (85). Der Wettkampfgedanke bestimmte nicht nur das sportliche Leben; bekanntlich wurden auch die Dramen in Athen stets im Rahmen eines Agons aufgeführt, und die Bürger verfolgten die Redeschlachten ihrer Führer mit dem Vergnügen von Wettkampfzuschauern. Ihre immer höheren Ansprüche haben nicht wenig zur Entwicklung der blendenden griechischen Rhetorik beigetragen, mit deren guten und unguten Errungenschaften uns noch die heutige Werbetechnik beglückt. Seine rhetorische Kunst, sagte der Sophist Protagoras, vermöge die schwächere Meinung und Aussage zur stärkeren zu machen. Über jede Sache gebe es zwei einander entgegengesetzte Möglichkeiten der Aussage. Nichts ist wahr, alles ist erlaubt; ent­ scheidend ist nur, wie man etwas vertritt, wäre etwa der Grundgedanke dieser Lehre der sophistischen Redner. ❦

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Diese Lehre war allerdings schon Ausdruck der schweren ­inneren Krise, in der sich die hellenische Welt im Ausgang des fünften Jahrhunderts befand: Der Peloponnesische Krieg, die absurde Übersteigerung der Hegemoniepolitik der vornehmsten griechischen Mächte, hatte zum Zweifel am überlieferten Wertsystem geführt, das auf den Bindungen der Menschen an ihre Polis beruhte. Wie der Glaube an die Nation in Europa nach der Katastrophe der Weltkriege erschüttert ist, die als Auswüchse des Nationalismus empfunden werden, so war die Polis als Inbegriff der Werte fragwürdig geworden; damit aber auch die ganze Ordnung religiöser, sozialer und kultureller Beziehungen, deren Zentrum die Polis gewesen war. Xenophon sagt am Schluss seiner Hellenika, es sei eine Zeit der Akrisia, der Ratlosigkeit, angebrochen. (7.5.27). Alle geistigen Bemühungen des 4. Jahrhunderts bezogen sich darauf, mit dieser Ratlosigkeit fertig zu werden. Die Sokratiker, im besonderen Plato und Aristoteles, versuchten auf rationalem Wege, eine neue Wertordnung zu gewinnen; ihre Sittenlehren und Gesellschaftsentwürfe, wie sehr sie noch dem griechischen Ideal der Autonomie verhaftet sein mögen, sollen vor der allgemeinmenschlichen Vernunft bestehen können. Und wenn Isokrates behauptet, in der grossen Zeit hätten die Spartaner und die Athener ihre eigene Polis gleichsam als Privatwohnsitz, dagegen Hellas als ihre eigentliche Heimat betrachtet (Panegyr. 81), so beschreibt er nicht so sehr die Wirklichkeit derjenigen Epoche, die er lobt, als vielmehr das Ideal seiner eigenen Zeit. Wie wenig er sich allerdings unter einem geeinigten Hellas konkret vorstellen konnte, wie sehr seine Gedanken nur Negation eines unbefriedigenden Zustandes waren, zeigt sich darin, dass er als Ziel einer Versöhnung einen gemeinsamen Krieg gegen die Perser vorschlägt, damit die Poleis ohne Störung ihr Leben führen können, die Unternehmenden gewaltige Reich­ tümer gewinnen und der ewige Ruhm der Bezwinger von ganz Asien selbst den der Homerischen Heroen übertrifft. (Panegyr. 184). Kein Wort von Weltherrschaft, kein Wort von allgemeinem Frieden! Auch in der inneren Krise, als sich die Polis

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längstens überlebt hatte und unglaubwürdig geworden war, kamen die Griechen nicht über die pluralistische Grundvorstellung autonomer Kleinstaaten hinweg. Was Alexander von Makedonien gelang – der Entwurf eines kosmopolitischen Staatsgedankens, in dem sich griechische Freizügigkeit mit der orientalischen Weltreichsidee verband, – war gewiss in Vielem von hellenischen Denkern vorbereitet, konnte aber in voller Konsequenz eben nur einem Halbgriechen gelingen. Die hellenistischen Grossreiche und später der römische Weltstaat mit ihren göttlichen Fürsten und ihren autonomen Gemeinden, Munizipien und Grossstädten gaben dann den natürlichen Rahmen der individualistischen Lebensführung ab, der äussersten Entfaltung des griechischen Pluralismus. Die Wurzeln dieses individualistischen Bewusstseins reichen weit zurück bis zu den ionischen Dichtern; bereits Archilochos nimmt Konventionen gegenüber entschieden das Recht in Anspruch, ein Leben zu führen, das seiner Person entspricht. Die tiefgreifende Krise des politischen Bewusstseins zu Beginn des 4. Jahrhunderts, dazu, wie Kitto eindrücklich darstellt, die ganze technische Entwicklung, die zur Steigerung der Bedürfnisse und zur Komplikation des sozialen Lebens führte, brachten den Individualismus zum vollen Durchbruch und zwar in extremer Ausprägung bis zu Epikurs Forderung, der Mensch solle sich aus dem politischen Leben völlig zurückziehen. Hatte noch zu Perikles’ Zeit das Ideal des Polites geherrscht, der in allen Bereichen der menschlichen Kultur gebildet ist: der alle Ämter der Gemeinde versehen kann, der sich in künstlerischer, pädagogischer, kultureller Betätigung ebenso bewährt wie als Krieger, wie als Freund, Liebhaber und im gesellschaftlichen Umgang, – so wurde das Leben vom vierten Jahrhundert an mehr und mehr durch den Privatmann bestimmt, dessen Leben sich seinen persönlichen Neigungen gemäss erfüllt und der sich der Gemeinschaft allenfalls als Spezialist zur Verfügung stellt, sei es als Berufskrieger, sei es als Redner, Jurist, Finanzsachverständiger, sei es als Theatermann, Pädagoge oder als Berufssportler; und diese Gemeinschaft ist nicht mehr

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die überblickbare und durch enge Bindungen beschränkte Polis, sondern – der Idee nach – die Menschheit. Wir schliessen diesen Überblick mit den lebendigsten ­Äusserungen des hellenischen Pluralismus: der Tragödie, der Geschichtsschreibung und der Komödie. ❦ Wiederum waren es die Hellenen, und in der westlichen Welt jedenfalls nur sie, die das Furchtbare, das Abgründige und Schmerzliche zum Gegenstand einer besonderen Kunstgattung gemacht haben. So schwierig es ist, einen gemeinsamen Nenner für alle Tragödien zu finden, die uns erhalten sind, soviel lässt sich doch sagen: In allen geht es um ein ungeheuer­ liches Geschehen, das lebendige Wesen in Leid verstrickt; und wie immer sich dieses Geschehen entscheidet, es ist bedeutsam und gross, es hatte für die griechischen Tragiker einen ­eigenen, tiefen Sinn und gehörte zur Ganzheit des Lebens. …Tod … Leid … und nichts davon, was nicht Zeus wäre, lautet die Schlussformel von Sophokles’ Trachinierinnen. Was nicht bedeutet, dass diese Dichter gelehrt hätten, der Mensch müsse sich fatalistisch ins Böse schicken oder gar es feige gewähren lassen. So sind denn ihre Tragödien nicht selten Ausdruck heftiger Empörung gegen Unrecht und Aufruf zu sittlicher Tat. Aber als Betrachter der menschlichen Konflikte versuchten sie, bei aller ethischen Entschiedenheit, auf das Ganze, das wir nie voll erfassen, wenigstens hinzudeuten. ­Aischylos’ berühmte Formel pathei mathos – aus Leiden Ein­ sicht ist kein moralistischer Trost, sondern besagt, dass auch im Leiden etwas Wesentliches vom sinnvollen Ganzen der Wirklichkeit sichtbar werde. Und jener Gedanke, der dem monistischen Orient als heiligste Hoffnung und höchste Offenbarung galt: dass dereinst alles Schlimme endgültig überwunden sein werde, dass Schmerz und Seufzen ewiger Freude weichen müsse (Jesaia 35,10) und der Tod seinen Stachel verliere (1.Kor. 15,55), – dieser Gedanke wäre ihnen einseitig und daher zu flach, viel-

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leicht gar frevelhaft vorgekommen. Hier treffen wir auf den Punkt, in dem sich das Empfinden der beiden Kulturen am tiefsten unterscheidet. Indessen hat der Begriff des Tragischen in der Auffassung der Neuzeit eine engere Bedeutung erhalten. Tragisch nennen wir einen Konflikt, in dem unausweichlich Recht auf Recht stösst. Nicht in jeder der erhaltenen griechischen Tragödien geht es um einen derartigen tragischen Widerstreit. Aber es wäre doch verwunderlich, wenn die Griechen mit ihrem Sinn für die Vielfalt der möglichen Standpunkte nicht auch solche Situationen dargestellt hätten. In der Tat gibt es in den Tragö­ dien – und überhaupt in der ganzen griechischen Literatur – kaum den Fall, dass nur die eine Seite recht hat, die andere durch und durch schlecht wäre. Selbst die Freier in der Odyssee bekunden bei aller Überheblichkeit und allem Frevelmut ­bisweilen ihren Adel. Schliesslich lässt sie der Dichter nicht einfach jämmerlich zugrunde gehen, sondern in tapferer Gegenwehr fallen. Und dass Odysseus in diesem letzten Kampf so sinnlos unbarmherzig bleibt, mag auf das Bedürfnis des Griechen zurückgehen, Recht und Glanz des Siegers nicht allzu übermässig erscheinen zu lassen. Gewiss hat Antigone, hat Medea, haben Orest und Elektra das höhere Recht auf ihrer Seite, aber ganz und gar unberechtigt ist weder Kreons, noch Jasons, noch Klytämnestras Standpunkt. Auch in den Erzählungen des Alten Orients begegnen uns Menschen, die wie tragische Gestalten wirken, Saul etwa, der den befohlenen Völkermord an den Amalekitern unterlassen hat und darum ins Elend gestürzt wird. Aber es gibt da keinen Zweifel, letztlich gilt nur das Gebot des wahren Herrn als gut, alles andere ist Unrecht und Sünde. Sünder mögen Mitleid erregen, weil sie nicht wissen, was sie tun; im besten Fall wird ihnen verziehen, werden sie begnadigt; niemals aber könnten sie sich auf ihre Würde berufen, die sie als tragische Gestalt hätten. ❦

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Der Sinn dafür, dass es in den Konflikten der Welt weder absolutes Recht noch Unrecht gebe, befähigte nun die Griechen auch zu ihren Leistungen in der Geschichtsschreibung. Welch ein Unterschied zu der Optik altorientalischer Annalisten! Im Alten Testament etwa gibt es nur ein einziges Recht, das Recht der Wahrheit, das Recht des Gottesvolkes, sofern es Gott gehorcht, und daneben nur Unrecht und Verworfenheit. Mit welcher Liebe stellt dagegen bereits Homer die Gegner seines Volkes dar; vielmehr: Wie sehr bemüht er sich, sie geradezu in besserem Licht erscheinen zu lassen als seine Landsleute! Die strahlendste Gestalt seiner Ilias ist Hektor; sein ­Agamemnon, sein Achill sind ihm gegenüber tragische, zerrissene Menschen. Und in welchem Volke sonst hat es ein Dichter gewagt, wie Aischylos, die eben besiegten Feinde ohne Hass als bemitleidenswerte Menschen darzustellen, Feinde, die kurz zuvor seiner Stadt zur tödlichen Gefahr geworden waren, – und das in einem Wettbewerb vor einer Zuhörerschaft, in der fast jeder menschliche oder wenigstens materielle Verluste zu beklagen hatte. Die Hellenen haben zwar alle Nichthellenen Barbaren genannt, Leute, die unverständlich reden, aber sie haben sie nie verteufelt. Herodot wie Thukydides und Polybios beschreiben die Feinde und Freunde ihres Volkes mit derselben Unvoreingenommenheit wie dessen Angehörige; Grundsatz ihrer Wissenschaft ist es, allen Parteien, soweit es irgend möglich ist, gerecht zu werden. Aber auch die Sitten der Fremden und ihre kulturellen Leistungen erforschen die griechischen Historiker liebevoll und versuchen, sie in ihrer Vielfalt und Eigenart zu verstehen. Und mit welcher Ehrfurcht reden Herodot und selbst Platon von der uralten Weisheit der Ägypter. ❦

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Dass Spott, Gelächter und Ausgelassenheit, dass die komische und groteske Seite der Welt zum Gegenstand einer eigenen Kunstgattung wurden, war nur möglich im Rahmen einer Sichtweise, die den verschiedensten Erscheinungsformen der Wirklichkeit einen eigenständigen Wert beimisst. Nun gibt es natürlich Satire und komische Darstellungen auch in Kulturen, die eher monistisch gesinnt sind. Wenn etwa ein ägyptischer Literat mit bösartigem Witz die Leiden eines ehrgeizigen Dummkopfs darstellt, der Offizier werden möchte; oder wenn das konventionelle Motiv des Pharao, der im Wagen einherbrausend Tausende von Feinden niederschiesst – wenn dieses Motiv in einer Karikatur wiedererscheint, die Katzen und Mäuse in derselben pathetischen Haltung kämpfen lässt, – so haben wir es durchaus mit Komik zu tun. Aber solche Komik steht immer im Dienste eines Wertes, der ernst genommen wird. Den Gegner des wahren Guten lächerlich zu machen, ist, wie wir aus den Glaubenskämpfen unserer Zeit wissen, eines der wichtigsten Mittel im Kampfe für das Eine erhabene Ziel des Monisten. Auch die griechischen Komiker haben immer wieder Spott und Hohn im Dienste politischer, moralischer und persönlicher Zwecke eingesetzt, aber ebenso oft sind ihre Witze reiner Selbstzweck. Im Lichte der komischen Weltsicht kann jede ­Erscheinung, jedes Verhältnis der Welt zum Anlass von ­Spässen und Belustigung werden. Selbst der Olymp ist nicht ausgenommen. Das führt uns nun zum entscheidenden Punkt: Während der Monist niemals seinen höchsten Wert zum ­Gegenstande seines Gelächters machen kann, ist ein beliebtes Thema der griechischen Komiker, ursprünglich vielleicht das Hauptthema: der Gott. Noch in Aristophanes’ Fröschen erscheint Dionysos in der Rolle des Hanswursts. Für den Monisten ist die Wirklichkeit in ihrem tiefsten Grund heiliger oder furchtbarer Ernst; dem Hellenen offenbaren der frivole Spieler Hermes und der ausgelassene Bacchus nicht weniger den vollgültigen Sinn der Welt als der hoheitsvolle Apoll oder gar der grosse Zeus. Oder im Geiste des Homerischen Epos gesagt: Die

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glückselige Vollkommenheit der Olympier verwirklicht sich ebenso sehr in ihrem unauslöschlichen Gelächter wie in ihrer Erhabenheit. Olympisches Gelächter ertönt im Thronsaal des orientalischen Himmelskönigs wohl kaum, es gibt da auch nichts zu lachen – höchstens lacht der Herr seiner Feinde. ❦ Aus all dem Ernst und all den Spannungen erhebt uns Menschen wie die Götter das Lachen in die Freiheit. Die Komödie als Kunstgattung ist wie die Tragödie in der Welt der politisch und geistig freien Polis entstanden aus dem Kult des Gottes, der den Menschen den Wein schenkte, der unseren Sinn aus den Sorgen löst, des Gottes, an dessen Festen alle, Männer und Frauen und selbst die Sklaven, wie in den Urzeiten wieder gleich und frei wurden: Geburt der Komödie aus dem Geist der Freiheit. ❦

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VON KYROS ZU THEODOSIUS – UND ZUM WIDERSTREIT DER NEUZEIT

Erkenne, welches Auf und Ab die Menschen hält. Archilochos

Während fast eines Jahrtausends blühten die vielfältigen Lebensformen des Alten Orients und des Westens nebeneinander so frei wie später nie mehr. Diese Blüte aber verdankten die Völker – seltsame Laune der Geschichte – nicht so sehr einem Übergewicht pluralistischer oder gar demokratischer Kräfte, als der Klugheit und Grossmut der persischen und hellenistischen Monarchen und der römischen Cäsaren. Und – auch das ein Paradox der Geschichte – die persischen Grosskönige waren überzeugte Anhänger der Lehre Zarathustras, die alle anderen Religionen bekämpfte. Doch die Perser befreiten die Juden aus der Babylonischen Gefangenschaft, bauten deren Tempel wieder auf; Alexander ­erwies ihm später die Ehre seines Besuchs; und die Römer nahmen die Makkabäer, die sich gegen Antiochus IV. erhoben hatten, in ihren Schutz. ❦ Doch die grausamen Brüche dieses Friedens seien nicht verschwiegen. Nicht von den furchtbaren Kriegen des Zeitalters, nicht von den Leiden der Sklaven und all derer, die als Aufrührer oder Verbrecher gegeisselt, gefoltert und ans Kreuz ­geschlagen wurden, ist hier die Rede, sondern vielmehr von jenen verhängnisvollen Konflikten, die jeweils aufbrachen aus der Überspannung monistischer Gesinnung und auf der ­Gegenseite aus dem Mangel an geistiger Beweglichkeit, die den Starrsinn hätte ins Leere laufen lassen können.

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Um die Aufrührer gegen seinen heiligen Willen zu bestrafen, liess Xerxes ganze Städte deportieren, Heiligtümer, die Akropolis von Athen mit allen Kultbildern zerstören, schliesslich noch das Meer auspeitschen. Aber diesmal verhielten sich die Sieger, die ihn abgewehrt hatten, geistig überlegen, zumindest Aischylos: Sein Mitgefühl galt, wie bereits ausgeführt, nicht nur den Leiden der unschuldigen Angehörigen beider Seiten, sondern auch dem Schuldigen, dem verblendeten und geschlagenen Grosskönig. Wo sonst fände man etwas Ähnliches? – Stellen wir uns vor: Ein französischer Jude, knapp der Vernichtung entgangen, hätte wenige Jahre nach dem Krieg in einem Stück Hitler auf die Bühne gebracht und mit spürbarem Mitgefühl dargestellt, wie er – seiner Verblendung und Verbrechen bewusst geworden – zutiefst leidet. Das Stück wäre heute natürlich verboten – Aischylos’ Tragödie erhielt in Athen den ersten Preis. Hadrian dagegen, der Feinsinnigste der Cäsaren, kam nicht auf den Einfall, der den Juden namenloses Elend erspart hätte. – Denken wir uns: Vor den Mauern von Jerusalem blitzt es in ihm auf: Divide et impera! Überlassen wir diese absonderliche Stadt dem Bar Kochba und seinen Fanatikern. Hier sollen sie nach dem unerbittlichen Gesetz ihres Herrn leben, und keine ­Unreine mögen zu ihnen eintreten, aber Abtrünnige sie verlassen dürfen. Es sei ein Freistaat, und ringsum wollen wir ihnen reich­ lich Land geben, bis zu ihrem heiligen Berg Sinai, damit alle, die in Zion ihr Heil erwarten, Raum finden. Und das übrige Judäa stehe denjenigen Juden offen, die frei vom Zwang der strengen Vorschriften als Römische Bürger unter unserem Schutz leben wollen. Statt dessen also wurden alle Juden aus ihrer Heimat vertrieben und lebten fortan in alle Winde zerstreut, fast stets ­gedemütigt, immer wieder bedroht und verfolgt. Reine Fiktion, wird es nun heissen, seriöse Historiker be­ schäftigen sich mit Tatsachen und nicht mit Science Fiction. Aber dogmatische Positivisten übersehen, wie sehr uns der ­offene Blick auf die ungeschehene Geschichte, wie der Titel von

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Alexander Demandts faszinierendem Buch lautet, all die ­materiellen und geistigen Kräfte einer Zeit deutlich machen kann und damit die Möglichkeiten und das Wesen einer Epoche erhellt. ❦ Der folgenschwerste dieser Konflikte entzündete sich aus Gründen, die uns im Vergleich mit den anderen geradezu als Kleinigkeit erscheinen: Die Christen weigerten sich, dem Kaiser zu opfern – vor seinem Bild ein Weihrauchkorn zu verbrennen –, wie es seit der Mitte des 1. Jahrhunderts im Reich allmählich allgemeine Pflicht wurde. Ausgenommen waren die Juden, da das Mosaische Verbot, fremde Götter zu verehren, älter sei als der Kaiserkult. Aber auch gegenüber den Christen waren die Cäsaren im Ganzen erstaunlich nachsichtig. Man soll sie nicht aufspüren, schrieb Traian an Plinius, aber wenn eine rechtmässige Anklage vorliegt, so sind sie zu bestrafen. (Plin. ep.10,97). Die Behörden bemühten sich im Allgemeinen, diesem Entscheid zu folgen. Allerdings kam es immer wieder aus irgendwelchen Gehässigkeiten zu Denunziationen oder oft drängten sich auch Fanatiker vor, die um jeden Preis das Martyrium suchten. In der Tat war aber, so weit wir es wissen, die Zahl der Opfer bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts gering; erst da setzten systematische Verfolgungen in grossem Umfang ein. (Cf. Kahrstedt: Kulturgeschichte der Römischen Kaiserzeit, S. 411 ff., 1958). Auch dieser Konflikt war Folge geistiger Unbeweglichkeit auf beiden Seiten. Man stelle sich wiederum vor: Ein heller Kopf vernimmt, einer seiner Glaubensgenossen sei denunziert worden und in Gefahr geraten. Da steigt ihm der Gedanke auf: Hat nicht Christus gesagt: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.? Geben wir doch dem Kaiser sein Weihrauchkorn und sagen dabei laut: Dem Kaiser, und beten dann, wie Jesus befiehlt, leise im Verborgenen zum Vater: Gib ihm deinen Segen, wenn er ihn verdient. Und verkünden wir

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­ ffentlich, dass unser Meister uns heisst, dem Kaiser zu geben, ö was des Kaisers ist. – Er überzeugt zuerst seine Gemeinde, und mehr und mehr schliessen sich ihm die Christen im ganzen Reiche an. Was er damit erreicht hätte, genau das gestand ihnen im Jahre 311 der Kaiser Galerius zu, nachdem sich die letzte und schlimmste Verfolgung unter Diokletian als politischer Fehlschlag erwiesen hatte. Jeder soll, lautete sein Toleranzedikt, zu seinem Gott für den Kaiser beten. – Zu spät, leider. Das Trauma der Verfolgungen sollte die Erinnerungen der Kirchen so tief prägen, dass sie Jesu Gebot vergassen, Böses mit Gutem zu vergelten, und dass sie während fast anderthalb Jahrtausenden alle, die ihrer gerade geltenden Lehrmeinung widersprachen, und alle, die sie als Falsch- oder Ungläubige verurteilten, in grausamster Weise foltern und hinrichten liessen. Wie tief sie von diesem Trauma geprägt waren, wird auch in der christlichen Kunst sichtbar, die zu einem nicht geringen Teil aus Darstellungen von Folterszenen und Schlächtereien besteht. ❦ Indessen waren diese schlimmen Konflikte vereinzelte Verirrungen inmitten eines erstaunlich toleranten Jahrtausends. Was dann im 3. Jahrhundert n.Chr. zu dem gewaltigen geistigen Umbruch in weitgehende Intoleranz geführt hat, das ist eine der grossen Fragen der Geschichte; dass es nicht eine einzige Ursache war, darin sind die meisten Historiker einig. Die grosse Abkühlung des Klimas vom 4. bis ins 9. Jahrhundert verdüsterte den Menschen auch die seelische Welt, ähnlich wie in der Kälteperiode zwischen 1500 und 1850. Das zeigt eindrücklich auch die Bildkunst, allerdings in ganz verschiedener Weise: Anstelle des lichten Hintergrunds der Renaissance­ gemälde erscheint vom Manierismus an der Himmel dunkel, dramatisch bewegt. Die frühchristliche Kunst aber hat sich von der natürlichen Welt überhaupt abgewendet; ihre Gestalten thronen entrückt feierlich und kaum bewegt in überirdischem

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Goldlicht. Aber nicht das leiseste Lächeln mildert ihren Ernst und ihre starre Strenge. Der Klimawandel trieb die Völker des Nordens nach Süden, und deren Ansturm traf das Imperium, als es sich eben in einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise befand: Die reiche Bürgerschicht der Provinzstädte, die die Hauptlast der Reichssteuern getragen hatte, war verarmt, und das Geld für die Berufslegionen musste durch immer schärfere Massnahmen eingetrieben werden – gegen Ende des 3. Jahrhunderts wurde der Staat zum durchbürokratisierten Zwangsstaat. – Zudem war nach Marc Aurel die klug geplante Nachfolgeregelung der Adoptivkaiser aufgegeben worden, und der Kaiser­ thron wurde mehr und mehr zum Spielball der Legionen. Während deren unaufhörlichen Kämpfen drangen die Barbarenvölker überall tief ins Innere des Reiches ein. In diesen Nöten hatte der römische Staat das eingebüsst, was ihm seit der Augusteischen Friedenszeit die Zustimmung eines grossen Teil seiner Bevölkerung gesichert hatte: Sicherheit, allgemeine Wohlfahrt, eine erstaunliche äussere und geistige Bewegungsfreiheit. – Erst recht wurde er nun gleichgültig den Nachkommen all der zahllosen Sklaven, die aus dem Orient in die römische Welt verschleppt worden waren. Wer von ihnen nicht, wie etwa der ehemalige Sklave Epiktet, aus Überzeugung die hellenistische Bildung übernommen hatte, hatte seine geistige Heimat schon zuvor meistens in einer Kultgemeinschaft einer der zahllosen Mysterienreligionen gefunden. Diese alle verhiessen Erlösung der menschlichen Seele aus ihrer Verstrickung in die sündige Welt, durch die Gnade ihrer grossen Gottheit, versprachen die Flucht aus dem irdischen Jammertal und den Aufstieg ins ewige Licht. Sie waren zwar alle zu Beginn des Jahrtausends entstanden, – der Kult der Isis, des Sarapis, der grossen Mutter von Pessinus, des Mithras, die Lehren der Gnostiker, der Manichäer und der Christen; ihre Wurzeln reichten freilich zurück weit ins 1. Jahrtausend vor Christus.

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Nach dem ersten grossen Aufbruch monistischen Denkens im 3. Jahrtausend v. Chr., der einerseits politisch, andererseits auf den Herrschaftswillen des Menschen gegenüber der Natur ausgerichtet war, trat nun das persönliche Ich ins Zentrum. Ich werde nicht verloren gehen in Ewigkeit – non confundar in aeter­ num: Nirgends ist diese tiefe Sehnsucht so wunderbar prägnant ausgedrückt wie in Ambrosius’ Te Deum. ❦ Alle diese Gründe hätten nicht notwendigerweise zu monistischer Zwangsreligion führen müssen. Nach Konstantins Toleranzedikt, das zwar das Christentum bevorzugte, aber die anderen Kulte erlaubte, wäre durchaus eine zukünftige Welt denkbar gewesen wie die indische, in der die Thomaschristen geduldet lebten, und wo Christus ins hinduistische Pantheon aufgenommen ist. Dass es 391 n. Chr. zur weltgeschichtlichen Katastrophe, zum Umsturz in die jahrtausendelange Intoleranz im Abendland kam, ergab sich aus der Willkür eines monistischen Eiferers und seiner geistlichen und politischen Berater, Theodosius' I., den man darum den Grossen nennt; er verordnete, im Römischen Reich sei nur noch die eine Religion der orthodoxen ­katholischen Kirche erlaubt; geduldet blieb weiterhin – mehr oder weniger – der Jüdische Kult. Und unter dem Einfluss dieses spätrömischen Erbes verschwand im übrigen Europa auch die urtümliche politische Freiheit für fast ein Jahrtausend, ausser in einigen Alpentälern und im frühen Kiew. Die Kirche heiligte die Herrschaft der ­Könige und des Feudaladels von Gottesgnaden und verfügte selber über grösseren Grundbesitz mit Leibeigenen als alle ­anderen. ❦

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Dem Sommer des toleranten Jahrtausends nach Kyros folgte denn nach den Herbststürmen des 3. Jahrhunderts ein lange andauernder geistiger Winter. In seiner Kälte ging ein grosser Teil der antiken Kultur zugrunde. Weit tiefer noch als die Verheerungen der Völkerwanderungskriege, denen fast alle einst blühenden Provinzstädte zum Opfer fielen, wirkte der Hass der christlichen Fanatiker, die systematisch die heidnischen Kultbilder zerstörten – dabei Meisterwerke des Phidias wie die Athena im Parthenon und den Zeus in Olympia. Die hellenische Musik ging bis auf ein paar wenige Fragmente und einige theoretische Abhandlungen verloren; das wissenschaftliche und kritische Denken verschwand weitgehend. Dem Verständnis der vielen gebildeten Christen jedoch, die wie etwa Augustin ein liebevolles Interesse an heidnischen Dichtern und Philosophen bewahrt hatten, verdanken wir es, dass uns von der antiken Literatur immer noch mehr überliefert ist, als heute selbst der Gelehrteste in seinem Leben überhaupt lesen kann. Vieles freilich kennen wir nur noch aus spätantiken oder byzantinischen Auszügen oder Handbüchern. – Im Ganzen sind die Verluste unermesslich: Von der monodischen Lyrik sind uns fast nur Fragmente erhalten – Sappho etwa galt dem engstirnigen Sinn der Epoche als pervers und schamlos; ebenso von den Schriften der Vorsokratiker, Sophisten, Skeptiker und Stoiker. Aristoteles’ Werke konnten die Araber günstig aufkaufen, sonst wären sie uns wohl verloren. Doch seien die zumeist namenlosen Schreiber nicht vergessen, die über die Jahrhunderte hin die Texte in ihrer schönen Schrift auf Pergament festhielten. Einige werden wohl, vielleicht entsetzt, oder auch leise lächelnd mit heimlicher Zustimmung, begriffen haben, welch geistiger Sprengstoff da im Auftrag des oströmischen Kaisers und seiner Kirche oder im Dienst ihres Klosters bewahrt wurde, in einem sokratischen Dialog etwa oder in einem Horazgedicht, im Lukrez oder Apuleius. Auf welchen Stand aber im Westen die allgemeine Bildung abgesunken war, können wir am Geschichtswerk Gregors von

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Tours ermessen, der die Epoche der frühen Merowinger dargestellt hat. Sein kosmologisches und historisches Weltbild ­entspricht etwa dem des Alten Testaments. ❦ Wissenschaftliche Neugier gegenüber den vielfältigen Phänomenen der Wirklichkeit blühte eben zu dieser Zeit in erstaunlichem Masse in der arabischen Welt auf, die den Dogmen ihrer Religion nach hätte noch monistischer denken müssen als die Christen. Die arabischen Forscher übernahmen weitgehend die Kenntnisse der griechischen und gelangten auf ­einzelnen Gebieten weit über sie hinaus, in der Mathematik zum Beispiel und in der Medizin. In der Zeit der Omaijaden und Abbasiden lebte geradezu der grosszügige Geist der Achämeniden, Diadochen und Römer neu auf. Schon der Prophet hatte den Juden und Christen Kultfreiheit zugestanden. Solche Toleranz hat es in Europa erst nach der Französischen Revolution wieder gegeben, Die arabische und persische Poesie und ihre Erzählkunst – in Tausendundeine Nacht etwa – sind kaum weniger weltoffen und unvoreingenommen im Erotischen als die hellenistische. Was dazu führte, dass diese Blüte freizügigen Denkens dann allmählich verkümmerte, waren wohl nicht zuletzt die Katastrophen, die im 13. Jahrhundert die islamische Welt trafen: der Einbruch der Tataren einerseits, – die Bagdad mit seinen unermesslichen Kulturschätzen, Kunstwerken, Bibliotheken während eines grauenvollen Gemetzels vollständig zerstörten –, anderseits die Kreuzzüge und im Westen die immer bedrohlicheren Vorstösse der Reconquista. In dieser wachsenden Bedrängnis verengten die arabischen Gelehrten ihren Scharfsinn mehr und mehr auf eine immer strengere Auslegung der geheiligten Schriften, verloren fast ganz das Interesse an kritischer Naturwissenschaft und Philosophie. ❦

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Diese Interessen waren inzwischen im Abendland wieder erwacht, angeregt gerade auch durch den Einfluss der arabischen Welt. Was wir ihr verdanken, sei nie vergessen, aber auch nie unsere Mitschuld an jener Bedrängnis, an deren ­Folgen sie bis in unsere Tage immer wieder leidet. – Wer höhnisch bemerkt, die Muslim hätten die Aufklärung und die technische Revolution der Neuzeit verschlafen, redet nicht nur überheblich – sondern im Hinblick auf seine eigene Geschichte – ­ahnungslos. Ohne die arabische Kultur hätte es weder die Scholastische Philosophie gegeben, noch den Minnesang; ihr verdankt Europa einen wesentlichen Teil der Musikinstrumente, wohl auch die bunte Dekorationskunst der Gotik und deren Spitzbogen. ❦ Im Frühling der Renaissance erwachte in der Malerei wieder der Sinn für die lebendige Gestalt, das persönliche Gesicht, für die Landschaft – noch Bernhard von Clairvaux hatte sich mit bedeckten Augen an den lieblichen Ufern der Schweizerseen vorbeiführen lassen, dass deren Schönheit ihn nicht blende; kaum zwei Jahrhunderte später beschreibt Petrarca begeistert seinen Aufstieg zum Mont Ventoux. Und die Literatur entdeckte in ihren antiken Vorbildern neu die Poesie der Natur, aber auch die Vieldeutigkeit der menschlichen Geschicke, deren tragische und komische Seiten, etwa in den Werken von Boccaccio, Rabelais, Shakespeare, Cervantes und Erasmus. Zwar blieb die Herrschaft der Kirchen weiterhin anerkannt und von Toleranz war in ihr noch lange keine Rede; wer der Hexerei oder als Ketzer angeklagt wurde – und gerade die besonders Frommen, die aus tiefem Glauben heraus die geltende Praxis der Kirche in Frage stellten wie Savonarola oder Jan Hus, sie alle hatten nichts zu lachen. Anderseits war ein nicht geringer Teil der Geistlichen offen für die humanistische Bildung und dachte differenziert und unvoreingenommen.

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Und zu welcher Vielfalt hatte sich der Geist dieser Epoche entwickelt, von Meister Eckharts geradezu plotinischer Mystik, vom verinnerlichten Glauben der niederländischen Devoten, von den überaus scharfsinnigen Thomisten bis zur souveränen Skepsis eines Montaigne und zum heimlichen Heidentum mancher Humanisten – und dem unverhohlenen, das uns auf einem der erstaunlichsten Gemälde der Renaissance entgegentritt: Venus, wie die Mutter Gottes in der Himmelsglorie schwebend, wirft die Strahlen ihres heiligen Geistes auf ihre legendären Verehrer aus alter und neuer Zeit, die anbetend zu ihr aufblicken. ❦ Diese Vielfalt des Denkens liess sich zwar fortan nicht mehr gänzlich unterdrücken, auch nicht durch den schweren Rückschlag, den es durch die Reformation erlitt. Ein deutscher Mönch, wie Nietzsche in boshafter Zuspitzung sagt, Luther, empörte sich in Rom gegen die Renaissance … seinet­wegen wurde die Renaissance … ein grosses Umsonst. (Antichrist 61). In der Geschichte der deutschen Sprache und Musik war Martin Luthers Bedeutung ohne Zweifel überragend; aber in welch unermessliches Elend haben er und die anderen Reformatoren die folgenden Jahrhunderte gestürzt, in monistischer Versteifung darauf beharrend, dass uns allein der Glaube rechtfertige – deutlicher gesprochen: dass menschliches ­Dasein einzig durch den richtigen Glauben berechtigt sei. Und den haben wir, wie sich versteht, allein durch Gottes Gnade. Womit wir bei Calvins Gnadenwahl wären. In Rom aber war man geistig nicht beweglich genug, die keineswegs ganz neuen Gedanken so geschickt in die Lehren der Kirche einzubauen, dass eine Spaltung hätte vermieden werden können, – heute sind übrigens alle Thesen von Wittenberg von ihr übernommen. Hier wurde wahrhaft die Gunst der Stunde verschlafen. ❦

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Abb.9 Venus, von sechs legendären Liebhabern verehrt, Florentiner Platte, dem Meister von San Martino zugeschrieben, um 1360. Paris, Musée du Louvre

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Noch eine Utopie – weit fantastischer als Nietzsches Vision von Cesare Borgia als Papst: Ein hochgebildeter Kardinal und wichtiger Berater der Kurie, Leonardo Baldassare, begreift ­sofort: Die Thesen, von denen man uns da aus Wittenberg ­berichtet, sind ein gigantisches Pulverfass, das die Welt in Brand setzen kann. Er überredet Papst Leo X. – auch der war ein hochgebildeter Mensch –, den deutschen Mönch nach Rom zu holen und ihm sichere Rückkehr zu versprechen. In einem kühlen vatikanischen Garten verhandeln sie nun zu dritt während eines langen Sommertags; sie einigen sich fast in allem zu Luthers Zufriedenheit, nur das ist noch offen: dass der Glaube allein selig mache, und schon gar nicht das Geld, das im Kasten klingt. Inzwischen wird in der Abendkühle das Mahl aufgetragen, die weiteren Verhandlungen verschiebt man auf morgen. So sitzen sie nun bei Wein, Weib und Gesang – aber nicht bei ­irgend welchem Wein, sondern bei erlesenstem aus den vatikanischen Kellern, und nicht ­irgend welchem Weib, sondern es ist Alba Margherita, die Nichte des Kardinals, eine berühmte Sängerin und Lautenspielerin, die ihre schönsten Minnelieder vorträgt, schliesslich die Romanze vom gefangenen Ritter, der unentwegt hofft und fest daran glaubt, er werde seine ferne Geliebte wieder sehen. Und Martin bleibt nicht ein Narr sein Leben lang. Liebe! geht es ihm auf, nun aber bleibt Glaube, Hoff­ nung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die grösste unter ihnen, sagt er zu Leo, und der erwidert: Gewiss, Jesus selbst hat das Liebesgebot als das vornehmste Gebot bezeichnet. ‹Aber nicht alle, die Herr sagen, also an ihn glauben, kommen in den Himmel, sondern die den Willen meines Vaters tun› – die Werke, Martin, die Werke sind die Früchte, an denen wir den Baum erkennen. Und die Werke liebevollen Willens werden uns sicher angerech­ net, nicht nur unser Glaube. Du hast recht, sagt ihm Martin, aber die Gnade ist darum doch nicht einfach käuflich. Doch die Werke, antwortet ihm Leo, auch die Spenden, die aus liebevoller Gesin­ nung kommen, werden uns sicher helfen. Und unsere Kirche wird fortan nur noch die Gaben derjenigen als heilswirksames Werk

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anerkennen, deren Gesinnung sie in der Beichte ­geprüft hat. ­Luther, durch den Gesang weich gestimmt, gibt endgültig nach. Und der Kardinal: Bleibt uns morgen nur noch, ein Konzil vorzubereiten und es dann auch zu überzeugen. Gottes Gnade lässt sich nicht kaufen, Kirchenmänner allemal, bemerkt seine Nichte spöttisch. Luther lacht schallend, während der Kardinal zu ihr sagt: Zur Strafe singst du uns nun etwas ganz Frommes. Vers um Vers spricht er ihr den paulinischen Hymnus der Liebe vor, und sie folgt ihm, aus dem Stegreif ­singend. Am Ende wiederholt sie: ‹Die Liebe eifert nicht, … die Liebe duldet alles›; gehorchen wir dem Wort des Apostels: dulden wir in Liebe alles und damit alle: Juden und Muslim, ­Heiden und selbst ganz Ungläubige, und eifern wir nicht, indem wir sie verfolgen. Und wie die beiden anderen sich fragen, ob das Wort sustinere – dulden religiöse Toleranz bedeuten kann, ruft Luther mit Donnerstimme: Das Wort sollen sie lassen stahn. (Gesegnet sei für einmal die Wortgläubigkeit!) Und mitgerissen vom allgemeinen Gelächter fügt er, übermütig geworden, bei: Das Konzil soll gleich noch den Priestern und Päpsten die Ehe erlauben!, und spricht aus, was die beiden schon längst heimlich gewünscht haben. Setzen wir alles durch am Konzil, sagt der ­Kardinal. Sie erheben sich, geben sich die Hände und gehen zur Ruhe. Nur die schöne Alba bleibt noch im Garten, füllt sich einen Becher und giesst am kleinen Brunnen je ein Trankopfer aus – für Dionysos, für Aphrodite und für die Musen. ❦ Ein schöner Traum. In Wirklichkeit entflammten in ganz Europa die Religionskriege, brannten überall die Scheiterhaufen der Verketzerten, selbst grosser Gelehrter, wie Servet. Aber in diesem Meer des Wahnsinns gab es doch einzelne Inseln der Vernunft. In Holland zunächst, das sich aus der spanischen Unterdrückung befreit hatte, wo nun die Schriften eines Cartesius und später der Aufklärer erscheinen konnten;

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in Frankreich, wo Henri IV mit dem Edikt von Nantes 1588 den Frieden zwischen den Konfessionen herstellte und damit seinem Land für ein Jahrhundert eine einzigartige wirtschaft­ liche Blüte ermöglichte, – die freilich in der königlichen Sonne seines Enkels elendiglich verdorren sollte, der in monistischem Starrsinn dieses Edikt widerrief. Und das erstaunlichste Beispiel pluralistischer Vernunft in dieser Zeit: Im kleinen Gebirgsland Appenzell standen sich ein Jahr vor dem Edikt von Nantes Katholiken und Reformierte schon bewaffnet gegenüber, als die Regierung in der Lands­ gemeinde dem versammelten Volk den Antrag stellte, man solle sich auf eine Konfession einigen; die Stimmbürger folgten aber einem kleinen Bauern, der vorschlug: Jede Gemeinde soll über ihren Glauben selbständig entscheiden, und wer nicht ein­ verstanden ist, kann in eine Gemeinde der anderen Konfession übersiedeln, mit seiner Habe und seinem Vieh; und erhält dort Land im Austausch mit einem andern, der seinerseits die ­Gemeinde wechseln will. Bilden wir zwei Staaten, die fortan in Frieden miteinander leben und sich unterstützen. Welch ein – fast utopisches – Vorbild für unsere Welt mit ihren vielen heillos zerstrittenen Gebieten! ❦ Auch den kühnen Aufschwung des freien Denkens, der in der Renaissance in den Naturwissenschaften und der kritischen Philosophie, angeregt durch die wieder entdeckten griechischen Quellen, begonnen hatte, vermochten die Kirchen nicht mehr gänzlich zu unterdrücken. Aber die Forschung blieb nicht in ­geringem Masse geprägt vom christlich-monistischen Erbe, vor allem von dessen Herrschaftsdenken gegenüber der Welt. Zwar ging es auch ihr immer wieder um Erkenntnis um ihrer selbst willen; aber ebenso oft diente sie handfesten Macht- und Gewinn­ interessen; noch unsere Experimente gleichen oft bedenklich den Foltermethoden der Inquisition: Wir pressen die Natur bis aufs Blut, bis sie ihre Geheimnisse und Schätze preisgibt.

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Und trotz dem Kopernikanischen Umsturz des geozentrischen Weltbilds blieb das europäische Denken weitgehend anthropozentrisch. Das bewusste Ich des Menschen galt noch Kant, Hegel und den Marxisten als das Zentrum des Weltgeschehens und als dessen tiefster und letzter Zweck. Auch unter den theoretischen Denkern fahren nach wie vor viele auf einem einzigen Gleise: Wer nicht in ihren Begriffen rede, sagen sie, sage nichts; oder was nicht messbar und in ­mathematischen Formeln zu berechnen ist, sei nichts als subjektive Illusion. Und doch hat sich der Horizont der europäischen Wissenschaften ins Unermessliche geweitet, und sie erschliessen ­unaufhaltsam immer wieder Neues. Gerade die bahnbrechenden Ansätze kamen meistens nicht aus Macht- oder Gewinnstreben, sondern aus Interesse an Erkenntnis um ihrer selbst willen. Es seien hier nur zwei Beispiele genannt: – Die archäologischen Ausgrabungen seit dem 18. Jahrhundert, dank deren immer raffinierteren Techniken unser Blick heute zurückreicht bis in die Urgeschichte der menschlichen Welt. Nebenbei bemerkt: Ohne sie wäre diese Arbeit hier nicht möglich gewesen. – Die kosmologischen Theorien der grossen Physiker und Astronomen wie Kopernikus, Newton, Einstein, Heisenberg. Sowenig diese an das Kapital dachten, das sich aus ihren Einsichten schlagen liesse, so wenig ging es den Ausgräbern um die Eintrittsgelder, die heute die Besucher ihrer Entdeckungen bezahlen, – allenfalls mag sie die Hoffnung auf kostbare Funde verlockt haben. Und viele der grossen Naturforscher erschraken zutiefst, wenn ihnen bewusst wurde, wie ungeheuerlich ihre Erkenntnisse sich in der Welt auswirken könnten. Im Übrigen sind die wissenschaftlichen Interessen bei weitem nicht alle bloss auf reine Erkenntnis oder denn auf Eigennutz und Macht ausgerichtet, sondern – und das sei nicht vergessen – auch darauf, Leiden zu lindern oder das Leben auf der Erde zu schützen und zu retten.

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Das politische Denken Europas blieb und bleibt heute hin- und hergerissen zwischen dem pluralistischen Ideal der Freiheit und dem Glauben an die Notwendigkeit monistischer Organisation. Die Freiheit in den spätmittelalterlichen Bürgerstädten inmitten einer Welt der Leibeigenschaft – Stadtluft, sagte man, macht frei – diese Freiheit schlug im Laufe der Zeit fast überall um in die Herrschaft der Condottieri oder einer städtischen Aristokratie. Und absolute Monarchen des 17. Jahrhunderts ­regierten weit uneingeschränkter als die früheren Fürsten, die ihre Parlamente befragen mussten. Die Aufrührer und Tugendbolde wiederum wie Cromwell und Robespierre und Lenin übertrafen die gekrönten Herren, die sie öffentlich enthaupten oder ermorden liessen, an absolutistischem Terror bei weitem. Anderseits brach sich im Denken der Humanisten der Renaissance die Idee der politischen Freiheit unaufhaltsam Bahn, wie bei Machiavelli, der als beste Staatsform die Republik bezeichnete, in der die Macht geteilt und durch verständliche Gesetze geregelt ist, von Bürgern kontrolliert, die miteinander die Entscheide treffen. Über die englischen Staatstheoretiker wie Locke und Shaftesbury, über die französischen Aufklärer, über die Menschenrechtserklärungen der Amerikanischen und Französischen Revolution bis hin schliesslich in die Verträge der Vereinigten Nationen hat sich die demokratische Idee so unwiderstehlich durchgesetzt, dass selbst die krudeste totalitäre Parteiherrschaft nicht umhin kann, sich Volksdemokratie oder Völkischen Staat zu nennen. Aber das Hin und Her zwischen monistischer und pluralistischer Gesinnung hält unsere Welt weiterhin in Spannung. Jene ist auch im Westen überaus mächtig geblieben: etwa im marxistischen Dogma vom Gang der Geschichte hin zur Weltrevolution und zum Reich der Gerechtigkeit und Freiheit. In ihm wirkt offensichtlich die Vorstellung vom göttlichen Heilsplan, vom Weltgericht und Reich Gottes weiter. Der Einfluss monistisch ausgerichteter Kräfte, konservativer und religiöser, ist nach wie vor beträchtlich; vielerorts überwiegen die dogmatisch versteiften extremen und führen immer wie-

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der zur Herrschaft totalitärer Machthaber oder zum Gesinnungsterror in fundamentalistischen Gemeinschaften oder gar zu den fürchterlichen Exzessen fanatisierter Gewalttäter. In den liberalen Staaten wiederum ist die Politik im Ganzen durchaus noch von freiem Denken bestimmt; doch in ihnen besteht vielerorts die Gefahr, dass Freiheit zur blossen Freiheit des Marktes verkommt und mehr und mehr zu den Machtzwecken der Reichen und Reichsten missbraucht wird. Wohin uns das Auf und Ab der Geschichte führt, bleibt weiterhin offen. ❦ Und ganz unabsehbar ist schliesslich, was der Grosse Bruder da oben, der elektronische Weltgeist im Äther, mit uns vorhat: Ob er die Vielfalt der Meinungen und deren Verbreitung fördert und uns immer mehr zu Aufrührern gegen die Herrschenden erzieht; oder ob er uns vielmehr in seinem weltweiten Netz einfangen wird, uns auf die Köpfe schlagend, um uns alle gleich zu machen – wie es sein wahrhaft prophetisch erschautes Urbild auf der Geierstele von Lagasch tut. ❦

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EPILOG GRUNDSÄTZLICHE ÜBERLEGUNGEN

Es gibt in unserem Denken einen seltsamen Widerspruch. Auf die Frage: Was besser sei, eine Gesellschaft, in welcher alles einem einzigen Willen gehorche, oder eine Gesellschaft, die ein jedes Mitglied in freier Verantwortung selbständig mitgestalte, – auf diese Frage wird heute die Antwort kaum zweifelhaft sein. Hingegen gilt auch für Ungläubige Vielgötterei als kindliche ­Vorstufe, Monotheismus als die höchste Form von Religion; und vernehmen wir, eine Vielfalt lasse sich zurückführen auf irgend einen einzigen Grund, in einer einzigen Formel fassen, so scheint uns dadurch nicht so sehr unser Weltbild zu verarmen, sondern vielmehr glauben wir, die Wirklichkeit tiefer zu verstehen. Im Alltag sind wir selbstverständlich demokratisch gesinnte Pluralisten, am Sonntag und im höheren Geistesleben unvermerkt Monisten. ❦ Monistisches Verhalten gibt es, wie zu Beginn gesagt, immer nur der Tendenz nach, nie absolut. Eine rein monistische Konzeption ist grundsätzlich nicht möglich, denn schon die Eins an sich ist ohne die Gegenbegriffe der Null und des Vielen nicht denkbar, ebensowenig wie Ja ohne Nein. Sähen wir nur einen einzigen immer gleichen Farbton, so würde uns der Begriff der Farbe nie bewusst. Und wäre alle Vielheit ausser dem Einen nichts als Illusion, Schleier der Maya, wie die Hindu sagen, so gäbe es doch als Zweites neben ihm zumindest das Prinzip der Täuschung. Auch der Solipsist unterscheidet sein Ich von der Vielfalt seiner Vorstellungen. – Nicht wenige Menschen spielen wohl dann und wann mit dem Gedanken: Alles hier, die ganze Welt, ist nur mein Traum; ein Gedanke, der bisweilen auch als philosophische

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These erwogen wurde, freilich fast stets belächelt – wie Goethe den Solipsisten im Wirbel der Walpurgisnacht verwundert feststellen lässt: Wenn ich das alles bin, so bin ich heute närrisch. Als rein pluralistisch dagegen kann vielleicht unser sinn­ liches Erleben und unser vitales Wirken bezeichnet werden. Erst wenn aus diesem halbträumenden Wachzustand das ­Bewusstsein aufblitzt: Ich, dieses Eine, hier und jetzt, bin alles ­andere nicht, können wir in die Spannung zwischen monistischem und pluralistischem Verhalten geraten. ❦ Wie machtvoll auch monistische und pluralistische Tendenzen in unserer Geschichte gewirkt haben, so wäre es doch – wie bereits im Prolog gesagt – unsinnig zu behaupten, es gebe daneben nicht vielerlei andere wesentliche Gesichtspunkte. Indessen meinen wir entschieden, man habe diesen bisher nicht in seiner ganzen Bedeutung gewürdigt. ❦ Von Pluralismus und Monismus ist zwar seit dem 18. Jahrhundert immer wieder die Rede gewesen – Christian Wolff etwa nennt Pluralisten diejenigen, die annehmen, die Welt bestehe letztlich nicht nur aus einer einzigen Wesenheit; aber selbst William James’ Pluralistisches Universum führte nicht zu einer allgemeinen und grundsätzlichen Diskussion in dieser Frage – weder im Hinblick auf die Wissenschaften noch auf das religiöse Leben, noch auch in der philosophischen Reflexion. Sogar einzelne Wörterbücher der Philosophie enthalten nicht einmal die Stichwörter dazu. Man spricht heute zwar allenthalben von pluralistischer Gesellschaft, ohne freilich den Begriff in Beziehung zu anderen Bereichen zu setzen; von Monismus dagegen redet man kaum. ❦

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Einheit und Vielheit bezeichnet Kant zu Recht als grundlegende Kategorien unseres Denkens. Dass diesen Kategorien ausgeprägte Haltungen entsprechen, ist nicht weiter verwunderlich. Der Hang zu monistisch-dualistischem Denken entpricht nun dem Wesen der rationalen Vernunft, die in der unermesslichen Vielfalt des Wirklichen gedachte Einheiten gegeneinander abgrenzt, um sie zu begreifen und zu berechnen. Diejenige Einheit, als die wir uns selber erfahren oder zu erfahren glauben, ist unser persönliches Ich; und auch wenn diese Einheit eine Fiktion wäre, wie es manche Denker und Physiologen behaupten, im wirklichen Leben ist uns unser Ich fast immer überaus wichtig: Seine Interessen hintanzustellen erfordert eine ethische Leistung, die uns selten leichtfällt; noch für die Frommen, deren Rechte nicht wissen soll, was die Linke tut, setzt das göttliche Gebot die Selbstliebe als Mass der Nächstenliebe voraus, und gerade ihre höchste Hoffnung ist es, dass dereinst ihr Ich für ewig gerettet und zu Gottes Angesicht erhoben werde. Unser Ich zu verlieren, in den Schmelz­ tiegel geworfen zu werden, wie es im Peer Gynt heisst, macht gerade dem Menschen der Neuzeit immer wieder Angst. Aus diesem Zusammenhang mag ein guter Teil der Faszination verständlich werden, die Monismus auf Menschen ausübt. Nicht von ungefähr war ursprünglich Egoismus der Gegen­ begriff zu Pluralismus: Christian Wolff bezeichnete damit die philosophische Theorie, die einzige Wirklichkeit sei das denkende Ich. Echtem und tiefem Gottesglauben werden wir sicherlich nicht gerecht mit dem Hinweis: die Vorstellung, unser Ich sei das Abbild eines Göttlichen, entspreche einem Grundbedürfnis des bewusst gewordenen Menschen. Aber je deutlicher es uns wird, dass wir alles andere nicht sind, dass wir – hier und jetzt eingegrenzt – einer unermesslichen Vielfalt ­gegenüber stehen, immer wieder gezwungen, unser Dasein zu behaupten, desto mehr werden wir zu Fremden in einer bedrohlichen Welt. In der Welt habt ihr Angst, sagt der Evangelist. (Joh. 16,3). Wie tröstlich wirkt demgegenüber der Gedanke, dass über der

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Welt und zugleich als ihr tiefster Grund ein Ich wirkt, das zu uns spricht und zu dem wir sprechen können. Und vollends schwinden müsste diese Angst, wenn alle Vielheit und alles Fremde, wie es in den Upanischaden gelehrt wird, nichts anderes wäre als ich selber. In dieser Lehre erreicht monistisches Denken seine äus­serste Ausprägung: Die gesamte Vielfalt der Erscheinungen, Farbe, Gestalt, Werden und Vergehen, Hell und Dunkel, Nah und Fern, das alles ist nur Täuschung, Gedankenspiel der Sinne, Schleier der Maya, die ganze Welt mit ihrem Schmerz und ihrer Lust, mit ihren unzählbaren Wesen und Gestirnen, mit Raum und Zeit: Das alles, so lautet die berühmte Formel, bist du. Dass in den billiardenfachen Schicksalen der Welt, mit all ihren ­Fügungen, Verwicklungen, Katastrophen und Triumphen, stets du selber wirkst und leidest, unter immer neuen Masken als einziger Schauspieler, ohne es zu wissen, auftrittst und ­abgehst, – in seltenen Augenblicken der Hellsicht aber wie aus einem Traum erwachst und zum göttlichen Zuschauer wirst, dich zugleich als Regisseur und Autor erkennend: Diese atemraubende Konzeption ist wohl die grösste denkbare Annähe­ rung an den reinen Monismus. ❦ Ihr gegenüber wirken der persische und der mosaische Monotheismus nahezu pluralistisch, besonders das Christentum mit seiner Dreieinigkeitslehre, vor allem das katholische mit der Verehrung der Muttergottes und der zahllosen Heiligen; und wenn von der Macht des Widersachers die Rede ist, nähern sie sich dualistischem Denken. – Im Übrigen – hat man es wohl überhaupt je bemerkt? – eine klar dualistische Konzeption findet sich da, wo von einer ewigen Hölle gesprochen wird, die nach dem Weltende weiterdauert; es beständen dann, für immer getrennt, nebeneinander das Reich des Lichts und das Reich des Bösen, wie es zuerst Zarathustra gelehrt hat.

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Und doch sind alle diese Religionen streng ausgerichtet auf den Einen Herrn, den absoluten Schöpfer der Welt, der alles notwendig hinführt auf das Eine Ziel der Geschichte, das Reich Gottes. Dementsprechend befinden sich ihre Theologen vor den bekannten Schwierigkeiten des monistischen Denkens: Wenn alles durch Gottes Willen geschaffen und Gott absolut gut ist – ja das Prinzip des Guten –, woher kommt dann das Böse? – Sagen wir: Gott hat seine Geschöpfe in die Freiheit entlassen, und es steht ihnen frei, sich auch gegen Gottes Willen zu entscheiden, so ist ja diese Möglichkeit auch von Gott vorgedacht. Im vollkommen Guten, in Gottes Willen, wäre also die Möglichkeit zu Bösem entstanden, und von ihm gewollt; das mag im Glauben demütig hingenommen werden – für rationale Logik bleibt es ein unlösbarer Widersinn. ❦ Für dualistisches Denken dagegen gibt es in dieser Frage keine Schwierigkeit: Gut und Böse sind zwei von Grund auf verschiedene Prinzipien nebeneinander. Indessen gerät es in ein anderes, ebenso unlösbares Problem. Sind zwei Prinzipien, etwa Geist und Materie, vollkommen verschieden und getrennt, so ist unerklärbar, wie sie zusammenwirken oder in Konflikt geraten können, denn sie hätten keinen gemeinsamen Punkt, an dem sie sich zu berühren vermöchten. Und da nun Dualisten nicht selten geneigt sind, alle Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihres Grundgegensatzes zu betrachten, verfallen sie wiederum einer letztlich monistischen Tendenz. Wohl nicht zu Unrecht hat man bemerkt, Monismus und Dualismus seien im Grunde zwei Seiten derselben Konzeption. Die monotheistischen Religionen des Morgen- und Abendlandes schreiben zwar der Welt und der individuellen Person, insofern sie Gottes Geschöpfe sind, durchaus eine selbständige

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Wirklichkeit zu: Im Schöpfungsakt hat er sie gleichsam in die objektive Existenz entlassen. Er ist ausserhalb seiner Geschöpfe, und wir Menschen haben uns in eigen­ständiger Verantwortung vor ihm zu bewähren. Das ist pluralistisch gedacht; ­indessen gibt es für die Gläubigen keinen Zweifel daran, dass in dieser Bewährung das wesentliche Ziel unseres Daseins liegt, und dass die Welt in ihrer ganzen Vielfalt allein in Gottes hervorbringendem Willen begründet und von ihm gehalten ist; wenn er ihr diesen Willen entzöge, so zerfiele sie augenblicklich ins Nichts. Dass also Descartes aus der Gewissheit der ­Gottesidee die Gewissheit ableitet, dass es eine Aussenwelt gibt, ist im Rahmen dieser monotheistischen Tradition durchaus folgerichtig. ❦ Wie schlimm die Früchte des Monismus, an denen der Baum zu erkennen ist, das Leben vergiftet haben, ist zur Genüge ­gesagt; – hier sei vielmehr die Rede von der hohen Würde, die aus monistischer Gesinnung erwachsen kann; sei es, dass Menschen wohltätig wirken aus Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot oder aus Liebe zum Nächsten, sei es aus Mitgefühl mit allem Lebendigen wie die Hindu und Buddhisten. Die nun zogen aus dem Gedanken, dass alles letzlich Eines sei, dass das alles du selbst bist, den Schluss, dass wir kein Wesen der Welt verletzen sollen. Die Idee der absoluten Gewaltlosigkeit kann zwar in unserer Welt, in der eines auf Kosten des ­anderen leben muss, nie gänzlich verwirklicht werden – als utopische Konzeption aber ist sie ein Gipfel menschlicher Ethik. ❦ Nicht ein einsamer Gipfel freilich, denn neben ihm erhebt sich der Gipfel pluralistischer Ethik: die Idee, dass alles in der Welt ein ursprüngliches und eigenständiges Recht hat, sein Wesen zu verwirklichen.

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Sicher wird das in diesem umfassenden Sinne nicht hier zum ersten Mal gesagt – etwa Kants Kategorischer Imperativ: stets im Interesse der Gesamtheit der Welt zu wirken, liesse sich durchaus so verstehen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, so lautet auf dem Gipfel monistischer Ethik das vornehmste Gebot, oder denn, wie die Platoniker und die Inder sagen: Wisse, dass du alles, was du tust, dir selber antust. Auf dem andern Gipfel geht es nicht um ein Selbst, sondern um die unermessliche Vielfalt der Wesen, von denen längst nicht alle ein Ich-Selbst sind. Aber auch wenn wir die Idee anerkennen, dass alle Wesen der Welt, von den elementaren Gestaltungen der kosmischen Natur bis zu den bewussten Menschen grundsätzlich gleich wertvoll sind und gleiche Würde und Daseinsberechtigung haben, – in der Praxis bleibt auch diese Idee eine Utopie. Wer einen kranken Mitmenschen zu heilen versucht, um Albert Schweitzers eindrück­ liches Beispiel zu zitieren, muss Gewalt gegen andere Lebewesen anwenden, indem er Mikroben umbringt, und sich so gegen die Ehrfurcht vor dem Leben vergeht; wer pflanzen will, muss roden, wer ein Standbild schafft, muss den Stein meisseln. Unter dieser Bedingung sind wir angetreten. Woraus die Wesen entstehen, dahin vergehen sie wieder gemäss ihrer Schuld und zahlen Busse für das, was sie anderen genommen haben, so lautet der berühmte Satz des Anaximander. (A.9). Für das pluralistische Denken bedeutet es keine Verlegenheit, dass in der Welt helle und dunkle Mächte walten, dass es Leid und Freude gibt, Kampf und Zusammenwirken; das ist ihm geradezu eine Grundvoraussetzung. ❦ Vor einer unlösbaren Schwierigkeit stehen aber auch die Pluralisten, wird der Begriff der Vielheit im mathematischen Sinne verstanden, als Nebeneinander getrennter Einheiten: Unerklärlich bleibt dann, wie die Welt ein in sich zusammenwirkendes Ganzes ist.

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Das wiederum ist gar keine Frage im Lichte der lebendigen Anschauung, in der Pluralismus begründet ist. Wir erfahren uns als tief verwoben in eine unendliche Vielfalt, als getragen von einem unaufhörlichen Strom neuer und immer neuer Eindrücke, von denen keiner identisch wiederkehrt, wohl aber viele einander so ähnlich sind, dass uns Erinnerung entsteht. So geheimnisvoll bedeutsam die Formel der Upanischaden auch wirken mag – sie widerspricht geradewegs dieser elementaren Erfahrung. Was nun all meine Vorstellungskraft weder einzuholen noch gar vorwegzunehmen vermöchte, die unendliche Vielfalt des Wirklichen, – das wäre nichts weiter als ich selber? Etwas reicher dürfte die Welt doch sein! Das Beste ist das Mass – Nichts im Übermass – das galt den Hellenen seit früher Zeit als Inbegriff der Weisheit; Solon, ­Sokrates, Platon, Aristoteles, sie alle waren dieser Meinung. Diese Weisheit ist zutiefst verschieden von dem, was für monistisch ausgerichtete Gesellschaften oberster Wert war: unbedingter Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes, das ­erfüllt und übererfüllt werden soll, Glaube, Hoffnung und Liebe, oder denn: vollkommene Hingabe ans Eine, auf dass die Täuschung der Vielfalt schwinde ❦ Den Hellenen, die wohl am tiefsten über das Leben in der pluralistischen Gesellschaft nachgedacht haben, waren die Gefahren klar bewusst, die ihr aus dem Übermass entstehen. Die griechischen Historiker und Denker haben sie in aller Deutlichkeit beschrieben: die Entartung der Demokratie zur Pöbelherrschaft, die Macht der Demagogen, das Parteigezänk. Das alles ist auch uns zur Genüge bekannt. Das Nebeneinander fast unvereinbarer Werte in einer offenen Gesellschaft mag viele Menschen verwirren, ihnen den sicheren Halt rauben, mag auch gleichgültig machen gegenüber wirklich Verkehrtem und zu nachsichtig gegenüber Ausnützern und Verbrechern; und je stärker sich die verschiede-

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nen Interessen ausprägen, desto schwieriger wird es einer Gemeinschaft, einen Entscheid zu finden und ihn durchzu­ setzen, – so dass denn äussere Gegner leichtes Spiel mit ihr haben. Werden schliesslich die Verschiedenheiten zu stark betont: sehen die einzelnen Parteien nur noch ihre eigenen ­Interessen und verlieren damit das Ganze aus dem Blick, so verfallen sie damit in monistische Haltung – und der Pluralismus hebt sich selber auf. Ebenso geraten heute die Propheten der freien Wirtschaft, die verkünden, alles Heil liege einzig in ewigem Wachstum und ewigem Fortschritt der Technik, unversehens in die Falle eines Monismus. ❦ Pluralistisches Leben kann uns, wie wir es vielerorts sehen, zu bequemer Oberflächlichkeit verkommen, und Toleranz zum feigen Verzicht, zu unseren Werten zu stehen.Wie die Grenze unserer Freiheit die Freiheit der anderen ist, so ist die Grenze der eigenen Toleranz die Intoleranz der Fremden. ❦ Bei all ihren Schwächen und Fehlern ermöglichen unsere pluralistischen Gesellschaften doch ein Leben in einer geistigen und politischen Freiheit, von der die westliche Menschheit vor der Aufklärung allenfalls hätte träumen können. So sei denn auch hier dankbar an die gedacht, die uns diese Freiheit, oft verfolgt und verfemt, erkämpft haben – und ebenso an alle, die heute diese Freiheit erhalten und verteidigen, aber auch an die, welche überall in der Welt für die elemen­ taren Menschenrechte eintreten oder sich darum bemühen, die Vielfalt der Kulturen und des Lebens unserer Erde zu ­bewahren. ❦

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Was die Naturwissenschaften beschreiben und berechnen, mag die eine und stets gleiche Welt sein, vielleicht ist auch sie – erweiterte Relativitätstheorie – zu jeder Zeit und an jedem Ort anders. Was hingegen das einzelne Wesen wahrnimmt, ist seine unwiederholbar einzigartige Wirklichkeit, für jede ­Daseinsform freilich überaus verschieden: Eine Biene sieht nicht denselben Teil des Farbspektrums wie wir; was die Bäume erleben, die – wie Nietzsche sagt – «so würdevoll zu schweigen verstehen», können wir von ferne nur erahnen; was Mikroben, das wird uns wohl für immer Geheimnis bleiben. Aber selbst, wie unseren Nächsten die Welt erscheint, vermögen wir nie ganz sicher zu wissen; dass sie die Sinnesempfindungen teils ähnlich erfahren wie wir, teils auch nicht, ist durchaus wahrscheinlich, darum sich lässt «über den Geschmack nicht ­streiten». – Doch ist die unermessliche Vielfalt all der Erlebniswelten zutiefst verwoben ins Ganze des Weltlebens. Höchste Steigerung pluralistischer Sicht. ❦ Wer nun, wie die hellenischen Denker, danach fragt, wie das Viele zusammenhängt, selbst in seinen äussersten Gegensätzen, sieht sich ebenso wie das monistisch gerichtete Denken auf die Kategorie der Allheit verwiesen. Schon früh wurde ihnen klar, dass die Antwort auf diese Frage nicht auf etwas ­Bestimmtes hinweisen kann, denn was bestimmt ist, kann verneint und damit anderem entgegengesetzt werden. Daher spricht bereits Anaximander vom Unbegrenzten, Unbestimmten (apeiron) als dem Grunde allen Seins. Heraklit nennt es bald Logos, was wörtlich übersetzt Sammlung heisst, bald ­Harmonie – Zusammenstimmen der Gegensätze; er wird nicht müde, durch immer neue Paradoxe zu zeigen, dass ­dieser letzte Grund mit eindeutigen Bezeichnungen nicht bestimmt werden kann, da er als abgetrennt von allem Bestimmbaren gelten müsse. Mit dem Ausdruck (von allem) ab-getrennt (kechorismenon) hat er den Begriff des Absoluten geschaffen, der freilich missver-

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ständlich benannt ist, da ja damit gerade nicht das von allem anderen Getrennte, sondern das Umfassende gemeint ist. ❦ Die Wirklichkeit lässt sich nie auf Eines festlegen, entzieht sich grundsätzlich eindeutiger Bestimmung – so lautet die antike Variante der modernen Unschärfenrelation, die Konzeption des Heraklit, der wohl am tiefsten von den Hellenen über das Eine und Viele und das Ganze nachgedacht hat: Der Wirklichkeit des Werdens können wir weder unter dem Gesichtspunkt der Vielheit noch unter dem Gesichtspunkt der Einheit völlig gerecht werden, beide sind Seiten eines Ganzen jenseits einer letzten Bestimmbarkeit. Mit Recht bezeichnet man Heraklit als Begründer des dialektischen Denkens, des Denkens, das der Vieldeutigkeit der Realität gerecht zu werden versucht, indem es sie immer wieder vom Gegenstandpunkt her beleuchtet: Es ist wahr, dass die Gottheit, die die Welt erfüllt, gütig ist, aber es ist nicht die ganze Wahrheit; es ist auch wahr, dass sie grausam ist, aber auch das ist nicht die ganze Wahrheit: Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Friede, Sättigung und Hunger. (B 67). – Eins ist alles: unteilbar und teilbar (das heisst wohl: Einheit und Vielheit), geworden und ungeworden (geschichtlich und ungeschichtlich), sterblich und unsterblich (göttliche und vergängliche Natur) … (B 50). Die Wirklichkeit lässt sich immer nur von verschiedenen Seiten her beleuchten, nie in der Ganzheit fassen: Das eine einzig Weise (das, was ein Weiser erkennen könnte, wenn er die ganze Wahrheit sähe) will und will doch nicht mit dem Namen Zeus benannt werden. (B 32). Das Ganze der Wirklichkeit lässt sich nicht bestimmen, man kann nur auf es hinweisen: Der Gott, dessen Orakel in ­Delphi ist, nennt nichts und verbirgt nichts, sondern er deutet an. (B 93). Diese Dialektik wird hier mit einer Folgerichtigkeit durch­geführt, an die die neuzeitlichen Dialektiker bei weitem nicht herankommen. Den Hegeljüngern verschlägt es bereits bei der Vernunft und der Geschichtlichkeit den Schnauf.

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Auch diesen theoretischen Konzeptionen entspricht bisweilen eine tiefe Erfahrung. Eine wunderbare Schilderung einer solchen Erfahrung stehe hier am Schluss. Viele von uns kennen wohl, vielleicht in Andeutungen wenigstens, was Musil den anderen Zustand nennt: Er versank in der Landschaft, so beschreibt er diesen Zustand, obgleich das ebensogut ein unaussprechliches Getragenwerden war, und wenn die Welt seine Augen überschritt, so schlug der Sinn von innen an ihn in lautlosen Wellen. Er war ins Herz der Welt geraten; von ihm zu der weit entfernten Geliebten war es ebenso weit wie zum nächsten Baum. Ingefühl verband die Wesen ohne Raum, ähnlich wie im Traum zwei Wesen durcheinander schreiten können, ohne sich zu vermischen, und änderte alle ihre Beziehungen. (Der Mann ohne Eigenschaften, Kap. I 32). ❦

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BEISPIEL EINER EXTREM PLURALISTISCHEN KONZEPTION

«Alle Wesen der Welt, von den elementaren Formen der kosmischen Energie und Materie bis zu den komplexesten G ­ estaltungen des Lebens, sind von ebenbürtiger Würde, alles Wirkliche hat seinen eigenständigen Wert.» So könnte dereinst eine Erklärung grundsätzlicher Naturrechte lauten, als äusserste Verallgemeinerung der Umweltschutzcharta der UNO von 1982. ❦ Unsere Naturrechtserklärung wäre auch die äusserste Verallgemeinerung dessen, was in den Mythen ursprünglicher Völker und noch der Hellenen gelebt hatte: Die Vorstellung, dass wir alle, Götter und Menschen, Tiere und Pflanzen, Berge und Meere «Kinder Einer Mutter» sind. Alle Wesen, lehren noch heute auch die indischen Religionen, sind beseelt, leiden und tragen ihr Schicksal wie wir und sind darum würdig unseres Mitgefühls, und sollen, soweit es in ­unserer Welt möglich ist, nicht verletzt werden. – Diese Konzeption findet sich auch in China. «Weil sein Herz an sich mit allen Wesen eins ist», sagt etwa Wang Yangmin, «fühlt der Weise mit ihnen, nicht nur mit Mitmenschen, Tieren und Pflanzen, sondern mit Ziegeln und Steinen, die zerstört werden.» Die alte Weltfrömmigkeit, in Asien nie erloschen, ist auch im Westen in der Neuzeit wieder aufgeblüht, zuerst in den ­Künsten, dann auch im grundsätzlichen Denken, in jener Weltliebe, die am schönsten vielleicht aufleuchtet in Nietzsches «Fernstenliebe» und seinem Wort: «Das Herz der Erde ist von Gold». – Unmittelbar angeregt ist unsere Naturrechtserklärung von Albert Schweitzer, der als tiefsten Sinn der Ethik die ­Ehrfurcht vor dem Leben sieht, und von Ludwig Klages, der alles Wirkliche als lebendig bezeichnet, die Materie als

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«elemen­tares Leben», aus dem das organische erwächst; der darum als einer der ersten nachdrücklich vor der mensch­ lichen Machtgier gegenüber der Natur gewarnt hat. ❦ Dass es nun so etwas wie solche Grundrechte wirklich gebe, ist ebensowenig streng beweisbar wie es die Menschenrechte sind. Wie diese, sind sie, mit Kant zu sprechen, Postulate der praktischen Vernunft. Man mag sagen, wir Menschen seien instinktiv verbunden mit unseren Artgenossen und allem Lebendigen, immer auf das Ganze der Welt ausgerichtet – wir mögen das bewusst oder unbewusst auch empfinden; und gewiss ist umfassendes Denken immer besser als parteiisches – grossmütiger ist es allemal. Aber rein rational ist das alles letztlich nicht begründbar. Aber wie oft, ist in der Wirklichkeit Erfahrung wichtiger als abstrakte Logik: Welches Unheil erwächst heute noch etwa aus der Missachtung der Menschenrechte – und welche Verwüstungen erleidet unsere Erde und ihr Leben unter dem immer rücksichtsloseren Machtwillen der Menschen, von denen noch allzuviele glauben, alles in der Welt sei «in ihre Hand gegeben». Doch wenn immer es gelingt, im Namen der Menschenrechte auch nur eine Person vor Demütigung und Misshandlung zu bewahren, so ist das schon ein wunderbarer Gewinn – und ebenso jede Pflanze, jedes Tier, die wir schützen, und alles Wirkliche, das nicht verschwendet und nicht missbraucht wird. ❦ Ganz in dieser Gesinnung zu leben, ist nur möglich, solange wir schauen und denken; sobald wir aber handeln und wirken, kommen wir nicht umhin, das eine abzuweisen, anderes zu nutzen. Wer könnte sich überwinden, die Widerlichkeiten dieser Welt zu lieben: Krankheitserreger, Ungeziefer, totalitäre

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Machthaber, Folterer, religiösen Fanatismus. Nicht einmal Jesus befahl den Gläubigen, dem Satan von ganzem Herzen, von ganzer Seele und vom ganzem Gemüt gut zu sein. Vielmehr können wir nicht leben, ohne anderes zu ver­ drängen oder zu töten. Mit jedem Atemzug, mit jedem Schluck, den wir trinken, mit jedem Bissen, den wir essen, bringen wir unzählige Mikroben um. Und wenn wir wie Heilige uns aller Nahrung enthalten, um aus dieser Welt zu scheiden, so reissen wir all die Milliarden Mikroben, die in uns leben, mit in den Tod. Von früh an haben die Menschen ihre Schuld gegenüber allen Wesen empfunden, zugleich ihre tiefe Verbundenheit mit der Welt. Bewusst wurde ihnen dieser abgründige Zwiespalt wohl zuerst in aller Schärfe beim Übergang zur Grosswildjagd, dann wieder mit dem Ackerbau, dem Abbrennen der Wälder, dem Fällen von Bäumen, dem Niedermähen der Ernten; schliesslich mit der Zähmung und Knechtung von ­Tieren. Aus diesem Bewusstsein werden die urtümlichen Kulthandlungen entstanden sein, in denen es darum ging, die ­grossen Mächte, die verletzt worden waren, zu versöhnen und, wie etwa in den Eleusinischen Mysterien, den ursprünglichen Frieden mit ihnen wiederzufinden. ❦ Die Vorstellung solcher umfassender Rechte alles Wirk­ lichen ist im allgemeinen Bewusstsein erst in Ansätzen vorhanden und noch keineswegs als grundsätzliche Konzeption bewusst: Man spricht zwar oft schon von der Würde der Tiere, von der Notwendigkeit, die Wälder, die Gewässer, die Landschaft zu schützen, und einige Staaten erlassen bereits Gesetze mit diesen Zielen, grosse Organisationen kämpfen darum, die Vielfalt des Lebendigen zu erhalten. Allerdings geht es dabei zumeist wie in der Charta der UNO vor allem darum, den ­Menschen ihre «Umwelt» zu bewahren.

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Diese Bewegungen aber könnten durchaus in die Überzeugung münden, dass alles in der Welt seinen Wert in sich selber trägt und nichts nur Mittel ist für unsere Zwecke. ❦ Dass die grundsätzlichen Lebens- und Naturrechte schneller weltweit anerkannt werden könnten als einst die Menschenrechte, ist keineswegs ausgeschlossen: Diese waren aus reli­ giösen und theoretischen Vorstellungen erwachsen – auf dem biblischen Glauben, der Mensch sei als Gottes Ebenbild ­erschaffen, und auf dem Gedanken, den die Humanisten und Aufklärer von der Stoa übernommen hatten, dass allen ­Menschen als Vernunftwesen eine unveräusserliche Würde zustehe, unbesehen ihrer Herkunft und ihres Standes. Und es bedurfte eines geistigen und politischen Kampfes, der über ein Vierteljahrtausend dauerte, gegen all die Widerstände der monarchischen, konservativen, diktatorischen, rassistischen Kräfte, gegen Sklavenhalter und selbst der Kirchen. – Die vielfältigen Bewegungen hingegen, die sich heute bemühen, die Natur vor Missbrauch so unversehrt als möglich zu bewahren, sind nicht nur bestimmt von der Liebe zur Erde und deren ­unfassbar reichen Leben, sondern von mächtigen Trieben, die in uns fast immer stärker wirken als theoretische und ethische Motive: von elementarer Angst und von Eigennutz, von der Befürchtung, unser Raubbau könnte auch uns Menschen in die Katastrophe stürzen. ❦ Was die antiken Atomisten schon annahmen, wird heute von der modernen Physik und Biologie eindrücklich bestätigt: Jeder Mensch , jedes Tier und jede Pflanze, wir alle sind ein Kosmos, der in sich unzählige elementare Teile und unzählige Lebewesen in sich trägt und von ihnen getragen wird. So lange dieses Ganze in Harmonie zusammenwirkt, steht es gut um uns; ist diese Harmonie gestört, so sind wir krank.

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Wir alle wiederum sind getragen vom Kosmos unserer Erde und ihres unermesslichen Lebens. Und heute können wir ­wissen: Wenn die Harmonie auf ihr gestört wird, oder wenn wir Menschen sie frevelnd stören, so steht es weder ganz gut um sie – und schon gar nicht um uns. Ob schliesslich unsere Welt, wie antike Denker lehrten, Eine unter vielen ist im unendlichen All, das werden wir wohl nie wirklich wissen können. Das jedenfalls wissen wir, dass unsere irdische Welt wie ein Staubkorn in der unvorstellbaren Weite kreist, durchwirkt von der unermesslichen Vielfalt der kosmischen Kräfte, Energien, Strahlungen, Wellen, Quanten, wie man heute sagt. Angesichts der überwältigenden Grösse des Ganzen könnte es überheblich scheinen, wenn wir als Menschen sagten, alles Wirkliche sei grundsätzlich ebenbürtig an Würde und Wert. Doch nicht auf die schiere Grösse wohl kommt es an: Auch das unsichtbar Kleine, die elementaren Gestaltungen der ­Materie, dann auch die Mikroorganismen sind kostbar als der Grund, aus dem alles erwächst; die irdischen Lebewesen ­wiederum, die aus diesem Grund entstehen, gleichsam dessen vergängliche Blüten, sind einzigartige Ausprägungen eines Welterlebens, das niemals in gleicher Weise wiederkommt. Was im Ganzen wichtiger und wertvoller sei als anderes – lassen wir das offen. Und sagen wir also – das ist jedenfalls unvoreingenommen gesprochen: Alles Wirkliche hat seinen eigenen und unvergleichlichen Wert. ❦ Anhang für die mosaischen Religionen Selbst die Glaubenslehrer der Juden, Christen und Muslim könnten den Gedanken anerkennen, dass alles Wirkliche einen eigenständigen Wert hat, und sich unserem Aufruf anschliessen.

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Nach ihren heiligen Schriften hat der Schöpfer alles ursprünglich gut und vollkommen gemacht, wenn auch durch den menschlichen Ungehorsam die ganze Welt der Sünde und Sterblichkeit verfallen ist. Trotzdem bleibt sie noch immer «voll von Gottes Güte» (Psalm 104.25) und ist würdig, als Werk seiner Hände gepriesen zu werden. Und halten Rabbiner, Kirchen und Imame daran fest, dass der Mensch trotz seiner Sündigkeit beauftragt ist, die Welt ­untertan zu machen, dass «alles in seine Hand gegeben ist» (Mos. 1.9. 2-4), so mögen sie doch nicht vergessen, dass der Herr den Menschen in seinen Garten gesetzt hat, «auf dass er ihn pflege und bewahre.» (Mos. 1.2.15). Der erste Papst, der sich nach dem legendären Tierfreund und Gartenpfleger benannt hat, möge vorausgehen! ANTECEDAT PAPA, QVI SIBI NOMEN ILLIVS ANIMANTIVM ET HORTORVM AMICI DEDIT. ❦

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INHALT



Prolog

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Die Welt der Poleis – die Weltherrschaft Gottes Die Welt der Götter – die Herrschaft des Einen und Wahren Die Wissenschaft vom Kosmos – die Weisheit von Gott Die pluralistische Kultur der Hellenen Von Kyros zu Theodosius – und zum Widerstreit der Neuzeit

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Epilog – Grundsätzliche Überlegungen Beispiel einer extrem pluralistischen Konzeption

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Gedankt sei für ihre Hilfe meiner lieben Catherine, Bernard Schlup, Sylvia Kohli-Gerber; und Peter Matter für all die Anregungen in jahrzehntelangen Gesprächen. Besonderen Dank spreche ich aus für ihre wissenschaftliche Unterstützung: Susanne Bickel und Oskar Kaelin.