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German Pages 372
CHRISTINE AMRHEIN-HOFMANN
Monismus und Dualismus in den Völkerrechts lehren
Rechtsfragen der Globalisierung flerausgegeben von Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider, Erlangen-Nümberg
Band 7
Monismus und Dualismus in den Völkerrechtslehren Von
Christine Amrhein-Hofmann
Duncker & Humblot . Berlin
Die Wirtschafts- und Sozial wissenschaftliche Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2001 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
n2
Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1619-0890 ISBN 3-428-10832-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §
Meinen Eltern
Vorwort Die Arbeit lag der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg im September 2001 als InauguralDissertation unter dem Titel "Monismus und Dualismus in den Völkerrechtslehren" vor. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Karl Albrecht Schachtschneider, der diese Dissertation ermöglicht hat und durch seine weiterführenden, wertvollen Hinweise und Förderung maßgeblich zur Vollendung dieser Arbeit beigetragen hat. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich ebenfalls Herrn Professor Dr. Wolfram Reiß für seine freundliche Bereitschaft, das Zweitgutachten zu verfassen. Danken möchte ich auch meinem Mann, Erik Hofmann, der die Arbeit mit großem Interesse und Engagement begleitet und mich stets unterstützt hat. Für ihre präzise und zügige Hilfe bei der Korrektur des Manuskripts danke ich herzlich Tanja Amrhein und Rita Wanschura. Nümberg, im Frühjahr 2003
Christine A. Hofmann
Inhaltsverzeichnis Erster Teil
Einführung
13
Erstes Kapitel Thematische Eingrenzung
13
Zweites Kapitel Einführender Überblick über die Lehren vom Monismus und Dualismus
16
Zweiter Teil
Völkerrechtliche Grundlagen
19
Erstes Kapitel Die Entwicklung internationaler Beziehungen als Fundament des Völkerrechts
19
Zweites Kapitel Die Grundlagen der internationalen Gemeinschaft
20
I. Die pluralistischen Anfange des Völkerrechts. . . ... .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . 20 11. Das klassische Völkerrecht ........................................................... 24 III. Das modeme Völkerrecht.. .. . .. .. . .. .. . .. .. .. .. . .. . .. . . .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. . 31
Dritter Teil
Das Völkerrecht als Rechtsordnung
45
Erstes Kapitel Begriff und Abgrenzung des Völkerrechts
45
6
Inhaltsverzeichnis
Zweites Kapitel
Die Rechtsnatur des Völkerrechts
47
Drittes Kapitel
Die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts I. Maßnahmen zur Rechtsdurchsetzung gegenüber den Staaten ........................ 1. Diplomatische Verfahren.......................................................... 2. Internationale Schiedsgerichtsbarkeit ............................................. 3. Internationale Gerichtsbarkeit. . . . .. . .. . . .. . . . .. . .. . .. . . . . . . . .. . .. . .. .. .. . . . . . .. .. . 4. Selbsthilfemaßnahmen ............................................................ 5. Das System kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen ....................... 11. Der Vollzug des Völkerrechts durch die Staaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 59 61 62 63 69 72 73
Viertes Kapitel
Erzeugung und Arten von Völkerrechtsnormen
74
Vierter Teil
Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht: Dualismus und Monismus der Rechtsordnungen
79
Erstes Kapitel
Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht I. Die Lehre Heinrich Triepe1s als Ausgangspunkt der Kontroverse über das Verhältnis der Rechtsordnungen ................................................................. I. Historische Rahmenbedingungen der Zeit Triepels ............................... 2. Der zweifache Gegensatz von Völkerrecht und Landesrecht ..................... 3. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts kraft Vereinbarung. . . . . ... .. . . . . . . . .. . . . . . . 4. Die Berührungspunkte von Völkerrecht und Landesrecht ........................ 5. Die Geltung des Völkerrechts in der staatlichen Rechtsordnung. . . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Der strenge Dualismus ............................................................ 11. Die Weiterentwicklung des strengen Dualismus ................ ,.................... 1. Die Lehre Dionisio Anzilottis ..................................................... a) Historische Rahmenbedingungen ............................................. b) Die Geltungskraft des Völkerrechts ...................... . .................... c) Der gemäßigte Dualismus Anzilottis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Lehre von Gustav Walz ....................................................... a) Die grundsätzlichen Beziehungsmöglichkeiten zwischen dem Völkerrecht und den Rechtsordnungen der Staaten ........................................
80
80 80 84 88 98 108 III 116 116 116 117 119 128 128
Inhaltsverzeichnis
7
b) Die pluralistische Rechtsordnungsgliederung aufgrund der Tatsachen der Rechtserfahrung ............................................................... 132 3. Die Rechtsauffassung Ulrich Scheuners .......................................... 141
Zweites Kapitel
Das Aufkommen der monistischen Rechtsauffassung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
146
Drittes Kapitel
Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
152
I. Einheit der Rechtsordnungen auf der Grundlage des Rechtsbewußtseins ....... . .... 152
1. Die Lehre Hugo Krabbes .... ........... ................. ............... ....... .... a) Die neue Staatsidee ........................................................... b) Der Vorrang des supranationalen Rechts ...................................... c) Die Entstehung des Weltstaates ............................................... 2. Die Lehre Hermann Isays ......................................................... 3. Die Rechtsauffassung Boris Mirkine-Guetzevitchs ............................... 4. Die Rechtslehre Leon Duguits .................................................... a) Die realistische Rechts- und Staatslehre ...................................... b) Das Völkerrecht als intersoziales Recht ....................................... 5. Die Rechtsauffassung Georges Scelles ............................................ 11. Die einheitliche Rechtsordnungskonstiuktion auf der Grundlage der Reinen Rechtslehre Kelsens ......................................................................... 1. Das System der Reinen Rechtslehre .............................................. a) Die Grundanschauungen über Recht und Staat ............................... b) Die Grundnorm als GeItungsgrund einer Rechtsordnung ..................... 2. Die Anfange der Völkerrechtslehre Hans Kelsens ................................ 3. Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht .............................. a) Die Verbindlichkeit des Völkerrechts ......................................... b) Die völkerrechtliche Normenhierarchie ....................................... c) Die Ablehnung des Triepelschen Dualismus .................................. d) Der rechtslogische Monismus Kelsens ........................................ e) Der Primat der staatlichen Rechtsordnung .................................... f) Der völkerrechts primäre Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. g) Die Wahlmöglichkeit innerhalb der monistischen Konzeption ............... h) Die Rezeption der Grundnormlehre Kelsens .................................. III. Die naturrechtliche Grundlegung der Universalrechtsordnung durch Alfred Verdross .................................................................................. I. Die staatsrechtsprimäre Konstruktion der Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Der Weg zum gemäßigten Monismus auf der Grundlage der Völkerrechtsverfassung ............................................................................... a) Der differenzierte Völkerrechtsprimat im einheitlichen Rechtssystem . . . .. ... b) Der Grundsatz "pacta sunt servanda" als Grundnorm .........................
152 152 155 158 161 163 164 164 167 171 176 176 176 184 192 195 195 198 199 204 206 209 212 218 225 225 228 228 233
8
Inhaltsverzeichnis c) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Kern der natürlichen Einheit des rechtlichen Weltbildes .............................................................. 239
Viertes Kapitel
Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts I. Der souveräne Staats wille als völkerrechtliche Grundlage in der Rechtsauffassung Georg W. F. Hegels ................................................................... 11. Das Völkerrecht als Teil der innerstaatlichen Rechtsordnungen. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts aufgrund der staatlichen Selbstverpflichtung ............................................................................... 2. Die Lehre Max Wenzels. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. .. a) Der Vorrang des staatlichen Rechts ........................................... b) Das Völkerrecht als gemeinsames Recht der Staaten ......................... 3. Der umgekehrte Monismus Kar! Albrecht Schachtschneiders .................... a) Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht in Rechtsprechung und Lehre .......... b) Das europäische Recht als gemeinschaftlicher Teil der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ................................................................ c) Die existentielle Staatlichkeit als Begrenzung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Der umgekehrte Monismus ................................................... 4. Die Lehre Albert Bleckmanns .................................................... a) Die Einheit des Rechts auf der Basis der Allgemeininteressen der Völkerrechtsgemeinschaft ............................................................ b) Die Verbindlichkeit des Völkerrechts aufgrund des Zusammentreffens von Individualismus und Kollektivismus ............................................
245
245 248 248 253 253 258 261 261 266 274 278 288 288 291
Fünfter Teil
Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
296
Erstes Kapitel
Verfassungsrechtliche Bestimmungen zur Stellung der Bundesrepublik Deutschland in der internationalen Gemeinschaft
296
Zweites Kapitel
Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts in der deutschen Rechtsordnung
298
I. Die Möglichkeiten zur Einbeziehung völkerrechtlicher Normen in die staatliche Rechtsordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 298 1. Die Transformationslehre ................................................ . ........ 300
Inhaltsverzeichnis 2. Die Vollzugs lehre ................................................................. 3. Die AdoptionsIehre ............................................................... II. Die Regelungen des Grundgesetzes zur Durchführung von Vertrags- und Gewohnheitsvölkerrecht ...................................................................... I. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ........................................ 2. Das vertragliche Völkerrecht .....................................................
9 302 306 308 308 314
Drittes Kapitel Das Völkerrecht in der Lehre und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
319
I. Die Standpunkte der Völkerrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 319 II. Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ........................................ 328
Sechster Teil
Schlußbetrachtung und Ausblick
332
Siebter Teil
Zusammenfassung
339
Literaturverzeichnis ...................................................................... 347 Sachwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 363
Abkürzungsverzeichnis AAA Abs. a.F. ARSP Art. Aufl. Bd. BDGVR BGB BGB\. BVerfGE bzw. ca. d.h. d.i. DSB DSU DSWR EAG ed. EG EGKS EGV EGV (a.F.)
EGV (n.F.)
EMRK etc. EU EuGH EUV (a.F.) EUV (n.F.) EuZW EWG
Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de I' Academie de Droit International de la Haye Absatz alte Fassung Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Auflage Band Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Bürgerliches Gesetzbuch vom 18.08.1896 Bundesgesetzblatt Bundesverfassungsgerichtsentscheidung beziehungsweise circa das heißt das ist Dispute Settlement Body Dispute Settlement Understanding Deutsches Steuer- und Wirtschaftsrecht Europäische Atomgemeinschaft Edition Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrages über die Europäische Union vom 07.02.1992 (Maastrichter Fassung) Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 02.10.1997 Europäische Menschenrechtskonvention vom 04.11.1950 et cetera Europäische Union Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union vom 07.02.1992 (Maastrichter Fassung) Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 02.10.1997 Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
Abkürzungsverzeichnis
f.
FAZ ff. GATT GG Hrsg. hrsg. HStR IGH ILC ILO i.V.m. Jg. Kap. lit. NATO
n.F. Nr./No. PCIJ RdC Rdn.
RFH RGSt. RGZ RIW Rs. S. Sig. StIGH u.a. UN UN-Charta usw. v.
v.a. v.Ch. vgl. VR vr VVDStRL WTO z.B. Ziff.
11
folgend(e) Frankfurter Allgemeine Zeitung fortfolgend( e) General Agreement on Tariffs and Trade vom 15.04.1994 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 Herausgeber herausgegeben Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Internationaler Gerichtshof International Law Commission International Labour Organization in Verbindung mit Jahrgang Kapitel litera (Buchstabe) North Atlantic Treaty Organization, Nordatlantikpakt vom 04.04.1949 neue Fassung Nummer Permanent Court of International Justice Recueil des Cours de I' Academie de Droit International de la Haye Randnummer Reichsfinanzhof, Sammlung der Entscheidungen und Gutachten Entscheidungen des Reichsgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der Internationalen Wirtschaft Rechtssache Seite Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft Ständige Internationale Gerichtshof und andere, unter anderem United NationsNereinte Nationen Charta der Vereinten Nationen und so weiter von/vom vor allem vor Christus vergleiche Völkerrecht völkerrechtlich Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer World Trade Organization, gegründet am 15.04.1994 zum Beispiel Ziffer
Erster Teil
Einführung Erstes Kapitel Thematische Eingrenzung Eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Menschheit beanspruchte schon immer das Recht - die Idee, daß eine gewisse Ordnung der notwendigen Beziehungen und eine wechselseitige Achtung der daraus entspringenden Rechte notwendig ist. Jedes Gemeinwesen erzeugt für sich einen rechtlichen Rahmen, um seine dauerhafte und legitime Existenz zu sichern. Zugleich schafft jede Rechtsordnung eine Verbindung zwischen ihren Mitgliedern, weil ihre Bestimmungen allgemein anerkannte Werte verankert. Demnach lebt der Mensch in einer Reihe von Rechtsgemeinschaften. I Die Rechte und Pflichten der Individuen werden zunächst von der nationalen Rechtsordnung bestimmt, die sich in der Bundesrepublik Deutschland nach der herrschenden Lehre in die Hauptgebiete Öffentliches Recht, Strafrecht und Privatrecht gliedert. Alle drei Rechtsmaterien müssen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen und richten sich nach diesem aus. Das vorrangige Verfassungsrecht schafft somit die Grundordnung des deutschen Staates und begründet zugleich die Einheitlichkeit der Rechtsordnung. 2 Doch auch europäische und völkerrechtliche Rechtsnormen können auf den Einzelnen einwirken. Das Recht der Europäischen Union, deren Gründungsverträge allgemein als völkerrechtliche Verträge anerkannt sind, basiert insbesondere auf den Integrationsaspekten der europäischen Friedenssicherung, des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts, des engen Zusammenschlusses der europäischen Völker sowie dem freiem Handel und Verkehr. 3 Mittlerweile beeinflussen die Vorschriften des Europäischen Gemeinschaftsrechts viele Regelungsbereiche des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten. Vor allem das gemeinsame wirtschaftliche Leben ist schon seit langem europäisch. 4 Vgl. M.N. Shaw, International Law, 3. Aufl., 1991, S.l. Vgl. W. ArndtlW. Rudolf, Öffentliches Recht, 8. Aufl., 1991, S. 14-17. 3 Vgl. Präambel des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft; dazu 2. Teil, 2. Kap. III und 4. Teil, 4. Kap. 11. 3. 4 Dazu Th. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, S.204-222 und S.228-242; K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, hrsg. von I
2
14
1. Teil: Einführung
Nicht nur die europäische Vertragsgemeinschaft, sondern auch die Vereinten Nationen und ihre Spezialorganisationen stellen gegenwärtig wichtige völkerrechtliche Staatenverbindungen dar, die durch multilaterale Verträge gegründet wurden. 5 Darüber hinaus existiert - neben dem Völkergewohnheitsrecht und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen - eine Vielzahl von internationalen Verträgen und Vertragsgemeinschaften, aus welchen sich ebenfalls Rechte und Pflichten sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für den Einzelnen ableiten lassen. 6 In der Völkerrechtsliteratur wird immer deutlicher die Meinung vertreten, daß das Völkerrecht bereits ein Entwicklungsstadium erreicht hat, in dem es nicht mehr nur die internationalen Beziehungen regelt, sondern vielmehr den Rahmen einer "internationalen öffentlichen Ordnung" darstellt. 7 In der Völkerrechtslehre und Rechtsprechung werden seit langer Zeit grundsätzliche Fragen hinsichtlich der Geltung und Anwendung völkerrechtlicher Normen aufgearbeitet und diskutiert. So bemüht sich die Völkerrechtswissenschaft um eine dogmatische Fundierung der sich stellenden Einzelprobleme. Besonderes Interesse galt von Anfang an der Klärung der Frage, wie das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht dogmatisiert werden kann. Im Grundsatz stehen sich dabei zwei Lehren mit grundlegend verschiedenen Auffassungen gegenüber: Nach der einen gehören staatliches Recht und Völkerrecht jeweils getrennten Rechtsordnungen an; nach der anderen sind sie Bestandteile einer einheitlichen Rechtsordnung. Die Beziehung von staatlichem Recht und Völkerrecht wird demnach als ein dualistisches - vielmehr als pluralistisches, wenn man die Vielheit der staatlichen Rechtsordnungen berücksichtigt - oder als monistisches Verhältnis gedeutet. Davon hängt die Beantwortung weiterer Fragen ab, darunter insbesondere jene, welches Recht im Konfliktfall vorgeht und ob das Völkerrecht unmittelbar in den nationalen Rechtsordnungen gilt und anwendbar ist oder ob dafür dazwischengeschaltete staat1iche Maßnahmen - im Sinne eines Transformationsaktes, eines Vollzugsbefehls oder einer Adoption - notwendig werden. Das Völkerrecht selbst enthält weder Bestimmungen über sein Verhältnis zum innerstaatlichen Recht noch über die Art und Weise, wie seine Normen im nationalen Rechtsraum anzuwenden sind. Seine Durchführung überläßt es den verpflichteten Staaten. In ihrer Praxis haben die Staaten - überwiegend in Anlehnung an die entwickelten monistischen oder dualistischen Völkerrechtslehren - unterschiedliche Verfahren herausgebildet, um den Anforderungen des Völkerrechts zu genügen und Konflikte mit dem nationalen Recht auszuschließen. Die vorliegende Arbeit setzt es sich zum Ziel, die rechtsdogmatischen Aspekte des Verhältnisses zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht aufzudecken, die LöWolfgang Blomeyer/Karl Albrecht Schachtschneider, 1995, S. 75-139, insbesondere S.138-139. 5 Dazu 2. Teil, 2. Kap. III. 6 Dazu 2. Teil, 2. Kap. und 3. Teil. 7 Dazu O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 5. Aufl., 1993, S. 330.
I. Kap.: Thematische Eingrenzung
15
sungsvorschläge der verschiedenen Völkerrechts lehren vorzustellen und die daraus folgenden Konsequenzen bezüglich Rechtscharakter, Geltung, Rang und Anwendbarkeit des Völkerrechts aufzuzeigen. Auf diese Grundfragen zur Durchführung des Völkerrechts im innerstaatlichen Rechtsraum wird im fünften Teil der Arbeit systematisch und unter Berücksichtigung der bedeutsamsten Aspekte eingegangen. Für die komplexe sachliche Darstellung, Einordnung und Würdigung der ausgewählten Lehren vom Monismus und Dualismus müssen die historischen Gegebenheiten und gegebenenfalls auch das persönliche Umfeld der Wissenschaftler mitberücksichtigt werden. Der vierte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit diesen Themenbereichen. Darüber hinaus soll zunächst im zweiten und dritten Teil sowohl auf die Entwicklungsgeschichte der völkerrechtlichen Beziehungen in Verbindung mit den Anfängen der Völkerrechtsschulen als auch auf das Völkerrecht im Sinne einer Rechtsordnung der internationalen Staatengemeinschaft eingegangen werden. Diese völkerrechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen sind darzustellen; denn sie tragen wesentlich zum Verständnis der Rechtslehren über das Verhältnis der Rechtsordnungen bei. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Monismus oder Dualismus der Rechtsordnungen stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht seiner Mitgliedstaaten. So ist dabei zunächst problematisch, ob die Regeln des Europarechts als reines Völkerrecht zu bewerten sind oder ob sie eine eigenständige Gemeinschaft bilden und damit eigene Stellung sowohl gegenüber den innerstaatlichen Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten als auch gegenüber der Völkerrechtsgemeinschaft innehaben. Das Wesen und die Geltungsweise des Europäischen Gemeinschaftsrechts können im Rahmen dieser Arbeit nicht umfassend behandelt und in die Betrachtungen über das Verhältnis der Rechtsordnungen einbezogen werden. 8 In jenen Abschnitten, in denen spezifische europarechtliche Problemstellungen - insbesondere Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von deutschem Recht und Europarecht - zum besseren Verständnis internationaler Zusammenhänge beitragen, wird das Europarecht jedoch zwingend zu berücksichtigen sein. g Weiterführende Literatur über die Frage nach dem Verhältnis zwischen Europarecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten einerseits und zwischen Europarecht und Völkerrecht andererseits ist zu finden bei U. Everling, Sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft noch Herren der Verträge?, in: Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, hrsg. von Rudolf Bernhardt/Karl Doehring/lochen Abr. Frowein, Band 81: Völkerrecht als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte - Festschrift für Hermann Mosler, hrsg. von Rudolf BernhardtlWilhelm Karl Geck/Günther laenicke/Helmut Steinberger, 1983, S.173-191; E. Suy, Les rapports entre le droit communautaire et le droit interne des etats membres, in: Centre international d'etudes et de recherehes europeennes, 1964; H. Steiger, Staatlichkeit und Überstaatlichkeit. Eine Untersuchung zur rechtlichen und politischen Stellung der Europäischen Gemeinschaften, in: Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 31, 1965; P. M. Eisemann (Hrsg.), L' integration du droit international et communautaire dans l' ordre juridique national, in: Developments in internationallaw, Band 25, 1996; U. Battis/D. Th. Tsatsos/D. Stefanou (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, I. Autl., 1995; A. Bleckmann, Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1986; siehe auch 4. Teil, 4. Kap. 11. 3.
16
I. Teil: Einführung
Zweites Kapitel
Einführender Überblick über die Lehren vom Monismus und Dualismus Die Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht sowie die Wechselwirkungen zwischen den Rechtsbereichen ist seit langem eines der besonderen Probleme der Völkerrechtslehre und bis heute Anlaß rechtswissenschaftlicher Kontroversen. Die Vertreter des Dualismus haben die Auffassung, daß Völkerrecht und Landesrecht zwei getrennte Rechtsordnungen sind, die sich grundsätzlich bezüglich ihrer Quellen, ihrem Regelungsgegenstand und ihrer Rechtsadressaten voneinander unterscheiden. In diesem Sinne beeinflußte insbesondere Heinrich Triepel- als Begründer des strengen Dualismus - die Völkerrechtswissenschaft mit dem Satz: Völkerrecht und Landesrecht "sind zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden"9. Die Vertreter eines strengen Dualismus verneinen die Möglichkeit der unmittelbaren Geltung des Völkerrechts innerhalb der nationalen Rechtsordnungen. Damit das Völkerrecht innerstaatlich gelten kann und anwendbar ist, wird eine Umwandlung oder Aufforderung zum Vollzug kraft eines staatlichen Transforrnationsaktes oder Vollzugsbefehls notwendig. Konflikte zwischen den Rechtsordnungen sind nach dieser Lehre nicht denkbar, weil es nur Verweisungen von einem Rechtssystem auf das andere geben kann. Die Lehre Dionisio Anzilottis entwickelt die Lehre Triepels fort und entwirft demgegenüber das Bild eines gemäßigten Dualismus, welches Einwirkungen des Völkerrechts auf das staatliche Recht zuläßt. Triepel und Anzilotti werden regelmäßig als Hauptvertreter der dualistischen Lehre genannt. Ihre Lehren unterscheiden sich zwar nur in wenigen, dafür aber essentiellen Elementen. Die Rechtsauffassungen von Gustav Walz und Ulrich Scheuner basieren auf der Grundlage des Dualismus von Triepel und Anzilotti und räumen Beziehungen und Konfliktmöglichkeiten zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht ein. Diese Einsichten nähern die Lehre vom Dualismus an die monistische Rechtsauffassung an. IO Gegen die strikte dualistische Lehre wird insbesondere eingewendet, daß die beiden Rechtsordnungen nicht in jeder Hinsicht verschieden und nicht ausschließlich für unterschiedliche sachliche Geltungsbereiche gültig sind. Nach Ansicht von Alfred Verdross kann ein völkerrechtswidriges Gesetz in der Praxis der Staaten nur vorläufig innerstaatliche Wirkung erlangen, weil der direkt verletzte Staat dessen Aufhebung fordern oder ein völkerrechtliches Verfahren den Konflikt im Sinne des Völkerrechts lösen kann. 11 So streiten die Vertreter des Monismus eine KonfliktH. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899 (unveränderter Nachdruck 1958), S.II!. Dazu 4. Teil, I. Kap. 11 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, S.55; erstmalig A. Verdross, Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten, 1920, S.34-36. 9
10
2. Kap.: Überblick über die Lehren vom Monismus und Dualismus
17
möglichkeit zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht nicht ab, sondern versuchen auftretende Konflikte zu lösen, indem sie Völkerrecht und nationales Recht als eine einheitliche Rechtsordnung ansehen. Die monistische Lehre kommt zu dem Ergebnis, daß Völkerrecht und innerstaatliches Recht nur verschiedene Elemente einer einheitlichen Rechtsordnung sind. Nach der Rechtsauffassung ihrer Vertreter läßt sich das gesamte Recht grundsätzlich auf einen einheitlichen Geltungsgrund zurückführen und gilt letztlich stets für die menschlichen Individuen. Die Anhänger des Monismus sind sich jedoch nicht über den Ursprung dieser einheitlich-rechtlichen Ordnung einig: Es ergeben sich demnach im Grundsatz zwei Möglichkeiten, das monistische Verhältnis der Rechtsordnungen zu bestimmen. Für die einen - insbesondere Hugo Krabbe, Leon Duguit, Georges Scelle, Hans Kelsen 12 sowie Alfred Verdross -liegt der Geltungsgrund aller rechtlichen Normen im Völkerrecht. Sie folgern daraus die Höherrangigkeit der zwischenstaatlichen Rechtsnormen. Demnach bestimmt das Völkerrecht sowohl den Geltungsursprung als auch den Geltungsbereich der innerstaatlichen Rechtssysteme, so daß diese als delegierte Teilrechtsordnungen konzipiert werden. Die Vertreter dieser jüngeren monistischen Lehre lassen sich in radikale und gemäßigte Monisten aufteilen. Erstere - insbesondere Duguit und Scelle - vertreten den strikten Primat des Völkerrechts; denn für sie ist das nationale Recht dem Völkerrecht in jeder Hinsicht untergeordnet. Die Hoheitsgewalt der Staaten leitet sich vom Völkerrecht ab. Dieses selbst ordnet die Geltung und Anwendung der Völkerrechtsnormen an, welche unmittelbar im Rechtsraum der Einzelstaaten wirken. Folglich muß sich das innerstaatliche Recht im Falle eines Kontlikts dem Völkerrecht unterordnen und das völkerrechtswidrige staatliche Gesetz wird nichtig und nicht beachtet. Ein tatsächlich bestehender Kontlikt zwischen den Rechtsordnungen kann demnach nicht bestehen. Dieser konsequente Monismus konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Seine gemäßigte Form hat dagegen größere Bedeutung erlangen können. Für dessen Vertreter - dazu zählt insbesondere Verdross - gilt ebenfalls der Grundsatz, daß die völkerrechtlichen Normen den staatlichen vorgehen. Dennoch besitzen die Staaten durch die Ableitung von Hoheitsrechten aus dem Völkerrecht einen weiten Gestaltungsspielraum und somit eine relativ selbständige Rechtsordnung. Die Möglichkeit eines Konflikts zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht wird hierbei anerkannt. Im Kontliktfall wird dennoch auf eine radikale Durchsetzung des Völkerrechts verzichtet. Nach der Lehre vom gemäßigten Monismus kann jedoch die Geltung der völkerrechtswidrigen staatlichen Normen nur eine vorläufige sein und es setzt sich letztendlich das Völkerrecht durch. Konflikte zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht sind deshalb nicht endgültiger Natur, sondern finden auf der Grundlage des Primats des Völkerrechts ihre AuflösungY 12 Die Besonderheit der Lehre Hans Kelsens liegt darin, daß seine Lehre als die Lehre vom Monismus mit Wahlmöglichkeit zwischen dem Primat der staatlichen Rechtsordnung und dem Vorrang der Völkerrechtsordnung zu verstehen ist. Letztlich jedoch raUt er eine Entscheidung zugunsten des völkerrechtsprimären Monismus; dazu 4. Teil, 3. Kap. 11. 13 Dazu 4. Teil, 3. Kap. I, 11 und 111.
2 Amrhein·Hofmann
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1. Teil: Einführung
Die ältere monistische Schule, zu deren Vertretern insbesondere Karl Bergbohm, Albert Zorn und Max Wenzel zählen, geht vom Willen der einzelnen Staaten aus und sieht den Geltungsgrund des Völkerrechts somit in der Selbstverpflichtung der Staaten. Sie räumt deshalb dem staatlichen Recht den Vorrang gegenüber völkerrechtlichen Normen ein. 14 Selbst wenn sich diese Rechtsauffassung nicht durchsetzen konnte, scheinen manche ihrer Ansätze erneute Bedeutung zu erhalten. Insbesondere die Erkenntnisse Karl Albrecht Schachtschneiders lassen die Schlußfolgerung zu, daß eine Einheitlichkeit des Rechts besteht, weil dessen unmittelbare Geltung allein auf der Freiheit der Bürger, das heißt auf dem Willen des jeweiligen Volkes, beruht. Diese Dogmatik des umgekehrten Monismus kommt dem älteren Monismus am nähesten, wenn auch seine Thesen - insbesondere in bezug auf den Geltungsursprung und den Rang des Völkerrechts - über die Ergebnisse des staatsrechtsprimären Monismus hinausgehen. 15 Auch Albert Bleckmann entwirft ein Konzept der Rechtseinheit, das jedoch auf den Interessen und Grundrechten der Individuen beruht, woraus sich letztendlich das Allgemeininteresse der Völkerrechtsgemeinschaft entwickelt und das die Durchsetzung internationaler Menschenrechtspakte garantiert. Die Bindungswirkung und den Vorrang des Völkerrechts führt Bleckmann auf die dem Individualismus entgegengesetzten - diesen dennoch ergänzenden - kollektiven Naturrechtsauffassungen zurück. Demgemäß sind die Individuen in die jeweiligen Gemeinschaften hineingeboren und somit an das Recht gebunden. 16 Dieser Überblick verdeutlicht die gegenseitige Annäherung von Monismus und Dualismus in den Völkerrechtslehren, obwohl beide nach wie vor immer noch von entgegengesetzten Auffassungen ausgehen. Offensichtlich wird auch, daß eine undifferenzierte Einordnung der bedeutsamsten Lehren als monistisch oder dualistisch für ihre korrekte Erfassung und Darstellung nicht genügt, ja sogar mißverständlich wäre. Um eine genaue Abgrenzung und Beurteilung der Rechtsordnungskonstruktionen zu erreichen, ist es notwendig, nicht nur ihre jeweiligen verschiedenen Grundaussagen, sondern auch feine Unterschiede zwischen den Lehren herauszuarbeiten. Der gesamte vierte Teil dieser Arbeit versucht, dieser Anforderung zu genügen. Ziel ist es dabei auch, die Auffassung jener Autoren, die keine eigenständige Lehre begründet haben, sich aber als Anhänger oder Gegner einer der monistischen oder dualistischen Völkerrechtsschulen charakterisieren lassen, in diesen Abschnitt zu integrieren.
Dazu 4. Teil, 4. Kap. I, 11. I und 2. Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. 16 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.4. 14
15
Zweiter Teil
Völkerrechtliche Grundlagen Erstes Kapitel
Die Entwicklung internationaler Beziehungen als Fundament des Völkerrechts Wirtschaftliche und politische Verflechtung, vor allem aber Außenhandel und die Weiterentwicklung globaler Techniken sind zum Herz internationaler Beziehungen geworden. Kein moderner Staat ist autark geblieben; denn der wirtschaftliche und technische Austausch hat für jeden Staat und dessen Bürger einen existentiellen Stellenwert erhalten. Heute durchdringen diese mittlerweile umfassenden Beziehungen fast alle Bereiche der einzelstaatlichen Gemeinschaft: Die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, das Konsumverhalten, Arbeits- und Umweltbedingungen, soziale Verhaltensformen oder auch das nationale Recht. Die sich damit langsam vollziehende Internationalisierung der Lebensbereiche übte - und übt bis heute - einen großen Einfluß auf die Entwicklung und das Wachstum des internationalen Rechts aus. Völkerrecht wird dabei als Recht zwischen selbstbestimmten und gleichberechtigten Staaten angesehen, dessen Grundlage ein gemeinsamer Konsens dieser Staaten bildet. Internationale Verflechtungen waren in jedem Zeitabschnitt der geschichtlichen Entwicklung eine große Antriebskraft, eine immer enger verbundene Staatengemeinschaft zu verankern und weiter auszubauen; aber darüber hinaus förderten auch andere wesentliche Ziele die Festigung eines organisierten Völkerrechtssystems: Die internationale Friedenssicherung, die Verwirklichung der Menschenrechte, die Förderung des sozialen Fortschritts und des Lebensstandards sind zu den Grundpfeilern des modemen Völkerrechts geworden. I Eine solche Völkerrechtsgemeinschaft entstand jedoch nicht bereits in der altorientalischen und antiken Welt; denn in dieser Epoche war der Horizont eines Volkes auf die eigene Religion, Sprache und Sittlichkeit sowie auf das eigene Recht begrenzt. Doch die Wurzeln des Völkerrechts reichen bis in diese Zeit zurück. Kein Volk konnte es auf Dauer vermeiden, mit anderen in Kontakt zu treten: Es wurden Kriege geführt, Friedensbündnisse geschlossen, Abkommen ausgehandelt, Gesandte entsendet und empfangen, Schiedsentscheidungen getroffen, zwischenstaatlicher I Vgl. R. Blühdorn, Internationale Beziehungen, 1956, S.156-187; eh. Rhyne, International Law, 1971, S.305-31O.
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2. Teil: Völkerrechtliche Grundlagen
Handel aufgenommen, und bereits damals flohen Straftäter in andere Regionen, um ihrer Bestrafung zu entkommen. Aufgrund dieser Berührungspunkte entwickelten sich zumindest einige feste Regeln und Gepflogenheiten für externe Beziehungen zwischen den Nationen, deren Einhaltung unter den Schutz der Gottheiten gestellt wurde. 2 Der eigentliche Gedanke und das Bewußtsein eines Völkerrechts treten jedoch erst mehrere Jahrhunderte später auf, beginnend mit der erfolgreichen Anerkennung und dauerhaften Bildung einer Vielheit voneinander unabhängiger Staaten, mit der sich verbindenden christlichen Staatenwelt und der bis zum Mittelalter vollzogenen Einheit der Kirche. In der darauffolgenden Zeit des klassischen Völkerrechts entstand - entscheidend mitgeprägt durch die theoretisch-dogmatisch grundlegenden Werke der europäischen Völkerrechtsschulen - eine detailliertere Auffassung vom Wesen und von den Aufgaben des Völkerrechts, die sich im jüngst abgelaufenen Jahrhundert erneut grundlegend weiterentwickelt hat. 3 In unserer neuen Zeit finden wir also die Idee eines Völkerrechts als einheitliche Rechtsordnung einer organisierten Staatengemeinschaft vor, das auf der Existenz einer Vielzahl von unabhängigen und aus eigenem Recht bestehenden Staaten aufgebaut wurde. Es berücksichtigt, daß in dieser Gesamtheit kein Einzelstaat isoliert bestehen kann und ist darauf ausgerichtet, den Aufbau und die Weiterentwicklung zwischenstaatlicher Beziehungen unterstützend zu koordinieren.
Zweites Kapitel
Die Grundlagen der internationalen Gemeinschaft I. Die pluralistischen Anfange des Völkerrechts Der historische Ursprung des Völkerrechts liegt im Altertum bei den altorientalischen, hellenistischen und griechisch-römischen Kulturen mit dem Abschluß von Bündnissen und Friedensverträgen. 4 Bei den Römern findet man den Ausdruck "ius gentium", die älteste Bezeichnung des Völkerrechts. Keine der in der Neuzeit herausgebildeten jüngeren Begriffe 5 konnte diesen ursprünglichen Ausdruck, der sich 2 Einen tieferen Einblick in die Staats- und Weltauffassung der Griechen, Juden und Römer bietet L. Oppenheim, International Law, hrsg. von Hersch Lauterpacht, Band 1: Peace, 7. Aufl., 1948, S.69-75. 3 Zur Entwicklung des Völkerrechts im Zeitablauf siehe L. Oppenheim, International Law, S.67-104. 4 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, 5. Auflage, 1964 (erstmals erschienen 1937), S.31-43; R. Ago, Die pluralistischen Anfänge der internationalen Gemeinschaft, in: Völkerrecht und Rechtsphilosophie - Internationale Festschrift für Stephan Verosta zum 70. Geburtstag, hrsg. von Peter Fischer/Heribert Franz Köck!Alfred Verdross, 1980, S. 25-58, hier S. 25-37. 5 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 1-2; A. Verdross, Völkerrecht, S. 1-2. So finden sich die neueren Begriffe "ius inter gentes" bei Francisco de Vitoria (ca. 1485-1546) und "ius publicum civitatum" bei Kant (1724-1804), auf denen der Ausdruck "zwischenstaatliches Recht" basiert; siehe Kant, Metaphysik der Sitten, 1797/1798, in: Werke
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heute in den Übersetzungen" Völkerrecht", "law of nations", "droit des gens" oder "diritto delle genti" wiederfindet, verdrängen. 6 Aber das "ius gentium" der Römer verstand sich nicht nur als zwischenstaatliches Recht; vielmehr umfaßte es als Recht des römischen Weltreiches auch das gesamte Recht der zivilisierten antiken Kulturvölker und wurde deshalb als "Recht der Völker" 7 angesehen. So entwickelten die Römer - nicht jedoch die Gemeinschaft gleichberechtigter Völker - das "ius gentium" als das Recht im Verkehr mit und zwischen Nichtrömern und regelten auf diese Weise gleichermaßen völkerrechtliche und innerstaatliche Sachverhalte. 8 In Ergänzung dazu war das "ius civile" ausschließlich für Rechtsbeziehungen zwischen römischen Bürgern anzuwenden. 9 Einflußreich war die zuerst von der Stoa 10 entwickelte und später mit den Glaubenslehren des aufsteigenden Christentums verbundene Vorstellung eines naturrechtlich begründeten Weltrechts. 11 Schon Cicero 12 formulierte das "ius gen ti um" als "die von Natur und Wahrheit den Menschen gegebene sittliche und rechtliche Grundordnung"13. Bedeutsam ist, daß in der Antike die Vorstellung eines Weltstaates, der sich aus den Individuen als Weltbürger bildet, vorherrschte. Dieses Denken wird erst im Mittelalter aufgegeben, und die Idee einer weltumgreifenden Gemeinschaft aus Herrschaftsverbänden entsteht. Dadurch ist der Weg frei für eine jahrhundertelange Entwicklung der Menschengemeinschaft hin zur Staatengemeinschaft und zum Völkerrecht im Sinne eines zwischenstaatlichen Rechtssystems. 14 Im Verlauf des durch die Kreuzzugsbewegungen (1095-1291) und durch den Feudalismus geprägten Mittelalters entwickelte sich eine Praxis politischer Verträge und zahlreicher Handelsverträge. Auch entstanden Anfänge eines Seerechts. 15 Dain zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band 7,5. Nachdruck 1983, S.303-634, hier S.466. 6 In anglo-amerikanischen und romanischen Sprachen hat sich mittlerweile alternativ zum Begriff "Völkerrecht" auch die Bezeichnung "internationales Recht" ("international law", "droit internationale", "diritto internazionale") durchgesetzt; vgl. E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, 2. Aufl., 1979, S.I; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.I-2. 7 E. Reibstein, Völkerrecht - Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, Band 1: Von der Antike bis zur Aufklärung, 1958, S. 54; E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S. 1. 8 Als Beispiele für völkerrechtliche Sachverhalte im Regelungsbereich des "ius gentium" können Bündnisse, Kriege und Gesandtschaftsverkehr genannt werden. Innerstaatliche Regelungsbereiche waren zum damaligen Zeitpunkt beispielsweise Sklaverei, Behandlung der Rückkehrer aus der Gefangenschaft und Eheschließungsverbote mit Fremden; vgl. A. Verdross/ B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. I; E. Reibstein, Völkerrecht - Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, S.53-56. 9 Vgl. L. Oppenheim, International Law, S. 72. 10 Die Stoa ist eine nach ihrem Versammlungsort - einer schmalen Säulenhalle der griechischen Architektur - benannte Philosophenschule, die um ca. 300 v. Ch. in Athen gegründet wurde. 11 Vgl. A. Verdross, Vierhundert Jahre Völkerrechtswissenschaft, in: Stimmen der Zeit, 63.Jg. (1933), Nr.7, 125. Band, S.36-41, hier S.36; A. Verdross, Völkerrecht, S.41-42. 12 Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Ch.). 13 Cicero, de officiis 3, 69; zitiert in A. Verdross, Völkerrecht, S. 41. 14 Vgl. F.A. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates, 1952, S. 16. 15 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 52-53.
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neben entbrannte eine wissenschaftliche Diskussion über das Problem des Friedens. Die Scholastik 16 versuchte, die Frage nach der moralischen Berechtigung eines Krieges mit der Entwicklung der Lehre vom "bellum justurn" , dem gerechten Krieg, zu beantworten. 17 Beginnend mit dem Vertrag von Verdun 843, der die Teilung des Reiches von Karl dem Großen besiegelte, setzte ganz allmählich ein Entwicklungsprozeß ein, der über Jahrhunderte hinweg die Entstehung voneinander unabhängiger europäischer Staaten hervorbrachte und der als Ausgangspunkt für die Herausbildung eines Völkerrechtssystems angesehen werden kann. 18 Die selbständige Erfassung des Völkerrechts ist dem Theologieprofessor Francisco de Vitoria 19 zu verdanken. Seine berühmten Vorlesungen ("Relectiones") an der Universität von Salamanca legten - noch vor den Werken Hugo Grotius' 20 - die theoretischen Grundlagen für die Entwicklung des Völkerrechts. 21 In der "Relectio de Indis" aus dem Jahr 1532 schälte er aus der Bezeichnung "ius gentium" den Begriff "ius inter gentes" (zwischenstaatliches Recht) heraus. 22 Mit dieser Bezeichnung machte er deutlich, daß der Rechtsbereich dieses weiterentwickelten "ius gentium" nunmehr vorrangig Beziehungen zwischen Staaten regeln sollte. Für Vitoria umfaßt dieses Recht die gesamte Staatengemeinschaft, nicht nur den christlich-abendländischen Kulturkreis. 23 Die Rechtsordnung dieser universellen 16 Zu den Vertretern der Lehre der Scholastik gehört insbesondere Thomas von Aquin (ca. 1225-1274), der sich auf die Schriften des Augustinus (354-430) beruft. 17 Für Thomas von Aquin war das gerechte Kriegsziel, nämlich die Beseitigung von Unrecht und Schaffung einer besseren Ordnung, ausschlaggebend; vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.67-69. 18 Vgl. L. Oppenheim, International Law, S. 72-73. 19 Francisco de Vitoria wurde um 1485 im baskischen Ort Vitoria geboren. 1504 trat er in den Dominikanerorden ein; es folgte ein Theologie- und Philosophiestudium in Paris. Nach erfolgreichem Abschluß seiner Studien kehrte er 1523 nach Spanien zurück, um zunächst am Kolleg "San Georgio" in Valladolid Theologie zu lehren. Im Jahr 1526 übernahm er den theologischen Lehrstuhl an der Universität in Salamanca; dort starb er am 12.08.1546; vgl. J. Soder, Die Idee der Völkergemeinschaft - Francisco de Vitoria und die philosophischen Grundlagen des Völkerrechts, in: Völkerrecht und Politik, hrsg. von Walter SchätzellHans Wehberg, Band 4, 1955, S. 6-7. 20 Huigh de Groot (1583-1645), dazu 2. Teil, 2. Kap. 11. 21 Im Gegensatz zur allgemeinen Ansicht in der Völkerrechtswissenschaft ist Friedrich August Heydte der Meinung, daß Lupold von Bebenburg (1297-1363), Bischof von Würzburg und Rechtsgelehrter, die Erfassung einer ersten Lehre vom Völkerrecht leistete: "Lupold von Bebenburg nimmt - 300 Jahre vor Grotius, 200 Jahre vor Franziskus de Vitoria - in eine Lehre vom Staat und der Staatengemeinschaft zum erstenmal dieses neue Völkerrecht auf, das die Rechtsverhältnisse der neuentstandenen Staaten regelt und dessen Quelle die Gewohnheit ist und ... aus dem göttlichen Sittengesetz und dem Wesen der Staatengemeinschaft abgeleitete ,allgemeine Rechtsgrundsätze'." F.A. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates, S. 121. 22 Primärer Grund seiner völkerrechtlichen Schriften waren wohl die kolonialrechtlichen Fragen, die die Entdeckung Amerikas aufwarfen. In seiner "Relectio de Indis" kritisierte er die Unterwerfung der Indianerstaaten in der Neuen Welt, weil er der Ansicht war, daß diese die gleichen Rechte wie die christlichen Staaten besitzen würden; vgl. J. Soder, Die Idee der Völkergemeinschaft, S. 27.
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Völkerrechts gemeinschaft wird nicht durch den Willen der Staaten, sondern ursprünglich aus dem Naturrecht heraus geschaffen. 24 Die Weiterbildung und nähere Ausführung der in diesem Naturrecht geregelten Grundprinzipien übernehmen Verträge und Gewohnheitsrecht (positives Recht).25 So ist Vitoria als Begründer einer selbständigen - naturrechtlichen - Völkerrechtslehre anzusehen,26 welche auch nach seinem Tod in der Schule von Salamanca weiterlebte. 27 Ein späterer Vertreter dieser Schule der spanischen Moraltheologie, nämlich der Jesuitenpater Francisco Suarez 28 , entwickelte die naturrechtlichen Anschauungen Vitorias weiter. Suarez erläutert die Konzeption seiner Völkerrechtslehre in seinem Werk "de legibus ac Deo legislatore" (1612) sehr anschaulich: ,,zur größeren Klarheit will ich hinzufügen, daß es zwei Arten von ius gentium gibt: das ius gentium, weIches alle Völker und Nationen in ihrem Verkehr untereinander beachten müssen, und das ius gentium, weIches bei den einzelnen Staaten und Ländern in ihrem Inneren gilt. Letzteres wird ius gentium genannt, weil inhaltliche Ähnlichkeit und Übereinstimmung seiner Normen bei den Völkern festzustellen ist. ... Mir scheint die erste Art das eigentliche ius gentium zu enthalten."29 23 Francisco de Vitorias Völkerrechtswissenschaft basiert auf der aristotelisch-thomasischen Lehre der vernünftigen und sozialen Natur des Menschen; denn er überträgt diese auf das Verhältnis der Staaten. Jene sind von Natur aus auf gegenseitigen Verkehr angelegt, unabhängig ihres Kulturkreises. 24 "Völkerrecht nennt man das, was die natürliche Vernunft in alle Nationen gelegt hat." Francisco de Vitoria, in: Re1ectio de Indis, de tit.leg., 2, 1532, zitiert in: A. Truyol, Die Grundsätze des Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, 1947, S.49. 25 Zur Völkerrechtslehre Francisco de Vitorias vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 97. 26 Vgl. J. Soder, Die Idee der Völkergemeinschaft, S. 29; Kritischere Anmerkungen zur Lehre Francisco de Vitorias veröffentlichte Jose! Soder 20 Jahre später in seinem Werk: J. Soder, Francisco SUlirez und das Völkerrecht - Grundgedanken zu Staat, Recht und internationalen Beziehungen, 1973, S. 63-66. 27 Francisco de Vitorias Völkerrechtsauffassung wurde bereits durch einen seiner Zeitgenossen und weiteren Vertreter der spanischen Völkerrechtsschule, nämlich den Dominikaner Domingo Soto (1494-1560), unterstützt; vgl. E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 23. 28 Francisco Suarez wurde am 05.01.1548 in Granada geboren; mit 16 Jahren trat er in den Jesuitenorden ein und begann das Studium der Philosophie (1564) sowie Theologie (1566) in Salamanca. Johannes Mancio, ein früherer Schüler und damaliger Inhaber des Lehrstuhls von Francisco de Vitoria, war sein Lehrer. Von 1571 bis 1580 lehrte er an Jesuitenkollegien; u. a. in Segovia, Valladolid und Avila. Danach lehrte er fünf Jahre am römischen Ordenskolleg. Zwischen 1585 und 1593 war er Professor der Theologie in AIcahi und wurde 1593 durch Philipp H. auf den ersten Lehrstuhl für Theologie der Universität Coimbra (Portugal) berufen. Dort entstand auch sein wichtigstes Werk "de legibus" - das Werk über die Gesetze -, weIches 1601/02 Inhalt seiner Vorlesungen in Coimbra war und 1612 veröffentlicht wurde. 1615 beendete Suarez seine Laufbahn als Professor. Der Wunsch, sich seinen Veröffentlichungen zu widmen, erfüllte sich nicht - er starb nach schwerer Krankheit am 25.09.1617. Bedeutendster Zeitgenosse von Suarez war der Jesuit und Theologieprofessor Johannes de Salas (1553-1612). Zum Leben und Werk von Suarez vgl. J. Soder, Francisco SUlirez und das Völkerrecht, S. 15-47. 29 Francisco Suarez: De legibus H, Kap. 19, 8, zitiert in: J. Soder, Francisco Suarez und das Völkerrecht, S. 213 und S. 347 (Hervorhebung im Original).
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Suarez deutete das "ius gentium" einerseits als innerstaatliches Recht ("ius genti um intra se"), erkannte aber auf der anderen Seite das eigentliche Völkerrecht als positives, aus der völkerrechtlichen Praxis geschaffenes Recht,30 dessen ursprüngliche Grundlagen - z. B. die des Kriegsrechts - auch weiterhin dem Naturrecht nahe stehen. Das "ius gentium" als Völkerrecht im Sinne von Suarez umfaßt neben dem Kriegsrecht auch das Gesandtenrecht und das internationale Vertragsrecht. 31 Somit gelang Suarez einerseits die Trennung in "ius gentium" und staatliches Recht sowie andererseits die Differenzierung des "ius gentium" in Naturrecht und Vertragsrecht.
Aus den Lehren der spanischen Schule kristallisierte sich ganz deutlich die damals aufkommende zentrale Frage nach dem Charakter des Völkerrechts heraus: Sind die völkerrechtlichen Normen als Naturrecht oder als positives Recht zu sehen? Sowohl Vitoria als auch Suarez beschäftigten sich - angespornt durch die Entdekkung der neuen Welt und die machtpolitischen Kämpfe in Europa - auch mit der Lehre vom "gerechten Krieg". Beide beziehen nicht mehr nur den gerechten Kriegszweck, sondern auch die Frage nach der objektiven Schuld bei einer kriegerischen Auseinandersetzung mit in die Betrachtung ein. Für Suarez ist darüber hinaus die Verhältnismäßigkeit zwischen dem kriegsauslösenden Unrecht und dem daraus erzeugten Kriegsschaden für die Beurteilung der Gerechtigkeit einer Auseinandersetzung relevant. Er akzeptiert deshalb lediglich den Krieg zur Verteidigung und den Krieg zur Bestrafung eines schuldigen Gegners als gerechten Krieg. 32 11. Das klassische Völkerrecht Die Leistung von Francisco de Vitoria und Francisco Suarez nutzend und unter systematischer Ausarbeitung des Naturrechtsgedankens trug der Holländer Hugo Grotius 33 zur Herausbildung der Doktrin des klassischen Völkerrechts bei. 34 Die 30 Mit Francisco Suarez einer Meinung ist Ulrich Scheuner: "Le droit des gens est autre chose que la resultante d'une pluralite de regles isolees sans coherence et sans systeme. C'est le droit d'une veritable communaute internationale ... C'est plutöt un droit, si on le comprend bien, qui a son origine dans la pratique des Etats. C'est la somme des traditions diplomatiques et des experiences historiques que les Etats ont recueillies au cours de leurs relations mutuelles." U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, in: RdC, 11, Nr.68, 1939, S. 99-127, hier S. 99 und S. 101. Johann Schuster erkennt: "Jus gentium ist nach Smirez positives Völkerrecht, das nur durch die Gewohnheit gilt." J. Schuster, Was versteht Franz Smirez unter jus gentium?, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht, hrsg. von Dionisio Anzilotti/Hans KelsenjAdolf Merkl u. a., Band XVI, 1936, S.487 - 495, hier S.494. 31 Vgl. J. Soder, Francisco Smlrez und das Völkerrecht, S. 213-216 und S. 219, S. 352. 32 Vgl. A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 62; E. MenzeIlK./psen, Völkerrecht, S. 23-24. 33 Huigh de Groot wurde am 10.04.1583 in Delft geboren. Er wurde bereits mit 11 Jahren zum universitären Studium zugelassen und erwarb den juristischen Doktorgrad mit 15 Jahren. Im Zusammenhang mit dem Remonstrantenstreit wurde Grotius verhaftet und zu lebenslangem Kerker verurteilt. Nach gelungener Flucht wirkte er von 1621 bis 1631 als Gelehrter in Paris und veröffentlichte dort 1625 sein Hauptwerk "De jure bell i ac pacis libri tres" - drei Bücher
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Völkerrechtslehre dieser Zeit ist aufs engste in der geschichtlichen Entwicklung Europas verankert, was durch die Bezeichnung "ius publicum europaeum"35 für das klassische Völkerrecht zum Ausdruck kommt. Das klassische Völkerrecht wird von europäisch-christlichen Staaten dominiert - obwohl die im Verlauf dieser Epoche entstehenden Vereinigten Staaten sowie die Länder Südamerikas miteinbezogen werden - und auf die ganze Welt ausgedehnt. 36 Das europäische Staatensystem der beginnenden Neuzeit, welches durch den Grundpfeiler der Souveränität und das daraus abgeleitete Recht der souveränen Staaten zum Krieg ("ius ad bellum") gekennzeichnet war, sowie die we1tumgreifenden Entdeckungen und Kolonialisierungen der europäischen Mächte sind die geschichtlichen Bedingungen wie auch der politische Rahmen des klassischen Völkerrechts. Seine praktischen Ausformungen erhält es zum ersten Mal im Westfälischen Frieden von 1648 und in seinem Höhepunkt durch den Wiener Kongreß im Jahr 1815. 37
Grotius entwickelte in seinen Schriften viele neue und grundlegende Gedanken zu einer Vielzahl essentieller Themen, wie zum Beispiel Neutralität, Kriegsrecht, Freiheit der Meere, Gemeinschaft der Staaten sowie Praxis der Verträge und Diplomatie. 38 Ein Ziel für ihn war es, eine gerechte Ordnung der Völker und Konfessionen zu gestalten. Seine Schriften spiegeln die turbulenten Verhältnisse seiner Zeit wider, die auch sein eigenes Leben berührten. Zu nennen sind die Religionsstreitigkeiten und der Untergang der einheitlichen Kirche, der 30-jährige Krieg, der Kampf der Niederländer um ihre Unabhängigkeit verbunden mit dem endgültigen Verlust der vom Recht des Krieges und des Friedens. Nach zweijährigem Aufenthalt in Hamburg war er von 1635 bis 1645 schwedischer Gesandter in Paris. Er starb am 28.08.1645 in Rostock. Bis zu seinem Tod hat Grotius ein literarisches Werk von mehr als 100 Titeln hinterlassen. Seine Lehre beeinflußte u. a. Samuel Rachel (1628-1691), Christian Wolff (1679-1754), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) sowie seinen Schüler Emer de Vattel (1714-1767); vgl. W. Schätzel, Das Leben und die Werke von Hugo Grotius (Einleitung), in: Die Klassiker des Völkerrechts - Hugo Grotius: De jure belli ac pacis libri tres, hrsg. von Walter Schätzei, Band 1, 1950, S.XV-XXX. 34 Doch nicht nur Francisco de Vitoria und Francisco Suarez sind als wichtige Vorläufer Hugo Grotius zu nennen; es müssen weitere Rechtswissenschaftler europäischer Herkunft anerkannt werden, die mit ihren Werken die Lehre vom Völkerrecht beeinflußten: lohn of Legano (Professor der Rechtswissenschaften an der Universität von Bologna), Pierino Belli (italienischer Jurist und Staatsmann), Conradus Brunus (deutscher Jurist und Professor an der Universität von Salamanca), Balthasar Ayala (spanisch-niederländischer Richter), Alberico Gentilis (italienischer Jurist und Professor an der Universität in Oxford); vgl. L. Oppenheim, International Law, S. 86. 35 "Europäisches öffentliches Recht", O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 70. 36 Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 70-71; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 20-2 I. 37 Dazu O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 70-76. 38 Vgl. G. Glahn, Law Among Nations, 7. Aufl., 1996, S.28. Eine ausführliche Darstellung der Lehre Hugo Grotius ist zu finden bei B. Kingsbury/A. Roberts, Grotian Thought in International Relations, in: Hugo Grotius and International Relations, hrsg. von Hedley Bull/Benedict Kingsbury/Adam Roberts, 1990, S. 1-64 und H. Bull, The Importance of Grotius in the Study of International Relations, in: Hugo Grotius and International Relations, hrsg. von Hedley Bull/Benedict Kingsbury/Adam Roberts, 1990, S.65-93.
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spanisch-habsburgischen Hegemonie in Europa, das Aufkommen souveräner Einzelstaaten, die Vergrößerung der niederländischen Seemacht gegen iberischen und englischen Widerstand sowie die Rivalität der europäischen Mächte um die Kolonien. 39 Vor allem die Häufigkeit militärischer Auseinandersetzungen auf dem europäischen Kontinent und insbesondere auf hoher See und der Konkurrenzkampf im Überseehandel zwischen den großen Schifffahrtsmächten 40 spornten Grotius an, sich mit der rechtlichen Ausgestaltung der Neutralität sowie dem Kriegs- und Seerecht zu befassen. 41 Darüber hinaus gelang es Grotius mit seinem Werk, die von Francisco de Vitoria begründete und von Francisco SWlrez weiterentwickelte Völkerrechtswissenschaft zu systematisieren: Nach Hartmut Schiedermair hat er "sich auf den Versuch beschränkt, die aus der menschlichen Natur oder aus göttlicher Anordnung folgenden Rechtssätze zum Wohle der Menschheit in umfassender Weise und in einer streng systematischen Ordnung zur Darstellung zu bringen. Was Grotius mit dem Naturrecht anstrebte, war nicht eine Philosophie, sondern ein System. Wer die menschliche Gesellschaft als eine dem Recht unterworfene Sozialordnung begreift und demgemäß politisch handeln will, kommt nicht ohne einen Kodex aus, in dem alle die Regeln des Naturrechts verzeichnet sind, auf dem diese Ordnung beruht."42
Sein berühmtes Werk "De jure belli ac pacis libri tres", in welchem er diese vom Naturrecht begründete Gemeinschaft souveräner Staaten beschreibt, machte ihn für Vgl. B. Kingsbury/A. Roberts, Grotian Thought in International Relations, S.1. Spanien, Portugal, England, Niederlande und Frankreich sind die großen Nationen der Seefahrt des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Jahr 1580 wird Portugal aufgrund des Aussterbens der Dynastie durch Personalunion mit Spanien vereinigt, kann sich jedoch 1640 von Spanien lösen und verbündet sich mit den Niederlanden. Dies ist der Beginn zahlreicher Auseinandersetzungen um die wirtschaftlich-politische Dominanz, die vor allem die internationalen Beziehungen im 17. und 18. Jahrhundert prägen; vgl. G. Reintanz, Hugo Grotius und seine Zeit- Ein datenmäßiger Überblick, in: Beiträge zum internationalen Seerecht, Hugo Grotius 1583-1645, hrsg. von: Gesellschaft für Seerecht der Deutschen Demokratischen Republik, Heft 7, 1983, S. 7-25, hier S. 7-9 und S. 22. 41 Nach Auffassung von Hugo Grotius ist das Seerecht Bestandteil des Völkerrechts. Der Bereich der Meere unterliegt keinem Besitzanspruch durch einen Staat oder ein Individuum, so daß das offene Meer für alle Staaten nutzbar ist. Lediglich auf Küstengebiete, Buchten und Meerengen können Staaten EigentumsanspTÜche erheben. Sofern keine vertraglichen Regelungen bestehen, findet das Naturrecht Anwendung. In diesem Sinne vertrat er als erster das Konzept der Freiheit der Meere, das auch die folgenden Jahrhunderte wesentlich beeinfiußte. Durch die radikale Veränderung der wesentlichen wirtschaftlich-technischen Grundvoraussetzungen, auf welchen dieses Prinzip basierte, kam es im 19. Jahrhundert zu einer Phase spürbar negativer Auswirkungen, insbesondere zur Schädigung der Fischbestände und Verschrnutzung der Meere durch Abfalle, Schadstoffeinleitungen und Ölbohrungen. Aufgabe im Rahmen der Arbeit der Vereinten Nationen und vor allem der Seerechtskonferenzen von 1958, 1960 und 1973-1982 war und ist bis heute der Schutz der Meere und die Regelung der Interessen der Staatengemeinschaft. Dazu G. Reintanz, Hugo Grotius und seine Zeit - Ein datenmäßiger Überblick, S.20 und S. 25; G. Glahn, Law Among Nations, S. 28; dazu auch 3. Teil, 4. Kap. 42 H. Schiedermair, Hugo Grotius und die Naturrechtsschule, in: Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Karl Carstens zum 70. Geburtstag am 14. Dezember 1984, hrsg. von Bodo Börner/Hermann JahrreißlKlaus Stern, Band 1: Europarecht. Völkerrecht, 1984, S.477-496, hier S.480-481. 39
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viele zum "Vater des Völkerrechts"43. Es ist jedoch anerkannt, daß seine systematischen und juristisch kommentierten Darstellungen bereits in der Antike und in der Scholastik - insbesondere von Thomas von Aquin, Vitoria und SU/:1rez - begründet wurden. 44 Für Ernst Reibstein ist er deshalb "der Fortsetzer der spanischen Juristen und Moraltheologen"45. Wie Suarez sah er im Naturrecht, das sich aus der Natur des Menschen ableitet,46 eine wesentliche Grundquelle des Völkerrechts. Im Unterschied zur spanischen Schule stellt Grotius dieses Naturrecht nicht nur als Grundlage des Völkerrechts, sondern als ein "System des natürlichen Völkerrechts"47 dar. Darüber hinaus anerkennt er gleichzeitig ein "ius gentium voluntarium" , welches sich als eine zweite Quelle des Völkerrechts in Form von in Verträgen ausgedrückten Willen der Staaten darstellt. 48 In diesem Sinne sieht Grotius Naturrecht und positives Recht als eigenständige Rechtsquellen, die er in seinem Völkerrechtssystem als sich ergänzende Komponenten vereint. 49 Diese Lehre ist wegweisend für das 17. und 18. Jahrhundert; denn nach der Zeit Grotius' teilt sich die Völkerrechtswissenschaft in verschiedene Richtungen auf: Mit der "reinen Naturrechtslehre" , dem "Rechtspositivismus" und den "Grotianern" 43 O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 73; P. Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts, in: Handbuch des Völkerrechts, hrsg. von Fritz Stier-Somlo, Band I: Grundbegriffe und Geschichte des Völkerrechts, erste Abteilung, 1912, S.I-IIO, hier S. 16-17; H. Schiedermair, Hugo Grotius und die Naturrechtsschule, S.486; E.Isay, Völkerrecht, 1924, S. 39; L. Oppenheim, Die Zukunft des Völkerrechts, in: Festschrift für Karl Binding zum 70. Geburtstag am 4. Juni 1911, Band 1, 1911, S.141-201, hier S.143; E. Reibstein, Völkerrecht- Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, S. 333. 44 Vgl. z. B. J. Schuster, Was versteht Franz Suarez unter jus gentium?, S.487. 45 E. Reibstein, Völkerrecht - Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, S.333; James Brown Scott bezeichnet Hugo Grotius sogar als "Nachzügler der Spanischen Schule, namentlich des Francisco de Vitoria"; zitiert in: E. Reibstein, Die Anfänge des neueren Naturund Völkerrechts, 1949, S. 14. Für andere ist Grotius der letzte Vertreter der Spanischen Schule, vgl. H. Bull, The Importance of Grotius in the Study of International Relations, S.65. 46 Vgl. L. Oppenheim, Die Zukunft des Völkerrechts, S.144-145. Francisco Suarez brachte dagegen den Ursprung des Naturrechts in Zusammenhang mit der Theologie. 47 A. Verdross, Völkerrecht, S. 100. Ernst Reibstein ist der Meinung, daß Hugo Grotius dieses naturrechtliche "ius gentium" als Weltrecht - als das "Recht der ganzen Menschheit" - angesehen hat und das positive Völkerrecht "ius gentium voluntarium" als Ergänzung und Korrektur deutete, das durch die Ausbreitung der Menschheit sowie durch die Ausgestaltung der "Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse" erforderlich wurde; siehe E. Reibstein, Völkerrecht- Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, S. 335. 48 Die naturrechtliche Lehre Hugo Grotius' und ihr Vergleich zur Spanischen Schule sind übersichtlich dargelegt in: E. B. Midgley, The naturallaw tradition and the theory of international relations, 1975, S. 69-93 und S.132-167; A. Verdross, Völkerrecht, S. 99-101. 49 Ein bedeutender Zeitgenosse Hugo Grotius', Richard Zouche (1590-1660), Richter und Professor an der Universität in Oxford, legte den Schwerpunkt seiner Lehre auf das positive Recht (voluntary law of nations), wenngleich er auch die Existenz des naturrechtlichen Teils des Völkerrechts (naturallaw of nations) nicht leugnete. Damit gilt auch er als Mitbegründer eines modemen Völkerrechts; vgl. L. Oppenheim, International Law, S. 90.
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entstehen drei gegensätzliche Lager. Die Vertreter der naturrechtlichen Lehre sehen das gesamte Völkerrecht als Bestandteil des Naturrechts an und verwehren allem positiven Recht, gleichgültig ob es als Vertrags- oder als Gewohnheitsrecht durch den Willen der Staaten gebildet wurde, jeglichen Rechtscharakter. Aus der damit verbundenen Verneinung der Existenz eines übergeordneten Gesetzgebers oder einer Sanktionsgewalt folgern einige Vertreter des Naturrechtsgedankens, daß das Völkerrecht kein zwischenstaatliches Rechtssystem sein kann. 50 Den Gegenpol zu dieser Auffassung vertreten die Anhänger des Positivismus. Für sie stellen Vertragsund Gewohnheitsrecht, die sich aufgrund des Willens und der Praxis der Staaten bilden, den grundlegenden Ursprung des Völkerrechts dar. In ihrer extremsten Ausprägung verleugnen sie sogar die Existenz eines aus der natürlichen Ordnung begründeten Völkerrechts. Die Nachfolger der Lehre Grotius stehen damit zwischen diesen beiden Völkerrechtsauffassungen und anerkennen sowohl naturrechtliches als auch positives Völkerrecht als gleichwertige Rechtsquellen des Völkerrechts. 51 In der Zeit der klassischen Völkerrechtswissenschaftler hat sich die Lehre vom Völkerrecht in bedeutendem Maß weiterentwickelt. Für Lassa Oppenheim wurde dies insbesondere durch drei Umstände beeintIußt: Dazu zählten neben dem Willen vieler Staaten nach dem Wiener Kongreß, die Regeln des Völkerrechts zu befolgen sowie dem Abschluß einer Vielzahl rechtserzeugender Verträge im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch das Aufsteigen der positivistischen Völkerrechtslehre bis hin zu seiner Einnahme einer vorherrschenden Stellung innerhalb der Völkerrechtswissenschaft. 52 Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts werden zwar die drei Schulen der Naturalisten, Grotianer und Positivisten noch vertreten, allerdings setzt sich letztere ganz allmählich durch, ohne jedoch allmächtig zu sein. 53 Dazu 3. Teil, 2. Kap. Vertreter der "reinen Naturrechtslehre" sind insbesondere Thomas Hobbes (1588-1679), Samuel Pufendorf(1632-1694, erster Inhaber der Grotius Professur in Heidelberg) und Christian Thomasius (1655-1728). Zur Schule des "Rechtspositivismus" gehören Alberico Gentili (1552-1608), Richard Zouche (1590-1660), Wolfgang Textor (1638-1701) und Cornelius van Bynkershoek (1673-1743), Johann Jakob Moser (1701-1785) und Georg Friedrich von Martens (1756-1821). Als Nachfolger der Lehre Hugo Grotius können v. a. Christian Wolff (1679-1754) sowie Emerich de Vattel (1714-1767) genannt werden. Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S.102-104; L. Oppenheim, Die Zukunft des Völkerrechts, S. 146-147; L. Oppenheim, International Law, S. 91-94, E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 25, G. Glahn, Law Among Nations, S. 27-28 und M. N. Shaw, International Law, S.23-26. Ausführliche Darstellungen der Völkerrechts lehren Wolffs und Vattels sind bei Ernst Reibstein und Ernest B. Midgley zu finden; Reibstein stellt auch die Völkerrechtsauffassung Pufendorfs dar, siehe E. Reibstein, Völkerrecht - Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, S.488-495, S. 502-508 und S. 571-609; E. B. Midgley, The natural law tradition and the theory of international relations, S. 175-195; Ausführungen zu Pufendorfund Wolff gibt auch W. Schiffer, The legal community ofmankind, 1954, S.49-96. 52 Vgl. L. Oppenheim, International Law, S. 101-102. 53 Lassa Oppenheim nennt die für ihn wichtigsten Vertreter des Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts, die jedoch in der einen oder anderen Form auch ein naturrechtlich begründetes Völkerrecht anerkannten: Georg Friedrich von Martens, Johann Ludwig Klüber, August 50 5!
2. Kap.: Die Grundlagen der internationalen Gemeinschaft
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Der Wiener Kongreß betonte die Idee einer Völkerrechts gemeinschaft und war bestrebt, durch die Pentarchie der Großmächte England, Frankreich, Preußen, Österreich und Rußland den Frieden in Europa und folglich auf der ganzen Welt zu garantieren. Der europäische Frieden konnte tatsächlich für viele Jahrzehnte grundsätzlich gesichert werden, jedoch vor allem auf Kosten der außereuropäischen Kolonialstaaten. 54 Trotz machtpolitischer Gegensätzlichkeiten wurde das 19. Jahrhundert auch geprägt durch gemeinsame Interessen der Mächtigsten und durch eine strukturierte Staatengemeinschaft. Ihre Rahmenbedingung waren die Industrielle Revolution, der Aufbau großer nationaler Armeen, die Förderung des zwischenstaatlichen Verkehrs, koloniales Expansionsstreben und die Betonung der staatlichen Souveränität. Letztere verhinderte die Bildung integrativer Staatenverbindungen - wohl aber führten diese Faktoren zur Gründung völkerrechtlicher und privater Institutionen, zur Bildung eines Netzwerks internationaler Beziehungen sowie zur Ausweitung des Völkerrechts, insbesondere in Form von Kodifikationen. 55 In dieser Hinsicht sind die wichtigsten Neuerungen im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere der Beginn einer modemen Schiedsgerichtsbarkeit 56 , die Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz 57 und die Bildung einiger technisch-wissenschaftlich ausgerichteter internationaler Organisationen, wie zum Beispiel die Telegraphen-Union und der Weltpostverein. Eine Fülle von Kollektivverträgen zur Vereinheitlichung des Rechts auf den Gebieten Kultur, Technik und Wirtschaft werden bis über die Jahrhundertwende hinaus abgeschlossen. 58 Darüber hinaus können Verhandlungserfolge und umfassende Kodifikationen vor allem auf den Gebieten des See-, Kriegs- und Neutralitätsrechts erzielt werden: Die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 59 , das Brüsseler Anti-Sklaverei-AbkomHeffter, Walter Phillimore, Carlos Francisco Calvo y Diaz, Pasquale Fiore, lohann Bluntschli, Travers Twiss, Henry Maine und lohn Westlake; vgl. L. Oppenheim, International Law, S. 102. 54 Das System der europäischen Mächte basierte auf dem Prinzip des "Mächtegleichgewichts": Erlangte einer der großen Staaten einen (territorialen) Machtzuwachs, so mußte dieser durch einen entsprechenden Machtzuwachs aller anderen Großmächte kompensiert werden. Dieser Mechanismus wurde durch das Vorhandensein und die Beherrschung von außereuropäischen Gebieten - bestehende und potentielle Kolonialstaaten in Afrika und Asien - ermöglicht; vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 77-78. 55 Vgl. M.N. Shaw, International Law, S. 26-27; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 77-81; E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 28-29. 56 Die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 beschäftigten sich mit der friedlichen Erledigung von Streitfällen und der Errichtung des Ständigen Schiedsgerichtshofs; dazu 3. Teil, 3. Kap. I. 2. 57 Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz wurde 1864 nach Schweizer Recht gegründet und hat seinen Sitz in Genf. Zur Organisation, zum Status und zu den Aufgaben siehe A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 253-254. 58 Beispiele sind: Pariser Konvention zum Schutz des gewerblichen Eigentums (1883), Berner Konvention zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (1886), Madrider Abkommen zur internationalen Registrierung von Fabrik- und Handelsmarken (1891), Berliner und Londoner Funktelegraphenvertrag (1806/1912). 59 Beginnend mit der Wirkungsperiode Hugo Grotius' wurde der Grundsatz der Freiheit der Meere in der Staatenpraxis ganz allmählich durch bilaterale Verträge und als Völkergewohn-
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2. Teil: Völkerrechtliche Grundlagen
men von 1890 und die bei den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 sind Beispiele für gemeinsame europäische Erfolge, die allerdings nicht über bleibende grundlegende nationale Differenzen in Abrüstungs- und Seerechtsfragen hinwegtäuschen dürfen. 60 Diese deutliche Ausweitung von Institutionen, Verträgen, Kongressen und Konventionen kann auch in direktem Zusammenhang mit der zunehmenden Dominanz des Positivismus in der europäischen Völkerrechtslehre gebracht werden; denn diese Rechtsauffassung hatte sich in Kontinentaleuropa am Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt: Der kontinuierliche Machtzuwachs der Einzelstaaten und die verstärkte Ausgestaltung der innerstaatlichen Gesetzgebung verfestigten die Idee, daß Gesetze als Anordnungen der herrschenden Gewalt 61 zu befolgen sind. Andere Rechtsquellen werden aufgrund der staatlichen Souveränität nicht anerkannt. Genauso, wie im innerstaatlichen Bereich nur die Staatsgewalt die Geltung der Gesetze erzeugen kann, schien für das Völkerrecht nur der Wille des souveränen Staates verbindliche Rechtsnormen schaffen zu können. Die Vertreter des Rechtspositivismus ließen demnach dem Staat zwei grundsätzliche Aufgaben zukommen: Er kann nationale Vorschriften schaffen und als Vertreter des nationalen Willens auch Völkerrechtsregeln erzeugen. Deren Geltungsdauer liegt im Machtbereich des Einzelstaates, der jederzeit über seinen "Willen" neu entscheiden kann. Gleichzeitig wurde mit der Übertragung des nationalen Machtprinzips auf die internationale Sphäre das Fehlen einer überstaatlichen Autorität offenkundig. 62 Insbesondere eine Reihe von Zeitgenossen und Nachfolger Georg W F Hegels 63 verneinen aufgrund dieser Tatsache die mögliche Existenz eines selbständig wirksamen Völkerrechts, weil sie eine über den Staaten stehende souveräne Institution weder erkennen noch akzeptieren konnten. 64 Demgegenüber anerkennt die anglo-amerikanische Völkerrechts lehre zur damaligen Zeit sowohl den positivistischen als auch den naturrechtlichen Ursprung des heitsrecht anerkannt, andere grundlegende Punkte des Seerechts, so z.B. Fragen zur Seekriegsführung, bleiben auch im 19. Jahrhundert ohne gemeinsamen Konsens. In der Pariser Seerechtsdeklaration einigt man sich z. B. auf das Verbot der Kaperei; vgl. E. MenzellK./psen, Völkerrecht, S. 30; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 724-725. 60 Vgl. E. MenzellK. /psen, Völkerrecht, S.30-32; M. N. Shaw, International Law, S.27. 61 Für Georg Jellinek ist die Macht des Herrschers "unwiderstehliche Gewalt". In seiner "Allgemeinen Staatslehre" schreibt er: "Herrschen heißt unbedingt befehlen und Erfüllungszwang üben können. Jeder Macht kann sich der Unterworfene entziehen, nur der Herrschaftsmacht nicht. Jeder andere Verband kann ausstoßen, der herrschende Verband kann aus ursprünglicher Macht im Verbande festhalten .... Die mit solcher Macht ausgerüstete Gewalt ist Herrschergewalt und damit Staatsgewalt. Herrschen ist das Kriterium, das die Staatsgewalt von allen anderen Gewalten unterscheidet." G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1914 (5. vermehrter Neudruck 1929), S. 429 und S. 430. Zum Widerspruch von Freiheit und Herrschaft siehe K.A. Schachtschneider, Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994, S. 71-158 (im folgenden zitiert: Res publica res populi). 62 Vgl. M.N. Shaw, International Law, S.27. 63 Dazu 3. Teil, 2. Kap. und 4. Teil, 4. Kap. I. 64 Dazu 3. Teil, 2. Kap.
2. Kap.: Die Grundlagen der internationalen Gemeinschaft
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Völkerrechts und die Staatenpraxis handelt - in Anlehnung an William Blackstone - nach dem Grundsatz "internationallaw is part of the law of the land"65. Sowohl die Diskussionen der positivistisch geprägten Völkerrechts lehre zur Rechtsnatur, Erzeugung und Organisation des Völkerrechts als auch der zahlenmäßige Anstieg internationaler Vereinbarungen, Regeln und Bräuche entfachte die Frage nach der Beziehung von Völkerrecht und staatlichem Recht. Als Folge dieser wissenschaftlichen Debatte der damaligen Zeit traten zwei grundsätzlich verschiedene Völkerrechtsschulen hervor. Ziel der Rechtslehre dieser Zeit schien es zu sein, einen strukturellen Rahmen zur Einordnung der beiden Rechtsbereiche zu erarbeiten, um auch der völkerrechtlichen Staatenpraxis Anhaltspunkte zur Behandlung praxisrelevanter Einzelprobleme geben zu können. Nach der Lehre vom Dualismus sind staatliches Recht und Völkerrecht zwei voneinander getrennte Rechtsordnungen, nach der Lehre vom Monismus sind beide Systeme Teil einer einheitlichen Rechtsordnung mit einem gemeinsamen Ursprung. 66 Kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts begründet Heinrich Triepel in seinem einflußreichen Werk "Völkerrecht und Landesrecht"67 einen strengen Dualismus, der die gesamte Völkerrechtswissenschaft nachhaltig beeinflussen sollte. Triepel entwickelte den Begriff des "Gemein willens " , der durch die gewollte Übereinkunft der Einzelstaaten verbindliches Völkerrecht entstehen läßt, der gleichzeitig den Einzelwillen übergeordnet ist und von dem sich der Staat nicht einfach loslösen kann. Mit einer solchen Konzeption strebte er aus seiner positivistischen Perspektive heraus an, einerseits staatliche Souveränität und ein eigenständig geltendes Völkerrechtssystem zu vereinbaren und andererseits das staatliche Rechtssystem vom System des Völkerrechts zu trennen. 68 III. Das modeme Völkerrecht Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs markierte den Abschluß eines dynamischoptimistischen Jahrhunderts, das zu seinem Ende von der Überzeugung am unaufhaltsamen technischen und wirtschaftlichen Fortschritt dominiert und von einem florierenden internationalen Handel geprägt wurde. Einflußreich war weiterhin die Einigung Deutschlands und Preußens: Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 und die ausgeschöpften kolonialen Expansionspotentiale störten das Mächtegleichgewicht und die gemeinsamen Interessen der europäischen Staaten. Gleichermaßen zeichnete sich durch den Krieg als gewaltigen Einschnitt in die Weltgeschichte auch 65 W. Blackstone, Commentaries on the laws of England, Book IV, 1769, S.67. Anhänger dieser Lehre gehen davon aus, daß völkerrechtliche Regeln Teilbereich des nationalen Rechts sind. In der Völkerrechtslehre wird diese These als Adoptions- oder Inkorporationslehre bezeichnet; dazu 5. Teil, 2. Kap. I. 66 Dazu 4. Teil. 67 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899. 68 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I.
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2. Teil: Völkerrechtliche Grundlagen
das Ende des klassischen Völkerrechts ab. 69 Bisher wurde der staatlichen Souveränität zentrale Bedeutung beigemessen und das aus ihr resultierende Prinzip "ius ad bellum" räumte den souveränen Staaten das Recht ein, frei über einen Krieg zu entscheiden. Ganz allmählich kam es zu einer inhaltlichen Veränderung des Prinzips der Staatensouveränität, indem die Souveränität "nicht mehr im Sinne einer Herrschaft über das Recht"70 verstanden wurde. Es setzte sich die Auffassung durch, daß die Souveränität keine unbeschränkbare Gewalt sei und sich damit auch der souveräne Staat den Regeln des Völkerrechts zu unterwerfen habe. 7! Der Erste Weltkrieg gab den Anstoß zur Umwandlung der auf Staaten souveränität und europäischer Vorherrschaft basierenden internationalen Ordnung. Die bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurückgehende Bedeutung der europäischen Staaten führte durch den erneuten Einbezug außereuropäischer Nationen und Kriegsgebiete im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu einem endgültigen Verlust der Vormachtstellung Europas. 72 Eine erste Veränderung nach Beendigung des Ersten Weltkriegs und der erste Schritt auf dem Weg zum modemen Völkerrecht stellte die Gründung des Völkerbundes 73 dar. Diese neue Einrichtung - deren vollständige Entfaltung zwar durch das Fernbleiben der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gehemmt wurde - regte erstmals an, Streitfälle friedlich zu erledigen und bestimmte in seiner Satzung, daß ein Krieg nunmehr auch Angelegenheit des Völkerbundes sei, wodurch das Recht der Staaten zum Angriffskrieg verneint wurde. 74 Langsam wurden sich die Staaten bewußt, daß ihre gemeinschaftliche Struktur und der gegenwärtige Bestand an Rechtsanschauungen den rasanten und weltumgreifenden Veränderungen nicht gerecht werden konnte und neue Institutionen zur friedlichen Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen notwendig waren. 75 Der Völkerbund und der 1920 gegründete Ständige Internationale Gerichtshoe 6 waren wichtige Neuerungen nach dem Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 79-81. U. Scheuner, Fünfzig Jahre Völkerrecht, in: U. Scheuner, Schriften zum Völkerrecht, hrsg. von Christian Tomuschat, 1984, S. 213-246, hier S. 228. 7! E. Menzel beschreibt diesen Souveränitätswandel mit dem Ausspruch "von der Souveränität zur Permeabilität des Staates", zitiert in: O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.107. 72 Vgl. U. Scheuner, Die Entwicklung des Völkerrechts im 20. Jahrhundert, in: U. Scheuner, Schriften zum Völkerrecht, hrsg. von Christian Tomuschat, 1984, S.185- 212, hier S.185. 73 Der Völkerbund ("League of nations", "societe des nations") wurde 1919 im Rahmen des Friedensvertrages von Versailles gegründet und hatte seinen Sitz in Genf. 1920 errichtete er den Ständigen Internationalen Gerichtshof. Zum Völkerbund siehe H. Neuhold, Der Wandel im System der internationalen Beziehungen, in: Österreichische Zeitschrift für Außenpolitik, 15. Jg. (1975), Nr. 6, S. 327-356, hier S. 333-334. 74 Vgl. Präambel und Art. 11 der Satzung des Völkerbundes. 75 Vgl. M.N. Shaw, International Law, S.29. 76 Der Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH) wurde auf der Grundlage der Völkerbundsatzung als selbständiges Organ zur Streiterledigung auf völkerrechtlicher Ebene errichtet. Art. 12 der Völkerbundsatzung verpflichtete die Mitgliedstaaten, aufkommende Konflikte einem Schiedsgericht, einem Gericht oder dem Völkerbundrat und der -versammlung vorzulegen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde dieser Gerichtshof offiziell aufgelöst; sein 69
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2. Kap.: Die Grundlagen der internationalen Gemeinschaft
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Ersten Weltkrieg, die eine gute Grundlagenarbeit für die Entwicklung des Völkerrechts leisteten. Mit dem Abschluß des Briand-Kellogg-Paktes 1928 kam es zu einer Ausweitung des Kriegsverbots: 77 Die Vertragsstaaten verpflichteten sich zur friedlichen Streitbeilegung und zum Verzicht auf den Einsatz kriegerischer Mittel. 78 Das Trauma des Zweiten Weltkriegs unterbrach den beginnenden Aufbau einer modemen Völkerrechtsordnung. Doch der Krieg war gleichermaßen Antriebskraft für die Staaten zur Fortführung der angefangenen Neuorientierung. Die Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 nimmt dabei einen zentralen Stellenwert ein. 79 Als Sitz wurde New York ausgewählt, was auch als Zeichen der vollzogenen Machtverschiebung gewertet werden kann. Mit den Vereinten Nationen entstand eine Organisation, die den Schutz des Weltfriedens, die Förderung der internationalen Zusammenarbeit, die souveräne Gleichheit der Staaten sowie die Festigung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker zum Ziel hat. Die Vereinbarung des grundsätzlichen Gewaltverbots 80 ist dabei als ein wesentlicher Grundsatz der Vereinten Nationen und als konsequente Fortsetzung des Kriegsverbots der Völkerbundära anzuerkennen. In diesem Zusammenhang spielen ihre Organe und Ausschüsse mittlerweile eine Hauptrolle bei der Lösung internationaler Krisen und langwieriger Konflikte. Mit der Schaffung des Internationalen Gerichtshofs als Organ der UNO konnte ein weiterer Schritt hin zur Institutionalisierung der Streitschlichtungsverfahren und Rechtsdurchsetzung im Völkerrecht gemacht werden. Neben ihrer Rolle als Friedensstifter haben sich die Vereinten Nationen auch für die Integration junger Staaten in die internationale Gemeinschaft eingesetzt und die wirtschaftliche sowie technische Zusammenarbeit zwischen Nationen und KulNachfolger ist der in der UN -Charta verankerte Internationale Gerichtshof (lGH); dazu 3. Teil, 3. Kap. I. 3. Zur Entstehung und Organisation des Völkerbundes siehe A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 66-68. 77 Der Briand-Kellogg-Pakt wurde als Pakt von Paris von über 60 Staaten, also der Mehrzahl der Staaten der Völkerbundära, unterzeichnet und trat am 24. Juli 1929 in Kraft. In diesem Zusammenhang wird die Ansicht vertreten, daß zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs das Kriegsverbot Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts geworden war; vgl. O. Kimminieh, Einführung in das Völkerrecht, S. 90. 78 Das Recht der Staaten zur Selbstverteidigung im Angriffsfall sowie die Beteiligung an Sanktions- und Verhaltensmaßnahmen im Sinne der Völkerbundsatzung blieb weiterhin bestehen; ein Angriffskrieg zur Rechtsdurchsetzung wird jedoch erstmals verboten; vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 89-90; U. Scheuner, Die Entwicklung des Völkerrechts im 20. Jahrhundert, S. 191; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 68. 79 Die "Charter of the United Nations" wurde am 25.06.1945 während der Gründungskonferenz in San Francisco einstimmig angenommen. Nach deren Unterzeichnung durch 51 Staaten trat sie am 24.10.1945 in Kraft. Heute hat die UNO 185 Mitglieder. Zur Entstehung der UNO siehe A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 69-72. 80 Vgl. Art. 2 N r. 4 Charta der Vereinten Nationen. Dieses wesentliche Prinzip des heutigen modemen Völkerrechts stellt den völligen Gegensatz zum "ius ad bell um" des klassischen Völkerrechts dar. Ein völkerrechtliches Gewaltverbot forderte bereits Kant; siehe Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.466-471; Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, 1795/1796, in: Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedei, Band 9,5. Nachdruck 1983, S. 191-251, hier S. 212-213. 3 Amrhein·Hofmann
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2. Teil: Völkerrechtliche Grundlagen
turgruppen unterstützt. In der Tat läßt sich damit eine Tendenz zur Ausdehnung des Aufgabenspektrums und Wirkungsbereichs der internationalen Rechtsordnung der Vereinten Nationen erkennen. 81 Trotz alldem zeigen sich im Rahmen der Tätigkeit der Vereinten Nationen Problemkreise, an denen es zu arbeiten gilt: Die Durchsetzung einer funktionierenden Kriegsverhütung, der Ausbau einer effizienten Gerichtsbarkeit, wie auch die Fortentwicklung aller anderen Bereiche des Völkerrechts der UN-Ära gehören zu den Herausforderungen des modemen Völkerrechts. Insbesondere die Diskrepanz zwischen dem bestehenden Gewaltverbot und der Unfähigkeit der realen Sicherung des Friedens stellt ein zentrales Problem der Staatengemeinschaft der heutigen Zeit dar. 82 In der Tat gibt es seit 1945 ständig wechselnde - jedoch lokal begrenzte - Krisenherde auf der ganzen Welt: Kampfhandlungen, zum Beispiel in Korea, Vietnam, Indonesien, Algerien, Palästina und Jugoslawien, erschüttern immer wieder das Prinzip der kollektiven Sicherheit. 83 Der Beginn der Epoche des modemen Völkerrechts ging einher mit der räumlichkulturellen Expansion der Völkerrechtsordnung. Obwohl bereits seit dem 19. Jahrhundert die Türkei, China und Japan in die Staatengemeinschaft aufgenommen worden waren, dominierte die europäische Rechtsanschauung, welche durch koloniale Abhängigkeiten einen großen Teil der Erde beeinflußte. Der nach den beiden Weltkriegen einsetzende Prozeß der Dekolonialisierung hatte die Entstehung einer großen Zahl neuer Staaten in Asien und Afrika zur Folge. Ihre Integration in die Völkergemeinschaft als gleichwertige Partner verlief nicht ohne Schwierigkeiten; denn im Vergleich zu den christlich-abendländischen Nationen hatten die noch jungen Staaten sowohl andersartige kulturelle Ursprünge und Wertvorstellungen als auch nicht die Erfahrungen einer eigenen jahrhundertealten Entwicklungsgeschichte. 84 Anders als das klassische Völkerrecht bildete sich das modeme Völkerrecht durch diese horizontale Expansion zu einer globalen Ordnung heraus, die auf der Gemeinschaft heterogener Staaten basiert. Verstärkt wurde diese Entwicklung der Nach81 Vgl. U. Scheuner, Fünfzig Jahre Völkerrecht, S. 215; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 93-99. 82 Kritikpunkte an der Charta der Vereinten Nationen aus der Sicht der Zeit Hugo Grotius' führt Rosalyn Higgins in ihrem Aufsatz "Grotius and the Development of International Law in the United Nations Period" aus. Gleichzeitig versucht Higgins eine Verbindung zwischen dem Recht der Vereinten Nationen und der Völkerrechtsauffassung Grotius' herzustellen; vgl. R. Higgins, Grotius and the Development ofinternational Law in the United Nations Period, in: Hugo Grotius and International Relations, hrsg. von Hedley Bull/Benedict Kingsbury/Adam Roberts, 1990, S. 267-280; siehe dazu auch B. Kingsbury/A. Roberts, Grotian Thought in International Relations, S. 1-64. 83 VgI.E. Menzel/K./psen, Völkerrecht,S.35; U. Scheuner,FünfzigJahre Völkerrecht,S.215. 84 Vgl. U. Scheuner, Völkerrecht, in: U. Scheuner, Schriften zum Völkerrecht, hrsg. von Christi an Tomuschat, 1984, S. 159-168, hier S.167. Zu bemerken ist, daß die neuen Nationen selbst keine homogene Gruppe darstellen. Staaten mit reichen Ölvorkommen oder anderen natürlichen Ressourcen integrierten sich auf eine andere Weise in die Staatengemeinschaft als Nationen ohne solche Faktoren. Darüber hinaus sind Staaten mit einer Grenze hin zum Meer von landumschlossenen Staaten zu unterscheiden; vgl. M. N. Shaw, International Law, S.39.
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kriegs zeit durch die Manifestierung unterschiedlicher ideologischer Auffassungen zwischen Ost und West. 85 In der jüngeren Vergangenheit konnte man durch das Ende des Kalten Krieges eine beginnende russisch-amerikanische Kooperation erkennen. Trotzdem wird das Streben zur internationalen Zusammenarbeit und der Bildung einer universalen Struktur der Völkerrechtsordnung weiterhin durch gegenläufige Strömungen beeinflußt: Insbesondere die - in ihrer eigenen Entwicklung noch jungen - Staaten der Dritten Welt und die durch den Sozialismus geprägten Nationen pochen auf ihre staatliche Unabhängigkeit und geben der zusammenrükkenden internationalen Gemeinschaft nur eine eher zurückhaltende Unterstützung. Besonders bei den Regelungsbereichen Menschenrechte sowie internationales Umwelt-, See- und Wirtschaftsrecht dominiert bei diesen Staaten der Gedanke des Vorrangs staatlicher Souveränität vor gemeinschaftlicher Zusammenarbeit. 86 Insbesondere den ehemaligen Kolonialstaaten in Afrika und Asien fallt es nicht leicht, sich mit den in der Völkerrechtsgeschichte herausgebildeten Prinzipien zu identifizieren und in einer wesentlich kürzeren Zeit als die europäischen Staaten die Erkenntnis und Bereitschaft zu entwickeln, ihre staatliche Souveränität einzuschränken. 87 Mit dem Ende des Kolonialismus, der Erweiterung der Staatengemeinschaft über die ganze Welt und der allmählichen Durchbrechung der staatlichen Souveränität bahnte sich im 20. Jahrhundert eine umfassende - mitunter auch krisenanfallige - Neugestaltung an. Die UN-Charta, welche in der Literatur als "Verfassung der universellen Staatengemeinschaft"88 bezeichnet wird, gilt als beste Ausgangsbasis für einen möglichen Wandel vom Grundsatz der "friedlichen Koexistenz" zu einem Völkerrecht der Kooperation, welches die Grundtendenz zur Ausweitung und Intensivierung der Völkerrechtsnormen aufzeigt. 89 Verfestigt wird diese Tendenz auch in der jüngeren Völkerrechtshistorie: Wurde seit dem 17. Jahrhundert das Bild der internationalen Ordnung immer stärker von den Staaten bestimmt, so erreichen heute auch Individuen und Gruppen zunehmen85 Die Teilung der Weltgesellschaft in Staatenblöcke hatte allerdings keine tatsächliche Spaltung der Völkerrechtsordnung zur Folge; einige Völkerrechtswissenschaftler sprachen dennoch von einem" westlichen" und einem "sozialistischen" Völkerrecht. In jedem Falle kam es zur Auslegung der Völkerrechtsregeln im Sinne der Anschauungen der kommunistischen Staatengruppen. Mit dem Abklingen des Kalten Krieges und der deutlichen Annäherung der Staatenblöcke schwanden die Befürchtungen um den Verlust der Einheit des Völkerrechts; vgl. M. N. Shaw, International Law, S.30-36; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.99-105; U. Scheuner, Völkerrecht, S. 167. Zu den Ansichten der durch den Kommunismus geprägten Völkerrechtswissenschaft und deren Entwicklung siehe M. N. Shaw, International Law, S. 30-36. 86 Vgl. E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S. 37. 87 Vgl. U. Scheuner, lus gentium and the Present Development of International Law, in: U. Scheuner, Schriften zum Völkerrecht, hrsg. von Christian Tomuschat, 1984, S. 169-183, hier S.I72. 88 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. VII-VIII. 89 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.41-46; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 108-115. 3*
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de völkerrechtliche Bedeutung. Dies kommt nicht nur in den Anstrengungen internationaler Institutionen um den Schutz der Menschenrechte 90 zum Ausdruck, sondern auch in der Gewährung des Zugangs zu internationalen Organisationen und Gerichten für nichtstaatliche Organisationen und Individuen. 91 Damit sind erste Ansätze für den Durchbruch des Prinzips der "Mediatisierung der Menschen"92 durch die Staaten im Rahmen der Völkerrechtsordnung zu erkennen. Wie stark von dieser vertikalen Expansion her ein Impuls zu einer neuen Konzeption des Völkerrechts ausgehen wird und ob sich damit ein Schritt hin zu einer Weltrechtsentwicklung vollzieht, bleibt abzuwarten. 90 Die von der Menschenrechtskommission ausgearbeitete "Universal Declaration of Human Rights" wurde am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen. Zunächst wurde ihr keine Rechtsverbindlichkeit beigemessen; denn ein Setzen allgemeiner Normen durch die Generalversammlung ist nicht möglich. Wohl aber gilt sie als gemeinsam anzustrebendes Ziel, das mittlerweile aufgrund zahlreicher internationaler Proklamationen und staatlicher Akte völkerrechtlich verbindlich geworden ist; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 822-823 und S. 405-412; K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, 2. Aufl., 2000, S. 40-42 und S. 115-116. Für den Bereich des partikulären Völkerrechts schafft die "Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950" für Individuen die rechtliche Voraussetzung, sich auf dem Weg der Anrufung der Europäischen Kommission für Menschenrechte über eine Verletzung eines in der Konvention anerkannten Rechts durch einen Vertragsstaat zu beschweren; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.255-260; E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S. 3; Th.Oppermann, Europarecht, S.40-58. 91 Im Zusammenhang mit diesen neuen Tendenzen des Völkerrechts ist der Europäische Gerichtshof zu nennen, der unter bestimmten Voraussetzungen neben den Mitgliedstaaten auch Individuen den Zugang zur Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften öffnet; vgl. Art. 230 und 232 EGV (n. F.). Ein weiteres Beispiel dafür ist die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs in Rom vom 15.-17. Juli 1998. Während der Internationale Gerichtshof in Den Haag ausschließlich Fälle zwischen Staaten behandelt, soll dieser neugegründete Strafgerichtshof im Rahmen der Verfolgung und Unterdrückung internationaler Straftaten auch Individuen miteinbeziehen; dazu 3. Teil, 3. Kap. 1.3. Mit der Beendigung der beiden Weltkriege gab es zunehmend Schiedsgerichte oder Vergleichskommissionen, die Individuen eine Prozeßbefugnis einräumten; vgl. U. Scheuner, Die Entwicklung des Völkerrechts im 20. Jahrhundert, S. 194. Im gegenwärtigen Völkerrecht werden Individuen nur in Einzelfallen und im begrenzten Rahmen begünstigt oder verpflichtet und ihnen darüber hinaus keine generellen subjektiven Rechte eingeräumt; d. h., eine generelle Völkerrechtssubjektivität wird zur Zeit verneint. Zur völkerrechtlichen Verpflichtung von Einzelmenschen siehe A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 260-267. Neben den Individuen beeinflußte die zunehmende Zahl an nichthoheitlichen Organisationen in den letzten Jahrzehnten zunehmend das Völkerrecht, ohne jedoch unmittelbar Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein. Zu dieser Gruppe zählen nichtstaatliche internationale Organisationen (z. B. Greenpeace, Amnesty International, Internationales Olympisches Komitee), multinationale Unternehmen, internationale Arbeitgeberund Arbeitnehmerorganisationen u. a.; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.251 undS.268-272. 92 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.39. Mit der Entwicklung des Völkerrechts als zwischenstaatliches Recht und insbesondere mit dem Aufkommen des Dualismus setzte sich der Gedanke durch, daß die Staatsangehörigen der Staatsgewalt untergeordnet und die Staaten an die Regeln des Völkerrechts gebunden sind. Verbunden damit war die Folgerung, daß der Einzelne nicht unmittelbar durch das Völkerrecht, höchstens durch einen Zwischenschritt über die staatliche Rechtsordnung, berechtigt oder verpflichtet werden kann.
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In wesentlich größerer Ausdehnung vollzog sich der Eintritt der internationalen Organisationen ins Völkerrecht. Mittlerweile ziehen sie neben den Staaten einen wachsenden Anteil des Völkerrechts verkehrs an sich und sind berechtigt, völkerrechtliche Verträge abzuschließen und internationale Normen zu setzen. Obwohl immer mehr über die Staatsgrenzen hinaus eine Beziehung zwischen Individuen und internationalen Organisationen hergestellt wird 93 , besteht die besondere Stellung der Staaten auch weiterhin, die vor allem von den neuentstandenen Nationen im Sinne der "souveränen Gleichheit"94 betont wird: Als grundlegender Bestandteil der Völkerrechts gemeinschaft, als Inhaber der Gebietshoheit und als Berechtigter zur Selbstbestimmung und -verteidigung. Neben der universellen UNO stellen die Europäischen Gemeinschaften gegenwärtig wichtige Staatenverbindungen dar, deren Normen partikuläres, d. h. nur für die Mitgliedstaaten geltendes Recht bilden. 95 Einerseits übernehmen diese Vereinigungen in ihrem Grundsatz die Aufgabe der Friedenssicherung ergänzend zur universellen UNO und befassen sich mit dem Schutz der Menschenrechte. 96 Ihr wesentliches Ziel ist darüber hinaus die Zusammenarbeit im Rahmen klar definierter Einzelgebiete, vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Umweltschutz, Beschäftigung und soziale Sicherheit. Mit den Verträgen über die Europäische Union von Maastricht, Amsterdam und Nizza - unterzeichnet in den Jahren 1992, 1997 und 2000 - drückten die Mitgliedstaaten 97 ihren Willen 93 Dazu auch U. Scheuner, Fünfzig Jahre Völkerrecht, S. 230 und S. 244. Ulrich Scheuner stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Ausbau regionaler Staatenverbindungen ein Schritt hin zur "Dekomposition der allgemeinen Völkerrechtsordnung" (S. 244) sein könnte. 94 Art. 2 Nr. I Charta der Vereinten Nationen. 95 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 597 und O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 231 und S. 512-513. Verbunden mit den Besonderheiten dieser Staatenverbindungen stellt sich die Frage nach der Art des Rechtscharakters des Europäischen Gemeinschaftsrechts; siehe dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 11.3. 96 Die auf Unionsebene geltenden Grundrechte wurden mit ihrer Proklamation am 7. Dezember 2000 erstmals umfassend schriftlich niedergelegt. Vorerst wird die Charta der Grundrechte nicht in die EU-Verträge übernommen, auch wenn dies für einige Mitgliedstaaten Ziel zukünftiger Vertragsdebatten ist; vgl. P. Hort, Ein Dekorationsstück im Schaufenster- Die EU proklamiert die Grundrechte-Charta, in: FAZ vom 08.12.2000, S. 3; M. Stabenow, In Straßburg richten sich die Hoffnungen jetzt auf 2004, in: FAZ vom 13.12.2000, S. 2; M. Hilf, Die Parlamente in einer zentralen Position, in: FAZ vom 06.12.2000, S.ll. Kritisch dazu K.A. Schachtschneider, Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 52, 2000, S. 13-21; siehe auch eh. Tomuschat, Manche Rechte bedürfen der Konkretisierung - Stärken und Schwächen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: FAZ vom 07.08.2000, S.13. 97 Die Zahl der Mitglieder erhöhte sich kontinuierlich: Gründungsmitglieder der EGKS, EAG und EG waren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Spätere Beitritte erfolgten durch Großbritannien, Irland und Dänemark (1973), Griechenland (1981) sowie Spanien und Portugal (1986). Seit 1995 gehören auch Österreich, Finnland und Schweden der Europäischen Union an. Derzeit wird über eine erneute EU-Erweiterung mit den potentiellen Aufnahmekandidaten Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Türkei, Ungarn und Zypern verhandelt. Darüber hinaus bewerben sich auch Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien und die Slowakei um eine Mitgliedschaft; siehe dazu H. Bünder/M. Stabenow, "Wir dürfen keinen der Kandidaten verlieren", in: FAZ vom 14.06.2000, S. 10.
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2. Teil: Völkerrechtliche Grundlagen
aus, die europäische Integration weiter zu verfestigen. Der Vertrag von Maastricht nahm insbesondere den Aufbau einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres und die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion in den Ziel- und Aufgabenkatalog auf. 98 Die Verhandlungen über den Vertrag von Amsterdam 99 waren darauf gerichtet, die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, welche für die künftigen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Globalisierung der Wirtschaft und ihrer Auswirkungen - insbesondere bezüglich Beschäftigung, internationaler Kriminalität, Terrorismus und Drogenhandel sowie ökologischer Ungleichgewichte - notwendig sind. Wesentliche Neuerungen betreffen institutionelle Reformen der Europäischen Union, die Stärkung des Grundrechtsschutzes im Rahmen verschiedener Vorschriften 100, die Erweiterung des Begriffs der Unionsbürgerschaft lOl sowie die Ausweitung der Handlungsfähigkeit in den Bereichen Justiz und Inneres 102 und der gemein98 Der "Vertrag über die Europäische Union" wurde am 7. Februar 1992 in Maastricht unterzeichnet und ist nach Ratifikation der 12 Mitgliedstaaten am 1. November 1993 in Kraft getreten. Dieser im Rahmen eines mehrphasigen Verfahrens abgeschlossene Vertrag führt als "gemeinsames Dach" über die drei Europäischen Gemeinschaften die "Europäische Union" ein. Art. M EUV (a. E) stellt dabei ausdrücklich fest, daß die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften weiterbestehen. Unter diesem Dach wurde die Rolle der EWG, die in Europäische Gemeinschaft umbenannt wurde, gestärkt: Einführung einer Unionsbürgerschaft (Art. 8 bis 8 e EGV (a. E», Festschreibung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 3 b EGV (a. E», Erweiterung der Zuständigkeiten der EG (Art. 3 EGV (a. E», Regelungen zur Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 3 a EGV (a. E» etc. Weitere wesentliche Änderungen der Gründungsverträge betrafen den verstärkten Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Rat und die Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments. Als wesentlichste Säule der Europäischen Union geIten die Gründungsverträge von EG, EAG und EGKS (Art.A Abs. 3 EUV (a. E». Als ihre zweite Säule wird eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Art.J EUV (a. E» eingeführt, die dritte Säule bildet die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (Art.K EUV (a.E». Für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union hatte sich die Bundesrepublik Deutschland bisher auf Art. 24 Abs. I GG gestützt. Mit dem Abschluß des Vertrages von Maastricht haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, weitere Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen. Der neu in das Grundgesetz eingefügte Art. 23 regelt als lex specialis die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union. Die vorwiegende Literaturmeinung und auch der EuGH sehen die Gemeinschaftsverträge als Verfassung der Gemeinschaft der europäischen Staaten an. Von dieser Auffassung hat sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Urteils von Maastricht distanziert; vgl. G. Nicolaysen, Europarecht I, Band I, 1991, S. 30; A. Bleckmann, Europarecht, 5. Aufl., 1990, S.122; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, 4. Auflage, 1993, S.16; EuGH Sig. 1991,1-6079 (1-6102); BVerfGE 22, 293 (296); BVerfGE 89, 155 (183 ff.); dazu auch K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.100-104. 99 Der "Vertrag von Amsterdam" ist das Ergebnis zweijähriger Verhandlungen im Rahmen einer Konferenz der Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten. Er wurde am 2. Oktober 1997 unterzeichnet und trat am 1. Mai 1999 in Kraft, nachdem die fünfzehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihn gemäß ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert hatten. 100 Vgl. Art. 2, Art. 3 Abs.2, Art. 13,Art.137 und Art. 286 EGV (n.E) sowie Art. 6 EUV (n.E). 101 Vgl. Art. 2 und Art. 17-22 EGV (n.E). 102 Vgl. Art. 29-42 EUV (n.E).
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samen Umwelt-, Außen- und Sicherheitspolitik lO3 • Wesentliche Änderungen des Vertrages von Nizza 104 sind nicht nur die Revision der Zusammensetzung der Organe - insbesondere die Neugewichtung der Stimmen im Ministerrat und Parlament - und des Rechtsprechungssystems der Europäischen Union, sondern auch die Ausdehnung des Beschlußfassungsprozesses mit qualifizierter Mehrheit. 105 Als eine der jüngsten der internationalen Organisationen wurde die World Trade Organization (WTO) als Ergebnis der achten Welthandelsrunde im Rahmen des GATT I06 gegründet. Das Übereinkommen zur Errichtung einer Welthandelsorganisation trat am 1. Januar 1995 in Kraft. 107 Ziel dieser "Uruguay-Runde" war die Schaffung einer funktionsfahigen und institutionalisierten Weltwirtschaftsrechtsordnung. 108 Ihre wesentlichen Bestandteile sind der revisionierte Vertragstext des Vgl. Art. 2 EGV (n.F.) und Art. 11-28 EUV (n.F.). Dieser Vertrag wurde am 26. Februar 200 1 von den Außenministern der Mitgliedstaaten in Nizza unterzeichnet, weil dort die Regierungskonferenz am 11. Dezember 2000 die Verhandlungen zur Reform des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften abschloß. Nach Maastricht und Amsterdam ist Nizza der dritte Unterzeichnungsort, der namensgebend für eine Änderung der Gemeinschaftsverträge ist. 105 Vgl. H. Bünder, Ein politischer Komprorniß mit vielen Ungereimtheiten - Die Ergebnisse des Reformgipfels, in: FAZ vorn 12.12.2000, S. 3. 106 Insgesamt acht Verhandlungsrunden des GATI (General Agreement on Tariffs and Trade) wurden von 1947 bis 1994 abgehalten. Die letzte Runde fand in den Jahren 1986 bis 1994 statt. Sie wurde in Punta del.Este begonnen, trägt daher den Namen "Uruguay-Runde" und fand mit der Schlußakte von Marrakesch am 15.04.1994 ihren Abschluß. Dabei kam es zur Unterzeichnung des umfangreichen Regelwerks der WTO durch 117 Staatenvertreter und einen Vertreter der Europäischen Gemeinschaften. Mit der Gründung der wro wurde die rechtliche Existenz des "GATI 1947", das am 30.10.1947 in Genf abgeschlossen wurde und mittlerweile eine zunehmende Ineffektivität und Wirkungslosigkeit aufzeigte, zum 31.12.1995 beendet. Neben der Fortentwicklung des "GATI 1947" zum "GATI 1994" sind insbesondere die Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) und über den handelsbezogenen Schutz geistigen Eigentums (TRIPS) neue Inhalte des WTO-Vertrages. Wesentliche Ziele des Abkommens waren die Steigerung des Warenaustausches und die Berücksichtigung der Belange der Entwicklungsländer zur weltweiten Verbesserung der Lebensstandards, zur Realisierung von Vollbeschäftigung und zur Steigerung von Nachfrage und Produktion; vgl. dazu A. EmmerichFritsche (unter Mitarbeit von Johannes Müller, Kapitel Kapitalverkehrsjreiheit), Einführung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, Manuskript des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 2000, S. 214-230; D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, Dissertation an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, demnächst, 1. Teil, 1. Kap. und 2. Teil, 1. Kap. 107 Eigentlich sollte schon nach dem Zweiten Weltkrieg eine internationale Handelsorganisation entstehen. Der US-Kongreß lehnte dies jedoch ab. So wurde das GATI als Provisorium im Jahr 1947 von 23 Mitgliedern gegründet und wuchs bis Anfang der 90er Jahre auf mehr als 100 Mitglieder an; vgl. D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 1. Teil, 1. Kap. und 2. Teil, 1. Kap. 108 Die neugeschaffene Organstruktur der WTO besteht aus der Ministerkonferenz, dem Allgemeinen Rat, den abkommensspezifischen Räten für GATI (Warenhandel), GATS (Dienst103
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GATT von 1947 109 , das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) und den Schutz geistigen Eigentums (TRIPS) sowie die Vereinbarung über Regeln und Verfahren der Streitschlichtung. Ziel der Organisation ist es, möglichst alle Handelshemmnisse abzubauen, um so den freien Welthandel zu garantieren. Dieses multilaterale System verhalf auch vielen Entwicklungsländern zur erfolgreichen Integration in die Weltwirtschaft. Mittlerweile hat die WTO 140 Mitglieder und regelt über 90% des Welthandels. 110 Ob das WTO-Abkommen dem wachsenden wirtschaftlichen Wettbewerbs druck und protektionistischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten lll standhalten und die Grundsätze der Meistbegünstigung und der Reziprozität als weltwirtschaftliche Verfassungsgrundsätze besser als das GATT 47 sichern kann, bleibt noch abzuwarten. Bei der "Jahrtausendrunde", einer neuen Runde globaler Handelsgespräche, die Ende 1999 als Ministerkonferenz der WTO in Seattle leistungen) und TRIPS (Schutz des geistigen Eigentums) und aus zahlreichen Spezialausschüssen für z. B. Umwelt, Entwicklung, Verwaltung und regionalen Handel. Das WTO-Sekretariat in Genf mit ca. 500 Mitarbeitern ist für die Unterstützung der zahlreichen Komitees, Ausschüsse und Ministerkonferenzen zuständig, gibt Hilfestellung für Entwicklungsländer, erstellt Analysen über den Welthandel und leistet Presse- und Öffentlichkeitsarbeit; vgl. D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 2. Teil; K. DoehringlT. Buergenthal/J. KokottlH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 186-188. 109 Mit der Errichtung der WTO wurde das GATT 1947 u. a. um Interpretationserklärungen zu bestimmten Artikeln und um das Marrakesch-Protokoll sowie um weitere Abkommen, die sich auf Probleme des Warenhandels beziehen (Landwirtschaft, Textil und Kleidung, technische Regelungen über beispielsweise gesundheitspolitische Maßnahmen und über Zollwertfestsetzungen sowie Regelungen zu Antidumpingmaßnahmen und Subventionen), ergänzt. Das so entstandene GATT 1994 stellt eine der tragenden Säulen der WTO dar, jedoch gilt es nicht als rechtlicher Nachfolger des GATT 47 (vgl. Art. II Abs.4 WTO-Abkommen). Die WTO konstituiert die Welthandelsorganisation als institutionellen Rahmen für die einzelnen Sachgebiete (GATT, GATS, TRIPS); vgl. D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 1. und 2. Teil. 110 Siehe www.wto.org (Stand 2001). 111 Ein Beispiel für Protektionismus ist die von der EG im Jahr 1993 errichtete Bananenmarktordnung, die durch protektionistische Handelsrnaßnahmen für die Einfuhr von Bananen aus lateinamerikanischen Ländern sowohl Zölle als auch eine Kürzung der Importmengen zur Folge hatte. Aufgrund der unterschiedlichen Bezollung von Bananenarten entstanden getrennte Märkte für Bananen, was den Bestimmungen der WTO entgegensteht. Für den Handel innerhalb der Europäischen Gemeinschaften bedeutete dies Umsatzrückgänge und Entlassung von Beschäftigten. Die Bananenmarktordnung entfachte Proteste von lateinamerikanischen Ländern und den USA, führte zu einem Streit zwischen bananenimportierenden Unternehmen und den Europäischen Gemeinschaften und ließ die Bundesrepublik Deutschland Klage vor dem EuGH erheben, die 1994 abgewiesen wurde. Obwohl der EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung völkerrechtliche Verträge, die von den Europäischen Gemeinschaften geschlossen wurden, als "integrierenden Bestandteil des Gemeinschaftsrechts" (EuGH v. 26.10.1982 - Rs. 104/81 Kupferberg I, Sig. 1982, S. 3641) anerkennt, lehnt er die unmittelbare Anwendbarkeit des WTOAbkommens für den Bereich des Gemeinschaftsrechts ab; ausführlich dazu H.-D. Kuschel, Die Bananenmarktordnung der Europäischen Union, in: RIW, 1995, Heft 3, S. 218-222 und D. Siebold, Der Fall Bananenmarktordnung. Die Europäische Gemeinschaft im Streit mit der Welthandelsorganisation, in: Rechtsfragen der Weltwirtschaft, hrsg. von Karl Albrecht Schachtschneider, 200 I, im Erscheinen.
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stattfand, konnte insbesondere bei Verhandlungen in den Bereichen Handelsliberalisierung, Agrarsubventionierung, Biotechnologie und Arbeitnehmerrechte keine Annäherung der Positionen der Vertreter der Mitgliedsländer erreicht werden. Nach dem Scheitern der Konferenz gibt es zur Zeit lediglich erste Gedanken zur Wiederaufnahme der Gespräche. 112 So greift das Völkerrecht heute mehr denn je in den Rechtsalltag ein: Das internationale Wirtschaftsgeschehen wird direkt durch multilaterale Abkommen beeinflußt, und in Europa verfolgen die Staaten der Europäischen Union darüber hinausgehende Integrationsziele. 113 Vor allem das Vordringen des internationalen Rechts in den Bereich der Wirtschaft ist eine der wesentlichen Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zeigt sich neben der Gründung der Welthandelsorganisation auch in der Errichtung der UN-Konferenz über Handel und Entwicklung ll 4, in der Gründung der International Labour Organization l15 sowie in der Unterzeichnung der Abkommen über den Internationalen Währungsfonds 116 und die Weltbank 117. Darüber hinaus sind heute weitere Spezialorganisationen der Vereinten 112 Die WTO-Konferenz fand vom 30. November bis 6. Dezember 1999 in Seattle statt und wurde von massiven Protesten und Demonstrationen von Umweltschützern, Menschenrechtsvertretern und weiterer Interessengruppen begleitet. Aus ihrer Sicht war das Scheitern der WTO-Konferenz ein "geschichtliches Ereignis"; vgl. U. Schäfer, Schlaflos in Seattle, in: Der Spiegel, Nr.49, 06.12.1999. 113 Vgl. W. Friedmann, The changing structure of internationallaw, 1964, S. 67-71. 114 Die UN-Konferenz über Handel und Entwicklung (UNCTAD) wurde 1964 gegründet und setzt sich für Handelserleichterungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ein. Mit der Gründung des GATT und der WTO hat die Bedeutung der UN-Konferenz allerdings kontinuierlich abgenommen. Die 10. Konferenz dieser Organisation fand im Februar 2000 in Bangkok statt. Die Delegierten der 190 Mitgliedsländer berieten über die Folgen der weltweiten Öffnung und Vernetzung der Märkte vor allem für Entwicklungsländer. Die UNCTAD gilt als Sonderorgan der UNO; vgl. Aufruf zu "menschlicher Globalisierung", in: FAZ vom 21.02.2000, S.17. 115 Die International Labour Organization (ILO) wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der Pariser und Versailler Friedenskonferenz 1919 gegründet und ist seit 1946 eine Spezialorganisation der Vereinten Nationen. Ihr Ziel ist die Sicherung des Weltfriedens durch die Schaffung sozialer Gerechtigkeit, z. B. mittels der Aufstellung internationaler arbeitsrechtlicher und -politischer Standards; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.182-184. 116 Der Internationale Währungsfonds (International Monetary Fund, IMF) wurde auf Bestreben der Währungs- und Finanzkonferenz der Vereinten Nationen in Bretton Woods in Ergänzung zur Gründung der Weltbank errichtet. Das Abkommen über diese Spezialorganisation der UNO trat am 27.12.1945 in Kraft und ist insbesondere auf die Förderung der internationalen Kooperation in Währungsfragen, der Währungsstabilität und des Wachstums des Welthandels sowie auf die temporäre finanzielle Unterstützung bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten gerichtet; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.192-197. 117 Sowohl der IMF als auch das Gründungsabkommen der Weltbank (International Bank for Reconstruction and Development, IBRD) erlangten am 27.12.1945 Geltungskraft. In der Nachkriegszeit war die Arbeit der Weltbank vor allem auf die Unterstützung des wirtschaftlichen Aufbaus der europäischen Mitgliedstaaten gerichtet. Heute konzentriert sie sich auf Entwicklungshilfe in Form von Kreditgewährung für z. B. Infrastrukturprojekte, Landwirtschaft
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Nationen auf die Fortbildung des internationalen Rechts mit ökonomischen Auswirkungen gerichtet, angefangen von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation 118 über die Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur 119 bis hin zur internationalen Zivilluftfahrtorganisation 120. Ein internationales Zusammenwirken ist in der Zukunft für weitere Bereiche anzunehmen. In den kommenden Jahrzehnten werden in verstärktem Maß sachliche Probleme und Konflikte in überstaatlicher Zusammenarbeit zu lösen sein, die vor allem durch das Bevölkerungswachstum in bestimmten Regionen der Welt, durch die Notwendigkeit zur Sicherung der Reichtümer der Meere 121 und anderer natürlicher Ressourcen, durch die gemeinsame Forschung im Bereich der Atomenergie J22 sowie durch die zunehmende Nutzung des und Gesundheitswesen. Um der harten Kritik von Umwelt- und Entwicklungsorganisationen bezüglich umweltgefährdender Großprojekte und Verschwendungssucht entgegenzutreten, ist die Weltbank bestrebt, ihre Arbeit gegenüber der Öffentlichkeit transparenter zu gestalten. Ein Public Information Center wurde eingerichtet und ein Inspection Panel bewertet umstrittene Projekte. Gegenwärtig diskutieren Finanzexperten das Engagement der Weltbank in den Schwellen- und Mitteleinkommensländern (z. B. Indien, China, Brasilien). Die Zukunft der Weltbank wird in den Bereichen Armuts- und Seuchenbekämpfung sowie Umwelterhaltung gesehen, während in den Gebieten Kommunikation sowie Gas- und Ölförderung die Privatwirtschaft die FinanzierungsrolIe übernehmen solI; vgl. Nachdenken über eine Reform der Weltbank, in: FAZ vom 22.03.2000, S.17. 118 Die Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) wurde am 16.10.1945 satzungsmäßig ins Leben gerufen. 119 Die Gründung der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) erfolgte am 16.11.1945. 120 Die International Civil Aviation Organization (ICAO) wurde im Abkommen von Chicago am 07.12.1944 gegründet und wurde am 04.04.1947 aktiv tätig. Weitere Spezialorganisationen der Vereinten Nationen sind: Der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (International Fund for Agricultural Development, IFAD), die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), die Internationale Finanz-Corporation (International Finance Corporation, IFC), die Internationale Entwicklungsorganisation (International Development Association, IDA), der Weltpostverein (Universal Postal Union, UPU), die Internationale Fernmeldeunion (International Telecommunication Union, lTU), die Weltorganisation für Meteorologie (World Meteorological Organization, WMO), die Internationale SeeschiffahrtsOrganisation (International Maritime Organization, IMO), die Weltorganisation für geistiges Eigentum (World IntelIectual Property Organization, WIPO), die Internationale AtomenergieOrganisation (International Atomic Energy Agency, IAEA); vgl. A. Verdross/B. Simma, UniverselIes Völkerrecht, S. 185-212. 121 Das Prinzip der Freiheit der Meere öffnet das hohe Meer für Schiffahrt, Fischfang und Verkabelung ohne Gebietsansprüche eines Staates oder Benutzungsentgelt. Mit der beginnenden Verschrnutzung und Zerstörung dieses Lebensraums mußten eine vorbeugende Gefahrenabwehr und geeignete Schutzmaßnahmen multilateral vereinbart werden. Aus der Vielzahl der bereits bestehenden regionalen und weltweiten Verträge und ProtokolIe seien exemplarisch genannt: Übereinkommen zur Regelung des Walfangs vom 24.09.1931, Verträge über die Hochseefischerei im Nordpazifik vom 09.05.1952, Konvention über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von AbfälIen und anderen Stoffen vom 29.12.1972, Konvention zur Verhütung der Verschrnutzung der See durch Öl vom 12.05.1954 und 19.01.1979; vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.408-414. 122 Aufgrund ihrer besonderen Natur und politischen Bedeutung stelIt die A(omenergie ein Gebiet mit gemeinschaftlichen Regelungen und zunehmender Kooperation dar, was sich be-
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Luftraums 123 entstehen. Dabei übernehmen die internationalen Organisationen verstärkt auch Aufgabenstellungen, die früher in der Verantwortung des Einzelstaates lagen, aber heute von ihm aufgrund wachsender staatlicher Verflechtungen oder durch die globale Wirkung dieser Themen und die gleichzeitige Betroffenheit einer Vielzahl von Staaten nicht mehr ausreichend erfüllt werden können. 124 Ohne Zweifel sind es gegenwärtig noch die Staaten, die mit ihrer Souveränität im Mittelpunkt der Völkerrechtsgemeinschaft stehen. Nicht nur die jungen Staaten betonen ihre "sovereign equality", welche die Satzung der Vereinten Nationen garantiert. Deutlich sind gegenwärtig Vorbehalte und Widerstände gegenüber der internationalen Zusammenarbeit in universalen und regionalen Organisationen zu hören, obwohl neue Herausforderungen in Wirtschaft, Technik und Kultur ein Zusammenrücken der Staaten erzwingen. Deshalb ist andererseits gleichzeitig eine globale Tendenz zu Liberalisierung, weltweiter Integration und Menschenrechtsschutz auszumachen, wodurch sich die Anforderungen an das Völkerrecht bezüglich eines internationalen Rechts- und Grundrechtsschutzes erhöhen. Immer häufiger wirken die grenzüberschreitenden Regelungsbefugnisse und Streitbeilegungsverfahren internationaler Organisationen - wie der WTO und der Europäischen Gemeinschaften - auf die Freiheit und Rechte der Individuen ein, so daß ihre rechtstaatliche und demokratische Legitimation sichergestellt werden muß. 125 Daran anknüpfend ist ein Gedankenschritt nach vorne möglich: Es stellt sich die Frage, ob neben den Nationalstaaten auch die Durchsetzung weitergehender integrativer Organisationsfonnen bis hin zur Gestaltung einer Weltrechtsordnung eintreten reits in dem Abkommen über die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) vom 26.10.1956 und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) vom 25.03.1957 ausdrückt. 123 Wie das hohe Meer wird der Luftraum als Gemeinschaftsraum der Staaten angesehen. Bisher auftretende Fragen und Konfliktbereiche wurden im Vertrag über die Grundsätze der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums, einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper ("Weltraumvertrag") vom 27.01.1967, im Mondvertrag vom 18.12.1979, dem Weltraumrettungsabkommen vom 22.04.1968, dem Weltraumhaftungsbzw. -registrierabkommen vom 29.03.1972 bzw. 14.01.1975, dem Übereinkommen über die Internationale Fernmeldesatellitenorganisation "INTELSAT" vom 20.08.1971 und der Internationalen Organisation für Weltraurnfernmeldeverbindungen "INTERSPUTNIK" vom 15.11.1971 geregelt. Zu lösende zukünftige Themen betreffen die Satellitenerdumrundungen und die grenzüberschreitende Aussendung von Satellitenprogrammen; vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.401-408. 124 Vgl. M. Janis, An introduction to internationallaw, 2. Aufl., 1993, S. 7-8; dazu O. Höjfe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, S. 13-20 und S. 400-409; M. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates: Globalisierung und Denationalisierung als Chance, I. Aufl., 1998, S. 9, S. 93-94, S. 165-176 und S. 321-329. 125 Vgl. E.-U. Petersmann, Darf die EG das Völkerrecht ignorieren?, in: EuZW, 1997, Nr.ll, S. 325-331, hier S. 330; dazu auch K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: Wahrungsunion und Weltwirtschaft. Festschrift für Wilhe1m Hankel zum 70. Geburtstag, hrsg. von Wilhelm Nölling/Karl Albrecht Schachtschneider/Joachim Starbatty, 1999, S.119-148.
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2. Teil: Völkerrechtliche Grundlagen
kann. 126 Vorerst scheint der Endpunkt dieses Weges durch gegensätzliche staatliche Strukturen in Politik und Gesellschaft versperrt zu sein. Blickt man jedoch auf die Entwicklung und Bestrebungen der Vereinten Nationen und der WTO im Verlauf des 20. Jahrhunderts, so läßt sich unschwer eine Tendenz zur weltweiten Annäherung der Völker erkennen. In der Tat sind die Angleichung der national staatlichen Rechtsvorstellungen und -ordnungen wie auch die Ausweitung des Wirkungsbereichs des internationalen Rechts als erste Anfänge in diesem Sinne zu deuten. 127
126 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, Habilitation an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, im Entstehen. 127 Lassa Oppenheim beschrieb bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Schritte zu einem "world-state". Dabei sieht er in der Bildung eines Weltstaates keine Garantie zur Kriegsverhinderung: "In these conditions variety brings life, but unity brings death." L. Oppenheim, The future ofintemationallaw, 1921, S.13, vgl. S.II-22.
Dritter Teil
Das Völkerrecht als Rechtsordnung "Das Recht regelt das Zusammenleben der Menschen, ihr Verhalten zueinander. Wo immer Menschen dauernd zusammenleben, da finden wir eine Rechtsordnung. Sie ist eine notwendige Bedingung und Begleiterscheinung jeder Lebensgemeinschaft." (Paul Heilborn, 1912 1)
Erstes Kapitel Begriff und Abgrenzung des Völkerrechts Das Völkerrecht umfaßt die Gesamtheit der Normen, welche die Rechte und Pflichten, die Beziehungen und den Verkehr der Staaten untereinander regeln. Es ist als eine Ordnung der internationalen Gemeinschaft zu verstehen, welche die Staaten und Völker miteinander verbindet. Durch die immer enger zusammenwachsende Staatengemeinschaft gewinnt das Völkerrecht als deren Rechtsordnung an Umfang und Bedeutung. 2 Der Ausdruck "Völkerrecht" scheint dafür zu stehen, daß das Völkerrecht das Verhalten der Völker bestimme. 3 Eine Ausrichtung des Völkerrechts auf die Regelung von Staatenbeziehungen setzte sich mit Beginn des 17. Jahrhunderts - insbesondere mit der Anerkennung der Souveränität des Staates im Westfälischen Frieden von 1648 - durch. Damit wurde im klassischen Völkerrecht eine VölkerrechtssubP. Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts, S. 3. Zum Begriff des Völkerrechts vgl. I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 8. Autl., 1994, S. 1-2; P. Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts, S. 87; H. Drost, Grundlagen des Völkerrechts, 1936, S. 85; G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, in: Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, hrsg. von Hermann Mosler, Band 43, 1965, S. 2; W. Wengier, Völkerrecht, in: Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, hrsg. von Wolfgang Kunkel/Hans Peters/Erich Preiser, Band I, Teil 1 und 2, 1964, S.70-75; V Bruns, Das Völkerrecht als Rechtsordnung, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, hrsg. von Viktor Bruns, Band 1, Teil!: Abhandlungen, erste Abteilung: Völkerrecht, 1929, S.I-56, hier S.I; K.Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., 1999, S. 1-3; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2. Autl., 1994, S. 1-2. 3 Der Terminus "Völkerrecht" bildet eine Übersetzung des römischen Begriffs "ius gentium", der das alles übereinstimmende Recht der Kulturvölker der Antike einschließt; dazu 2. Teil, 2. Kap. I. 1
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
jektivitäe grundsätzlich nur den souveränen Staaten zugestanden. Einzige Ausnahme stellte lange Zeit der Heilige Stuhl dar. Er wird seit dem frühen Mittelalter als nichtstaatliches Völkerrechtssubjekt sui generis anerkannt. 5 Obwohl das Völkerrecht in erster Linie die Beziehungen der souveränen 6 Staaten untereinander regelt, so daß die Bezeichnung "zwischenstaatliches Recht"? oder "Staatenrecht"8 gerechtfertigt wäre, wurde am Begriff "Völkerrecht" festgehalten. 9 Grundsätzliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte lassen die traditionelle Definition des Völkerrechts jedoch als unzureichend erscheinen: Insbesondere im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Zahl der anerkannten Völkerrechtssubjekte, die nicht souveräne Staaten sind, deutlich erhöht. 10 Dies sind vor allem die internationalen Institutionen und Organisationen, wie beispielsweise der Völkerbund, die Vereinten Nationen und die Europäische Union, aber auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ", der souveräne Malteser-Ritterorden 12 und die als kriegsführende Partei anerkannten Aufständischen. 13 4 "Völkerrechtssubjektivität" soll hier als die Fähigkeit verstanden werden, Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein. Das Völkerrecht kann damit das Verhalten der Völkerrechtssubjekte unmittelbar regeln. Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 121 und A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 221-222. 5 Als Gegensatz zu dieser Entwicklung erscheint der noch im 16. Jahrhundert von den spanischen Juristen Francisco de Vitoria, Francisco Suarez und Fernando Vasquez de Menchada (1512-1569) herausgearbeitete Begriff des "ius gentium", als dessen Adressaten nicht nur die Völker, sondern auch die Individuen angesehen werden. Für Ulrich Scheuner führt die strikte Begrenzung des Völkerrechts auf Beziehungen zwischen den Staaten im 17. Jahrhundert dazu, daß das Völkerrecht "von seinen ethischen Grundlagen abgeschnitten wird". Er stellt bis zum 19. Jahrhundert den "Zerfall der das Völkerrecht tragenden Wertvorstellungen" fest, "der als Endprodukt nur noch den souveränen Staat und dessen Willensentscheidung kennt". Bestätigt findet sich Scheuner durch die geschichtlichen Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts - insbesondere durch den 2. Weltkrieg - darin, daß "ein staatlicher Individualismus, der keine aus einer Gemeinschaftszugehörigkeit resultierenden Verpflichtungen anerkennt, fast notwendig ins Verderben führen muß"; Ch.Tomuschat, Ulrich Scheuners völkerrechtliches Werk, in: U. Scheuner, Schriften zum Völkerrecht, hrsg. von Christian Tomuschat, 1984, S. XI-XXXI, hier S. XV.; siehe dazu auch O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 121-135 und S. 178-208; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 1-7, S. 221-223, S. 247-249 und S. 435-440. 6 Vgl./. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 1-4; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 25-33; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 71. 7 Im anglo-amerikanischen und romanischen Bereich findet überwiegend die neuere Bezeichnung Verwendung: "international law" , "droit international" oder "diritto internazionale" sowie "derecho internacional"; vgl. E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 1; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 1-2. 8 Bereits Kant schlug vor, nicht den Begriff "Völkerrecht", sondern den Ausdruck "Staatenrecht" zu verwenden (ius publicum civitatum); Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.466. 9 V gl. O. K imminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 60-61; dazu auch 2. Teil, 2. Kap. I. 10 Für Alfred Verdross und Bruno Simma stellt sich das Völkerrecht deshalb nicht als reines zwischenstaatliches Recht, sondern als "Zwischenmächterecht" dar; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.2; siehe auch J. G. Starke, Starke's International Law, hrsg. von Ivan Anthony Shearer, 11. Aufl., 1994, S. 3-7. 11 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 253-254. 12 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 252-253.
2. Kap.: Die Rechtsnatur des Völkerrechts
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Darüber hinaus gewinnen die Bemühungen zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten der Individuen - vor allem durch die Arbeit der Vereinten Nationen und der Europäischen Union - immer mehr an Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird verstärkt die Frage diskutiert, ob und inwieweit eine Völkerrechtssubjektivität des Einzelmenschen möglich ist. 14 Diese Faktoren führten in den letzten Jahrzehnten zu neuen Regeln des internationalen Rechts und wird auch die zukünftige Fortentwicklung der Völkerrechtsordnung beeinflussen. Aus diesem Grund erscheint eine Erweiterung des Völkerrechtsbegriffs um jene Regeln, die sich gleichsam mit den neu entwickelten Völkerrechtssubjekten gebildet haben, angebracht.
Zweites Kapitel Die Rechtsnatur des Völkerrechts Fast schon seit Beginn der Völkerrechtswissenschaft wird über die Frage der rechtlichen Verbindlichkeit des Völkerrechts diskutiert. Es haben sich zwei gegensätzliche Auffassungen herausgebildet, die in erster Linie auf der rechtstheoretischen Kontroverse basieren, ob Recht ausschließlich als Subordinationsrecht oder auch als Koordinationsrecht Geltungskraft besitzen kann. 15 Angesichts der Besonderheiten des Völkerrechts - insbesondere des Fehlens einer zentralen Zwangsgewalt - haben manche Theoretiker seinen Rechtscharakter verneint oder angezweifelt. Sie werden in der Literatur als "Leugner des Völkerrechts" 16 bezeichnet. Als einer der ersten Verfechter dieser Gegenposition hat Thomas Hobbes 17 bald nach dem Tod von Francisco Suarez 18 in seinem Werk "Leviathan" (1651) die Rechtsnatur des Völkerrechts bestritten. Auch Baruch de Spinoza l9 , lohn AusVgl. o. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 213-214. Ausführlich diskutiert wird die Völkerrechts subjektivität der Einzelpersonen z. B. bei O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 215-220; I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 153-212; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 39 und S. 255-267; V. Bruns, Das Völkerrecht als Rechtsordnung, S.2; P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, Band I, 1948, S. 4-6; A. Verdross, Völkerrecht, S. 2 und H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 2. Aufl., 1928 (unveränderter Neudruck 1960), S.162-167. 15 Vgl. L. Oppenheim, International Law, S. 7-15; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 33-35; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S.375-379; G. Glahn, Law Among Nations, S.4-9; E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S. 39-41; P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 1-6. 16 G. Walz, Wesen des Völkerrechts und Kritik der Völkerrechtsleugner, in: Handbuch des Völkerrechts, hrsg. von Fritz Stier-Somlo, Band I: Grundbegriffe und Geschichte des Völkerrechts, erste Abteilung A, 1930, S.I-274, hier S.4-5; A. Verdross, Völkerrecht, S.107. 17 Thomas Hobbes (1588-1679), englischer Philosoph. 18 Francisco Suarez (1548-1617), vgl. 2. Teil, 2. Kap. I. 19 Baruch de Spinoza (1632-1677), niederländischer Philosoph. 13
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
tin 20 , Friedrich Karl Savigny 21, Felix Samla 22 und Anders Vi/helm Lundstedt 23 sind in ihrer jeweiligen Wirkungsperiode zur Gruppe der Völkerrechtsleugner zu zählen. Sie alle definierten "Recht" als ein System aus Regeln, welches das Verhalten der Menschen bestimmt und von einer übergeordneten Autorität geschaffen und durchgesetzt wird. 24 Hintergrund ihrer juristisch begründeten Zweifel ist ein am innerstaatlichen Subordinationsrecht orientierter Rechtsbegriff. Demzufolge können als Recht nur Verhaltensregeln angesehen werden, die, wenn sie nicht befolgt werden, mittels Zwang durchgesetzt werden können. 25 Weil für das Völkerrecht weder ein obligatorische Gerichtsbarkeiten noch superiore Gesetzgebungs- und Zwangsgewalt bestehen, kann es nach Meinung der Völkerrechtsleugner zwischen den Staaten kein wirkliches Recht geben und das Völkerrecht erscheint ihnen als eine lediglich unvollkommene Rechtsordnung. 26 Die Zwangsbefugnis wird demnach als notwendiges Merkmal des Rechts konzipiert. 27 Vereinzelt wird deshalb das Völkerrecht auch als lediglich "primitive"28 oder "schwächere"29 Rechtsordnung im Vergleich zur staatlichen Rechtsordnung klassifiziert. Als charakteristisches Merkmal gilt dabei ihre "dezentralisierte"30 Struktur, weil die Staaten selbst die Rechtsregeln erzeugen und vollzie20 lohn Austin (1790-1859), britischer Rechtsgelehrter. Austins Lehre fand im europäischen Raum (u. a. von Felix SomlG, Fritz Sander, Arthur Baumgarten) aber auch insbesondere im anglo-amerikanischen Bereich (z. B. von lames Lorimer, lohn Westlake, Henry Wheaton, Thomas E. Holland, Hersch Lauterpacht) Zustimmung. 2\ Friedrich Karl Savigny (1779-1861), Rechtslehrer und preußischer Staatsminister. 22 Felix Somlo (1873-1920). 23 Anders Vi/helm Lundstedt (1882-1955). 24 Vgl. H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1993, S. 234-242; Helmut Coing nennt die Auffassung über die Geltung des Rechts aufgrund der Anordnung durch eine Autorität "Imperativtheorie" (S. 235); siehe auch A. Verdross, Völkerrecht, S. 107-108. 25 Eine systematische Darstellung der völkerrechtsleugnenden Lehren und ihre kritische Würdigung bietet Gustav Walz in seinem Buch "Wesen des Völkerrechts und Kritik der Völkerrechtsleugner" . 26 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, Band 1,3. Aufl., 1929, S. 35; E. Menzell K./psen, Völkerrecht, S.4l. 27 Dazu K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 545-559; K.A. Schachtschneider, Die Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft, in: Erlanger Forschungen, Reihe A, hrsg. von Max Vollkommer, Band 67: Auf dem Weg in ein vereintes Europa, Atzelsberger Gespräche 1992, 1994, S. 81-104, hier S. 84-88. 28 "Die primitive Natur des Völkerrechts gelangt jedoch insbesondere in seinen spezifischen Unrechtsfolgen zum Ausdruck, die nicht wie im Landesrecht die Strafe und die zivile oder administrative Zwangsvollstreckung sind, sondern mangels einer überstaatlichen obligatorischen Gerichts- und Polizeigewalt: Repressalie und Krieg." P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 3 und S. 4. 29 "For this reason, compared with Municipal Law ... the Law of Nations is certainly the weaker of the two." L. Oppenheim, International Law, S. 14; siehe dazu auch N. Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte: ist Toleranz durchsetzbar?, 1998, S. 83. 30 P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 4. Auch Hans Kelsen merkt die dezentralisierte Struktur des Völkerrechts an, die er sowohl mit der Identität zwischen der norm setzen-
2. Kap.: Die Rechtsnatur des Völkerrechts
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hen, an die sie zugleich gebunden sind und weil sie schließlich selbst entscheiden, ob ein Unrechtstatbestand vorliegt. So können dezentrale Zwangsgewalten, d. h. eigens ergriffene Selbsthilfemaßnahmen, gegenseitige staatliche Rechtshilfe und militärische Gewalt, die Folge der Nichtbeachtung der aufgestellten Regeln sein. 31 Nach Auffassung von Georg WF. Hegel 32 ist eine echte Rechtsordnung unter den Völkern erst durch die Existenz einer überstaatlichen Macht begründbar. Weil die Staaten jedoch Souveränität besitzen, relativiert er das Völkerrecht zum Recht im Sinne eines "äußeren Staatsrechts", das auf "unterschiedlichen souveränen Willen beruht". 33 Gleichzeitig anerkennt er aber die Möglichkeit einer zukünftigen Weiterentwicklung hin zu einer über den Einzelstaat hinausgehenden völkerrechtlichen Grundlage. 34 Als radikalste Leugner des Völkerrechts können H egels Nachfolger - insbesondere Adolf Lasson 35 und Julius Binder 36 - angesehen werden; denn sie sehen den Staat als oberste souveräne Person an und gehen somit von einer absoluten Souveränität der staatlichen Rechtsordnung aus. Rechtliche Bindung besteht nur innerhalb einer solchen rechtlichen Ordnung; in bezug auf alle "außerstaatlichen" Ordnungen - im Sinne einer über den Staaten stehenden Rechtsordnung - gilt der Staat als nicht beden Autorität und den verpflichteten Subjekten als auch mit den verschiedenen Methoden zur Schaffung von Völkerrechtsregeln (z. B. Vertrags- und Gewohnheitsrecht) belegt. Gleichzeitig stellt er aber auch die Tendenz zu einer Zentralisation fest, welche die Einführung internationaler Organe mit sich bringt; vgl. H. Kelsen, Theorie du droit international public, in: RdC, 111, Nr.84, 1953, S.I-203, hier S.184. 31 Vgl. L. Oppenheim, International Law, S. 14; D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 34; G. lellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 376. 32 Georg Wilhelm Friedrieh Hegel (1770-1831). Er gilt als einer der ersten Wissenschaftler, die sich mit dem staatlichen Willen und einer dem Staat übergeordneten Macht befaßten. 33 G. W. F. H egel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Georg Wilhelm Friedrich Hege!- Sämtliche Werke, hrsg. von Georg Lasson, Band VI, 2. Aufl., 1921, § 330; dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 1. earl Vietor Frieker bemerkt in seinen Ausführungen gegen die Konstruktion des Völkerrechts als äußeres Staatsrecht: .. Wenn ich zu dem Resultate komme, daß das Ding, welches man Völkerrecht nennt, äußeres Staatsrecht ist, so leugne ich nicht dieses Ding, aber ich leugne, daß es Völkerrecht ist." c.v. Frieker in H. Kelsen: Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 196. 34 Vgl. G. w.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 258,278 und §§ 330-352. Zustimmung zur Hegelsehen Auffassung findet man bei Panayis Papaligouras, siehe P. Papaligouras, Theorie de la societe internationale, 1941, S.204. Georg lellinek erkennt das Völkerrecht als Recht an, klassifiziert es jedoch als ..anarchisches Recht", das einer .. nicht-organisierten und daher keine Herrscherrnacht besitzenden Autorität" entspringt. Er begründet dies mit dem Fehlen einer umfassenden Organisation der Staatengemeinschaft, die deshalb eine ..anarchische Natur" aufweist. G. lellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 379. lellineks Auffassung manifestiert sich in seiner Lehre von der Selbstverpflichtung des Staates: Nur mit dem Einverständnis und der Entscheidung für eine Bindung an das Volkerrecht kann ein Staat verpflichtet werden, so daß das Völkerrecht als ein ..äußeres Staatsrecht" zu verstehen ist; dazu 4. Teil, 4. Kap. II. 1. 35 Adolf Lasson (1832-1917). 36 lulius Binder (1870-1939). 4 Amrhein-Hofmann
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
schränkbare Gewalt. Aufgrund dieses strengen Souveränitätsdogmas lehnen sie auch eine künftige Konzeption einer Völkerrechtsordnung strikt ab. 37
In ihren Argumentationen stützt sich die Mehrzahl der Völkerrechtsleugner auf den Vergleich des Völkerrechts mit dem staatlichen Recht. Dabei stellen sie vornehmlich die Unterschiede zwischen den beiden Rechtsbereichen heraus, um die Mangelhaftigkeit des Völkerrechts zu unterstreichen. Anders als beim staatlichen Recht erscheint ihnen der Kreis der Rechtssubjekte als eher heterogen und begrenzt. 38 Obwohl sich die Staaten erheblich in wirtschaftlicher, militärischer und geographischer Hinsicht unterscheiden, sind sie voneinander unabhängig und rechtlich gleichgestellt. Exakt diese Grundsätze sind explizit in Art. 2 Ziff. 1 der UN-Charta für das Völkerrecht der Vereinten Nationen festgeschrieben: "Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder."
Die Staatengemeinschaft besteht demnach aus nebeneinander koordinierten souveränen Staaten. Im Gegensatz dazu ist laut herrschender Meinung die staatliche Rechtsordnung durch das Verhältnis von Über- und Unterordnung sowie durch die Verwirklichung des Rechts mittels zentraler Organe, nämlich Rechtsprechung und Verwaltung, gekennzeichnet. 39 Im Bereich des Völkerrechts bleibt im Sinne der Einheit der Rechtsordnung eine zwangsweise Durchsetzung einer rechtlichen Forderung dem berechtigten Staat selbst oder der gemeinsamen Aktion mehrerer Staaten überlassen. Gegenwärtig gibt es kein überstaatliches Organ, das in jedem Falle eine Durchsetzung der Völkerrechtsregeln garantieren könnte. 4o Im Kreis der Leugner des Rechtscharakters des Völkerrechts wird die Erzwingbarkeit völkerrechtlicher 37 Vgl. A. Lasson, Prinzip und Zukunft des Völkerrechts, 1871, S.22-25 und S.42-50; A. Verdross, Völkerrecht, S. 108. AdolfLasson streitet die Existenz der Regeln des Völkerrechts keinesfalls ab, sondern deutet sie als "Klugheitsregeln" und nicht als "Rechtsgebote" . Ein solches andersartiges Normensystem kann seiner Meinung nach für die Staaten gelten. Siehe A. Lasson, Prinzip und Zukunft des Völkerrechts, S.49; vgl. A. Lasson, System der Rechtsphilosophie, 1882, S. 394-405. Zu den Nachfolgern Hegels siehe W. Moog, Hegel und die HegeIsche Schule, 1930, S.479-487. 38 Vgl. E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S.40; D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 34. Eine konträre Sichtweise vertritt Hans Kelsen, der den Geltungsbereich des Völkerrechts als unbegrenzt beschreibt, weil die internationalen Regeln nicht nur für die Staaten, sondern auch unmittelbar für die Individuen verbindlich sind - demgegenüber ist das nationale Recht nur im jeweiligen Staatsgebiet gültig, vgl. H. Kelsen, Theorie du droit international public, S. 183. 39 Dazu W. ArndtlW. Rudolf, Öffentliches Recht, S. 18; anders dagegen K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 14-35 und K. A. Schachtschneider u. a., Grundbegriffe des allgemeinen Verwaltungsrechts, Manuskript des Lehrstuhls für Öffentliches Recht zum Wirtschaftsverwaltungsrecht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 1999, insbesondere S.13. 40 Vgl. L. Henkin, International Law: Politics and Values, in: Deve10pments in International Law, hrsg. von Martinus Nijhoff Publishers, Band 18, 1995, S.45; G. Dahm, Völkerrecht, Band I, 1958, S.12-14.
2. Kap.: Die Rechtsnatur des Völkerrechts
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Normen deshalb als schwächer im Vergleich zur staatlichen beurteilt oder ihre Funktionsfähigkeit sogar gänzlich verneint. In diesem Kontext entsteht die Frage, ob sich die Staatengemeinschaft in eine "staats ähnliche Zwangsgemeinschaft" umgestalten könnte. Mit dem Aufbau einer solchen Weltorganisation würde das Völkerrecht allerdings von einem "Weltstaatsrecht"41 abgelöst werden. Eine Tendenz hin zur Etablierung zentraler Organe läßt sich beispiel weise bei der UNO feststellen. 42 Ihre institutionelle Bedeutsamkeit läßt sie zu einem festen Bestandteil der Struktur der Völkerrechts gemeinschaft werden, und ein weitergehender "fließender Prozeß" in Richtung einer Weltorganisation ist nicht undenkbar. Für Bruno Simma ist die UN-Charta zur "Verfassung der universellen Staatengemeinschaft"43 geworden. 44 Außerhalb ihres jeweiligen Zuständigkeitsbereichs kann jedoch bisher kein Organ einer internationalen Organisation generelle Normen erzeugen, die für alle Staaten ausnahmslos verbindlich sind. 45 Auch besteht gegenwärtig kein von den Staaten unabhängiges, obligatorisches gerichtliches Streitbeilegungsverfahren. Der IGH als das "Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen"46 kann bei Streitfällen zwischen Staaten nur tätig werden, wenn sich die streitenden Parteien willentlich dem Gerichtshof unterwerfen. 47 Dagegen sind die WTO-Streitbeilegungsverfahren einheitlich dementsprechend konzipiert, daß sie generell für alle Abkommen im Rahmen der Welthandelsorganisation anzuwenden sind und die Mitglieder der Welthandelsorganisation verpflichtet sind, davon Gebrauch zu machen. Die Streitbeilegung innerhalb der WTO ist deshalb bereits wesentlich effektiver als die der Vereinten Nationen. 48 A. Verdross/B. Simma. Universelles Völkerrecht, S. 34. Art. 7 Abs.l der UN-Charta führt folgende Hauptorgane der UNO auf: Generalversammlung, Sicherheitsrat, Wirtschafts- und Sozialrat, Treuhandrat, IGH und das Sekretariat. Spuren einer Annäherung an einen Weltstaat sind die dem Sicherheitsrat in der UN-Satzung übertragenen Zuständigkeiten. Laut Art. 24 ist er verantwortlich für "die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit"; in diesem Zusammenhang ist der Sicherheitsrat auch berechtigt, Zwangsakte zu setzen (Art. 25). Organe der WTO sind laut Art. 4 des WTO-Abkommens die Ministerkonferenz, der Allgemeine Rat. die abkommensspezifischen Räte für den Waren- und DienstIeistungshandel. die Ausschüsse sowie das Sekretariat; siehe dazu auch A. Verdross/B. Simma. Universelles Völkerrecht. S. 35. 43 A. Verdross/B. Simma. Universelles Völkerrecht. S. VII. In seinem Vorwort begründet er diese These wie folgt: " ...• daß es zwar früher richtig war. zwischen dem allgemeinen Völkerrecht und dem nur partikulären Völkerrecht der UNO zu unterscheiden. Seitdem die UNO aber nahezu alle Staaten umfaßt und auch die wenigen außerhalb dieser Organisation stehenden Staaten ihre leitenden Grundsätze anerkannt haben. ist ihre Charta zur Verfassung der universellen Staatengemeinschaft aufgerückt." (S. VII-VIII). 44 Hermann Moster deutet dies nicht als einen Schritt hin zum WeItstaat; vgl. H. Moster. The international society as a legal community. 1980. S. 13. 45 Vgl. A. Verdross/B. Simma. Universelles Völkerrecht. S.400-412. 46 Art. 92 UN -Charta. 47 Vgl. A. Verdross/B. Simma. Universelles Völkerrecht. S.117-129. 48 Dazu A. Emmerich-Fritsche. Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im WelthandeIsrecht. in: Rechtsfragen der Weltwirtschaft, hrsg. von Karl Albrecht Schachtschneider. 41
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
Basierend auf diesem - von den Völkerrechtsleugnem herangezogenen - Vergleich mit der innerstaatlichen Rechtsordnung wird die Rechtsnatur der internationalen Normen aufgrund der festgestellten grundlegenden Unterschiede teilweise oder sogar vollständig verneint. Auch Heinrich Triepel stellt sich in seinem Werk "Völkerrecht und Landesrecht" die Frage, ob die Regeln des Völkerrechts "Rechtsregeln im strengen Sinne des Worts"49 sind. 50 Was das Kriterium der Erzwingbarkeit betrifft, so kommt Triepel zu dem Schluß, daß das Völkerrecht sicherlich als Rechtsordnung verstanden werden kann; denn Retorsion, Repressalie und Kriegsmacht sind für ihn ganz offensichtlich Zwangsausübungsmittel. Ungleich ist sein Urteil bei der Erfordernis eines "organisirten" 5I Zwangs: Da diese Voraussetzung auch zum damaligen Zeitpunkt nicht durch das Völkerrecht erfüllt wird, ist es für Triepel eine "unvollkommene"52 Rechtsordnung. Gleichzeitig stellt er die These auf, daß das erzwingbare Recht und das Recht ohne Zwangsmoment lediglich verschiedene Arten einer "Gattung"53 sind. 54 Auch Hans Kelsen setzt zur Wirksamkeit des Völkerrechts seine Erzwingbarkeit voraus. Die Existenz von Zwangs befugnissen erkennt er in der rechtmäßigen Ausübung gemeinschaftlicher oder individueller Selbsthilfe. 55 Bereits lange Zeit zuvor deutet Kant 56 das Völkerrecht als Recht 57 - im Sinne einer Rechtsordnung, die das "Recht der Staaten in Verhältnis zueinander"58 regelt. 59 Für 2001, im Erscheinen; D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 3. Teil. 49 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.103. 50 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 103-110. Ganz unbestritten ist seiner Meinung nach, daß ein Völkerrecht existiert: "Wenn wir nun von einem Verhältnisse zwischen Völkerrecht und Landesrecht sprechen, so setzen wir etwas als gegeben voraus, was keineswegs ausser Streits steht, und was, wenn es nicht angefochten wird, doch leider nur zu oft unbeachtet bleibt: dass es ein Völkerrecht giebt, und dass dieses Recht etwas anderes ist als Landesrecht." (S. 7, vgl. S. 10). 51 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 106. 52 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 106. 53 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 107. 54 Damit bestreitet er, daß beide Kategorien ihrem Wesen nach ganz verschieden sind; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 106. Die Begründung dieser Ansichten und deren Hintergründe sind im Rahmen der ausführlichen Betrachtung seiner Lehre zu finden, siehe 4. Teil, 1. Kap. I. 55 Dazu 4. Teil, 3. Kap. 11. 3. a). 56 Immanuel Kant (1724-1804), Studium (insbesondere Mathematik und Physik), Promotion und Habilitation (Philosophie) sowie Lehrtätigkeit an der Universität Königsberg. Einige seiner für die Rechts- und Völkerrechts lehre einflußreichsten Werke sind: "Die Metaphysik der Sitten" (1797/1798), "Zum ewigen Frieden" (1795/1796) und "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784). 57 Unter Recht versteht Kant den "Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 337-338. Zur Verwirklichung des Rechts ist eine Rechtsordnung erforderlich, die das Zusammenleben der Menschen durch Ge-
2. Kap.: Die Rechtsnatur des Völkerrechts
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ihn stellt das Völkerrecht seiner Zeit neben dem Staatsrecht und dem Weltbürgerrecht einen weiteren Teil des öffentlichen Rechts dar. 60 Nach Auffassung von Kant sind die grundlegenden Besonderheiten eines derartigen "ius publicum civitatum"61: ,,1. daß Staaten, im äußeren Verhältnisse gegeneinander betrachtet, (wie gesetzlose Wilde) von Natur in einem gesetzlosen Zustande sind; 2. daß dieser Zustand ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren), wenngleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung (Hostilität) ist, welche (indem sie es beide nicht besser haben wollen), obzwar dadurch keinem von dem anderen unrecht geschieht, doch an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist, und aus welchem die Staaten, welche einander benachbart sind, auszugehen verbunden sind; 3. daß ein Völkerbund, nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrages, notwendig ist, sich zwar einander nicht in die einheimischen Mißhelligkeiten derselben zu mischen, aber doch gegen Angriffe der äußeren zu schützen; 4. daß die Verbindung doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung), sondern nur eine Genossenschaft (Föderalität) enthalten müsse, eine Verbündung, die zu aller Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert werden muß, - ein Recht in subsidium eines anderen und ursprünglichen Rechts, den Verfall in den Zustand des wirklichen Krieges derselben untereinander von sich abzuwehren (foedus Amphictyonum). "62
Bei dieser Charakterisierung des Völkerrechts wird deutlich, daß Kant von einem gesetzlosen Zustand der Staaten ausgeht, der von Krieg beherrscht ist. 63 Ähnlich wie die Menschen aus einem solchen Naturzustand heraustreten und eine staatliche Rechtsordnung schaffen, welche die Freiheit und Gleichheit aufgrund der gemeinsam geschaffenen Gesetze verwirklichen kann, so werden die Staaten seiner Meisetze - nach dem Willen aller - regeln kann; nur in diesem Sinne sind die Gesetze allgemein und freiheitlich; vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.432-433; siehe dazu auch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 312; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, Manuskript des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg, 2000, 2. Kap. 58 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 466; Kant übt damit - die in der Folgezeit anerkannte und bekannte - Kritik an der Bezeichnung "Völkerrecht" (dazu 2. Teil, 2. Kap. I. und 3. Teil, 1. Kap.). Er bevorzugt den Begriff "Staatenrecht" , "wo ein Staat als eine moralische Person gegen einen anderen im Zustande der natürlichen Freiheit, folglich auch dem des beständigen Krieges betrachtet, teils das Recht zum Kriege teils das im Kriege teils das, einander zu nötigen, aus diesem Kriegszustande herauszugehen, mithin eine den beharrlichen Frieden gründende Verfassung, d. i. das Recht nach dem Kriege zur Aufgabe macht, ... " Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 466. Zur Frage, ob nicht nur die Staaten, sondern auch die Individuen Rechtssubjekte des Völkerrechts, genauer Staatenrechts, sein können, hat sich Kant hierbei nicht geäußert. Die Frage nach dem Verhältnis des Individuums gegenüber anderen Staaten betrachtet er unter dem Blickwinkel des Weltrechts (vgl. S.475-479). 59 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.429. 60 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.427, 466, 475 und S.466. 61 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.466. 62 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 467 (Hervorhebungen im Original); vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 208 und Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedei, Band 9,4. Nachdruck 1983, S. 31-50, hier S.41-42. 63 Siehe dazu auch Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.467-473.
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
nung nach einen Völkerbund schaffen, um auf diese Weise Sicherheit durch Rechtsnormen des vereinigten Willens zu erreichen. 64 Im Vergleich zum Staatsrecht besitzt das Völkerrecht eine andere Struktur: Es ist eine genossenschaftliche Rechtsordnung, die sich zwischen unabhängigen Staaten bildet. Dem folgt auch der Zweite Definitivartikel zum ewigen Frieden: "Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein."65 Aus diesen Schlußfolgerungen ist abzuleiten, daß Kant das Völkerrecht seiner Zeit als Konsensrecht, das auf dem gemeinsamen Willen der Staaten beruht, beurteilt. Auch heute noch gilt es als ein "Koordinationsrecht oder als genossenschaftliches Recht"66 und unterscheidet sich damit von einer vertikal-hierarchisch aufgebauten Zwangsordnung. Mit dem grundlegenden Prinzip Kants "Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden"67 wird deutlich, daß der Kantianische Rechtsbegriff grundsätzlich ein Zwangsmoment aufweist. Dabei definiert Kant den Zwang "als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht; ... "68. In diesem Sinne ermöglicht der staatliche Zwang, die Freiheit zu verwirklichen. 69 Seiner Meinung nach beruht das Wesen des "strikten (engen) Rechts"70 nicht auf der verinnerlichten Einsicht, im Sinne des kategorischen Imperativs entsprechend den verbindlichen Gesetzen zu handeln, sondern auf "dem Prinzip der Möglichkeit des äußeren Zwanges"7l. Auch wenn das Völkerrecht aus sich heraus gegenüber den Bürgern nicht erzwingbar ist, lassen alle relevanten Aussagen Kants dennoch auf den rechtlichen Charakter des Völkerrechts schließen - eine unmittelbare Äußerung über den Grad seiner Verbindlichkeit ist allerdings nicht feststell bar. Kant konzipiert die internationale Rechtsordnung nicht als staatliches Gebilde; vielmehr als eine föderale Staatengemeinschaft, in welcher die Staaten "innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben und also dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen sind"72. Eine Entwicklung hin zum strikten Recht erkennt 64 Siehe dazu auch Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 430-434. Die Vorstellung des Völkerbundes ist allerdings nicht notwendig mit einer Entwicklung hin zur weltumfassenden Gemeinschaft verbunden; würde sich die gesamte Staatenwelt vereinigen, so entstünde ein "Völkerstaat". Siehe Kant, Zum ewigen Frieden, S. 208 und S. 212-213; dazu auch 6. Teil. 65 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 208. 66 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 34; vgl. S. 33. 67 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 338. 68 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 338. 69 Vgl. K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.555-559; K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 81-83 und S. 109; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Manuskript des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg, 2000, Teil E. I. 1. 70 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 339. 71 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 339. Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht. 72 Kant, Zum ewigen Frieden, S.211, vgl. S.208-213.
2. Kap.: Die Rechtsnatur des Völkerrechts
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Kant in dem Fall für die Völkerrechtsordnung, wenn ein freiheitlich zusammenwachsender "Völkerstaat (civitas gentium)"73 die Sicherung und Durchsetzung der gemeinsamen "Zwangsgesetze"74 garantiert. 75 Für die Mehrzahl der Völkerrechts wissenschaftler erweist sich demnach der subordinationsrechtliche Ansatz als zu eng, weil er ihrer Meinung nach auf einer einseitigen Hervorhebung des zentralen Gesetzgebungs- und Zwangselements sowie auf der Vernachlässigung weiterer essentieller Elemente beruht. 76 Als wesentliche einzubeziehende Argumente tür die Rechtsverbindlichkeit des Völkerrechts werden dabei das freie Einverständnis und die Anerkennung der Verbindlichkeit der Regeln von Seiten der Staatengemeinschaft angesehen. Durch das gemeinsame Interesse der Staaten sind auch die Rechtspflege, Rechtshilfe und Rechtsverwaltung auf Basis des Völkerrechts gewährleistet. 77 Die Verfechter jener Auffassung argumentieren logisch genau umgekehrt; denn das Völkerrecht ist ihrer Meinung nach im Sinne eines Koordinationsrechts als eine echte, vollkommene Rechtsordnung anzuerkennen. 78 So ist Alfred Verdross überzeugt, "daß eine Gemeinschaft nicht nur durch eine zentrale Autorität, sondern auch durch das Zusammenwirken der Rechtsgenossen auf der Grundlage gemeinsamer Rechtsüberzeugung geschaffen und durch ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte auch gesichert werden kann. Diesen Rechtstypus bezeichnet man im Gegensatz zum ... Subordinationsrecht oder Herrschaftsrecht als Koordinationsrecht oder genossenschaftliches Recht."79
Darüber hinaus sind die bemängelten Schwachpunkte der Völkerrechtsordnung für Verdross ohne Relevanz für die Beurteilung der Rechtsnatur der völkerrechtlichen Normen; denn die Völkerrechtsleugner erkennen seiner Meinung nach nicht, "daß das VR gar kein selbständiges, in sich geschlossenes Rechtssystem bildet, da es nur durch das staatliche Recht erfüllt und verwirklicht werden kann .... Daher kann die Natur des 73 Kant, Zum ewigen Frieden, S.212. 74 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 212. 75 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht. 76 Vgl. z.B. P. Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts, S.16-22; G. Walz, Wesen des Völkerrechts und Kritik der Völkerrechtsleugner, S. 252-261; A. Verdross, Völkerrecht, S. 110-111; K.Ipsen, Völkerrecht, 3. Autl., 1990, S. 7; D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 34-35; J. Hatschek, Völkerrecht als System rechtlich bedeutsamer Staatsakte, 1923, S. 3-6. 77 Vgl. E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S.39-41; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S.375-379; G. Glahn, Law Among Nations, S.4-9. 78 Vgl. E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S. 40; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S.375-379. 79 A. Verdross, Völkerrecht, S. 110 (Hervorhebungen im Original); zur Völkerrechtslehre von Alfred Verdross siehe 4. Teil, 3. Kap. III. Gustav Walz ist der gleichen Meinung, vgl. G. Walz, Wesen des Völkerrechts und Kritik der Völkerrechtsleugner, S. 255; G. Leibholz, Der Abschluß und die Transformation von Staatsverträgen in Italien, in: Zeitschrift für Völkerrecht, hrsg. von Max Fleischmann/Walther Schücking/Karl Strupp, Band XVI, Heft 3, 1932, S. 353-376, hier S. 353; G. Dahm, Völkerrecht, S. 14.
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung Völkerrechts nicht isoliert bestimmt werden. Sie erschließt sich erst aus dem Gesamtsysteme des positiven Rechts heraus, dessen Krone das VR bildet."80
Nach Ansicht von Duo Kimminich ist das Zwangskriterium keinesfalls das entscheidende Merkmal für die Rechtsnormqualität des Völkerrechts. 81 Grund dafür ist sein genossenschaftlicher Charakter. 82 Unter Berücksichtigung dieser besonderen Struktur sind seiner Meinung nach gewiß Mittel zur Durchsetzung der Völkerrechtsnormen feststellbar. Er beurteilt das Prinzip der Gegenseitigkeit als einen wesentlichen Mechanismus für das rechtmäßige Handeln der Staaten. 83 Deshalb erkennt er das Völkerrecht als Recht im engen Sinne an. Es stellt sich demzufolge die Frage, ob ein Zwangscharakter der völkerrechtlichen Regeln überhaupt erforderlich ist. So ordnet Karl Albrecht Schachtschneider das Völkerrecht als Recht ein, dessen Verbindlichkeit nicht mit Zwang durchgesetzt werden kann. 84 Der Ausdruck "pacta sunt servanda" stellt einen wesentlichen Rechtsgrundsatz des Völkerrechts dar und darüber hinaus beruht die Verbindlichkeit des Völkerrechts auf der einvernehmlichen Zusammenarbeit, dem Konsens und dem Willen der Völker. 85 Folgt man diesem Ansatz, so kann der Rechtscharakter eines solchen Konsensrechts nicht abgestritten werden. Damit verbunden ist gleichzeitig die Sicherheit, daß die völkerrechtlichen Abkommen in die nationalen Rechtsordnungen aufgenommen werden. Die Wirksamkeit der Völkerrechtsnormen ist nur dann gewährleistet, wenn die Staaten nach dem Grundsatz der "bona fides" handeln und folglich ihre Verpflichtungen nach Treu und Glauben erfüllen. 86 Innerhalb ihrer jeweiligen Staatsgebiete sorgen die Staaten dafür, daß das Völkerrecht - mit Hilfe der nationalen Gerichte - auch zwangsweise durchgesetzt werden kann. 87 Stimmt die Rechtswirklichkeit mit dieser idealen Konzeption überein, so besteht keine Notwendigkeit, eine Zwarigsbefugnis des Völkerrechts zu fordern. Gleichwohl wird der 80 A. Verdross, Völkerrecht, S. 110-111. 81 Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.475. 82 Dazu auch W. Benedek, Die Rechtsordnung des GATT aus völkerrechtlicher Sicht, 1990, S.283-285. 83 Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.476-477 und S. 318-320. Zum Kreis der Zwangsmechanismen gehören seiner Auffassung nach auch z.B. der diplomatische Verkehr, der feierliche Abschluß von Verträgen; vgl. S.477-478. 84 Vgl. K.A. Schachtschneider, Grundgesetzliche Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung, in: Die Verwaltung, hrsg. von Wilfried Berg/Stefan Fisch/Walter Schmitt Glaeser/Friedrich Schoch/Helmuth Schulze-Fielitz, Band 31, Heft 2,1998, S. 139-165, hier S.152, Fußnote 85. Zuvor hatte er vertreten, daß das Völkerrecht als "moralische Verbindlichkeit" anzusehen ist; vgl. K.A. Schachtschneider, Res publicares populi, S.554. 85 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht. 86 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 365 und S.46-48; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 228. 87 In diesem Sinne werden die souveränen Einheiten der Staatengemeinschaft mit ihren Gesetzgebungs- und Vollzugsorganen beauftragt, das Völkerrecht zu verwirklichen. Es sind die Staaten, die das Völkerrecht aufbauen und es durchsetzen; siehe dazu O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.128-129.
2. Kap.: Die Rechtsnatur des Völkerrechts
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Einsatz von Zwangsmitteln nötig, wenn das Handeln der Staaten die Bestimmungen des Völkerrechts verletzt. Ob und inwieweit gegenwärtig in irgendeiner Form eine Zwangsdurchsetzung des Völkerrechts gegenüber den Staaten besteht, ist noch genauer zu hinterfragen. 88 Aus demokratischen Erfordernissen und aus dem genossenschaftlichen Charakter des Völkerrechts resultiert nach Ansicht von Angelika Emmerich-Fritsche die Tatsache, daß die Durchsetzung der Völkerrechtsregeln den Staaten obliegt. Doch läßt sich ihrer Meinung nach aus diesem Grund weder die Zwangsbefugnis noch der Rechtscharakter des Völkerrechts abstreiten. 89 Sie folgt damit der Lehre Schachtschneiders, der Europarecht und Völkerrecht als gemeinschaftliches staatliches Recht versteht, das von den Mitgliedstaaten durchzusetzen ist, weil die Zwangsbefugnisse bei den existentiellen Staaten verbleiben. Dabei ist es der gemeinsame Wille der Völker, der den Rechtsgrund zur Durchsetzbarkeit des Völkerrechts gegenüber den Staaten darstellt. 90 Ausgehend von diesem Gedankengang ist nach Ansicht von Emmerich-Fritsche der Begriff des "Zwangs" im Völkerrecht weiter zu fassen. Neben den wirtschaftspolitischen Druckmitteln 91 zählen für sie zahlreiche vorbeugende Überwachungsverfahren - wie beispielsweise Stellungnahmen, Konsultationen und Überprüfungen - zu den möglichen Mitteln der Zwangsausübung im Völkerrecht. 92 Dennoch erscheint es fraglich, ob diese Durchsetzungsverfahren dem Begriff des Rechts im engeren, strikten Sinn genügen. Dabei stellt für Emmerich-Fritsche die legitime Ausübung physischer Gewalt kein hinreichendes Merkmal des völkerrechtlichen Zwangs dar, weil die Staaten bereits Zwangsordnungen stellen. Hinzu kommt, daß im Sinne der Lehre Kants das notwendige Maß des eingesetzten Zwangs zur "Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit"93 erforderlich und zweckmäßig sein sollte. 94 Demnach ist der Rechts- und Zwangscharakter des Völkerrechts nicht abzustreiten. Je stärker sich seine Wirksamkeit und Durchsetzungskraft entwickelt, was insbesondere auch von der Rechtsstaatlichkeit der nationalen Verfassungen abhängig ist, desto vollkommener wird seine Verbindlichkeit. 95 Folglich befindet sich das Völkerrecht auf einer noch nicht vollständig entwickelten Rechtsstufe. Siehe dazu das 3. Kap. in diesem Teil. Vgl. Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht. 90 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.87-96; dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht und Ph. Kunig, Völkerrecht als öffentliches Recht, in: Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, hrsg. von Albrecht Randelzhofer, 1995, S. 325-346, hier S. 332; siehe auch 4. Teil, 4. Kap. 11.3. 91 Siehe dazu das 3. Kap. in diesem Teil. 92 Vgl. A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht; W. Benedek, Die Rechtsordnung des GATT aus völkerrechtlicher Sicht, S. 284. 93 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 338. 94 Vgl. A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht; Kant, Zum ewigen Frieden, S. 211. 95 Vgl. A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht; dazu auch K. Doehring, Völkerrecht, 1999, S. 22-23. 88 89
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
Nicht nur unter den erörterten theoretischen Gesichtspunkten wird das Völkerrecht als Recht gesehen, sondern auch die Staatenpraxis selbst erkennt den Charakter des Völkerrechts als Rechtsordnung seit Jahrhunderten an. 96 So ist die Lehre von der Leugnung des Völkerrechts für lose! Kunz unhaltbar, weil sie seiner Ansicht nach offensichtlich nicht mit der Rechtswirklichkeit übereinstimmt: "There always had been deniers of international law, that is, those who did not deny the existence of the ,materials, commonly known as international law, , but who denied their legal character. Such deniers are again numerous at the present time .... they cast internationallaw aside as ,sterile', as ,largely irrelevant in international affairs'; they condemn the ,moralistic-legalistic' approach in foreign policy and emphasize the ,national interest.' It is hardly necessary to state that this approach is untenable. As history has shown from the beginning, law is indispensable for the living together of men; and this is true, too, on the internationallevel."97
Eine gleichermaßen pragmatische Argumentation vertritt Georg Dahm bezüglich der Rechtsnatur des Völkerrechts. Für ihn ist Völkerrecht ohne Zweifel Koordinationsrecht, das auf dem Konsens gleichberechtigter Partner basiert. Die Begründung des Rechtscharakters liegt in dem Willen und der Überzeugung der Staatengemeinschaft und der Befolgung der Regeln als Normen des "praktischen Handelns"98: "Es ist Recht, wenn es in der Gemeinschaft als verbindliche Norm durchweg befolgt wird. Und das trifft auch auf das VR ZU."99
Zusammenfassend beurteilt kann das Problem der Rechtsnatur des Völkerrechts demnach aus zwei gänzlich unterschiedlichen gedanklichen Blickwinkeln thematisiert werden. Einerseits kann ein auf eine bestimmte Rechtsdefinition fixierter Ausgangspunkt dominieren. Dabei ist deutlich geworden, daß eine Charakterisierung der internationalen Regeln vollständig von der gewählten Rechtsdefinition abhängt. Andererseits kann aber auch folgende Fragestellung aufgegriffen und diskutiert werden: In welcher Form kann es eine Rechtsordnung für eine Völkergemeinschaft geben, die nicht auf dem Prinzip der Über- und Unterordnung, sondern auf dem Grundsatz gleichberechtigter souveräner Staaten beruht? Die dafür entwickelten Lösungen der Wissenschaft basieren auf höchst unterschiedlichen Rechtsauffassungen. Bereits in den dargestellten Erklärungsansätzen ist sehr deutlich zu erkennen, daß sich hinter der Frage nach der Rechtsnatur ein weiterer Problemkreis verbirgt. So bilden die Konzeptionen über das Verhältnis von staatlichem und internationalem Normensystem eine mögliche Ausgangsbasis zur Problemlösung. Nicht zuletzt aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, die Auffassungen der Rechtswissenschaft zur Beziehung beider Normenkreise aufzubereiten, um durch 96 Dazu W. Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, in: Völkerrecht, hrsg. von Wolfgang Graf Vitzthum, 1997, S. I-WO, hier S.43-44. 97 J. Kunz, The changing law ofnations, 1964, S.160-161. 98 G. Dahm, Völkerrecht, S.12. 99 G. Dahm, Völkerrecht, S. 14.
3. Kap.: Die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts
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die Beschäftigung mit dieser Frage zugleich Aufschluß über das Wesen und den Geltungsgrund des Völkerrechts zu bekommen. Im folgenden Kapitel sollen zunächst die in der Praxis bestehenden Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten kritisch dargestellt und zur abschließenden Beurteilung des Völkerrechts als Rechtsordnung herangezogen werden.
Drittes Kapitel
Die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts I. Maßnahmen zur Rechtsdurchsetzung gegenüber den Staaten Im folgenden ist zu untersuchen, ob und inwieweit die Völkerrechtsnormen gegenüber den Staaten mittels Zwang durchgesetzt werden und somit die Rechtsnatur des Völkerrechts beeinflußt wird. Es ist zu fragen, warum die Staaten die internationalen Regeln auch ohne zentrale Zwangsgewalten einhalten und die Zahl der Rechtsverletzungen gering bleibt - verglichen mit der großen Anzahl an Fällen, bei denen die Regeln täglich befolgt werden. 100 Die Frage kann in verschiedenartiger Hinsicht beantwortet werden. Ein möglicher Erklärungsansatz ist die innere Pflicht der Staaten, zur Ordnung und Stabilität innerhalb des internationalen Rechtssystems beizutragen. Soweit ein Staat seine Zustimmung zu völkerrechtlichen Regelungen bekundet hat, wird er sich verpflichtet fühlen, diese auch einzuhalten; denn so kann er direkt zur Verwirklichung gesteckter Ziele der Staatengemeinschaft beitragen. Auch sind sich die Staaten bewußt, daß mögliche Nachteile, die für den einzelnen Staat durch eine Rechtsbefolgung entstehen können, durch den Bestand eines gemeinsamen Rechtssystems mitsamt den sich daraus ergebenden Vorteilen ausgeglichen werden. Die zunehmende Verflechtung der staatlichen Aktivitäten läßt die Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von Verhaltensweisen sowie gegenseitiges Vertrauen wichtig werden. Dies ist nur möglich, wenn das Recht freiheitlichen Prinzipien folgt, also Gesetze zur Grundlage hat, welche sich die Völker oder ihre Organe selbst gegeben haben, so daß die Staaten auch aus diesem Aspekt heraus zur Einhaltung des Völkerrechts motiviert sind. 101 Im bekannten "Lotus"-Fall bekräftigte der Ständige Internationale Gerichtshof diesen Ansatz mit folgender Formulierung: "Intemational law govems relations between independent states. The rules of lawbinding upon states emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages genVgl. G. Glahn, Law Among Nations, S.4. Vgl. L. Henkin, International Law: Politics and Values, S.49-50; G. Glahn, Law Among Nations, S.4-6 und S.9; dazu auch O. Höfte, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 25-29; E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 3 und S.13-21. Zur freiheitlichen Gesetzlichkeit des Rechts siehe K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 519-535 und S. 560-577. 100
101
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung erally accepted as expressing principles of law and established in order to regulate the relations between co-existing independent communities or with a view to achievement of common aims."102
Daneben sind sogenannte "politische Kräfte" ein externes Antriebsmoment zur Einhaltung des internationalen Rechts. 103 Ihre Einsatzmöglichkeiten wirken als ein deutlich fühlbares und demonstrierbares "Abschreckungsmiuel". Dabei gehen solche Maßnahmen manchmal nicht nur von einem geschädigten Staat allein, sondern von einer Staatengruppe aus, insbesondere bei einer offenkundigen Verletzung einer wesentlichen Völkerrechtsnorm, so wie sie im Falle einer groben Verletzung von Menschenrechten oder des Gewaltverbots gegeben ist. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind die Reaktionen auf den sowjetischen Militäreinsatz in Afghanistan, auf die Rassentrennungspolitik in Südafrika und auf Chinas Unterdrückung der Studentendemonstrationen. Nicht immer sind solche Maßnahmen jedoch wirksam. Jedes Mittel zur Rechtsdurchsetzung hat seine Schwachpunkte und kann unzulänglich sein, sofern die Vorteile einer Rechtsverletzung für den verletzenden Staat unverhältnismäßig höher erscheinen als deren Kosten. Darüber hinaus ist es schwierig, gemeinsame politische Sanktionen gegen Rechtsverletzungen zu initiieren, sobald sich innerstaatliche Widerstände gegen die Unterstützung solcher Maßnahmen bilden. 104 Aber das Vertrauen auf Einvernehmen oder politische Aktionen sind nicht alleinige Gründe der Staaten, die für das Einhalten völkerrechtlicher Regeln sprechen. Im Grundsatz wird die Verwirklichung der völkerrechtlich vereinbarten Rechte und Pflichten sowohl durch die Regel "pacta sunt servanda" und die Maxime der "bona fides" als auch durch das Prinzip der Gegenseitigkeit bestimmt. 105 Trotz des Fehlens zentraler Gewalten zur Gesetzgebung und Durchsetzung der Normen bietet das Völkerrecht weitere Mechanismen, die den Rechtsvollzug gewährleisten. Als solche externen Beweggründe für rechtmäßiges Handeln haben sich in erster Linie der diplomatische Weg, die Vermittlung durch Dritte, die Schiedsgerichtsbarkeit, die internationale Gerichtsbarkeit sowie die anerkannten Arten von Selbsthilfemaßnahmen im Laufe der Zeit herausgebildet. In Artikel 33 Abs. 1 der UN-Charta sind diese Streiterledigungsarten anerkannt, die im Anschluß detailliert erläutert werden: "The parties to any dispute, the continuance of which is IikeIy to endanger the maintenance of international peace and security, shaIl, first of aII, seek a solution by negotiation, enquiry, mediation, conciliation, arbitration, judicial settlement, resort to regional agencies or arrangements, or other peaceful means of their own choice." 102 The S. S. Lotus, PCIJ, 1927, Series A, No. 10; dazu K. DoehringlT. BuergenthallJ. Kokottl H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 148-150. 103 Louis Henkin bezeichnet diese Durchsetzungsmittel als "horizontal enforcement"; siehe L. Henkin, International Law: Politics and Values, S. 50. 104 Vgl. L. Henkin, International Law: Politics and Values, S. 50-51; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.475-477; E. MenzellK.Ipsen, Völkerrecht, S.14-18; K.Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S.41-50. 105 Dazu 4. Teil, 4. Kap. II. 3. a) und 4. Teil, 3. Kap. III. 2. b).
3. Kap.: Die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts
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1. Diplomatische Verfahren Als "Verhandlungen" (negotiations) können alle Arten von freiwilligen Streitschlichtungsmaßnahmen zwischen den betroffenen Parteien bezeichnet werden. 106 Sie werden unter Einhaltung des diplomatischen Weges durchgeführt. Damit sind auch Konferenzen, Gipfeltreffen und Besuche zwischen Regierungschefs, Staatsoberhäuptern und anderen Staatenvertretern zu dieser Gruppe zu zählen. 107 Greift ein außenstehender Dritter lO8 - auf Wunsch der Streitparteien oder aus eigener Veranlassung mit Einverständnis der Beteiligten - in die Konfliktsituation ein, um sich bei der Findung geeigneter Lösungsmöglichkeiten aktiv zu beteiligen, spricht man von "Vermittlung" (mediation). 109 Initiiert der unparteiische Dritte lediglich die Verhandlungsaufnahme oder hilft bei deren Vorbereitung, wird dies als "gute Dienste" (bons offices) bezeichnet. Bei der "Untersuchung" (inquiry) wird eine unabhängige Kommission einvernehmlich beauftragt, den Fall zu beleuchten und einen Statusbericht abzugeben. Jener enthält allerdings keine Empfehlungen und schafft für die streitenden Parteien nur eine Basis zur friedlichen Streiterledigung. Arbeitet eine hierfür gebildete unabhängige Kommission einen Bericht mit Lösungsvorschlägen zum Streitfall aus, besteht ein "Ausgleichsverfahren" (conciliation). Bei den bisher genannten Verfahren zur Durchsetzung des Völkerrechts besteht für die streitenden Staaten keine rechtliche Verpflichtung zu ihrer Befolgung. 110 Für all jene Maßnahmen ist die Diskussionsbereitschaft der beteiligten Parteien Voraussetzung. Damit sind alle Arten von diplomatischen Verfahren nicht unbedingt als Zwangsmittel, sondern eher als Methoden zur Rechtsdurchsetzung zu werten. 106 Darüber hinaus wird die Fonn der Verhandlung generell bei zwischenstaatlichen Angelegenheiten, wie z. B. bei Vertragsvorbereitungen, angewendet. Vgl. A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S.432-435 und S. 440-441. \07 Vgl. A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 889-890; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 302-303 und S. 342-343. Darüber hinaus besteht in der "Konsultation" eine präventive Fonn zur Konfliktlösung. Die von einer staatlichen Maßnahme tangierten Staaten werden vorab infonniert, um deren Interessen miteinbeziehen zu können. Vgl. A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 890-891. Ein weiteres Mittel zur Rechtsdurchsetzung könnte auch schon die Publizität von Mißständen darstellen, um die Staaten zur Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Pflichten zu veranlassen. 108 Dies können z. B. ein nicht betroffener Staat, Staatsoberhäupter oder auch der Heilige Stuhl sein; vgl. A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 891; K. Doehring, Völkerrecht, S.459. 109 Dazu L. Henkin, International Law: Politics and Values, S.54; A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 891; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 305-306. Bereits in der Zeit des klassischen Völkerrechts wurde die Vennittlung zur friedlichen Streitbeilegung genutzt, vgl. H. Neuhold, Internationale Konflikte - verbotene und erlaubte Mittel ihrer Austragung, 1977, S. 364. 110 Zur Verhandlung und Streiterledigung durch Dritte vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 301-311; K. DoehringlT. Buergenthal/J. KokottlH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S.64-66; A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 887-892; K. Doehring, Völkerrecht, S.457-460; L. Henkin, International Law: Politics and Values, S. 54-57; K.Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 1016-1021.
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
2. Internationale Schiedsgerichtsbarkeit Ebenso wie die Verhandlung und der Einbezug Dritter beruht auch die "Schiedsgerichtsbarkeit" (arbitration) auf einer alten Tradition. Im modemen Völkerrecht wird ein Schiedsgericht - in Form einer Einzelperson oder eines Kollegiums - angerufen, um über einen Streit entsprechend den völkerrechtlichen Normen zu urteilen. Der Einbezug eines Schiedsgerichts ist nur möglich, wenn dies zwischen den Parteien vertraglich vereinbart wurde. 111 Die Entscheidung des Schiedsorgans ist für die Streitparteien verbindlich und endgültig, sofern nicht die Möglichkeit zur Revision vertraglich festgelegt ist. Alle diese Merkmale sowie weitere Verfahrensregeln und generelle Bestimmungen zur Schiedsgerichtsbarkeit wurden erstmals im "Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle" von 1899/1907 schriftlich fixiert. 112 Darüber hinaus gelang es mit diesem Vertrag, den Ständigen Schiedshof zu gründen - als die erste Einrichtung zur abschließenden Beurteilung von Streitigkeiten zwischen Staaten. 113 Kennzeichnend für die Schiedsgerichtsbarkeit ist der Einfluß der Streitparteien auf die Zusammensetzung der Rich111 Dabei können Umfang und Art des Einsatzes eines Schiedsorgans in einem eigenständigen Vertrag (Schiedsvertrag) zwischen den betroffenen Staaten geregelt sein. Möglich ist auch die Festschreibung einer solchen Schiedsgerichtsvereinbarung innerhalb eines Vertrages, der über einen bestimmten Sachverhalt abgeschlossen wird, so daß bei Streitfragen zu diesem Gebiet das Schiedsgericht anzurufen ist (Schiedsklausel). Neben diesen beiden Formen der institutionellen Schiedsgerichtsbarkeit können Staaten darüber hinaus für einen ganz speziellen Streitfall - ad hoc - den Einsatz eines Schiedsgerichts bestimmen (isolierte Schiedsgerichtsbarkeit). Unerheblich dabei ist immer, ob die Vereinbarung über das Schiedsorgan vor oder nach Beginn des Streites getroffen wurde. Zur Schiedsgerichtsbarkeit vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.495-500; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 892-899; L. Henkin, International Law: Politics and Values, S. 54-57; K. Doehring, Völkerrecht, S.460-462; K. Ipsen, Völkerrecht (4. Autl.), S. 1021-1026; W Sauer, System des Völkerrechts, 1952, S.472-473. 112 Am 18. Oktober 1907 wurde das Abkommen von 1899 auf der Friedenskonferenz revidiert. Der Vertrag regelt auch die Verfahren "Vermittlung", "gute Dienste" und "Untersuchung". Seine Regeln sind für alle Schiedsgerichte richtungsweisend, sofern die Streitteile keine abweichenden Verfahrensnormen festlegen. 1958 wurden die Regeln des Haager Abkommens modernisiert und von der UN-Generalversammlung in Form eines Beschlusses als "Modellregeln für die Schiedsgerichtsbarkeit" (Model rules on arbitral procedure) verabschiedet. Sie bieten Unterstützung beim Abschluß von Schiedsverträgen und bei der Durchführung von Schiedsverfahren; dabei bewahren die Regeln des Haager Abkommens weiterhin ihre Geltung; vgl. Commentary on the Draft Convention on Arbitral Procedure adopted by the ILC at its 5th session, April 1955 (Doc. A/CN.4/92); siehe auch K. Doehring/T. Buergenthal/J. KokoulH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 68-69. 113 Der Ständige Schiedshof in Den Haag besteht in Form einer listenmäßigen Zusammenstellung von Schiedsrichtern. Sie sind Völkerrechtsexperten, die von den Signatarstaaten des Abkommens ausgesucht und benannt werden. Kommt es im Rahmen eines bestehenden Konflikts zum vorher vereinbarten Einsatz der Schiedsgerichtsbarkeit, können die Streitparteien, die ein Schiedsgericht für eine bestimmte Streitigkeit einsetzen wollen, ihre Schiedsrichter aus dem Kreis der ernannten Schiedsrichter wählen, die dann als Schiedsgericht nach der festgelegten Verfahrensweise vorgehen. Vgl. Art.41-50 des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle.
3. Kap.: Die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts
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terbank für eine bestimmte Streitigkeit sowie die Festlegung des anzuwendenden Verfahrens und der Rechtssätze durch die Parteien selbst. 114 Laut des Haager Abkommens erkennen die Unterzeichner die Schiedsgerichtsbarkeit zur effektiven Lösung von Konflikten an, sofern der diplomatische Weg ausgeschöpft ist. Aber es besteht für die Staaten keine Verpflichtung, Schiedsvereinbarungen zu treffen und ein Schiedsgericht bei Konflikten auch tatsächlich einzusetzen: Anders als bei der obligatorisch-autonomen Gerichtsbarkeit ist für die Anrufung des Schiedsgerichts - sei es der Ständige Schiedshof oder eine andere vereinbarte Schiedsgerichtsbarkeit - die gemeinsame Entscheidung der Streitparteien maßgeblich. 115 Es fehlt ihnen demnach an einer regelmäßigen Organisation. Wurde allerdings ein Schiedsgericht angerufen, so kann es eine verbindliche Entscheidung mit Rechtscharakter treffen. Diese ist an die Staaten gerichtet und ohne jegliche Wirkung im innerstaatlichen Rechtsraum. 116 In der Staatenpraxis ist es üblich geworden, in internationale Verträge eine Schiedsklausel zu integrieren, sofern sie nicht bereits durch einen Schiedsvertrag abgedeckt sind. 117 Daher ist der Einbezug einer Schiedsgerichtsbarkeit bezüglich Fragen und Streitigkeiten zur Anwendung und Auslegung von Verträgen auf internationaler Ebene weit verbreitet. Mit der Integration der Schiedsgerichtsbarkeit in die Charta der Vereinten Nationen kommt ihr positives Ansehen zum Ausdruck. Il8
3. Internationale Gerichtsbarkeit Im Gegensatz zur Arbeit der Schiedsgerichte ist der Internationale Gerichtshof ein ständiges Gericht, dessen Richter, Verfahrensordnung und Verfahrensrecht die Parteien nicht selbst auswählen können. Er wurde von den Vereinten Nationen nach dem Prinzip des klassischen Völkerrechts als Gericht für Streitigkeiten zwischen den Staaten gegründet und ist zugleich eines der sechs Hauptorgane dieser Organisation mit Sitz in Den Haag. 119 Erstmalig trat er 1946 zusammen und löste den 1920 114 In dieser Hinsicht unterscheiden sich internationale Schiedsgerichte von ständigen, institutionalisierten internationalen Gerichten; vgl. H.-i. Letzei, Streitbeilegung im Rahmen der Welthandelsorganisation: Geschichte und völkerrechtliche Qualität, 1999, S. 104-106; K. Doehring/T. BuergenthallJ. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 67-68. 115 Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.495. 116 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht. 117 Der Genfer Völkerbund beispielsweise richtete diese Schiedsgerichtsbarkeit 1919 in sein Statut ein. In den Jahren danach folgten weitere Verträge unter europäischen Staaten sowie mit den Vereinigten Staaten. So verpflichten sich die beiden Staaten des deutsch-schweizerischen Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrages vom 3. Dezember 1921, die verschiedensten Arten von Kontroversen, die nicht auf dem diplomatischen Weg gelöst werden können, entweder von einer Ausgieichskommission, einer Schiedsgerichtsbarkeit oder einer Gerichtsbarkeit austragen zu lassen; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 895. 118 Dazu M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, in: Völkerrecht, hrsg. von Wolfgang Graf Vitzthum, 1997, S. 525-580, hier S. 559-560. 119 Nur Staaten - nicht jedoch Einzelpersonen - besitzen laut IGH-Statut (Art. 34 Abs. 1) die Parteifähigkeit vor dem Internationalen Gerichtshof. Demnach können ihm aber auch Völker-
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
gegründeten Ständigen Internationalen Gerichtshof aus der Völkerbundära ab. Die Hauptaufgaben dieses Gerichts bestehen darin, die von internationalen Organen angeforderten Rechtsgutachten zu erstellen und in zwischenstaatlichen Rechtsstreitigkeiten durch rechtskräftig verbindliches Urteil Völkerrecht zu verwirklichen. Laut Art. 92 der UN-Charta ist es das "Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen" und steht allen Staaten - seien sie Mitglieder der Vereinten Nationen oder nicht - offen, womit ihm eine weltumfassende Bedeutung zukommt. 120 Die 15 Richter werden vom Sicherheitsrat und der Vollversammlung der Vereinten Nationen gewählt; sie urteilen auf der Grundlage des gesamten Völkerrechts. 121 Obwohl das IGH-Statut als Bestandteil der UN-Charta von fast allen Staaten der Welt ratifiziert worden ist, ist der Internationale Gerichtshof nicht automatisch für alle Auseinandersetzungen zwischen den Staaten zuständig. Hierzu bedarf es zusätzlich einer Vereinbarung zwischen den streitenden Parteien oder einer Erklärung gegenüber dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, mit der ein Staat die Zuständigkeit des Gerichts für seine völkerrechtlichen Streitigkeiten anerkennt. 122 Eine völkerrechtlich begründete Pflicht, das Verfahren des Gerichts und sein Urteil anzuerkennen, gibt es nicht. Darüber hinaus kann das Urteil nicht mittels Zwang durchgesetzt werden. Die Verbindlichkeit und Wirksamkeit der Urteile verringern sich dadurch. Ihre häufige Mißachtung ist deshalb die Folge. 123 Die UN-Charta bietet also - genauso wie das allgemeine Völkerrecht - keine rechtliche Grundlage für eine obligatorische internationale Gerichtsbarkeit mit unabdingbarer Rechtsdurchsetzungsmöglichkeit. Eine solche Entwicklung würde den Charakter des Völkerrechts im Sinne eines Weltrechts verändern. 124 Aus der erforderlichen freiwilligen Unterwerfung der Streitparteien unter die Gerichtsbarkeit ist der Aufbau des Völkerrechts als Konsensrecht erneut erkennbar. Seit der Eröffnungssitzung im April 1946 bis November 1999 hat der Internationale Gerichtshof 24 Gutachten erarbeitet und 68 Urteile geHillt. Themenbereiche der Urteilsfindung rechtssubjekte, wie z. B. internationale Organisationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, keine Rechtssachen unterbreiten; vgl. K. Doehring, Völkerrecht, S.463-488; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, S. 562-571; K. Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 1026-1034. 120 Vgl. H.-J. Letzel, Streitbeilegung im Rahmen der Welthandelsorganisation: Geschichte und völkerrechtliche Qualität, S. 108. 121 Vgl. K. DoehringlT. BuergenthallJ. KokottlH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 74; A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 117-129; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.500-505; W. Sauer, System des Völkerrechts, S.473-478; K. Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 1028-1029; K. Doehring, Völkerrecht, S.469-472. 122 Diese einseitige Erklärung wird als "Fakultativklausel" in Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut geregelt. Sie kann ohne Vorbehalte - jedoch auch beschränkt oder zeitlich befristet - abgegeben werden; vgl. Art. 36 Abs. 3 IGH-Statut. 123 Vgl. H.-J. Letzel, Streitbeilegung im Rahmen der Welthandelsorganisation: Geschichte und völkerrechtliche Qualität, S. 114-115; K. DoehringlT. Buergenthal/J. KokottlH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 80; A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht. 124 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht.
3. Kap.: Die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts
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waren dabei insbesondere territoriale und maritime Grenzen, der Einsatz militärischer Gewalt, die Einmischung in interne staatliche Angelegenheiten, diplomatische Beziehungen, Wirtschafts- und Asylrecht und territoriale Souveränität. Zur Zeit befinden sich 24 Rechtsstreitigkeiten im schwebenden Verfahren. 125 Die grundsätzliche Beschränkung des Internationalen Gerichtshofs auf rein völkerrechtliche Streitigkeiten in Verbindung mit der von vielen Staaten fehlenden vorbehaltlosen Akzeptanz der Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs 126 erklärt den begrenzten Umfang und die geringe Bedeutsamkeit der bisher entschiedenen Fälle des Internationalen Gerichtshofs im Vergleich zu den insgesamt auftretenden rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen den Staaten. 127 Würden mehr Staaten die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs für ihre völkerrechtlichen Belange bekunden, könnten Streitigkeiten nicht mehr nur durch gemeinsame Unterwerfung beider Parteien, sondern auch durch Klageerhebung eines Staates, dem Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt werden. Offensichtlich käme diese Entwicklung einer eher obligatorischen Gerichtsbarkeit näher. 128 Doch nicht nur für das Recht der Vereinten Nationen - sondern überall da, wo sich eine tiefergehend integrierte Organisationsform entwickelt hat - gibt es eine solche kontinuierliche Diskussion um die Konzeption der Rechtsprechung und Streitbeilegung. So wurde für den Regelungsbereich der Weltwirtschaftsordnung ein obligatorischer Streitbeilegungsmechanismus zur Auslegung der Bestimmungen des WTOAbkommens installiert, der als mehrstufiges Panel-Verfahren unter Einbezug des "Dispute Settlement Body" 129 und des "Appellate Body" 130 zur institutionalisierten 125 Siehe www.un.org/law (Stand 2(01); dazu auch M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, S. 570. 126 Nur etwa ein Viertel der UNO-Mitglieder hat eine vorbehaltlose Erklärung im Sinne des Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut abgegeben. Oftmals grenzen Staaten die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs für staatsinterne Streitigkeiten aus - was lediglich den Maßgaben des Statuts entspricht. Allerdings können grundsätzlich auch Streitigkeiten vor dem Gericht zugelassen werden, welche die internen Angelegenheiten einer Partei betreffen (Art. 38 und Art. 36 Abs. I und IGH-Statut); dazu K. DoehringlT. Buergenthal/J. KokottlH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 77-79; M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, S. 564-566 und S. 57!. 127 Dennoch hat die Rechtsprechung des IGH die Inhaltsbestimmung und Entwicklung des geltenden Völkerrechts entscheidend beeinflußt; vgl. M. Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, S. 570-57!. 128 Vgl. K. DoehringlT. Buergenthal/J. KokottlH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S.74-75; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 506-510; K.lpsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 1033-1034. 129 Der "Dispute Settlement Body" (DSB) ist das Streitbeilegungsgremium der WTO und setzt sich aus Mitgliedern des Allgemeinen Rates zusammen, vgl. Art. IV Abs.3 WTO-Abkommen und Art. I Abs. I und Art. 2 Abs. I DSU. Das "Dispute Settlement Understanding" (DSU) beinhaltet die Streitbeilegungsvorschriften für das gesamte WTO-Abkommen; sie sind im WTO-Abkommen, Annex 2: "Understanding on rules and procedures governing the settlement of disputes" schriftlich fixiert. 130 Der "Appellate Body" ist das Revisionsgremium des WTO-Streitschlichtungsverfahren, vgl. Art. 17 DSU.
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Rechtsdurchsetzung dient. 131 In seiner Gesamtheit könnte dieses automatisierte und reglementierte System als gerichtsähnliches Streitbeilegungsverfahren anerkannt werden, so daß Entscheidungen dieses Gerichts sowohl für die Mitgliedstaaten wie auch für die Organe der Europäischen Union verbindlich sind. 132 Die auf einem solchen Weg als vertragswidrig eingestuften Maßnahmen sind aufzuheben. Die Belastung der unterlegenen Streitpartei mit wirtschaftlichen Sanktionen kann sie dazu bewegen, ihr Verhalten zu ändern, aber letztlich besteht keine Gewähr, daß das Recht der WTO durch dieses Verfahren durchgesetzt werden kann, weil die Umsetzung der Entscheidungen im Machtbereich der Mitgliedstaaten respektive der Europäischen Gemeinschaften liegt. 133 Im Vergleich dazu besitzt die - partikuläre - Rechtsordnung der Europäischen Union ein deutlich machtvolleres Organ zur Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung. Der Europäische Gerichtshof entwickelte sich zum "Rechtsdurchsetzungsmotor" der Gemeinschaften, indem er umfassend alle Rechtsprechungsaufgaben im Zusammenhang mit den Europäischen Gemeinschaften wahrnimmt, verbindlich über Streitigkeiten zwischen den Organen sowie zwischen den Gemeinschaften und den Mitgliedstaaten entscheidet und über die Gültigkeit und Auslegung von Gemeinschaftsrecht urteilt. Insoweit kann er auch von Bürgern angerufen werden, wenn sie 131 Verstößt ein Staat oder verstoßen die Europäischen Gemeinschaften gegen die Rechtsnormen der WTO, kann der dadurch verletzte Staat oder die verletzte Organisation die Einsetzung eines sogenannten "Panels" beantragen, das seine Rechtsauffassungen in einem Bericht dem politisch besetzten "Dispute Settlement Body" vorlegt. Anders als im Streitbeilegungsverfahren des GATT 1947 ist das jetzige Verfahren der WTO durch das Prinzip des "negativen Konsenses" bestimmt. Der Antrag auf Einsetzung eines Panels und die Erstellung des Berichts können nicht mehr erst durch Einstimmigkeit erreicht werden, sondern die Ablehnung des Antrages oder des Berichts muß durch Einstimmigkeit des DSB erfolgen (v gl. Art. 16 Abs. 4 und Art. 17 Abs. 14 DSU). Neu ist darüber hinaus das Berufungsverfahren, dessen Durchführung vom ,,Appellate Body" erfolgt. Dieses Berufungsgremium können die Streitparteien darüber hinaus anrufen. Es entscheidet auch nach dem negativen Konsensprinzip. Damit ist das Kontrollsystem des GATT in der WTO stark verrechtlicht und den Panel-Berichten ihr früherer Charakter als unverbindliche Stellungnahme genommen worden. Unverbindliche Stellungnahmen sind in der internationalen Sphäre noch weit verbreitet, etwa bei der Internationalen Arbeitsorganisation oder der Europäischen Sozia1charta. Vgl. D. Siebold, Der Fall Bananenmarktordnung. Die Europäische Gemeinschaft im Streit mit der Welthandelsorganisation. 132 Zum Streitbeilegungsverfahren der WTO siehe A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht. 133 Im Streit um die Bananenmarktordnung (seit 01.07.1993 für alle EU-Mitgliedstaaten in Kraft) zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der WTO verweist der Europäische Gerichtshof auf die Geschmeidigkeit der GATT 1947- und WTO-Vorschriften. Sinn, Aufbau und Wortlaut dieser Abkommen schließen seiner Meinung nach die unmittelbare Anwendbarkeit der Regeln aus. Durch das ausgeweitete und verrechtlichte Streitschlichtungsverfahren (umgekehrtes Konsensprinzip) werden die Europäischen Gemeinschaften auch gegen ihren Willen gebunden und zu innerstaatlichen Maßnahmen verpflichtet. Der Streitgegner USA ist berechtigt, vorübergehend Sanktionen einzufordern, bis die Bananenmarktordnung der Europäischen Gemeinschaften dem WTO-Recht entspricht. Dieser Konflikt ist seit April 2001 beigelegt: Ein neues Einfuhrsystem für Bananen wurde vereinbart und die USA hebt zum Juli 2001 die mit dem Konflikt verbundenen "Strafzölle" auf; vgl. D. Siebold, Der Fall Bananenmarktordnung. Die Europäische Gemeinschaft im Streit mit der Welthandelsorganisation.
3. Kap.: Die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts
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unmittelbar und individuell von Maßnahmen der Organe der Europäischen Gemeinschaften betroffen sind oder dadurch Schaden erleiden. Im Rahmen seiner Rechtsprechung praktiziert der Europäische Gerichtshof eine möglichst weite Auslegung der Begriffe sowie eine enge Auslegung der Ausnahmen des europäischen Rechts und fördert damit eine effektive Durchsetzung des Europäischen Gemeinschaftsrechts. 134 In der jüngsten Vergangenheit wurde die internationale Gerichtsbarkeit nicht nur um die Strafgerichte für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda,135 sondern auch um ~ie Errichtung des Internationalen Seegerichtshofs in Hamburg 136 und des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag ergänzt. Genauso, wie der bereits 1959 gegründete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 137, stellen diese Institutionen eine Verstärkung der Rechtsverwirklichung des Völkerrechts in weltrechtlicher Hinsicht dar. 138 Das Ziel der Staatenkonferenz vorn 15. Juni bis 17. Juli 1998 in Rom war, einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu errichten, um verfestigen und verallgemeinern zu können, was jetzt nur punktuell für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda gilt; nämlich die Verfolgung schwerster Straftaten durch die internationale Gemeinschaft. 139 Bereits ab 1926 gab es erste Entwürfe über ein Statut für einen solchen Strafgerichtshof und darüber hinaus erste ereignis- und themenbezogene Abkommen zur Bestrafung von Völkerrechtsverletzungen. 140 Dieses neue Gericht mit Sitz in Den Haag wird durch Dazu Th. Oppermann, Europarecht, S.147-153 und S. 272-290. Beide Strafgerichte mit Sitz in Den Haag bzw. im tansanischen Arusha wurden 1993/94 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Aufgabe eingesetzt, durch eine wirksame Strafverfolgung Täter abzuschrecken und Racheakte zu vermeiden. Zur Anklage kommen Völkermord, schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Tätigkeit der Gerichte ist zeitlich und örtlich auf jene Taten begrenzt, die seit 1991 im Hoheitsgebiet des ehemaligen Jugoslawien respektive im Verlauf des Jahres 1994 in Ruanda oder im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in angrenzenden Staaten begangen wurden. Dazu K. Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 585-587; K. Doehring/T. BuergenthallJ. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 164-165. 136 Vgl. K. Doehring/T. Buergenthal/J. KokottiH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S.171-172. 137 Eingehend dazu Th. Oppermann, Europarecht, S. 42-57. 138 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht; A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht. 139 Vgl. Präambel des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 1.Auft., 1999. 140 Meilensteine des völkerrechtlichen Strafrechts sind: Das Genfer Anti-Sklaverei-Abkommen vom 25. September 1926 verpflichtete die Signatarstaaten zur Schaffung von gesetzlichen Regeln und zur Bestrafung von Schuldigen. Das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 wurde zur Bestrafung der Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs von insgesamt 19 Staaten abgeschlossen und stellte die Grundlage zur Bildung der interalliierten Militärgerichte in Nürnberg und Tokio dar. Die Konvention der Generalversammlung der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948 legt für die Vertragsstaaten Handlungen fest, die diese unter Strafe stellen. Bisher trat also noch kein Abkommen oder Statut eines Strafgerichtshofs für einen umfassenden Regelungsbereich mit eigenständigen Strafnormen in Kraft. Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 134
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den Vertrag über das "Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs" als eine Organisation mit Völkerrechtspersönlichkeit errichtet, um die internationale Gerichtsbarkeit zu ergänzen. 141 Neben der Kodifizierung von gewohnheitsrechtlichem Völkerstrafrecht nimmt das Römische Statut auch Tatbestandsgruppen früherer Abkommen auf. 142 So sollen im Verantwortungsbereich des Strafgerichts Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen liegen. 143 Über seine Zuständigkeit im Falle eines Angriffskrieges, bei Rauschgifthandel und Terrorismus konnten sich die Staaten aufgrund des Fehlens gemeinsamer Definitionen nicht einigen. 144 Grundlegende Voraussetzung für das Tätigwerden des Strafgerichtshofs ist, daß entweder der Staat, in dessen Territorium der fragliche Fall geschehen ist, oder der Staat, dessen Staatsangehöriger einer Rechtsverletzung beschuldigt wird, Vertragsparteien des Statuts sind. 145 Auch die tatsächliche Ausübung der Gerichtsbarkeit läuft nicht in einem strikt automatisierten Verfahren ab; denn S. 489-493; K.lpsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 584-585. Die Geschichte des Völkerstrafrechts stellt Heiko Ahlbrecht ausführlich dar, siehe H. Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert: Unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Straftatbestände und der Bemühungen um einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof, 1. Aufl., 1999. 141 Vgl. Präambel sowie Art. 1 und 3 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute ofthe International Criminal Court. Darüber hinaus ist festgelegt, den Strafgerichtshof mittels eines Abkommens in direkten Zusammenhang zu der Satzung und dem Recht der Vereinten Nationen zu setzen, siehe Art. 2 des Römischen Statuts. Dabei sind wohl verschiedene Beziehungen zu den Vereinten Nationen möglich: Der Strafgerichtshof könnte als Spezialorgan der Vereinten Nationen, als vertragliche, UN-finanzierte Organisation oder als eine unabhängige Einrichtung konzipiert werden. Darüber hinaus müssen noch eine Reihe von Finanzierungsmöglichkeiten diskutiert werden; vgl. Art. 113-118 des Römischen Statuts, in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court. 142 Beispiele dafür sind die Haager Landkriegsordnung (1907), das Genfer Abkommen (1949), die Statuten der Internationalen Militärtribunale in Nürnberg und Tokio (1945) sowie die Statuten der Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda (1993/1994); vgl. H. Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert: Unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Straftatbestände und der Bemühungen um einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof, S. 391-394. 143 Vgl. Ph. Kirsch, Introduction, in: Commentary on the Rome Statute of the International Crirninal Court, hrsg. von Otto Triffterer, I. Aufl., 1999, S. XXIV sowie Art. 5 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court. 144 Vgl. H. Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert: Unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Straftatbestände und der Bemühungen um einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof, S. 395. Dafür wurde eine vierte Verbrechenskategorie "Verbrechen der Aggression" in den Art. 5 des Römischen Statuts mit aufgenommen, für die jedoch noch eine gemeinsam akzeptierte Definition erarbeitet werden muß, um sie dann entsprechend den Bestimmungen des Status (Art. 121 und 123) als Bestandteil der Jurisdiktion des Gerichts in das Statut aufzunehmen. 145 Vgl. Art. 12 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Ein Staat, der nicht Vertragspartei des Status ist, kann die Jurisdiktion des Strafgerichts für das fragliche Verbrechen anerkennen; siehe Art. 12 Abs. 3 des Römischen Statuts, in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court.
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der Strafgerichtshof wird erst tätig, wenn ein Vertrags staat - sei es ein unmittelbar durch das Geschehen betroffener oder ein beobachtender Staat - eine nähere Untersuchung des Falles initiiert oder wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Geschehen weiterleitet. 146 Der Strafgerichtshof wird demnach einschreiten, sofern ein Einzelstaat nicht in der Lage ist, eine befriedigende Untersuchung und Entscheidung herbeizuführen. In diesem Sinne kann man von einer Komplementarität zur nationalen Gerichtsbarkeit sprechen. Damit schließt dieser neu geschaffene Strafgerichtshof eine bisher bestehende Lücke im internationalen Rechtssystem; denn der Internationale Gerichtshof behandelt ausschließlich Streitfälle zwischen den Staaten, nicht zwischen Individuen. Daher blieben Streit- und Verbrechensfälle, für die Individuen verantwortlich waren, oftmals unbestraft. Kofi Annan, Generalsekretär der Vereinten Nationen, drückt diese Entwicklung wie folgt aus: "In the prospect of an international criminal court lies the promise of universal justice. That is the simple and soaring hope of this vision. We are dose to its realisation. We will do our part to see it through till the end. We ask you ... to do yours in our struggle to ensure that no ruler, no State, no junta and no anny anywhere can abuse human rights with impunity. Only then will the innocents of distant wars and conflicts know that they, too, may sleep under the cover of justice; that they, too, have rights, and that those who violate those rights will be punished." 147
Bis August 2001 wurde das Statut von 139 Staaten unterzeichnet und von 37 Nationen ratifiziert. 148 Erst wenn insgesamt 60 Ratifikationsurkunden beim Generalsekretär der Vereinten Nationen hinterlegt sind, wird das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Kraft treten können. 149 Es bleibt also abzuwarten, ob und in welchem zeitlichen Rahmen das Statut Geltungskraft erhalten wird und ob damit ein effizienter Gerichtshof entstehen kann. So befürchten manche Kritiker aufgrund der Behandlung der Fälle durch die Einzelstaaten - solange sie dies wollen und dazu fähig sind -, daß sich der Strafgerichtshof als ein zu schwaches Organ zur Rechtsverwirklichung erweisen könnte. 150
4. Selbsthilfemaßnahmen Sind alle aufgeführten friedlichen Mittel zur Streitbeilegung und zur friedlichen Durchsetzung eines Rechtsanspruchs ergebnislos ausgeschöpft oder konnten sich die Streitparteien auf kein Streitschlichtungsverfahren einigen, so verbietet das Völ146 Vgl. Art. 13, 14 und 15 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court. 147 Siehe www.un.org/law/icc/general/overview (Stand 2001). 148 Vgl. www.un.org!law/icc/statute/status (Stand August 2001). 149 Vgl. Art. 126 Abs. 1 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court. 150 Eine Übersicht der Kompetenzen des Strafgerichtshofs sowie Art und Umfang seines Aufgabengebietes gibt Ph. Kirsch in seinem einführenden Artikel "Introduction", S. XXIIIXXVIII.
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kerrecht die Erzwingung des Anspruchs mit militärischer einzel staatlicher Gewaltanwendung - auch wenn er durch eine Entscheidung eines Schiedsgerichts oder des Internationalen Gerichtshofs festgestellt wurde. Festgelegt ist dies in Art. 2 Ziff. 3 und 4 der Charta der Vereinten Nationen, die aufgrund der hohen Mitgliederzahl der globalen Organisation als allgemeine Völkerrechtsregeln betrachtet werden; denn sie liegen im Interesse der ganzen Staatengemeinschaft. 151 Sie stellen fest: ,,3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, daß der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. 4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."
Die Charta manifestiert also neben einem grundsätzlichen Gewaltverbot auch ausdrücklich das Verbot der gewaltsamen Durchsetzung des Völkerrechts durch die Einzelstaaten, sofern nicht Ausnahmegründe - wie etwa die Verteidigung oder Abwehr einer Bedrohung des Weltfriedens - vorliegen. 152 Krieg scheidet damit als Mittel zur Rechtsdurchsetzung aus. 153 Und wie bereits ausgeführt, bietet das Recht der Vereinten Nationen kein zentrales Organ oder Verfahren zur garantierten Verwirklichung des Völkerrechts. 154 Für Alfred Verdross und Bruno Simma stellt diese "Lükke" einen "Hauptgrund für die häufigen Verletzungen des vr Gewaltverbotes" 155 dar. Im Vergleich zur Zeit des klassischen Völkerrechts stellt das Gewaltverbot der UNCharta eine grundlegende Veränderung dar; denn früher war die Rechtsdurchset zung oftmals nur durch Selbsthilfemaßnahmen möglich. Das Völkerrecht der Vereinten Nationen untersagt jedoch jede zwischenstaatliche Selbsthilfe, wenn keine Ausnahmen vorliegen. \5\ Vgl. A. Verdross, Jus Dispositivum and Jus Cogens in International Law, in: American Journal of International Law, Band 60, 1966, S.55-85; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.74-76; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 226-229. \52 Vgl. Art. 39-51 UN-Charta. Laut der Formulierung des Art. 2 Ziff.4 UN-Charta werden sowohl Mitglieder als auch Nichtmitglieder der Vereinten Nationen vor Gewaltanwendung und -drohung geschützt. Dazu K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 55; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.74; K. /psen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 929-962; K. Doehring, Völkerrecht, S. 196-203. \53 Dazu K./psen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 1013-1015 und S. 1046-1052; M. Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Völkerrecht, hrsg. von Wolfgang Graf Vitzthum, 1997, S. 581-664, hier S. 621-663. Bereits in seiner Schrift ,,zum ewigen Frieden" macht Kant deutlich, daß die Kriegsführung in die Natur des Menschen gelegt wurde: "Der Krieg aber selbst bedarf keines besonderen Beweggrundes, sondern scheint auf die menschliche Natur aufgepfropft zu sein und als etwas Edles ... zu gelten." Lösen sich die Staaten aus dem Naturzustand heraus in den Status der Vernunft, so wird ihr Ziel sein, Gesetze für ein freiheitliches Leben ohne Krieg zu schaffen. Kant, Zum ewigen Frieden, S.221; vgl. auch S.209-213 und S.221. \54 Siehe dazu das 2. Kap. in diesem Teil. \55 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 139.
3. Kap.: Die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts
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Zu diesen konkreten Ausnahmen zählten Notwehr und Nothilfe. 156 Mit beiden staatlichen Aktionen kann laut Art. 51 der UN -Charta die Abwehr eines "bewaffneten Angriffs" angestrebt werden, "bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat"157. Demnach liegt das Gewaltmonopol innerhalb der Vereinten Nationen beim Sicherheitsrat. 158 Während die Notwehr von dem bedrohten Staat selbst ausgeht, unterstützt bei der Nothilfe ein anderer Staat den Angegriffenen. Im Sinne der UNCharta stellen diese Maßnahmen das "naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung" 159 dar. Im Falle einer völkerrechtlichen Vertrags verletzung zählen das Rücktrittsrecht und die Leistungsverweigerung zu den aktiven Maßnahmen der Selbsthilfe mit Zwangscharakter. 160 Eine weitere Gruppe der im Ausnahmefall erlaubten Selbsthilfe bilden Retorsion und Repressalie, die beide aus dem Prinzip der Reziprozität resultieren. Erstere ist eine unfreundliche, aber nicht völkerrechtswidrige Gegenmaßnahme eines Staates, die eine vorangegangene gleichartige Handlung eines anderen Staates erwidert. Ein solcher Mitteleinsatz können beispielsweise das Rückziehen nicht vertraglich zugesicherter Entwicklungshilfe, die Aufgabe diplomatischer Beziehungen oder die Nichtverlängerung eines Handelsvertrages sein. Ziel des geschädigten Staates ist dabei, die andere Partei unter Druck zu setzen, um eine Verhaltensänderung zu erreichen. 161 Während die Retorsion auch Antwort auf einen unfreundlichen oder rechtswidrigen Akt sein kann, setzt die Repressalie eine Rechtsverletzung voraus. Als ein ausnahmsweise erlaubter Eingriff in die Rechtsgüter des verletzenden Staates ist sie nur innerhalb genau vorgegebener Grenzen zulässig: Zuvor muß der schädigende Staat erfolglos aufgefordert worden sein, seine Unrechtshandlung wieder gutzumachen. Darüber hinaus darf grundsätzlich nur von einem unmittelbar verletzten Staat eine Repressalie ausgehen; 162 dabei ist vor allem das Er156 Dazu K. Doehring, Völkerrecht, S.450-454; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 902. 157 Art. 51 UN-Charta. In der Völkerrechtswissenschaft wird allerdings über die Auslegung des Art. 51 diskutiert; dabei geht es insbesondere um die Definition und Abgrenzung der Begriffe "Gewalt" und "Angriff", siehe dazu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 285-293; K. Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 935-936. 158 Vgl. K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S.56; M. Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, S. 584-616. 159 Art. 51 UN-Charta; vgl. K. Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 568 und S. 934-935. 160 Dazu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 515-517 und S. 906; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.469-471. 161 Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.481; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 902; K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 229-232; K. Doehring, Völkerrecht, S. 442-443. 162 Alfred Verdross und Bruno Simma diskutieren Bedingungen, Möglichkeiten und Beispiele von Repressalien, die von (nur) mittelbar betroffenen Staaten gesetzt werden. Im Ergebnis bejahen sie die Durchführung von Kollektivsanktionen insbesondere bei schwerwiegenden Rechtsverletzungen. Beispiele aus der Praxis sind die Wirtschaftssanktionen im Falkland-Kon-
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
fordernis der Gleichwertigkeit der Maßnahme im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu beachten. Bei einer ungerechtfertigten Ausdehnung der Repressalienmaßnahme spricht man von Repressalienexzeß, der seinerseits als völkerrechtswidriges Handeln gewertet werden kann. Beispiele für Repressalien sind insbesondere produktbezogene Handelsembargos, jedoch auch Friedensblockaden und Beschlagnahmung von Bankguthaben. 163 Das in Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta festgelegte Gewaltverbot schließt darüber hinaus bewaffnete Repressalienmaßnahmen ein, so daß jeder staatliche Militäreinsatz - Ausnahmen sind lediglich Notwehr und Nothilfe - verboten ist.
5. Das System kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen Genauso wie der Internationale Gerichtshof bemühen sich die politischen Organe der Vereinten Nationen - vor allem Sicherheitsrat, Generalversammlung und Generalsekretär - um die Durchsetzung des Völkerrechts. Scheitern alle bisher genannten Verfahren im Bereich der Vereinten Nationen, so kann eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung auch dem Sicherheitsrat oder der Generalversammlung vorgelegt werden. Die Vereinten Nationen bilden ein System kollektiver Sicherheit, um die Erhaltung des Weltfriedens zu sichern. 164 Die dafür notwendigen Zwangsmaßnahmen kann der Sicherheitsrat empfehlen oder anordnen. 165 Sofern die gewaltlosen Maßnahmen wirkungslos bleiben, ist es ihm möglich, die Herstellung des Friedenszustands durch den Einsatz militärischer Gewalt zu erzwingen. 166 Die Verwirklichung der Friedenspflicht ist für die Mitglieder der Vereinten Nationen strikt verbindlich. Aber anders als in den national verfaßten Rechtsstaaten besteht für die Organe der Vereinten Nationen keine unabdingbare Obligation, gegen Rechtsverletzungen vorzugehen. 167 Die Prioritäten dieser völkervertraglich begründeten gemeinsamen Organe liegen in erster Linie in der Beilegung von Streitfcillen im Sinne einer praxisnahen Kompromißfindung zur Sicherung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit in Form von Lösungsvorschlägen oder Empfehlungen, während der Internationale Gerichtshof seine Schlichtungs- und Rechtsdurchsetflikt und Repressalien gegen die Teheraner Geiselnahme; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 907-909. 163 Zum Wesen der Repressalie siehe A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 907-912; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 479-482; K. Doehring, Völkerrecht, S.443-449. 164 Vgl. Art. 24 Abs. I UN-Charta; dazu auch K. Doehring, Systeme kollektiver Sicherheit, in: HStR, hrsg. von losef Isensee/paul Kirchhof, Band VII: Normativität und Schutz der Verfassung - Internationale Beziehungen, 1992, § 177, S. 669-686, insbesondere S. 671-674 und S.680-681. 165 Ausführlich dazu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 140-158. 166 Vgl. Art. 39 UN-Charta. 167 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 545-559 und S. 929-93 I.
3. Kap.: Die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts
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zungsaufgabe grundsätzlich streng nach geltendem Völkerrecht auszuüben hat. 168 Wohl auch aus diesem Grund präferieren viele Streitparteien diplomatisch-politische Wege zur Durchsetzung des Rechts. 11. Der Vollzug des Völkerrechts durch die Staaten Die dargestellte Grundstruktur des Völkerrechts beeinflußt die weltweite Kontrolle des Rechtsvollzuges erheblich; denn sein Ansatzpunkt ist die Verwirklichung des Rechts zwischen den Staaten. Aufgrund der Mediatisierung der Menschen durch die Staaten sind für sie grundSätzlich keine Durchsetzungsmöglichkeiten subjektiver internationaler Rechte und kein individuelles Klagerecht vor einem internationalen Gericht vorgesehen. Gleichermaßen besitzen die Organe der internationalen Organisationen keine unmittelbaren Zwangsbefugnisse gegenüber den Individuen. 169 Solche Entwicklungen wären als wesentliche Schritte in Richtung Weltrecht zu werten. 170 Betrachtet man die Mittel der Rechtsdurchsetzung, kann im Ergebnis festgestellt werden, daß es das Wesen des Völkerrechts ist, auf dem Konsensprinzip zu basieren und keine übergeordnete Zentralgewalt zu haben, die eine Durchsetzung der völkerrechtlichen Normen garantiert. Allein die Staaten sind zur Umsetzung und gewaltsamen Durchsetzung des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich befahigt. 171 Deren Organe und Vollzugsbeamte besitzen die größtmögliche Nähe zu den vom Vollzug betroffenen Bürgern. 172 Nach der Lehre von Karl Albrecht Schachtschneider kann die staatliche Zwangsausübung nur rechtens sein, wenn und weil sie auf den Gesetzen des Volkes beruht und damit freiheitlich begründet ist. 173 Die europarechtlichen und völkerrechtlichen Verträge begründen seiner Ansicht nach weder spezifische Gewaltbefugnisse noch einen Staat im existentiellen Sinn; vielmehr werden die internationalen Organe in die staatlichen Rechtsordnungen der jeweiligen Mitgliedstaaten integriert. 174 168 Vgl. Art. 37 Abs. 1, Art. 11 und 12 UN-Charta, K. DoehringlT. Buergenthal/J. Kokottl H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 38-42. 169 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welt-
handelsrecht; siehe auch 2. Teil, 2. Kap. III. sowie 3. Teil, 2. Kap. und 3. Kap. I. 170 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht. 171 Dazu K. A. Schachtschneider, Grundgesetzliche Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung, S. 152; K.A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung des staatlichen und kommunalen Verrnessungswesens in Bayern, Rechtsgutachten, 2000, S. 24-26 und K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E. I. 1. 172 Dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.93. 173 Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1-9, S. 14-23, S.315-322, S. 399-401 und S. 520-525; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, I. Kap.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil B. 174 Dazu K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, in: DSWR, Nr. 1-2, 1999, Teil I, S. 17-21, hier S. 19; siehe auch 4. Teil, 4. Kap. 11. 3.
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
Offensichtlich ist, daß sowohl die Möglichkeiten als auch die Bereitschaft zum Rechtsvollzug im innerstaatlichen Bereich wesentlich stärker sind als zwischen den Staaten: Sie werden vor allem unterstützt durch die Präsenz des polizeilichen Vollzugsapparates und der nationalen Gerichte. Das internationale Rechtssystem verlangt bei zwischenstaatlichen Streitigkeiten nicht immer nach einer eindeutigen Entscheidung entsprechend den Rechtsnonnen, sondern fordert eher einen gemeinsamen Diskurs mit den streitenden Parteien, um eine friedliche Lösung zu finden: "In general, then, the system promotes a culture of peaceful settlement rather than of compliance with the law." 175
Andererseits ist die Völkerrechtsordnung kein Recht ohne jegliche Zwangsmöglichkeiten und damit nicht notwendig als "soft law" zu bewerten. 176 Die bestehenden grundlegenden Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten des Völkerrechts gegenüber den Staaten bilden die Basis zur Rechtsverwirklichung der Völkerrechtsregeln im innerstaatlichen Bereich. Nicht nur der Willen der Staaten, die völkerrechtlichen Abkommen und Regeln einzuhalten, sondern auch die Mittel des Völkerrechts gegenüber den Staaten - insbesondere die diplomatischen Verfahren, die internationale Schiedsgerichtsbarkeit und Gerichtsbarkeit, die Selbsthilfemaßnahmen sowie das System kollektiver Sicherheit - lassen keine Durchsetzungslücke entstehen. 177 Es erscheint naheliegend und gerechtfertigt zu sein, vom Völkerrecht als Recht zu sprechen - mit der Besonderheit, daß es als Recht auf einer noch nicht vollständig entwickelten Rechtsstufe einzuordnen ist.
Viertes Kapitel
Erzeugung und Arten von Völkerrechtsnormen Um einen tieferen Einblick in das System des Völkerrechts zu gewinnen, werden im folgenden die verschiedenen Arten der Völkerrechtsnonnen vorgestellt. Grundlage dazu sind die in Art. 38 Abs. I des Statuts des Internationalen Gerichtshofs festgelegten Völkerrechtsquellen: "Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach dem Völkerrecht zu entscheiden, wendet an: a) internationale Übereinkünfte allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Staaten ausdrücklich anerkannte Regeln festgelegt sind; 175 L. Henkin, International Law: Politics and Values, S.51; siehe auchA. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 887-889. 176 Dazu W. Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, S.44-47; K. Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S.215-216. 177 Vgl. A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht.
4. Kap.: Erzeugung und Arten von Völkerrechtsnormen
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b) das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen als Recht anerkannten Übung; c) die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze; d) vorbehaltlich des Artikels 59 richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fahigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen ...
Es scheint, daß in der modemen Völkerrechtslehre -losgelöst von der Frage nach dem letztendlichen Geltungsgrund der Rechtsnormen - diese Aufzählung der Völkerrechtsquellen generelle Akzeptanz findet. Dabei werden Völkergewohnheitsrecht und -vertragsrecht als wertgleiche Erzeugungsarten eingestuft. Beide Erzeugungsarten sind neben den allgemeinen Rechtsgrundsätzen primäre Völkerrechtsquellen, 178 während die völkerrechtliche Judikatur und Lehre als untergeordnetes Mittel zur Bestimmung des Rechts anerkannt werden. 179 Demgegenüber handelt es sich bei "sekundären Quellen" des Völkerrechts um Normen, die auf einer primären Rechtsquelle beruhen. 180 Betrachtet man nicht die Ebene der Entstehung der Völkerrechtsnormen, sondern deren Geltungsbereich, ist die Einteilung in universelles 181 und partikuläres Völkerrecht möglich. Universelle völkerrechtliche Regeln - sei es in Form von Vertragsoder Gewohnheitsrecht - entfalten auf der ganzen Welt ihre Geltung. 182 So wird das Völkerrecht, welches durch den Abschluß eines internationalen Vertrages entsteht, nur dann als universelles Völkerrecht gewertet, wenn alle existierenden Staaten einem solchen Abkommen beigetreten sind. Von seiner Tendenz her kann als Beispiel dafür das Recht der Vereinten Nationen genannt werden: Mittlerweile gehören fast 178 Dazu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 323; K. Doehring, Völkerrecht, S. 118-122; K. Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 92-95. 179 Vgl. K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 21; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.322. Eine ausführliche Darstellung der Rechtsquellen des Völkerrechts bieten: F. Malekian, The system of internationallaw, 1987, S.26-43; G. Glahn, Law Among Nations, S.IO-22; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 334-399; K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 21-33; W. Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, S. 73-100; K. Doehring, Völkerrecht, S.123-179. 180 Sekundäre Völkerrechtsquellen sind demnach jene Rechtsnormen, die auf Grund von völkerrechtlichen Verträgen gesetzt werden. Sie umfassen insbesondere die von den Organen der internationalen Organisationen erzeugten Normen, Urteile und Schiedssprüche; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 323; W. GrafVitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, S. 100. 181 Alternativ dazu werden die Begriffe "allgemeines" oder "globales" Völkerrecht verwendet; vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.226. 182 In der Literatur wird teilweise eine weitere Unterteilung in "generelles" Völkerrecht gemacht; bezeichnet werden damit Rechtsnormen, die für eine große Anzahl von Staaten gelten, einschließlich der führenden Nationen. Dabei besitzen diese generellen Völkerrechtsnormen die Tendenz, universelles internationales Recht zu werden; vgl. L. Oppenheim, International Law, S. 5; F. Malekian, The system of internationallaw, S. 24.
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
alle Staaten der Erde - insgesamt 189 verschiedene Nationen - dieser Organisation an. 183 Die wenigen Nicht-Mitglieder haben die Grundsätze der Charta - die in vielen Bereichen Gewohnheitsrecht kodifiziert - anerkannt, so daß das Völkerrecht der Vereinten Nationen als universelle Ordnung der Völkergemeinschaft bezeichnet werden kann. 184 Ein weiteres Beispiel ist die Fortbildung des internationalen Seerechts. Durch die in den Jahren 1958, 1960 und 1973 bis 1982 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen einberufenen drei Seerechtskonferenzen gelang es der Staatengemeinschaft, das immer komplizierter und umfassender werdende Seerecht zu kodifizieren und aktualisieren. 185 Diese Trias der Seerechtskonferenzen trug nicht nur entscheidend zur Bildung von Völkervertragsrecht bei, sondern fixierte bereits vorher geltendes Völkergewohnheitsrecht und ist auf dem besten Weg, als universelles Völkervertragsrecht anerkannt zu werden.
Im Gegensatz dazu ist partikuläres Völkerrecht lediglich innerhalb einer bestimmten Staatengruppe verbindlich. Eine solche begrenzte Einheit können die Vertragsstaaten eines Abkommens oder einer internationalen Organisation sowie die Staaten einer Region 186 bilden. Auch dieser Normtyp kann durch Völkervertragsoder Völkergewohnheitsrecht entstehen. 187 Wird das Unterscheidungsmerkmal "Änderbarkeit" in die Betrachtung miteinbezogen, so können Völkerrechtsnormen in "ius dispositivum" und "ius cogens" eingeteilt werden. Bei einer Norm des Völkervertrags- oder Völkergewohnheitsrechts, die als "ius dispositivum" gilt, besteht für die Staaten, welche die Norm erzeugt ha183 Die Schweiz und die Vatikanstadt sowie die in ihrem Status umstrittenen Staaten Taiwan (Republik China) und die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) gehören den Vereinten Nationen nicht an; vgl. www.un.org/members/index (Stand 2(01). 184 Vgl. E. MenzellK./psen, Völkerrecht, S. 10. Zunehmend wird die UN-Charta bereits als "Verfassung der Weltgemeinschaft" gedeutet; K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 18; dazu auch W. GraJVitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, S.47. Für andere Autoren besitzt die Charta allenfalls Verfassungscharakter im formellen Sinn; vgl. H. Mosler, The international society as a legal community, S. 15-16; dazu auch A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht. 185 Seit dem 16. November 1994 ist die Konvention der 3. UN-Seerechtskonferenz "United Nation Conference on the Law of the Sea", die sich über 9 Jahre (1973-1982) und insgesamt 12 Sessionen hingezogen hat, in Kraft. Sie gilt als bisher umfassendste und wichtigste Konferenz zur Weiterentwicklung des Völkerrechts; vgl. K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/ H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 168-171; K. /psen, Völkerrecht (4. Aufl.), S.71O-718. 186 In diesem Fall spricht man von regionalem Völkerrecht; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 25; MenzeIlK./psen, Völkerrecht, S. 11. 187 Zum universellen und partikulären Völkerrecht vgl. F. Malekian, The system of internationallaw, S. 23-25; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 25,72 und S. 359-361; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.226-227 und E. MenzellK. /psen, Völkerrecht, S. 10-11.
4. Kap.: Erzeugung und Arten von Völkerrechtsnormen
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ben, die Möglichkeit, diese Rechtsnonn wieder zu ändern. In der Literatur wird jene Gruppe von Völkerrechtsnonnen deshalb auch "abwandlungsfahiges" oder "nachgiebiges" Recht bezeichnet. 188 Anders dagegen das "ius cogens": Gehört eine Rechtsnonn zum "ius cogens", so kann sie nicht ohne weiteres verändert oder aufgehoben werden. Die Lehre von einem unveränderlichen Völkerrecht war jedoch nicht immer unbestritten. Wahrend sich die naturrechtliehe Lehre ein unabdingbares Völkerrecht als grundlegend für das erzeugte positive Recht vorstellte, verneinten die Vertreter des Rechtspositivismus die Existenz eines "ius cogens" und gingen von einer unbeschränkbaren inhaltlichen Gestaltung aller Verträge aus. 189 Endgültig durchgesetzt hat sich die Lehre vom "ius cogens" mit ihrer schriftlichen Fixierung im Wiener Abkommen über das Recht der Völkerrechts verträge von 1969, der eine lange Beratungs- und Vorbereitungsperiode durch die International Law Commission vorausging. Laut Art. 53 der Konvention kann eine Nonn des "ius cogens" nicht durch eine von ihr abweichende Vereinbarung beeinträchtigt werden, sondern nur durch eine spätere Nonn gleicher Art modifiziert werden. 190 Weiterhin bestimmt der Artikel die Ungültigkeit eines Vertrages, wenn er zum Abschlußzeitpunkt mit einer solchen zwingenden Nonn des allgemeinen Völkerrechts kollidiert. 191 Ergänzend dazu regelt Art. 64 der Konvention, daß die Herausbildung einer neuen zwingenden Rechtsnonn des allgemeinen Völkerrechts alle ihr widersprechenden Vereinbarungen nichtig werden läßt. Dies wirft die Frage auf, welchen Bedingungen eine Nonn genügen muß, um "ius-cogens"-Charakter zu besitzen. Nach der Auffassung der International Law Commission sind diese grundlegenden Merkmale sowohl ihre Geltung als universelle Völkerrechtsnonn als auch ihre Anerkennung als unabdingbar gültiges Recht durch die internationale Staatengemeinschaft. 192 188 Dazu O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 227; K. Doehring, Völkerrecht, S.128. 189 Vgl. P. Guggenheim, Traite de droit international public, Band 1, 1953, S. 57; K.Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 157-158; K. Doehring, Völkerrecht, S. 128 .• 190 Vgl. K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 103-104; K.Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 159-160; K. Doehring, Völkerrecht, S. 129. 191 Die Wiener Vertragsrechtskonvention ersetzt den Begriff des "ius cogens" durch "zwingende Rechtsnormen des generellen Völkerrechts" (Art. 53). 192 Vgl. M. Lachs, The Law of Treaties. Some General Reflections on the Report of the International Law Commission, in: Festschrift für Paul Guggenheim, Recueil d' etudes de droit international en hommage aPaul Guggenheim, 1968, S. 398 ff.; K.Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 159; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 330; K. Doehring, Völkerrecht, S. 22 und S. 129; dazu auch J. A. Frowein, Die Verpflichtungen erga omnes im Völkerrecht und ihre Durchsetzung, in: Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, hrsg. von Rudolf BernhardtIKarl Doehring/Jochen Abr. Frowein, Band 81: Völkerrecht als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte - Festschrift für Hermann Mosler, hrsg. von Rudolf Bernhardt/Wilhelm Karl Geck/Günther Jaenicke/Helmut Steinberger, 1983, S. 241-262, hier S. 246-250.
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3. Teil: Das Völkerrecht als Rechtsordnung
In diesem Sinne umschreibt Verdross "ius-cogens"-Normen als Regeln, "die im Interesse der ganzen Staatengemeinschaft bestehen und tief im allgemeinen Rechtsbewußtsein verankert sind" 193. Das "ius cogens" stellt damit die grundlegendste Verpflichtung der internationalen Rechtsordnung dar und kann sowohl als Vertrags- oder Gewohnheitsrecht als auch als allgemeiner Rechtsgrundsatz entstehen. Allerdings gibt es in der Wiener Konvention keine Einzelnennung jener Normen, die eine solche absolute Geltungskraft besitzen. Für die Völkerrechtswissenschaft betreffen Rechtsnormen mit "iuscogens"-Charakter fundamentale Bereiche, wie beispielsweise die Sicherung des Friedens, die Gleichheit der Staaten, die Selbstbestimmung, die Freiheit der Meere, die Ungültigkeit diskriminierender Verträge, das Gewaltverbot und die internationale Verbrechensbekämpfung. 194 Die Bedeutung dieser Rechtsnormen liegt in ihrer Aufgabe, die internationale Rechtsordnung zu stabilisieren, wobei sie sich im Laufe einzelner Zeitabschnitte entsprechend den Zielen der Staatengemeinschaft entwickeln und verändern können. Deshalb ist das "ius cogens" als Ergebnis eines gemeinsamen Konsenses der Staaten anzusehen. Auch aus diesem Grund ist das "ius cogens" gleichzeitig universelles Völkerrecht. Umgekehrt jedoch gehört nur ein kleiner Bereich des universellen Völkerrechts zum "ius cogens" - der weitaus größere Teil besteht aus dispositiven Rechtsnormen. 195
A. Verdross, Jus Dispositivum und Jus Cogens in International Law, S. 55. Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 229; K. Doehring/T. Buergenthal/ J. KokottiH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 104; K. Doehring, Völkerrecht, S. 129-130; W. GrajVitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, S.47-53; K.lpsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S.161-164 und S.411-413; J.A. Frowein, Die Verpflichtungen erga omnes im Völkerrecht und ihre Durchsetzung, S. 250-253 und S. 257-262. 195 Vgl. F. Malekian, The system of internationallaw, S. 18-19; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 331-332; K.lpsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S. 159-160; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 228-229. 193
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Vierter Teil
Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht: Dualismus und Monismus der Rechtsordnungen Nach Ansicht von Alfred Verdross ist "der Gedanke des Völkerrechts so alt wie der Verkehr zwischen den Staaten" 1. Dennoch sind erst um die Wende zum 20. Jahrhundert wissenschaftliche Erörterungen über das Verhältnis zwischen der Völkerrechtsordnung und den nationalen Rechtsordnungen - insbesondere in Deutschland, Frankreich und Italien - entflammt. 2 Eine große Zahl von Rechtswissenschaftlem beschäftigte sich bis in die Gegenwart mit den dogmatischen Aspekten und praktischen Einflüssen der möglichen Konzeptionen der Rechtsordnungen; denn die Erfassung ihres Verhältnisses und die Beantwortung der Frage, welches der beiden Rechtssysteme im Konfliktfall Vorrang genießen soll, gehören gewiß zu den schwierigsten Problemen des Rechts. Die Erkenntnisse zur Rechtsnatur 3 und zur Normenstruktur des Völkerrechts 4 lassen die grundlegende Frage nach seiner Bindungswirkung unbeantwortet: Warum und auf welche Art und Weise gilt das Völkerrecht? Die Kontroverse um den Geltungsursprung des Völkerrechts wird insbesondere auch durch die Diskussion um die Beziehung von Völkerrecht und einzelstaatlichem Recht aufgeworfen und steht mit ihr in direktem Zusammenhang. Dabei bilden die Naturrechtsauffassung und der Rechtspositivismus als zwei grundverschiedene Ansätze die gedankliche Ausgangsbasis für die Feststellung des Geltungsgrundes der Völkerrechtsnormen. 5 Die naturrechtliche Begründung des Rechts erkennt den Ausgangspunkt in einem dem Menschen durch die Natur vorgegebenen Recht. Demgegenüber basiert die positivistische Rechtsauffassung auf der Vorstellung, nach der alle Rechtsnormen auf die selbständige willensbegründete Rechtsetzung der Menschen zurückzuführen sind. Um zu einer differenzierten Darstellung der Auffassungen über das Verhältnis der Rechtsordnungen zu gelangen, sind deshalb sowohl die Frage nach dem Geltungsgrund als auch die Ansichten über die Rechtsnatur des Völkerrechts in die nachfolgenden Überlegungen mit einzubeziehen.
1 2
A. Verdross, Vierhundert Jahre Völkerrechtswissenschaft, S. 36. Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 53-54.
Dazu 3. Teil, 2. Kap. Dazu 3. Teil, 4. Kap. s Dazu 2. Teil, 2. Kap. 11. 3
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Erstes Kapitel
Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht I. Die Lehre Heinrich Triepels als Ausgangspunkt der Kontroverse über das Verhältnis der Rechtsordnungen 1. Historische Rahmenbedingungen der Zeit Triepels Am Ende des 19. Jahrhunderts - in der Hochphase des Positivismus - erkannte Heinrich Triepel 6 als erster Rechtsgelehrter die weitreichende dogmatische und praktische Bedeutung, die in der Konstruktion der Beziehung zwischen den beiden Rechtsordnungen liegt. 7 In der Einleitung zu seinem bedeutenden Werk "Völkerrecht und Landesrecht"8 stellt er fest: "Die Frage nach dem Verhältnisse des Völkerrechts zum Landesrecht... gehört zu den stiefmütterlich behandelten Lehren der Jurisprudenz. Dass sie mehr als eine interessante Seite besitzt, hoffe ich zu beweisen .... Nun ist aber der Versuch, das Verhältnis von Völker- und Landesrecht nach allen Seiten hin festzustellen, noch niemals unternommen worden. Eine Monographie über das Problem gibt es nicht; Abhandlungen, deren Titel den Anschein erweckt, als böten sie das Gesuchte, enttäuschen, sobald man sie aufschlägt. ... Zugleich aber auch scheint es mir ... sicher zu sein, dass man nur dann vorwärts kommen wird, wenn man dem Problem nicht von einem einzelnen Punkte aus zu Leibe geht, sondern es im Zusammenhange und nach allen Seiten hin behandelt. "9 6 Geboren wurde Heinrich Triepel am 12.02.1868 in Leipzig. Er lehrte das Recht in Tübingen, in Kiel sowie in Berlin. Er starb am 23.11.1946 in Grainau. Zu seinen Hauptwerken zählen "Völkerrecht und Landesrecht" (1899), "Die Reichsaufsicht" (1917), "Staatsrecht und Politik" (1927), "Die Staatsverfassung und die politischen Parteien" (1930) und "Die Hegemonie" (1938). 7 Kurz vor dem Erscheinen von Heinrich Triepels "Völkerrecht und Landesrecht" veröffentlichte Wilhelm Kaufmann im Jahr 1899 seine Monographie "Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebung und der Staatsorgane zu demselben", welche die Grundlegung eines naturrechtlichen Monismus anstrebte. Seine Ausführungen waren jedoch begrifflich noch wenig exakt und für die damalige Entwicklung der Völkerrechtslehre von keinem großen Einfluss; dazu 4. Teil, 2. Kap. S H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899. In diesem Sinne wurde der Begriff "Landesrecht" zuerst durch Heinrich Triepel geprägt, der in der Einleitung seines Werks "Völkerrecht und Landesrecht" diese Wortwahl wie folgt begründet: "Landesrecht ist staatliches Recht, insofern es einem Staate sein Dasein verdankt. Ich nenne es indess lieber ,Landesrecht' als staatliches Recht, einmal um die naheliegende Verwechslung mit dem ,Staatsrecht' zu vermeiden, das doch nur einen Theil des Landesrechtes bildet, und zweitens um das sogenannte Landesgewohnheitsrecht unzweifelhaft mit einzuschließen, das wenigstens von dem Haupttheile der heutigen Juristen als nichtstaatliches Recht betrachtet wird, während über seine Eigenschaft als Landesrecht, d. h. seine Entstehung aus nationaler Rechtsquelle im wesentlichen kein Streit herrscht." H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.9-1O; vgl. auch P. Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts, S. 87-88. 9 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. I, S. 3 und S. 6. Nach Heinrich Triepels Auffassung haben zwar einige Rechtswissenschaftler seiner Zeit das Problem über das Verhältnis
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Der Auslöser, sich mit diesem weitgehend unerforschten Gebiet ganzheitlich auseinanderzusetzen, waren die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts, welche sich auch in einer Weiterentwicklung der Gestaltung der internationalen Beziehungen ausdrückte. 10 Insbesondere die wachsende zwischenstaatliche Verflechtung und Zusammenarbeit der souveränen Staaten - vor allem in wirtschaftlichen Bereichen - führte zu einer Zunahme abgeschlossener Verträge. 11 Deren Regelungsgegenstand begrenzte sich nun nicht mehr nur auf Bündnisse, Freundschaftsverträge und Friedensabkommen innerhalb des christlichen Kulturraums. Aufgrund der beginnenden wirtschaftlichen Verflechtung der Staaten wurden zunehmend Verträge ausgehandelt, welche die verschiedensten Lebensbereiche umfaßten und auch Auswirkungen auf die Interessen und Beziehungen von Individuen hatten. 12 Die Folge war eine Kombination oder Vermengung der Regelung innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Sachverhalte, die scheinbar nicht mehr auseinanderzuhalten waren; denn zur Erfüllung dieser Art von Verträgen konnte es notwendig sein, Maßnahmen oder Vorschriften im innerstaatlichen Rechtsgebiet zu treffen. Diese Entwicklung ließ sowohl eine juristische Bearbeitung der Staatsverträge als auch die regelmäßige Beobachtung der völkervertragsrechtlichen Regeln und des daraus entstandenen innerstaatlichen Rechts erforderlich erscheinen. Durch eine derartige sachliche Verbindung der Regeln beschäftigte sich die Rechtswissender Rechtsordnungen erkannt, ohne sich jedoch eingehender damit zu beschäftigten, sondern lediglich allgemeine Aussagen über die Verschiedenartigkeit von Völker- und Staatsrecht zu machen. In diesem Zusammenhang nennt er Thomas E. Holland, Franz Holtzendorff, Georg Martens, Karl Bergbohm, Johann Klüber, Paul Pradier-Fodere, Joseph Held, Georg Grote/eld sowie Hermann Schulze (vgl. S.3-4). 10 Heinrich Triepel stellt dazu fest: "Dass es ... weite Gebiete des staatlichen Rechts giebt, deren Beziehung zum Völkerrechte ohne Weiteres in die Augen fallen, braucht kaum gesagt zu werden. Seerecht, Gesandtschafts- und Konsularrecht, Militärrecht, das sogenannte internationale Privat- und Strafrecht sind nur einzelne Beispiele. Der Umfang dieses, völkerrechtlich bedeutsamen' Landesrechts, wie ich es vorläufig nennen will, wächst dabei von Jahr zu Jahr; denn je ausgedehnter und inniger der Verkehr des modemen Staates mit seinesgleichen wird, um so stärker wird der Stoff seines Rechts, das solchem Verkehre gilt." H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 2; dazu auch 2. Teil. 11 Zur Entwicklung und Bedeutung des Souveränitätsprinzips in Zusammenhang mit den politisch-historischen Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert siehe F. Frankowski, L'idee de la souverainete dans les relations internationales, in: Revue de droit international, XIII, Nr.I, 1934, S. 499-507. Für Felix Frankowski drückt die staatliche Souveränität die individuelle unverrückbare Persönlichkeit eines Staates aus, die darauf gerichtet ist, sich im Fortgang der Geschichte zu erhalten: "On pourrait donc dire que la souverainete c'est la notion de l'individualisme, de la personalite distincte de I 'Etat, ayant pour but I' absolue priorite de la conservation de soi-meme prise dans la realite du developpement historique." (S. 502). Gleichzeitig ist er der Ansicht, daß es das beste für die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit sei, wenn die einzelstaatliche Souveränität dabei eine geringe Rolle spielen würde. Zur Bedingung dafür macht er allerdings die uneingeschränkte Garantie und den Nichtangriff der Souveränität der Staaten (vgl. S. 506). 12 Nach Ansicht Otfried Nippolds entwickelte sich in dieser Zeit daraus ein "Weltverkehrsrecht", welches das bestehende, politisch bestimmte Völkerrecht ergänzte; O. Nippold, Die Fortbildung des Verfahrens in völkerrechtlichen Streitigkeiten, 1907, S. 3 L 6 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
schaft erstmals mit den Fragen nach einem möglichen Widerspruch dieser Normen, ihrer Beziehung zueinander sowie mit dem Problem der Vollzugssicherung der internationalen Verträge im staatlichen Bereich. I3 Davon ausgehend wandte sich Triepet der Fragestellung zu, ob und wie eine Trennung der Rechtsordnungen gerechtfertigt werden konnte. Die Bedeutung der obigen Aspekte wurde durch eine weitere historische Entwicklung, die den inneren Aufbau des Staates modifizierte, verstärkt: Die Abkehr vom absolutistischen Staat in Europa als Folge der Französischen Revolution, verbunden mit der Schaffung des gewaltenteilenden Staates, erforderte die Mitwirkung verschiedener Volksvertretungsorgane als Legislativorgan am Vertragsschluß und bei der Rechtserzeugung im Staat, wodurch eine Abstimmung zwischen dem Völkerrechtsvertrag und den daraus resultierenden innerstaatlichen Rechtsnormen nötig wurde. 14 Infolgedessen und aufgrund differenzierterer Verfassungsvorschriften über die staatliche Aufgabenverteilung gestalteten sich die Fragen zum Abschluß, zur Verbindlichkeit sowie zum Vollzug völkerrechtlicher Verträge wesentlich schwieriger. 15 Auch Baris Mirkine-Guetzevitch deutet die geschichtlichen Vorgänge in diesem Sinne: "Mais I' evolution historique du XIX· siede consiste notamment dans la transformation interne de l'Etat. Ignorer cette transformation de la vie juridique des peuples, c' est remplacer le droit positif par une construction abstraite. Le XIX· siede, en Europe, represente un developpement progressif de I'idee constitutionnelle, et ce processus presente une importance non seulement pour l'histoire constitutionnelle comparee, mais aussi pour I' evolution des relations internationales .... Certains aspects du probleme n'existaient absolument pas sous I' ancien regime, et c' est seulement avec I' apparition de l'Etat moderne d6mocratique et constitutionnel qu'est ne, dans son integralite, le probleme des rapports entre le droit international et le droit constitutionnel." 16 13 Vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts in der neueren Literatur, 1937, S. 13-14 (im folgenden zitiert: Die Lehre vom Primat des Völkerrechts) und G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 11. 14 Exemplarisch für die Mitwirkung der Stände oder der Volksvertretung am Vertragsschluß des Staatsoberhaupts können einige Bestimmungen von Verfassungen dieser Epoche genannt werden. Die Trennung der Aufgaben von Exekutive und Legislative drückten sich in unterschiedlicher Art und Intensität der Beteiligung am Zustandekommen der Verträge aus, wobei die Beteiligung des Parlaments immer bedeutsamer wurde. Beispiele sind die Württembergisehe Verfassung vom 25.09.1819 (§ 85), die Belgisehe Verfassung vom 07.02.1831 (Art. 68), die Frankfurter Reichsverfassung vom 28.03.1849 (§ 77), die Preußische Verfassung vom 31.01.1850, die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 01.07.1867, wie auch die Reichsverfassung vom 16.04.1871. Nach der Iahrhundertwende ist die Weimarer Verfassung vom 11.08.1919 zu nennen, die das Zustandekommen eines Völkerrechtsvertrages allein von der Zustimmung des Reichstages abhängig macht (Art. 45 Abs. 3); siehe dazu auch K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht. Überprüfung der Transformationslehre, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 6, 1964, S. 29-30. 15 Vgl. G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S.II-15. 16 B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, in: RdC, IV, Nr.38, 1931, S. 307-463, hier S. 324 und S. 325.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Nach Ansicht von Mirkine-Guetzeviteh besitzen die abgeschlossenen internationalen Verträge im Verfassungsstaat im Gegensatz zur absoluten Monarchie eine höhere Bindungswirkung, weil im Falle einer Vertragsverletzung die Kontrolle der Regierung gesichert werden würde - sei es durch die Reaktion des Volkes, durch die parlamentarische Volksvertretung, durch die freie Presse oder durch die öffentliche Meinung. 17 Als Folge dieser Entwicklung rückte die Frage nach der Verbindlichkeit völkerrechtlicher Abkommen und deren Verhältnis zum nationalen Recht in den Mittelpunkt: "Ainsi, il faut tenir compte du regime interieur de I'Etat pour comprendre le probleme de la force obligatoire des traites internationaux. Un traite international exprime toujours l'intention des parties contractantes, ... Pour interpreter cette intention, il faut connaitre le droit interne des Etats." 18
Es lassen sich demnach zwei grundsätzliche historische Entwicklungen herausfiltern, die Triepels Gedanken und Aussagen beeinflußten: Die Veränderung der Beziehungen der Staaten zueinander sowie die Umgestaltung der innerstaatlichen Regierungssysteme waren die Rahmenbedingungen für die Herausbildung der Triepelsehen Lehre am Ende des 19. Jahrhunderts. Die in dieser Zeit dominierende Auffassung über den Zusammenhang zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht ging vom souveränen Staat aus, der die Regelung aller internen Vorgänge und Sachverhalte autonom bewältigt und eine eigene Persönlichkeit darstellt. Gleichzeitig konnte er sich durch den freiwilligen Abschluß von Verträgen mit anderen souveränen Staaten nach außen hin verpflichten. Eine generelle begriffliche Unterscheidung zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht wurde offensichtlich getroffen. Wie bereits erläutert, wurde diese Betrachtung nicht tiefergehend nach weiteren Erkenntnissen durchleuchtet. Statt dessen wurde der souveräne Staat generell als zentraler Ausgangspunkt für rechtswissenschaftliche Überlegungen angesehen und ganz allgemein festgestellt, daß die Völkerrechtsnormen in unbestimmter Weise vom Staat abhängig seien. 19 Die dargestellten Voraussetzungen stellten für Triepel die Herausforderung dar, die Beziehung von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht - basierend auf einer selbständigen Geltung des Völkerrechts - umfassender und zugleich detaillierter zu untersuchen. Die Feststellung, daß die Begriffe "Völkerrecht" und "Landesrecht" im rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch verwendet werden, führt ihn zur Frage, ob aus dieser "Verschiedenartigkeit der Ausdrücke" auch ein "Gegensatz der Dinge" folgen würde. 20
17
Vgl. B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 324.
18
B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S.324.
19 Vgl. R. Laun, Der Wandel der Ideen Staat und Volk als Äußerung des Weltgewissens, 1933, S.13-15; H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 7. 20 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 8.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
2. Der zweifache Gegensatz von Völkerrecht und Landesrecht Das Recht als die Gesamtheit der Normen läßt sich für Triepel hinsichtlich zweier Kriterien strukturieren. Auf der einen Seite erscheint ihm eine Aufteilung nach dem Inhalt der Regeln, d. h. nach den rechtlich geordneten Lebensverhältnissen, sinnvoll. Infolgedessen erhält man verschiedene "Rechtstheile"21 oder "Rechtszweige"22, wie z. B. Öffentliches und Privatrecht, Straf-, Prozeß- und Verwaltungsrecht und - auf einer noch tieferen Differenzierungsebene - Zivil- und Militärstrafrecht. 23 Demgegenüber ist auch eine Klassifizierung der Rechtssätze entsprechend der unterschiedlichen Willen, die diese Normen entstehen lassen, möglich. Triepel folgert daraus, daß nicht alle Normen auf die gleichen Ursprünge zurückzuführen sind. In seinen Augen resultiert daraus die Notwendigkeit, das Recht in einzelne "Rechtsordnungen"24 zu zergliedern, die auf jeweils eigenen "Rechtsquellen"25 basieren. Auf diese Weise ist beispielsweise eine Einteilung in deutsches und italienisches Recht oder in Staats- und Gewohnheitsrecht möglich. 26 Naturgemäß ist eine Kombination der einzelnen Gruppen im Sinne einer weiteren Unterteilung möglich: "Die Rechtszweige gehören verschiedenen Rechtsordnungen an, und jede Rechtsordnung zerfällt in verschiedene Rechtstheile, es giebt französisches und englisches Strafrecht, und das französische Recht lässt sich in Prozess-, Privatrecht u. s. w. zerlegen."27 Unter Einbezug der erläuterten Einteilungskriterien stellt Triepel für die Beurteilung der Beziehung von Völkerrecht und Landesrecht die These auf, daß ihr Verhältnis im doppelten Sinn gegensätzlich sei: Seiner Meinung nach besteht sowohl ein "Gegensatz der normirten Lebensverhältnisse"28 als auch ein "Gegensatz der Rechtsquellen"29. Die Begründung dieser Ansicht und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen bilden den Hauptteil seines Werks und sind als "der rote Faden" seiner Gedankengänge zu bewerten. Unter "normirten Lebensverhältnissen" versteht Triepel alle "Beziehungen zwischen Subjekten"30, die durch Rechtssätze rechtlich geordnet sind und somit Rechtsverhältnisse darstellen. 31 Eine inhaltliche Verschiedenheit der RechtsverhältH. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 8. H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 8. 23 Vgl. H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 8. 24 H. Triepet, Völkerrecht und Landesrecht, S. 8. 25 H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 8. 26 Vgl. H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 8-9. 27 H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S.9. 28 H. Triepet, Völkerrecht und Landesrecht, S.9. "Normirte Lebensverhältnisse" bzw. "rechtlich geordnete Lebensverhältnisse" sind als "Rechtsverhältnisse" im Sinne Heinrich Triepe!s zu verstehen, vgl. S. 11. 29 H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 9. 30 H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. I!. 31 Vgl. H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. I!. 21
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nisse kann für Triepel auf zwei Ursachen zurückgeführt werden: Entweder sind unterschiedliche Adressaten der Rechtssätze oder unterschiedliche Rechte und Pflichten, welche durch die Rechtsnonnen bestimmt werden, maßgebend für den Gegensatz der Rechtsverhältnisse. 32 Ausgehend vom Landesrecht stellt Triepel fest, daß die staatliche Rechtsordnung sowohl die Regelung der Beziehungen zwischen den im Staat lebenden Individuen oder geschaffenen Verbänden umfaßt als auch die Verhältnisse dieser unterworfenen Subjekte zum Staat beinhaltet. Die beiden Regelungsgebiete klassifiziert er einerseits als "Nonnirung privatrechtlicher Beziehungen"33 und andererseits als Regelung "staatsrechtlicher Verhältnisse"34. Zum Regelungsbereich des Landesrechts zählt Triepel auch solche Rechtsakte, seien sie privatrechtlicher oder staatsrechtlicher Natur, mit denen der Gesetzgeber eines Staates "fremde Staaten"35 verpflichtet oder berechtigt und diese Staaten im Hinblick auf jene Hoheitsakte als Rechtsuntertanen des nonnierenden Staates einzuordnen sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Regelungen mit dem anderen Staat abgesprochen sind oder ob dieser sein Einverständnis dazu gibt. Die so geschaffenen Rechtsbeziehungen können nach Triepelschem Verständnis keinesfalls Gegenstand einer völkerrechtlichen Nonnierung sein, sondern sind uneingeschränkt als landesrechtlich geregelte Lebensverhältnisse zu deuten. 36 Für Triepel folgt aus der Natur der Lebensverhältnisse, die durch das Landesrecht geregelt werden, daß das Völkerrecht nur ausschließlich andere Beziehungen regeln kann als das Landesrecht. Bedingung dafür ist die Existenz eines selbständig erfaßbaren VölkerrechtsY 32 Der Gegensatz der Rechtsverhältnisse besteht also darin, daß sich das Völkerrecht bezüglich der regelnden Beziehungen oder im Hinblick auf die Rechtssubjekte vom Landesrecht unterscheidet. Möglich ist auch, daß beide Merkmale verschieden sind; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 11. 33 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 12. 34 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.12. 35 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 12. Als "fremd" bezeichnet Heinrich Triepel in diesem Zusammenhang den Staat, der souveränes Mitglied der Staatengemeinschaft ist und nicht als integrierter Bestandteil eines anderen Staates gilt. 36 Beispiele für innerstaatliche Hoheitsakte, die sich auf einen fremden Staat beziehen, können sein: Die Erlaubnis für eine fremde Regierung, Strafanträge zu stellen, Klage vor Gericht zu erheben, inländische Grundstücke kaufen zu können - aber die Regierung des fremden Staates kann auch dazu verpflichtet werden, verrnögensrechtliche Fragen vor einem inländischen Gericht klären zu müssen. Auf diese Art erzeugt der Staat durch einseitige Maßnahmen "öffentlichrechtliche" (S. 19) Rechtsbeziehungen zwischen sich selbst und den anderen, "fremden" Staaten. Auf diese Weise können nach Triepelschem Verständnis keine Verhältnisse zwischen koordinierten und gleichberechtigten Partnern entstehen, so daß diese Beziehungen nicht als "völkerrechtlich" (S. 18) oder "individualrechtlich" (S. 19) charakterisiert werden können. Siehe H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.12-13 sowie S.18-19. 37 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 13. Diese Schlußfolgerung Heinrich Triepels erfolgt äußerst knapp und wird auch an keiner anderen Stelle seines Werks eingehender begründet.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht "Wenn ich hiermit die denkbaren Gegenstände staatlicher Rechtsetzung in einer für unseren Zweck genügenden Zahl aufgeführt habe, so ist die weitere Aufgabe der Nachweis des Satzes: wenn es ein Völkerrecht giebt, das etwas anderes ist als Landesrecht - ich darf jetzt noch ganz auf sich beruhen lassen, wie solches Völkerrecht entstehen könnte -, so müssen die Beziehungen, die dies Völkerrecht regelt, anderer Natur sein, als die soeben aufgezählten. Anders ausgedrückt: die angeführten Beziehungen sind taugliches Objekt lediglich für eine Regelung durch Landesrecht. ,,38
Um diesen Fragenkomplex eingehender zu untersuchen, bezieht Triepel die Adressaten der Rechtssätze in seine Betrachtung mit ein. Deutlich erkennt er eine Verschiedenheit der Rechtsverhältnisse bezüglich ihrer Individuen. Seine Schlußfolgerungen basieren auf Überlegungen, die von folgenden Gedanken ausgehen: Die Normierung von Beziehungen derselben Individuen durch unterschiedliche Rechtsquellen ist in zweifacher Hinsicht denkbar. Möglich ist, daß beide Quellen die gleichen Verhältnisse derselben Subjekte regeln. 39 Ebenso kann die zweite Rechtsquelle differierende Verhältnisse derselben Subjekte normieren. 4o Für Triepel steht deshalb im Grundsatz fest: "Die Regelung der ,privatrechtlichen' Beziehungen durch die Rechtsquelle eines Staates schließt nicht aus, dass sich eine andere Rechtsquelle der sei ben bemächtigt. ,,41
Triepel stellt darauf aufbauend die These auf, daß eine solche zwei- oder auch mehrfache Rechtsregelung für Beziehungen zwischen Individuen ausschließlich landesrechtlichen Rechtsquellen entspringt. Er begründet dies mit der Notwendigkeit einer "zur Rechtsbildung geeigneten Gemeinschaft", der die Individuen als "einander gleichgestellte Genossen angehören".42 Eine rechtserzeugende Gemeinschaft in diesem Sinne bilden nach Meinung Triepels organisierte Genossenschaftsverbände wie Gemeinde, Kirche und Staat. Eine "völkerrechtlich organisierte Gemeinschaft" besteht für ihn also nicht. Folglich kommen für Triepel bei der Normierung von Individualbeziehungen nur Quellen des Landesrechts in Frage. 43 Aber auch mehrfache Regelungen bezüglich der Verhältnisse zwischen Individuum und Staat haben seiner Meinung nach in allen Fällen einen landesrechtlichen Ursprung. 44 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 13. Ein Beispiel Heinrich Triepels dafür ist die Aufstellung von Regelungen bezüglich Wechsei erklärungen durch zwei Staaten, welche im Falle eines grenzüberschreitenden Wechselgeschäfts für alle Beteiligten gelten. Auch Normen des Reichs- und Landesrechts können dieselben Verhältnisse von Individuen regeln. Sollte aus dieser Konkurrenz der Rechtsquellen eine Konfliktsituation zwischen den Gesetzen entstehen, ist diese nach Ansicht Triepels gegebenenfalls auflösbar. Er geht allerdings nicht näher auf diese Problematik ein; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.14-15. 40 In diesem Sinne kann der Gesetzgeber eines Bundesstaats Regelungen zum Recht von Handelsgeschäften aufstellen, wogegen alle übrigen Rechtsgeschäfte durch die Gliedstaaten gesetzlich geregelt werden; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 15. 41 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 15. 42 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 15. 43 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.15-16. 38
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I. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Für das Völkerrecht ergeben sich daraus zwei mögliche Konstellationen: Sofern das Völkerrecht lediglich als eine "Unterart von Genossenschaftsrecht"45 zu beurteilen ist, könnte es auch Beziehungen von Individuen regeln. Andernfalls wird es sich von diesem genossenschaftlichen Recht in bezug auf seine Rechtsquelle unterscheiden. Gibt es nun ein vom Landesrecht unterscheidbares Völkerrecht, muß es eine andere Rechtsquelle besitzen. Als Konsequenz sind demnach Individuen als Adressaten des Völkerrechts auszuschließen: 46 "Wir können uns ... keine andere Rechtsquelle als eine landesrechtliche denken, welche die Verhältnisse des Einzelnen zum Staat, dem eigenen oder fremden regelte, weil wir ausser dem zusammengesetzten Staate, dessen Recht eben gleichfalls Landesrecht ist, keine organisirte Gemeinschaft kennen, die für Staat und Individuum als Gemeinschaftsglieder Rechtssätze zu erzeugen vermöchte. "47
Als Regelungsgegenstand des Völkerrechts kann nach der Lehre Triepels deshalb nur die Nonnierung von Beziehungen zwischen "Staat und Staat als solchen"4B verbleiben. Dabei setzt er inhärent voraus, daß das Völkerrecht einer eigenen Rechtsquelle entspringt. In diesem Falle stehen die Staaten gleichrangig nebeneinander und schaffen durch ihren gemeinsamen Willen 49 individualrechtliche Beziehungen zwischen koordinierten Staaten. 50 Triepel definiert somit das Völkerrecht als "das für Beziehungen einer Mehrheit koordinirter Staaten unter einander geltende Recht"SI. Ganz offensichtlich kann nach Triepels Auffassung ein eigenständig existierendes Völkerrecht immer nur ausschließlich andere Rechtsverhältnisse regeln als eine staatliche Rechtsquelle. 52 Zu hinterfragen ist dabei, ob für diese Beziehun44 Als Beispiel nennt er die Rechtsregelung im Bundesstaat; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.17. 45 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.16. 46 Zu diesen Überlegungen vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 13-18. Für Heinrich Triepel ist bei diesen Feststellungen auch die Tatsache unbedeutend, daß die völkerrechtlichen Rechtssätze vielfach die Interessen des Einzelnen wahren und schützen wollen; denn nicht jede Rechtsnorm, welche auf die Wahrung der Interessen eines Individuums ausgerichtet ist, macht dieses Individuum zu einem Rechtssubjekt. Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 20. Bezüglich eines existierenden Völkerrechts erkennt er die Individuen als "Gegenstand völkerrechtlicher Rechte und Pflichten" (S.21) an. Eine echte Berechtigung oder Verpflichtung, die von der Regelung eines völkerrechtlichen Verhältnisses ausgeht, kann seiner Ansicht nach nur durch eine landesrechtliche Quelle vermittelt werden. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.21. 47 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.17. 48 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 18. 49 Siehe dazu 4. Teil, I. Kap. I. 3. 50 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.19. Jene Rechtssätze, durch die fremde Staaten erfaßt werden, sind für Heinrich Triepel öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse mit einem landesrechtlichen Ursprung; denn sie beruhen nicht auf einem Koordinationsverhältnis, sondern auf einem Über- bzw. Unterordnungsverhältnis; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 18-19. 5\ H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 20, Fußnote I; vgl. auch S. 19. 52 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 22. Heinrich Triepel kommt bereits vor seinen Ausführungen über die Völkerrechtsquelle zur These, daß durch die Verschiedenartig-
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gen zwischen den Staaten das Vorhandensein eines Rechts 53 überhaupt vorstellbar ist und welchen Ursprung es haben kann. Eine über den Staaten stehende Gewalt existiert nicht. 54 Es wird durch diese Ausführungen offenkundig, daß die Lösung der Frage nach dem Verhältnis der beiden Rechtsordnungen zueinander ebenso entscheidend von einer näheren Betrachtung des Rechtsquellenproblems determiniert wird. Die Erörterungen Triepels zu diesem "Gegensatz der Rechtsquellen"55 sind deshalb ein weiterer grundlegender Bestandteil seiner Lehre und tragen damit entscheidend zu ihrem Verständnis bei.
3. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts kraft Vereinbarung Ausgangspunkt der Untersuchung ist die grundlegende Frage, ob und auf welche Art und Weise eine "Gemeinschaft von Staaten"56 Rechtssätze zur Regelung ihrer Beziehungen bilden kann. 57 Die Existenz einer solchen Staatengemeinschaft, die sich mittels des Rechts ihre "Lebensordnung"58 geben kann, wird von Triepel bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert bejaht, weil für ihn die zur Rechtserzeugung notwendige gemeinsame Interessengrundlage und das Bewußtsein darüber bei den Staaten vorhanden ist. Auch das selbständige Wesen der Staaten, die als Summe von "Einzelgemeinschaften"59 diese völkerrechtliche Staatengemeinschaft formen, setzt er voraus. Die Mitglieder jener Völkerrechts gemeinschaft unterliegen dabei weder einer höheren Staatsgewalt noch sind sie voneinander abhängig. 6O Das Wesen der Rechtssätze bildet nach Auffassung Triepels der Wille. Grundsätzlich entstehen Rechtssätze also durch Willenserklärungen, die manifestieren, daß ihr Inhalt Recht sein soll. 61 Dabei ist dieser Wille ein "dem Einzelwillen überlegener Wille"62 und sein Inhalt - der Rechtssatz - ist "verbindlich" 63. Zudem ist keit der geregelten Verhältnisse eine Konkurrenz zwischen den Quellen der beiden Rechtsordnungen nicht möglich ist, vgl. dazu H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 23 und 4. Teil, 1. Kap. I. 4. und 6. 53 Unter "Recht" versteht Heinrich Triepel die "Lebensordnung einer Gemeinschaft", H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 27. 54 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 28. 55 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 9. S6 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 28. 57 Rechtssätze sind laut Heinrich Triepel der Ausdruck von Recht; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 28. Nach Ansicht von Walter Schiffer widerspricht die Frage Triepels, ob sich innerhalb einer Staatengemeinschaft Recht bilden kann, seiner zuvor gemachten Aussage, daß er den Rechtscharakter des Völkerrechts voraussetzt; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 15; H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.7 und S. 28. 58 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 27. 59 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 28. 60 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.27. 61 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.28-29. 62 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 29.
I. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Triepel der Überzeugung, daß der erklärte Wille auch den Ursprung des Rechts dar-
stellt: "Den Willen nun, dessen Inhalt der Rechtssatz bildet, den Willen, aus dem er f/iesst, nennen wir Rechtsquelle."64
Der Rechtswille, aus dem landesrechtliche Rechtssätze fließen können, hat seinen Ursprung stets in einer staatlichen Rechtsquelle. 65 Was das Völkerrecht betrifft, so können sowohl der Wille eines Staates als auch gleichlautende Rechtserklärungen mehrerer Staaten nicht die gesuchte Rechtsquelle sein, um gleichwertige Mitglieder der Gemeinschaft zu verpflichten und zu berechtigen. Für Triepel steht zweifelsohne fest, daß "nur ein zu einer Willenseinheit durch Willenseinigung zusammengeflossener Gemeinwille mehrerer oder vieler Staaten"66 der Ursprung des Völkerrechts sein kannY Offensichtlich ist der Einzelwillen eines Staates diesem Gemeinwillen unterlegen. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 29. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 30 (Hervorhebungen im Original). Ablehnend steht Heinrich Triepel der Meinung gegenüber, welche die Rechtsüberzeugung oder das Rechtsbewußtsein als Ausgangspunkt des Rechts anerkennt. Er verweist auf die Vertreter dieser These: Leopold Warnkönig (Rechtsphilosophie, 1840), Friedrich Karl Savigny (System des heutigen römischen Rechts, 1840), Lassa Oppenheim (System des Völkerrechts, 1866), Johann Bluntschli (Völkerrecht, 1868), Adolf Hartmann (Institutionen des Völkerrechts, 1874) u. a.; siehe H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 30-31, Fußnote 2. Zeitlich nachfolgende Vertreter dieser Rechtsauffassung sind Leon Duguit und Georges Scelle, siehe 4. Teil, 3. Kap. 1.4. und 5. 65 Hierzu gibt Heinrich Triepel einen kurzen Hinweis auf die Diskussion, ob mehrere staatliche Rechtsquellen nebeneinander existieren können; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 9-10 und S. 31. 66 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 32, vgl. auch S. 46. Heinrich Triepel bezieht sich dabei auf Hugo Grotius, der in seinem Werk "Oe jure belli ac pacis libri tres" den "consensus" der Staaten als Ausgangspunkt des "ius gentium" bestimmt (S. 32, Fußnote 2). 67 Kritisch äußert sich Walter Schiffer zu Heinrich Triepels These vom Gemeinwillen als Rechtsquelle des Völkerrechts: Seiner Meinung nach verlagert Triepel die Rechtsquelle in den Gemeinwillen mehrerer Staaten, weil der Staatswillen zum einen bereits die Quelle des Landesrechts darstellt und zum anderen dem Völkerrecht als Quelle nicht überlegen ist. Darüber hinaus schlußfolgert Triepel seiner Ansicht nach, daß die rechtliche Verbindlichkeit der Vereinbarung auch auf dem Willen der teilnehmenden Staaten beruht. Schiffer resümiert daraus mißbilligend, daß letztlich doch der Staatswille sowohl im Landesrecht als auch im Völkerrecht Grundlage der Erzeugung von Rechtsnormen ist: "Die Unzulänglichkeit dieser Theorie liegt einmal darin, daß sie wieder zu der Lehre von der Selbstverpflichtung des Staates zurückführt, die Triepe! ablehnen zu müssen glaubte, ... Triepel war von der Absicht ausgegangen, das Völkerrecht als Recht, aber als vom Landesrecht... durch seine Quelle verschiedene Rechtsordnung zu erweisen. Dabei war er schließlich dazu gelangt, die Rechtsquelle außerhalb des Rechts selbst suchen zu müssen. Da sie nun allen Rechtsordnungen als das, was diese zu Recht macht, gemeinsam sein muß, war er notwendig darauf geführt worden, die dem Völkerecht eigentümliche Rechtsquelle der Vereinbarung doch wieder auf die des Landesrechts, nämlich den Staatswillen, zurückzuführen und schließlich hinter dieser eine psychologische und ethische Grundlage zu suchen, die doch jedenfalls auch allen Rechtsordnungen gemeinsam sein muß." W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 16-17; siehe dazu auch die nun folgenden Thesen Triepels zur Entstehung und Verbindlichkeit des Gemeinwillens. 63
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Damit stellen sich nun einige Fragen hinsichtlich der Art der Entstehung 68 und der Verbindlichkeit 69 eines solchen Gemeinwillens sowie bezüglich der Natur dieses besonderen Rechtswillens: 70 Im Triepelschen Sinne ist zur Entstehung eines Gemein willens unabdingbare Voraussetzung, daß inhaltsgleiche Willensäußerungen zu einem gleichgerichteten Willen verschmelzen. Es stellt sich für Triepel die Frage, ob durch einen Vertrag objektives Völkerrecht geschaffen werden könnte. Bei der detaillierten Analyse dieser Problemstellung unterscheidet Triepel zwischen rechtsgeschäftlichen und rechtsnormativen Verträgen. 71 Seine Auffassung über das prinzipielle Wesen des Vertrages beschreibt er folgendermaßen: " ... Somit ist der Vertrag die Vereinigung mehrerer Personen von verschiedenem, aber korrespondirendem Interesse zu inhaltlich entgegengesetzten, auf denselben äusseren Zweck gerichteten Willenserklärungen."n
Folgt man dieser Begriffsbestimmung, so kann ein Vertrag nur von genau zwei Parteien abgeschlossen werden 73, weil er auf den Ausgleich von entgegengesetzten Interessen ausgerichtet ist. Dies alles läßt Triepel zu dem Urteil kommen, daß es für Staaten mittels eines Vertragsabschlusses nicht möglich ist, einen Gemeinwillen zu bilden. 74 Damit ist auf diesem Weg die Schaffung von Rechtssätzen zur Erzeugung eines objektiven Rechtsrahmens ausgeschlossen. 75 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 33-81. Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 81-90. 70 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.90-llO. 71 Heinrich Triepel stützt sich dabei wesentlich auf die Ausführungen Kar! Bergbohms. Er trennt demnach zwischen Verträgen, die als "Rechtssätze" abstrakte Vereinbarungen zur Regelung des zukünftigen gemeinsamen Staatenverkehrs beinhalten und Verträgen, welche die Bedeutung von "Rechtsgeschäften" haben und innerhalb dieses festgelegten objektiven Rahmens subjektive Rechte und Pflichten schaffen oder aufheben. Beispiele für die erste Vertragsart sind: Abkommen über das Verhalten im Falle eines Krieges und über die Auslieferung von Verbrechern. Zu den rechtsgeschäftlichen Verträgen zählen beispielsweise Friedensverträge und Verträge über Handelsgüter. Jedoch stellen seiner Meinung nach nur die letztgenannte Art von Verträgen "echte Verträge" dar. Siehe dazu H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 47-49 und K. Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts, 1877, S. 78-88. n H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.45 (Hervorhebungen im Original). Diese Definition ist gestützt auf die Auffassung Karl Bindings: "Der Vertrag ist das Rechtsgeschäft, welches durch zwei von verschiedenen Rechtssubjekten ausgehende, auf denselben Zweck gerichtete, einander notwendig ergänzende Handlungen verschiedenen Inhaltes begründet wird." K. Binding, Die Gründung des Norddeutschen Bundes, 1889, S.69. 73 Jede Vertragspartei kann natürlich aus mehreren Personen bestehen; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 58. Beispiele, an denen er das Wesen des Vertrages genau erläutert und seine Argumentationen begründet, sind insbesondere Mietvertrag, Kaufvertrag, Schenkungsvertrag und Darlehensvertrag, vgl. S. 35-49. 74 Eine eingehende Erörterung der Gedanken Heinrich Triepels zum Wesen des Vertrages ist zu finden bei eh. Amrhein, Monismus und Dualismus in ausgewählten Lehren vom Völkerrecht, Diplomarbeit an der Wirtschafts- und Sozial wissenschaftlichen Fakultät der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, 1996, S. 10-17. 75 Setzt man diese Gedankenfolge fort, dann ist für Heinrich Triepel- in Übereinstimmung mit Karl Bergbohm - die Bezeichnung "rechtsnorrnativer Vertrag" nicht zutreffend, weil sich dieser in seinem Wesen völlig von den "echten Verträgen~' (H. Triepel, Völkerrecht und Lan68
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I. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Die Erzeugung von objektivem Recht muß also durch eine andere Art der Willensübereinkunft ermöglicht werden. In diesem Kontext hat Triepel seine Vereinbarungslehre 76 für das Völkerrecht ausgearbeitet: Die "Vereinbarung"?? versteht er als geeignete Rechtsfigur, mit der eine Verschmelzung von mehreren Einzelwillen gleichen Inhalts erwirkt werden kann und bei der eine Beteiligung beliebig vieler Parteien möglich ist. Gleichermaßen wie beim Vertragsschluß treffen die Willenserklärungen der Parteien zusammen; anders als die Willen der Vertragspartner haben diese jedoch einen identischen Inhalt und sind in gleicher Weise auf übereinstimmende gemeinsame Interessen gerichtet. 78 Deshalb ist die Zahl der an der Vereinbarung beteiligten Partner unbeschränkt: 79 "Die Vereinbarung besteht wie der Vertrag aus den zusammentreffenden Willenserklärungen mehrerer Personen. Diese Erklärungen werden, gleichfalls wie beim Vertrage, gegeneinander abgegeben. Aber anders als beim Vertrage erklärt hier jede Partei einen Willen, der dem Willen der anderen vollkommen gleich ist. ... Jeder ,will' ferner, dass der andere dasselbe thue wie er selbst. ...,,80
Der auf diese Weise erzielte Gemeinwillen muß folglich "als ein von der Vielheit der Willen verschiedener einheitlicher Wille gedacht werden"81. desrecht, S.49) mit rechtsgeschäftlichem Inhalt unterscheidet. Demnach muß nach einer anderen Art von Willensvereinigung gesucht werden, die aus ihrer Natur heraus Recht erzeugen kann. Im Gegensatz dazu teilt Bergbohm die Verträge nicht entsprechend ihrer Wesensart ein, sondern nach ihrem Erfolg. Verträge sind für ihn "übereinstimmende Willenserklärungen zweier oder mehrerer Staaten" (K. Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts, S. 77), so daß er offenbar keine andere Form der Willensvereinigung ergründen will. 76 Sowohl die Vereinbarungslehre Heinrich Triepefs als auch seine bereits aufgezeigte Vertragsiehre beziehen die Überlegungen Karf Bindings sowie Karf Bergbohms mit ein; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.46-49; K. Binding, Die Gründung des Norddeutschen Bundes und K. Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts. 77 H. Triepef, Völkerrecht und Landesrecht, S. 50. Karf Binding war es, der den Begriff "Vereinbarung" bereits in seiner Schrift über "Die Gründung des Norddeutschen Bundes" verwendete. Obwohl dieser Ausdruck gleichzeitig als Synonym für viele ähnliche Bezeichnungen (z. B. Abkommen, Einigung, Abmachung) sowie auch für einen Vertragsabschluß verwendet wird, gebraucht ihn Heinrich Triepef, weil seiner Ansicht nach keine andere - eindeutigere - Benennung auszumachen ist; vgl. H. Triepef, Völkerrecht und Landesrecht, S. 50. 78 Vgl. H. Triepef, Völkerrecht und Landesrecht, S. 51-53 und S. 58. Auf dem Gebiet des Landesrechts sind etliche Formen einer Vereinbarung erkennbar, wie etwa eine Einigung von Rechtsinhabern über die Ausübung einer Verfügung (z. B. Einigung der Gesellschafter über die Geschäftsführung, die Vereinbarung von Streitgenossen über die Zurücknahme der Klage und auch die Einigung mehrerer Minister über den Erlaß einer Verordnung). Als eine der wichtigsten Ausprägungen der Vereinbarung bewertet Heinrich Triepef die Gründung eines Zusammenschlusses (z. B. Körperschaft, Verband oder Verein); vgl. H. Triepef, Völkerrecht und Landesrecht, S. 53-54 und S. 56. Weitere Beispiele zu den möglichen Formen der Vereinbarung im landesrechtlichen Bereich sind auf den Seiten 50, 52, 55 und 57 zu finden. 79 Vgl. H. Triepef, Völkerrecht und Landesrecht, S.58 und S. 69, Fußnote 1. 80 H. Triepef, Völkerrecht und Landesrecht, S.52-53. 81 H. Triepef, Völkerrecht und Landesrecht, S. 57. Eine ablehnende Haltung dazu drückt Gustav Walz aus: "Ungeeignet aber und methodisch verfehlt scheint mir jedenfalls jene nach phy-
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Aus der Gegensätzlichkeit von Vertrag und Vereinbarung ergibt sich eine für die weitere Untersuchung wesentliche Schlußfolgerung. Wahrend Willenserklärungen im Rahmen eines Vertragsschlusses stets rechtsgeschäftliche Rechte und Pflichten begTÜnden 82 , nimmt die Rechtswirkung einer Vereinbarung unterschiedliche Formen an: In der Fonn eines Rechtsgeschäfts innerhalb der bestehenden objektiven Rechtsordnung kann die Vereinbarung alle Beteiligten berechtigen oder verpflichten, gemeinschaftlich oder in gleicher Weise zu handeln. 83 Ihrer Natur nach kann sie jedoch auch selbst die Erzeugung objektiven Rechts zum Ziel haben. 84 Aus Triepels intensiver Analyse geht deutlich hervor, daß für ihn die Vereinbarung sowohl für das Landesrecht als auch für das Völkerrecht ein geeignetes Rechtsmittel zur Schaffung eines Gemeinwillens ist. 85 Auch im Bereich des Völkerrechts ist es unumgänglich, jede zwischen den Staaten abgeschlossene Übereinkunft begrifflich richtig einzuordnen - entweder als "wirklichen Vertrag"86 oder als "rechtsetzende Vereinbarung"87. In der Praxis des Völkerrechts wird diese genaue Differenzierung nicht durchgehalten, so daß Vereinbarungen, die objektives Recht erzeugen, oftmals auch als Staatsverträge bezeichnet werden: 88 sikalisch-geometrischen Analogien konzipierte Vorstellung der Konstitution eines neuen einheitlichen Gemeinwillens zu sein, vermittelst dessen objektives Recht fundiert werden soll." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, 1933, S. 26. 82 Alle jene "echten" Verträge erlangen ihre Geltung und Wirksamkeit nur in Abhängigkeit vom objektiven Recht, vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.61. 83 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.58-61 und S.69, Fußnote 1. Dies bedeutet, daß einer der Vereinbarenden das Recht oder die Pflicht hat, anstelle der anderen zu handeln oder daß alle zusammen die gleichen Rechte und Pflichten erfüllen. Dieses gemeinsame Handeln beschreibt Heinrich Triepel (in Anlehnung an J. Kuntze. Der Gesamtakt, Festgabe der Leipziger luristenfakultät für O. Müller, 1892) als Gesamtakt: "Der Gesamtakt ist, wenn er zu einer Vereinbarung in Beziehung steht, deren Erfüllung oder die Ausübung der aus ihr entstehenden Rechte. Das Übereinkommen zweier Ministerien über eine gemeinsam zu erlassende Verordnung ist Vereinbarung, der gemeinschaftliche Erlass der Verordnung ist Gesamtakt. ... Aber nicht jeder Gesamtakt ist Erfüllung einer Vereinbarung, und, ... nicht jede Vereinbarung hat einen Gesamtakt im Gefolge, nicht jede zielt auf einen Gesamtakt ab." H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.59. 84 In diesem Fall ist der rechtliche Bestand der Vereinbarung nicht von der Kraft des objektiven Rechts abhängig, sondern die Vereinbarung selbst will die Bildung von Rechtssätzen erwirken. Dann erreicht sie entweder ohne weitere Bedingungen oder in Verbindung mit anderen Rechtssätzen ihre Wirksamkeit. Anders als bei der Bildung von Rechtsgeschäften wird hierbei eine Rechtsnorm geschaffen, welche eine zukünftige einheitliche Regelung des Staatenverkehrs zwischen den Vereinbarenden in bezug auf alle von der Norm erfaßten Fälle vorschreibt; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 61-62 und S. 72. 85 Nach Auffassung Heinrich Triepels gibt es bezüglich Wesen und Bedeutung der Vereinbarung unzweifelhaft keinen relevanten Unterschied zwischen Vereinbarungen von Staaten und den Vereinbarungen zwischen Individuen. Die Tatsache, daß beide Ausprägungen andere Verhältnisse regeln und auf andere Adressaten gerichtet sind, wirkt sich nicht auf ihre grundsätzlichen Eigenschaften aus; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 63 und S. 66-69. 86 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.65. 87 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 73, vgl. S. 64-65. 88 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 64 und S. 70.
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"Der Vertrag ist unfähig, Rechtssätze zu erzeugen, weil er seiner Natur nach nicht im Stande ist, einen Gemeinwillen hervorzubringen. Was aber der Vertrag nimmer vermag, das vermag die Vereinbarung. Die Staaten können objektives Recht schaffen, wenn sie eine Regel vereinbaren, nach der sich ihr künftiges Verhalten dauernd bestimmen soll. ,,89
In diesem Sinne zählen sowohl die Einigung unabhängiger Staaten, einen Staatenbund zu gründen als auch die Regeln über die freiheitliche Schifffahrt im Rahmen des Wiener Kongresses wie auch ein Abkommen über ein Kollektivprotektorat zu den Beispielen einer Vereinbarung. 90 Die von Triepel gesuchte Völkerrechtsquelle steht damit fest: Es ist die Vereinbarung, die aus dem gemeinsamen Verpflichtungs willen der Staaten entspringt. Mit dem Abschluß des Gemeinwillens ist nach Triepels Ansicht der Rechtssatz entstanden, so daß es zu seiner völkerrechtlichen Geltung keiner Verkündung an Dritte bedarf. Der Grund dafür ist überzeugend: Nur jene Staaten, die in die Vereinbarung einwilligen, sind auch an das geschaffene Recht gebunden. 91 Deshalb steht Triepel der Selbstverpflichtungslehre 92 zur Bildung von objektivem Völkerrecht in jeder Beziehung ablehnend gegenüber. Undenkbar- weil im völligen Gegensatz zu seiner Vereinbarungslehre - ist für ihn die Erzeugung von zwischenstaatlichen Rechtsnormen durch den Beschluß jedes einzelnen Staates, sich selbst zur Einhaltung des Rechtssatzes zu verpflichten. Dies bedeutet, daß bei einer Verpflichtung des Staates durch sich selbst kein "Zusammentreffen der Staatswillen", sondern nur immer ein eigener Wille einzelner Staaten existiert, der verbindliches Recht schaffen soll. 93 89 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.70 (Hervorhebungen im Original). Kritisch diesbezüglich äußert sich Gustav Walz; denn seiner Meinung nach behandelt die internationale Praxis Vertrag und Vereinbarung ohne Unterschied. Auch kann er eine rechtliche Verschiedenheit zwischen diesen bei den Rechtsfiguren nicht feststellen. Für ihn ergibt sich, "daß die praktisch-juristische scharfe Trennung zwischen objektivem und subjektivem Recht nur einen historisch bedingten Anwendungsbereich in den gewalten- und arbeitsteilig organisierten Staatsrechtsordnungen besitzt, daß sie aber in den einer solchen Funktionenteilung entbehrenden Rechtsordnungen ... praktisch bedeutungslos ist, ... Da nun aber die Figur der Vereinbarung einzig im Hinblick auf die Aufzeigung einer objektiven Völkerrechtsquelle ersonnen worden ist, was sie ja allein vom Vertrag rechtlich unterscheidet, so erhellt hieraus schon die juristische Unwesentlichkeit des ganzen Unternehmens." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.24. 90 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.66-70. 9\ V gl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.75-76. 92 Heinrich Triepel verweist in diesem Kontext auf die Ideen Georg w.F. Hegels, Karl Bergbohms und Georg lellineks; dazu 3. Teil, 2. Kap. und 4. Teil, 4. Kap. I. und II. 1. 93 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 77-81. Heinrich Triepel formuliert seine Ablehnung deutlich: "Einen Rechtssatz, der nicht als Macht über den Subjekten steht, an die er sich wendet, kann ich mir nicht denken, und einen Rechtssatz, der solche Macht ist, kann nicht eines dieser Subjekte durch einen Machtspruch gegen sich selbst hervorbringen. Das von dem Staate einseitig für seine Beziehungen zu anderen Staaten geschaffene Recht ist nicht Völkerrecht, sondern ,äusseres Staatsrecht', oder wie man es sonst nennen mag." (S.79).
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Lea Meriggi beurteilt den Kern der Triepelschen Vereinbarungslehre ganz und gar zutreffend: "Der staatliche Wille, der nach Triepel der Ursprung des internationalen Rechts ist, kann nicht der Wille eines einzigen Staates sein: diesen schöpferischen Willen können wir nur in der Vereinigung verschiedener Willensäußerungen finden, die wegen ihrer inhaltlichen Übereinstimmung einen einzigen, auf ein gemeinsames Ziel gerichteten Willen darstellen, einen höheren Willen, der alle die verschiedenen Willensäußerungen in sich vereinigt, aber sich seinerseits von jeder seiner Komponenten unterscheidet. Das ist die Vereinbarung, die Konvention, die Vereinigung mehrerer Willensäußerungen, die ein neues Recht ins Leben ruft und das Gebäude des internationalen Rechts trägt."94
Aufgrund dieses Ergebnisses ergeben sich für Triepel- wie bereits erwähnt - zwei weitere Fragen: Zunächst will er die rechtliche Grundlage des Gemeinwillens und damit des geschaffenen Völkerrechts ergründen, um anschließend auf die Natur der völkerrechtlichen Vereinbarung einzugehen: Was den Bereich des Landesrechts anbelangt, so entsteht der dort gebildete Rechtssatz - wie bereits festgestellt - aufgrund einer Vereinbarung und ist auf einen nationalen Gemeinwillen zurückzuführen. Dieser basiert auf zwei oder mehreren Einzelwillen, die ihre Rechtskraft erneut von einem vorangehenden Rechtssatz erhalten haben. Diese Reihe läßt sich auf ein Gesetz zurückführen und jenes wiederum geht aus der Staatsverfassung hervor. Im Gegensatz dazu kann von Triepel für die völkerrechtliche Vereinbarung auf den ersten Blick keine weitere vorausgehende rechtliche Grundlage ausgemacht werden: Eine Zurückführung der Vereinbarung auf eine zweite, dritte oder jede weitere vorausgehende Vereinbarung bietet keine rechtliche Ausgangsbasis. 95 Ganz offensichtlich zieht er die Möglichkeit, die Vereinbarung auf die Einzelwillen der beteiligten Staaten zurückzuführen und damit einen rechtlich tiefergehenden Ursprung im staatlichen Bereich zu suchen, nicht in Betracht. Ohne Zweifel würde diese These seinem anfangs aufgestellten Konzept über die Verschiedenheit des Landes- und Völkerrechts bezüglich der Subjekte, Inhalte und Quellen in drastischer Weise entgegenstehen. Im weiteren Verlauf seiner Betrachtung korrigiert Triepel allerdings seine ursprüngliche Ansicht über die staatliche Rechtskraft: Auch der staatlichen Rechtsordnung mangelt es an einem rechtlichen Fundament; denn auch die Verfassung benötigt eine verbindliche Kraftquelle. Als Konsequenz stellt Triepel für das Völkerrecht und Landesrecht fest, daß es eine ursprüngliche rechtliche Verbindlichkeit des Rechts nicht geben kann. "Der ,Rechtsgrund' der Geltung des Rechts ist kein rechtlicher."96 Damit fällt die Frage nach der ursprünglichen verbindlichen Kraft des 94 L. Meriggi, Das Wesen des internationalen Rechts und seine Beziehungen zum inneren Recht der Staaten, in: Zeitschrift für Völkerrecht, Max Fleischmann zum 60. Geburtstag, hrsg. von Max Fleischmann/Walther Schücking/Karl Strupp, Band XVI, Heft 4/5, 1932, S. 742-750, hier S. 743. 95 Vg1. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 81-82. 96 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 82.
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Rechts in den "metajuristischen"97 Bereich. Es ist also das "Gefühl" des Staates, an den Rechtssatz gebunden zu sein, welches den Rechtsgrund des Völkerrechts ausmacht. Jeder einzelne Staat hält sich an den Inhalt des Rechtssatzes, auch wenn sich sein Wille ändert und er nun nicht mehr Beteiligter der Vereinbarung sein möchte. Die Sicherheit, daß sich dieser Staat nicht ohne weiteres von der Vereinbarung freimacht, kann nach Triepels Auffassung nur das "Gefühl des Gebundenseins" des Staates geben. 98 Ausschlaggebend dafür ist das Zustandekommen des Gemeinwillens: Der erzeugte Gemeinwillen resultiert nicht nur aus den fremden staatlichen Willen der anderen Vereinbarenden, sondern auch aus dem eigenen nationalen Willen, so daß sich die Staaten nur exakt für das, was sie zu diesem Zeitpunkt auch tatsächlich anstreben, verpflichten. 99 Diese Erkenntnisse verdeutlichen, daß objektives Recht nicht mittels eines Mehrheitsbeschlusses erzeugt werden kann, sondern nur durch den übereinstimmenden Willen aller an der Vereinbarung beteiligten Staaten. 100 Folglich sind diese Rechtssätze ausschließlich für die Vereinbarenden verbindlich, wodurch sie im Sinne Triepels partikuläres Völkerrecht darstellen. Ein allgemeines Völkerrecht, das alle existierenden Staaten umschließt, gibt es seiner Meinung nach nicht; denn ein Zusammenwirken aller Staaten schließt Triepel vehement aus: 101 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 82. Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 81-82. Heinrich Triepel gibt seine psychologisch-ethische Begründung auch später nicht auf: " ... que les sources du droit doivent etre en demier lieu des faits purement ethiques et psychologiques. Si nous derivons le droit d'une volonte, il nous faut faire comprendre, il est vrai, d' ou cette volonte tire sa force obligatoire. Mais repondre acette question par une reponse nonjuridique, fonder la validite du droit sur des faits psychologiques, par exemple sur le sentiment des sujets d'etre lies pour des motifs quelconques, par la volonte de la communaute, cela vaut autant que d'emettre l'idee d'une norme originaire hypothetique, qui, en verite, est une pure fiction." H. Triepel, Les rapports entre le droit interne et le droit international, in: RdC, I, 1923, S. 77-121, hier S. 87. Scharf kritisiert wird diese Begründung unter anderem von Walter Schiffer (vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.16-18) sowie von Gustav Walz. Dieser stellt die Kritik am "Gefühl des Gebundenseins" klar heraus: "Ich glaube nicht, daß sich der Jurist damit begnügen kann, und Triepel selber hat später noch ethische Prinzipien herangezogen. Eine Zurückführung des Rechts auf die Ethik aber widerspricht dem Rechtspositivismus." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.27, vgl. S. 14 und S. 26-27. 99 Siehe dazu das vorangegangene Zitat Lea Meriggis sowie H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.48. Nicht möglich ist deshalb ein einseitiges Loslösen von der Vereinbarung aufgrund der Willensänderung lediglich eines Staates. Heinrich Triepel macht deutlich, daß zur Änderung oder Aufhebung der Vereinbarung eine übereinstimmende Gemeinwillensänderung erforderlich ist. Ansonsten besteht die Gefahr eines Rechtsbruchs (v gl. S. 88-90). 100 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 83. Verbindliches objektives Recht kann nur dann von einer Mehrheit der vereinbarungswilligen Staaten geschaffen werden, wenn zuvor alle Staaten übereinstimmend solche "Majoritätsvereinbarungen" anerkannt haben (vgl. S.83 und S. 87). 101 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.83-84. Lediglich die Zusammenstellung gleicher - partikulär geltender - Rechtssätze der einzelnen Staatengruppen erscheint Heinrich Triepel als ein Weg, um ein allgemeines Völkerrecht zu bilden. Dabei basiert das so entstandene Recht auf verschiedenen Vereinbarungen und damit auf unterschiedlichen Rechts97
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht "Da nun Völkerrecht nur aus Vereinbarung entstehen kann und eine Vereinbarung, bei der sich sämtliche existierende Staaten betheiligt hätten, nicht nachzuweisen ist, so kann es ein allgemeines Völkerrecht im Sinne eines alle vorhandenen Staaten gleichmässig beherrschenden nicht geben .... Es ist nicht einmal richtig, zu sagen, jeder Rechtssatz des Völkerrechts, der zunächst nur für wenige Staaten gelte, sei darauf angelegt, dereinst Recht für alle zu werden, ... "102
Aufschluß über die Natur des Gemeinwillens geben die denkbaren Formen der rechtsetzenden Vereinbarung. Unter der Annahme, die Entstehung einer Vereinbarung zur Schaffung von objektivem Recht ist zweigeteilt, ergeben sich bei beliebig vielen beteiligten Staaten zahlreiche Arten der Rechtserzeugung: Beide Komponenten - bestehend aus der Mitteilung der Staatswillen und der nachfolgenden Erklärung der Rechtsregel - können sowohl durch ausdrückliches Erklären als auch in Form von konkludentem Handeln auftreten. Triepel unterscheidet demnach vier elementare Entstehungstypen der Rechtserzeugung, die aus der Kombination der Erklärungen resultieren. 103 Eine der möglichen Erzeugungsformen beruht demzufolge ausschließlich auf schlüssigem Handeln der beteiligten Staaten. Dieser Teilbereich repräsentiert nach Auffassung Triepels das Völkergewohnheitsrecht. In dem Sinne sieht er die Vereinbarung nicht nur als Ursprung des Vertragsrechts, sondern auch als Quelle des zwischenstaatlichen Gewohnheitsrechts an. 104 Alle weiterführenden Untersuchungen Triepels schließen daher auch den Bereich des Völkergewohnheitsrechts mit ein. Ausgehend von diesen Betrachtungen zur Besonderheit der Völkerrechtsquelle und dem Wesen der Rechtsverhältnisse zieht Triepel zwei elementare Schlußfolgerungen für das Völkerrecht: Zum einen macht er eine Aussage zur Rechtsnatur des Völkerrechts; zum anderen zieht er ein erstes Fazit zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht. Wie bereits angedeutet, sieht Triepel das Kriterium der Erzwingbarkeit nicht als unumgänglichen Prüfstein für den Rechtscharakter einer Norm an: 105 "Ein Satz also, der nach seiner Entstehung und seinem Inhalte ein Rechtssatz sein kann, ist nicht bloss deshalb als Nichtrechtssatz zu bezeichnen, weil ihm das ,Zwangsmoment' fehlt. Er mag im Werthe den anderen nachstehen, seinem Wesen nach aber ist er ihnen gleich."I06 quellen. Als Beispiel nennt Triepel ein "allgemeines Auslieferungsrecht"; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 84. 102 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 83 und S. 84-85. 103 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.91-95 und S. 103. Siehe dazu auch Ch.Amrhein, Monismus und Dualismus in ausgewählten Lehren vom Völkerrecht, S. 17. 104 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 95; vgl. A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, 1975, S. 264. Der Begriff "Staatenpraxis", im Sinne eines dauerhaften Verhaltens der Staaten, bezeichnet Heinrich Triepel als "irreführend"; denn zur Erzeugung von Gewohnheitsrecht ist seiner Ansicht nach nur eine einmalige willenserklärende Handlung nötig; H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 102, siehe auch S. 95-103. 105 Dazu 3. Teil, 2. Kap. 106 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 110 (Hervorhebungen durch den Verlasser).
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Triepels Begründung für diese Auffassung ist eng mit der - oben beschriebenen - Art der Entstehung einer Rechtsnorm verbunden. Seiner Meinung nach ist der eigentliche Rechtssatz lO7 vom "Zwangsrecht"108 zu trennen, weil beide zwar aus einer Rechtsquelle entspringen können, aber stets aus verschiedenen "Willensaktionen" 109 resultieren und somit nicht auf dem sei ben Rechtssatz beruhen. 110 Sofern das Merkmal der Erzwingbarkeit erfüllt werden soll, muß folglich auch diesem Zwangsrecht ein weiterer Rechtssatz zur Seite gestellt werden, der die Einhaltung des ersten Zwangsrechts erzwingen kann. Die Reihe setzt sich fort, bis kein anknüpfendes Zwangsmoment mehr existiert. An dieser Stelle besteht kein rechtlicher Schutz zur Einhaltung des Rechts mehr: Nur "sittliche Mächte" 11 1 können dann noch die Rechtssicherheit gewährleisten. 112 Daraus folgt für Triepel, daß alle Normen einer Rechtsquelle, seien sie durch eine "nichtrechtliche Macht" 113 oder durch ein Zwangsrecht geschützt, als Recht einzuordnen sind, auch wenn letzteres einen "besseren"114 Schutz bietet. 115 Darüber hinaus sieht Triepel einen Unterschied zwischen dem Zwang, der in organisierter Art und Weise ausgeübt werden kann und jenem Zwang, der aus der erlaubten Eigeninitiative des berechtigten Staates hervorgeht. 116 Auch auf dieser Ebene gibt es für Triepel verschiedene Stufen der Rechtsnatur: Die durch "organisirten Zwang"117 geschützten Rechtsnormen sieht er als "vollkommeneres"118 Recht an. Alles mittels "Eigenmacht"119 durchsetzbare Recht ist für ihn "unvollkommeneres" 120 Recht. Triepel stellt also hinsichtlich der Zwangsmöglichkeit lediglich unter107 Heinrich Triepel bezeichnet ihn als das "Hauptrecht", H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 107. 108 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 107: "Das Zwangsrecht ist folglich ein zweites Recht neben dem Hauptrecht, als sekundäres bestimmt, dem primären zur Durchführung zu verhelfen." In diesem Sinne bezeichnet Heinrich Triepel diesen Zwangsrechtssatz auch als "Nebenrechtssatz" (S. 109). 109 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 109. liD Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.107-109. III H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 110. 112 "Die Rechtsquelle ist bald früher, bald später, aber immer einmal gezwungen, die Hilfe nichtrechtlicher Mächte anzurufen, und oft überlässt sie ihnen aus guten Gründen schon früher das Feld, als sie es müsste." H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 110. III H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 110. 114 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 110. 115 V gl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 106 und S. 110. "Und über eines kann man sich ja gar nicht streiten, dass nämlich das erzwingbare Recht den Interessen, denen es dient, im Wesentlichen besser zu Hülfe kommt als das andere, das diesen Charakter nicht besitzt..." (S. 106). 116 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 105. Unter dieser Eigeninitiative versteht er Retorsion, Repressalie und Krieg, vgl. S. 105. Siehe dazu auch 3. Teil, 2. Kap. und 3. Kap. 1.4. 117 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 106. 118 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 106. 119 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.105. 120 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 106.
7 Amrhein-Hofmann
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schiedlich zu wertende Arten von Rechtsnonnen fest, die jedoch in jedem Fall als Rechtssätze anzuerkennen sind. 121 Die Frage nach der Rechtsnatur des Völkerrechts ist für Triepel aufgrund dieser Erkenntnisse beantwortet: Ganz eindeutig ist es als Recht anzuerkennen, wenn es auch aufgrund der mangelnden Regelung des Zwangsrechts nicht die gleiche Wertigkeit besitzt. Selbst beim Fehlen einer Zwangsmöglichkeit würde Triepel die rechtlichen Charakter des Völkerrechts nicht verneinen, sondern als vergleichsweise geringwertiger beurteilen. Auf welche Art und Weise diese so anerkannte Völkerrechtsordnung in Beziehung zum Landesrecht steht, deutete Triepel bereits in seinen Untersuchungen hinreichend an. Unmißverständlich macht er klar: "Wenn es ausgeschlossen ist, dass Völkerrecht und Landesrecht die gleichen Verhältnisse normieren, so ist es unmöglich, dass jemals zwischen den Quellen der beiden Rechtsordnungen das Verhältniss der sogenannten Konkurrenz eintrete." 122
Seine dargestellte Lehre führt unweigerlich zur Feststellung, daß aufgrund der Besonderheit der Quelle des Völkerrechts und der Verschiedenheit der geregelten Rechtsverhältnisse ein zweifacher Gegensatz von Völkerrecht und Landesrecht besteht. Für Triepel ist dies die Grundlage für die nachstehenden Ergebnisse: "Völkerrecht und Landesrecht sind nicht nur verschiedene Rechtstheile, sondern auch verschiedene Rechtsordnungen. Sie sind zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden. So ist es von unserem Standpunkte aus ein vollkommener Widerspruch, Völkerrecht zugleich Landesrecht sein zu lassen oder umgekehrt." 123
Auf diese Weise vollzieht Triepel die konsequente Trennung der beiden Rechtsordnungen. Zugleich jedoch versucht er in einem nächsten wichtigen Schritt, ihr Verhältnis genauer zu untersuchen, um mögliche existierende Berührungspunkte zwischen Völkerrechtsordnung und landesrechtlicher Ordnung aufzudecken und um damit klären zu können, ob einer der beiden Rechtskreise auf die Ausgestaltung des anderen einwirken kann. 4. Die Berührungspunkte von Völkerrecht und Landesrecht Zunächst klärt Triepel ganz generell die Frage, welche Beziehungen zwischen gegensätzlichen Rechtsordnungen bestehen können. Zwei Aspekte erscheinen ihm in diesem Zusammenhang interessant: Zunächst untersucht er eine mögliche Verbindung zwischen den Inhalten der Rechtssätze, um dann eine Analyse des Verhältnisses der Quellen der Rechtsordnungen zu erarbeiten. 124 121 122 123
Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 110. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 23 (Hervorhebungen durch den Verfasser). H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 111.
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Ist bezüglich des Inhalts der Normen verschiedener Rechtsordnungen eine Übereinstimmung festzustellen, so geht Triepel davon aus, daß identische Rechtssätze zeitlich nacheinander erzeugt wurden, wobei sich die jüngere inhaltlich an die schon bestehende angleicht. Er bezeichnet diese Nachbildung eines Rechtssatzes als "Reproduktion"l25, respektive "Aufnahme oder Reception fremden Rechts"126 und unterscheidet dabei drei grundsätzliche Formen. Zum einen kann eine Rezeption die "ausdrückliche Wiederholung ausdrücklich formulirter Rechtssätze einer anderen Quelle"127 sein. Zum anderen kann sie die Form einer ausdrücklichen Anweisung annehmen, die angibt, daß die Rechtsfolge für bestimmte Tatbestandsmerkmale identisch mit jener Rechtsfolge sein soll, die für Tatbestände eines Rechtssatzes einer anderen Rechtsordnung gilt. Eine Wiederholung des Inhaltes dieses Rechtssatzes findet nicht statt. Darüber hinaus erscheint Triepel sogar eine "stillschweigende"128 Aufnahme von Rechtssätzen einer fremden Rechtsquelle als verbindliche Art der Rechtserzeugung möglich. 129 Die zweite und dritte Form der Rezeption bezeichnet Triepel als "recipirende Blankettrechtssätze"13o. Ihre Besonderheit liegt für ihn darin, daß sich eine Änderung oder Fortbildung der Rechtsnorm der anderen Quelle auch automatisch auf den Inhalt der Rezeption auswirken kann. 131 Alle drei Rechtsetzungsarten beziehen sich auf fremdes Recht und integrieren dessen Inhalt oder Teile davon. Das genaue Gegenteil davon sind "nicht recipirende Blankettrechtssätze"132, die - obwohl sie sich auch auf das Recht einer fremden Rechtsquelle beziehen - den Inhalt dieser anderen Norm nicht zu ihrem Bestandteil werden lassen. Ein solches Blankett besteht in der Regel aus nur lückenhaften Tatbestandsmerkmalen, an die 124 Heinrich Triepels Ausführungen dazu sollen hier nur in bündiger Form dargestellt werden; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 156, S. 157 und S. 164; siehe dazu auch Ch.Amrhein, Monismus und Dualismus in ausgewählten Lehren vorn Völkerrecht, S.18-19. 125 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 157. 126 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 157. Unter Rezeption versteht Heinrich Triepel also die "Aufnahme eines von einer Rechtsquelle geschaffenen Rechtssatzes durch eine andere." (S. 169). 127 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.157. 128 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.157. 129 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.157. 130 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.158. Heinrich Triepel erwähnt auch die zum damaligen Zeitpunkt neu aufkommende Benennung "materielle Verweisungssätze" (S. 159). Andere Rechtswissenschaftler ersinnen weitere Ausdrücke und bezeichnen die Rezeption fremden Rechts mit Wiederholung des fremden Rechtssatzes z. B. als "starre Rezeption" und die Rechtsetzung mittels rezipierender Blankettrechtssätze als "elastische Rezeption"; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.16. 131 Folglich werden solche Blankette sowohl durch bereits existierendes aber auch durch noch entstehendes Recht der anderen Rechtsquelle ausgefüllt; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 158 und S. 160-161. 132 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.162.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
eine Rechtsfolge geknüpft ist. Vervollständigt wird diese Rechtsnorm durch eine andere Quelle, auf die verwiesen wird. 133 Oftmals ist das Interesse am Rechtsinhalt der Rechtssätze - wie Triepel betont - eng mit der Untersuchung der grundsätzlichen Beziehung verschiedener Rechtsquellen zueinander verbunden; denn häufig ist dieses Interesse der Antrieb zur Betrachtung des Rechtsquellenverhältnisses. 134 Jenes Verhältnis ist im Sinne Triepels nur dann für die Rechtslehre bedeutsam, "wenn aus rechtlichen Gründen die eine [Rechtsordnung] in einem Abhängigkeitsverhältnis irgend welcher Art zu der anderen steht, ... , mit anderen Worten: wenn für eine Rechtsquelle das Motiv zur Vornahme oder Unterlassung rechtsschöpferischer Erklärung aus rechtlichen Gründen in der Willensrichtung einer anderen Quelle gelegen ist oder sein sollte."J35 Die generell möglichen rechtlichen Beziehungsarten zwischen verschiedenen Rechtsquellen sind zum einen das "Koordinationsverhältnis" und zum anderen das "Herrschaftsverhältnis".136 Ersteres besteht dann zwischen zwei Rechtsordnungen, wenn ihr Rechtswille und damit ihre Rechtserzeugung von einer dritten Rechtsordnung abhängig ist. 137 Die zweite Möglichkeit, nämlich die rechtliche Herrschaft der einen Rechtsquelle über eine andere, bedingt die willentliche "Bestimmbarkeit" der untergeordneten Quelle. Wie diese Abhängigkeit aussieht, entscheidet allein die herrschende Quelle: Entweder gibt sie der unterworfenen Quelle für ein begrenztes Maß die Befugnis, selbst Recht zu schaffen. Dabei sind jene Rechtssätze, welche die abhängige Rechtsquelle innerhalb dieses Kompetenzrahmens erzeugt, gültige Normen - alle anderen sind als nichtig zu werten. 138 Die übergeordnete Quelle kann aber auch Einfluß durch Befehle nehmen, die als Gebote anordnen, daß die beherrschte Rechtsquelle gewisse Sachverhalte regeln soll oder als Verbote bestimmen, was sie nicht normieren dürfe. 139 Für Triepel muß dementsprechend eine Einteilung dieser aktiven Rechtsetzung in "rechtlich geboten"140 oder "rechtswidrig" 141 erfolgen. I42 133 Beispiele Heinrich Triepels dafür sind: Strafgesetze des Reiches, die eine Verletzung landesrechtlicher Normen verbieten sowie Rechtsnormen, die auf fremde Gesetze zur Regelung von Staatsangehörigkeit, Prozessen und strafbaren Handlungen verweisen; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 162. 134 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.156, 157 und S. 164. J35 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 164-165 (Hervorhebungen im Original). Folglich werden all jene Beziehungen von Rechtsquellen in der weiteren Betrachtung außen vor gelassen, die auf egoistischen oder moralischen Motiven basieren (vgl. S. 165). 136 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 165. 137 Diese dritte Rechtsordnung kann z.B. die Rechtsordnung des Bundes- oder Einheitsstaates sein, der aus Staaten besteht. Heinrich Triepel deutet hier bereits an, daß diese dritte Rechtsordnung auch einer völkerrechtlichen Quelle entspringen kann; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 165. 138 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 166. 139 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 167-168. 140 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 168. 141 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.168.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Nicht nur ein Befehl, sondern auch eine Erlaubnis zur Rechtsetzung kann gegeben werden, wodurch eine dritte Gruppe, nämlich das "erlaubte Recht" 143 entstehen kann. Gebotenes und erlaubtes Recht formen gemeinsam das "rechtmäßige Recht"I44. Mit dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen den Inhalten und Rechtsquellen verschiedener Rechtsordnungen untersucht Triepel nun das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht. Was die inhaltlichen Beziehungen angeht, macht Triepel deutlich, daß sowohl eine Rezeption von Völkerrecht in die landesrechtliche Rechtsordnung als auch die Existenz von völkerrechtlichen Rechtssätzen, die Landesrecht aufnehmen, im allgemeinen auszuschließen ist. 145 Der Grund dafür liegt in der Verschiedenheit des Inhalts der Rechtsnormen, was aus dem Gegensatz der zu regelnden Lebensverhältnisse resultiert. 146 Aus vorstehenden Thesen Triepels ist zu folgern, daß eine unmittelbare Einwirkung der heiden Rechtsordnungen aufeinander nicht gegeben ist. Dagegen sind die nichtrezipierenden Blankettrechtssätze, die einen mittelbaren Bezug zum Recht einer anderen Rechtsquelle herstellen, wesentlich bedeutsamer bei der Betrachtung des Zusammenhangs von Völkerrecht und Landesrecht. 147 Die Verweisung einer landesrechtlichen Regel auf das Völkerrecht kann zwei Formen annehmen: 148 In den meisten Fällen intendiert sie, daß das Völkerrecht nicht vollständig dargelegte Tatbestände komplettiert und beispielsweise wichtige Begriffe näher definiert. 149 142 Ein Unterlassen der Rechtsetzung ist für den Fall eines Gebots "pflichtwidrig" und bei einem Verbot "pflichtgemäss" - eine Wertung dieses Verhaltens in bezug auf die dominierende Rechtsquelle kann es hier jedoch nicht geben; siehe H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.168. 143 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 168. 144 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 168. 145 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.169-225. Ausnahmen von dieser Regel erläutert Heinrich Triepe! ebenfalls; im Falle der Rezeption von völkerrechtlichen Normen beurteilt er die Konstellationen im Bundesstaat als die wesentliche Exzeption (vgl. S. 171). Beispiele für eine bundesstaatliche Gliederung sind die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Schweizer Eidgenossenschaft, das damalige Deutsche Reich sowie der Norddeutsche Bund (v gl. S. 176). Dabei diskutiert Triepe! die Frage, ob die Gründung dieser "Staatenvereine" (S. 176) auf der Rezeption völkerrechtlicher Rechtssätze beruhen könnte (vgl. S. 178). Auch die Rezeption landesrechtlicher Normen durch völkerrechtliche Quellen ist nur ausnahmsweise denkbar (vgl. S.211-225). 146 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 2. 147 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 226- 250. 148 Beide Formen von Blankettrechtssätzen bewertet Heinrich Triepe! als sehr effektiv, weil der landesrechtliehe Gesetzgeber mittels eines Blanketts mehr als einen Rechtssatz schaffen kann und eine Fortbildung der völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht regelmäßig eine Anpassung des betroffenen Landesrechts erfordert. Andererseits wird die Beurteilung über mögliche diskutierbare Aspekte im Bereich der einzubeziehenden Völkerrechtsregeln auf die Anwendungsorgane verlagert, wenngleich der Staat auch dadurch darauf verzichtet, Entscheidungen über die Auslegung von Völkerrecht selbst zu treffen; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 229. 149 V gl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 226-227.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Weniger vertraut ist man dagegen mit einer landesrechtlichen Verweisung auf das Völkerrecht, damit dieses die Rechtsfolge, die an einen international wichtigen Tatbestand gebunden ist, genauer ausformuliert. In der Tat nimmt die überwiegende Zahl an Verweisungen dabei Bezug auf Staatsverträge - oftmals verbunden mit der Formulierung, daß letztere "unberührt" 150 oder "vorbehalten" 151 bleiben sollen. 152 Unzweifelhaft wird klar, daß dieser Vorgang nach der Lehre Triepels nicht mit einer Rezeption von Völkerrecht in die landesrechtliehe Rechtsordnung vergleichbar ist. Für eine Rezeption müßte die Völkerrechtsquelle die genau gleiche Rechtsfolge an den Sachverhalt knüpfen, die auch durch das Landesrecht vorgeschrieben wird. 153 Gerade das ist nicht möglich, weil beide Rechtskreise - wie bereits ausführlich beschrieben - unterschiedliche Regelungsdomänen haben. Nach dieser Lehre sind die Rechtsfolgen nicht identisch. Die weitreichende Bedeutung, die Triepel in die nichtrezipierende Verweisung legt, kommt in folgendem Zitat zum Ausdruck: "In der That verweist ... das Landesrecht nicht in dem Sinne auf das Völkerrecht, dass es an den Thatbestand eine auch vom Völkerrecht geknüpfte, sondern in dem anderen, dass es die vom Völkerrecht geforderte oder gestattete Rechtsfolge an ihn anschliesst. Es spricht nicht das aus, was das Völkerrecht über denselben Thatbestand ausspricht, sondern was das Völkerrecht der Landesrechtsquelle gebietet oder erlaubt, ihrerseits darüber auszusprechen. Es reproducirt nicht Recht einer anderen Rechtsquelle, sondern producirt solches Recht, wie es einem anderen Rechte gemäss ist. Solche auf das Völkerrecht verweisende Blankettsätze des Landesrechts sind eine wichtige Art des völkerrechtsgemässen staatlichen Rechts, ... " 154
Hierbei wird bereits deutlich, daß Triepel einer direkten Einwirkung des Völkerrechts auf das Landesrecht - und umgekehrt - ablehnend gegenübersteht und er die Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendung des Völkerrechts durch die staatlichen Organe verneint. Eine nichtrezipierende Verweisung des Landesrechts auf eine völkerrechtliche Norm kann demzufolge nur kraft Transformation innerhalb der staatlichen Rechtsordnung angewendet werden. 155 Darüber hinaus wird mit diesem Zitat ganz offensichtlich nicht nur die Beziehung der Rechtsinhalte beider Rechtsordnungen ersichtlich, sondern vor allem auch das Verhältnis der Rechtsquellen zueinander angesprochen. Auch für den Bereich der nichtrezipierenden Blankette des Völkerrechts 156 sind die Verweisungen zur Materialisierung von Tatbeständen und Rechtsfolgen feststell bar. Dabei sind völkerrechtliche Blankettrechtssätze zur Ausfüllung von ergänH. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.228. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 228. 152 Weitere Beispiele Heinrich Triepels für eine Verweisung sind: Bei der Bemessung der Ausübung der Staatsgewalt oder des Kriegsgebrauchs wird Bezug auf das Völkerrecht genommen; vgl. S. 227-228. 153 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 228. 154 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 229 (Hervorhebungen im Original). 155 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 5. und 6.; siehe auch 5. Teil, 2. Kap. I. 1. 150 151
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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zungsbedürftigen Sachverhalten in der Überzahl. Ursächlich dafür ist das Regelungsgebiet des Völkerrechts. Denn die Normierung des Staatenverkehrs setzt voraus, daß Staaten einen eigenen Willen und Handlungsfahigkeit besitzen, was sie durch ihre eigene Organisation in Form von Rechtssätzen erlangen. Im Falle einer Verweisung auf das Landesrecht benötigt das Völkerrecht die staatliche Organisation. Triepel formuliert es eindeutig: " ... vielmehr ist das Völkerrecht auf soIche Unterstützung durch das Landesrecht geradezu angewiesen wegen des Charakters der Beziehungen, die es zu normieren hat. ... So oft also das Völkerrecht an eine Willensbethätigung des Staates rechtliche Folgen knüpft, bezieht es sich auf diejenigen organisatorischen Regeln des staatlichen Rechts, aus denen sich ergiebt, weIcher Wille weIcher Individuen als Staatswille, weIche Handlung weIcher Individuen und unter weIchen Voraussetzungen sie als Staatshandlung zu betrachten iSt."157
Darüber hinaus ist eine weitere Art völkerrechtlicher Blankette darauf ausgerichtet, eine Übereinstimmung von staatlichem Recht und Völkerrecht zu erreichen. Dabei knüpft die Völkerrechtsregel an die Bildung völkerrechtlicher Verpflichtungen oder Berechtigungen gewisse Bedingungen zur Ausgestaltung der landesrechtlichen Regel. Ziel ist es, die durch das staatliche Recht bestimmten Rechte und Pflichten innerhalb der Grenzen ihres zuerkannten Rechtsbereichs zu halten. Eines der zahlreichen Beispiele dafür ist die Erlaubnis der Tatigkeiten von Diplomaten im Aufenthaltsstaat nur nach Maßgabe der Gesetze ihres jeweiligen Staates. 158 Ein Nachteil der völkerrechtlichen Verweisungen auf das Landesrecht besteht in der Erfordernis der Staaten - sich im Falle der Anwendung - über das einbezogene Recht des "anderen" Staates klar zu werden. Triepel bewertet dies als ein "starkes Element der Unsicherheit" 159 für den internationalen Staatenverkehr. Darüber hinaus stellt sich immer die Frage, in welchem Ausmaß das staatliche Recht eine völkerrechtliche Verweisung ausfüllen darf. 160 Unter Einbezug all jener Erkenntnisse bezüglich der Beziehung des Inhalts der völker- und staatsrechtlichen Normen stellt Triepel fest, daß aus diesem Blickwinkel keine gegenseitige direkte Einflußnahme besteht. Im Gegensatz dazu trifft er bei der Betrachtung des Rechtsquellenverhältnisses bedeutungsvolle Feststellungen: Ganz eindeutig zu verneinen ist seiner Meinung nach ein subsidiäres Verhältnis der Quellen. Aufgrund der Gegensätze der beiden Rechtsordnungen 161 gibt es keine Situation, in der die Rechtsnormen der einen Rechtsquelle gelten, sofern die andere nichts 156 Wesentlich dabei ist, daß es im Falle der völkerrechtlichen Verweisungen auf das Landesrecht ebenfalls nicht zu einer Verwandlung von Landes- in Völkerrecht kommt; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 232-233. 157 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 231 (Hervorhebung im Original). 158 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 233-234. Auf diesen Seiten sind weitere Beispiele zu finden. 159 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 235. 160 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 236-243. 161 Dazu insbesondere 4. Teil, 1. Kap. I. 2.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
geregelt hat. 162 Auch ein Koordinationsverhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht ist nicht möglich; denn sie sind seiner Meinung nach keiner gemeinsamen Rechtsquelle unterstellt, welche die Koordinierung der beiden Rechtsordnungen regeln könnte. 163 Demgegenüber ist nach Auffassung Triepels ein hierarchisches Verhältnis - im Sinne einer Über- und Unterordnung - von Völkerrecht und Landesrecht näher zu untersuchen. Dabei nimmt er vorweg, daß es ihm indiskutabel erscheint, " ... die Quelle des Völkerrechts der des Landesrechts oder diese der des Völkerrechts als übergeordnet in dem besonderen Sinne zu betrachten, dass der Wille der einen für die Geltung der aus der anderen fliessenden Rechtssätze entscheidend sei."I64
Das Landesrecht kann nach der Lehre Triepels nicht über die Geltung des Völkerrechts entscheiden l65 , weil seine Verbindlichkeit durch den Willen lediglich eines Staates entstanden ist, während das Völkerrecht auf einem Gemeinwillen beruht, der diesen Einzelwillen einbezieht. 166 Aber auch dem Völkerrecht kann ein überragender Status in diesem Sinne nicht innewohnen 167 - dennoch ist für Triepel die folgende Schlußfolgerung naheliegend: Aufgrund seiner These, daß die Völkerrechtsquelle auf mehreren gleichgerichteten und zusammenwirkenden Staats willen beruht und die auf diese Weise erzeugten Rechtssätze für alle beteiligten Staaten verbindlich sind, während das Landesrecht durch den Willen eines einzelnen Staates gebildet wird, qualifiziert Triepel das Völkerrecht als ein Recht "höherer Ordnung" 168 im Vergleich zum Landesrecht. Diese Überordnung versteht Triepel allerdings nicht im Sinne einer "Entscheidungsbefugnis" des Völkerrechts in bezug auf die Gültigkeit oder Nichtigkeit von Rechtssätzen des Landesrechts, so, wie es bereits bei dem generellen Überblick über die möglichen Rechtsquellenverhältnisse beschrieben wurde. 169 Um eine solche Kompetenz besitzen zu können, müßte die Völkerrechtsquelle 162 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.255. Darüber hinaus kann es im Sinne Heinrich Triepels keinen Sachverhalt geben, bei dem das Völkerrecht eine "Lückenfüllungsfunktion" für fehlendes oder mangelndes staatliches Recht übernimmt, siehe S. 256. 163 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 257. 164 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.257 (Hervorhebungen im Original). 165 Das heißt genauer: Das Landesrecht kann nicht bestimmen, ob aus einer völkerrechtlichen Vereinbarung eine allgemeingültige Norm entspringen kann; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 257. 166 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.257. 167 Zur Verdeutlichung dieses Gedankens führt Heinrich Triepel aus: "Man ist versucht, ihm [dem Völkerrecht] dieses Prädikat zu ertheilen, wenn man an das Maass rechtbildender Kraft denkt, das zu seiner Entstehung nothwendig ist. Es scheint von den einfachen Formen der Rechtserzeugung eines Familienverbandes aus, über die Rechtsbildung der Gemeinde, des Einheits-, des Bundesstaates hinauf eine stark ansteigende Linie zu führen, die an der Stelle endet, wo aus dem Zusammentreffen einer ganzen Reihe einzelner Staats willen das alle überragende Völkerrecht geboren wird. Aber diese Betrachtung hat besten Falles den Werth eines Bildes und beweist für unsere Frage nicht das Geringste." H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.258-259. 168 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.258. 169 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 4.
I. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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in "unmittelbarer Beziehung zu den Subjekten"170 des Landesrechts stehen. 171 Gleichzeitig mit der Ablehnung der Idee eines auf diese Weise vorherrschenden Völkerrechts schlußfolgert Triepel, daß die Erklärung der Nichtigkeit eines völkerrechtswidrigen Landesrechtssatzes durch das Völkerrecht undenkbar ist. I72 Bezüglich der Berechtigung und Verpflichtung der Individuen hebt er besonders deutlich hervor: "Das völkerrechtswidrige Landesgesetz bindet ihn [den Einzelmenschen) ebenso wie das völkerrechtsgemässe." 173 Damit ist die Völkerrechts quelle nicht befugt, über die staatliche Fähigkeit der Rechtserzeugung zu urteilen. Dessen ungeachtet kann das Völkerrecht aber an die Staaten gerichtete Befehle - in Form von Geboten und Verboten - sowie Ermächtigungen erteilen, um die Ausführung oder Unterlassung der Setzung von staatlichem Recht zu bewirken. 174 Ausschließlich in einem solchen Verhältnis der Rechtsquellen zueinander erkennt Triepel das Völkerrecht als "höhere Rechtsordnung"175 an. 176 Daraus folgt für ihn einerseits, daß die Rechtmäßigkeit der staatlichen Rechtssätze nach Maßgabe des Völkerrechts zu beurteilen ist. Andererseits hat die Nichtbefolgung der völkerrechtlichen Befehle oder Ermächtigungen keinesfalls die Nichtigkeit der betreffenden Landesrechtssätze zur Folge. 177 Die Besonderheit eines solchen Verhältnisses der beiden Rechtsordnungen sieht Triepel darin, daß der Staat durch die völkerrechtlichen Gebote, Verbote und Ermächtigungen nicht gegenüber dem Völkerrecht, sondern gegenüber einem anderen Staate oder mehreren Staaten berechtigt oder verpflichtet werden kann. 178 Triepel bezeichnet diese so entstehenden staatlichen Zusammenhänge als "rechtlich bestimmtes Verhältnis koordinirter Rechtsquellen"179. Die völkerrechtlichen Verpflichtungen und Berechtigungen des Landesrechts, die ihm das Völkerrecht als übergeordnete Quelle in Form von Geboten und Verboten H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.259. 171 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 257 und S. 259. 172 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.259-261. 173 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.261. 174 Dazu H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 167-168 und S. 264-271; siehe auch 4. Teil, 1. Kap. 1.4.; zum Wesen der völkerrechtlichen Gebote und Verbote siehe W. Wengier, Völkerrecht, S. 80-84. 175 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 266 und auch S. 258. 176 Auch bei dieser Form der Überordnung ist für Heinrich Triepel der umgekehrte Fall, nämlich die Überlegenheit der landesrechtlichen bezüglich der völkerrechtlichen Quelle nicht möglich: "Es gibt kein landesrechtsgemässes, kein landesrechtswidriges Völkerrecht." H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.265. 177 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.266-267. 178 Im Gegensatz dazu werden im Bundesstaat die Untereinheiten direkt der übergeordneten Bundeseinheit gegenüber verpflichtet oder berechtigt, siehe H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 267. 179 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.267. 170
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
erteilt, lassen nach Ansicht Triepels verschiedene Kategorien staatlichen Rechts entstehen. Jenen Teil der staatlichen Rechtsetzung, der nicht durch das Völkerrecht veranlaßt ist, bezeichnet er als "völkerrechtlich gleichgültiges Landesrecht" 180. Ein "völkerrechtlich bedeutsamer"181 Teil der staatlichen Rechtsordnung entsteht, wenn der Staat durch das Völkerrecht zur Rechtsetzung verpflichtet oder befugt wird. Hierbei ist eine erneute Einteilung in "völkerrechtsgemässes" 182 und "völkerrechtswidriges" 183 Landesrecht möglich. Das völkerrechtsgemäße Landesrecht kann wiederum in völkerrechtlich erlaubtes und völkerrechtlich gebotenes Landesrecht getrennt werden. 184
In der Tat verpflichten sich die an der Bildung des Völkerrechts beteiligten Staaten dazu, ihre Rechtsordnung entsprechend der völkerrechtlichen Maßgaben zu gestalten. Dabei kann jeder Staat mit Hilfe der bekannten Rechtsdurchsetzungsmittel zur Pflichterfüllung angehalten werden. 185 Jeder Landesgesetzgeber ist also offensichtlich an das Völkerrecht rechtlich gebunden. Es gilt ganz allgemein der Grundsatz, daß der Staat seine Rechtsordnung so ausgestalten soll, damit sie seinen völkerrechtlichen Pflichten genügt und er keiner völkerrechtlichen Zuwiderhandlung beschuldigt werden kann. 186 Für Triepel zeigt sich aus alldem "die ganze unmittelbare Wirkung des Völkerrechts im Rechtsleben der Menschheit" 187. Als Bindeglied tritt jedoch stets die staatliche Rechtsordnung in den Vordergrund: "Das Völkerrecht bedarf des staatlichen Rechts, um seine Aufgabe zu erfüllen. Ohne dies ist es in vieler Hinsicht ohnmächtig. Der Landesgesetzgeber erweckt es aus seiner Ohnmacht. Ein Netz, über den Staaten schwebend, will es durch starke Stützen in den Staaten gefestigt sein. Es ist einem Feldherren vergleichbar, der seine Befehle nur an die Truppenführer richten und seinen Zweck nur erreichen kann, wenn er sicher ist, dass die Generäle, den Weisungen entsprechend, neue Befehle erlassen. Lassen ihn die Generäle im Stich, verliert er die Schlacht. Und wie der eine Befehl des FeJdherrn oft viele Dutzende von weiteren Befehlen der Unterführer veranlasst, so werden wir sehen, dass sich zuweilen an einen einzigen Satz des Völkerrechts ein weitverzweigtes Geäst landesrechtlicher Normen anschliesst, die sich alle in dem einen Punkte finden, dass sie das Völkerrecht im innerstaatlichen Leben ,verwirklichen' ." 188
Damit erscheint die Existenz des Völkerrechts ohne die Leistung und Unterstützung der staatlichen Rechtsordnung nicht möglich. Gerade diese Aussagen Triepels lassen einige Völkerrechts wissenschaftler zu dem Schluß kommen, daß die Lehre H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 272. H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 272. 182 H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 272. 183 H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S.272. 184 Die ausführliche Darstellung dieser Rechtsrnassen findet sich bei H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 272-437; siehe dazu auch 4. Teil, I. Kap. I. 4. 185 Zu den Rechtsdurchsetzungsmethoden des Völkerrechts siehe 3. Teil, 3. Kap. I. 186 Vgl. H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 295-323. 187 H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 271. 188 H. Triepe!, Völkerrecht und Landesrecht, S. 271. 180 181
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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über die strikte Trennung von Völkerrecht und Landesrecht sowohl theoretisch als auch praktisch undenkbar ist. Andere sind der Meinung, daß Triepel den konsequenten Gegensatz der beiden Rechtsordnungen bereits dadurch entschärft, indem er eine Überordnung des Völkerrechts in Relation zum Landesrecht einräumt. 189 Gleichzeitig bewerten die Vertreter der monistischen Lehren die Erkenntnisse über das enge Verhältnis der beiden Rechtsquellen als einen ersten Ansatz des im weiteren Verlauf der Geschichte aufkommenden Monismus, der den Primat des Völkerrechts postuliert. 190 Aber nach der Lehre Triepels müssen sowohl die Verknüpfungen der Rechtsquellen als auch die Verweisungen zwischen den beiden Rechtsordnungen jederzeit vor dem Hintergrund getrennter Rechtsordnungen wahrgenommen werden. 191 Eine direkte Einwirkung der Rechtssätze des Völkerrechts auf die Landesrechtsordnung, in der Art und Weise, daß die Individuen durch die völkerrechtlichen Rechtssätze berechtigt oder verpflichtet werden, widerspricht also seiner Doktrin. In dieser Hinsicht ist ein auffallend frappanter und grundlegender Gegensatz zu den Lehren vom Monismus festzustellen. Mit seiner umfassend begründeten Konstruktion fundiert Triepel das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht im Sinne eines strengen Dualismus der beiden Rechtsordnungen. Das dualistische Verhältnis ist seiner Ansicht nach die zwangsläufige Folge aufgrund der methodisch zwingenden Trennung beider Kreise. 192 Eine Konkurrenz der Rechtsquellen ist für Triepel auszuschließen, Vgl. E. MenzeIlK./psen, Völkerrecht, S. 50. Dazu H. Miehsler, Alfred Verdross' Theorie des gemäßigten Monismus und das Bundesverfassungsgesetz vom 4. März 1964, BGBI. Nr.59, in: Juristische Blätter, Band 87, 1965, S. 566-573, hier S. 568; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 56-57; siehe auch 4. Teil, 3. Kap. 191 Die gleiche Ansicht vertritt Ulrich Scheuner: "Quand nous parions de l'influence du droit national sur le droit international, nous pensons que ses deux ordres juridiques forment deux systemes de droit distincts et independants." U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S. 108. 192 Als "streng dogmatischer Dualismus" oder "streng dualistische Konstruktion" wird die Triepelsche Lehre u. a. von K./psen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1075 und E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 50 eingeordnet. Gustav Walz akzeptiert zwar die Bezeichnung "dualistisch" für die Lehre Heinrich Triepels, weil er ganz offensichtlich die Beziehung der eigenstaatlichen Rechtsordnung zur Völkerrechtsordnung als Ausgang seiner Betrachtung ansieht. Allerdings führen seiner Meinung nach die Ergebnisse der Triepelschen Untersuchungen zu einer pluralistischen Rechtsordnungsgliederung; dazu 4. Teil, 1. Kap. 11.2. a). Walz formuliert seine Kritik prägnant: "In erster Linie erscheint die von Triepel ursprünglich gebrauchte und auch später ausdrücklich aufrechterhaltene These einer dualistischen Theorie zum mindesten sprachlich inkorrekt." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 19. Die Lehre Triepels bezeichnet er deshalb als pluralistische Lehre oder als ",dualistische' Konstruktion in der klassischen Fassung" (S. VII). Walter Rudolf nennt die Triepelsche Lehre einen "konsequenten Dualismus" und beurteilt sie im Grunde auch als pluralistische Rechtsauffassung, weil Triepel die Vielzahl der staatlichen Rechtsordnungen anerkennt; siehe W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, S.129, insbesondere Fußnote 7, S.139 und S.140; siehe auch W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 56, Fußnote 2. Diese Autoren verwenden eine genaue Klassifizierung, um die Lehre Triepels von anderen dualistischen Lehren abzugrenzen oder um die ihrer Meinung nach zutreffendere Bezeichnung zu formulieren. In anderen Werken, in denen diese 189
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
weil staatliches Recht und Völkerrecht hinsichtlich der normierten Verhältnisse unvergleichbar sind. In diesem Sinne können beide seiner Meinung nach niemals den gleichen Sachverhalt regeln wollen. 193 5. Die Geltung des Völkerrechts in der staatlichen Rechtsordnung
In der Tat läßt sich unter Berücksichtigung der Gesamtheit dieser Argumentationen feststellen, daß Triepel eine logisch streng aufgebaute Begründung und Herleitung einer Trennung der Rechtsordnungen erarbeitet, die aber letztendlich ein begrenztes Abhängigkeitsverhältnis der Kreise nicht völlig auszuschließen vermag. Ohne jegliche Beziehung und Berührungspunkte stehen sich die verschiedenen Rechtsordnungen also keinesfalls gegenüber. Die bereits anfänglich von Triepel aufgestellte These über den Gegensatz der Rechtsordnungen, die sich als separate Gebiete "höchstens berühren, niemals schneiden"194 wurde durch seine - im vorstehenden Abschnitt aufgezeigte - Konzeption über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht untermauert. Gleichwohl gelingt es Triepel, im Rahmen dieser Konzeption der Rechtsordnungen die jeweils erforderliche eigenständige Rechtserzeugung zur Schaffung verbindlicher Rechtssätze für ihr spezielles Gebiet und ihre eigenen Adressaten herauszustellen: "Niemals vermag die Völkerrechtsbildung die Landesrechtsbildung zu ersetzen; die Landesrechtsquelle muss von sich aus thätig werden, um das durch die Völkerrechtsquelle geschaffene Recht irgendwie zu dem ihrigen zu machen. So wenig jene einen Satz zu Völkerrecht, so wenig vermag diese einen Satz zum Bestandtheile eines Landesrechts werden zu lassen.... Niemals also ist ein Staatsvertrag an sich Mittel der Entstehung von Landesrecht. Er kann und wird sehr häufig die Veranlassung hierzu bilden; immer aber beruht die Rechtsbildung i m Staate auf einer besonderen, von seiner Antheilnahme an der internationalen Rechtsentwicklung geschiedenen Willensaktion des Staates."195
Aus Triepels Erkenntnissen gehen wesentliche Resultate hervor: Der Staat, der aufgrund einer völkerrechtlichen Vereinbarung verpflichtet oder berechtigt wurde Problematik nur kurz oder ungenau dargestellt wird, findet keine exakte begriffliche und inhaltliche Abgrenzung statt, so daß z. B. die Lehren Triepels und Dionisio Anzilottis gleichermaßen als dualistisch eingeordnet werden. Aus der Fülle an Literatur seien dazu exemplarisch nur einige genannt: I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 140; G. Dahm, Völkerrecht, S. 54; A. Bleckmann, Europarecht, S. 289. 193 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 254. Der dualistischen Sichtweise Heinrich Triepels stimmt Heinrich Drost grundSätzlich zu; allerdings weicht er in einigen wesentlichen Punkten - was z. B. die Vereinbarungsiehre, die Möglichkeit von echten Normenkonflikten und der Ausschluß der Individuen als Völkerrechtssubjekte betrifft - vom strengen Dualismus ab; vgl. H. Drost, Grundlagen des Völkerrechts, S. 124-129. 194 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 111; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. I. 3. 195 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 112 und S. 119 (Hervorhebungen im Original), vgl. S. 122.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
109
und dies an seine Staatsbürger - zur Erfüllung seiner Abmachungen - beispielsweise in Fonn eines Gesetzes weitergibt, wandelt dabei geltendes Völkerrecht in staatliches Recht um. 196 Nicht das Völkerrecht, sondern die staatliche Nonn ist für den Staatsbürger verbindlich. Dabei kann weder die Völkerrechtsquelle aus eigener Kraft eine staatliche Rechtsnonn bilden noch ist die innerstaatliche Rechtsquelle zur alleinigen Erzeugung eines internationalen Rechtssatzes befähigt. Zugleich wird die Annahme, daß erst das Landesrecht die Fähigkeit besitzt, Rechtssätze - in Fonn von staatlichen Nonnen - zu erzeugen und auf diese Weise aus völkerrechtlichen Vorschriften ohne Rechtscharakter die Bildung von Recht in die Tat umzusetzen, als unrichtig zurückgewiesen. 197 Damit ist inhärent die Bekräftigung Triepels verbunden, daß ein völkerrechtlicher Vertragsabschluß Rechtswirkungen auslösen kann, die allerdings nur für den zwischenstaatlichen Rechtsraum gelten. Die "Umwandlung" der völkerrechtlichen Nonnen des Staatenverkehrs in Regeln des innerstaatlichen Rechts erfolgt durch einen staatlichen Befehl und bewirkt gleichzeitig die Änderung des Geltungsgrundes und Inhalts sowie der Adressaten. 198 Diesen Zusammenhang bezeichnet Triepel als Transfonnation. 199 Dabei verdeutlicht Triepel klar, daß die durch den staatlichen Anwendungsbefehl erzielte Abänderung des Geltungsbereichs auf neue Adressaten als das wesentliche Ergebnis der Transfonnation gewertet werden muß. Die Notwendigkeit einer Transfonnation basiert also vollkommen auf der Überzeugung, daß eine Völkerrechtsregel niemals an Individuen, sondern ausschließlich an Staaten gerichtet ist: "La loi etatique est toute-puissante. Mais comme le droit international regit des rapports entre des Etats et que le droit interne regit d'autres rapports, la loi etatique ne peut pas sans transformation changer le droit international en droit interne. "zoo
Mit Hilfe dieser Konstruktion gelingt es der staatlichen Rechtsordnung, die verbindlichen Rechtssätze des Völkerrechts in sich aufzunehmen. Gleichzeitig wird 196 Den Ausdruck "verwandeln" bewertet Heinrich Triepet - zurecht - als "ungenau"; H. Triepet, Völkerrecht und Landesrecht, S. 75. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts wird auf diesen Aspekt noch näher eingegangen. 197 Vgl. H. Triepet, Völkerrecht und Landesrecht, S.75. 198 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 2. 199 Die Ausarbeitung der Lehre von der Transformation bezog Heinrich Triepet auch auf die Arbeiten von Rudolf Gneist und Paut Laband, die sich beide mit der Unterschiedlichkeit von staatlicher und völkerrechtlicher Rechtsgeltung beschäftigten; vgl. G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 15-16. zoo H. Triepet, Les rapports entre le droit interne et le droit international, S.91 (Hervorhebung durch den Verfasser). Ausführlich beschreibt auch Utrich Scheuner die Notwendigkeit und das Wesen der Transformation: "Comme le droit international et le droit interne forment deux ordres juridiques nettement distincts, les regles du droit national ne trouvent pas d'application dans le domaine des relations exterieures, et inversement les prescriptions du droit des gens ne peuvent pas etre appliquees immediatement al'interieur de l'Etat. 11 faut que les organes competents de I'Etat transforment le droit international en droit interne, afin que ses stipulations re~oivent aussi validite pour les individus!" U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S. 124. Zur Völkerrechtsauffassung Scheuners siehe 4. Teil, 1. Kap. II.3.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
durch eine solche Übernahme die Völkerrechtsnonn in nationales Recht transformiert. Im innerstaatlichen Rechtssystem besitzt der transfonnierte Rechtssatz keine Geltungskraft aufgrund seiner völkerrechtlichen Verbindlichkeit; vielmehr bildet der staatliche Rechtssatz, der die Übernahme anordnet und damit die Transfonnation vollzieht, den Geltungsgrund des Völkerrechtssatzes im nationalen Rechtsbereich. 201 Als Konsequenz ergibt sich daraus, daß die Triepelsche Transfonnationslehre eine Verknüpfung zwischen der Geltung der Völkerrechtsnonn und der Verbindlichkeit der staatlichen Nonn verneint. 202 Unter Einbezug der genannten Gesichtspunkte ist der Vorgang der Transfonnation - wie ihn Triepel entwickelt - somit nicht nur im Sinne einer reinen "Übernahme einer Völkerrechtsnonn" oder als ein "Akt der Verschiebung"203 zu werten, vielmehr stellt er eine Umbildung in Fonn einer Wiedergabe in einer gänzlich anderen Gestalt dar. 204 Ausgehend von einem streng dualistischen Rechtssystem begründet die Transfonnationslehre demnach die innerstaatliche Geltung der Völkerrechtsnormen ausschließlich aufgrund ihrer "Umgießung"205 in die staatliche Rechtsordnung, "durch die ihr Geltungsgrund abgeändert, ihr Geltungsbereich auf neue Adressaten erstreckt und ihr Inhalt auch durch die Einfügung in ein anderes Rechtssystem verändert werden."206 201 DazuH. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.118 und S.416; H. Triepel, Les rapports entre le droit interne et le droit international, S.84; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 264-265 und S. 285; K 1. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 156; H. Drost, Grundlagen des Völkerrechts, S.112-116; G. Leibholz, Der Abschluß und die Transformation von Staatsverträgen in Italien, insbesondere S. 353 und S. 365; W Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 158-164; KIpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1078-1080. Eine deutliche Aussage zum Wesen und zur Bedeutung des Transformationsaktes macht Alexander Hold-Ferneck: "Dabei handelt es sich aber nicht um eine Umwandlung von völkerrechtlichen in landesrechtliche Vorschriften, worunter man sich auch nichts Klares vorstellen könnte, sondern darum, daß auf Grundlage völkerrechtlicher Vorschriften staatliche Normen erlassen werden." A. Hold-Ferneck, Lehrbuch des Völkerrechts, Erster Teil, 1930, S. 117; vgl. G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 16. Zum Wesen der Transformation siehe 5. Teil, 2. Kap. I. 1. 202 Vgl. G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S.16; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 285. 203 O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 264; Ouo Kimminich umschreibt das Verfahren der Transformation als "echte Verwandlung"; vgl. S. 264. 204 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 75 und S. 420; G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 16; Gerhard Boehmer beurteilt den Begriff der Transformation als "mißverständlich", weil er nicht deutlich ausdrücken könne, daß der völkerrechtliche Vertrag nicht als solcher im nationalen Rechtsbereich verbindlich wird; vgl. G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 16. Auch Adolf Schüle bezeichnet den Begriff als "unrichtig"; vgl. A. Schüle, Die Umwandlung völkerrechtlicher Verträge des Deutschen Reichs in deutsches Landesrecht, in: Zeitschrift für ausländisches öffent1iches Recht und Völkerrecht, hrsg. von Viktor Bruns/Ernst Schmitz, Band VI, Nr. 2, 1936, S. 269-285, hier S. 269. 205 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.545 und Kl. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 156. 206 K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 156.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Festzustellen ist, daß eine solche strenge Transfonnationslehre die Beziehungen zwischen der Völkerrechtsordnung und dem staatlichen Rechtssystem durchbricht und auch das transfonnierte Recht, welches durch den Transfonnationsakt staatliches Recht geworden ist, seine ursprünglich völkerrechtliche Herkunft nun ignoriert. Ein Zusammenhang zwischen der transfonnierten und der ursprünglichen Nonn ist nicht mehr zu erkennen. Erkennbar ist, daß diese von Triepel begründete und in der Folgezeit von der Völkerrechts literatur weiterentwickelte Transfonnationslehre als methodische Konsequenz seiner dualistischen Konzeption des Rechtsuniversums zu deuten ist. 207 6. Der strenge Dualismus
Wesentliche Voraussetzung zur Einschätzung der Bedeutung der Transfonnationslehre ist das Bewußtsein, daß Völkerrecht und staatliches Recht voneinander getrennte Rechtssysteme sind. Zum Ausdruck kommt eine solche konsequente Trennung in Fonn einer streng dualistischen Konstruktion dieser Rechtsordnungen. 208 Eine Konkurrenz der Rechtsquellen schließt Triepel aus; denn seiner Lehre nach sind Völkerrecht und Landesrecht hinsichtlich ihrer zu regelnden Verhältnisse und Tatbestände sowie in bezug auf ihre Rechtsquellen verschieden. 209 Somit ist eine aufkeimende Konfliktkonstellation zwischen Rechtssätzen beider Rechtsgebiete nach Auffassung Triepels "unmöglich"2lO. 207 Bei abschließender Betrachtung der Transformationslehre wird verständlich, daß nur das Wesen der Transformation in Einklang mit der dargestellten Lehre Heinrich Triepels steht. Auch das Bundesverfassungsgericht folgte lange Zeit der dualistischen Rechtsauffassung und der daraus folgenden Transformationslehre; vgl. BVerfGE I, 396 (410 f.) und BVerfGE 30, 272 (284 ff.); dazu auch H. M osler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, Vortrag in Karlsruhe am 08.03.1957, in: Juristische Studiengesellschaft Karisruhe - Schriftenreihe, Heft 32/33, 1957, insbesondere S. 15; A. Bleckmann, Das Verhältnis des Völkerrechts zum Landesrecht im Lichte der "Bedingungstheorie", in: Archiv des Völkerrechts, hrsg. von HansJürgen Schlochauer, Band 18, Heft 3, 1979, S.257-283, insbesondere S. 271; O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Archiv des öffentlichen Rechts, hrsg. von Peter Badura/Konrad Hesse/peter Lerche, Band 93, Heft 4, 1968, S.485-537, hier S.499; G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 150-164 und S. 177-275; H. Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert: Unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Straftatbestände und der Bemühungen um einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof, S. 16. In der neueren Lehre werden die Bestimmungen der Art. 25 und 59 Abs. 2 GG im Sinne der von Kar! lose! Partsch entwickelten Vollzugslehre überwiegend als Rechtsanwendungsbefehl ausgelegt; auch das Bundesverfassungsgericht folgt mittlerweile dieser Auffassung; dazu auch 5. Teil. 208 Rechtsauffassungen, die monistische Ansätze beinhalten steht Heinrich Triepel ablehnend gegenüber; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 131-134. Nach Ansicht von Eberhard Menzel und Knut /psen entschärft Triepel seine streng dualistische Rechtsauffassung, weil er ein Überordnungsverhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht einräumen würde; vgl. E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 50. 209 V gl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 23 und S. 254. 210 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 254.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Wichtige Schlußfolgerung dieser Thesen ist die Tatsache, daß die Bürger eines Staates nicht durch völkerrechtliche Normen berechtigt oder verpflichtet werden können. Im Sinne der Triepelschen Rechtslehre kann nur eine Regel des Landesrechts - in der Form einer transformierten oder als sonstige innerstaatliche Rechtsnorm - für die Individuen Verbindlichkeit entfalten: "So können, was das Wichtigste ist, ihre Pflichten gegen ihren Staat oder ihre Mitbürger nie-
mals in Widerstreit gerathen mit völkerrechtlichen Pflichten; denn solche haben sie nicht."211
Rechtlich unvermeidlich ist der Staat jedoch verpflichtet, seine Rechtsordnung in Übereinstimmung mit den geltenden völkerrechtlichen Geboten zu gestalten. Das Völkerrecht selbst enthält keine Vorschriften, die sein Verhältnis zum innerstaatlichen Recht regeln. Es entscheidet demnach nicht, wie die Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen durch die Staaten erfolgen soll, sondern fordert von den rechtsetzenden Partnern nur, daß sie ihren Pflichten aus Vertrags- oder Gewohnheitsrecht nachkommen. 212 Erfüllt der Staat das unmittelbar gebotene Völkerrecht - mittels Erzeugung entsprechender staatlicher Normen - nicht, so resultiert daraus eine völkerrechtliche Rechtsverletzung. Die gleiche Beurteilung trifft demnach jeden durch die staatliche Rechtsquelle geschaffenen Rechtssatz, der gegen geltendes Völkerrecht verstößt. Bedingt durch die dualistische Sichtweise wird eine solche völkerrechtswidrige Norm deshalb jedoch nicht ungültig. 213 Darüber hinaus gibt das Völkerrecht keine verbindliche Richtschnur, wie die Staaten die transformierten Rechtsnormen des Völkerrechts im Verhältnis zum übrigen nationalen Recht einstufen sollen. Auch die Transformationslehre Triepels teilt als solche nicht mit, in welche Rangstufe der Landesrechtsordnung die übernommene Norm eingefügt wird. Aus dem strengen Dualismus heraus ist zu schließen, daß es sich hierbei um eine rein staatliche Rechtsfrage handelt. Dementsprechend entscheidet der Staat über Vorschriften zur Einordnung des transformierten Rechts. Sowohl der Entwicklungsgang der jungen Verfassungsstaaten und die detaillierte Bearbeitung ihrer nationalen Rechtssysteme als auch die wissenschaftlichen Diskussionen über die Triepelsche Transformationslehre im Verlauf des 20. Jahrhunderts förderten die kritische Beleuchtung der Einbeziehung der völkerrechtlichen Normen in den staatlichen Rechtsbereich. 214 Das Fehlen von Konkurrenz- und Konfliktmöglichkeiten zwischen den beiden Rechtsordnungen wirkt sich zudem auf die staatliche Rechtsprechung aus. Triepel H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 254. 212 Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 265; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 539-540. 213 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.260 und S.299. "Der Staat haftet für Handlungen, die er zu verhindern, und für die Unterlassung von Handlungen, die er zu erzwingen völkerrechtlich verpflichtet ist." (S. 338). 214 Mit der Weiterentwicklung der Transforrnationsthese und den grundlegenden Aspekten des Einbezugs der Völkerrechtsnorrnen in den innerstaatlichen Rechtsbereich beschäftigen sich die folgenden Kapitel. 211
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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schlußfolgert, daß es aufgrund der strikten Trennung der Rechtsordnungen nicht zu Unklarheiten bei der Normenanwendung kommen kann: "Aber insbesondere dem Landesrichter bleibt die Qual der Wahl erspart, ob er im einzelnen Falle Völker- oder Landesrecht auf den seiner Beurtheilung unterliegenden Streit anzuwenden habe .... von Zweifeln, ob ein und derselbe Thatbestand diesem oder jenem Rechte zu unterstellen sei, wird der Richter niemals behelligt werden."215
Überdies ist damit aber auch die Frage verbunden, ob eine Völkerrechtsnorm dennoch Tauglichkeit zur innerstaatlichen Anwendung besitzen kann. Nach Triepels Ansicht ist eine solche Konstellation zweifellos möglich. Aufgrund ihrer Regelung andersartiger Rechtsbeziehungen kann eine völkerrechtliche Norm zwar in keinem Fall die primäre und alleinige Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung eines nationalen Streitfalles sein. Sehr wohl aber kann eine Norm oder ein Vertrag des Völkerrechts in ein staatliches Gerichtsverfahren einbezogen werden - seine Anwendung wird sogar notwendig, sofern eine landesrechtliche Verweisung auf das Völkerrecht oder Völkergewohnheitsrecht für die Sachlage relevant ist. 216 Dabei ist die Lehre Triepels so zu verstehen, daß das nationale Gericht die Regelung des Völkerrechts nicht kraft der nichtrezipierenden Verweisung durch das staatliche Recht anwenden kann, sondern nur nachdem diese transformiert wurde. Zu einer Anwendung von Völkerrecht in seinem ursprünglichen Sinn kommt es also nicht. 217 Wenn es darum geht, inwieweit ein nationales Gericht die Befugnis hat, in einer Rechtssache geltendes Völkerrecht - also "nichtstaatliches Recht"218 - anwenden zu können, so verweist Triepel auf die Staatenpraxis. Eine juristische Anwendungsund Auslegungskompetenz für die Völkerrechtsnormen ist demnach generell vorhanden. 219 Für das französische Rechtssystem ist allerdings festzustellen, daß es dem Landesgericht nicht erlaubt ist, Normen des Völkerrechts eigenständig auszulegen. 22o Dazu drängt sich eine weitere grundlegende Frage auf: Gibt es eine richterliche Verpflichtung zur Kenntnis der Völkerrechtsnormen? Triepels Aussagen dazu sind eindeutig: "Der Richter braucht zu kennen nur das in seinem Staate ... geltende Recht; davon ausgenommen ist aber überall wieder das Gewohnheitsrecht. Worunter ist das Völkerrecht zu stellen? Zunächst gilt Völkerrecht gewiss nicht ,in' diesem oder jenem Staate, wenigstens nicht H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 254-255. Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.439. 217 Siehe dazu die Aussagen der Lehre Dionisio Anzilottis, 4. Teil, 1. Kap. 11.1. 218 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 440. 219 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.440-442. 220 Das französische Rechtssystem basiert auf der Grundlage der Gewaltenteilung, so daß das Zuständigkeitsgebiet der staatlichen Jurisdiktion genau umgrenzt ist: "Daher ist das Gericht zwar berechtigt, ja verpflichtet, den Vertrag anzuwenden (appliquer); aber es würde als widerrechtliche Einmischung in den Kompetenzkreis der Exekutive erscheinen, wenn das Gericht den Versuch machte, über die Gültigkeit oder Angemessenheit des Vertrags zu erkennen oder ihn - und das ist das Seltsame - selbständig auszulegen (annuler, apprecier ou interpreter)." H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.440. 215
216
8 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
in dem Sinne wie Gesetzesrecht. Aber es entspricht ohne Zweifel der ratio legis, wenn man unter dem ,in' einem Staate auch dasfür ihn geltende Recht versteht. Daher braucht das Gericht das Völkerrecht nicht zu kennen, das bloss für andere Staaten gilt, ... Dagegen muss dem Gericht bekannt sein alles Vertragsrecht, das für den Staat gilt, dessen ,innerstaatliches' Recht er kennen muss; ... "221
Ulrich Scheuner bekräftigt diese Lehre Triepels und hebt gleichzeitig die getrennte Anwendung von nationalem Recht und den Völkerrechtsregeln hervor. Er beurteilt das staatliche Recht als die alleinige Entscheidungsgrundlage für den nationalen Richter, dessen Aufgabe es ist, Frieden und Gerechtigkeit im Staatsinneren zu garantieren. 222 Sofern der Landesrichter die Völkerrechtsnormen anstelle des staatlichen Rechts anwenden würde oder sich anmaßen sollte, völkerrechtswidrige Normen des staatlichen Rechts als nichtig anzusehen, hätte er seinen Aufgabenbereich klar überschritten. Für den Fall, daß ein Staat das Völkerrecht nicht beachtet, muß nicht die staatliche Justiz einschreiten, sondern jene politischen Organe, die den Staat nach außen vertreten, sind gefordert, das Problem zu lösen. 223 Die tatsächliche Anwendung von völkerrechtswidrigem staatlichem Recht wertet Scheuner zwar als Ausdruck von Unvollkommenheit des Völkerrechts; wobei er diesen Mangel allerdings auf die Besonderheit der Konzeption der Völkerrechtsgemeinschaft zurückführt. 224
Eine zusammenfassende Würdigung der streng dualistischen Konstruktion Triepels formuliert Boris Mirkine-Guetzevitch: "Oren 1899, et nous insistons surce point, le livre de M. Triepel etait un ouvrage progressif, ,avance'; c'etait un pas en avant dans l'evolution de la theorie du droit international."225
Auch aus diesem Grund wurde in der Folgezeit die streng-dualistische Lehre vom Verhältnis der Rechtsordnungen in der Völkerrechtswissenschaft bestärkt. Die Anerkennung und Bekräftigung der von Triepel begründeten Rechtsauffassung läßt sich anhand eines Zitats von Alexander Hold-Ferneck veranschaulichen. Für ihn besteht kein Zweifel, 221 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.444-445 (Hervorhebungen im Original). In bezug auf das Völkergewohnheitsrecht kommt Heinrich Triepel zu einem anderen Ergebnis: "Aber es besteht die Kenntnispflicht nicht für das, Völkergewohnheitsrecht' . Denn wenn das im Staate geltende Gewohnheitsrecht eventuell des Beweises bedarf, so wird es nicht anders stehen mit dem für den Staat verbindlichen. So muss also selbst das sogenannte ,allgemeine' Völkerrecht, also etwa allgemeines Kriegsrecht dem Gerichte auf Verlangen bewiesen werden, soweit nicht der Richter in Betrachtung der Pflichten seiner amtlichen Stellung die eigene Nachforschung übernimmt." (S. 445). 222 "Pour le juge national,le seul fondement de son autorite est la loi etatique." u. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S. 111. 223 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S. 111; siehe auch 4. Teil, 1. Kap. 11. 3. 224 Dazu 3. Teil, 1. und 2. Kap. 225 Boris Mirkine-Guetzevitch wertet Heinrich Triepels Werk als "fortschrittlich" für die damalige Zeit, welches die Völkerrechts lehre "einen Schritt nach vorne" brachte; B. MirkineGuetzevitch, Droit international et droit constitutionneI, S. 313.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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"daß sich das Völkerrecht nach seiner Struktur wie nach seinem Inhalt von jeder staatlichen Rechtsordnung wesentlich unterscheidet. Es ist ein Ungedanke, Völkerrecht und Landesrecht ,monistisch' in einem ,einheitlichen System' vereinigen zu wollen, die Landesrechte der verschiedenen Staaten als ,Teilrechtskreise' dem ,universalen Rechtskreis des Völkerrechts' so eingliedern zu wollen, wie etwa ein Gemeindestatut der staatlichen Rechtsordnung eingegliedert ist. Wer die historisch-soziologischen Gegebenheiten, die im Leben der Staaten zutage treten, sorgfaltig untersucht und sich damit der mit keiner anderen Entscheidung des Lebens vergleichbaren Eigenart des Völkerrechts versichert, kann lediglich zu einer dualistischen Konstruktion gelangen. Völkerrecht und Landesrecht haben denn auch verschiedene Grundlagen .... " 226
Die inhaltliche und fonnelle Trennung der Domänen des Landesrechts und des Völkerrechts ist also zweifellos das Fundament der streng dualistischen Gesamtauffassung. In diesem Zusammenhang erweckt die für die Lehre Triepels so signifikant gewordene Fonnulierung bezüglich Völkerrecht und Landesrecht Aufmerksamkeit: "Sie sind zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden"227
Es gibt also wenigstens einen gemeinsamen Punkt dieser heiden Rechtskreise, der eine gemeinsame rechtliche Beständigkeit sichern kann. Jene These wird nicht nur durch die Lehre von der Transfonnation der Rechtsordnungen, sondern auch durch die Lehre vom völkerrechtlich bedeutsamen Landesrecht untennauert, das dementsprechend nur durch die staatliche Rechtshandlung geschaffen werden könne. Dieser rechtliche Zusammenhang wird aber aufgrund der Überordnung des Völkerrechts ennöglicht, und so besteht zumindest eine mittelbare Verbindung zwischen den beiden Rechtsordnungen, die durch einen solchen Berührungspunkt verwirklicht wird. 228
A. Hold-Ferneck, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 110 (Hervorhebung im Original). H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 111; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. I. 3. 228 Nach Ansicht von Gustav Walz nimmt Heinrich Triepel trotz der konsequenten Trennung der Rechtsordnungen auch rechtliche Verbindungen an. Für Walz ist aufgrund des besonderen Verhältnisses der Rechtsquellen zueinander "der objektiv -rechtliche Zusammenhang zwischen Völkerrecht und Landesrecht nicht zu verkennen, wenn jenes diesem rechtlich verpflichtende Gebote und Verbote erteilen kann. Soweit das Landesrecht diesen verpflichtenden Völkerrechtsnormen entspricht, positiviert es ... die Landesrechtsnormen in rechtlich kontinuierlichem Zusammenhang mit den übergeordneten Völkerrechtsnormen." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 21. Nach Ansicht von Walz stellt demnach die Triepelsche Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht die dritte der verschiedenen Variationen der pluralistischen Rechtsordnungsgliederung dar; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. 11.2. 226 227
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
11. Die Weiterentwicklung des strengen Dualismus 1. Die Lehre Dionisio Anzilottis a) Historische Rahmenbedingungen Die Kernaussagen Dionisio Anzilottis waren es, die erstmals nach der Begründung der dualistischen Konstruktion von Völkerrecht und staatlichem Recht darauf ausgerichtet waren, die beiden Rechtsordnungen einander wieder anzunähern. Die Thesen Anzilottis haben fraglos den strengen Dualismus Heinrich Triepels zur Grundlage; seine darüber hinausgehenden und weiterführenden Gedanken zum Verhältnis der beiden Rechtsordnungen sollen an dieser Stelle in komprimierter Form diskutiert werden. Politische und wirtschaftliche Umwälzungen prägten die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Die Entwicklungen nahmen Einfluß auf die Biographie Anzilottis, der nicht nur an Italiens Universitäten lehrte, sondern auch maßgeblich an den Leistungen des Ständigen Internationalen Gerichtshofs beteiligt war. 229 In diesem Zeitabschnitt befaßte sich der italienische Jurist und Völkerrechts gelehrte Anzilotti mit dem Vorhaben, ein "Lehrbuch des Völkerrechts" 230 zu erarbeiten und zu publizieren. Trotz pazifistischer Bemühungen, die sich auch in den beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 ausdrückten, konnte die im Jahr 1914 angefachte Weltkrise nicht mehr gestoppt werden. Selbst die bereits bestehenden zwischenstaatlichen Wirtschaftsbeziehungen hatten keinen ausgleichenden Einfluß, sondern bewirkten in dieser Situation das Gegenteil: Amerikas Eintritt in den Krieg im April 1917 resultierte aus den immer engeren internationalen ökonomischen und gesellschaftlich-sozialen Verbindungen. In diesem Zusammenhang ist auch der schon im Jahr 1918 von Präsident Wilson konzipierte Völkerbund zu sehen, der als Eckpfeiler seiner angestrebten Friedensordnung gilt. 231 Sein großes Ziel war die Bildung einer weltumgreifenden Organisation, welche auf der Grundlage des Selbstbestimmungs229 Dionisio Anzilotti (1867-1950). Eckpunkte seines Werdegangs waren insbesondere die Tätigkeiten als Professor für Völkerrecht in Palermo und Bologna (1902-1906) sowie in Rom (1911-1937). Er war Mitbegründer und Herausgeber der bedeutsamen Zeitschrift "Rivista di diritto internazionale". Maßgebend beteiligt war Anzilotti auch an der Ausarbeitung der Satzung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs von Den Haag. Ab 1921 war er an diesem Gericht als Richter tätig und von 1928 bis 1930 stand er ihm als Präsident vor. 230 Im Original heißt das Werk "Corso di diritto internazionale" (3. Aufl., 1928). Die deutsche Übersetzung lautet: "Lehrbuch des Völkerrechts"; die Monographie umfaßt drei Bände und war anfänglich als Wegweiser für Studenten an der römischen Universität entworfen. 231 In der Tat fügte Woodrow Wilson den Völkerbund in sein "Friedensprogramm der Vierzehn Punkte" ein, das zur Grundlage des Versailler Friedensvertrages (1919) wurde; vgl. E. Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 8. Aufl., 1987, S. 35-55; siehe auch bei A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 66-68; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 84-9l.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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rechts nicht nur die Zusammenarbeit der Staaten, sondern auch die Sicherung des Friedens erreichen sollte. 232 b) Die Geltungskraft des Völkerrechts Bei zahlreichen Aspekten bezüglich des Verhältnisses von staatlichem Recht und Völkerrecht vertritt Anzilotti annähernd die gleiche Auffassung wie Triepel. Dessen ungeachtet sind für wesentliche Fragestellungen auch Gegensätzlichkeiten festzustellen. Was die Gestaltung der Staatengemeinschaft anbelangt, so ist Anzilotti auch der Meinung, daß ein solcher Zusammen schluß nur durch ein System von Normen organisiert werden kann: "Diese Normen schreiben den sozialen Gruppen, zwischen denen sie entstanden sind, eine bestimmte Verhaltensweise vor, sie heischen ein Sollen, dessen Geltung nicht von der Tatsache seiner Verwirklichung abhängig ist."233
Die Verbindlichkeit der zwischenstaatlichen Rechtsnormen 234 beruht auf dem Axiom "pacta sunt servanda": Untereinander abgeschlossene Verträge sind von den Staaten einzuhalten. Für Anzilotti stellt dieser Grundsatz die "begriffsnotwendige Voraussetzung"235 der Völkerrechtsnormen dar, der auf keinen weiteren Satz zurückzuführen ist und somit als "primäre, unbeweisbare Annahme"236 gilt. 237 Als 232 Trotz langer Verhandlungen kam es infolge innenpolitischer Auseinandersetzungen und der Ablehnungshaltung des amerikanischen Volkes nicht zu einer Mitgliedschaft Amerikas beim Völkerbund; vgl. E. Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, S.52-55. 233 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 32 (Hervorhebung im Original). 234 Für Dionisio Anzilotti steht fraglos fest, daß staatliche und völkerrechtliche Normen in ihrem Wesen verschiedenartig sind: Während das innerstaatliche Rechtssystem hierarchisch strukturiert ist, basieren die Völkerrechtsregeln auf dem Prinzip der Gleichstellung. Deshalb wird für das Staatsrecht ein Zwangsmechanismus zur Rechtsdurchsetzung benötigt, während eine solche Einrichtung im Völkerrecht meistens nicht oder bisher nur in Ansätzen - wie z. B. in Form staatlicher Eigeninitiative - existiert. Außerdem ist die Anzahl der Subjekte der staatlichen Rechtsnormen nicht exakt bestimmbar, so daß die Normen eine eher abstrakte Natur besitzen - wogegen im Völkerrecht die Beziehungen der ziffernmäßig überschaubaren Staaten durch zahllose individuelle Verträge geregelt werden. Aus alldem folgert Anzilotti, daß die Völkerrechtsregeln - genauso wie die damaligen Regeln der vorstaatlichen Verbände - sich noch in einem Entwicklungsstadium befinden und das Völkerrecht im Vergleich zum staatlichen Recht unvollständig wirkt. Der Mangel der Völkerrechtsregeln an Eigenschaften des staatlichen Rechts ist für Anzilotti unerheblich; seiner Meinung nach besitzen beide Arten Rechtscharakter und tragen lediglich verschiedene Wesenszüge. Sein Fazit ist: "Uns genügt die Feststellung, daß Normen, die dem sich deckenden Willen mehrerer Staaten ihre Entstehung verdanken und zur Regelung ihres gegenseitigen Verhaltens bestimmt sind, ohne jeden Zweifel existieren, um zu dem Schluß zu kommen, daß es die Aufgabe ist, zu untersuchen und zu bestimmen, welches diese Normen sind und sie in ein logisches System zu bringen." D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 35, vgl. S. 34-35. Zur Frage des Rechtscharakters der völkerrechtlichen Regeln siehe 3. Teil, 2. Kap. 235 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 32. 236 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 32.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
höchste Norm der Staatengemeinschaft ermächtigt er die Mitglieder zur Erzeugung von Völkerrechtsnormen und verleiht den erzeugten Regeln ihre verpflichtende Kraft. In diesem Sinne vertritt Anzilotti die Auffassung, daß jedes Rechtssystem als eine bestimmte Ordnung von Rechtsnormen zu begreifen ist, die einen solchen "objektiven Wert"238 zum Ausgangspunkt hat, der als ursprüngliche Hypothese nicht weiter rechtlich nachzuweisen ist. 239 Die Rechtsnormen leiten sich aus dieser Grundnorm 240 ab, schöpfen aus ihr die verbindliche Kraft und bilden auf diese Weise eine echte Einheit. Der Satz "pacta sunt servanda" ist demnach für Anzilotti das Kriterium, das die Völkerrechtsnormen zur Rechtsordnung vereinigt und andere Normen außen vor läßt: 241 "Alle diese Normen aber, und nur die, die auf diesen Grundsatz als den notwendigen Ursprung ihrer Geltung zurückgehen, gehören zu der Kategorie der Normen, mit denen wir uns beschäftigen. Diese Normen bilden das, Völkerrecht', somit die Rechtsordnung der ,Staatengemeinschaft'. ,,242
Nach Anzilottis Auffassung besitzen die Normen des innerstaatlichen Rechts und des Völkerrechts nicht nur verschiedene Eigenschaften 243 , sondern es besteht hinsichtlich der Grundnorm der beiden Normentypen auch ein prinzipieller Unterschied. Anzilotti stellt die These auf, 237 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 32. Ohne Bedeutung für die rechtswissenschaftliche Untersuchungen ist seiner Meinung nach eine ethische, moralische oder politische Begründung dieses Prinzips; vgl. S.33. 238 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 32. 239 Damit kommt zum Ausdruck, daß diese Grundnorm keine Norm im strengen Wortsinn ist. Fraglich ist, ob sie überhaupt dem positiven Recht angehören könnte; denn sie bedürfte sonst ebenso einer höheren Geltungsgrundlage. Daher wertet Dionisio Anzilotti die Grundnorm als hypothetische Norm. Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.34; R. Bindschedler, Zum Problem der Grundnorm, in: Völkerrecht und rechtliches Weltbild, Festschrift für Alfred Verdross, hrsg. von Friedrich August Heydte/lgnaz Seidl-Hohenveldern/Stephan Verosta/Karl Zemanek, 1960, S. 67-76, hier S. 69; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. 11., insbesondere 1. b) und 3.h). 240 Unter einer Grundnorm ist also jene Richtschnur zu verstehen, auf die alle anderen Rechtsnormen zurückgeführt werden können; sie ist oberste Norm und somit die Geltungsgrundlage einer Rechtsordnung und faßt folglich deren Bestandteile zu einer Einheit zusammen. Eine Rechtsordnung besteht damit aus einem Stufenaufbau der Normen und hat die furm einer Pyramide; denn die Verbindlichkeit jedes Rechtsaktes kann sich nur von einer übergeordneten Norm ableiten. Nur eine jeweils höherrangige Norm ist befahigt, die Kompetenz zum Erlaß der untergeordneten Regel zu verleihen und diese somit rechtsverbindlich zu machen. Die Lehre von der Grundnorm erarbeitete die "Wiener Schule" und ist deshalb auch mit der monistischen Auffassung über das Rechtsuniversum verbunden. Zur Lehre von der Grundnorm, siehe auch L. Meriggi, Das Wesen des internationalen Rechts und seine Beziehungen zum inneren Recht der Staaten, S. 745-746 und D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 33; dazu auch dazu auch 4. Teil, 3. Kap. 11. I. b). 241 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 33. Wie in der Lehre Heinrich Triepels stellt sich damit die Frage nach der Rechtsordnung als Problem der Rechtsquelle. 242 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 33. 243 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 34.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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"daß die Norm, auf die das staatliche Recht gegründet ist, ihre vis obligandi aus sich selbst bezieht und nicht weiter abgeleitet werden kann. Aus selbständigen Grundnormen hervorgehend sind Völkerrecht und staatliches Recht somit getrennte Rechtsordnungen."244
c) Der gemäßigte Dualismus Anzilottis Für das staatliche Recht ermittelt Anzilotti die Verfassungsnorm als das oberstes Verhaltensgebot und als Quelle der Verbindlichkeit; denn die Rechtsregeln des Parlaments und des Staatsoberhaupts sind auf jene Norm zurückzuführen. Aus diesem Grund sind die staatlichen Regeln für die Individuen verbindlich. Nur im Rahmen ihrer zugehörigen Rechtsordnung und in Verbindung mit einer Grundnorm stellt folglich eine Regel eine verbindliche Rechtsnorm dar. Bindend resultiert daraus für Anzilotti eine Trennung der Rechtsordnungen. 245 Er wertet die beiden Rechtskreise nicht nur als formal getrennte, selbständige Rechtsordnungen, sondern bejaht ebenso wie Heinrich Triepel die Überordnung des Völkerrechts über die staatliche Rechtsordnung. 246 Anders ist jedoch seine Begründung dieses Überordnungsverhältnisses: Während der Satz "pacta sunt servanda" im Rahmen der staatlichen Rechtsordnung auf einer übergeordneten Norm basiert, ist er als Bestandteil der Völkerrechtsordnung die höchste Rechtsnorm - die Grundnorm. 247 Das Völkerrecht ist also im Sinne Anzilottis dem staatlichen Rechtssystem übergeordnet, "weil es einen Grundsatz zur Grundlage hat, dem der staatliche Wille unterworfen ist"248. Gleichzeitig jedoch vertritt Anzilotti die These, daß die völkerrechtlichen Normen sich zwangsläufig auf die innerstaatlichen Regeln "stützen"249 244 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 38 (Hervorhebung im Original). Eine ablehnende Haltung gegenüber der Fähigkeit des Satzes "pacta sunt servanda", das Fundament der Verbindlichkeit des Völkerrechts zu sein, hat Victor Bruns: "So kann ... der Satz ,pacta sunt servanda' nicht die Ursprungsnorm allen Rechtes sein. Es würde ja nur bedeuten, daß, wenn zwischen zwei Personen eine Einigung zustande kommt, sie daran gebunden seien. Aber nicht kann er erklären, warum eine Rechtsordnung gerade den Mangel einer Einigung ersetzen muß und kann .... " V. Bruns, Das Völkerrecht als Rechtsordnung, S. 28. Kritisch äußern sich auch ALbert Bleckmann und Rudolf Bindschedler: Beide Autoren entgegnen, daß durch diese Grundnorm keine Bindungswirkung für das Gewohnheitsrecht erzielt werden könnte; vgl. A. Bleckmann, Grundprobleme und Methoden des Völkerrechts, in: Kolleg Rechtstheorie, hrsg. von Jan Broekman, Sonderband 1, 1982, S.183; R. Bindschedler, Zum Problem der Grundnorm, S.69. Kritisch zur Grundnormlehre äußert sich auch Gustav Walz: "Es ist der Gesichtspunkt der Methodenreinheit und nichts weiter, der zur Einsetzung der Grundnorm führt." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 33; vgl. S. 34. 245 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 33 und S. 39. Ungeachtet der Annahme einer Ursprungsnorm bedeuten diese Thesen Dionisio Anzilottis und alle seine weiteren Schlußfolgerungen nach Ansicht von Gustav Walz eine klare Bejahung einer pluralistischen Rechtsordnungsgliederung; dazu 4. Teil, 1. Kap. 11.2. a). 246 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 4. 247 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 33 und S. 37. 248 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 37. 249 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 38; vgl. W. Wengier, Studien zur Lehre vom Primat des Völkerrechts, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht, hrsg. von Dionisio Anzilotti/
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
müssen, so daß der Staat - und mithin seine Rechtsordnung - dem Völkerrecht in logischer Hinsicht vorausgeht. 250 Mit der Aussage, daß die Überordnung des Völkerrechts als "rechtliche Begrenzung"251 der staatlichen Macht zu werten ist, vereint Anzilotti die beiden konträren Gesichtspunkte. 252 Was die Trennung der Rechtsordnungen und ihre hierarchische Struktur betrifft, so ähneln sich die Thesen Anzilottis und Triepels ganz offensichtlich in ihrem Ergebnis. 253 Aufgrund dieser Zusammenhänge charakterisieren einige Autoren die Lehren Triepels und Anzilottis als "Dualismus mit Völkerrechtsprimat"254. Auch wenn Anzilotti die Überordnung des Völkerrechts als "These von dem richtig verstandenen Primat des Völkerrechts"255 bezeichnet, ist sie gewiß nicht in eine monistische Konzeption der Rechtsordnungen mit Völkerrechtsprimat einzuordnen. 256 Offenbar wird der Begriff "Primat" zwar gleichermaßen von Vertretern des Dualismus und des Monismus verwendet, dabei sind allerdings ihre Interpretationen deutlich verschieden. Denn würde Anzilotti sonst von einem "richtig verstandenen Primat des Völkerrechts" sprechen? Es besteht - wie bereits ausgeführt - für Anzilotti und auch für Triepel ein "Primat" des Völkerrechts nur in dem Sinne, daß die Staaten verpflichtet sind, die völkerrechtlichen Ge- und Verbote zu erfüllen und daß eine Nichtbeachtung dieser Pflichten völkerrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Dieser so verstandene Primat bedeutet jedoch keine gegenseitige Abhängigkeit bezüglich der Geltung der Regeln der beiden Rechtsordnungen. Hans Keisen/Alfred Verdross/Adolf Merkl u. a., Band XVI, 1936 (unveränderter Nachdruck 1969), S. 322-392, hier S. 390-391. 250 Vgl. D. Anzilorti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 38. 251 D. Anzilorti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 38. 252 "Die Lösung des Widerspruchs liegt darin, daß das Völkerrecht dem Staate übergeordnet ist, in dem Sinne, daß es [das Völkerrecht] eine rechtliche Begrenzung seiner Macht [des Staates] darstellt, aber nicht in dem Sinne, daß der Staat seine Herrschaftsgewalt durch das Völkerrecht empfangen hat. Gegen diese letzte These, die nicht einmal logisch gefordert ist, spricht nicht nur die historische Erfahrung, sondern auch, und zwar hauptsächlich, die Überzeugung der Staaten, denen nichts mehr widerstrebt als der Gedanke, daß sie eine aus der Völkerrechtsordnung abgeleitete Herrschaft ausüben." D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.38. 253 Die Beschränkung des Staates durch das Völkerrecht drückt Victor Bruns wie folgt aus: "Nicht die Souveränität der Staaten ist Grundlage der Yölkerrechtsordnung, vielmehr reicht das Recht eines Staates in der Gemeinschaft so weit, als diese durch ihre Ordnung ihm Unabhängigkeit und Selbstbestimmung garantiert." V. Bruns, Das Völkerrecht als Rechtsordnung, S.11-12. 254 Siehe z. B. G. Salvioli, Les regles generales de la paix, in: RdC, IV, Nr.46, 1933, S.5-146, hier S. 31. Die Bedeutung des Begriffs "Primat" läßt sich für Gabriele Salvioli hauptsächlich durch den Ausdruck "caractere obligatoire" verdeutlichen. Unter einem Völkerrechtsprimat versteht er also, daß das internationale Recht bindend für das Recht der Staaten ist - was seiner Meinung nach keinesfalls von der dualistischen Lehre bestritten wird. Folglich ist er für eine Verwendung des Begriffs "Primat" im Rahmen der dualistischen Rechtsauffassung. 255 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 37. 256 Dazu 4. Teil, 2. und 3. Kap.
I. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Anzilottis grundsätzliches Anliegen ist eindeutig wahrnehmbar: Es ist sein Bekenntnis zur dualistischen - genauer pluralistischen 257 - Gliederung der Rechtsordnungen. Diese Trennung der Rechtsordnungen führt er jedoch nicht wie Triepel auf unterschiedliche Willen und Rechtsinhalte zurück, sondern auf voneinander unabhängige Grundnonnen. Zugleich verdeutlicht die Grundnonnthese eine klare Distanzierung Anzilottis sowohl gegenüber der Lehre von der staatlichen Selbstbindung 258 als auch bezüglich der positivistischen Lehre vom Gemeinwillen der Staaten. Ungeachtet der Tatsache, daß er die Grundnonn "pacta sunt servanda" zum eindeutigen Merkmal des dualistischen Verhältnisses der Rechtsordnungen erklärt, ist seiner Auffassung nach auch der Gesamtwille der Staaten zur Entstehung von völkerrechtlich-eigenständigen Vereinbarungen notwendig. 259 Ohne Zweifel basieren die Lehren Triepels und Anzilottis auf gänzlich differierenden Grundlagen, wobei Anzilotti zu einem nennenswerten Teil den Erkenntnissen Triepels zustimmt, andererseits aber auch eigene Thesen entwickelt und in seine dualistische Konzeption einfließen läßt. Trotz der von Anzilotti vertretenen Grundnonnhypothese stimmen beide Völkerrechtswissenschaftler in ihrem Ergebnis überein, nämlich daß das Verhältnis der Rechtsordnungen zueinander grundsätzlich dualistischer Natur ist. 260 Dennoch wird bei sorgfaltigern Studium der Thesen Anzilottis deutlich, daß die prinzipielle Trennung von Völkerrecht und staatlichem Recht nur einen Teil seiner Lehre ausmacht. Aufschlußreich sind die Schlußfolgerungen, die Anzilotti aus dem dualistischen Verhältnis der Rechtsordnungen zieht: Aufgrund verschiedener Ursprungsnonnen können ausschließlich Rechtsnormen, welche ihre Verbindlichkeit aus der Grundnonn des Völkerrechts erlangen, die Beziehungen der Staaten zueinander regeln. Nonnen der nationalen Gesetzgebung, 257 Analog zu den kritischen Bemerkungen von Gustav Walz, Walter Schiffer und Walter Rudolfhinsichtlich der Bezeichnung "dualistisch" für die Lehre Heinrich Triepels kann diese Kritik auf die Lehre Anzilottis übertragen werden; dazu 4. Teil, I. Kap. I. 4. und 6. sowie II. 2. a). 258 Dazu H. Triepel, Völkerrecht und Landesrechts, S.77-81 und S. 88-89, insbesondere Fußnote 2 und D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 33; siehe auch 4. Teil, 4. Kap. I. und 11.1. 259 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 38. 260 Einige Jahre zuvor war Dionisio Anzilotti wesentlich stärker der Lehre Heinrich Triepels zugeneigt. In seinem Werk ,,11 diritto intemazionale nei giudizi interni" (1905) vertritt er noch eine Völkerrechtslehre, die dem Rechtspositivismus näher stand. Zum damaligen Zeitpunkt erkannte Anzilotti den Willen - in Form des Gemeinwillens der Staatengemeinschaft oder als Einzelwillen eines Staates - als verbindliche Rechtsquelle und Ursprung der Geltungskraft der Rechtsnormen an. Folglich entwickelte Anzilotti damals eine rein positivistische Auffassung vom Völkerrecht. Diese ursprüngliche Lehre charakterisierte Gustav Walz als "voluntaristische" Rechtsauffassung (vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.30 und S.31). Den Wandel seiner Lehre hin zum Prinzip "paeta sunt servanda" hat er erstmals in seinem "Lehrbuch des Völkerrechts" (1929) darlegelegt. Dieser Umschwung veränderte die weiteren Thesen seiner Lehre allerdings nicht.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
die auf der innerstaatlichen Grundnorm eines Einzelstaates basieren, können keine anderen Staaten verpflichten. 261 Darüber hinaus schlußfolgert Anzilotti, daß die Normen des Völkerrechts die verbindliche Kraft, Gültigkeit und Dauer der staatlichen Rechtsnormen nicht beeinflussen können. Umgekehrt kann seiner Meinung nach eine Norm der staatlichen Rechtsordnung zu keiner Zeit ungültig werden, nur weil sie nicht mit dem Völkerrecht in Einklang steht: "Schreibt eine innerstaatliche Norm etwas vor, was den völkerrechtlichen Pflichten des Staates widerspricht - fordert sie z. B. die Ausübung der Gerichtsbarkeit in Fällen, wo der Staat völkerrechtlich verpflichtet ist, sie nicht auszuüben - so hat dieser Umstand nicht den geringsten Einfluß auf die bindende Kraft des Gesetzes innerhalb der staatlichen Rechtsordnung, wie andererseits ein Staat unbestrittenermaßen sich nicht auf den Inhalt seiner Gesetze, noch auf deren Fehlen berufen kann, um sich um die Erfüllung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen zu drücken oder um sich der Verantwortung, die ihm infolge ihrer Nichterfüllung obliegt, zu entziehen ... 262
Gleichermaßen hebt Anzilotti hervor, daß der innerstaatliche Gesetzgeber "logischerweise"263 entsprechend seiner völkerrechtlichen Rechte und Pflichten agieren will und deshalb versuchen wird, einen Konsens zwischen den relevanten Normen des Staatsrechts und jenen des Völkerrechts zu erreichen. Auch für Anzilotti ist damit inhärent der Anspruch einer völkerrechts günstigen Auslegung der staatlichen Normen verbunden, wodurch er eine derartige Verfahrensweise als Instrument zur Vermeidung einer völkerrechtlichen Pflichtverletzung gutheißt. Läßt sich eine Norm nicht im Sinne des Völkerrechts interpretieren, weil sie diesem Völkerrecht unmißverständlich entgegen steht, so fordert Anzilotti die Anwendung der Norm "so wie sie ist"264 - vollkommen unabhängig von einer möglichen Mißachtung des Völkerrechts. 265 Aus seiner These, daß eine Rechtsnorm ausschließlich im Geltungsbereich jener Rechtsordnung, der sie angehört, wirksam sein kann, zieht Anzilottis eine weitere Schlußfolgerung: Es ist die Ablehnung einer Konfliktmöglichkeit zwischen Normen verschiedener Rechtsordnungen, also auch zwischen staatlicher Rechtsordnung und Völkerrechtsordnung. Aufgrund der Trennung der Rechtsordnungen und der rechtlichen Beschränkung des staatlichen Handeins durch das Völkerrecht ist nach Auffassung Anzilottis lediglich eine Bewertung des rechtsetzenden Staates als Ganzes, d. h. als Völkerrechtssubjekt, möglich. Demzufolge sind die staatlichen Normen in völkerrechtlich gebotenes, völkerrechtsgemäßes und völkerrechtswidriges Recht einzuteilen, die in ihrer Gesamtheit das völkerrechtlich erhebliche Recht eines EinVgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 38-39. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.41. 263 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 41. 264 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.42. 265 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 41-42. 261
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1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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zelstaates bilden. 266 Wie bereits Heinrich Triepel separiert er davon das völkerrechtlich irrelevante staatliche Recht. 267 Das Ergebnis formuliert Anzilotti klar: "Von Konflikten zwischen Völkerrecht und Landesrecht zu sprechen, ist ebenso falsch wie die Annahme der Möglichkeit von Konflikten zwischen den Gesetzen verschiedener Staaten .... Es handelt sich nicht um einen Normenkonflikt, sondern um die je nach der angewandten Rechtsordnung verschiedene Wertung eines Tatbestandes."268
Als Beispiel dafür nennt Anzilotti ein Auslieferungsgesetz eines Staates, demzufolge für einen bestimmten Sachverhalt die Übergabe eines Angeklagten untersagt wird. Bezüglich des Landesrechts ist dies ein gültiger Rechtsakt, auch wenn das Völkerrecht die Auslieferung in jenem Falle vorschreibt. 269 Alle bisherigen Schlußfolgerungen, die Anzilotti aus der Trennung der Rechtsordnungen gezogen hat, stehen nicht im Gegensatz zur Lehre Triepels. Anders verhält es sich allerdings mit seinen Thesen über die Möglichkeit von Verweisungen der einen Rechtsordnung auf die andere. Anzilotti fokussiert dabei den Problembereich, ob und auf welchem Weg Völkerrecht und Landesrecht gegenseitig aufeinander einwirken können. In diesem Zusammenhang unterscheidet er, ähnlich wie Triepei 270 , die "nicht rezipierend-formelle"271 von der "rezipierend-materiellen"272 Verweisung: Zahlreiche Beispiele findet Anzilotti für die nicht rezipierende Verweisung, die bereits in der Triepelschen Lehre als der maßgebliche Berührungspunkt der beiden Rechtsordnungen festgestellt wurde. 273 Auch für Anzilotti besteht das Wesensmerkmal einer nichtrezipierenden Verweisung einer innerstaatlichen Norm auf das Völkerrecht darin, daß die von den staatlichen Organen anzuwendenden Völkerrechtsnormen weiterhin Bestandteil des Völkerrechts sind. 274 In der Tat bleibt bei 266 Dionisio Anzilottis Argumentationskette verdeutlicht, daß diese Einteilung lediglich im Rahmen der Völkerrechtsordnung bedeutsam ist - also keinen Einfluß auf Bewertungen innerhalb des Landesrechts hat; vgl. dazu D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.42-43. 267 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.42-43. 268 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.42 und S.43. Den Begriff "Landesrecht" verwendet er in Anlehnung an Heinrich Triepel. 269 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 43. 270 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 4. 27\ D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.43. 272 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.43. 273 Heinrich Triepel definiert sie als "nichtrecipierende Blankettrechtssätze" und erkennt diese als Berührungspunkt der beiden Rechtskreise an; H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 162; dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 4. Als ein Beispiel für eine Verweisung des Landesrecht auf das Völkerrecht nennt Dionisio Anzilotti ein innerstaatliches Gesetz, das jene Individuen bestimmt, die als diplomatische Personen charakterisiert werden sollen und das sich dazu auf entsprechende völkerrechtliche Vorschriften bezieht. Für weitere Beispiele siehe D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.44. 274 Auch im umgekehrten Fall bleibt die innerstaatliche Norm Teil ihrer ursprünglichen, also landesrechtlichen Rechtsordnung, wenn sich eine Völkerrechtsnorm auf sie bezieht. Ein Beispiel dafür ist die nichtrezipierende Verweisung auf die innerstaatlich geltenden Staatsangehö-
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
einer formellen Rezeption die betroffene Rechtsnorm eine Regel der anderen Rechtsordnung. Für diesen Fall läßt also auch Anzilotti sowohl Einwirkungen des Völkerrechts auf die Ausformung der landesrechtlichen Sachverhalte als auch Einflüsse des staatlichen Rechts auf die Völkerrechtsordnung ZU. 275 Dabei ist nochmals ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Rechtsnorm, auf die verwiesen wird, nur indirekt zur Anwendung kommt und deshalb laut Anzilotti eine transformierende Rezeption nicht erforderlich ist. Im Gegensatz dazu erfolgt bei der rezipierend-materiellen Verweisung eine Aufnahme der relevanten Norm in die jeweils "fremde" Rechtsordnung. 276 Wie bereits ausgeführt, verneint Triepel diese Form der Rezeption aufgrund der Verschiedenheit von Völkerrecht und Landesrecht bezüglich Inhalt und Adressaten. 277 Die Tatsache, daß Anzilotti diese These nicht teilt, läßt ihn genauere Überlegungen zur möglichen Existenz rezipierender Verweisungen anstellen: Dazu geht er von der Frage aus, ob das Völkerrecht in das innerstaatliche Recht eingehen kann - sei es in seiner Ganzheit oder zum Teil- oder ob durch die völkerrechtsfreundliche Einstellung des Staates eine stumme Übereinstimmung besteht und es deshalb zu einer Setzung staatlicher Rechtsnormen, die dem Völkerrecht entsprechen, kommt. 278 Die erstgenannte Auffassung nimmt Bezug auf die von William Blackstone vertretene - und dem Monismus nahestehende - Lehre "International Law is apart of the Law of the Land" 279 • Nach Anzilottis Ansicht ist der Satz hauptsächlich für das Völkergewohnheitsrecht gültig und besitzt keine umfassende Bedeutung, auch wenn dies die Formulierung vermuten läßt. 280 Die zweite Meinung ergibt sich aus der strikten Trennung der Rechtsordnungen, so, wie sie Triepel vertritt - und der Undenkbarkeit der Rezeption von Völkerrecht aufgrund des streng dualistischen Verhältnisses. In jenem Fall ist das erzeugte völkerrechtsgemäße Landesrecht bezüglich Geltungsgrund, Inhalt und Adressaten absolut verschieden von den entsprechenden Normen des Völkerrechts. 281 In diesem Zusammenhang stellt Anzilotti trotz des grundsätzlichen Gegensatzes beider Thesen eine Gemeinsamkeit fest: "Vor allem stimmen sie darin überein, dass beide für alle Landesrechte die Existenz von Normen annehmen, die die Beobachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen sicherstellen."282 rigkeitsgesetze bei der völkerrechtlichen Regelung der Behandlung fremder Staatsangehöriger, vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.43-44. 275 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.44. 276 So werden beispielsweise völkerrechtliche Rechtssätze, auf die im Rahmen von Normen des Landesrechts verwiesen wird, in die eigene staatliche Rechtsordnung aufgenommen; dazu 4. Teil, I. Kap. 1.4. 277 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 2. und 4. 278 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.44-45. 279 W. Blackstone, Commentaries on the laws of England, S. 67; vgl. auch D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 44. 280 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.44. 28\ Dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 5. und 6. 282 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 45.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Bezugnehmend auf ein dualistisches Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht stellt Anzilotti nachdrücklich den Aspekt in den Vordergrund, daß jede Rezeption einen "Akt der Normensetzung"283 darstellt und nicht nur eine "formal-technische"284 Umwandlung von Normen bedeutet. Das gesamte Wesen der Norm wird verändert: Notwendig bedingt durch getrennte Rechtsordnungen kommt es zu einer Änderung ihrer Quelle und Geltung, zu einem Wechsel ihrer Adressaten und zu einer Modifikation des Inhalts, sofern es der Zweck der Rezeption erfordert. 285 In der Tat distanziert sich Anzilotti also von der Auffassung Triepels, der diese Art der Rezeption aufgrund der Verschiedenartigkeit der Rechtsordnungen und der notwendigen Umbildung der rezipierten Rechtsnorm strikt ablehnt. Daraus ist zu schließen, daß Anzilotti eine gegenseitige direkte Einwirkung der Rechtsordnungen aufeinander mittels einer transformierenden Rezeption zuläßt. Dabei ist seine Interpretation des Wesens und der Wirkungen der Transformation, durch die eine rezipierende Verweisung verwirklicht wird, ganz sorgfältig formuliert: "Jede Norm richtet sich an die Subjekte der Rechtsordnung, in der sie gilt; und da das Wesen der Rechtssubjektivität in einer Wechselbeziehung zwischen einem Individuum und den Normen der Rechtsordnung, die das Individuum zum Rechtssubjekt macht, besteht, so erfordert allein die Tatsache, daß eine Norm in eine andere Rechtsordnung aufgenommen wird, daß sie jetzt für andere Subjekte gilt als früher. Jede Rechtsnorm muß sich dem Rechtssystem, zu dem sie nun gehört, und das auf die verschiedenste Weise auf ihren Inhalt wirkt - sei es, daß sie es erweitert oder verengert -, derart anpassen, daß die gleiche Norm in zwei verschiedenen Rechtsordnungen eine ziemlich verschiedene Bedeutung hat oder haben kann."286
Das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht beurteilt Anzilotti als den gewichtigsten Fall einer materiellen Verweisung. So können beispielsweise gewohnheitsrechtliehe Regelungen aus dem Bereich des Diplomaten- und Seerechts in die Rechtsordnung der Staaten mittels transformierender Rezeption integriert werden. 287 Aufgrund der D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.45. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.45. 285 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.44-46. Ulrich Scheuner stimmt der Auffassung Dionisio Anzilottis zu und umschreibt den Transformationsakt innerhalb der Rezeption wie folgt: "La reception est donc, comme le dit Anzilotti, toujours un acte de creation de normeso Dans la reception, le fondement de la norme est transforme: elle devient dorenavant un element d' un autre ordre juridique .... La reception joue un röle important dans les relations du droit international et du droit national. Dans de nombreux pays, la reception des principes generaux du droit international s'opere moyennant une norme qui dec1are generalement que les regles communes du droit international sont elements du droit interne." U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.126-127. 286 D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.45. 287 Notwendigerweise gilt dies ausschließlich für Staaten, die der Völkerrechtsgemeinschaft angehören; vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.46; siehe dazu auch U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.126-127. Eine Rezeption von Regeln des staatlichen Rechts in die Völkerrechtsordnung kann beispielsweise durch die Aufnahme staatlicher Normen eines beteiligten Staates in eine mit anderen Staaten abgeschlossene Vereinbarung erfolgen, vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S.46. 283
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
getrennten Rechtsordnungen ist es seiner Meinung nach nur auf diesem Weg möglich, daß die Regeln des Völkerrechts durch die Individuen beachtet werden. Die Grundaussage der Lehre Anzilottis ist eindeutig die der Trennung von Völkerrechtsordnung und nationaler Rechtsordnung. Gleichermaßen bejaht er auch die Möglichkeit des gegenseitigen Eindringens der Rechtsordnungen ineinander mittels Rezeption. Eine solche Rezeption kann demnach Völkerrechtsnormen in die staatliche Rechtsordnung transformieren - und umgekehrt. Zwar verändert die Transformation das Wesen der Norm; dennoch stellt sie nach Ansicht Anzilottis eine wirkliche Möglichkeit dar, wie Völkerrecht und Landesrecht reziproke Verbindungen schaffen können. Dabei widerspricht dieser rechtliche Zusammenhang der Rechtsordnungen keineswegs ihrem dualistischen Verhältnis. Aufgrund der Tatsache, daß jede materielle Rezeption durch den Transformationsakt immer mit der eigenständigen Setzung von Normen verbunden ist, steht sie mit der dualistischen Grundeinstellung Anzilottis in Einklang. Die tatsächlich resultierenden Effekte dieses gemäßigten Ansatzes - namentlich die praktischen Auswirkungen der materiellen und formellen Verweisung - zählen zu den Erkenntnissen Anzilottis, welche über die Lehre Triepels hinausgehen. Anzilotti prüft in erster Linie die prinzipiellen Konsequenzen der gemäßigt-dualistischen Rechtsordnungsgliederung für die staatlichen Organe - vornehmlich für die Gerichte. Aufgrund der Verschiedenheit von Völkerrecht und staatlichem Recht verneint Anzilotti grundSätzlich die Möglichkeit, daß zur Beurteilung innerstaatlicher Auseinandersetzungen in ihrer Hauptsache Normen des Völkerrechts in direkter Weise herangezogen und angewendet werden können. 288 Zu einer ganz anderen Bewertung kommt Anzilotti jedoch dann, wenn das innerstaatliche Recht sich mittels formeller Verweisung auf die Völkerrechtsnormen bezieht, also keine transformierende Rezeption einer völkerrechtlichen Norm vorliegt: In diesem Fall besteht für das Gericht die Erlaubnis und gleichermaßen die Verpflichtung, solche angesprochenen Völkerrechtsnormen zur Entscheidung von Vorfragen der Rechtsstreitigkeit einzubeziehen; sofern innerstaatliche Normen zur genaueren Begründung ihrer Tatbestandsmerkmale auf sie verweisen und jene Völkerrechtssätze bezüglich der richterlichen Entscheidung von Einfluß sind. 289 Auf diesem Weg kann das Völkerrecht als solches tatsächlich und unmittelbar - und ohne wesensverändernde Transformation - auf innerstaatliche Gegebenheiten einwirken. 29O Was diesen Gesichtspunkt anbelangt, so hat Triepel zwar bereits die Möglichkeit nichtrezipierender Blankette eingehend hervorgehoben, aber eine direkte Anwendung von Völkerrecht - ohne Vgl. D. Anzilotti, 11 diritto internazionale nei giudizi interni, 1905, S.45 und S.109. Vgl. D. Anzilotti, 11 diritto internazionale nei giudizi interni, S.46 und S.189-194. 290 In der völkerrechtlichen Literatur wird dieser Gedanke Dionisio Anzilottis partiell als Ursprung der Vollzugslehre gedeutet; vgl. K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.19; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.39-40. Nach Ansicht von Walter Rudoljfolgt Anzilotti unzweifelhaft der Transformationslehre; vgl. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.I64, Fußnote 145; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. I. 288 289
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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transfonnierende Rezeption - stets ausgeschlossen. 291 Hier differieren die Standpunkte der beiden einflußreichsten Vertreter des Dualismus der damaligen Zeit recht deutlich. Zustimmend zur Rechtsauffassung Anzilottis äußert sich Gustav Walz: ..Wohl aber kann das Völkerrecht und insbesondere auch der völkerrechtliche Staatsvertrag direkt ohne Transformation vor den staatlichen Gerichten zur Entscheidung von rechtlichen Vorfragen zur Anwendung kommen, von deren Lösung die landesrechtliche Rechtsbestimmung, die für die Hauptsache ja allein entscheidet, selber abhängig ist, weil eben das Landesrecht für seine genauere Bestimmung auf das Völkerrecht verweist."292
Die von Anzilotti - in Übereinstimmung mit Triepel - vertretene These über die Verbindlichkeit von völkerrechts widrigem Landesrecht bleibt in jedem Fall unberührt. So sind die staatlichen Gerichte an eine Nonn der staatlichen Rechtsordnung gebunden, auch wenn deren Rechtsfolgen im Widerspruch zu geltendem Völkerrecht stehen. 293 Ausgehend von einer konsequent dualistischen Rechtsordnungsgliederung im Sinne Triepels bejaht Anzilotti demnach Einwirkungen des übergeordneten Völkerrechts auf das staatliche Recht und konzipiert somit seine Lehre als Trennung von Völkerrecht und staatlichem Recht mit begrenzter Überschneidung der beiden Rechtsordnungen. In diesem Zusammenhang wird die Lehre Anzilottis in der Völkerrechtsliteratur als gemäßigter Dualismus bezeichnet. 294 In der Tat gelingt es ihm mit seiner Rechtsauffassung, eine Annäherung zwischen dem strengen Triepelschen Dualismus, der die rezipierende Verweisung nicht gestattet, und der in dieser Zeit aufkommenden monistischen Rechtsauffassung zu erzielen. 295
Walz veranschaulicht die bedeutungsvolle Entwicklungsrichtung der dualistischen Lehre vom Verhältnis der Rechtsordnungen zutreffend: .. Das Problem konzentriert sich auf diesen Punkt: wie und in welcher Weise ist eine rechtliche Einflußnahme des Völkerrechts auf das Landesrecht möglich? Trotz prinzipiell völlig an Triepels Formulierungen sich anschließender dualistischer Konstruktion des Völkerrechts und des staatlichen Rechts schlägt Anzilotti offenbar doch eine rechtliche Brücke zwischen bei den Rechtskreisen, damit das von Triepel behauptete Subordinationsverhältnis in etwas praktisch realisierend. ,,2% 291 Dazu 4. Teil, I. Kap. I. 4., 5. und 6. 292 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.36. 293 Vgl. D. Anzilotti, Il diritto internazionale nei giudizi interni, S. 189-194. 294 Siehe z.B. bei W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.141; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1075; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 262-263; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 16. Gustav Walz bezeichnet die Lehre Dionisio Anzilottis als ..die ,dualistische' Konstruktion mit beschränkter rechtlicher Einwirkung des Völkerrechts auf das staatliche Recht"; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 28. 295 Zu den Lehren vom Monismus der Rechtsordnungen siehe die Kapitel 2, 3 und 4 des 4. Teils. 296 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.40. Andere Meinungen in der Literatur werteten sowohl Heinrich Triepel als auch Dionisio Anzilotti als ,,konsequenteste Verfechter
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Genau diese Aspekte waren die Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung der Rechtsauffassung über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht.
2. Die Lehre von Gustav Walz a) Die grundsätzlichen Beziehungsmöglichkeiten zwischen dem Völkerrecht und den Rechtsordnungen der Staaten In der Zeit, als das Werk "Völkerrecht und staatliches Recht" von Gustav Walz entsteht, ist nicht mehr allein die Lehre vom Dualismus der Rechtsordnungen präsent, sondern es wurden bereits andere Auffassungen über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht diskutiert und Abhandlungen über diesen Fragenkomplex - wie zum Beispiel die Werke von Alfred Verdross und Hans Kelsen - veröffentlicht. 297 Walz beurteilt den damaligen Stand der Rechtswissenschaft bezüglich der Rechtsordnungsbeziehungen wie folgt: "Das Problem des rechtlichen Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht hat eine ausgedehnte literarische Behandlung erfahren, liegt doch in seiner richtigen Erfassung unstreitig eine der schwierigsten Fragen des Völkerrechts. Die ganz neuere Literatur, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigt, steht, ob zustimmend oder ablehnend, unter dem Einfluß des hervorragenden Triepelschen Werkes, ... Damit aber hat Triepel die Kernfrage systematisch angeschnitten: bildet das Völkerrecht im Rechtssystem nur einen besonderen Teil einer einheitlichen höheren Ordnung oder aber tritt es als eine in sich geschlossene selbständige Rechtsordnung mit selbständiger Rechtsquelle den bestehenden staatlichen Rechtsordnungen und ihren besonderen Rechtsquellen gegenüber? Und welcher Art sind dann die trotzdem vorhandenen nachweisbaren rechtlichen Einflüsse des Völkerrechts auf das Landesrecht, wie Triepel den Gesamtkomplex des innerstaatlichen privaten und öffentlichen Rechts nennt?"298 Nach Ansicht von Walz ist es zweifellos die Leistung Heinrich Triepels gewesen, die unterschiedlichen prinzipiellen Beziehungsmöglichkeiten - nämlich in Form des Dualismus oder Monismus der Rechtsordnungen - als Erster zu entwickeln. 299 Im Rahmen seiner Lehre versuchte Triepel die Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht aus dem Blickwinkel der eigenen nationalen Rechtsordnung zu beantworten. Unter dieser Maxime, so Walz, ist die Triepelsche Unterteilung in die beiden Kategorien Monismus und Dualismus der Rechtsordnungen einleuchdes Dualismus", allein aus dem Grund, weil beide die Möglichkeit einer Konkurrenz oder eines Konflikts zwischen den beiden Rechtsordnungen verneinten. Die Tatsache, daß beide ein Überordnungsverhältnis zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht annahmen, wurde jedoch bereits als Tendenz zur Milderung ihres "streng dogmatischen Dualismus" gedeutet; siehe E. MenzellK./psen, Völkerrecht, S. 50. 297 Dazu 4. Teil, 2. und 3. Kap. 298 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. I. 299 Heinrich Triepel verwendet im Rahmen seiner Ausführungen bereits die Ausdrücke "monistisch" und "dualistisch"; siehe z. B. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 128, S.131 und S.133, Fußnote I.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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tend. 3°O Andererseits basieren die herrschende Rechtslehre und die internationale Praxis der Staaten auf der These, daß die Gesamtheit des einheitlich-universellen Rechtssystems aus "dem Völkerrecht und einer Vielheit staatlicher Rechtsordnungen,,301 besteht. 302 Auch die Schlußfolgerungen Triepels gingen letztlich über die eigenstaatliche Rechtsordnung hinaus. Konsequenterweise erweitert und verändert Walz die ursprüngliche Einteilung Triepels, indem er das Begriffspaar "monistisch - pluralistisch" einführt und darüber hinaus drei mögliche Versionen der pluralistischen Rechtsauffassung feststellt: 303 "Als pluralistische Ordnung des Rechtsuniversums muß schlechthin jede Gliederung der gesamten objektiven Rechtswelt bezeichnet werden, die verschiedene objektiv selbständige Rechtsordnungskreise annimmt, die nicht in einem höheren rechtlich notwendigen objektiven Gesamtzusammenhang aufgehoben werden können .... Die pluralistische Gliederung des Rechtsuniversums kann wieder in drei verschiedenen Variationen auftreten."304 Die erste Spielart der pluralistischen Rechtsordnungskonzeption ist für Walz die in der Literatur als dualistische Lehre bekannte Rechtsauffassung: Die verschiedenen staatlichen Rechtsordnungen und die Völkerrechtsordnung stehen als rechtlich eigenständige Rechtssysteme nebeneinander. Jede Rechtsordnung setzt ihr eigenes Recht und es besteht kein Abhängigkeitsverhältnis. Gegenseitige Einwirkungen sind zwar möglich, wenngleich eine Transformation im Sinne einer eigenen Rechtsetzung der adressierten Rechtsordnung erforderlich ist. Relevant ist dabei auch die reziproke Rücksichtnahme und Beachtung der jeweils anderen Rechtssysteme. Aufgrund der Tatsache, daß hierbei die gesamte Weltordnung einbezogen wird, ist es notwendigerweise eine pluralistische Rechtsauffassung. 305 Walz zieht daraus die Schlußfolgerung, daß die Triepelsche Lehre besser als pluralistische Konstruktion aufzufassen ist. 306 Als zweite Variation deutet Walz jene Konzeption, die von einer Auflösung des Völkerrechts in die jeweiligen selbständigen nationalen Rechtsordnungen ausgeht. 300 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.I und S. 3. 301 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 3; vgl. S.4. 302 Gustav Walz erkennt an, daß bereits Hans Kelsen sich mit dieser Fragestellung des Rechtsuniversums auseinander gesetzt hat und trotzdem bei dem Begriffspaar "monistisch" und "dualistisch" geblieben ist; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 3-4; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. 11. 303 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.4 und S. 5. "Bei dieser erweiterten Formulierung der grundSätzlichen ,Konstruktions'möglichkeiten handelt es sich aber keineswegs um eine bloße Ersetzung des Wortes dualistisch durch das korrektere pluralistisch. Und hierin liegt die entscheidende Bedeutung dieses neuen Einteilungsprinzips. " (S.5). Den Begriff "pluralistisch" hat schon Alfred Verdross im gleichen Zusammenhang verwendet; allerdings nur andeutungsweise und nicht in einer solchen umfassenden Konzeption wie Gustav Walz sie vorlegt; vgl. A. Verdross, Le fondement du droit international, in: RdC, I, Nr.16, 1927, S. 247-323, hier S. 289. 304 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 5 (Hervorhebung im Original). 305 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.5-6. 306 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.4, S. 6, S. 18 und S. 20. 9 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Die Folge sei, daß keine Völkerrechtsordnung als solche mehr existiere. Weil es auch bei dieser Rechtsauffassung keine allumfassende Rechtsordnung gibt, ist sie nach Ansicht von Walz nur als pluralistische Gliederung einzuschätzen. 307 Seine dritte Variation der pluralistischen Gliederung beschreibt Walz als Konzeption, die aus grundsätzlich rechtlich selbständigen Rechtssystemen besteht. Prinzipiell schaffen sie selbst ihre eigenen Rechtsnormen. Dennoch sind sie teilweise mit einer anderen Rechtsordnung, die dazu hierarchisch übergeordnet ist, in rechtlicher Hinsicht zusammenhängend und durch sie gebunden: In der Tat sieht Walz demnach die verschiedenen nationalen Rechtsordnungen sowie die Völkerrechtsordnung als eigenständige, nicht auflösbare Rechtssysteme an, die sich im Rahmen bestimmter Rechtsbereiche in einer "objektiv-rechlichen Verstrickung"308 befinden. Diese dritte Version stellt Walz als eine Gliederungsmöglichkeit dar, der im Rahmen seiner Untersuchung des Verhältnisses der Rechtsordnungen erstmalig Beachtung geschenkt wird. 309 Die Intention von Walz, die Lehre Triepels in dieses pluralistische Rechtsordnungsschema einzuordnen, ergibt kein sofort eindeutiges Ergebnis: Zunächst erscheint ihm die erste Variation zutreffend zu sein, weil Triepel die Trennung von Völkerrecht und Landesrecht deutlich herausstellt. Dennoch erkennt Walz auch in der Triepelschen Konstruktion eine teilweise rechtliche Verbindung zwischen den beiden Rechtsordnungen, die durch die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landesrechts entstehen können. Folglich kommt Walz zum Ergebnis, daß die Lehre Triepels der dritten Variation der pluralistischen Gliederung entspricht. 3IO Den grundlegenden Gegensatz zwischen den pluralistischen Konzeptionen und der monistischen Rechtsauffassung hebt Walz in diesem Zusammenhang besonders hervor: Die Grundhaltung des Monismus äußert sich in der Anerkennung nur einer 307 Die Tatsache, daß in der Völkerrechtsliteratur unter genau diesem Rechtsordnungskonzept eine monistische Rechtslehre verstanden wird, beurteilt Gustav Walz als einen Irrtum: "Die Literatur befindet sich gerade hier in einer starken Verworrenheit, indem sie schlechthin die Tatsache der Auflösung des Völkerrechts in das nationale Rechtssystem, beziehungsweise in die nationalen Rechtssysteme als Kriterium einer monistischen Konstruktion genügen läßt und den fundamentalen Unterschied nicht beachtet, der zwischen jener Konstruktion besteht, die das Völkerrecht und die übrigen Staatsrechtsordnungen in der eigennationalen Staatsrechtsordnung rechtlich grundlegt, und zwischen jener anderen Konstruktion, die zwar das Völkerrecht in den verschiedenen Staatsrechtsordnungen auflöst, diese aber als selbständige Rechtsordnungen nebeneinander bestehen läßt." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 6-7. Die in diesem Zitat zuerst genannte Version definiert er als "staatsmonistische Rechtsordnungsgliederung" (S. 10). Die zweitgenannte Version nennt er "pseudomonistischer Konstruktionsversuch" (S. 10), wobei Walz genau diese als zweite Variation seiner pluralistischen Gliederung ansieht. J08 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 7. J09 Bei diesem kurzen Profil der dritten Variante der pluralistischen Rechtsordnungskonzeption sind ganz eindeutig sowohl Verbindungen und Gemeinsamkeiten mit der dualistischen Lehre Heinrich Triepels als auch ganz neue Elemente, die Gustav Walz andeutet, zu erkennen. JIO Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.20-21.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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einzigen Rechtsordnung, welche aus von ihr abgeleiteten Teilkomplexen 311 besteht. 312 Für die pluralistische Rechtsordnungsgliederung existiert diese eine Rechtsordnung lediglich als Summe der einzelnen, selbständigen Rechtsordnungen, während der Monismus nur der Einheit dieser Rechtsordnung einen Rechtscharakter zuerkennt. 313 Zu den beiden Ausprägungen der monistischen Lehre vertritt Walz klare Standpunkte: Wahrend er die monistische Konstruktion mit Primat des Völkerrechts als "konsequenteste und natürlichste"314 Variante wertet, steht er der Art und Weise, wie die monistische Konstruktion mit Primat des Staatsrechts von der Völkerrechtsliteratur aufgefaßt wird, kritisch gegenüber. 315 Aufgrund der Auflösung der Völkerrechtsnorrnen in die verschiedenen Staatsrechtsordnungen wertet er diese Lehre als "pseudomonistischen Konstruktionsversuch"316 und ordnet sie grundsätzlich unter die zweite Art seiner pluralistischen Rechtskonzeption ein. Das Wesen der zweiten Auffassung über die monistische Konzeption mit Staatsrechtsprimat liegt nach Ansicht von Walz darin, daß eine bestimmte staatliche Rechtsordnung das Fundament der monistischen Gliederung ist. Sowohl das Völkerrecht als auch alle anderen nationalen Rechtsordnungen - einschließlich ihres jeweils speziellen Völkerrechts - gelten als delegierte Teilbereiche dieser einen, besonderen Staatsrechtsordnung. Obwohl nach Ansicht von Walz jener Gliederungsversuch als "absurd"317 erscheinen muß, erkennt er ihn als die "echt staatsmonistische Rechtsordnungsgliederung"318 an. 319
311 Gustav Walz lehnt den Begriff "Teilordnungen" ab und favorisiert die Bezeichnungen "Teilgebiete" und "Rechtskomplexe", weil innerhalb der monistischen Rechtslehre keine verschiedenen, unabhängigen Rechtsordnungen existieren, sondern nur eine umfassende Rechtsordnung vorhanden ist, welche die Einheit aller Teilgebiete bildet; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.7-8. 312 Dazu 4. Teil, 2., 3. und 4. Kap. 313 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 7. 314 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 8. 315 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.8-9. 316 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 10. 317 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 9. 318 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.IO. 319 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 9-10. Gleichzeitig schlußfolgert er jedoch, daß sich aus dieser Variation unabwendbar eine prinzipiell pluralistische Rechtsauffassung ergibt, weil seiner Ansicht nach keine nationale Rechtsordnung als bevorzugter Ausgangspunkt vorbestimmt sein kann. Eine weitergreifende Konstruktion ergibt sich dann, wenn die jeweils eigene nationale Rechtsordnung als Ausgangspunkt des Staatsrechtsprimats angesehen wird. In einem solchen Fall ist das Ergebnis eine Vielzahl monistischer Gliederungen mit dem Primat von jeweils verschiedenen nationalen Rechtsordnungen. Gustav Walz nennt jene Spielart ein "pluralistisch wahlweise bestimmbarer Rechtsrnonismus" (S. 10) und drückt jedoch aufgrund "rechtslogischer Bedenken" (S. 10) deutlich seine ablehnende Haltung gegenüber dieser Rechsauffassung aus.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
b) Die pluralistische Rechtsordnungsgliederung aufgrund der Tatsachen der Rechtserfahrung Auf der Grundlage einer differenzierten Analyse 320 der bestehenden wesentlichen Lehren über das Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht entwickelt Walz seine eigenen Thesen "an Hand der Rechtserfahrung"321. Seine Ergebnisse stehen dabei in einem engen Bezug zu den Lehren Heinrich Triepels und Dionisio Anzilottis. Unzweifelhaft stellt sich für ihn das Völkerrecht als ein System aus positiven Rechtsnormen dar, welche für die Staaten verbindlich sind. 322 Damit bejaht Walz die Rechtsnatur des Völkerrechts und verneint die unmittelbare Geltung der Völkerrechtsnormen innerhalb der staatlichen Rechtsordnungen. Individuen können also nur durch Normen des nationalen Rechts gebunden werden. Nach Ansicht von Walz hat es eine besondere Bedeutung, daß die Völkerrechtssubjektivität auf die Staaten begrenzt ist, obwohl letztlich nur die Individuen dem Recht verantwortlich und unterworfen sind: Um eine "Verbindung zur faktisch-realen Welt"323 zu schaffen, setzen sich die Völkerrechtsnormen sehr wohl in Beziehung zu Sachlagen und Verhaltensweisen der Individuen. In diese Verbindung flechten sich die direkt verpflichtenden staatlichen Normen ein. Damit existiert der gegenwärtige rechtliche Charakter des Völkerrechts insbesondere in Form seiner "Mediatisierung"324 durch die Normen des staatlichen Rechts: Das Völkerrecht beansprucht bei der Ausführung seiner Normen notwendigerweise diese Rechtsnormen und die Möglichkeiten der Staatsrechtsordnung. 325 Daraus erklärt sich für Walz auch die innerstaatliche Gültigkeit einer völkerrechtswidrigen staatlichen Norm: "Darum endet die unmittelbare rechtliche Macht des Völkerrechts an den Schranken der Staatsrechtsordnung, die allein durch Staatsrechtsakt, nicht aber durch Völkerrechtsakt, unmittelbar abgeändert werden kann."326 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.ll-l64. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 165. Gustav Walz ist überzeugt, "daß der richtige Weg zu einer Theorie des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht allein über die Rechtserfahrung führen kann, daß jede apriorische Konstruktion vermieden werden muß, gleichviel ob sie nun von angeblich logischen Axiomen oder von politischen Postulaten ihren Ausgang nimmt." (S. 165). 322 Gustav Walz diskutiert das Problem, ob dem Völkerrecht Rechtscharakter zukommt, ausführlich in seiner Abhandlung "Wesen des Völkerrechts und Kritik der Völkerrechtsleugner". 323 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 239. 324 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.239; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 255. 325 Für Gustav Walz folgt aus diesem Rechtszustand, "daß der eigentliche Sinn und Zweck des Völkerrechts auf eine entsprechend völkerrechtsgemäße Ausgestaltung der Staatsrechtsordnungen gerichtet ist; daß andererseits das staatliche Recht heute in weitestem Umfange von den Normen des Völkerrechts beeinflußt wird, wenn auch nach dem derzeitigen Rechtszustand die Völkerrechtswidrigkeit einer staatsrechtlichen Norm an sich nicht deren automatische Ungültigkeit zur Folge hat." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.487. 326 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 239. Auf der Seite des Dualismus dagegen wird dieser Zusammenhang anders aufgefaßt, so Z. B. von Alexander Hold-Ferneck: "Der Staat 320 321
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Aus diesen Erkenntnissen schlußfolgert Walz die derzeitigen zentralen Diskussionspunkte: Wie bereits Triepel und Anzilotti erkennt auch Walz das Völkerrecht als eine grundsätzlich eigenständige verbindliche Rechtsordnung an, die hierarchisch über den staatlichen Rechtsordnungen steht, weil diese durch die Völkerrechtsnormen gebunden werden. 327 Im Rahmen des Völkerrechts können demzufolge Verpflichtungen, Ermächtigungen und Berechtigungen für die Staatsrechtsordnungen fixiert werden. Gleichzeitig jedoch kann keine Völkerrechtsnorm unmittelbar in den innerstaatlichen Wirkungskreis der Staatsrechtsordnungen eindringen. In der Tat erlangt deshalb die völkerrechtliche Verantwortung aller Staaten für das Handeln der ihnen jeweils angehörenden Individuen sowie für die völkerrechtsgemäße Ausgestaltung ihrer Rechtsordnungen essentielle Bedeutung. Die möglichen negativen Konsequenzen erachtet Walz als äußerst unerwünscht: "Um seine Normen gegen einen renitenten Staat positivieren zu können, bedarf es erst jenes umständlichen völkerrechtlichen Sanktionsapparats, der aber wiederum erst eine mittelbare Änderung des völkerrechtswidrigen Staatsrechtszustandes erreichen kann, wenn auch die moralische, physische, ökonomische Macht des Einsatzes praktisch tatsächlich weithin das vom Völkerrecht erstrebte Ziel erreichen wird."328 Darüber hinaus bezieht Walz allerdings auch noch einen weiteren Aspekt in seine Untersuchungen mit ein. Unbestreitbar gibt es für ihn Beispiele der Rechtserfahrung, bei denen Völkerrechtsnormen nicht nur die Staaten unmittelbar rechtlich binden, sondern auch die Individuen und die Administration direkt verpflichten und berechtigen können. 329
Walz bezieht sich dabei auf Fälle der amerikanischen und deutschen Staatenpraxis und nennt insbesondere das deutsch-polnische Abkommen über Oberschlesien vom 15. Mai 1922, das unter anderem bestimmt, daß gewisse Rechtsvorschriften dieses Staatsvertrages unmittelbare innerstaatliche Geltung entfalten. Darüber hinaus wird der Vorrang dieser völkerrechtlichen Normen gegenüber widersprechensteht also trennend zwischen Landesrecht und Völkerrecht"; A. Hold-Ferneck, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 111. 327 "Es erweist sich somit das Völkerrecht als historische Erscheinungsform der allgemeineren Figur eines echten interkorporativen Rechtssystems, dessen Eigentümlichkeit darin besteht, rechtlich organisierte Kollektivpersonen (in unserem Fall Staaten) mit seinen Normen unter Verwendung des Prinzips der Kollektivhaftung der beteiligten korporativen Gesamtsysterne zu überspannen, womit jene eigentümliche Zäsur in der Aktualisierung der Rechtsnormen verbunden ist, die wir am besten als korporative Geltungsmediatisierung bezeichnen." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.240. 328 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 239. 329 Gustav Walz bezeichnet sie in bezug auf den amerikanischen Fachausdruck "self-executing"-Normen des Völkerrechts, die beabsichtigen, auch das Individuum zu verpflichten und zu berechtigen. Eine solche Norm muß also hinsichtlich der durch sie festgelegten Rechte und Pflichten bestimmt genug sein, damit sie unmittelbar anwendungsfahig ist; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.249; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 255-256 und S. 550.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
dem staatlichem Recht ausdrücklich hervorgehoben. 330 Am 11. Juni 1922 erfolgte die Zustimmung zum Abkommen durch ein Reichsgesetz. Daraus schlußfolgert Walz, daß in der Rechtspraxis auch die unmittelbare Geltung einer Völkerrechtsnorm nur in Verbindung mit einer staatsrechtlichen Legitimation in Form eines Zustimmungsgesetzes garantiert wird. Er sieht darin eine Bestätigung bezüglich jener Untersuchungsergebnisse Triepels, Anzilottis und Lassa Oppenheims 331 , die aussagen, daß das Völkerrecht in seiner gegenwärtigen Konzeption keinesfalls aus seiner eigenen Rechtskraft heraus eine unmittelbare Geltungsstreckung auf den Einzelnen erzielen kann. Dazu ist ihrer Meinung nach das Handeln der nationalen Rechtsquelle erforderlich, wodurch eine Norm des Völkerrechts durch eine staatliche Rechtsnorm in innerstaatliches Recht transformiert wird. Aufgrund der Verschiedenheit der Quellen sind die Völkerrechtsnorm und die nationale Norm zwei ganz und gar rechtlich differierende Regeln. 332 Walz bewertet die Analyse als "juristisch und logisch völlig einwandfrei" 333 , und seiner Ansicht nach gelang es mit diesen Thesen der dualistischen Rechtsauffassung, den Zusammenhang zwischen Völkerrecht und den staatlichen Rechtsordnungen aufzudecken und zu ordnen. 334 Dennoch erachtet Walz die Trennung der völkerrechtlichen und staatlichen Normen im Sinne der Transformationslehre als nicht erforderlich und versucht deshalb, diesem wesentlichen Problemkreis eine neue "theoretische Formulierung" zu geben. 335 Kernpunkt seiner These ist der Standpunkt, daß die im Rahmen der Völkerrechtsordnung gesetzte Norm mit unmittelbarer Bindungswirkung ihre ungeteilte Grundgestalt behalten kann - also keine transformierende Rechtsetzung erfolgen 330 Dieser bedeutende Artikel 73 der Genfer Konvention lautet: ,,1. La Pologne et l'Allemagne s' engagent iI ce que les stipulations contenues dans les articles 66, 67 et 68 soient reconnues comme lois fondamentales, iI ce qu'aucune loi, aucun reglement, ni aucune action officiell, ne soient en contradiction ou en opposition avec ces stipulation, et iI ce qu'aucune loi, aucun reglement et aucune action officielle ne pft:valent contre elles. 2. Les tribunaux et cours de justice, y compris les tribunaux administratifs, mitliaires et les tribunaux extraordinaires, sont competents pour examiner si les dispositions legislatives ou administratives ne sont pas contraires aux stipulations de la presente partie." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 240-241. Der Absatz 2 bestimmt demnach auch noch ein Recht der Gerichte, die Widerspruchsfreiheit anderer Vereinbarungen gegenüber diesem Abkommen zu prüfen. 331 Lassa Oppenheim gilt als Vertreter der dualistischen Lehre; vgl. z. B. L. Oppenheim, International Law, S. 35-44; F. Malekian, The system of internationallaw, S. 62-64. 332 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.242. 333 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.242. 334 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.242. 335 "Obwohl ich diese klare Scheidung für den schlechthin entscheidenden Schritt einer exakt juristischen Erfassung des Völkerrechts halte, durch den die alte naturrechtliche, stimmungsmäßig wechselnde molluskenhafte Behandlung ein für allemal erledigt sein sollte, glaube ich doch, diesem Tatbestand eine etwas andere theoretische Formulierung als die der klassischen dualistischen Theorie geben zu müssen. Hierbei freilich handelt es sich vornehmlich um theoretische Verschiebungen, die sich nurmehr schwer empirisch beweisen lassen, weil sich beide Theorien auf demselben positiven Material aufbauen." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 242.
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soll. Dabei sprechen seiner Meinung nach nicht Argumente der Logik, sondern vielmehr ökonomische Gründe für diese Denkweise: "Die Schwierigkeit liegt einfach darin, die äußere einheitliche Erscheinungsform des Staatsvertrags, der ,allgemein anerkannten Regel des Völkerrechts' usw., deren rechtliche Bindung sich nicht nur auf Staaten, sondern auch auf Individuen erstreckt, durch das Seziermesser des juristischen Chirurgen aufteilen bzw. duplizieren zu lassen. Die objektive Formulierung der maßgeblichen Rechtsinstrumente sieht nun einmal nur eine einheitliche sprachliche Formel vor und kennt nicht zwei verschiedene Ausdrucksformen. Die juristische Ökonomie bedarf aber meiner Ansicht nach auch gar nicht dieser äußeren Hypostasierung der rein ideell-normativen Duplizität. .. 336
Im Sinne der erforderlichen Mediatisierung des Völkerrechts, die auch in diesem Fall nicht außer acht zu lassen ist, ist dennoch ein staatlicher Rechtsakt notwendig, damit die Völkerrechtsnorm die Grenzen des innerstaatlichen Bereichs durchdringen kann. Der Akt ist mit dem Entstehungsprozeß der Völkerrechtsnorm inhärent verbunden - im oben genannten Beispiel bestand er aus dem nationalen Zustimmungsgesetz der am Abkommen beteiligten Staaten. Demnach ist ein solcher Staatsakt nicht mit einem Transformationsvorgang vergleichbar; denn er ermöglicht lediglich die "Geltungserstreckung"337 der Völkerrechtsnorm in den Bereich des Staatsrechts. Die Setzung einer neuen selbständigen staatlichen Rechtsnorm erfolgt nicht. Dies bedeutet für Walz, daß damit die Einheitlichkeit der Norm gewahrt bleibt, weil letztlich "nur eine äußere Formulierung, nur eine Konkretisierung"338 auftritt. Das Wesen einer solchen - den Einzelnen unmittelbar verpflichtenden - Norm liegt darin, daß sie durch einen völkerrechtlichen Vorgang entstanden ist und als völkerrechtliche Norm in Erscheinung tritt. Allerdings ist ihre Geltung für die Individuen allein auf das staatliche Tatigwerden zurückzuführen, wodurch der Charakter dieser Norm nicht mehr ausschließlich völkerrechtlicher, sondern gleichzeitig auch staatsrechtlicher Natur ist. 339 Durch einen nationalen Zustimmungsakt wird also die Geltung der völkerrechtlichen Norm teils als solche, teils aber auch als staatsrechtliche Norm erlaubt. Aus jenem Begründungszusammenhang heraus prägt Walz den Begriff "Völkerrecht im formellen Sinn"340. Diese besondere Gruppe von Rechtsnormen trennt er bezüglich Wesen, Geltungsbereich und hinsichtlich ihrer Einwirkungsform in das nationale Recht völlig vom charakteristischen Völkerrecht, das als Rechtssubjekte nur Staaten kennt: 336 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 242-243 (Hervorhebung im Original). Die geforderte Einheitlichkeit der Rechtsnorm steht nach Meinung von Gustav Walz in Einklang mit der Rechtswissenschaft (vgl. S.243). In bezug auf die einheitliche Erscheinung der Völkerrechtsnorm bezieht sich Walz auch auf die Thesen Paul Heilborns; vgl. P. Heilborn, Der Staatsvertrag als Staatsgesetz, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Band XII, 1897, S. 141 ff. 337 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.260. 338 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.243 (Hervorhebungen im Original). 339 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.243-244. 340 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.244; kritisch dazu H. Drost, Grundlagen des Völkerrechts, S.I13-114, Fußnote 2.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
"Hiervon scharf zu scheiden sind jene anderen Völkerrechtsnormen, deren bindende Kraft infolge des mit dem maßgeblichen Völkerrechtsakt verkoppelten Staatsrechtsakts durch die Staaten hindurch unmittelbar auf die Einzelnen erstreckt wird. Weil gerade letztere Wirkung niemals von Völkerrechts wegen (wenigstens nach dem derzeit bestehenden positiven Recht), sondern allein von Staatsrechts wegen rechtlich erreicht wird, wie aber diese Ausdehnung der Rechtsverbindlichkeit andererseits ohne ausdrückliche Setzung einer neuen selbständigen Norm erfolgt, darum nennt man diese einheitlichen aus dem Völkerrecht stammenden, in ihrer Geltung kraft Staatsrechtens unmittelbar auf Individuen erstreckten Normen mit Recht Völkerrecht im formellen Sinn."34\
Walz bezeichnet dieses andere Völkerrecht als das "reine"342 Völkerrecht. Es ist ausnahmslos auf die beteiligten Staaten gerichtet und wirkt auf sie immer in seinem ursprünglichen völkerrechtlichen Wesen. Konsequenterweise hat Walz diese Art von Völkerrechtsnormen mit dem Ausdruck "Völkerrecht im materiellen Sinn"343 charakterisiert. Für jenen Normenkomplex erkennt Walz ohne Vorbehalte die Erkenntnisse der dualistischen Lehre an, was bedeutet, daß auch seiner Meinung nach die Mediatisierung der Völkerrechtsnormen auf dem Weg der staatlichen Transformation zu erfolgen hat. Verbunden damit ist für ihn zugleich eine Setzung innerstaatlicher Normen, um so die Berechtigung und Verpflichtung von Individuen zu verwirklichen. Demnach ist das bestehende Völkerrechtssystem nach Walz in Völkerrechtsnormen im materiellen Sinn und in Völkerrechtsnormen im formellen Sinn einteilbar. Beispiele, die mit seiner Analyse und seinen Thesen in Einklang stehen, findet Walz innerhalb des positiven Rechtsmaterials innerhalb des Staatenverkehrs. Exemplarisch nennt er Artikel des Reichswehrgesetzes von 1921 und die Bestimmungen der Genfer Konvention von 1922, deren Inhalte seiner Meinung nach mit den beiden gegenSätzlichen Völkerrechtsbereichen zu erklären sind. 344 Die zusammenfassende Bewertung der dargestellten Thesen lassen Walz als Vertreter einer dualistischen - respektive pluralistischen - Rechtsordnungskonstruktion erscheinen. Der monistischen Rechtsauffassung mit Primat des Völkerrechts steht er völlig ablehnend gegenüber; denn er vertritt die Auffassung, daß das Völkerrecht den Staatsrechtsordnungen zwar übergeordnet ist, aber nicht im Sinne eines Delegationsverhältnisses: " ... seine [das Völkerrecht] unmittelbare Rechtsgeltung endet an dem positiven Bestand der Staatsrechtsordnungen, die nach eigenen immanenten Rechtsgesetzen ihre Normen bestimmen und insofern die Völkerrechtsgeltung stets mediatisieren, wenngleich das Völkerrecht als echte Rechtsordnung sich mit der Verletzung seiner Normen durch die Staaten nicht abfindet, sondern seinen ganzen Sanktionsapparat zur Durchsetzung und Einhaltung seiner Normen einsetzt."345 34\ G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.244-245 (Hervorhebung im Original). 342 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 244. 343 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 244 (Hervorhebung durch den Verfasser). 344 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 245-248. 345 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 255 (Hervorhebung im Original).
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Den unausweichlichen Endpunkt eines konsequent entwickelten Monismus mit Völkerrechtsprimat sieht Walz in der civitas maxima. Er deutet diese Lehre als "rechtspolitischen Zukunftstraum"346 und nicht als "positive Theorie"347, weil ein solcher Entwurf in einem augenfälligen Gegensatz zur Rechtswirklichkeit steht. Ganz offensichtlich erachtet Walz aber auch den strengen Dualismus, wie ihn Heinrich Triepel entworfen hat, als nicht annehmbar. Ausschlaggebend dafür ist die Gewißheit, daß die Staatsrechtsordnungen zum Teil durch Normen des Völkerrechts verpflichtet, ermächtigt und berechtigt werden können und entsprechend handeln. Daher bestehen seiner Ansicht nach unbestreitbar rechtliche Zusammenhänge zwischen der Völkerrechtsordnung und den staatlichen Rechtsordnungen. Aufgrund dieser Tatsache stellt Walz fest, daß "durch das völkerrechtsgemäße Landesrecht (bzw. durch die Geltungserstreckung von Völkerrecht im formellen Sinn) eine positive Kontinuität zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht gegeben ist..."348
Infolge dieses Beziehungsgeflechts, das die staatlichen Rechtsordnungen teilweise selbständig und teilweise in rechtlicher Verknüpfung mit dem Völkerrecht erscheinen läßt, streitet Walz eine grundsätzliche Konfliktmöglichkeit nicht ab. 349 Dessen ungeachtet ist Walz in Einklang mit der streng dualistischen Lehre, wenn er für die Völkerrechtsnormen im materiellen Sinn eigens ein spezielles "staatsrechtliches Ausführungsgesetz"350 für obligatorisch hält. Mit dem gleichen Selbstverständnis bejaht er eine weitere grundlegende These des Dualismus: Nämlich, daß ein staatsrechtliches Handeln in Folge einer völkerrechtlichen Verbindlichkeit im materiellen Sinn auch die Regelung eines völkerrechts widrigen Landesrechts beinhalten kann. Die innerstaatliche Gültigkeit einer solchen Norm ist gegeben, wenn nur die eigenstaatlichen Vorschriften berücksichtigt werden. 351 Die aufgezeigten Eckpunkte dieser Lehre lassen erkennen - und Walz gesteht dies auch ein -, daß er mit seinen Thesen eine Annäherung zwischen dualistischer und monistischer Rechtsauffassung erstreben möchte. Dabei ist für Walz die dualistische Auffassung der rechtlichen Sachverhalte das Fundament seiner grundlegenden Aussagen, die nach seinem Verständnis gleichermaßen als Bestätigung wie auch Fortentwicklung des damals gelehrten Dualismus aufzufassen sind: 352 346 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 256. 347 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.256. Auch neuere Thesen zur Fortentwicklung der monistischen Rechtslehre, welche das Delegationsverhältnis von Völkerrechtsordnung und staatlicher Rechtsordnung leicht verändert konzipieren, lehnt Gustav Walz als Lösungsansatz ab (v gl. 256-259). 348 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 260 (Hervorhebung im Original). 349 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 261. Der gleichen Ansicht ist Heinrich Drost; vgl. H. Drost, Grundlagen des Völkerrechts, S. 128. 350 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.249. 351 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 260-261. 352 "Ich meine, auf die im Text vorgetragene Lösung könnten sich ,Dualisten' und ,Monisten' einigen. Die Einheit der Norm ist durch diese Theorie gewahrt. Sie setzt sich aber ande-
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
"Die Variation gegenüber der üblichen älteren Formulierung der dualistischen Theorie liegt mehr in der Konstruktion als in der Sache .... Der Unterschied gegenüber der Konstruktion der alten dualistischen Theorie ist also letzten Endes eine Sache der juristischen Ökonomie, oder - wenn man so will - der juristischen Psychologie. Da die eine Konstruktion logisch und juristisch ebenso möglich ist wie die andere, können nur Zweckmäßigkeitsgründe entscheiden. Es wird abzuwarten sein, welche der beiden Formulierungen von der Praxis aufgegriffen werden wird."353
Fraglich ist, ob diese Rechtsauffassung von Walz tatsächlich nur als eine andere Form der dualistischen Lehre aufzufassen ist. Insbesondere bezüglich jener Völkerrechtsnormen, die sich direkt auf die Einzelnen beziehen und sich aus Gründen der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit kraft staatlichem Rechtsakt auf diese unmittelbar erstrecken, sind grundlegende Unterschiede feststellbar. Denn mit dem Wegfall der Transformation tritt lediglich eine Abfassung - nämlich die im Rahmen des Völkerrechts erzeugte Norm - nach außen in Erscheinung. Die Mitwirkung des Staatsrechts an der innerstaatlichen Geltung der Völkerrechtsnorm erübrigt sich hierbei jedoch nicht völlig; sie beschränkt sich allerdings auf die Zustimmung zum neu entstehenden Völkerrecht, die gleichzeitig auch die Geltungserstreckung der Norm auf den innerstaatlichen Bereich beinhaltet. Wie bereits angesprochen, macht dieser Begründungsprozeß auch das Wesen des "formellen Völkerrechts" aus: Seine Wirkung ist teils völkerrechtlicher, teils staatsrechtlicher Natur. Es ist folglich festzustellen, daß sich die von Walz als "ideel-normative Duplizität"354 bezeichnete äußere Aufteilung der ursprünglich völkerrechtlichen Normen der dualistischen Lehre Heinrich Triepels und Dionisio Anzilottis in eine innere Gespaltenheit dieser Normen gewandelt hat. Ausgehend von jenem Gesichtspunkt ist die Rechtsordnungskonstruktion von Walz nicht nur als eine formale Variation des ursprünglichen Dualismus zu beurteilen, sondern stellt sich vielmehr als echte Fortentwicklung der dualistischen Rechtsauffassung dar. Neben diesen Erkenntnissen bilden speziell die These, daß die staatlichen Rechtsordnungen zum Teil durch das Völkerrecht rechtlich gebunden werden können, sowie die aktive Berücksichtigung der Vielheit der staatlichen Rechtsordnungen die Grundlage der Rechtsauffassung von Walz. Er charakterisiert sie als ,,pluralistische Gliederung des Rechtsuniversums, innerhalb dessen die einzelnen Staatsrechtsordnungen teilweise - aber auch nur teilweise - durch die Normen des Völkerrechts rechtlich gebunden werden, in der insbesondere die einzelnen teilweise verbundenen Rechtsordnungen selbst innerhalb dieser partiellen Rechtsverbundenheit grundsätzlich die Möglichkeit dissentierender rechtlicher Normierung haben, weil eben die Geltung der verbindenden Staatsrechtsordnungen mediatisiert ist, und weil diese im Konfliktsfall nach imrerseits in keiner Weise vermittelst rein logischer Deduktionen über unstrittige rechtliche Gegebenheiten, wie sie die ,dualistische' Theorie ein für allemal gültig aufgezeigt hat, hinweg." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 248-249, vgl. S.250. 353 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 249 und S. 250. 354 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 243.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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manenten autonomen Rechtsprinzipien ihre unmittelbar verbindenden Normen erlassen."355
Ganz offensichtlich ist damit die Rechtsordnungskonzeption von Walz der dritten Variation seines pluralistischen Gliederungssystems zuzuordnen, deren Wesen insbesondere durch die "teilweise Anerkennung einer rechtlichen Kontinuität im Verhältnis zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht"356 geprägt wird. Für Walz ist weder die absolute rechtliche Unterordnung des Staatsrechts, wie sie in der ursprünglich monistischen Lehre vertreten wird, noch die von den Befürwortem des strengen Dualismus proklamierte ausnahmslose Ungebundenheit der Rechtsordnungen mit der Rechtswirklichkeit vereinbar. Demgegenüber stellen seine Untersuchungen für bestimmte Rechtsnormbereiche starke rechtlich-funktionelle Zusammenhänge zwischen dem Völkerrecht und den staatlichen Rechtsordnungen - bei grundsätzlich pluralistischer Konzeption - fest. In diesem Zusammenhang ist das Völkerrecht aufgrund seiner Verpflichtungskraft den staatlichen Rechtsordnungen übergeordnet. Gleichzeitig erlangt das Völkerrecht seine innerstaatliche Wirkung nur auf dem Weg der Mediatisierung - sei es in Form einer Transformation oder Geltungserstreckung - durch die Staatsrechtsordnungen. 357 Genau in dieser so entscheidenden Fähigkeit erkennt Walz das Wesen der staatlichen Souveränität. 358 Unter solchen Umständen formuliert er die abschließende Wertung seiner Lehre prägnant: "Allein diese letztere pluralistische Rechtsordnungsgliederung [mit teilweiser positiv-rechtlicher Verbindung durch das Völkerrecht] erweist sich als die dem heutigen internationalen positiven Rechtszustand angemessene Theorie. Sie baut sich unter Verwendung eines Mindestmaßes von logisch-systematischen Elementen in unmittelbarer Fundierung auf, indem sie diese einem höheren juristischen Zusammenhang systematisch einordnet. ,,359
Auch wenn Walz damit seinen Standpunkt deutlich darlegt, bemerkt er gleichzeitig, daß sich ein übergenau-scharfzüngig ausgetragener Konflikt zwischen monistischer und dualistischer - bzw. pluralistischer - Rechtsauffassung als nutzlos herausstellt: Werden die gegensätzlichen Positionen dargelegt und exakt ausformuliert, so G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 261 (Hervorhebungen im Original). G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.264. 357 "Das Völkerrecht würde ohne Ergänzung durch die staatsrechtlichen Normen überhaupt völlig sinnlos und gegenstandslos: die staatlichen Rechtsordnungen ihrerseits aber erhielten durch die Eliminierung der Völkerrechtsnormen die allerempfindlichste Lücke im System, wenn sie auch als selbständige isolierte Rechtsordnungen mit entsprechenden Modifikationen weiterbestehen könnten." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.487. 358 Auch aus diesem Grund steht Gustav Walz der monistischen Lehre vom Verhältnis der Rechtsordnungen ablehnend gegenüber, weil eines der Ergebnisse jener Lehre die Konzeption der staatlichen Rechtsordnungen als Subsysteme der Völkerrechtsordnung sei; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.264. 359 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.264. Darüber hinaus erkennt er das enge rechtliche Beziehungsgeflecht zwischen den Rechtssystemen in Verbindung mit den Tatsachen der Rechtserfahrungen auch als ein Argument für die Existenz der Rechtsnatur des Völkerrechts an; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.487. 355
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
ist zu erkennen, daß jene Streitpunkte mit praktischer Bedeutung größtenteils im Grunde von jeder Seite übereinstimmend beurteilt werden. Dabei bezieht er sich auf Fragestellungen bezüglich dem Rechtscharakter des Völkerrechts, der Geltung von völkerrechtswidrigem Landesrecht und der Mediatisierung von Völkerrechtsnormen. 360 Walz deutet ganz offensichtlich die Kontroverse um das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht in erster Linie als rechtstheoretische Auseinandersetzung über die Konstruktion der Rechtsordnungen und weniger als Diskussion über ihre praktischen und anwendbaren Konsequenzen. Er fordert deshalb die Rechtswissenschaft dazu auf, in verstärktem Maß die rechtlichen Tatsachen und Normen der Staatenpraxis in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. 361 Darüber hinaus formuliert Walz eine Aufforderung bezüglich der nur mäßigen Einwirkungen des Völkerrechts auf die Ausgestaltung der staatlichen Rechtsordnung, vor allem hinsichtlich der Einschreitungsmöglichkeiten bei der Geltung von völkerrechtswidrigem Landesrecht. In einem solchen Fall sollte nach Ansicht von Walz das Völkerrecht nicht mehr ausschließlich auf die Hilfe des staatlichen Rechts angewiesen sein, sondern vermehrt selbst auf die Staatsrechtsnormen einwirken können. Verhindert wird eine solche Entwicklung seiner Meinung nach hauptsächlich durch "die offenbare Ungerechtigkeit der derzeit bestehenden internationalen Rechtsverhältnisse, wie sie in grober Mißachtung der anerkannten Gebote der Gerechtigkeit von den sogenannten Friedensverträgen geschaffen worden sind. Wie soll man dem gesunden Rechtsempfinden eines Volkes zumuten, seine in langer historischer Entwicklung erkämpfte nationale Rechtsordnung in entscheidenden Punkten zugunsten internationaler Bestimmungen aufzuopfern, die von einseitiger Macht diktiert, von Vernichtungs willen beherrscht, allenthalben als gröbste Ungerechtigkeit empfunden werden?"362
Walz schlußfolgert hieraus, daß eine positive Völkerrechtsentwicklung nur durch die Aufnahme grundlegender Rechtsprinzipien, die bereits zu fundamentalen Elementen der staatlichen Rechtsordnungen geworden sind, erreicht werden kann. Erste Anzeichen für einen solchen Prozeß sieht er beispielsweise im Artikel 38 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, der - nach Auffassung von Walz - die bereits in der völkerrechtlichen Staatenpraxis angewandten allgemeinen 360 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.264-265. 361 "Aber da die wissenschaftliche Theorie nicht die Aufgabe einer geheimen Expedierung politischer Wunschträume hat, sondern die einer möglichst exakten korrekten systematischen Erfassung des positiven Rechtserfahrungsmaterials, so sollte man vernünftigerweise diesen heute ziemlich unfruchtbaren Tummelplatz verlassen und sich die Hände zu praktischer Arbeit reichen." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 265. Einige Jahre später, nämlich 1937, wird eine andere Meinung von Walter Schiffer vertreten, dem eine Problemlösung durch die internationale Praxis nur in Verbindung mit der Untersuchung der theoretischen Grundlagen möglich erscheint. In dieser Zeit befand sich die internationale Staatengemeinschaft bereits in einem außergewöhnlichen Spannungsverhältnis; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 7. 362 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.488.
I. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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Rechtsgrundsätze in das Gefüge des Völkerrechts aufnimmt. 363 Nur auf diesem Weg kann es seiner Meinung nach gelingen, die nationalstaatlichen Hindernisse abzubauen. Resümierend stellt er dennoch positiv fest: "Aber wie auch die Entwicklung der Zukunft sein möge: das eine sollte als sicheres Ergebnis dieser Untersuchungen gebucht werden können, daß heute schon ein vielfältiges Netz rechtlicher Verbindungen zwischen Völkerrecht und Landesrecht besteht; und daß die Institute der völkerrechtlichen Vollzugsgarantie des Landesrechts einen wesentlichen Zug in der Struktur der modernen staatlichen Rechtsordnungen darstellen."364
3. Die Rechtsauffassung Ulrich Scheuners In diesem Zusammenhang ist auch die Rechtsauffassung von Ulrich Scheuner 365 zu nennen, der sich mit seinem grundlegenden Aufsatz: "L'influence du droit interne sur la formation du droit international"366 aus dem Jahr 1939 zu einer dualistischen Sichtweise bekennt, die man gewiß auch als einen gemäßigten Dualismus bezeichnen kann. Seine primäre These bezieht sich auf die Trennung der Rechtsordnungen: "Le droit des gens et le droit national sont deux ordres juridiques distincts."367 Die rechtliche Quelle des Völkerrechts sieht er weder in der Vereinbarung noch in der Grundnorm "pacta sunt servanda", sondern einzig und allein in dem gemeinsamen rechtlichen Bewußtsein der Gemeinschaft der Staaten, daß die von ihnen durch 363 Art. 38 des Statuts benennt damals wie heute die Entscheidungsgrundlagen des Gerichts im Rahmen seiner Kompetenzbestimmung. Zum damaligen Zeitpunkt wurde noch diskutiert, ob dabei auch die in Art. 38 aufgeführten "principes generaux de droit reconnus par les nations civilisees" nur als spezielle Anwendungsnormen des Ständigen Internationalen Gerichts zu werten sind oder ob diese allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze dadurch auch in den Bestand der Völkerrechtsordnung einbezogen werden; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 488; D. Anzilotti, Corso di diritto internazionale, Band I. 3. Aufl., 1928, S.63 und U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S. 104. Die "principes generaux" sind auch heute noch Teil des Art. 38 (Abs. I lit. c) des Status des Internationalen Gerichtshofs, und aus seinem Wortlaut geht nunmehr eindeutig hervor, daß alle in Art. 38 genannten Völkerrechtsquellen allgemeine Verbindlichkeit besitzen; vgl. dazu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 382-394. 364 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.488. 365 Ulrich Scheuner (1903-1981) beschäftigte sich intensiv mit dem Kirchen- und Staatsrecht; aber auch mit dem Völkerrecht war er eng verbunden. Er lehrte zunächst in Jena (1933), Göttingen (1940) und Straßburg (1941). Ab 1950 wirkte er bis zu seiner Emeritierung an der Universität in Bonn und wurde Leiter des "Instituts für Völkerrecht"; vgl. eh. Tomuschat, UIrich Scheuners völkerrechtliches Werk, S. XI. 366 Dieser Artikel ist erstmals erschienen in: RdC, 11, Nr.68, 1939, S. 99-127. Einige Aussagen Ulrich Scheuners wurden bereits in die Kapitel über die Lehren Heinrich Triepels und Dionisio Anzilottis einbezogen. 367 U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.I17.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Vertrag oder Gewohnheit gebildeten Normen Recht sein sollen. 368 Dieses gemeinsame Rechtsbewußtsein hat nach Meinung Scheuners seinen Ursprung in der Geschichte der Staatengemeinschaft; denn ab just dem Zeitpunkt, in dem sich aus unabhängigen Staaten eine Gemeinschaft geformt hat und weiterbesteht, entsteht ein solches "conscience juridique commune"369 als soziale Erscheinung, die außerhalb eines rechtlichen Bereichs liegt. Gleichzeitig stellt er fest, daß sich dieses existierende Bewußtsein bisher allerdings noch nicht in einem bestimmten Rahmen organisiert hat, sondern lediglich durch spezielle internationale Rechtsquellen, Staatsakte sowie Vertrags- und Gewohnheitsrecht ausgearbeitet wurde. 370 Erkennbar ist die kritische Haltung Scheuners gegenüber dem Positivismus als Grundlage des Völkerrechts: Er bekennt sich statt dessen als Anhänger einer naturrechtlichen Rechtsauffassung, die eine Konzeption des Völkerrechts entwirft, in der das Recht nicht auf dem Willen der Staaten beruht, sondern auf dem Prinzip der Gemeinschaftsgebundenheit. 371 Die auf einem solchen Weg entstehenden Normen sind für Scheuner grundsätzlich nur für den Bereich des Völkerrechts wirksam und sind nur für die Staaten verbindlich; denn jene sind die Rechtssubjekte des Völkerrechts. Die staatlichen Rechtsnormen dagegen entfalten ausschließlich im Bereich ihrer jeweiligen territorial beschränkten Souveränität verbindliche Geltungskraft. 372 Darüber hinaus verneint Scheuner die Möglichkeit, daß völkerrechtliche Normen unmittelbare Rechtsverbindlichkeit für die Einzelmenschen besitzen können. 373 Daraus zieht er die Schlußfolgerung, daß die Bestimmungen des Völkerrechts durch die staatlichen Organe in innerstaatliches Recht transformiert werden müssen, damit sie für die Individuen gelten können. 374 Rechtlich gesehen, bilden die staatlichen Rechtsordnungen also eine Einheit, in die das Völkerrecht nicht direkt eindringen kann: 368 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S. 114-115. 369 Dies ist Ulrich Scheuners Ausdruck für das "gemeinsame Rechtsbewußtsein der Staaten"; U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.114. 370 Nach Ansicht von Ulrich Scheuner ist es unmöglich, eine juristische Erklärung für die Entstehung von Rechtsnormen aufgrund des Rechtsbewußtseins zu geben. In diesem Zusammenhang verweist er auf die Lehre Heinrich Triepels, in der auch keine rechtliche Begründung gefunden wurde; vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S. 115. Während Triepel von einem "Gefühl" des Gebundenseins spricht, ist dagegen bei Scheuner das "Bewußtsein", an die Völkerrechtsnormen gebunden zu sein, ausschlaggebend. Beide angenommenen Quellen des Völkerrechts haben offensichtlich keine rechtliche Natur; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. I. 3. 371 Vgl. U. Scheuner, Naturrechtliche Strömungen im heutigen Völkerrecht, in: U. Scheuner: Schriften zum Völkerrecht, hrsg. von Christian Tomuschat, 1984, S. 99-158. 372 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.I17. 373 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.118. 374 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.124.
1. Kap.: Der Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht
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,,Juridiquement, l'Etat forme, dans le droit des gens, une unite bien distincte et impermeable. Lui seul ades droits et des obligations, lui seul est responsable des actees de ses ressortissants.,,)75
Aus der Trennung der Rechtsordnungen folgt nach Ansicht Scheuners auch, daß die Normen lediglich innerhalb ihrer Rechtsordnung rechtliche Geltung entfalten können: "Pour le droit des gens, le droit etatique n'est qu'un simple fait."376 Ausgehend von einem soziologisch-psychiologischen Blickwinkel beurteilt Scheuner diesen Problempunkt jedoch anders: Unter einer solcher Betrachtungsweise können gewisse Normen des Völkerrechts selbstverständlich Vorschriften für die Individuen darstellen. Darüber hinaus sind es seiner Meinung nach die Individuen selbst, die durch ihre Entscheidungen und Handlungen die Politik bestimmen, die internationalen Verträge abschließen und über die Beachtung und Transformation der Völkerrechtsnormen entscheiden. 377 Doch nicht nur in diesem außerjuristischen Bereich erkennt Scheuner engere Beziehungsmöglichkeiten zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht; seiner Meinung nach gibt es Wechselbeziehungen zwischen dem internationalen rechtlichen Bewußtsein und den Ideen, welche die Grundlagen des staatlichen Rechts bilden. Ausgangspunkt für das Bewußtsein der jeweiligen - internationalen oder staatlichen - Gemeinschaft ist das Individuum. Scheuner schlußfolgert, daß aufgrund der Verschiedenartigkeit der Völker bezüglich ihrer juristischen und politischen Konzeptionen eine Schwäche des Völkerrechts entsteht, welches durch diese Unterschiede beeintlußt wird. Gleichzeitig jedoch ist es genau jener Bezug zur Realität der Rechtspraxis, der das Wesen der Völkerrechtsordnung ausmache: 378 "C 'est la somme des traditions diplomatiques et des experiences historiques que les Etats ont recueillies au cours de leurs relations mututelles. C'est un droit qui, par-dessus les differences, s'erige sur les idees et les principes cornmuns aux nations, un vrai ius gentium, un droit commun."379
Weiterhin stellt Scheuner die These auf, daß zwischen der Völkerrechtsordnung und den Rechtsordnungen der Mitglieder der Staatengemeinschaft keine Beziehungen bestehen, die staatliches Recht dem Völkerrecht unterordnen könnten. 38o Das . 375 U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.119-120. 376 U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.120. J77 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S. 119. "Ce sont les Etats et 1eurs organes qui appliquent et developpent le droit des gens. Certes, en dernier ressort, c'est toujours I 'individu qui est appele a manier les regles internaitonales, aconc1ure des traites, mais, juridiquernent, ce sont les Etats auxquels sont imputes les actes des individus." (S. 100). 378 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.IOO-I01. 379 U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.101 (Hervorhebung im Original). 380 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.100.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Bild eines einheitlichen Rechts - verbunden mit einem dominierenden Völkerrecht - und die Darstellung der Staatengemeinschaft als "super-Etat"381, was nach der Meinung Scheuners von der aufkommenden monistischen Lehre vertreten wird, finden seiner Ansicht nach keinerlei Bestätigung in der Wirklichkeit der modemen Staatenwelt. 382 Bestätigt sieht er seine These durch die Rechtspraxis der nationalen Gerichte, die fast ausnahmslos im Falle eines Konflikt zwischen Normen des staatlichen Rechts und des Völkerrechts das innerstaatliche Recht anwenden. 383 Andererseits wird dieses Prinzip dadurch gemildert, daß die staatlichen Gerichte gegebenenfalls nicht von einer beabsichtigten internationalen Pflichtverletzung des nationalen Gesetzgebers ausgehen und sie deshalb das staatliche Recht im Sinne einer Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht auslegen. 384 Wie bereits angedeutet, steht Scheuner allerdings auch einer strikt dualistischen Auffassung ablehnend gegenüber: "Voici le probleme que nous proposons de traiter: La liaison entre le droit international et le droit interne, qui est plus etroite que ne pensait I'Ecole positiviste, et l'influence du droit et des idees dans les Etats sur la fonnation des regles du droit international. ,,385
Ganz offensichtlich verneint Scheuner nicht nur die totale Trennung der Rechtsordnungen, sondern insbesondere auch die vom Rechtspositivismus aufgestellte These, daß jede Rechtsnorm des Völkerrechts ihren Ursprung ausschließlich im staatlichen Willen hat. Seiner Meinung nach bietet der Staatswille keine ausreichende Grundlage einer Geltungskraft der völkerrechtlichen Normen. 386 Was das dualistische Verhältnis der Rechtsordnungen betrifft, so ist Scheuner von der Verschiedenartigkeit der staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Quelle überzeugt, weil sie sich formell und hinsichtlich der Ausarbeitung der Rechtsnormen unterscheiden. Anders dagegen ist seine Auffassung über die inhaltliche Verschiedenheit der Normen: Aufgrund der Tatsache, daß es die Staaten selbst sind, die das Völkerrecht bilden, ist jenes sehr eng mit der Entwicklung des inneren Rechts der Staaten verbunU. Scheuner, L'influence du droit interne sur la fonnation du droit international, S.lOl. Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la fonnation du droit international, S.101 und S.108. Für Ulrich Scheuner gibt es-wie bereits ausgeführt-zwar ein gemeinsames internationales Bewußtsein; dennoch wird der einzelne Staat im Staatenverkehr von seinen eigenen Rechtsvorstellungen und -ideen geprägt: ,,11 y a une conscience commune internationale, mais la position de I'Etat dans la vie internationale est teile qu'elle se trouve sous l'influence du droit et des idees juridiques et politiques qui se font valoir dans chacune des nations membres de la societe internationale." (S. 101-102). 383 Einzige Ausnahme sind für Ulrich Scheuner einige Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts; vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la fonnation du droit international, S. 108-109. 384 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la fonnation du droit international, S.109. 385 U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la fonnation du droit international, S.I02-103. 386 Vgl. U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la fonnation du droit international, S. 102-103 und S. 1l3. 38\
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den. Folglich ähneln sich die Rechtsnonnen sowohl im materiellen Sinn als auch hinsichtlich der Prinzipien, auf denen sie beruhen, sowie bezüglich der politischen Kräfte, welche die Bildung der Rechtsnonnen mitbestimmen. Gemäß diesen Erkenntnissen kommt Scheuner zum Ergebnis, daß es keine absolute Trennung zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht geben kann: "De meme au point de vue de la matiere, il n 'y a pas de separation absolue du droit des gens d' avec le droit interne. Certes, le droit international regle des rapports entre Etats, le droit national entre individus. Mais il faut bien se garder, ici aussi, de souligner trop severement le point de vue constructif. Une loi nationale peut tres bien regler le meme objet que le droit des gens: prenons l'exemple d'une loi sur la neutralite, comme la loi de neutralite italienne du 8 juillet 1938. Et, inversement, le droit international peut contenir des regles qui donnent des prescriptions pur la vie interieure des Etats: pensons au traitement de sujets etrangers ou ala navigation sur un fleuve international."387
Bezüglich der gegenseitigen Einwirkungsmöglichkeiten erkennt Scheuner die rezipierende und nichtrezipierende Verweisung als Möglichkeit der indirekten Anwendung von Nonnen einer anderen Rechtsordnung an, so daß bei diesen Problembereich eine Übereinstimmung mit der Auffassung Dionisio Anzilottis feststellbar ist. Insgesamt betrachtet kann Scheuner als Vertreter einer gemäßigt dualistischen Rechtsauffassung beurteilt werden, für den die Rechtsverbindlichkeit der Nonnen auf dem gemeinsamen Rechtsbewußtsein der Mitglieder einer einheitlichen Ordnung beruht, innerhalb jener diese Regeln gelten sollen. Offensichtlich ist, daß Scheuner den Dualismus der Rechtsordnungen als fonnalen Ordnungs grundsatz bejaht - er stellt allerdings gemeinsame politische Bewegungsrichtungen und Wertungen fest, die innerhalb der Staaten beginnen, sich ausbreiten und sich bis in den völkerrechtlichen Bereich fortbewegen. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, liegt das Völkerrecht im nationalen Recht begründet. Allgemeiner Ansatzpunkt seiner Untersuchung ist zweifellos die Beobachtung und Orientierung an der Rechtswirklichkeit - insbesondere an den Tatsachen der internationalen Staatenpraxis. Durch die Analyse seiner Grundgedanken wird erkennbar, daß die Thesen Scheuners gewiß die Lehre vom Dualismus der Rechtsordnungen grundsätzlich bestätigen und in gewisser Weise die Tendenz der Annäherung der Rechtsauffassungen über das Verhältnis der Rechtsordnungen belegen. Gänzlich neue grundlegende Erkenntnisse zur Konzeption der Beziehung von Völkerrecht und staatlichem Recht können allerdings nicht gewonnen werden. 388 387 U. Scheuner, L'influence du droit interne sur la formation du droit international, S.116-117. 388 Eine andere Auffassung dagegen hat Christian Tomuschat: "Scheuner hat damit in seinen Arbeiten an zentraler Stelle ein Thema aufgegriffen, das zwar in Deutschland lange Zeit gepflegt worden war und in den großen Entwürfen von Hegel und seiner Schule - Völkerrecht als ,äußeres Staatsrecht', Triepel- Verbindlichkeit des Völkerrechts kraft Vereinbarung - und Kelsen - Grundnorm als hypothetische Fundierung der Normenpyramide - eine eingehende theoretische Behandlung gefunden hatte, der Völkerrechtsliteratur seit Jahrzehnten aber eher als unfruchtbares Spekulationsgebiet erscheint. Seine Konzeption weist ein hohes Maß an Über-
10 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Zweites Kapitel
Das Aufkommen der monistischen Rechtsauffassung zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gründe für die Vorherrschaft des Dualismus in der Völkerrechtswissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts waren die historischen Gegebenheiten während der Vorkriegszeit und die damit verbundene Annahme einer unbegrenzbaren Souveränität der Staaten sowie auch die Veröffentlichung von Heinrich Triepels Werk "Völkerrecht und Landesrecht". Boris Mirkine-Guetzevitch formuliert den Zusammenhang treffend: "La theorie dualiste concordait parfaitement avec la realite internationale d' avant guerre."389
Bei präziser Betrachtung können zwei verschiedenartige Entwicklungsrichtungen in der Zeit nach dem Aufkommen des Triepelschen Dualismus festgestellt werden; denn diese völkerrechtsdogmatische Grundhaltung veränderte sich durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Es kamen Zweifel an der Richtigkeit eines unbeschränkten Souveränitätsprinzips auf, weil die Staaten erkannten, daß sie trotz ausgedehnter Wirtschaftsverflechtung und völkerrechtlicher Verträge zwischen den nun kriegführenden Staaten nicht imstande waren, dieses Desaster zu verhindern. 390 Mit der Gründung des Völkerbundes und des Ständigen Internationalen Gerichtshofs sollte ein weltweiter Frieden gesichert werden. Eine systematischere Gestaltung der Staatenwelt erschien geeignet zu sein, das Recht der souveränen Staaten auf Kriegsführung einzudämmen. 391 lose! Kunz beschreibt diesen Weg als Forderung einer "völkerrechtlichen Neuordnung der Welt"392. Mit dem Abschluß des Völzeugungskraft auf. Mit innerer Folgerichtigkeit löst er sich von der Fixierung auf den Gedanken, die Verbindlichkeit des Rechts, also die Frage nach der Normativität des Normativen, wiederum auf eine normative Grundlage zurückführen zu sollen. Erst heute ist es allgemein als schlichte Konsequenz der Rechtslogik erkannt, daß der Rechtsbefehlletzten Endes in einer außerrechtlichen Sphäre verankert sein muß. Für Scheuner verkörpert sich diese metajuristische Dimension vor allem in dem Gedanken der Gemeinschaftsgebundenheit menschlicher Existenz, den er selbst dem Naturrecht zuordnet, als dessen Anhänger er sich bekennt." eh. Tomuschat, Ulrich Scheuners völkerrechtliches Werk, S. XVII-XVIII. 389 B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 313. 390 Vgl. J. Kunz, Statisches und dynamisches Völkerrecht, in: Gesellschaft - Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, hrsg. von Alfred Verdross, 1931, S. 217-251, hier S. 221; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.26. Diesen Wandel sieht Felix Frankowski als eine falsche und paradoxe Bekämpfung der staatlichen Souveränität; denn sie ist seiner Meinung nach lediglich der Ausdruck einer unumstößlichen Tatsache: "Cette campagne contre la notion de la souverainete n'est pas juste, car la souverainete n'est que la constatation d'un etat de choses reel, dont l'existence ou la non-existence ne dependent en aucune maniere d'idees abstraites ou de definitions." F. Frankowski, L'idee de la souverainete dans les relations internationales, S.499. 39\ Vgl. J. Kunz, Statisches und dynamisches Völkerrecht, S. 227-236; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.26-27. 392 J. Kunz, Statisches und dynamisches Völkerrecht, S.236.
2. Kap.: Das Aufkommen der monistischen Rechtsauffassung
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kerbundpaktes verbanden viele den Beginn einer "Ära des neuen Völkerrechts"393. Wie die weiteren historischen Ereignisse zeigten, erfüllten sich die großen Erwartungen, welche sich die Staatengemeinschaft von den Friedensverträgen und dem Völkerbund erhofft hatten, nicht. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg waren erste dauerhafte Erfolge bezüglich einer Neuorientierung einer Völkerrechts gemeinschaft feststellbar. 394 Diese Veränderungen im internationalen Denken bewirkten auch die Auseinandersetzung der Rechtswissenschaft mit den neuen Fakten der Nachkriegszeit in bezug auf das Verhältnis der Rechtsordnungen. Das Resultat jenes Prozesses drückte sich einerseits in der Weiterentwicklung der strengen dualistischen Lehre Heinrich Triepels aus. Als ein wichtiger Fortsetzer des Dualismus gilt der italienische Völkerrechtswissenschaftler Dionisio Anzilotti, dem es mit seiner gemäßigten Rechtsordnungskonstruktion gelang, die noch vorherrschende dualistische Lehre weiterzuführen. Eine noch stärkere und einflußreichere rechtliche Verbindung zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht im Rahmen einer dualistischen Konzeption entwarf Gustav Walz. Andererseits gab es deutliche und nachhaltige Bestrebungen, das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht neu zu konstruieren. Das Ergebnis zeigte sich durch das Aufkommen und den Erfolg der verschiedenen monistischen Schulen - in Form von Vertretern eines Monismus mit Völkerrechtsprimat. 395 In diesem Sinne bewertet Schiffer die Vorgänge des beginnenden Jahrhunderts: "Als aber nach Beendigung des Krieges im Völkerbund eine nach Universalität strebende, ständige, politische Organisation sich frei regierender Staaten geschaffen war, als der internationale Gerichtshof ins Leben trat, da erschien durch die Entwicklung des positiven Rechts ein Anlaß gegeben, die Rechts- und Staatstheorie der Vorkriegszeit einer Revision zu unterziehen und sich zu fragen, ob nicht zur theoretischen Erfassung der neuen Gegebenheiten eine Modifizierung des Ausgangspunktes der Rechtslehre erfolgen müsse. War man in der Vorkriegszeit im allgemeinen bestrebt gewesen, die Existenz eines Völkerrechts mit dem Vorhanden sein souveräner Staaten in Einklang zu bringen, so war man jetzt bemüht, die theoretische Begründung für ein wahrhaft überstaatliches Recht zu finden, und bereit, einen mit dieser Aufgabe nicht vereinbaren Souveränitätsbegriff preiszugeben. Das Produkt 393 J. Kunz, Statisches und dynamisches Völkerrecht, S.237. Dieses neugestaltete Völkerrecht charakterisiert er als "dynamisches Völkerrecht" (S. 237), welches dem alten, "statischen Völkerrecht" (S. 237) gegenüber steht; vg\. S.237-251. 394 So gab es in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auch kritische Aussagen: "Apres I' epoque 1918-1930 au cours de laquelle la vague montante etait propice aux idees internationalistes, depuis quelque temps nous en observons un recu\. L'echec des idees pan-europeennes, les echecs reiteres de la politique dite de la Societe des Nations, enfin l'apparition des gouvernements nationalistes et autoritaires dans la plupart des Etats du monde marquent la maree basse de l'internationalisme. La reaction contre l'internationalisme provoque un isolationisme violent. Les nations sont peu apeu revenues aI'idee simple du droit international comme droit contractuel ... Dans cet etat de choses le droit de souverainete n' est que le droit de mettre I' interet des Etats au-dessus de l'interet de la collectivite des Etats." F. Frankowski, L'idee de la souverainete dans les relations internationales, S. 504. 395 Vg\. B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 313-314.
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solcher wissenschaftlicher Bestrebungen sind die Theorien vom Primat des Völkerrechts."396 Die Neuausrichtung der Völkerrechtswissenschaft vollzog sich keinesfalls ganzheitlich und gleichfönnig. Das Wesen, die Vorteile und Schwachpunkte sowohl der dualistischen als auch der monistischen Rechtslehre wurden innerhalb der Rechtswissenschaften zum Kernbereich grundlegender Diskussionen. Die Anhänger der aufkommenden monistischen Schulen beschuldigten jene Rechtswissenschaftler, die nach dem Ersten Weltkrieg weiterhin einem Dualismus der Rechtsordnungen zustimmten, die veränderte internationale Rechtswirklichkeit zu ignorieren. 397 Dieses Urteil über die Anhängerder dualistischen Schule sollte jedoch nicht generalisiert werden. Ohne Zweifel unterstützten auch sie die Bewältigung der neuen Aufgaben der internationalen Staatengemeinschaft und bejahten die Fortentwicklung des Dualismus. 398 Die Vertreter des Dualismus der Rechtsordnungen wehrten sich gegen die ablehnende Beurteilung und betonten die ständige innerliche Fortentwicklung ihrer Lehre: "Die monistischen Theorien haben in ihrem logischen Systemfanatismus die bedeutsame Entwicklung von Triepel zu Anzilotti im allgemeinen gar nicht oder kaum beachtet. Das Pendel schlägt bei ihnen in radikaler Opposition gegen überlieferte Problementwicklungen nach der anderen Seite aus. "399 Andererseits war eine Mehrheit der Völkerrechtswissenschaftler nach dem Ende der ersten großen Weltkrise überzeugt, daß zumindest die dualistische Lehre Heinrich Triepels nicht mehr das vollständige Erscheinungsbild des neuen internationalen Lebens erfassen könne. 4OO Für Baris Mirkine-Guetzevitch steht zweifellos fest, daß die damalige Zeit der Startpunkt für eine Tendenz hin zu einer monistischen Rechtsauffassung darstellte: " ... que la tendance actuelle du developpement du droit international est une tendance moniste"401. Diese Rechtsauffassung gewinnt im 20. Jahrhundert umfassende Bedeutung und wird deshalb im Folgenden in ihren charakteristischen Besonderheiten diskutiert. In diesem Zusammenhang muß nochmals besonders darauf hingewiesen werden, daß die Lehre Triepels zweifellos als 396 W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 27. 397 Vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 264-265; B. Mirkine-GuetZ/?vitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 318. Boris Mirkine-Guetu?vitch zählt die Kriterien dieser "nouvelle realite internationale" (S. 314) auf und erklärt, daß diese Merkmale nicht in den dualistischen Lehren berücksichtigt wurden und sie deshalb zurückweichen mußten: "Ces regles nouvelles du droit international, les premieres ebauches d'une legislation internationale et meme d'un ,gouvernement' international, les institutions nouvelles, teiles que les mandats, la protection des minorites, etc., ces nouvelles realites juridiques non prevues par les theoriciens d'avant guerre ont assure le succes scientifique de la doctrine moniste." (S. 314). 398 Dies beweist zum Beispiel allein die Tatsache, daß Dionisio Anzilotti fest in die Arbeit des Ständigen Internationalen Gerichtshofs integriert war. 399 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.40. 4()() "Mais ... cette doctrine ne peut expliquer tous les phenomenes de la vie internationale de nos jours." B. Mirkine·GuetZlivitch, Droit international et droit constitutionnel, S.320. 401 B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S.321.
2. Kap.: Das Aufkommen der monistischen Rechtsauffassung
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Ausgangspunkt der Diskussion über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht angesehen werden kann. Mirkine-Guetzevitch formuliert den damaligen Entwicklungsgang des internationalen Rechts wie folgt: "Mais depuis 1899, depuis les changements profonds survenus dans le monde, depuis la cn!ation de la Societe des Nations et la naissance du nouveau droit international, surtout depuis I'ecIosion chez les peuples d'une nouvelle conscience juridique, le droit international a fait des progres enormes. Cette evolution est tellement evidente que I' excellent ouvrage paru en 1899 ne correspondent plus de nos jours a la mentalite des theoreticiens contemporains, ni surtout a la daUte juridique actuelle ... 402
Dabei ist anzumerken, daß es gewisse gedankliche Ansatzpunkte und eine erste begriffliche Formulierung einer monistischen Rechtsauffassung mit dem Primat des Völkerrechts bereits am Wendepunkt zum 20. Jahrhundert gab. Kurz vor dem Erscheinen von Triepels "Völkerrecht und Landesrecht" veröffentlichte Wilhelm Kaufmann 403 seine Monographie "Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebungen und der Staatsorgane zu demselben"404. Grundlegender Ansatzpunkt seiner Untersuchung ist die These, daß nicht nur ausschließlich die Staaten durch das Völkerrecht verpflichtet und berechtigt werden können, sondern daß auch die Individuen und Verbände Rechtssubjekte völkerrechtlicher Regeln sein können. 405 Auffallend ist, daß Kaufmann selten den Rechtsbegriff "Völkerrecht" verwendet; er spricht grundsätzlich vom "internationalen Recht". Jenes bildet sich seiner Meinung nach durch Staaten und staatsähnliche nationale und internationale Verbände und ist damit nicht durch eine staatliche Norm ersetzbar. Kaufmann ist der Ansicht, daß die so entstehenden Rechtsnormen ohne Vermittlung durch das Landesrecht für Menschen und Verbände verbindlich sind. 406 In diesem Zusammenhang konstatiert er bezüglich der Rechtsquelle des internationalen Rechts: 402 B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S.313 (Hervorhebung im Original). 403 Wilhelm Kaufmann (1858-1926). 404 W. Kaufmann, Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebungen und der Staatsorgane zu demselben, 1899. 405 "Dementsprechend regeln die internationalen objektiven Rechtsordnungen ausweislich ihres Inhalts heutzutage nicht bloß Rechte und Pflichten der Staaten zu einander, sondern auch Rechte und Pflichten der verschiedenen Staaten unterthanen Individuen zu einander und zu den verschiedenen Staaten, und ferner Rechtspflichten der Staaten, specieller Staatsorgane, specieller den Staaten unterthäniger, aber selbständiger Organisationen u. s. w. gegenüber international ausgedehnten Bevölkerungskreisen. Dabei sind diese internationalrechtlich geregelten und bestimmten subjektiven Rechte und Rechtspflichten theils sog. private, teils sog. öffentliche Rechte und Pflichten." W. Kaufmann, Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebungen und der Staatsorgane zu demselben, S. 2-3. Als Hintergrund dafür nennt er Entscheidungen des Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika, vgl. S. 3-4. 406 Vgl. W. Kaufmann, Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebungen und der Staatsorgane zu demselben, Stuttgart 1899, S. 77-78.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
"Seine Geltung beruht auf der Quelle, über welche der einzelne Staat keine Autorität hat: nämlich auf der Folge einer Willenseinigung der Staaten durch gemeinsame Willensthat derselben erfolgten Schaffung und Wirksammachung des internationalen Rechtes. ,,407
Für die Staaten und Staatsorgane sowie gegebenenfalls auch für die Individuen besitzt es Geltungskraft; denn diese sind in die Völkergerneinschaft "eingefaßt"408. Ein einzelner Staat besitzt daher hinsichtlich Geltung und Rang dieses Rechts keinerlei Verfügungsgewalt, wodurch er vor allem dessen Verbindlichkeit für die Individuen nicht aufheben kann. 409 Die schlußfolgernden Thesen, die Kaufmann aus alldem zieht, sind äußerst bestimmt und konsequent: Aufgrund seiner Untersuchung erscheint das internationale Recht hinsichtlich seiner Quelle und seinem Adressatenkreis als ein dem staatlichen Recht übergeordnetes Rechtssystem. Ein staatliches Gesetz, das mit einem früher geschlossenen Staatsvertrag im inhaltlichen Widerspruch steht, ist folglich völkerrechtswidrig und hat keine innerstaatliche Geltung. 410 Darüber hinaus folgert Kaufmann, daß die staatlichen Abgeordneten in internationalen Kommissionen - wie sie beispielsweise in internationalen Schiedsgerichten und Schuldenkommissionen vertreten sind - an das internationale Recht und nicht an ihre jeweiligen nationalen Bestimmungen gebunden sind. 411 Ganz offensichtlich sind die Thesen Kaufmanns in ihrer Gesamtheit als ein monistischer Ansatz mit Vorrang des Völkerrechts vor dem staatlichen Recht zu beurteilen. Vorherrschende Literaturmeinungen werten diese Überlegungen nicht als eine hinreichend begründete Lehre, weil sie die Problemstellungen nicht umfassend und logisch aufbauend beantworten. 412 Demzufolge wurde die damalige weitere Entwicklung der Völkerrechtslehre nicht wesentlich von diesem "ursprünglichen 407 W. Kaufmann, Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebungen und der Staatsorgane zu demselben, S.77 (Hervorhebungen im Original). 408 W. Kaufmann, Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebungen und der Staatsorgane zu demselben, S.77. 409 V gl. W. Kaufmann, Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebungen und der Staatsorgane zu demselben, S.78-79. 410 Vgl. W. Kaufmann, Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebungen und der Staatsorgane zu demselben, S. 78-79 und S. 73. Fritz Münch vertritt die Auffassung, daß Wilhelm Kaufmann sich "von seinem Raisonnement über den höheren Rang der internationalen Ordnung zu weit forttragen" läßt, wenn er einen solchen uneingeschränkten Vorrang bekräftigt; vgl. F. Münch, Wilhelm Kaufmann und der ursprüngliche Monismus, in: Die Friedenswarte, Band 53, Nr.2, 1956, S. 117-125, hier S. 121. 411 Vgl. W. Kaufmann, Die Rechtskraft des internationalen Rechts und das Verhältnis der Staatengesetzgebungen und der Staatsorgane zu demselben, S. 112-121. 412 Vgl. W. Rudo/f, Völkerrecht und deutsches Recht, S.131: "Seine Gedankenführung war für die Zeit zu wenig begrifflich exakt und, verglichen mit der Triepels, naiv, mitunter sogar abstrus." Auch Walter Schiffer vertritt diese Auffassung: "Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht ist bei Kaufmann ganz als juristisch-technisches Auslegungsproblem behandelt; Grundfragen, die Triepel wenigstens andeutet, sind nicht berührt." W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 25, Fußnote 1.
2. Kap.: Das Aufkommen der monistischen Rechtsauffassung
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Monismus"413 beeinflußt. Signifikant dafür ist die ablehnende Bewertung seines Zeitgenossen Heinrich Triepels, der insbesondere nicht von den grundlegenden Anschauungen Kaufmanns zu überzeugen war: "Gar nicht mehr verwerten konnte ich die kürzlich erschienene Schrift von W. Kaufmann, ... die einige der auch von mir erörterten Fragen - freilich von ganz entgegengesetzten Grundanschauungen aus - behandelt. Übrigens glaube ich nicht, dass sie mich, wenn ich sie früher kennen gelernt hätte, zu ihrer Auffassung bekehrt haben würde."414
Kaufmann war dennoch der erste, der den Monismus mit Primat des Völkerrechts begrifflich und dogmatisch in seinen Ansätzen veranschaulichte. Darüber hinaus gelten die Autoren August Heffter 415 und Johann Bluntschli 416 als frühe Vorläufer dieser monistischen Lehre. Die Unvollkommenheit der Thesen Kaufmanns verbunden mit der Durchsetzungskraft der dualistischen Lehre Triepels in der damaligen Zeit sowie die historischen Veränderungen gaben den Ausschlag, daß die dualistische Rechtsauffassung über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht zunächst dominierte. Im Zuge der grundlegenden Veränderungen innerhalb der Staatengemeinschaft in den darauffolgenden Jahrzehnten des frühen 20. Jahrhunderts ist das Aufkommen der monistischen Rechtslehre über das Verhältnis der Rechtsordnungen zu beobachten. Zu vermuten ist, daß sie auf den vor dem Krieg in den Hintergrund gedrängten Ansatz Kaufmanns zurückgreift. 417
413 F. Münch, Wilhelm Kaufmann und der ursprüngliche Monismus, S.12l. Walter Rudolf wählt die Bezeichnung "ursprünglich naturrechtlicher Monismus", weil die These Wilhelm Kaufmanns seiner Meinung nach auf dem rationalistischen Naturrecht, das von der Einheitskonzeption des Rechts ausging, basiert; siehe W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 130 und S. 135. 414 Diese Beurteilung stammt aus dem Vorwort seines im gleichen Jahr erschienenen Werks: H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht. Auch die Monographie von Paul Heilborn aus dem Jahr 1869, stand den Gedanken Wilhelm Kaufmanns entgegen. Für H ei/born ist das Individuum völlig aus dem System des Völkerrechts auszugrenzen; vgl. P. Heilborn, Das System des Völkerrechts, 1869. 415 Vgl. A. Heffter, Das europäische Völkerrecht der Gegenwart, 7. Ausgabe, 1882. 416 Vgl. J. Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten, 2. Aufl., 1872. Auch Carl von Kaltenborn, Antoine Pillet, Carl Ludwig von Bar und Georg Friedrich von Martens gelten als frühe Vorläufer dieser monistischen Lehre; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 12, Fußnote 6. 417 Walter Rudolfvertritt dagegen die Auffassung, daß keinerlei Zusammenhang zwischen dem Ansatz Wilhelm Kaufmanns und den monistischen Lehren nach dem Ersten Weltkrieg besteht: "Wenn auch schon der ursprüngliche naturrechtliche Monismus mehr oder weniger unbewußt vom Primat des Völkerrechts ausging, so knüpfen die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen monistischen Theorien mit Völkerrechtsprimat doch nicht an diese älteren Lehren an." W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 135.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Drittes Kapitel Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen I. Einheit der Rechtsordnungen auf der Grundlage
des Rechtsbewußtseins 1. Die Lehre Hugo Krabbes a) Die neue Staatsidee Die beschriebene - historisch geprägte - Entwicklungsrichtung der Völkerrechtslehre hin zu einer monistischen Rechtsauffassung soll in den folgenden Kapiteln anhand ihrer bedeutendsten Vertreter dargelegt und erörtert werden. Auch die Rechtsauffassung des holländischen Rechtswissenschaftlers Hugo Krabbe ist in diese monistische Tendenz einzuordnen. 418 Seine beiden grundlegenden Werke "Die Lehre der Rechtssouveränität"419 und "Die modeme Staatsidee"420 entstanden bereits in der Phase des Ersten Weltkriegs, was als Besonderheit gewertet werden kann. So wurden die wissenschaftlichen Diskussionen über die Beziehungen der Rechtsordnungen zueinander durch die Zeitgleichheit von Beendigung des Krieges und Veröffentlichung seines zweiten Werks intensiv beeinflußt. 421 Die Grundlage der Krabbesehen Völkerrechtsauffassung bildet seine modeme Rechts- und Staatsidee. Im Gegensatz zum alten Obrigkeitsstaat 422 , der von Natur aus mit einer "ursprünglichen Herrschermacht"423 über die Geltung des Rechts bestimmen und damit alle Rechtsnormen dem Volk anordnen konnte, steht die "mo418 Hugo Krabbe (1857-1936). Nach seiner universitären Ausbildung erhielt er 1883 den Doktorgrad der Rechts- und Politikwissenschaft. Die Ernennung zum Professor (1894) ermöglichte ihm Lehrtätigkeiten in Groningue und Leyde. 419 H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, 1906. 420 H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, 2. Aufl., 1919. Entstanden ist dieses Werk allerdings schon vor dem Einschnitt des Ersten Weltkriegs. Zu seiner Veröffentlichung karn es allerdings erst 1915 in Holland sowie 1919 in Deutschland und England. 421 Vgl. W. Schiffer, Die Lehre vorn Primat des Völkerrechts, S. 28. 422 Die jahrhundertelange Vorherrschaft des Obrigkeitsrechts wurde nach Ansicht Hugo Krabbes insbesondere von der absoluten Monarchie repräsentiert und war geprägt durch ein Untertanenverhältnis zwischen dem souveränen Staat und den Individuen; vgl. H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 3 und S. 6. Im Rahmen dieses Staatsbegriffs definiert Krabbe den Staat als "Autoritätsperson, die Quelle aller Macht, eine natürliche, ursprüngliche Machterscheinung". H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S.5. Gustav Walz dagegen streitet ab, daß diese alte Rechtslehre in einer solchen Gestalt jemals existiert hat. Seiner Meinung nach stellt Krabbe seine Rechtsauffassungen übertrieben dar; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 150. 423 H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S.4; so auch G. lellinek, Allgemeine Staatslehre, S.427-434.
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deme Staatsidee"424. Anders als die alte Staatslehre erkennt sie die Autorität des Rechts an und setzt diese der Autorität des Staates gleich. 425 Damit ist allein das Recht souverän und ersetzt die persönliche Macht der Obrigkeit durch die "geistige Kraft"426 der Rechtsnormen. 427 Für Krabbe bestehen so zwei Rechtsauffassungen, nämlich die "Lehre von der Staatssouveränität"428 und die "Lehre der Rechtssouveränität"429, deren Gegensätzlichkeit das nationale Recht der Staaten bestimmt. 43o Krabbe lehnt die von mangelnder Objektivität und Willkür beherrschte alte Staatslehre entschieden ab und befürwortet die neue Staatsidee. 431 Ihre Rechtsnormen basieren nach Meinung Krabbes auf dem Gemeinschaftszweck, der allerdings nur indirekt über das Rechtsbewußtsein der Individuen definierbar ist. Für Krabbe liegt demnach die Quelle und verbindliche Kraft des Rechts ausschließlich in der Rechtsüberzeugung der Menschen, im Inneren des menschlichen Bewußtseins. 432 Die Zwangsdurchsetzung als Merkmal zur Charakterisierung von Rechtsnormen ist demnach ohne Bedeutung. Trotz seiner Feststellung, daß dieses Bewußtsein auf424 H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 9. Die Erkenntnis von der Rechtsherrschaft wurde durch Erfahrungen der Rechtspraxis gewonnen, vgl. S. 65. 425 "Diese, die modeme Staatsidee, erkennt als herrschende Macht die unpersönliche Gewalt des Rechtes. Insofern stellt sie sich auf den Standpunkt der Lehre vom Rechtsstaat. ... Sie zieht aber aus dem dieser Lehre zugrunde liegenden Gedanken die letzten Konsequenzen, behauptet nicht mehr, daß der Staat sich dem Recht unterordnet, sondern daß die Autorität des Staates nichts weiter ist als die Autorität des Rechtes. Es gibt also nur noch eine herrschende Macht, nämlich die Macht des Rechtes." H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 2. Zum Ausdruck kommt eine solche Rechtssouveränität bei der Verwirklichung einer parlamentarischen Regierungsforrn, in der die Rechtsüberzeugung der Individuen den Gesetzen Verbindlichkeit gibt; vgl. S.7-8. 426 H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 9. 427 Zur Bekräftigung dieses Grundsatzes zieht Hugo Krabbe die bekannte Aussage Kants heran: "Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen. " Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 431, zitiert in: H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S.253. 428 H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 5. 429 H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 5. Hugo Krabbe bezieht die Aussage Labands mit ein: " ... daß der Staat von seinen Angehörigen keine Leistung und keine Unterlassung fordern, ihnen nichts befehlen und nichts verbieten kann, als auf Grund eines Rechtssatzes." Siehe H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 1. 430 Die Lehre der Staatssouveränität im Ablauf der Geschichte sowie das Aufkommen der modemen Staatsidee stellt Hugo Krabbe detailliert dar. H. Krabbe, L'idee modeme de I'etat, in: RdC, III, Nr. 13, 1926, S. 513-581, hier S. 513-566; H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 1-9. Siehe dazu auch eh. Amrhein, Monismus und Dualismus in ausgewählten Lehren vom Völkerrecht, S. 37-39. 431 Erstere hält jedoch an der Idee vom Staat als Machtfaktor fest, womit ein Konflikt zwischen Recht und Staat entsteht, der durch die modeme Staatsidee und die Staatenpraxis aufgelöst werden kann: Es besteht kein hierarchisches Verhältnis zwischen Recht und Staat, sondern eine Identität von Autorität des Staates und der Verbindlichkeit des Rechts; vgl. H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 5 und S. 2. 432 Vgl. H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 155, 170 und S. 187; H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 44, 48 und S. 82. Kritisch zum Maßstab des Gemeinschaftszwecks äußert sich W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 29-31.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
grund der unterschiedlichen Wirkungen des Rechtsgefühls kein objektives reines, sondern ein konkretes unvollkommenes und psychisch bedingtes Rechtsbewußtsein darstellt, sieht Krabbe die Geltung der so begründeten Rechtsnormen gewährleistet. 433 Durch eine positive Rechtserziehung der Individuen kann ein hochwertigeres Rechtsgefühl erreicht werden. 434 Nach Ansicht Krabbes ist damit jedoch kein einheitlicher Maßstab zur Schaffung von Rechtsnormen gegeben, obwohl die Einheitlichkeit der Rechtsnormen seiner Ansicht nach seine unentbehrliche Geltungsvoraussetzung ist. 435 Das konkrete, unterschiedliche Rechtsbewußtsein der Individuen kann folglich keine Grundlage des Rechts zur Ordnung des Gemeinschaftslebens darstellen. 436 Zur Erzielung der notwendigen Einheit zieht Krabbe das Majoritätsprinzip heran: Eine Verhaltensregel wird dann zur Rechtsnorm, wenn sie dem Rechtsbewußtsein der Mehrzahl der Gemeinschaftsmitglieder genügt. 437 In Verbindung mit der Existenz des konkreten Rechtsgefühls der Individuen ist dieses Prinzip der Anlaß zur Bildung unterschiedlicher Rechtsgemeinschaften - insbesondere zur Entstehung der Staaten. 438 433 Vgl. H. Krabbe, L'idee moderne de l'etat, S.570; H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S.51, 53 und S. 60-61. Zweifellos gelangt Hugo Krabbe mit diesen Thesen in den Bereich der Psychologie, was er selbst auch bestätigt (vgl. S.66). Aufgrund seiner Ungeeignetheit als objektives Kriterium zur rechtlichen Beurteilung einer Verhaltensregel beanstandet Walter Schiffer diese psychologische Begründung der Geltung des Rechts und seines "ethischen Charakters" (S. 53); vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 31. 434 Vgl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S.44, 50-51 und S. 55. Das Festhalten Hugo Krabbes am menschlichen Rechtsbewußtsein als Rechtsrnaßstab lassen vermuten, daß seine Lehre auf dem Naturrecht basiert; diese Schlußfolgerung verneint er, obwohl eine naturrechtliche Sichtweise in diesem Zusammenhang schlüssiger wäre, vgl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 66 und S. 54. Sowohl Walter Schiffer als auch Gustav Walz äußern sich kritisch gegenüber dieser Konstruktion. Beide deuten die Argumentation Krabbes als naturrechtlichen Ansatz und Walz lehnt das Rechtsbewußtsein als Richtschnur zur Regelung der Rechtsbeziehungen gänzlich ab; siehe dazu W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 30-31; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.150-153. 435 Vgl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 77. Die Einheitlichkeit der Rechtsnorm hat für Hugo Krabbe "höchsten Rechtswert", der bedeutsamer ist als der Wert des Inhalts der Norm, weil ohne dieses Kriterium die gemeinschaftlichen Ziele nicht erreicht werden können (v gl. S. 83). 436 Vgl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 76-79. Die Erreichung einer gemeinschaftlichen Rechtsüberzeugung ist theoretisch möglich, in Wirklichkeit sind jedoch Unterschiede aufgrund ungleicher angeborener oder angeeigneter Fähigkeiten festzustellen; vgl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 78-79. 437 "Wenn bei den Gliedern der Gemeinschaft das Rechtsbewußtsein sich in bezug auf die zu befolgenden Normen verschiedentlich äußert, so werden, bei qualitativer Gleichheit des Rechtsbewußtseins, diejenigen Normen einen höheren Wert besitzen, welche von einer Majorität der Glieder als Rechtsnormen gewünscht werden." H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 83-84. Die Bildung einer Mehrheit wird durch gleiche Erziehungs- und Umwelteinfiüsse begünstigt; denn ein intensives Zusammenleben der Menschen fördert eine Angleichung des Rechtsbewußtseins (vgl. S. 236). 438 Vgl. H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 176-185; H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 235-263. Die Bildung eines Staates im Sinne der Lehre der Rechtssouveränität erfolgt demnach durch eine gemeinschaftliche Rechtsordnung, die durch eine Majorität an
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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Aus diesen Erkenntnissen ergibt sich für Krabbe die Erfordernis einer Organisation, die sowohl die Beurteilung der jeweils zu realisierenden Majorität als auch die Festlegung der für die Majoritätsbildung maßgeblichen Individuen durchführt. Bezüglich der staatlichen Gemeinschaften bedeutet dies die Schaffung von Organen. 439 Der enge Zusammenhang von Organisation und Recht ist evident; denn in dem von Krabbe konstruierten Rechtsstaat sind die Organe mit der Setzung des Rechts - also mit der Verwirklichung der in den einzelnen Normen festgelegten Zwecke - beauftragt. 440 Er hebt klar hervor, daß die Rechtsorgane jedoch niemals "Recht machen"44!. Neben dem bezeugten Recht der Organe erkennt Krabbe sogar ungeschriebenes Recht an, das inhaltlich direkt auf der gemeinsamen Rechtsüberzeugung basiert. 442 So entsteht eine staatliche Rechtskonstruktion Krabbes, die zwei aufeinander aufbauende Arten von Recht gleichzeitig nebeneinander bestehen läßt. 443 Verbunden damit sieht er die Entwicklung vom Obrigkeitsstaat zum Rechtsstaat als historischen Prozeß und ist bestrebt, für beide Staatsideen das Wesen des Rechts aufzuzeigen: Das Recht der alten Staatsidee führt er auf den Willen der Obrigkeit zurück, und seine neue Staatsidee bestimmt das Rechtsbewußtsein der Menschen als maßgebliche Rechtsquelle. 444 b) Der Vorrang des supranationalen Rechts Für das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht ergeben sich aus der Lehre Krabbes unterschiedliche Schlußfolgerungen. Während im Obrigkeitsstaat übereinstimmenden individuellen Rechtsüberzeugungen geschaffen wird. Darüber hinaus ist die Unabhängigkeit des gemeinsamen Rechtsbewußtseins notwendig; vgl. H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 236, S. 238 und S. 240. 439 Vgl. H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 223; H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 111 und S. 238. 440 Vgl. H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S.160-161. Hugo Krabbe bezeichnet die Rechtsetzung auch als Bezeugung von Recht oder "Rechtsproduktion" (S. 16\). 441 H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 161. 442 Vgl. H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S.ll1. Kritische Einwände hat Walter Schiffer; denn für ihn ist es widersinnig, eine Organisation zur Erreichung der Rechtseinheit zu fordern, obwohl sie gleichzeitig nicht endgültig über den Rechtscharakter der Normen entscheiden kann, vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 34-36. 443 Siehe dazu Walter Schiffer: "Damit treten zwei Rechtsarten nebeneinander, die je nach Bedarf miteinander verwechselt werden. Indem dann das positive Recht, das zu seiner Geltung der Setzung in einer Organisation bedarf, auf jenes objektive Element zurückgeführt wird, gelingt es scheinbar, jede Rechtsnorm auf eine andere zu gründen. Das gelingt aber nur auf Grund der Vermengung zweier verschiedener Rechtsbegriffe." W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 37. 444 Für Walter Schiffer besteht in dieser Konzeption ein klarer Widerspruch, weil die Lehre Hugo Krabbes annimmt, daß das Rechtsbewußtsein allezeit existiert hat und die mit dem Obrigkeitsstaat verknüpfte, alte Staatsidee immer unhaltbar gewesen sei. Inkonsequent dazu erscheint die These Krabbes, die alte Staatsidee hätte der Wirklichkeit der damaligen Zeit entsprochen, vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 38; H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. \07, S. 62 und S. 232.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
ein für die Staaten verbindliches und selbständiges Völkerrecht nicht existieren kann 445 , ist in der Krabbesehen Lehre der Rechtssouveränität die Möglichkeit eines Völkerrechts gegeben. Ausgangspunkt für die Frage nach der Konstruktion der Rechtsordnungen ist die These, daß auch das Völkerrecht dem Rechtsbewußtsein der Individuen entspringt, weil "es für die Geltung des Rechts nur eine einzige Quelle gibt"446. In diesem Sinne können ausschließlich die Individuen Subjekte des internationalen Rechts sein, weil Staaten kein Rechtsgefühl besitzen. 447 Demnach ist das Völkerrecht als echtes Recht anzusehen. Ein Recht, das sich mit der Fortentwicklung der internationalen Rechtsüberzeugung wandeln kann. Aus der Lehre der modemen Staatsidee folgt für Krabbe die Erkenntnis, daß keine Unterschiede zwischen internationalen und nationalen Normen hinsichtlich ihrer Subjekte, Inhalte und verbindlichen Kraft bestehen. Lediglich in bezug auf ihren Geltungsumfang und ihre Rechtswertigkeit sind sie verschieden; denn das Völkerrecht verpflichtet einen größeren Kreis von Rechtssubjekten. Folglich besitzen die Inhalte der internationalen Normen im Vergleich zu jenen der nationalen Rechtsordnung einen höheren Rechtswert. 448 Eine Transformation des Völkerrechts in nationale Rechtsnormen verliert in dieser Lehre an Bedeutung. 449 Damit hat Krabbe die Grundlage geschaffen, das internationale Recht als "supranationales Recht"450 einzuordnen. Weil Krabbe auch das internationale Privat-, Straf-, Prozeß- und Verwaltungsrecht als supranationales Recht wertet, bezeichnet er das Völkerrecht exakter als "supranationales konstitutionelles Recht"451. Zur GeWährleistung der Einheitlichkeit der Rechtsnorm muß nach Ansicht Krabbes auch 445 Grund dafür ist die fehlende Bindungswirkung potentieller Völkerrechtsnormen für eine staatliche Obrigkeit. Dessen ungeachtet könnten keine verpflichtenden völkerrechtlichen Normen entstehen, weil eine internationale Gemeinschaft nach Ansicht Hugo Krabbes keine eigene Obrigkeit besitzen würde, vgl. H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 264-265 und S. 280, H. Krabbe, L'idee modeme de I'etat, S. 576. 446 H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 199 (Hervorhebung im Original), vgl. S.267. Er bekräftigt: "Das Rechtsbewußtsein oder Rechtsgefühl, nicht aber der Wille, hat normativen Charakter." (S. 199). 447 Zu dem Kreis der Individuen zählt Hugo Krabbe neben den Menschen allerdings auch die Behörden, die sich um die vom Völkerrecht geregelten öffentlichen Interessen kümmern und zu diesem Zweck das Rechtsgefühl der Privatpersonen äußern, vgl. H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 273-275 und S. 283. 448 Vgl. H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S.268 und S. 280-281. Ungeklärt erscheint Walter Schiffer in dieser Konstruktion die Rolle des Staates, vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.40 und S.48. 449 Hugo Krabbe bezeichnet die Transformation der völkerrechtlichen Verpflichtungen mit Hilfe von Gesetzen, um diese für die Individuen verbindlich zu machen, als "unnatürliche Praxis" und "erkünstelte Konstruktion ... , welche noch stets am absolutistischen Staatsbegrifffesthält"; H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S.277. 450 H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 278. Die Bezeichnung "ius inter gentes" lehnt er ab, weil die Staaten keine Völkerrechtssubjektivität besitzen können; vgl. S.278 sowie H. Krabbe, L'idee modeme de I'etat, S.579. Zum Begriff der Supranationalität siehe 4. Teil, 4. Kap. II. 3. a). 451 H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 279.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
157
hier das Prinzip der Mehrheit unbedingt gelten. 452 Wie bereits für die staatliche Rechtsgemeinschaft gefordert, ist dazu eine unabhängige Organisation Voraussetzung. 453 Trotz der Tatsache, daß dieses wichtige Element der Lehre von der Rechtssouveränität für die Völkerrechtsordnung nicht existiert und insofern das Rechtsbewußtsein der supranationalen Gemeinschaft nicht zentralisiert und bestimmt werden kann, geht Krabbe von der Existenz einer supranationalen Gemeinschaft aus. 454 Allerdings wertet er diese Tatsache als einen "der größten Mängel bei der Bildung des internationalen Rechts"455. Ihm erscheint es jedoch möglich, daß die staatlichen Organe - in der Regel die Regierung - der einzelnen Staaten gleichzeitig auch als Organe der internationalen Gemeinschaft tätig werden, weil "diese nicht ohne allen Zusammenhang mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes stehen"456. Zur Erzeugung des supranationalen Rechts erkennt Krabbe grundsätzlich drei Wege an: Die Bildung von Gewohnheits- und Vertragsrecht sowie die Gesetzgebung. 457 Für Krabbe drückt sich die umfassende Bedeutung dieses Rechts insbesondere durch seine Aufgaben aus: Die internationale Gemeinschaft kann nach Ansicht Krabbes im Rahmen eines Anerkennungsverfahrens, das sich durch das Rechtsbewußtsein der internationalen Gemeinschaft ausdrückt, über die rechtliche Existenz eines Staates entscheiden. 458 Der Staatscharakter eines Volkes "wurzelt"459 demnach im supranationalen Verfassungsrecht. Darüber hinaus kann das internationale Recht den Umfang des staatlichen Rechts bestimmen, indem die Völkerrechtsgemeinschaft jene Bereiche der staatlichen Rechtsregelung entziehen darf, welche für die internationale Rechtsgemeinschaft zu Interessen mit Rechtswert geworden sind. 460 452
Vgl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S.27l und S. 295.
453 Vgl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 279. 454 Lediglich die damals existierende Rheinfahrtskommission als supranationaler Gerichtshof und der Weltpostverein können in jener Zeit als zentrale Organe einer überstaatlichen Organisation gedeutet werden; vgl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 279 und S. 282. 455 H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 282. 456 H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 282-283; vgl. S. 284. 457 Das Gewohnheitsrecht entsteht durch eine mehrheitliche Verhaltensweise der Regierungen und bindet alle Staaten, weil das Majoritätsprinzip erfüllt ist. Das Vertragsrecht resultiert aus ausdrücklich fixierten Rechtsnormen und bindet in der Regel nur die vertragschließenden Parteien. Beide Rechtsarten ergeben sich aus dem Rechtsbewußtsein der Individuen. Anders als Heinrich Triepel verneint Hugo Krabbe eine Differenzierung von Vertrag und Vereinbarung; denn seiner Ansicht nach unterscheiden sich beide weder in formaler noch in juristischer Hinsicht. Die Gesetzgebung existiert nur dann, wenn es ein Organ zur Feststellung des Rechts gibt. Zu den Arten der Rechtsbildung siehe H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S.285-298. 458 Die Einheitlichkeit der entscheidenden Gemeinschaftsnorm kann durch eine Mehrheit jener Regierungen erreicht werden, welche bereits Teil der internationalen Staatengemeinschaft sind; vgl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 271. Walter Schiffer fallt auf, daß es die Staaten sind, die sich anstelle des Rechtsbewußtseins der Individuen "doch wieder in den Mittelpunkt der rechtlichen Betrachtung" geschoben haben; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 42. 459 H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 271, vgl. S.270-272. 460 V gl. H. Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 272.
158
4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Dabei verliert das nationale Recht seine Eigenständigkeit nicht, weil es seinen eigenen Rechtsrnaßstab besitzt. 461 Andererseits setzt das supranationale Recht die Existenz der Staatsrechtsordnungen voraus; denn nur mit deren Hilfe kann der Prozeß der Einheit der Rechtsordnungen beginnen. Wie bereits angedeutet, lassen die Kernaussagen dieser Lehre eine naturrechtliche Betrachtungsweise Krabbes vermuten. Die grundlegenden Elemente, wie die Vorstellung eines überstaatlichen Rechts, das als Grundlage der nationalen Gemeinschaften gilt, sowie auch das damit verbundene Rechtsbewußtsein als Quelle allen Rechts, lassen zweifellos auf Gemeinsamkeiten mit den Lehren von Francisco de Vitoria und Francisco Suarez schließen. 462 Dennoch hält Krabbe an der Begründung von ausschließlich positivem Recht durch das Rechtsgefühl fest und sieht in der Anerkennung des konkreten - auch zufälligen und variierenden - Rechtsbewußtseins den grundlegenden Unterschied im Vergleich zum Naturrecht, das vom einem reinen Menschen ausgehe. c) Die Entstehung des Weltstaates Der Zusammenhang der erläuterten Kernthesen Krabbes besteht darin, daß sich das Recht seiner Meinung nach gleichlaufend mit den geschichtlichen Veränderungen fortentwickelt. Der Obrigkeitsstaat stelle den Ausgangspunkt der Entwicklung dar. Verträge zwischen den Staaten dieser Zeit könnten kein Völkerrecht, sondern lediglich staatliches Recht der souveränen Staaten erzeugen. Das Wesen des Rechts würde durch das Aufkommen des Rechtsstaates und dem Verfall des Obrigkeitsstaates vervollkommnet und ein selbständiges Völkerrecht ermöglicht. 463 Endpunkt des Prozesses wäre ein "Weltstaat"464, der für Krabbe das zu erreichende Ziel der Lehre der Rechtssouveränität ist. Für diese globale Gemeinschaft würde ausnahmslos das "mundiale"465 Rechtsbewußtsein die Grundlage des Rechts bilden. 466 Die Erwartung eines Weltstaates bedeutet demnach das Verschwinden der Einzelstaaten. Nur ein Staat - nämlich der Weltstaat - verbleibt. 461 Werden die staatlichen Organe zur detaillierteren Ausformulierung der internationalen Normen verpflichtet, so handeln sie in diesem Moment als Rechtsorgane der internationalen Gemeinschaft; vgl. H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 272. 462 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 154; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 54; dazu auch 2. Teil, 2. Kap. 1. 463 Vgl. H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 280 und S. 295. 464 H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 305. 465 H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 305. 466 Vgl. H. Krabbe, Die modeme Staatsidee, S. 305. Nach Ansicht Walter Schiffers hat diese "Phase der Herrschaft der ethischen, unpersönlichen Macht des Rechts" allerdings "utopische Züge", W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 52. Gustav Walz bezeichnet dieses so konzipierte Weltreich als "internationalistisches Wunschideal"; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 155.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
159
"Die Staatsidee fängt an. die Grenzen der nationalen Staaten zu überschreiten und sich fragmentarisch in größeren Rechtsgemeinschaften zu verwirklichen. welche den menschlichen Interessen einen neuen und höheren Rechtswert zuteil werden lassen. als aus den kleineren Rechtsgemeinschaften erwachsen konnte. "467
Ein "Weltparlament"468. stellt das notwendige gemeinschaftliche Organ zur Ermittlung des einheitlichen Rechts dar. das sich durch die Rechtsüberzeugung der Menschen ausdrückt: "Erst dann. wenn ein speziell für die Erzeugung jenes Rechtes bestimmtes und aus dem Volke selbst hervorgegangenes Organ sich entwickelt haben wird. wird das Morgenrot des Ei. nen Staates erscheinen. zu welchem sich die jetzigen Staaten verhalten werden als seine Provinzen, ... ,,469
Krabbe vertritt die These. daß das gegenwärtige Entwicklungsstadium der Menschheit zwischen diesen Punkten liegt. weil sich die Nationen zwar schon im Sinne der Rechtssouveränität entwickelt haben - aber erst ansatzweise eine Organisation zur Bildung des Völkerrechts geschaffen wird: "Wir leben in bezug auf die Organisation der internationalen Gemeinschaft noch in der Zeit des Mittelalters. wo der politische Zusammenhang zwischen den Volksgenossen ebenso fragmentarisch und unvollkommen erschien wie jetzt derjenige zwischen den Völkern. Rechtsbildung. Rechtspflege. Rechtshandhabung waren damals durchgängig ebenso mangelhaft organisiert. wie jetzt in bezug auf die internationale Gemeinschaft. ,,470
Bis das weltumgreifende Rechtsbewußtsein durch Organe zentralisiert und ausgedrückt wird. ist eine völkerrechtliche Organisation funktionsfähig. wenn sie auf die nationalen Organe zurückgreift. In diesem Sinne kann sich eine unabhängige Weltrechtsgemeinschaft mit eigenem Rechtsrnaßstab formieren. 471 Gleichzeitig nimmt Krabbe an. daß noch lange Zeit auf einen Weltstaat hinzuarbeiten sei und dabei viele Schwierigkeiten überwunden werden müßten. "Dieses Weltreich. welches uns den Einen Staat bringen wird. in welchem die ganze Menschheit ihre Vereinigung gefunden hat. mag noch Jahrhunderte lang auf sich warten lassen .... "472
Auch das Völkerrecht vollzieht den Wandel vom Obrigkeitsstaat zum Rechtsstaat. 473 Nach Ansicht von Krabbe ist eine Obrigkeit zur Bildung des Weltstaates nötig. die solange herrscht. bis die Menschen erkennen. daß die Bildung eines mundialen Rechtsbewußtseins notwendig und richtig ist und sie eine weltumfassende Organisation ausgestalten. 474 Diese kennzeichnet damit den endgültigen Schritt des H. Krabbe. Die modeme Staatsidee. S.269. W. Schiffer. Die Lehre vom Primat des Völkerrechts. S. 45. 469 H. Krabbe. Die modeme Staatsidee. S. 305-306. 470 H. Krabbe. Die modeme Staatsidee. S.268. 47\ Vgl. H. Krabbe. Die modeme Staatsidee. S. 279 und S. 310-311. 472 H. Krabbe. Die modeme Staatsidee. S. 305. vgl. S.308. 473 Vgl. H. Krabbe. Die modeme Staatsidee. S.308. 474 Vgl. H. Krabbe. Die modeme Staatsidee. S. 308. Walter Schiffer erkennt hierbei einige Widersprüche; denn zunächst lehnt Hugo Krabbe den nationalen Obrigkeitsstaat ab. akzeptiert 467
468
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Entwicklungsprozesses im Sinne der Lehre Krabbes. Aus der Lehre Krabbes kann dann folgendes gefolgert werden: In mancher Hinsicht beabsichtigt sie die Entstehung eines Weltrechts mit "absolutem Wert"475, basierend auf dem reinen Rechtsbewußtsein. Ein näher liegender Gedanke sei es aber, die Grundlage des angestrebten Weltrechts und des staatlichen Rechts im konkreten unreinen Rechtsbewußtsein zu erkennen. 476 Ohne Zweifel wird für Krabbe die Einheit der Rechtsordnungen durch einen langwierigen geschichtlichen Prozeß erreicht. Der Monismus vervollständigt sich um so mehr, je mehr die Individuen die Lehre der Rechtssouveränität und die Bildung einer internationalen und globalen Rechtsordnung anstreben. Demnach vertritt Krabbe eine auf dem Rechtsbewußtsein basierende Lehre. Diese geht zwar zunächst von eigenständigen nationalen und internationalen Rechtsordnungen aus, vollzieht dann allerdings den Schritt hin zur monistischen Konstruktion von staatlichem und supranationalem Recht. Der Primat des überstaatlichen Rechts ergibt sich aus dem größeren Umfang des Rechtsbewußtseins der internationalen Gemeinschaft. 477 Nach Ansicht Krabbes kann das internationale Recht die Individuen unmittelbar und ohne Transformationsakt berechtigen und verpflichten. Aus alldem schlußfolgert er, daß nationales Recht, welches dem supranationalen Recht widerspricht, keine Geltungskraft besitzen könne. 478 Wird die letzte Entwicklungsstufe erreicht, verschwindet auch die letzte Verschiedenheit: Das Völkerrecht der heutigen Zeit existiert nur noch als "innerstaatliches Weltrecht" und ein vollkommen einheitliches Recht existiert im Weltstaat. 479 Die zentrale Organisation regelt die Rechte und Pflichten der Individuen für alle Sachverhalte. Haben sich alle Einzeltstaaten zu einer globalen Gemeinschaft im Sinne der Rechtssouveränität erfolgreich zusammengeschlossen, verliert die Frage nach dem Verhältnis und dem Vorrang der Rechtsordnungen an Bedeutung; denn der Weltstaat im Sinne Krabbes ist mit dem Monismus unabdingbar verbunden.
ihn jedoch dann für die Weltgemeinschaft. Auch die Beziehung des auf dem Rechtsbewußtsein basierenden Staatsrechts zum überstaatlichen Recht, das noch von der Obrigkeit beherrscht wird, ist für Schiffer ungeklärt; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 49. 475 H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, S. 224. 476 Ausschlaggebend dafür ist der andauernde Wandel der Geschichte, der eine permanente Fortentwicklung der Rechtsnormen mit sich bringt; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 52-53. 477 Kritisch dazu A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, 1923, S. 69-70. 478 Das Problem der Verbindlichkeit völkerrechts widriger Rechtsnormen handelt Hugo Krabbe nur kurz mit der Aussage ab, daß das internationale Recht "auch für die Staaten keinen Widerspruch zuläßt", H. Krabbe, Die moderne Staats idee, S. 263. 479 Kritische Gedanken zur Entwicklung der Einzelstaaten zum Weltstaat und zur Auflösung der nationalen Strukturen findet man bei W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.42, S.48 und S. 55-56.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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2. Die Lehre Hermann Isays
Zweifellos wurden psychologisch ausgerichtete Rechtslehren über den Monismus von staatlichem Recht und Völkerrecht bis zur Zeit Hugo Krabbes in Europa vertreten. 480 Zunehmend aber gewannen die jüngeren Rechtsschulen - vor allem in Deutschland und Österreich - an Bedeutung. Trotz übereinstimmender monistischer Rechtsauffassung wendeten sie sich deutlich von einer psychologischen Begründung ab und thematisieren grundlegend andere Ansatzpunkte, Argumentationen und Methoden. 481 Auch Hermann Isay 482 entwickelt einige Jahre nach Krabbe eine Rechtslehre, die bereits unter dem Einfluß kritischer Einwände entsteht. Im Folgenden sollen insbesondere die neuen Aspekte der Lehre Isays im Vergleich zur Lehre Krabbes kurz herausgestellt werden. Für ihn drückt sich das Recht nicht durch die Gesamtheit der abstrakten Rechtsnormen aus, sondern durch die aus dem Rechtsgefühl entspringenden, konkreten Entscheidungen über einen Sachverhalt. Die Rechtsnormen entstehen - zur Vermeidung von Willkür und zur Sicherung der Rationalität des Rechts - erst nachträglich aus den emotional geprägten Entscheidungen. Neben dem Rechtsgefühl des Individuums erkennt Isay die "praktische Vernunft" als Quelle des positiven Rechts an. Er gliedert das Rechtsbewußtsein damit in eine Individual- und eine Gemeinschaftskomponente. Letztere garantiert die Vernunft und Allgemeingültigkeit der getroffenen Entscheidungen, wodurch sie für alle Individuen der Rechtsgemeinschaft verbindlich sind. 483 Die in der Krabbesehen Lehre vermißte Objektivität des Rechtsbewußtseins ist hier gegeben. 484 Ausdrücklich erkennt Isay neben den Staaten auch Einzelmenschen und nichtstaatliche Organisationen als Völkerrechtssubjekte an. 485 Was das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichen Rechtsordnungen angeht, so kommt auch Isay zu einer Einheit der Rechtsquellen, weil er Rechtsgefühl und praktische Vernunft zur Quelle allen Rechts bestimmt. 486 So beruht auch bei Isay die Einheit der Rechtsentscheidungen und Rechtsordnungen auf einer Einheit der Rechtsquellen. Der gemeinsame Ursprung hat für ihn zur Folge, daß "das Landesrecht Dazu 4. Teil, 3. Kap. I. 2., 3.,4. und 5. Dazu 4. Teil, 3. Kap. 11. und 111. 482 Hermann /say (1873-1938). 483 Vgl. H./say, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S.4, S.5, S.25, S.67-68, S. 78, S.149, S. 177 und S. 226. 484 Vgl. H./say, Rechtsnorm und Entscheidung, S.98; dazu auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 158-159. 485 Vgl. H./say, Rechtsnorm und Entscheidung, S.304-312. Den Einbezug von Individuen und nichtstaatlichen Gruppen leitet er aus der "Natur der Dinge" ab (S. 306). 486 Die völkerrechtlichen Rechtsnormen basieren auf Richtersprüchen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Vereinbarungen, die Hermann /say allerdings nicht im Sinne Heinrich Triepels versteht; vgl. H. /say, Rechtsnorm und Entscheidung, S.288-289; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. I. 3. 480 481
11 Amrhein·Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
nicht dem Geist des Völkerrechts widersprechen kann"487. Eine hierarchische Struktur lehnt er dennoch ab: Völkerrecht und Landesrecht stellen eigene Gemeinschaften dar, weil ihr Recht durch jeweils unterschiedliche Gemeinschaftskomponenten innerhalb des Rechtsgefühls geprägt ist. 488 Für die Beantwortung der Frage nach der Anwendung von Völkerrechtsnormen durch die staatlichen Gerichte trennt Isay zwischen Normen des allgemeinen und besonderen Völkerrechts. Erstere regeln die fundamentalen Gegebenheiten der Völkergemeinschaft und wurden durch Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze gebildet, die auf abstrahierten Entscheidungen beruhen. Weil diese nach Ansicht Isays auf die gleichen Rechtsquellen wie das staatliche Recht zurückzuführen sind, muß das allgemeine Völkerrecht grundsätzlich auch von den staatlichen Richtern beachtet werden, unabhängig von seiner Rezeption oder Transformation in das Landesrecht. 489 Eine Anwendung der Regeln des besonderen Völkerrechts durch die nationalen Gerichte entscheidet sich nach Meinung Isays ausschließlich durch die positiven Regeln der staatlichen Rechtsordnungen und die Rechtspraxis. Im Hinblick auf das Recht als konkrete Entscheidung kommt Isay jedoch zu einem differenzierten Ergebnis: Der nationale Richter kann im Rahmen einer Entscheidungsfindung die Bindung durch eine staatliche Norm ablehnen, sofern diese dem Rechtsgefühl und der praktischen Vernunft entgegensteht. Existiert nun eine allgemeine Norm des Völkerrechts, die dieser Landesrechtsnorm widerspricht, so kann der Richter die zweifelhafte staatliche Norm als ungültig werten. 490 Weitere, problembezogenere Aussagen zur Beziehung von Völkerrecht und staatlichem Recht trifft Isay nicht. Alles dreht sich um seine Grundaussage, daß eine all487
H.Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 324.
488 Vgl. H.Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 330. Diese Argumentationen Hermann
lsays erscheinen widersprüchlich; denn die rechtsbildenden Entscheidungen bewirken die Regelung konkreter einmaliger Sachverhalte. Trotz des einheitlichen Ursprungs und gerade wegen der Verschiedenheit der Gemeinschaftskomponenten des nationalen und internationalen Rechtsgefühls sind differierende Rechtsentscheidungen und -normen zu vermuten, so daß die von lsay vertretene Widerspruchsfreiheit der Rechtsnormen illusorisch erscheint. Ein anderes Urteil wäre bei einer "universal-einheitlichen" Gemeinschaftskomponente, im Sinne einer weltweit absoluten praktischen Vernunft denkbar. In diesem Fall könnte man auf sich ähnelnde Rechtsentscheidungen schließen, die jedoch V{,eiterhin durch die verschiedenen individuellen Komponenten des Rechtsgefühls beeinflußt werden. 489 Vgl. H.Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, S.326. Auch dieser These mangelt es an Schlüssigkeit, weil Hermann lsay gleichzeitig die Verschiedenartigkeit der nationalen und internationalen Rechtsgemeinschaften unterstreicht und das staatliche Recht nicht als Teilbereich der Völkerrechtsordnung definiert. 490 Vgl. H. lsay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 330-331. Sollte in einer solchen Situationjedoch eine aufgrund Vertragsschluß entstandene, widersprechende Völkerrechtsnorm bestehen, so kann sie der Richter nicht zur Prüfung der Geltungskraft der beanstandeten staatlichen Norm heranziehen, vgl. S. 330. Diese strikte und folgenreiche Trennung von positiven Vertragsnormen und allgemeinen Normen des Völkerrechts, verbunden mit dem dominierenden Rang der allgemeinen Normen, deutet erneut auf eine naturrechtlich geprägte Lehre Hermann lsays hin.
3. Kap: Der völkerrechts primäre Monismus der Rechtsordnungen
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umfassende Einheit der Rechtsquellen besteht. Trotz dieses monistischen Bekenntnisses betont Isay die Unterschiedlichkeit zwischen nationaler und internationaler Gemeinschaft und hebt die verschiedenartigen Gemeinschaftskomponenten im staatlichen und völkerrechtlichen Rechtsgefühl hervor. 491 3. Die Rechtsauffassung Boris Mirkine-Guetzevitchs Auch Boris Mirkine-Guetzevitch 492 vertritt eine monistische Rechtsauffassung, in der das Rechtsbewußtsein zentraler Ausgangspunkt allen Rechts ist. Im Gegensatz zu Hugo Krabbe und Hermann Isay geht er dabei von einem einzigen Rechtsbewußtsein des Menschen und einer einzigen Geschichte der Menschheit aus. 493 Anders als Krabbe wertet Mirkine-Guetzevitch das internationale Recht als Resultat eines höherwertigen Rechtsgefühls von Individuen und nicht als Ergebnis einer umfangreicheren Gemeinschaft an Individuen. 494 Ohne Zweifel bewirkt seiner Meinung nach die Gesamtheit jenes unikaien Rechtsbewußtseins jedes Menschen die Einheit des öffentlichen Rechts. 495 In dieser Konzeption verliert nach Ansicht Mirkine-Guetzevitchs die Frage nach dem Vorrang von Völkerrecht oder staatlichem Recht ihre Bedeutung. 496 Ein einflußreiches Element ist die historisch-empirische Grundhaltung MirkineGuetzevitchs, die er zur Basis seiner Rechtslehre macht: Er betont mehrfach, daß - im Unterschied zu vielen anderen Vertretern des Monismus, insbesondere zur Rechtslehre Hans Kelsens 497 - seine Argumente nicht im streng logischen und normativen Bereich wurzeln, sondern auf der "realite historique"498 beruhen. Die grundsätzliche Einheit des Rechts zeige sich ganz offensichtlich beim Beobachten des internationalen Lebens. 499 Dieses kann dennoch nicht generell mit der Aussage 491 Nach Ansicht von Gustav Walz beinhaltet die Rechtsauffassung Hermann Isays lediglich monistische Ansätze, die keine neuen, weiterführenden Erkenntnisse bezüglich des Verhältnisses der Rechtsordnungen zueinander offenbaren kann: "Die Theorie Isays erweist sich ... als durchaus unfertig .... Die so stark betonte Einheit des Völkerrechts und des Landesrechts bleibt für die aktuellen strittigen Grenzfragen ohne jede praktische Auswirkung." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 164. 492 Boris Mirkine-Guetzevitch (1892-1955). 493 Vgl. B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S.321 und S.323. 494 Vgl. B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 321, Fußnote 3. 495 ,,La conscience juridique des peuples ... cree cette unite du droit public; ... " B. MirkineGuetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 323. 496 Vgl. B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S.317 und S.321. 497 Dazu 4. Teil, 3. Kap. 11. 498 B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S.318. 499 Vgl. B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 317-319 und S.322-323.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
erklärt werden, daß das Verhältnis von internationalem und staatlichem Recht genau und ausschließlich auf einer bestimmten theoretischen Konzeption beruht. Für Mirkine-Guetzevitch ist die rechtliche Wirklichkeit teils monistisch, teils dualistisch. soo Letztlich jedoch ist er von einer Entwicklung hin zum Monismus des Rechts überzeugt, weil die dualistische Idee nicht mehr der Rechtswirklichkeit entspricht: "Le monisme n'est pas encore toute la realite internationale, mais c'est deja une partie de cette realite. Le monisme n'englobe pas tout le droit international de notre epoque, mais il penetre peu a peu dans plusieurs institutions.,,501
Je mehr die nationalen Regierungen im 19. Jahrhundert sich in demokratischer Richtung fortentwickelten und das Volk aufgerufen war, für sich selbst verantwortlich zu sein, desto größer wurde das Bestreben, neue Formen des internationalen Lebens zu schaffen. Nach Ansicht von Mirkine-Guetzevitch sind die Anstrengungen der Völker, eine internationale Organisation aufzubauen, korrespondierend mit ihrem zuvor verwirklichten Willen, ihr internes Leben freiheitlich zu organisieren. S02 Wie bereits im Rahmen der Rechtsauffassungen Krabbes und Isays festgestellt, basiert die monistische Grundidee auf der historisch-rechtlichen Entwicklung, die durch das Rechtsbewußtsein der Individuen getragen wird.
4. Die Rechtslehre Leon Duguits a) Die realistische Rechts- und Staatslehre Als ein bedeutender Vertreter der französischen Rechtsschule zu Beginn des 20. Jahrhunderts gilt unzweifelhaft Leon DuguitS03 • Während er sich in seiner Monographie "Traite de droit constitutionnel"s04 insbesondere mit dem Staats- und Verfassungsrecht beschäftigt, behandelt er darauf aufbauend in seiner Vortragsreihe "Souverainete et Liberte"SOs Fragen des Völkerrechts. Die Kerngedanken sowohl der Werke Duguits als auch jene seines Schülers Georges Scelle s06 spiegeln die sich nach dem Krieg neu entwickelnden Vorstellungen und Ideen über die Gestaltung der Staatenbeziehungen wider und besaßen gleichzeitig merklichen Einfluß auf die Völ500 "Nous insistons sur la necessite de reconnaitre la coexistence de ses deux conceptions dans la realite historique." B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 319. SOl B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 321, vgl. S.320. 502 Vgl. B. Mirkine-Guetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 322-323. 503 Leon Duguit (1859-1928) studierte Rechtswissenschaften an der Universität in Bordeaux. Zwischen 1883 und 1886 war er als Professor an der Universität in Caen tätig. Danach kehrte er als Dekan der juristischen Fakultät nach Bordeaux zurück, wo er bis zu seinem Tod wirkte. 504 L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, I.Aufl., Band I-IV, 1911. Nach Beendigung des Krieges wurden zwischen den Jahren 1923 und 1930 jeweils neue überarbeitete Auflagen dieser Bände veröffentlicht. 505 L. Duguit, Souverainete et Liberte, 1922. 506 Georges Scelle (1878-1961), dazu 4. Teil, 3. Kap. 1.5.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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kerrechtsliteratur der Nachkriegszeit. 507 Im Rahmen dieser Arbeit sollen deshalb die wesentlichen Zusammenhänge der umfassenden Rechtslehren von Duguit und Scelle erörtert werden. Wie bereits Hugo Krabbe ist auch Duguit in seiner Rechtslehre bestrebt, die Begrenzung der staatlichen Souveränität aufzuzeigen. Zur Erreichung dieses Ziels versucht er, die grundlegende Verschiedenheit und Separation von Recht und Staat zu begründen. 508 Seiner Ansicht nach sind die Rechtsnormen in gleicher Art und Weise sowohl an den Staat als auch an die Individuen gerichtet. 509 Der Ausgangspunkt der Duguitschen Lehre ist demnach das objektive Recht: Der Rechtssatz an sich stellt die Grundlage seiner Rechtskonzeption dar. 510 Zugleich ist es sein Ziel, eine "conception vraiment realiste de l'Etat,,511 zu entwickeln - also eine "realistische Staatsauffassung" -, in der das Recht nicht in der Gesamtheit der Gesetze, sondern vielmehr in der gesellschaftlich-sozialen Realität zu finden ist: "Le droit se trouve dans la realite sociale et non dans les formules les lois ... le moment est venu de tenter la construction juridique de I'Etat, en utilisant uniquement les materiaux fournis par la realite sociale ... "512
Die Begründung dieses - vom Staat unabhängigen - objektiven Rechts, liegt im soziologischen Ausgangspunkt der Gesellschaft. Die Notwendigkeit, daß die Individuen in einer Gemeinschaft zusammenleben, verbunden mit menschlichen Tätigkeiten im gemeinschaftlichen Leben, drückt sich für Duguit durch die "norme sociale"513 aus. Um die Ordnung des Gemeinschaftsleben zu gewährleisten, müssen sich die Menschen entsprechend dieser "Sozialnormen" verhalten. 514 Jene Normen werden jedoch nicht mit Veröffentlichung durch den Staat zu Rechtsnormen, sondern erhalten ihren Rechtscharakter dann, wenn das Bewußtsein der Mitglieder der Gemeinschaft gefühlsmäßig darin übereinstimmt, daß ihre Einhaltung für die Existenz des Gemeinschaftslebens erforderlich ist und eine Nichteinhaltung der Regeln 507 Vgl. J. Kunz, Die Rechts- und Staatslehre Leon Duguits, in: Revue internationale de la theorie du droit, l.Jg. (1926/27), S.140-152, hier S.140-141 und W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 60. 508 Auch H ugo Krabbe verfolgte - wie erläutert - diesen Gedanken; allerdings gelang es ihm mit seinen Thesen zum Rechtsgefühl und zur Einheit der Rechtsnormen nicht rundweg, eine schlüssig aufgebaute Konzeption von Recht und Staat zu schöpfen. 509 "Le droit n' est pas une creation de I'Etat, il existe en dehors de I 'Etat, la notion de droit est tout afait independante de la notion d'Etat et la regle de droit s'impose aI'Etat comme elle s'impose aux individus." L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band 1,3. Auflage, 1927, S. 104; im folgenden zitiert: Band I (1927). 510 Vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, 2. Aufl., Band I, 1921, S. 6. 511 L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, 2. Aufl., Band 11, 1923, S. 287; im folgenden zitiert: Band 11 (1923). 512 L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band 11 (1923), S. 2. 513 L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 66. 514 Vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 70,83. Sozialnormen im Sinne Leon Duguits sind ökonomische und moralische Normen. Erstere sind mit dem Güterkreislauf verbunden, letztere betreffen die Regeln der Sitte, vgl. S. 89-90.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Sanktionen der Gemeinschaft gegenüber Rechtsverletzern rechtfertigt. 515 Zu welchem Zeitpunkt eine "norme sociale" zur Rechtsnorm wird, kann nach Ansicht Duguits nur durch Beobachtung festgestellt werden. 516 Übereinstimmend zur Rechtslehre Krabbes wertet Duguit dieses Bewußtsein der Individuen als die alleinige Quelle des Rechts. 517 Für Duguit kann deshalb allein das Individuum und niemals der Staat Rechtssubjekt sein. 518 Die auf diese Weise entstehenden Rechtsnormen teilt Duguit in die eigentlichen normativen und in die technischen Rechtsregeln ein. Letztere sind als Sanktionsvorschriften für die Verwirklichung der Normativregeln verantwortlich und beruhen jeweils auf jener normativen Regel, die sie durchsetzen sollen. 519 Auch der Staat und seine Regierenden sind diesen Sanktionsvorschriften untergeordnet. Dennoch erkennt Duguit den Staat als Inhaber eines Zwangsmonopols an, so daß die Regierenden die besondere Aufgabe haben, die normativen Handlungs- oder Unterlassungsregeln mit Hilfe der technischen Regeln zu verwirklichen, um so das Recht zu sichern. In diesem Sinne sieht Duguit den Staat - genauer die Regierenden - als "Machtinhaber" mit einem "caractere irreductible"520: Die Zwangsmacht stellt sich als reine Tatsache dar, die keiner Begründung durch das Recht bedarf und auch nicht begründet werden kann. 521 Insofern kann der Staat seine Aufgaben nur im Sinne des geltenden objektiven Rechts erfüllen. Er stellt mit seinen erlassenen Gesetzen lediglich das positive Recht fest - sei es in Form von Gesetzen, die Normativregeln zum Ausdruck bringen, oder durch technische Regeln, die eine Rechtsnorm durchsetzen. 522 515 Dieses Rechtsbewußtsein setzt sich demnach aus zwei Komponenten zusammen, dem "sentiment de la socialite" und dem "sentiment de la justice"; L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 125. 516 Eine ablehnende Haltung dazu nimmt lose! Kunz ein: "Der Jurist wird damit zum Soziologen, zum Massenpsychologen, und hiemit ihm nicht nur als Hauptaufgabe eine ihm fremde, sondern auch eine kaum durchführbare Aufgabe gestellt." 1. Kunz, Die Rechts- und Staatslehre Leon Duguits, S. 147. 517 Vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 115-116 und S.124-l25. lose! Kunz beurteilt die Duguitschen Begriffe Bewußtsein und Gefühle der Individuen als "rein psychologische, massen psychologische und ethische Faktoren, ... die dem ganzen Lehrgebäude Duguits, seiner ,realistischen' Rechtstheorie, den positivrechtlichen, ... den rechtstheoretischen Charakter dadurch nehmen müssen, daß diese ,Rechtstheorie' naturrechtlich fundiert ist, ... " l. Kunz, Die Rechts- und Staatslehre Leon Duguits, S. 145-146. Leon Duguit versucht diesen Einwand abzuwehren, indem er die Komponenten des Bewußtseins, das Rechts- und Solidaritätsgefühl, als Tatsachen und nicht als übergeordnete Prinzipien charakterisiert; vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 73. 518 Vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 452 und 460. Uon Duguit ist demnach bestrebt, die staatliche Souveränität und mit ihr den Willen des Staates als Geltungsgrund des Rechts auszuschalten. 519 Leon Duguit bezeichnet eine solche Verfahrensnorm als "la regle organique de la contrainte" und verwendet auch die Bezeichnung Konstruktivnorm; siehe L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 108. 520 L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 534. 521 Vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionne1, Band I (1927), S.655, S. 670, S. 679, S.483 und S. 535-537.
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Trotz der von Duguit angestrebten Unabhängigkeit von Recht und Staat ergibt sich durch die Sanktionsregeln ein Zusammenhang, den er eigentlich ablehnen wollte. Um dieses Ergebnis dennoch zu erreichen, erkennt er den Rechtscharakter der Sozialnormen auch ohne eine organisierte staatliche Sanktionierung an, sofern die Mitglieder der Gemeinschaft auf das Fehlverhalten reagieren und die Notwendigkeit einer organisierten Reaktion erkennen. Für Duguit ist demnach nur das Bewußtsein - in Form der Gefühle der Gerechtigkeit und Solidarität - zur Existenz einer Rechtsnorm erforderlich. 523 Ähnlich wie bei Hugo Krabbe, in dessen Lehre objektiv erzeugtes, reines Recht letztlich durch das reale, faktische Bewußtsein ersetzt wird, begründet bei Duguit nicht das objektive Gesetz eines Gemeinschaftsverbandes, sondern das menschliche Bewußtsein die Grundlage der Rechtslehre. Obwohl dieses Rechtsbewußtsein über das normative Recht und die Sanktionierung entscheiden darf, existiert diesbezüglich dennoch eine Verknüpfung von Recht und Organisation. 524
b) Das Völkerrecht als intersoziales Recht Ebenso wie für das Recht im Allgemeinen sieht Duguit den Ursprung des Völkerrechts im Geist der Individuen. Hierbei sind die Beziehungen zwischen den Menschen verschiedener Staatsgemeinschaften Grundlage seiner Betrachtung. Das Verhalten der auf diese Weise entstehenden Gruppen wird wie im Einzelstaat durch ökonomische oder moralische Normen geregelt. Eine solche "norme juridique intersociale"525 erhält ihren Rechtsnormencharakter durch das "internationale Rechtsbewußtsein" 526. Sie ist für die entsprechende intersoziale Gemeinschaft verbindlich, die sich aus Individuen verschiedener Staaten bildet. Es können sich damit neue Gruppen auf einer anderen Ebene bilden - ein einheitlicher Überstaat muß nicht 522 Vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S.673, S.677 und S.171-173. 523 V gl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 94-95. Dennoch ist Uon Duguit überzeugt, daß eine fehlende technische Norm durch die staatlichen Organe innerhalb eines kurzen Zeitraums gesetzt wird, wenn die Individuen ein Bewußtsein über die Erfordernis der Sanktionierung eines Fehlverhaltens gebildet haben; vgl. S.113. 524 Die gemeinschaftliche Organisation zur Setzung von technischen Regeln ist nötig, um den Bereich der Geltung der Rechtsordnung festzulegen; vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 532, S. 507 und S. 524. Walter Schiffer schließt aus diesen Thesen, daß es Leon Duguit nicht gelungen ist, Recht und Staat als unabhängig voneinander zu konzipieren, den staatlichen Willen als Geltungsgrund des Rechts gänzlich zu beseitigen und die Staatsrnacht dem Recht unterzuordnen: "Der Staat hat also in Duguits Lehre seine wesentliche Stellung für die Rechtsgeltung nicht eingebüßt". Seiner Meinung nach "ist das Recht ohne Organisation nicht denkbar, die Organisation aber vom Recht abhängig"; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 82. 525 L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 99, vgl. S. 100. 526 lose! Kunz nennt es "conscience juridique internationale"; l. Kunz, Die Rechts- und Staatslehre Leon Duguits, S.149.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
zwingend entstehen. Für Duguit ist auch bezüglich des intersozialen Rechts die Organisation der Sanktionierung für eine Rechtsnorm nicht entscheidend, ein existierendes Bewußtseins über die erforderliche Sanktion reicht bereits aus. 527 Diese Thesen anerkennen sowohl das gleichzeitige Bestehen der Individuen in verschiedenen - staatlichen und intersozialen - Gemeinschaften als auch die Verbindlichkeit der intersozialen Rechtsnormen für Einzelpersonen, die separaten staatlichen Organisationen angehören. Ganz offensichtlich verneint Duguit - infolge seiner psychologischen Grundlegung der völkerrechtlichen Normen - die Existenz der souveränen Staaten im Bereich des Völkerrechts. Der souveräne Staat kann für ihn kein internationales Rechtssubjekt sein. Weiterhin kann gefolgert werden, daß in der Duguitschen Lehre die Geltung des intersozialen Rechts unabhängig von einer intersozialen Organisation und zunächst völlig losgelöst von der Erzeugung technischer Regeln angesehen wird. Bis zu dem Zeitpunkt, ab welchem eine völkerrechtliche Zwangsmacht die Organisation und Erzeugung der technischen Normen selbst vornehmen kann, wird diese Aufgabe von der staatlichen Organisation vorübergehend übernommen. 528 Dennoch können auch in der Rechtslehre Duguits eine eigene Organisation und damit auch entsprechende Organisationsnormen nur mit Hilfe einer einheitlichen intersozialen Macht entstehen. Ansatzweise erkennt Duguit im Regelungsbereich des Völkerbundes bereits intersoziale technische Regeln und hält seine langsam fortschreitende Entwicklung hin zu einer einheitlichen intersozialen Gewalt für möglich. 529 Trotz dieses angenommenen Entwicklungsprozesses ist für Duguit im Gegensatz zu Hugo Krabbe weder die allgemeine historische Evolution noch die zum damaligen Zeitpunkt bestehende Konzeption des Völkerbundes zwangsläufig auf eine solche übergeordnete Gemeinschaft ausgerichtet: "Une Ligue des Nations ainsi comprise n'avait aucune chance d'etre constituee - en effet, c'eut ete la negation complete et directe de la souverainete des Etats adherents. Ils auraient perdu par la-meme leur independance souveraine, puisqu'ils seraient devenus les sujets 527 Abgesehen davon bemerkt Leon Duguit im internationalen Recht die Tendenz zur Bildung von technischen Regeln - als Beispiel nennt er den Völkerbund; vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band 1(1927), S.197. 528 Nach Ansicht Leon Duguits ist dies nur eine temporäre Konstellation aufgrund der noch bestehenden Unvollkommenheit des intersozialen Rechts im Rahmen eines Entwicklungsprozesses, den auch alle anderen Gemeinschaften durchlaufen mußten; vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 196. Dieser Argumentation steht Walter Schiffer kritisch gegenüber, weil der Staat erneut zu einem nennenswerten Element wird; er vermutet, daß die Regierenden der Staaten das konstruktive intersoziale Recht nicht einheitlich erzeugen können; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 88-89 und S. 93-94. 529 Vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band 1(1927), S.196-197. Demnach erachtet Leon Duguit für den Bestand intersozialer Normen, die als objektives Recht z. B. in Form von Verträgen für Individuen verschiedener Staaten verbindlich sein sollen, letztlich nicht nur eine intersoziale Gemeinschaft, sondern auch eine intersoziale Organisation als untrennbare Bedingung; siehe dazu W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 86, S.89, S.94 und S. 96.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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d'une puissance placee au-dessus d'eux. La conception de la souverainete est encore trop vivante dans les rapports internationaux pour qu' aucun des participants au traite de Versailles put accepter une Societe des Nation ainsi comprise."530
Führt man die Überlegungen Duguits fort, so kann der Endpunkt einer idealen Fortentwicklung auch zu einem "Überstaat" führen, der alle einzelstaatlichen Gemeinschaften umfaßt. In einem solchen Fall würde eine derartige einheitliche Organisation sowohl intersoziale aber ebenso innerstaatliche Normativ- und Konstruktivregeln erlassen. Sowohl die unabhängige Macht der Regierenden als auch die souveränen Staaten würden auf diese Weise verschwinden, und die Einteilung in staatliches und intersoziales Recht wäre bedeutungslos. 531 Eine Transformation von Rechtsnormen würde generell nicht erforderlich sein. Darüber hinaus wäre in einem solchen undifferenzierbaren Rechtssystem die Möglichkeit eines Widerspruchs von Normen zweier unabhängiger Rechtsordnungen auszuschließen. Die Frage nach dem Rangverhältnis zwischen den Rechtsnormarten innerhalb einer Weltrechtsordnung würde - wie im Einzelstaat - zugunsten des Bewußtseins jenes Rechtskreises mit den höchsten Machtorganen ausfallen, deren Vorschriften dem Rechtsbewußtsein dieses Kreises entsprechen. 532 Fraglich wird die Argumentation bei der Berücksichtigung der Kemthese Duguits, nämlich, daß das Rechtsbewußtsein der Individuen die Quelle aller Rechtsnormen darstellt. Unter einem solchen Blickwinkel ist es zur Klärung des Rangs von Normen unerheblich, welchem Rechtskreis sie angehören - entscheidend kann dann nur sein, wie stark die gesetzten Normen mit dem Rechtsbewußtsein übereinstimmen. 533 In dieser monistischen Rechtsordnungskonstruktion Duguits kann folgende Hierarchie der Rechtsnormen festgestellt werden: Den obersten Rang beansprucht das auf dem Weltrechtsbewußtsein beruhende objektive Recht. Darunter befinden sich die von den Organen des Weltrechts gesetzten positiven - normativen und konstruktiven - Rechtsnormen, die 530 L. Duguit, Souverainete et Liberte, S. 116; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 98. 53\ Für Walter Schiffer ist diese These notwendige und direkte Folge der Duguitschen Lehre, vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 94 und S. 88-89. lose! Kunz sieht den Weltstaat nicht als unabdingbaren Endpunkt der Entwicklung des intersozialen Rechts: "Die völkerrechtlichen Nonnen involvieren keinen ,super-Etat' ... " l. Kunz, Die Rechts- und Staatslehre Leon Duguits, S.149. 532 "Als Erklärung des Vorrangs der Vorschriften des größeren Kreises findet man nur die Vennutung, die ... für die Übereinstimmung der von den höchsten Machthabern ausgehenden Vorschriften mit dem Rechtsbewußtsein spricht, das sich in deren Machtbereich gebildet hat. Nimmt man aber selbst diese Vennutung als begründet an, dann bleibt immer noch die Frage unbeantwortet, weshalb gerade das Rechtsbewußtsein des größten Kreises entscheidend sein soll. Man findet für diese Frage keine andere Erklärung als eben die, daß die unwiderstehliche Macht der Regierenden dieses Kreises dem in ihm entstehenden Recht die Durchsetzung zu sichern vennag. Man gelangt also auch hier zur Macht als maßgebendem Faktor im Bereich des Rechtlichen und damit zu einem Ergebnis, das den Absichten Duguits offenbar nicht entspricht, das aber doch aus den Voraussetzungen seiner widerspruchsvollen und schwankenden Theorie folgt." W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 100-101. 533 Vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 100.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
mit dem objektiven Recht übereinstimmen. Eine weitere Ebene stellen jene Normen dar, die von untergeordneten Organen aufgestellt werden. 534 Anders beurteilt Duguit das Verhältnis der staatlichen und intersozialen Rechtsnormen in der Phase vor der Vollendung des Überstaates. Neben den jeweiligen Rechtsnormen der innerstaatlichen Gruppen gelten auch gleichzeitig intersoziale Regelungen, die sich im unorganisierten Status befinden. Legt man ihre selbständige Geltung zugrunde, gehören sie zum objektiven Recht und dienen - neben dem Recht der Einzelgemeinschaften - als Richtschnur für das gesamte positive Recht. Sowohl die staatlichen Normen als auch die durch die staatliche Organisation gesetzten technischen Normen sind dem intersozialen Recht untergeordnet und können ihm nicht widersprechen. Überdies hebt Duguit den Primat des gesamten objektiven Rechts hervor; denn jenes steht für ihn unzweifelhaft an der gedachten Spitze aller geltenden Normen und Rechtsordnungen. 535 Vergleichbar mit der Lehre Hugo Krabbes ist auch in der Rechtsordnungskonzeption Duguits die historische Weiterentwicklung der Staatengemeinschaft und mit ihr die Veränderung der Rechtsordnungen die Grundlage aller Thesen sowie der Ansatzpunkt seiner monistischen Rechtskonstruktion. 536 Ausgehend von dem rechtlichen Bestand vieler getrennt organisierter Staaten bilden sich aus dem menschlichen Bewußtsein völkerrechtliche Regeln. Duguit charakterisiert sie als intersoziale Regeln, die durch ein "überstaatliches Bewußtsein" entstehen und damit den Rechtsnormen der staatlichen Gemeinschaften übergeordnet sind. Dieser Prozeß kann sich so weit fortentwickeln, bis eine geordnete, überstaatliche Organisation entsteht, die alle Normen einschließt. In der Tat kann diese Rechtsauffassung damit als monistische Rechtsordnungskonstruktion beurteilt werden. Der Primat der völkerrechtlichen Normen - als die oberste Hierarchiestufe - ergibt sich für Duguit notwendig mit der Entstehung des objektiven Rechts durch das Rechtsbewußtsein der Individuen. Mit der Geltung des intersozialen Rechts entsteht die Einheit der Rechtsnormen. Zu einer Auflösung der souveränen Staaten und zur Bildung einer einheitlichen Weltrechtsordnung, die sich aus dem einem Weltstaat ableitet, muß es dennoch in der Lehre Duguits nicht notwendigerweise kommen. 537 534 Eine ablehnende Haltung dazu hat Walter Schiffer, der starke Widersprüche zu den aufgestellten Thesen Leon Duguits zum Verhältnis von Staat und Recht und zu der Verbindung von normativen und technischen Normen erkennt; vgl. W Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 80-81, S.101-102 und insbesondere S. 90. 535 Vgl. L. Duguit, Traite de droit constitutionnel, Band I (1927), S. 196; siehe dazu auch W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 99. 536 Siehe dazu auch A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S.72-74. 537 Für Walter Schiffer beinhaltet diese Gedankenabfolge zu viel Widersprüchliches: "Der menschliche Wille als bestimmender Faktor der Rechtsgeltung ist eben nicht völlig ausgeschaltet; damit ist auch der Souveränitätsgedanke nicht gänzlich beseitigt und der Fortschritt zum intersozialen Recht nicht mit einer Überwindung jenes Gedankens, sondern nur mit einer Verschiebung der Souveränität an eine höhere Stelle verknüpft." W Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 102.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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Neben den kritischen Äußerungen der Rechtswissenschaft zum unge~ügend geklärten Verhältnis von Recht und Staat und zur Trennung des Rechts in Normativund Konstruktivnormen wird Duguit - ähnlich wie Krabbe - insbesondere infolge seiner psychologischen Begründung des Rechts angegriffen; für loset Kunz ist eine solche Grundlegung gleichbedeutend mit der Abkehr von der "wahren Rechtswissenschaft"538. 5. Die Rechtsauffassung Georges SeelIes
Der Rechtswissenschaftler Georges Scelle 539 , der als bedeutendster Schüler Leon Duguits gilt, leistete die weitere Ausarbeitung der grundlegenden Thesen Duguits - insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung des Völkerrechts. Er veröffentlichte dazu insbesondere sein Werk "Precis de droit des gens"540 sowie den Aufsatz "Regles generales du droit de la paix"s41. Seine Ausführungen vermitteln zum großen Teil übereinstimmende Thesen und Ergebnisse im Vergleich zu den grundlegenden Gedankengängen des Duguitschen Objektivismus. Demzufolge sollen speziell die von ihm behandelten weiterführenden Einzelprobleme des Völkerrechts in einem komprimierten Überblick dargestellt werden. Der maßgebliche Ausgangspunkt seiner Rechtsauffassung sind - ähnlich wie in der Duguitschen Lehre - die sozialen Gegebenheiten der menschlichen Existenz: Seiner Natur nach kann das Individuum ausschließlich innerhalb einer gemeinschaftlichen Verbindung leben, so daß der Mensch den Normen unterworfen ist, die den Bestand dieser Gemeinschaft sichern. Scelle geht demnach von einem "biologischen Ursprung"S42 der Rechtsnormen aus. 543 Diese Regeln bilden das objektive Recht. Das positive Recht in Form von normativen und konstruktiven Regeln bedeu538 "Es ist klar, daß Duguit mit dieser Fundierung des Rechtes im Ethischen und Psychologischen das Terrain der Rechtswissenschaft verlassen, den Boden der Rechtstheorie unter den Füßen verloren, aber auch seine eigene ,realistische' Methode aufgegeben hat. Eine derartige Fundierung des Rechtes ist nichts Neues; sie ist den Ethikern ebenso geläufig, als den Soziologen und Massenpsychologen .... Abgesehen von der Unmöglichkeit, ein Rechtssystem auf derart vagen Begriffen, wie ,conscience des individus', ,sentiment de la justice' aufbauen zu wollen, muß gegen diesen Versuch schon vom Standpunkt wahrer Rechtswissenschaft als eigener und einheitlicher Wissenschaft bemerkt werden, daß eine ethische Fundierung des Rechtes die Jurisprudenz als selbständige Wissenschaft leugnen, sie zu einem Teil der Moral machen heißt." J. Kunz, Die Rechts- und Staatslehre Leon Duguits, S.149. 539 Georges Scelle (1878-1961) lehrte an der juristischen Fakultät in Lilie (1907) und übernahm danach eine Professorentätigkeit in Sofia (1908-1910) sowie Dijon (1912-1933). Daneben war er Kabinettschef des französischen Arbeitsministers (1924/25) und Mitglied der französischen Delegation bei der fünften Versammlung des Völkerbundes (1924). Es folgten Lehrtätigkeiten an den Universitäten in Genf und Paris (1929-1933). 540 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band 1,1932 und Band 11,1934. 541 G. Scelle, Regles generales du droit de la paix, in: RdC, IV, Nr.46, 1933, S.331-703. 542 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S. 3. 543 Anders als Leon Duguitverneint Georges Scelle nicht, daß das objektive Recht auch einen naturgesetzlichen Anteil beinhaltet; vgl. G. Scelle, Regles generales du droit de la paix, S. 349.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
tet folglich die Umsetzung der biologisch bedingten Regeln des Zusammenlebens der Individuen in nationale und internationale Gemeinschaften. 544 Das objektive Recht drückt sich für Scelle zwar in erster Linie durch das gemeinschaftliche Leben der Individuen aus; aber auch das menschliche Rechtsbewußtsein in Form von Gefühlen der Solidarität und Gerechtigkeit ist für die Geltung des Rechts bedeutsam. 545 Scelle bewertet dieses objektive Recht als Naturrecht und unterscheidet es ganz konsequent vom positiven Recht. 546 Genau wie Duguit beschäftigt sich auch Scelle in diesem Zusammenhang mit dem Problem eines unabhängig von jeder weiteren Quelle existierenden, objektiven Rechts, das die Richtschnur für die Geltung der positiven Rechtsnormen darstellt. Gleichzeitig berührt dies auch unmittelbar die Frage nach der Beziehung von Recht und Staat. Scelle sieht in dem Wesen des Staates keine hierarchisch strukturierte Gruppe, sondern eine Gemeinschaft von Individuen, die wie alle anderen Rechtsgemeinschaften von einer Rechtsordnung bestimmt wird. Auf diese Weise vermindert sich die Besonderheit von Regierenden und vom Staat an sich. 547 Die staatliche Gemeinschaft setzt sich wiederum aus zahlreichen Gemeinschaften mit jeweils individuellen Rechtsordnungen zusammen. 548 Damit stellt der Staat im Sinne SeelIes keine besondere juristische Einheit dar, so daß seiner Meinung nach eine unabhängige überstaatliche Rechtsordnung möglich erscheint. Ein solches Völkerrecht als intersoziale Rechtsordnung umfaßt demnach viele uneinheitliche staatliche Gemeinschaften, die sich durch menschliche Individuen bilden. Eine Begrenzung des Staates, sei es durch die eigene staatliche Gemeinschaft oder durch eine übergeordnete Rechtsgemeinschaft, wird damit möglich. Darüber hinaus kommt er letztlich zu dem Schluß, daß der Rechtscharakter einer Norm durch eine fehlende Sanktionsvorschrift beeinträchtigt werden kann: "L'absence de sanction mene al'anarchie."549 Ohne die Existenz von Konstruktivnormen, welche die Durchsetzung der normativen Regeln gewährleisten können, kann nach Ansicht Scelles das Recht nicht wirksam sein. 550 Folglich ist eine mit Macht ausgestattete Organisation zur Geltung des positiven Rechts nötig: ,,11 n'y a pas de societe Vgl. G. SceUe, Pn:cis de droit des gens, Band I, S. 2-5 und S. 14-15. Vgl. G. SceUe, Precis de droit des gens, Band I, S. 5. 546 Vgl. G. SceUe, Precis de droit des gens, Band I, S.3-5. "Dieses als ,droit objectif' bezeichnete Naturrecht hat - wie Georges Scelle immer wieder mit Nachdruck betont - den Charakter eines Naturgesetzes. Seine Regeln sind Kausalgesetze, biologische Gesetze, die das Leben und die Entwicklung der Gesellschaft bestimmen." H. Kelsen, Auseinandersetzungen zur Reinen Rechtslehre, in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht und Völkerrecht, hrsg. von Kurt Ringhofer und Robert Walter, Supplementum 9, 1987, S. 5. 547 Vgl. G. SceUe, Precis de droit des gens, Band I, S. 18 und S. 83; G. Scelle, Regles generales du droit de la paix, S. 343 und S. 346. 548 Folglich deutet Georges SceUe bereits einen Teil der Beziehungen zwischen den Individuen innerhalb eines Staates als intersoziales Recht; vgl. G. SceUe, Precis de droit des gens, Band I, S. 28-30. 549 G. SceUe, Precis de droit des gens, Band I, S. 22; vgl. G. SceUe, Regles generales du droit de la paix, S. 349. 544 545
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sans ordre, sans organisation des competences, sans hierarchie."551 Selbst wenn Scelle die Macht zur Feststellung und Durchsetzung des positiven Rechts nicht den Regierenden, sondern der Gemeinschaft an sich zukommen läßt und nicht - wie von Duguit gelehrt - auf das menschliche Rechtsbewußtsein zurückführt, so bleibt auch hier die Frage offen, ob überhaupt und aufgrund welcher Vorschrift die Regierenden dem Recht unterworfen sind. 552 Augenscheinlich lassen sich in diesem Teil der Scelleschen Lehre keine grundsätzlich neuartigen Erkenntnisse im Vergleich zu den zuvor erörterten Rechtsauffassungen erkennen. 553 Was die besonderen Probleme des intersozialen Rechts anbelangt, so versucht Scelle ebenfalls die von Duguit gewonnenen Erkenntnisse zu untermauern. Wichtigstes Element für die überstaatlichen Rechtsnormen sind demzufolge die Individuen, die sich aufgrund des Gefühls der Solidarität über die staatliche Ordnung hinaus zu verschiedenen intersozialen Gemeinschaften zusammenschließen. So existieren innerhalb wie außerhalb der staatlichen Organisation Gruppen unterschiedlichster Individuen, deren Verhalten alle notwendigerweise durch Regeln biologischen Ursprungs bestimmt werden. 554 Auch im intersozialen Bereich wird eine Regel nur infolge eines gemeinsamen Bewußtseins der Individuen zur Rechtsnorm. Für den Fall, daß sich eine solche internationale Rechtsgemeinschaft gebildet hat, besitzen ihre Normen Vorrang gegenüber jenen der staatlichen Rechtsordnungen: "Toute norme intersociale prime toute norme interne en contradiction avec elle, la modifie, ou l'abroge ipso facto."555
Scelle versteht diesen Völkerrechtsprimat folglich in dem Sinne, daß ein dauerhafter Widerspruch zwischen einer staatlichen und einer intersozialen Norm nicht bestehen kann; denn entweder muß sich die staatliche Norm inhaltlich ändern, oder 550 "Le droit constructif conditionne I' efficacite du droit normativ." G. Scelle, Precis de droit des gens, Band 11, S.548. 551 Siehe dazu W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrecht, S. 113. 552 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S. 23. 553 Walter Schiffer formuliert seine Bewertung dieser Thesen Georges Scelles wie folgt: "Scelle ist danach schließlich doch wieder zu denselben Ergebnissen gelangt wie Duguit. Der positive Rechtscharakter der an die höchsten Machthaber jeder Gemeinschaft sich wendenden Regeln ist nicht nachgewiesen. Positives Recht erfordert eine Organisation, diese eine Macht, die durch Willensakte gelenkt wird. Das heißt aber wiederum, daß der machtvolle menschliche Wille nicht völlig dem unabhängig von ihm geltenden Recht untergeordnet erscheint. Allerdings soll bei Scelle dieser Wille dem objektiven wie bei Duguit dem normativen Recht unterworfen sein. Aber abgesehen davon, daß diese Unterordnung, soweit die Macht erfordernde Stellung der Regierenden in Frage steht, auch bei Scelle zweifelhaft erscheint, ist das objektive Recht eben nicht das Recht im eigentlichen Sinne des Wortes. Objektives und positives Recht, Recht und staatliche, auf Willensakten beruhende Organisation stehen also in unlösbarer Beziehung zueinander und verweisen aufeinander." W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrecht, S. 114. 554 Vgl. G. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S. 28-30. 555 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S. 31.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
sie verliert ihre Geltung. Für den Fall, daß die intersoziale Solidarität nicht intensiv genug ist, um sich durchzusetzen, stellt sie nur eine vergängliche Erscheinung dar, und die staatliche Regel kommt zur Anwendung. 556 Diese Thesen sind das Fundament des "monisme juridique"557 von Scelle und führen zu einer komplexen und hierarchisch strukturierten Rechtsgemeinschaft. Scelle bestätigt und begründet demnach die von Duguit angedeutete Bildung einer organisierten Gemeinschaft, in der die einzelnen Rechtsordnungen in einer übereinandergeordneten Beziehung zueinander stehen. Die Basis für die Übereinstimmung der Rechtsnormen der intersozialen und staatlichen Gemeinschaften kann auch in der Scelleschen Rechtsauffassung wohl nur die Annahme sein, daß sich das Recht und damit auch das Rechtsbewußtsein der kleineren dem der größeren Gemeinschaft angleicht. 558 Die auf diese Weise entstehende Abhängigkeit führt letztlich zu dem Verlust selbständiger staatlicher Gesetze und zu der Einordnung der Einzelstaaten in eine weltumfassende Gemeinschaft. Doch auch jene benötigt zur Übertragung ihres objektiven Rechts in positive Rechtsnormen eine mit Macht ausgestattete Organisation. In Verbindung mit der hierarchischen Struktur dieser menschlichen Ordnungen folgert Scelle daraus einen "monisme normativ"559. Kommt es zu stärkeren gesellschaftlich-institutionellen Beziehungen und Gemeinsamkeiten, erkennt Scelle einen "monisme institutionnel ou constructif"560. Das Merkmal der Organisation tritt bei Scelle noch deutlicher als bei Duguit hervor; denn Scelle definiert danach wesentliche Entwicklungsstufen überstaatlicher Gemeinschaften. Ausgehend von unterschiedlich intensiven Formen der Organisation unterteilt er in "societes interetatiques", "societes superetatiques" und "societes extraetatiques". 561 Die "societes interetatiques" besitzen im strengen Sinn keine eigenen Organe; dennoch mangelt es ihnen nicht an einer Organisation, weil sie sich staatlicher Organe bedienen, die dann gegebenenfalls auch gleichzeitig als internationale Organe tätig werden können. Dieses "dedoublement fonctionnel"562 erfordert eine Zusammenarbeit der Regierenden unterschiedlicher Staaten; es schafft aber zugleich auch eine umfangreiche konkurrierende Kompetenz der Staaten, wodurch Widersprüche zwischen den beiden Rechtskreisen entstehen können und die Einheitlichkeit der 556 ,,11 n'y a d'autre alternative pour un systeme juridique compose que regir ou disparaitre." G. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S. 31. Auffallend ist die Tatsache, daß Georges Scelle damit beide Alternativen befürwortet, nämlich die Möglichkeit der Aufhebung entweder der staatlichen oder der völkerrechtlichen Norm durch die jeweils andere Regel- und daß gleichzeitig seine monistische Rechtskonstruktion auf der Derogation aller dem Völkerrecht widersprechenden staatlichen Rechtsnormen beruht und er von einem notwendigen Primat der Völkerrechtsnormen ausgeht. 557 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S. 32. 558 Vgl. G. Scelle, Regles generales du droit de la paix, S.351. 559 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band 11, S. 11. 560 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band 11, S. 11. 561 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S. 50, S. 57 und S. 58. 562 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S.43.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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Organisation nicht gewahrt werden kann. 563 Eine überstaatliche Organisation ist hier, wenn auch nur in ihrer losesten Form, erkennbar. Damit wird es verständlich, daß es nach Ansicht von Scelle zu keinem endgültigen Widerspruch zwischen völkerrechtlichen und staatlichen Rechtsnormen kommen kann, weil völkerrechtswidriges Landesrecht unmittelbar ersetzt wird. Die Erfordernis einer Transformation besteht demnach nicht. 564 In diesem Stadium bleibt es bei der Existenz selbständiger Einzelstaaten mit eigener Organisation und führt zum Begriff des Völkerrechts, das die Beziehungen der Staaten zueinander regelt. In den "societes superetatiques" kommt es zur Schaffung gemeinsamer Organe, womit Uneinigkeiten zwischen den Staaten aufgrund der Kompetenzverteilung verschwinden. Zunächst entstehen Organe für einzelne Vorhaben, die sich in der Folge zur überstaatlichen Organisation entwickeln. Nur durch eine konforme Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollstreckung sieht Scelle das Ziel einer rechtlich einheitlichen Ordnung erfüllt. Im Völkerbund erkennt er bereits ansatzweise diese Form der Gemeinschaft. 565 Vollendet wird diese Entwicklung jedoch erst durch die Entstehung der "societes extraetatiques". Dieser Typ der internationalen Gemeinschaften besitzt innerhalb seiner Organisation eigene Organe und umspannt in seiner endgültigen Ausprägung die ganze Erde. Durch diese einheitliche Konstruktion ergibt sich für Scelle die Schlußfolgerung, daß jedes Individuum auch Völkerrechts subjekt sein kann. 566 Erst eine solche Weltrechtsgemeinschaft garantiert eine rechtliche Ordnung überstaatlicher Verhältnisse und stellt den "monisme juridique integral"567 her. Damit inhärent verbunden ist der Primat der durch diese Ordnung gesetzten Rechtsnormen. Zugleich wird der prinzipielle Gegensatz des gleichzeitigen Bestehens einer einheitlich-globalen Gemeinschaft im Sinne des Monismus und der Existenz einer Vielzahl intersozialer Gemeinschaften aufgelöst, weil diese nun als unselbständige Gruppen innerhalb dieser umfassenden Ordnung zu verstehen sind. 568 Im Ergebnis verschmelzen demzufolge staatliches Recht und Völkerrecht im Laufe der historischen Entwicklung. Für Scelle ist der Monismus in seiner endgültigen Form somit eher im Sinne einer Fusion und weniger als Hierarchie aufzufassen, weil sich die Frage nach dem Verhältnis zweier Normen oder zweier Rechtsordnungen nicht stellt. Jede untergeordnete Rechtsnorm ist bedingt durch die Exi563 Vgl. G. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S. 50-52. Bereits Hugo Krabbe bewertete in diesem Zusammenhang Staatsorgane, die auch internationale Aufgaben und Kompetenzen übernehmen können, als internationale Organe; dazu 4. Teil, 3. Kap. I. I. b). 564 Vgl. G. Scelle, Regles generales du droit de la paix, S.452; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 54. 565 Vgl. (J. Scelle, Precis de droit des gens, Band I, S.57 und S.250-258. Das Vorhandensein einer überstaatlichen Organisation im Sinne einer "societe superetatique" erscheint als das von Georges Scelle gesetzte "Minimum" zur Bildung geordneter internationaler Beziehungen. 566 Vgl. G. Scelle, Regles generales du droit de la paix, S. 367. 567 G. Scelle, Precis de droit des gens, Band 11, S. 6. 568 Vgl. G. Scelle, Regles generales du droit de la paix, S. 353, siehe dazu auch W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 144.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
stenz einer höheren Norm, so daß die Frage nach dem Vorrang und der hierarchischen Ordnung unweigerlich aus der monistischen Struktur der Rechtsgemeinschaft mit dem Primat des Völkerrechts beantwortet wird. 569 Zusammenfassend beobachtet ist der Monismus im Sinne See lies als Einheit des Rechtssystems zu verstehen, welches das Völkerrecht als Recht einer organisierten Gemeinschaft versteht und das in jeder Etappe der Übereinanderordnung und Verschmelzung der Rechtsordnungen einen unbeirrten Primat des Völkerrechts anerkennt. 570 Der Sinn des völkerrechtsprimären Monismus liegt für ihn demnach im "Absorbieren" der untergeordneten staatlichen Rechtsordnungen durch das Normensystem der größeren Gemeinschaft, bis schließlich eine allumfassende Weltrechtsgemeinschaft die Einzelstaaten zu integrierten Teilstücken werden läßt. 11. Die einheitliche Rechtsordnungskonstruktion auf der Grundlage der Reinen Rechtslehre Kelsens 1. Das System der Reinen Rechtslehre
a) Die Grundanschauungen über Recht und Staat Bei allen vorangehenden monistischen Rechtsauffassungen konnten trotz unterschiedlicher Begründungsansätze einheitliche Kerngedanken festgestellt werden. Mit der Charakterisierung der Völkerrechtsauffassung Hans Kelsens57 1 wird eine Vgl. G. Scelle, Regles gent!rales du droit de la paix, S. 334 und S. 353. Zur Scelleschen Lehre bemerkt Hans Kelsen jedoch kritisch, daß hierbei der Begriff des Völkerrechts nicht deutlich genug vom Recht des Staates unterscheidbar ist; denn Georges Scelle entwickelt seiner Meinung nach kein Kriterium, womit die Zuordnung einer Norm zur Völkerrechtsordnung oder staatlichen Rechtsordnung möglich wird: "In seinem Bestreben, die Einheit von nationalem und internationalem Recht zu erfassen, übersieht Scelle die Notwendigkeit, auch die Differenzen zu bestimmen, die zwischen beiden bestehen; ... " Für Kelsen ist es die Grundnorm, die dieses Problem lösen kann, H. Kelsen, Auseinandersetzungen zur Reinen Rechtslehre, S. 30-31, vgl. S. 26-31; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. 11., insbesondere I. b). 571 Hans Kelsen (1881-1973), österreichisch-amerikanischer Jurist, war bereits 1910 - also schon vor dem Abschluß seiner Habilitation für Staatsrecht und Rechtsphilosophie - Dozent für Öffentliches Recht an der Exportakademie in Wien. 1919 wurde Kelsen Professor für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht sowie für Rechtsphilosophie an der Universität in Wien. Vor seinem Weggang aus Europa folgte Kelsen 1930 zunächst dem Ruf an die Universität in Köln. Die Machtergreifung des Nationalsozialismus war der Auslöser seiner Emigration und Lehrtätigkeit als Professor des Völkerrechts in Genf und Prag. Ab 1942 lehrte er in den USA zunächst an der Harvard University in Cambridge, später an der University of California in Berkley. Neben seinen akademischen Leistungen zeichnete sich Kelsen als juristischer Berater aus; so z. B. als Rechtsberater des k. und k. österreichisch-ungarischen Kriegsministers (1916-1918) und danach (1918-1920) als Konsulent der österreichischen Regierung. Von dieser erhielt er den Auftrag zur Ausarbeitung einer neuen österreichischen Verfassung. Ab 1920 war er sieben Jahre lang Mitglied des Verfassungsgerichtshofs in Österreich; vgl. R. Walter, Das Lebenswerk Hans Kelsens: Die Reine Rechtslehre, in: Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, hrsg. von Adolf Merkl/Rene Marcic/Alfred Verdross/Robert Walter, 1971, 569 570
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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gänzlich andersartige Rechtsordnungskonzeption zum Vorschein kommen. Wie im weiteren Verlauf der Arbeit erkennbar sein wird, haben sich diese beiden grundlegenden Strömungen dennoch gegenseitig beeinflußt und vorangetrieben. Bereits in seiner Habilitationsschrift über die "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz"572 legte Kelsen einen ersten Entwurf seiner Rechtslehre vor. In den beiden Auflagen der "Reinen Rechtslehre"573, in seiner "General Theory of Law and State" 574 und in "Theorie Pure du Droit"575 folgte eine stetige Weiterentwicklung seiner Thesen sowie ihre Verbreitung in den englisch- sowie französischsprachigen Raum. Als Endpunkt seines rechtstheoretischen Werks gilt die "Allgemeine Theorie der Normen"576. Darüber hinaus veröffentlichte Kelsen eine Fülle von Arbeiten auf den Gebieten des Staats- und Verfassungsrechts, der Rechtsphilosophie und Soziologie sowie des Völkerrechts. 577 Im Laufe seiner Lehr- und Forschungstätigkeit entstand eine neue, philosophisch geprägte Begründung der Rechtswissenschaft, in die er auch die Völkerrechtslehre einbezog. Für Kelsen hatte die Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts grundlegende Bedeutung. Seine Erkenntnis war, daß die Geltung eines Rechtssystems weder auf das Naturrecht in Sinne einer höheren Ordnung zurückgeführt werden noch auf seiner eigenen Effektivität beruhen kann. Kelsen fand eine wissenschaftliche Antwort für dieses Problem; und zwar durch die Lehre von der Grundnorm. 578 DaS. 1-8, hier S. 1-2; R. A. Metall, Lebenslauf und Publikationsverzeichnis von Hans Kelsen, in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, hrsg. von Hans Klecatsky/Rene MarcicIHerbert Schambeck, Band 2: Ausgewählte Schriften von Hans Ke\sen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross, 1968, S. 2345-2380, hier S. 2347-2348. 572 H. Kelsen, Hauptproblerne der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz, 1911. 573 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, I. Aufl., 1934 und 2. Aufl., 1960. Den Entwicklungsprozeß im Rahmen seiner Rechtslehre beschreibt Hans Kelsen rückblickend wie folgt: "Die zweite Auflage meiner vor mehr als einem Viertel-Jahrhundert erschienenen Reinen Rechtslehre stellt eine völlige Neubearbeitung der in der ersten behandelten Gegenstände und eine erhebliche Erweiterung ihres Gegenstandsbereiches dar. Wahrend ich mich damals begnügte, die besonders charakteristischen Ergebnisse einer reinen Rechtslehre zu formulieren, versuche ich nunmehr, die wesentlichsten Probleme einer allgemeinen Rechtslehre nach den Grundsätzen der Methodenreinheit rechtswissenschaftlicher Erkenntnis zu lösen und dabei die Stellung der Rechtswissenschaft im System der Wissenschaften noch näher zu präzisieren, als ich dies vordem getan habe." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960 (unveränderter Nachdruck 1983), S. VII. (Diese Ausgabe ist die Grundlage der folgenden Quellennachweise). 574 H. Kelsen, General Theory of Law and State, 1949. 575 H. Kelsen, Theorie pure du droit, 1953. 576 H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hrsg. von Kurt Ringhofer und Robert Walter, 1979. 577 Eine systematische Bibliographie der Originalwerke Hans Kelsens, geordnet nach sachlichen Gesichtspunkten, gibt Robert Walter; vgl. R. Walter, Hans Kelsen - Ein Leben im Dienste der Wissenschaft, in: Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 11, 1985, S.28-51. 578 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, insbesondere S.32, S. 196-197, S.203-209 und S. 221-235; vgl. J. Kunz, The changing law of nations, S. 62. 12 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
mit untrennbar verbunden war seine Forderung nach der Trennung von Sein und Sollen, womit er die Rechtswissenschaft als reine Normwissenschaft frei von außerrechtlichen Einflüssen im Sinne eines strikten Rechtspositivismus zu begründen versuchte. 579 In einem engen Zusammenhang zu dieser Rechtslehre steht die "Wiener Schule": Das Bestreben Kelsens während seiner Tätigkeit als Professor für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht sowie für Rechtsphilosophie an der Universität in Wien war ausschlaggebend dafür, daß sich ein beständiger Kreis seiner bedeutenden Schüler und Rechtswissenschaftler bildete. Auf diese Weise entstand die namhafte "Wiener Schule", welche sowohl die wissenschaftliche Zusammenarbeit als auch die Weiterentwicklung des rechtlichen Grundkonzepts Kelsens förderte. 580 Zu ihren Schülern werden vornehmlich Adolf Merkl, Alfred Verdross, Leonidas Pitamic, losef Kunz, Felix Kaufmann, Fritz Schreier und Fritz Sander gezählt. Sowohl der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts, der besonders von Georg lellinek 581 vertreten wurde, als auch der "Neokantianismus"582 bilden den rechtsphilosophischen Rahmen dieser einheitlichen Gruppe. Das weltpolitische Geschehen erzwang nicht nur den Weggang Kelsens aus Europa und damit letztlich ein Ende der "Wiener Schule", sondern bewirkte gleichzei579 Vgl. R. Walter, Hans Kelsen - Ein Leben im Dienste der Wissenschaft, S. 16-17. Für Hans Kelsen bedeutet seine Reine Rechtslehre eine "von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie ... " In diesem Sinne formuliert er anschließend seine Intention: "Von Anfang an war dabei mein Ziel: Die Jurisprudenz, die - offen oder versteckt - in rechtspolitischem Raisonnement fast völlig aufging, auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben. Es galt, ihre nicht auf Gestaltung, sondern ausschließlich auf Erkenntnis des Rechts gerichteten Tendenzen zu entfalten und deren Ergebnisse dem Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit als irgend möglich anzunähern." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. III. Zu den Grundbegriffen und Voraussetzungen der Reinen Rechtslehre siehe G. Winkler, Rechtstheorie und Erkenntnislehre. Kritische Anmerkungen zum Dilemma von Sein und Sollen in der Reinen Rechtslehre aus geistesgeschichtlicher und erkenntnistheoretischer Sicht, in: Forschungen aus Staat und Recht, hrsg. von Günther Winkler/Walter Antoniolli/Bernhard Raschauer, Band 90,1990, S. 70-102. 580 Für Hans Kelsen entstand auf diese Weise "ein Kreis von Gleichstrebenden", den er als eine Gemeinschaft verstand, in der ,jeder versucht, vom anderen zu lernen, ohne darauf zu verzichten, seinen eigenen Weg zu gehen." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. III. 581 Hans Kelsen versteht sich als Schüler Georg Jellineks, wobei ihre Lehren dennoch nicht übereinstimmend sind: "Auch dort, wo ich zu anderen Resultaten gekommen bin, als er gelehrt hat, habe ich dies zum großen Teil auf Wegen getan, die er eröffnet hat, auf denen er als unerreichter Meister vorangeschriuen ist." Kelsen, zitiert in R. Walter, Das Lebenswerk Hans Kelsens: Die Reine Rechtslehre, S. 7, Fußnote 11; dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 11. 1. 582 Dazu z. B. H. Steiner, Kant's Kelsianism, in: Essays on Ke\sen, hrsg. von Richard Tur/ Williarn Twining, 1986, S.65-75; H./sak, Bemerkungen zu einigen völkerrechtlichen Lehren Hans Kelsens, in: Forschungen aus Staat und Recht, hrsg. von Günther Winkler/Walter Antoniolli/Bernhard Raschauer, Band 81: Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, 1988, S. 255-277, hier S. 256 und F. Koja, Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre, in: Monographien zur österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte, hrsg. von Peter Karnpits, Band 5, 1988, S. 38-40.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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tig die Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit in den Vereinigten Staaten. 583 Während seiner Zeit dort forcierte Kelsen nicht nur die Weiterentwicklung seiner Lehren in bezug auf die grundlegenden rechtstheoretischen Probleme des Rechts, sondern er beschäftigte sich vorrangig mit Fragestellungen des Völkerrechts. 584 Die vollständige Darstellung der normativistischen Sichtweise Kelsens über die Geltung des Völkerrechts und dessen Verhältnis zum staatlichem Recht erfordert zugleich eine Erörterung der Besonderheiten seiner allgemeinen Rechtslehre. Ihre besonders hervortretende Eigenschaft sind die rein juristisch geprägten Standpunkte und Lösungsansätze, mit denen der Ausschluß aller psychologischen, soziologischen, ethischen oder politischen Betrachtungsweisen inhärent verbunden war. 585 Aufgrund dieser methodischen Reinheit sind ausschließlich die Rechtsnormen Gegenstand der Untersuchungen Kelsens: 586 "Indern das Recht, soweit es Gegenstand einer spezifischen Rechtswissenschaft ist, als Norm bestimmt wird, wird es gegen die Natur, und die Rechtswissenschaft gegen die Naturwissenschaft, abgegrenzt."587
Aus einer konsequenten gedanklichen Weiterführung dieser Prinzipien resultiert das Postulat der uneingeschränkten objektiven Einheit der Rechtsordnung, nämlich "alles Recht in einern System, das heißt von einern und demselben Standpunkt aus als ein in sich geschlossenes Ganzes zu begreifen."588
Dabei besteht das Recht aus einer Systemeinheit von Normen, die sich in Form von Sollenssätzen 589 ausdrücken und die infolgedessen das Verhalten der Individuen gebieten, erlauben oder ermächtigen. 59o Davon streng abzugrenzen ist demnach der Bereich der Tatsachen - z. B. menschliche, durch psychologische Prozesse hervorgerufene Willensakte und auch die Naturwissenschaften -, die dem Wirkungskreis 583 Vgl. R. Walter, Das Lebenswerk Hans Kelsens: Die Reine Rechtslehre, S.2. 584 Vgl. F. Koja, Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre, S.28-29. 585 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 1; F. Koja, Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre, S.37-38. Im Sinne Hans Kelsens bedeutet die "Reinheit" seiner Rechtslehre nicht, daß alles Empirische ausgeschlossen wird, sondern daß nur die Rechtslehre - befreit von allen anderen Aspekten - zu betrachten ist; vgl. J. Kunz, Völkerrechts wissenschaft und Reine Rechtslehre, in: Wiener Staatswissenschaftliche Studien, hrsg. von Hans Kelsen/Friedrich Wieser/Othmar Spann, Band III, 1923, S.60. 586 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 3-4. 587 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 60. 588 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.329. Hans Kelsen sieht darin einen grundlegenden Unterschied zur Rechtslehre Georges See lies, der nicht primär von einem System von Rechtsnormen ausgeht, sondern von dem Merkmal der nationalen und internationalen Gemeinschaft; vgl. H. Kelsen, Auseinandersetzungen zur Reinen Rechtslehre, S. 27. 589 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.4. 590 Vgl. H. Kelsen, Vom Geltungsgrund des Rechts, in: Völkerrecht und rechtliches Weltbild, Festschrift für Alfred Verdross, hrsg. von Friedrich August Heydte/lgnaz Seidl-Hohenveldern! Stefan Verosta/Karl Zemanek, 1960, S.157-165, hier S.157. Der Begriff "sollen" umfaßt die drei Ausdrücke "gebieten, erlauben und ermächtigen". 12'
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
des "Seins"591 zuzuordnen sind. 592 Nach Ansicht Kelsens ist die Verschiedenheit der beiden Sphären dem Menschen unmittelbar bewußt und kann demnach nicht tiefgehender ergründet werden. 593 Im Hinblick auf diese grundlegende Trennung ist Kelsen wohl auf die Lehre Kants zurückzuführen, in der sich die Antithese von Sein und Sollen insbesondere durch das Bestreben, die Unabhängigkeit von praktischer und reiner Vernunft zu begründen, ausdrückt. 594 In diesem Sinne besteht eine ursprüngliche Kategorisierung: "Für Kelsen - auch hierin ist er Neukantianer- bestimmt die Erkenntnisrichtung bzw. die Methode den Gegenstand der Erkenntnis. Eine kausale, explikative Betrachtung kann nur zur Erklärung des tatsächlich Bestehenden, der Welt des Seins, in Form des Naturgesetzes gelangen; die normative Betrachtung hingegen kann nie auf die Realität, sondern nur auf die Idealität gerichtet sein und die Welt der Normen in Form des Rechtssatzes erfassen. Schlimmster Fehler ist die Vermengung von explikativer und normativer Methode."595
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 5. "Denn das Recht ... ist eine normative Ordnung menschlichen Verhaltens, und das heißt, ein System von menschliches Verhalten regelnden Normen. Mit ,Norm' bezeichnet man: daß etwas sein oder geschehen, insbesondere daß sich ein Mensch in bestimmter Weise verhalten soll. ... Darum muß der Sachverhalt, der im Falle eines solchen Aktes vorliegt, in der Aussage beschrieben werden: der eine will, daß sich der andere in bestimmter Weise verhalten soll. Der erste Teil bezieht sich auf ein Sein, die Seins-Tatsache des Willensaktes, der zweite Teil auf ein Sollen, auf eine Norm als den Sinn des Aktes. Darum trifft nicht zu - wie vielfach behauptet wird - die Aussage: ein Individuum soll etwas, bedeute nichts anderes als: ein anderes Individuum will etwas; das heißt, daß sich die Aussage eines Sollens auf die Aussage eines Seins reduzieren lasse." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.4 und S.5. 593 V gl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 5. Trotz der Polarität von "Sein" und "Sollen" sind für den Fall der Übereinstimmung von "Ist" - und "Soll" -Verhalten Verbindungen zwischen den beiden Sphären möglich (v gl. S. 6). 594 Hans Kelsen betont stets, daß aus dem "Sein" kein "Sollen" folgen kann und beruft sich dabei letztlich auch auf Kant: "Denn in Betracht der Natur gibt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der Quell der Wahrheit; in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird." Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781/1787, in: Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band 3 und 4,5. Nachdruck 1983, hier Band 4, S. 325; dazu auch Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, in: Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band 6, 5. Nachdruck 1983, S.103-302, hier S.140: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Siehe auch G. Winkler, Rechtstheorie und Erkenntnislehre. Kritische Anmerkungen zum Dilemma von Sein und Sollen in der Reinen Rechtslehre aus geistes geschichtlicher und erkenntnistheoretischer Sicht, S. 126-137; A. Wilson, Is Kelsen really a Kantian?, in: Essays on Kelsen, hrsg. von Richard Turf William Twining, 1986, S.37-64, hier S. 38; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.67; S. Verosta, Alfred Verdross - Leben und Werk, in: Völkerrecht und rechtliches Weltbild, Festschrift für Alfred Verdross, hrsg. von Friedrich August Heydte/lgnaz Seidl-HohenveldernfStephan Verosta/Karl Zemanek, 1960, S. 1-29, hier S. 14; J. Kunz, The changing law of nations, S.61. 595 F Koja, Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre, S.40. Nach Ansicht von Günther Winkler bekennt sich Hans Kelsen zwar zur transzendentalen Logik Kants, mit der die Trennung von "Sein" und "Sollen" verbunden ist; er ziehe hingegen nicht in Betracht, "daß diese 591
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3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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Eine weitere Forderung, die für Kelsen aus der Reinheit der Rechtslehre resultiert, ist die Trennung von Recht und Moral. 596 Beide Erscheinungen regeln seiner Meinung nach das menschliche Verhalten und unterscheiden sich nicht bezüglich Inhalt, Erzeugungsart oder Anwendung ihrer Normen. Doch führen sie ein menschliches Verhalten auf verschiedene Weise herbei: Aus der Nichtbeachtung einer moralischen Regel kann keine gegenständliche Sanktion, sondern allenfalls Mißbilligung resultieren. 597 Dagegen stellt sich für Kelsen das Recht als normative Ordnung dar, deren entscheidendes Kriterium das Zwangs moment darstellt. Ein Zwangsakt dient zur Durchsetzung der Rechtsfolge, sofern ein der Norm widersprechendes menschliches Verhalten vorliegt. 598 Insofern bestimmt Kelsen die geltenden Rechtsnormen nicht nach inhaltlichen Kriterien, sondern nach dem formalen Merkmal der Setzung von Zwangsnormen. 599 Eine solche positive Ordnung menschlichen Verhaltens ~ das Recht - bildet im Sinne einer Zwangsgemeinschaft den Staat. Für Kelsen ist der Staat unter dem Blickwinkel der Reinen Rechtslehre ausschließlich als Rechtsordnung erkennbar - Staat und Recht sind demnach identisch: "Es ist üblich, den Staat als eine politische Organisation zu kennzeichnen. Aber damit kommt nur zum Ausdruck, daß der Staat eine Zwangsordnung ist. Denn das spezifisch ,politische' Element dieser Organisation besteht in dem von Mensch zu Mensch geübten, von dieser Organisation geregelten Zwang, in den Zwangsakten, die diese Ordnung statuiert. Es sind eben jene Zwangsakte, die die Rechtsordnung an die von ihr bestimmten Bedingungen knüpft. Als politische Organisation ist der Staat eine Rechtsordnung. Aber nicht jede Rechtsordnung ist ein Staat."600
Den Begriff des Zwangs will Kelsen jedoch richtig verstanden wissen: eine Logik der Erfahrung ist und daß sie in ihrer grundSätzlichen Ausrichtung auf Gegenstände der Erfahrung die formale Logik wesens gemäß überschreitet und erkenntnistheoretisch überhöht." (G. Winkler, Rechtstheorie und Erkenntnislehre. Kritische Anmerkungen zum Dilemma von Sein und Sollen in der Reinen Rechtslehre aus geistes geschichtlicher und erkenntnistheoretischer Sicht, S. 114). Demnach gibt es für Winkler auch eine Verknüpfung von "Sein" und "Sollen": "Die ,Trennung' von Sein und Sollen im Sinn einer strengen Unterscheidung und insofern einer scheinbar trennenden analytischen Absonderung gibt es nur im Bereich des reinen, transzendental-logischen Denkens, im Bereich des apriorisch Begrifflichen und des apriorisch Kategorialen an und für sich. Doch selbst dort sind Sein und Sollen, im Sinne Kants, nicht nur analytisch, sondern auch synthetisch zu denken." (S. 128). 596 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 68-69. 597 V gl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 60-71. 598 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 31-32,34-37. Für Hans Kelsen folgt daraus, daß das Recht nicht von einer Beziehung oder Übereinstimmung mit den Regeln der Moral abhängig ist; vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.69-70. 599 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, insbesondere S.4, S. 6-7 und S. 201. 600 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 289, vgl. S. 289-293. Deutlich ist die veränderte Auffassung des Staatsbegriffs im Vergleich zur Lehre Hugo Krabbes erkennbar; denn die Wiener Schule hat sich von "vermenschlichten" Zügen des Staates, die ihm das Tragen von Rechten und Pflichten ermöglichen, deutlich entfernt; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. I. 1.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
"Es ist von Wichtigkeit, daß bei der Begriffsbildung des Staates das Zwangsmoment in dieser eindeutigen Bestimmtheit: als Inhalt der Sollordnung, gefaßt und nicht - wie dies die in die Seinsebene ausgleitende herrschende Lehre zu tun geneigt ist - durch das unklare Moment der ,Herrschaft' im Sinne einer Motivation ersetzt werde. Daß ein Mensch über den anderen herrsche, das heißt, daß der Wille des einen zum Motiv für den Willen des anderen werde, kann den Staat nicht charakterisieren. Vielmehr, daß eine feste Ordnung besteht, nach der der eine zu befehlen und der andere zu gehorchen habe."601
Nach Ansicht Kelsens ist bei einer Rechtsordnung der Staatscharakter dann feststell bar, wenn mit ihr eine Organisation verbunden ist, deren Organe auf dem Weg der Arbeitsteilung Normen erzeugen und anwenden und sofern innerhalb dieser Struktur ein gewisses Maß an Zentralisation vorhanden ist. 602 In dieser Hinsicht stimmt Kelsen mit den Lehren von Leon Duguit und Georges Scelle überein. Was dagegen die Verknüpfung von Recht und Staat anbelangt, so kann ein Unterschied festgestellt werden, weil sowohl Duguit als auch Scelle den Gegensatz von Staat und Recht vertreten. 603 Darüber hinaus ist es Kelsen selbst, der diese Thesen in Beziehung zur Kantianischen Rechtslehre setzt: "Kant ... bestimmt den Staat als ,die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen'. Zieht man das räumliche Bild ab, das in der Vorstellung ,unter' den Rechtsnormen stehenden Menschen steckt und reduziert man diese Staatsdefinition auf eine bildfreie Formel, kann diese nicht anders lauten als: das in den Rechtsnormen (d. h. als Inhalt der Rechtsnormen) verbundene Verhalten einer Vielheit von Menschen. Es ist jedoch nicht einfach der Inhalt der Rechtsordnung, auf den abgestellt ist, es ist auch die Form angezogen, denn nur in dieser liegt die spezifische Verbindung. Die Identität von Staat und Rechtsordnung zeigt sich aber bei Kant noch auf andere Weise ... Das Problem des Staates ist ihm als das Problem der Freiheit gestellt... Das Recht ist nach Kant der Inbegriff der Bedingungen, nach denen die Willkür oder Freiheit des einen mit der des andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann. ,,604 601 H. Kelsen, Der Soziologische und der Juristische Staatsbegriff - Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, 2. Aufl., 1928 (Neudruck 1962), S.83 (Hervorhebung im Original). Karl Albrecht Schachtschneider versteht unter Herrschaft die "Negation der äußeren Freiheit, als ,nötigende Willkür' eines Menschen über einen anderen oder mehrere andere Menschen"; K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.79. Er bezieht sich dabei insbesondere auf Kant, der die Freiheit als "Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" definiert (Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 345) sowie auf Max Weber (v gl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, ed. Johannes Winkelmann, 5. Aufl. 1972, S. 28-30 und S. 542). 602 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.289. 603 Dazu 4. Teil, 3. Kap. 1.4. und 5. 604 H. Kelsen, Der Soziologische und der Juristische Staatsbegriff, S. 141 und S. 142 (Hervorhebung im Original); Hans Kelsens Aussagen beruhen in erster Linie auf folgenden Kantianischen Grundanschauungen: "Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" und "Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach dem allgemeinen Gesetze der Frei-
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Aus den bisher dargestellten Grundprinzipien der Reinen Rechtslehre läßt sich noch eine weitere grundlegende Verschiedenheit bezüglich der Geltungsgrundlage des Rechts insbesondere im Vergleich zu Hugo Krabbe, Duguit und Scelle erkennen: Kelsen deutet weder das Rechtsbewußtsein der Menschen noch die Vernunft, Moral oder Natur als den einen Ausgangspunkt, auf den das geltende Recht zurückgeführt werden könnte, so daß er offenkundig eine naturrechtliche Begründung der Normen ablehnt. 605 Andererseits ist zu folgern, daß nach Ansicht Kelsens die Vorstellung, den Ursprung des Rechts von einem menschlichen Willen abzuleiten, unhaltbar ist. 606 Bereits in dieser Hinsicht zeigt sich ein erster grundlegender Unterschied zu Heinrich Triepel und seinen Anhängern, womit sich die divergierenden Grundhaltungen der beiden Lehren bereits andeuten. Statt dessen wird für Kelsen die Frage nach der Entstehung der Normen, die einer einheitlichen Rechtsordnung angehören, sowie das Problem nach deren Geltungsgrund mit seiner Lehre von der Grundnorm beantwortet. 607
heit zusammen vereinigt werden kann." Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.431 und S.337-338. 605 lose! Kunz bewertet die Lehren von Leon Duguit und Hans Kelsen zwar hinsichtlich ihres Ausgangspunktes - dem Rechtssatz - als identisch, jedoch in vielen weiteren Fragen als fundamental verschieden. Dies gilt für ihn insbesondere, wenn es um die Wahl der Methode geht: "Während Kelsen ... eine Jurisprudenz allein mit juristischer Methode aufbaut, aus dieser alles ,Metajuristische' eliminiert und so durch die normative Methode zu einer normativen Jurisprudenz, einer von allem Metajuristischen gereinigten und in diesem Sinne ,reinen' Rechtslehre, gelangt, wählt Duguit die ,realistische' ... Methode, die ihm auch eine ,realistische' Rechtsund Staatslehre geben soll ... " 1. Kunz, Die Rechts- und Staatslehre Leon Duguits, S.143, vgl. S.143-144. 606 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 106. Hans Kelsen stellt zwar fest, daß Kant die Quelle von Recht und Gesetz im "vereinigten Willen des Volkes" erkennt; für ihn ist dieser menschliche Wille in der Kantianischen Lehre allerdings nicht der "Seins"-Sphäre zuzuordnen, sondern er hat einen rein normativen Charakter: "Und wenn Kant in Uebereinstimmung mit einer geläufigen Vorstellung der Naturrechts1ehre die Einheit des Staates als Willenseinheit auffaßt in Gemäßheit des Kontraktes, der eine Willensvereinigung ist, als das Substrat des Staates einen ,Gesamtwillen' , ,Allgemeinwillen' , einen ,vereinigten' Willen bezeichnet, so ist er weit davon entfernt, darunter irgendeine psychologische Realität begreifen zu wollen. Er versteht unter diesem ,Wollen' zweifellos nur ein Sollen, denn er sagt von diesem ,vereinigten Willen' ausdrücklich, daß er ,bloß Idee eines äußeren Verhältnisses der Willkür vernünftiger Wesen gegeneinander', daß er ,noch kein Faktum, sondern bloß Norm ist', daß diese Norm nur das Recht sein kann, versteht sich von selbst." H. Kelsen, Der Soziologische und der Juristische Staatsbegriff, S. 142. Kelsen zitiert hierbei aus Kants Nachlaß, Lose Blätter, mitgeteilt von Rudolf Reicke, Königsberg, 1898, III. Heft, S. 79; siehe dazu auch Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.432. Anders dagegen Kar! Albrecht Schachtschneider: "Kant hat den Willen als gesetzgebend definiert und erkannt, daß der Wille dem Sollen, nämlich dem kategorischen Imperativ unterworfen ist, weil er der Wille eines Vernunftwesens ist." K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.521, vgl. S. 521-525, S. 294-295 und S. 718-722; vgl. K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 2. und 3. Kap. 607 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 196-227.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
b) Die Grundnonn als Geltungsgrund einer Rechtsordnung Für Kelsen hängt die Gültigkeit einer positiven Nonn der staatlichen Rechtsordnung immer und allein von einer anderen Nonn ab, aus der sie entspringt. Eine gültige Rechtsnonn kann demnach nur durch eine "kompetente Autorität" gesetzt werden; deren Kompetenz und Geltungsgrund basiert nach Ansicht Kelsens wiederum auf der Geltung einer weiteren - vorhergehenden - Nonn. 608 "Daß eine sich auf das Verhalten eines Menschen beziehende Norm ,gilt', bedeutet, daß sie verbindlich ist, daß sich der Mensch in der von der Norm bestimmten Weise verhalten soll . ... Der Geltungsgrund einer Norm kann nur die Geltung einer anderen Norm sein. Eine Norm, die den Geltungsgrund einer anderen Norm darstellt, wird figürlich als die höhere Norm im Verhältnis zu einer niederen Norm bezeichnet."609
Damit der subjektive Gehalt eines Willensaktes den Charakter einer Nonn erhält, muß er folglich fonnal und inhaltlich aus der Rechtsordnung herzuleiten sein. Damit ergibt sich für die Rechtsordnung ein pyramidenfönniges Gefüge von Ennächtigungsbeziehungen. Die Zurückführung der Nonnen auf eine jeweils höherrangige Rechtsvorschrift kann innerhalb dieses Systems jedoch nicht unerschöpflich erfolgen. Wird dieser Gedanke zu Ende gedacht, so stellt der Ausgangspunkt und ursprüngliche Geltungsgrund der Rechtsordnung die höchstrangige Nonn dar: Kelsen nennt sie die "Grundnonn"61O. Das kontinuierliche Beziehungsgetlecht, basierend auf dem Prinzip der Über- und Unterordnung, wird an dieser Stelle abgerissen, weil die höchste Nonn nicht durch eine Autorität erlassen werden kann; denn eine für einen solchen Vorgang notwendige noch höhere Nonn kann nicht existieren. 611 Wie bereits angedeutet, steht die Reine Rechtslehre einer "meta-rechtlichen Autorität, wie Gott oder Natur"612, die diese Grundnonn setzen könnte, strikt ablehnend gegenüber. Diese spezielle Nonn kann für Kelsen nur eine gedachte, vorausgesetzte Nonn sein. 613 Sie ist somit kein positiver Rechtssatz. Tatsächlich bedeutet 608 V gl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 197. Zu den verfassungs gebenden und gesetzgebenden Instanzen als Autoritäten zur Setzung von Rechtsnormen siehe S. 202 und S. 230-231. 609 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 196. Beispielhaft formuliert Hans Kelsen diesen Zusammenhang: "Der Befehl eines Gangsters, ihm eine bestimmte Geldsumme zu geben, hat denselben subjektiven Sinn wie der Befehl eines Steuerbeamten, nämlich, den Sinn, daß das Individuum, an den der Befehl gerichtet ist, eine bestimmte Geldsumme leisten soll. Aber nur der Befehl des Steuerbeamten, nicht der Befehl des Gangsters hat den Sinn einer geltenden, den Adressaten verpflichtenden Norm, nur der eine, nicht der andere ist ein norm-setzender Akt: weil der Akt des Steuerbeamten durch ein Steuergesetz ermächtigt ist, während der Akt des Gangsters auf keiner solchen ermächtigenden Norm beruht." (S.8). 610 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 197. 611 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.197. 612 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 203. 6\3 "Da der Grund der Geltung einer Norm nur wieder eine Norm sein kann, muß diese Voraussetzung eine Norm sein: keine von der Rechtsautorität gesetzte, sondern eine vorausgesetzte Norm, das heißt eine Norm, die vorausgesetzt wird, wenn der subjektive Sinn des verfassunggebenden Tatbestandes und der subjektive Sinn der der Verfassung gemäß gesetzten norm-
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dies die Zurückführung einer Norm, die sich z. B. in einem Richterurteil realisiert, auf eine generelle Norm, welche durch eine gesetzgebende Autorität erlassen wurde. Deren Kompetenz wiederum beruht auf einer höheren Norm, und zwar auf einer Norm der Staatsverfassung. Der Geltungsgrund der Verfassung liegt eventuell in einer älteren, vorangegangen Staatsverfassung. Letztlich trifft man auf die "historisch erste Staatsverfassung"614: "Als Rechtsakt, und zwar als Vollstreckung einer Strafe ... kann ein ... Akt nur angedeutet werden, wenn er von einer Rechtsnorm, und zwar von einer individuellen Rechtsnorm statuiert, das heißt als gesollt gesetzt ist, von einer Norm, die sich als richterliches Urteil darstellt. Damit erhebt sich die Frage, unter welchen Bedingungen eine solche Deutung möglich ist, warum es sich in dem vorliegenden Fall um ein richterliches Urteil handle, warum die damit statuierte individuelle Norm gilt, eine gültige Rechtsnorm ist, zu einer geltenden Rechtsordnung gehört und daher angewendet werden soll. Die Antwort auf diese Frage ist: weil diese individuelle Norm in Anwendung des Strafgesetzes gesetzt wurde, das eine generelle Norm enthält, derzufolge unter Bedingungen, die im gegebenen Fall vorliegen, eine Todesstrafe verhängt werden soll. Fragt man nach dem Geltungsgrund dieses Strafgesetzes, so erhält man zur Antwort: das Strafgesetz gilt, weil es von der gesetzgebenden Körperschaft beschlossen wurde und diese durch eine Norm der Staatsverfassung ermächtigt ist, generelle Normen zu setzen. Fragt man nach dem Geltungsgrund der Staatsverfassung, auf der die Geltung aller generellen Normen und die Geltung der auf Grund dieser generellen Normen erzeugten individuellen Normen beruht, ... so gerät man vielleicht auf eine ältere Staatsverfassung; das heißt: man begründet die Geltung der bestehenden Staatsverfassung damit, daß sie gemäß den Bestimmungen einer vorangehenden Staatsverfassung im Wege einer verfassungsmäßigen Verfassungsänderung, das heißt aber gemäß einer positiven, von einer Rechtsautorität gesetzten Norm zustande gekommen ist; und so schließlich auf eine historisch erste Staatsverfassung, die nicht mehr auf einem solchen Wege entstanden ist und deren Geltung daher nicht auf eine von einer positiven, durch eine Rechtsautorität gesetzte Norm zurückgeführt werden kann, eine Staatsverfassung, die revolutionär, das heißt unter Bruch einer früher bestandenen Staatsverfassung oder für einen Bereich in Geltung getreten ist, der vordem überhaupt nicht der Geltungsbereich einer Staatsverfassung und einer auf ihr beruhenden staatlichen Rechtsordnung gewesen war."615
Für Kelsen ist der alleinige, gemeinsame Geltungsgrund der Normen damit die Grundnorm, die eine exakte und normative Rechtswissenschaft im Sinne der Reinen Rechtslehre erst ermöglicht. Für die staatliche Rechtsordnung formuliert er ihren Wesensgehalt wie folgt: "Da es die Grundnorm einer Rechtsordnung, das heißt: einer Zwangsakte statuierenden Ordnung ist, lautet der diese Norm beschreibende Satz, der Grundsatz der in Frage kommenden staatlichen Rechtsordnung: Zwangsakte sollen gesetzt werden unter den Bedingungen und auf die Weise, die die historisch erste Staatsverfassung und die ihr gemäß gesetzten erzeugenden Tatbestände als deren objektiver Sinn gedeutet wird." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 203. 614 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 203; dazu Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, in: Berliner Juristische Universitätsschriften, hrsg. von Michael Kloepfer/Klaus Marxen/Rainer Schröder, Band I, 1994, S. 174-177 und S.403-404. 615 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 202-203.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Normen statuieren. (In verkürzter Form: Man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt.)"616
Deutlich erkennbar ist die staatliche Rechtsordnung als ein "Stufenaufbau"617 von über- und untergeordneten Regeln. 618 Hierbei ist die Grundnorm höchstrangige Rechtsquelle und gemeinsame Geltungsgrundlage für alle Normen einer Ordnung. Auf diese Weise erzeugt die Ursprungsnorm "die Einheit in der Vielheit von Normen"619, ohne jedoch inhaltliche Vorgaben für die Normen zu machen. 620 Logische Widersprüche treten innerhalb der pyramidenförmigen Struktur der Normen nur bedingt auf: Widersprechen sich zwei Normen einer Rechtsordnung der gleichen Stufe, welche zeitlich nacheinander gesetzt worden sind, so gilt der Grundsatz "lex posterior derogat legi priori". 621 Die Möglichkeit eines Konflikts zwischen einer Norm der höheren mit einer Regel der unteren Stufe ist durch die Konzeption Kelsens auszuschließen, weil der Geltungsgrund der unteren Norm in der Norm der höheren Stufe liegt und sich ihre Inhalte somit entsprechen sollten. 622 Abgesehen von der logischen 616 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 203-204. Mit der Auswahl der Grundnorm und der daraus abzuleitenden Rechtsnormen muß nach Ansicht Hans Kelsens zugleich das Ziel angestrebt werden, die Bereiche des "Seins" und "Sollens" anzunähern und eine "Reduzierung jener Spannungen" zu erreichen; H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 99, vgl. S.94-101. 617 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.228. Insbesondere Hans Kelsens Schüler AdolfMerkl hat zur Konkretisierung des Prinzips vom Stufenaufbau der Rechtsordnung erheblich beigetragen; vgl. A. Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, 1923; H. Kelsen, Adolf Merkl zu seinem siebzigsten Geburtstag am 23. März 1960, in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, hrsg. von Alfred Verdross, Adolf Merkl und Josef L. Kunz zum 70. Geburtstag gewidmet, Band X, Heft 3-4,1960, S. 313-323; J. Kunz, Statisches und dynamisches Völkerrecht, S.219. 618 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228, vgl. S. 228-236; dazu Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S.159-187. 619 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.197, vgl. S.209-212. 620 Vgl. H. Kelsen, Vom Geltungsgrund des Rechts, S. 162; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 199 und S.224. Adolf Merkl steht dieser Schlußfolgerung kritisch gegenüber: "Die Artgleichheit und die dadurch begründete Systemzusammengehörigkeit alles Rechts bedingt also noch nicht die Einheit der Rechtsordnung, wofern man unter dieser eine durch den Delegationsmechanismus hergestellte Normenhierarchie versteht." A. Merkl, Das Problem der Rechtskontinuität und die Forderung des einheitlichen rechtlichen Weltbildes, Zeitschrift für Öffentliches Recht, Band V, 1925/26, S. 497-527, hier S. 502. Zum Postulat der Einheit der Rechtsordnung siehe auch Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 372-396. 621 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 210 (Hans Kelsen bezeichnet diesen Grundsatz als "lex posterior derogat priori"). Wurden sie jedoch zur gleichen Zeit erlassen, so soll es dem Gericht überlassen werden, welche der sich widersprechenden Normen es als entscheidungsrelevant entsprechend der jeweiligen Sachlage anerkennt; widersprechen sich die beiden Normen nur in Teilen, so schränken sie sich gegenseitig ein. Beispiele dafür sind die Rechtsvorschriften, daß Diebstahl zu bestrafen ist oder aber nicht bestraft werden soll sowie die Regeln, daß ein bestimmtes Vergehen unter Strafe steht oder daß Kinder unter 14 Jahren straffrei sind. 622 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 212. Kritisch äußert sich Theodor Schilling: "Die ... Auffassung, die die grundsätzliche Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung zu einer Grundvoraussetzung der Rechtswissenschaft erklärt, macht die Forderung nach dieser Widerspruchsfreiheit zum Bestandteil der Kelsen'schen Grundnorm: Diese soll nicht mehr nur besagen, daß
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Richtigkeit dieser Ergebnisse trägt die Reine Rechtslehre der juristischen Erfahrung Rechnung: Im Falle eines vorliegenden inhaltlichen Widerspruchs zweier Normen ist die untergeordnete Norm "vernichtbar"623. Für Kelsen ergibt sich die Erkenntnis, "daß zwischen Gesetz und richterlicher Entscheidung, Verfassung und Gesetz, Verfassung und Verordnung, Gesetz und Verordnung, oder ganz allgemein formuliert, daß zwischen einer höheren und einer niederen Norm einer Rechtsordnung kein Konflikt möglich ist, der die Einheit dieses Normsystems aufhebt, indem er es unmöglich macht, es in einander nicht widersprechenden Rechtssätzen zu beschreiben."624
Mit dieser konsequent begründeten und alles Weitere dominierenden These über die Einheit der Rechtsordnung - verbunden mit der Lehre von der Grundnorm - erlangt Kelsen den Zugang zur Beantwortung aller Grundfragen des positiven Rechts und der Souveränität sowie zur Lösung der Frage nach dem Wesen des Völkerrechts und nach seinem Verhältnis zum staatlichen Recht. Gleichzeitig hat er auf diesem Weg den Versuch unternommen, die Begründung einer Lehre vom positiven Recht ausschließlich im Bereich wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verankern und die Methoden der Delegation und Zuordnung als grundlegende Prinzipien der Rechtswissenschaft zu werten. 625 Entsprechend dieser Anforderungen ist für Kelsen das Wesen der Grundnorm nicht auf einen Willensakt zurückzuführen, sondern sie stellt eine "transzendentallogische Voraussetzung"626 der Rechtsordnung dar. 627 Sie wird vom Rechtserzeuger alles Recht ist, was von einem bestimmten Verfassungsgeber und aufgrund von dessen Verfassung statuiert wird, sondern auch, daß dies nur gilt, soweit das gesetzte Recht in gewissem Maße widerspruchsfrei ist. Eine solche Inkorporation des Postulats der Einheit der Rechtsordnung in die Grundnorm hätte zur Folge, daß widersprüchliche Normen zu Nichtrecht würden. Eine solche inhaltliche Anreicherung der Grundnorm widerspricht deren hypothetischem Charakter und würde die Grundnorm in eine naturrechtliche Norm verwandeln." Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 375. 623 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 272, vgl. S.271-282. 624 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 280. 625 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 205; R. Walter, Hans Kelsen - Ein Leben im Dienste der Wissenschaft, S. 17; F. Koja, Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre, S.42-43; H. Isak, Bemerkungen zu einigen völkerrechtlichen Lehren Hans Kelsens, S. 272; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 87. 626 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 204. Gegen den transzendental-logischen Charakter der Grundnorm spricht, daß ihre Ablehnung, Veränderung oder ihr Austausch möglich ist; vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 214-215. Jens-Michael Priester zieht deshalb die einfacheren Bezeichnungen "notwendige Bedingung" oder "stillschweigende Voraussetzung" vor. Eine schlüssige Begriffsbildung für das Wesen der Grundnorm kann er nicht erkennen: "Kelsens Reine Rechtslehre enthält den Begriff der Grundnorm an zentraler Stelle. Kelsen unternimmt immer wieder Anläufe, um ihn zu verdeutlichen. Dabei werden laufend neue Aspekte aufgezeigt, neue Funktionen bestimmt, neue Umschreibungen gewählt, die die Frage nahe legen, ob all das noch auf einen einheitlichen Grundnormbegriffbezogen werden kann." J.-M. Priester, Die Grundnorm - Eine Chimäre, in: Rechtstheorie - Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts: Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, hrsg. von: Werner Krawietz/Helmut Schlesky, Beiheft 5, 1984, S. 211-244, hier S. 228 und S.211, vgl. S.242-243.
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nicht gesetzt, sondern vom Rechtserkennenden apriorisch vorausgesetzt. Im Sinne Kelsens kann demnach eine Verfassung nur dann als solche angesehen werden, wenn angenommen wird, daß diese Verfassung auch zu befolgen ist: "Nur wenn man diese auf eine ganz bestimmte Verfassung bezogene Grundnorm voraussetzt, das heißt: nur wenn man voraussetzt, daß man sich dieser ganz bestimmten Verfassung gemäß verhalten soll, kann man den subjektiven Sinn des verfassungs gebenden Aktes und der verfassungsgemäß gesetzten Akte als deren objektiven Sinn, das heißt als objektiv gültige Rechtsnormen und die durch diese Normen konstituierten Verhältnisse als Rechtsverhältnisse deuten."628
Eine Anlehnung an die Betrachtungsweise Kants ist auch in dieser Hinsicht erkennbar; denn für Kelsen beruht die Grundnorm als transzendentale Voraussetzung auf einer Erkenntnis, die vor allen Erfahrungswerten liegt und gleichzeitig erst die Möglichkeit zum Erwerb dieser empirischen Erkenntnisse schafft. 629 Im Verlauf der Entwicklung der Reinen Rechtslehre verwendet Kelsen unterschiedliche Bezeichnungen für die Grundnorm, so z. B. hypothetische oder gedachte Norm, Ausgangspunkt und Annahme. 630 Sie soll in seinem Sinne weder eine normsetzende Autorität 627 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 204; D. Kühne, Die Grundnorm als inhaltlicher Geltungsgrund der Rechtsordnung, in: Rechtstheorie - Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts: Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, hrsg. von Werner KrawietzlHelmut Schlesky, Beiheft 5, Berlin 1984, S.193-200, hier S.195. 628 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.204. 629 Dazu Kant, Kritik der reinen Vernunft, S.l70-173, S.97-111, S.125-l31 und S.335-339; siehe dazu Hans Kelsen: "So wie Kant fragt: wie ist eine von aller Metaphysik freie Deutung der unseren Sinnen gegebenen Tatsachen in den von der Naturwissenschaft formulierten Naturgesetzen möglich, so fragt die Reine Rechtslehre: wie ist eine nicht auf meta-rechtliche Autorität wie Gott oder Natur zurückgreifende Deutung des subjektiven Sinns gewisser Tatbestände als ein System in Rechtssätzen beschreibbarer objektiv gültiger Rechtsnormen möglich? Die erkenntnistheoretische Antwort der Reinen Rechtslehre lautet: unter der Bedingung, daß man die Grundnorm voraussetzt: man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt, ... " H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.205; siehe dazu auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 68-70. Anders dagegen Otto Bondy; er umschreibt den Begriff "transzendentale Erkenntnisse" - für den kein entsprechender Ausdruck im Englischen besteht - als "Erkenntnisse, die wahr sind, ohne sich auf unmittelbare Anschauung zu beziehen und die nach Kant nur dann möglich sind, wenn sie sich auf mögliche Erfahrung beziehen". Er argumentiert weiter: "Es handelt sich hier um jene Voraussetzung, die wir oft machen, ohne uns dessen bewußt zu sein und die notwendig sind, damit andere Voraussetzungen wahr sind.... Eine ,Grundnorm aller Grundnormen' oder eine, transzendentale Grundnorm' als Quintessenz des Sollens kann nicht mit der Kantischen Logik in Einklang gebracht werden, auf die per analogiam Kelsen seinen Begriff der Grundnorm gestützt hat." O. Bondy, Reine Rechtslehre in Australien, in: Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, Schriftenreihe des Hans Ke1sen-Instituts, Band 2, 1978, S.55-68, hier S.68; näher dazu auch S. Hammer, Kelsens Grundnormkonzeption als neukantianische Erkenntnistheorie des Rechts?, in: Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, hrsg. von Stanley L. PaulsonlRobert Walter, Band 11: Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, 1986, S.21O-227, insbesondere S.227. 630 Vgl. Z. B. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 202, S. 225 und S. 228; H. Kelsen, Vom Geltungsgrund des Rechts, S. 161-162; Kritisch dazu G. Winkler, Rechtstheorie und Erkenntnislehre. Kritische Anmerkungen zum Dilemma von Sein und Sollen in der Reinen Rechtslehre aus geistesgeschichtlicher und erkenntnistheoretischer Sicht, S.I03-105.
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noch eine empirische Herleitung inaugurieren, sondern stellt eine apriorische Annahme dar und gehört somit nicht dem geltenden Recht an. Ihre Aufgabe ist es, die Existenz der rangniederen Rechtsnormen zu begründen, nicht jedoch deren Inhalt festzulegen. Der Rechtsinhalt der positivrechtlichen Verfassung entspringt aus dem Willen des Normerzeugers. Die Grundnorm selbst liefert keine inhaltlichen Werte, sondern hat die Funktion, den Normenerzeugungsprozeß in Bewegung zu bringen: "Sie hat keinen spezifischen Inhalt, sondern eine Funktion."631 Hierbei wird deutlich, daß Kelsen zwischen zwei Arten von Normen unterscheidet. Entsprechend ihrem Charakter teilt er sie dem statischen oder dynamischen Normensystem zu. Stellt die jeweils höhere Norm sowohl den Geltungsgrund als auch den Geltungsinhalt der niederen Normen der Rechtsordnung dar, erkennt Kelsen dies als statisches Prinzip.632 Das dynamische System zeichnet sich dadurch aus, daß die vorrangige Norm ausschließlich die Begründung der Geltung beinhaltet. Diesem Prinzip liegt die Grundnormlehre der Reinen Rechtslehre zugrunde; denn sie berechtigt eine rechtserzeugende Autorität zur Normenerzeugung, indem sie festlegt: "Man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt. ,,633 Beginnend mit der historisch ersten Verfassung wird die Grundnorm erstmals inhaltlich konkretisiert, womit gleichzeitig auch der Inhalt aller weiteren Normen des Stufenaufbaus der Rechtsordnung beeintlußt wird. Kelsen sieht die Struktur einer Rechtsordnung demnach durch beide Prinzipien geprägt: Während sich die Grundnorm zu den Rechtsnormen im Sinne des dynamischen Prinzips verhält, richtet sich die Beziehung der Verfassung zu den rangniederen Normen nach dem statischen Prinzip. 634 Als ein grundsätzlich neues Verfahren zur Rechtserkenntnis wertet Kelsen die Lehre von der Grundnorm in der Tat nicht; für ihn ist sie "nur das Ergebnis einer Analyse des Verfahrens, das die positivistische Rechtserkenntnis seit jeher angewendet hat"635. Die Leistung Kelsens besteht jedoch unzweifelhaft darin, daß er mit 631 F Koja, Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre, S.43; anderer Ansicht ist Günther Winkter: "Kelsen meinte, die Grundnorm den apriorischen Kategorien Kants nachgebildet zu haben. Das ist wohl ein Irrtum, denn die Grundnorm Kelsens fungiert als Begriff für einen bestimmten Gegenstand. Sie hat sogar einen bestimmten normativen Inhalt, einen empirischen Bezug: Du sollst einer bestimmten effektiven Verfassung bzw. dem anerkannten (historisch ersten)Verfassungsgeber gehorchen." G. Winkter, Rechtstheorie und Erkenntnislehre. Kritische Anmerkungen zum Dilemma von Sein und Sollen in der Reinen Rechtslehre aus geistesgeschichtlieher und erkenntnistheoretischer Sicht, S. 105. 632 Vgl. H. Ketsen, Reine Rechtslehre, S. 198. Hans Ketsen verdeutlicht dies anhand eines Beispiels: "So können z. B. die Normen: man soll nicht lügen, man soll nicht betrügen, man soll ein gegebenes Versprechen einhalten, man soll kein falsches Zeugnis geben, aus einer Norm abgeleitet werden, die Wahrhaftigkeit gebietet. Aus einer Norm, man soll seinen Nebenmenschen lieben, kann man die Normen ableiten: man soll seinem Nebenmenschen kein Übel zufügen, insbesondere ihn nicht töten, ihn nicht physisch oder moralisch schädigen, ihm, wenn er in Not ist, beistehen." (S.198). 633 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 204, vgl. S. 199. 634 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.200; vgl. auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.92-95. 635 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 209.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
der Konzeption seiner Reinen Rechtslehre den Versuch unternommen hat, auf der Grundlage einer strikten Isolierung der Bereiche des "Seins" und "Soliens" eine Normenwissenschaft frei von allen außerrechtlichen Einflüssen zu konzipieren. Eine solche Rechtswissenschaft ist ausschließlich als Sollensordnung zu verstehen und wird gleichzeitig von einem exakten Rechtspositivismus geprägt: 636 Eine Rechtsnorm ist nicht deshalb verbindlich, weil sie einen vernunft- oder naturgemäßen, einen moralischen oder gerechten Inhalt hat, sondern weil sie entsprechend der Grundnorm erzeugt wurde. 637 Die Antwort auf die Frage nach dem Geltungsursprung des positiven Rechts steht dem Lösungsansatz der Naturrechtslehre entgegen; denn jene ist überzeugt, daß alles Recht auf eine höherwertige Ordnung zUfÜckführbar ist, die auf den unanfechtbaren Tatsachen der Natur, Moral oder Vernunft beruht. Diese sind nach Ansicht Kelsens als Sollensvorschriften zu bewerten, die als höchste Autorität nicht gesetzt werden können, sondern vorauszusetzen sind. 638 Hier sieht Kelsen eine Gleichartigkeit zwischen Naturrechtslehre und dem Rechtspositivismus, abgesehen davon kann er grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Lehren feststellen. So erkennt die Naturrechtslehre - ganz im Gegensatz zur positivistischen Rechtslehre - eine Verbindlichkeit des gesetzten Rechts nur dann an, wenn dessen Vorschriften inhaltlieh den festen Wertmaßstäben der Natur entsprechen. 639 Einen völlig konträren Ansatzpunkt beinhaltet der Rechtspositivismus, insbesondere die Reine Rechtslehre: "Die Grundnorm der positivistischen Reinen Rechtslehre ist keine Gerechtigkeitsnorm; sie leistet keine moralisch-politische Rechtfertigung des positiven Rechts, sondern nur eine bedingte, erkenntnistheoretische Begründung seiner Geltung. Indem sie - in Analogie zu Kants Erkenntnistheorie - die Frage beantwortet, wie es möglich ist, das Sollen, das der subjektive Sinn gewisser Akte ist, als ihren objektiven Sinn, und d. h. zwischenmenschliche Be636 ,,La theorie pure du droit est une theorie gent!rale du droit positif. Elle n' ignore pas que le contenu de tout ordre juridique positif, qu' il s' agisse du droit international ou d' un droit national, est determine par des facteurs historiques, economiques, moraux et politiques, mais elle cherche a comprendre le droit dans son sens immanent, dans sa signification normative specifique, teile qu'elle se presente aux sujets qui lui sont soumis." H. Kelsen, Theorie du droit international public, S.7. Für Friedrich Koja ist die Lehre Kelsens "die konsequenteste Theorie einer positivistischen Rechtswissenschaft"; F. Koja, Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre, S.37. 637 Vgl. H. Kelsen, Vom Geltungsgrund des Rechts, S. 165; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.199. 638 Vgl. H. Kelsen, Vom Geltungsgrund des Rechts, S.163-164. 639 Hinsichtlich des Naturrechts folgert Hans Kelsen: " ... dann scheint für die Geltung dieses positiven Rechtes keine bloß bedingte, sondern eine unbedingte Begründung gefunden; und, sofern das Naturgemäße mit dem Richtigen, Gerechten, das Naturwidrige mit dem Unrichtigen, Ungerechten identifiziert wird, ein festes Wertmaß für die Beurteilung des positiven Rechtes und sohin eine moralisch-politische Rechtfertigung desselben gewonnen .... Daß eine positivistische Rechtslehre nicht imstande ist, eine festes Wertmaß für die Beurteilung des positiven Rechts und sohin eine moralisch-politische Rechtfertigung desselben zu liefern, ist das Hauptargument, das für die Naturrechtslehre und gegen den Rechtspositivismus vorgebracht wird." H. Kelsen, Vom Geltungsgrund des Rechts, S. 163.
3. Kap: Der völkerrechts primäre Monismus der Rechtsordnungen
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ziehungen als Rechtsverhältnisse zu deuten, stellt sie nichts anderes als die transzendentallogische Begründung der Geltung des positiven Rechts dar."64O
Diese bemerkenswerte und einflußreiche Grundnormlehre Kelsens wirkte sich nicht nur auf seine Völkerrechtsauffassung aus, sondern hatte auch Einfluß auf seine Formulierung des Souveränitätsbegriffs, mit dem er sich in seinem Werk "Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts" hinsichtlich des Staatsrechts wie auch für den Bereich des Völkerrechts beschäftigte. Kelsen erkennt in diesem Zusammenhang die "normologische Bedeutung"641 der Souveränität. Nur eine Ordnung von Rechtsnormen, nicht jedoch ein Rechtssubjekt kann die Eigenschaft "Souveränität" besitzen. Als die ranghöchste und damit souveräne Ordnung ist sie nur dann feststellbar, wenn sie von einer Grundnorm abgeleitet wird, die sich direkt auf diese Ordnung bezieht: "Daß aber eine Norm oder ein Normensystem, eine Ordnung, als ,höchste' vorausgesetzt wird, ist ein Bild für eine bestimmte logische Qualifikation derselben. Sie wird damit als nicht weiter ableitbar, als logischer Ursprung gesetzt oder vorausgesetzt. In dem Bilde der Über- und Unterordnung, des ,Höheren' und ,Niederen' kommt die logische Relation des Allgemeinen zum Besonderen, in dem Begriff der Souveränität die Kategorie des Allgemeinsten, das ,summum genus in logicis' zum Ausdruck."642
Aus dem Prinzip der Reinheit der Rechtslehre zieht Kelsen zudem die Schlußfolgerung, daß eine Identität zwischen der Souveränität des Staates und der Positivität der Rechtsordnung herrschen muß; denn die als Staat zu deutende Rechtsordnung ist unabhängig von jedem anderen System, sei es Moral, Religion oder Politik und muß als höchste, nicht weiter ableitbare Ordnung verstanden werden. 643 Den Kernpunkt der Positivität stellt in diesem Zusammenhang der rechtslogische Ermächtigungszusammenhang zwischen der einheits stiftenden Grundnorm und den delegierten Normen der darauf basierenden Rechtsordnung dar. Folgt man dieser Konstruktion, so stellt sich zwangsläufig die Wahl der Grundnorm als Grundfrage der Reinen Rechtslehre. Ausgehend von der Gesamtheit jener Prinzipien der Reinen Rechtslehre Kelsens lassen sich die Grundlagen seiner Lehre über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht folgerichtig erschließen. Auch mit dem Einbezug des Völkerrechts weicht Kelsen nicht von seiner strengen norm logischen Erkenntnis des Rechts ab, sondern entwickelt seine Lehre - die oftmals als Gegenpol zu den Lehren von Hugo Krabbe, Leon Duguit und Georges Scelle beurteilt wird - zu einer neuen, großen Strömung in der Völkerrechtswissenschaft. 644 Zu welchen neuen ErkenntnisH. Kelsen, Vom Geltungsgrund des Rechts, S.165. 641 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.4. 642 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 8-9. 643 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.85-87. 644 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.72. 640
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
sen oder rechtstheoretischen Verfeinerungen Kelsen dabei kommt, deutet er im Zusammenhang mit der Konzeption seiner Grundnormthese bereits an: "Allerdings muß schon jetzt hervorgehoben werden, daß das die Ursprungsnorm, die Verfassung des Einzelstaates bestimmende Postulat einen wesentlich anderen Charakter annehmen und als Rechtsnorm auftreten kann, wenn die Vorstellung von der Souveränität der einzelstaatlichen Rechtsordnung fallen gelassen und über allen Einzelstaaten eine Völkerrechtsordnung angenommen wird, die nur eine in der Regel wirksame Zwangsordnung als Teilordnung delegiert. ,,645
2. Die Anfänge der Völkerrechtslehre Hans Kelsens
Auch Kelsen erkennt im allgemeinen drei verschiedene grundsätzliche Möglichkeiten zur Gestaltung des Verhältnisses zwischen staatlichen und völkerrechtlichen Normen. Heinrich Triepel hatte schon 1899 - wie geschildert - zwischen einer monistischen und dualistischen Beziehung der Rechtsordnung unterschieden, und Alfred Verdross stellte 1914 in seinem Aufsatz "Zur Konstruktion des Völkerrechts" drei Beziehungsmöglichkeiten fest, die von Kelsen übernommen wurden: 646 Neben der dualistischen 647 und monistischen Rechtsordnungskonstruktion -letztere kann in Verbindung mit dem Primat des staatlichen Rechts oder des Völkerrechts entwikkelt werden - ist ein "Verhältnis der Koordination"648 denkbar. Ein solches Gefüge entsteht durch eine über dem staatlichen und völkerrechtlichen Normensystem stehende dritte Ordnung. Aufgrund der Tatsache, daß dieses überragende Rechtssystem, das sogar über dem Völkerrecht stehen müßte, nicht existiert, schließt Kelsen eine solche Konstruktion grundsätzlich aus. 649 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 100-101. Vgl. A. Verdross, Zur Konstruktion des Völkerrechts, in: Zeitschrift für Völkerrecht, hrsg. von Max Fleischmann/Karl Strupp, Band VIII, 1914, S.329-359, hier S. 337; H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 104. Erstmalig wurden diese verschiedenen Möglichkeiten der monistischen und dualistischen Konstruktion von Heinrich Triepel im Rahmen seiner rechtsquellenbezogenen Erörterungen entwickelt; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, insbesondere S.1l1-1l4, S.128-129, S.l31, S.133, Fußnote I, S. 156-158 und S. 253-254. Alfred Verdross jedoch nimmt für sich in Anspruch, erstmals die begriffliche Erfassung der Unterscheidung dieser Rechtslehren geleistet zu haben; vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 39 und S.46; A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926, S.15, Fußnote 2. Sachlich wurde das Problem der Rechtsordnungsbeziehungen bereits vor dem Werk Triepels und zwar von Kar! Bergbohm, Greorg Jellinek und Albert Zorn erfaßt; dazu 4. Teil, 4. Kap. 11. 1. 647 Auch Hans Kelsen favorisiert die Bezeichnung "pluralistisch" anstelle "dualistisch" und vernachlässigt nicht die Vielzahl der einzelstaatlichen Rechtssysteme; vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 329. 648 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 104. 649 Bereits Heinrich Triepel hat die Problematik dieser Rechtsordnungskonstruktion erkannt; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 257. Ursprünglich war Paul Guggenheim ein Vertreter dieser dritten Auffassung, die er jedoch in seinem Werk ,,Lehrbuch des Völkerrechts" letztlich ablehnte; vgl. P. Guggenheim, Zum Verhältnis von Völkerrecht und Lan645
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3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
193
Zu Beginn seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit auf dem Gebiet des Völkerrechts galt er als Anhänger der dualistischen Lehre; im Zuge seiner völkerrechtstheoretischen Erkenntnisse, die er mit der Entwicklung der Reinen Rechtslehre gewann, erfolgte die Abkehr vom Dualismus. Bereits in seiner Abhandlung "Über Staatsunrecht"650, drückt er seine kritische Haltung aus: "Anerkennt man ein Völkerrecht als eine Summe von Normen, durch welche die Staaten untereinander verpflichtet werden und die nicht von dem einzelnen Staate selbst gesetzt werden ... , so muß man damit rechnen, daß zwischen Staats- und Völkerrecht insofern ein Konflikt möglich ist, als der Einzelstaat in korrekter Realisierung seiner eigenen Rechtsordnung eine Völkerrechtsnorm verletzt. Und hier muß man des ernsten Einwandes gegenwärtig sein, ob es zulässig sei, zwei voneinander völlig unabhängige Normensysteme, denen gegenüber das Subjekt (der Staat) möglicherweise sogar in eine Pflichtkollision geraten kann, beide in gleicher Weise als Recht zu bezeichnen und durch diese Nomenklatur den Schein ihrer Einheitlichkeit zu erwecken .... Allein materiell und letzten Endes steht das Völkerrecht nicht als ein neben den einzelnen staatlichen Rechtsordnungen, sondern als ein über diesen Geltung heischendes Normensystem in Frage und kann sein Wesen nur in dieser seiner Überordnung über alles staatliche Recht erfüllen."651
Diese Erkenntnisse, die in ihm den Wandel hin zu einer monistischen Lehre ausgelöst hatten, dokumentiert und erläutert Kelsen einige Jahre später erstmals in seinem Werk "Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts". Als einen ersten Argumentationspunkt führt er die Tatsache an, daß die Normen des Völkerrechts und des staatlichen Rechts "menschliches Verhalten"652 zum Inhalt haben und demzufolge eine Identität des Regelungsgegenstands beider Rechtsordnungen besteht. 653 Darüber hinaus schließt Kelsen eine Verschiedenheit bezüglich ihrer Normadressaten aus. 654 In Übereinstimmung mit den Prinzipien der Reinen Rechtslehre formuliert er die für ihn wohl bedeutsamsten Erkenntnisse, die sich aus der dualistischen Konzeption des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht ergeben: "Vielmehr ist die Annahme zweier Normensysteme, sofern ihre Geltung in Frage kommt, nur im Sinne einer Alternative denkbar; entweder das eine oder das andere Normensystem kann als gültig vorausgesetzt werden. Nicht aber beide zugleich. Denn das Postulat der Einheit der Erkenntnis gilt unbeschränkt auch für die normative Ebene und findet hier seinen Ausdruck in der Einheit und Ausschließlichkeit des als gültig vorausgesetzten Normensydesrecht, in: Revue internationale de la theorie du droit, IX, 1935, S. 90-1 ()(); P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, S.22-23 und S. 22, Fußnote 7. 650 H. Kelsen, Über Staatsunrecht, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart, hrsg. von C. S. Grünhut, Band 40, Heft 1 und 2,1913, S.I-114. 651 H. Kelsen, Über Staatsunrecht, S.I01 (Hervorhebungen im Original). 652 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 125. 653 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.124-130. 654 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.126-128 und S.130-131. 13 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
sterns, was gleichbedeutend mit der notwendigen Einheit des Betrachtungs-, Bewertungsoder Deutungsstandpunktes ist. ,,655
Unter Berücksichtigung dieses "Einheitspostulats" kann im Sinne Kelsens also nur einer Rechtsordnung Geltungskraft zuerkannt werden. Völkerrecht und staatliches Recht können als getrennte Rechtsordnungen keine gleichzeitig bestehende rechtliche Verbindlichkeit entfalten. Ausschließlich bedingt durch die Einheitlichkeit des Rechts, ist ein möglicher Widerspruch zwischen dem übergeordneten und untergeordneten Rechtskreis von vornherein auszuschließen: Eine Norm des untergeordneten Systems kann nach Ansicht Kelsens keiner Norm des höheren Rechtssystems inhaltlich entgegenstehen. Die Entscheidung, welcher Rechtsordnung im Rahmen des monistischen Gefüges der Primat zukommt, spielt dabei keine Rolle. In der Völkerrechtswissenschaft wurde diese anfänglich von Kelsen vertretene Rechtslehre als "strenger" oder "radikaler" Monismus bezeichnet. 656 "Die Einheit des übergeordneten mit dem untergeordneten Systeme aber bewährt sich in der Unmöglichkeit eines logischen Widerspruchs zwischen dem Inhalt der Normen beider Systeme .... Jede Norm des untergeordneten Systems, die sich zu der höheren Ordnung ihrer Quelle in Widerspruch setzt, ist von vornherein nichtig, d. h. ist überhaupt keine gültige Norm, ist nicht als gegeben zu betrachten."657 655 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 104-105 (Hervorhebungen im Original). Noch eindringlicher sind die Thesen Hans Kelsens in einern Artikel, der 1926 in französischer Sprache publiziert wurde. Darin führt Kelsen drei notwendige Folgen der dualistischen Konstruktion aus: ,,1. Negation de la nature juridique du droit ,international'. 2. Negation du caractere juridique des Etats etrangers. 3. Impossibilite de la delimination du domaine juridique des Etats." H. Kelsen, Les rapports de systeme entre le droit interne et le droit international public, in: RdC, IV, Nr. 14, 1926, S. 231-326, hier S. 276-280. In bezug auf die wohl wichtigste These - der Verneinung der juristischen Anerkennung des Völkerrechts (Negation de la nature juridique du droit ,international') - bemerkt Kelsen: "Et en effet, la construction dualiste, poussee jusqu' a ses dernieres consequences, aboutit a faire de ce qu' on appelle le droit international tout simplement une sorte de morale ou de droit naturei, et non pas un droit veritable, au sens plein du mot, au sens ou I' on qualifie le droit interne de ,droit positif'. Seulle droit interne pourrait alors definir ce qui est droitet ce qui ne l'est pas." (S.276). 656 Siehe z.B. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.132; E. MenzellK. Ipsen, Völkerrecht, S. 52. Kritisch dazu äußert sich auch Gustav Walz; seiner Meinung nach können Völkerrecht und staatliches Recht, gerade weil sie beide - wie von Hans Kelsen erkannt - menschliches Verhalten regeln, sehr wohl in ein konkurrierendes Verhältnis treten; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 80. Walter Schiffer argumentiert darüber hinausgehend, daß sich die absolute Nichtigkeit völkerrechtswidriger Normen in der Praxis nicht realisiert, sondern solche Normen innerhalb der staatlichen Rechtsordnung als verbindlich angesehen werden; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vorn Primat des Völkerrechts, S. 200-201. 657 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 113. Es muß nochmals darauf hingewiesen werden, daß Hans Kelsen diesen Argumentationen ganz offensichtlich die Prinzipien der Reinen Rechtslehre zugrunde legt: "Von vornherein muß daher mit größtem Nachdrucke festgestellt werden, daß es sich um rein norm-logische Fragen handelt. Nicht irgend welche psychologischen Beziehungen zwischen verschiedenen Willensträgern, nicht Wechselwirkungen faktischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind zu suchen, sondern lediglich die möglichen logischen Relationen aufzudecken, die sich der Erkenntnis
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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3. Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht
Ausgehend von jener drastischen Ausprägung des Monismus entwickelte sich Kelsen im Laufe seiner wissenschaftlichen Schaffenszeit weiter - zugunsten einer gemäßigteren Auffassung über das Verhältnis der Rechtsordnungen. Seine endgültige Konzeption begründete und publizierte er in der "Reinen Rechtslehre" sowie in dem Aufsatz "Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht"658. a) Die Verbindlichkeit des Völkerrechts Im Zuge der Untersuchung des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht wird nach Ansicht Kelsens ebenso die Frage nach dem Rechtscharakter der Völkerrechtsnormen berührt. 659 Nach dem Verständnis der Reinen Rechtslehre kann das Wesen des Völkerrechts tatsächlich nur dann als "Recht" bestätigt werden, "wenn es eine als souverän vorausgesetzte Zwangsordnung menschlichen Verhaltens ist; wenn es an von ihm bestimmte Tatbestände als Bedingungen von ihm bestimmte Zwangsakte als Folgen knüpft und daher, so wie das staatliche Recht, in Rechtssätzen beschrieben werden kann."660
Es ist für Kelsen demnach zu klären, ob das Völkerrecht aus Rechtssätzen besteht, deren Tatbestandsmerkmale zu Zwangsmaßnahmen führen können, so daß Sanktionen als Resultat von Zuwiderhandlungen möglich sind. 661 Solche Zwangsakte des Völkerrechts erkennt Kelsen sowohl in der Repressalie als auch im Krieg und bejaht aus diesem Grund die Rechtsnatur des Völkerrechts. 662 Die Rechtmäßigkeit des bieten, wenn versucht wird, mit zwei Ordnungen zu operieren." H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 104. 658 H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, hrsg. von earl Bilfinger, Band 19, 1958, S.234-248. Darüber hinaus wird auch sein Artikel "Theorie du droit international public" berücksichtigt, der 1953 von Hans Kelsen zu diesem Problemkreis veröffentlicht wurde. 659 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 103; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 321-324. 660 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 321. 661 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 321. 662 Die Repressalie definiert Hans Kelsen als einen beschränkten Eingriff des einen Staates in den Bereich des anderen, mit oder ohne Waffengewalt. Für Kelsen sind diese Maßnahmen des Staates nach dem allgemeinen Völkerrecht nur unter der Bedingung erlaubt, sofern sie eine Reaktion auf die Verletzung seiner Interessen darstellen. Dementsprechend beschreibt er die Repressalie als "einen unter anderen Umständen völkerrechtlich verbotenen Eingriff in die Interessensphäre eines Staates, einen Eingriff, der ohne, ja gegen den Willen dieses Staates erfolgt und in diesem Sinne ein Zwangsakt ist, auch wenn er - mangels eines Widerstandes des betroffenen Staates - ohne Anwendung physischen Zwanges, das ist: Anwendung von Waffengewalt;vor sich geht. Doch ist die Anwendung physischen Zwanges nicht ausgeschlossen. Repressalien können, wenn nötig, auch mit der Anwendung von Waffengewalt durchgeführt werden". H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.321-322. Im Gegensatz zur Repressalie zeichnet sich 13*
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Krieges begründet Kelsen mit der breiten Zustimmung zum Prinzip "bellum justurn" von seiten der Mitglieder der Staatengemeinschaft. 663 Der Grundsatz wurde seiner Meinung nach auch im Briand-Kellogg-Pakt und in der Satzung der Vereinten Nationen verankert. 664 Hinsichtlich dieser Auffassung Kelsens besteht jedoch keine allgemeine Zustimmung in der herrschenden Völkerrechtslehre. 665 Zwar gestattete der Briand-Kellogg-Pakt weiterhin gewaltsame Repressalien; er erlaubte dagegen den Krieg ausschließlich zur Verteidigung gegen einen gewaltsamen Angriff, so daß offensive Selbsthilfemaßnahmen zur Durchsetzung von Rechten ab diesem Zeitpunkt verboten waren. 666 Insofern erfuhr die Lehre vom gerechten Krieg bereits zum damaligen Zeitpunkt eine prinzipielle Einschränkung. 667 Mit der Integration des absoluten Gewaltverbots in Art. 2 Ziff.4 der UN-Charta wurde jegliche Gewaltanwendung oder -androhung zur Durchsetzung von Ansprüchen grundsätzlich verboten. 668 Einen "gerechten Krieg" kann es nach der Intention des gegenwärtigen Völkerrechts und dem Willen der Staatengemeinschaft nicht mehr geben. Repressalien sind nur gewaltlos und in beschränktem Maß erlaubt. 669 Im heutigen Völkerrecht werden der Krieg als ein unbeschränkter, physischer Eingriff in die Interessensphäre eines anderen Staates aus (v gl. S. 322-323). 663 Aus diesem Grundsatz resultiert, daß Repressalie und Krieg nur dann dem Völkerrecht entsprechen, wenn sie Sanktionsmaßnahmen sind. Andernfalls müssen sie als völkerrechtliche Delikte bewertet werden; vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 323; dazu auch 2. Teil, 2. Kap. III. und 3. Teil, 3. Kap. I. 4. lose! Kunz erkennt die "bell um justum"-Doktrin Hans Kelsens nicht an; vgl. l. Kunz, Die definitive Formulierung der Reinen Rechtslehre, in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, hrsg. von Alfred Verdross, Hans Kelsen zum 80. Geburtstag gewidmet, Band XI, Heft 3-4, 1961, S. 375-394, hier S. 377. 664 "Die Ansicht, daß dieses Prinzip Bestandteil des Völkerrechts sei, lag schon den Friedensverträgen zu Grunde, die den ersten Weltkrieg beendeten und die die Satzung des Völkerbundes beinhalteten. Seither ist das Prinzip aber durch den Briand-Kellogg-Pakt und die Satzung der Vereinigten Nationen unzweideutig zum Inhalt von Verträgen geworden, von denen einer, der Briand-Kellogg-Pakt, so gut wie alle Staaten zu seinen Partnern hat, und der andere - die Satzung der Vereinigten Nationen - in dieser Hinsicht Geltung für alle Staaten der Welt in Anspruch nimmt." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 322-323. Ausführlicher hat sich Hans Kelsen bereits einige Jahre zuvor mit diesem Problem bereich beschäftigt und versucht, die Frage nach dem Rechtscharakter unter Einbezug völkerrechtlicher Sanktionsmittel zu beantworten, vgl. H. Kelsen, Principles ofIntemational Law, 1952, S.18-89. 665 Vgl. H. lsak, Bemerkungen zu einigen völkerrechtlichen Lehren Hans Kelsens, S.258-259. 666 Dieses Faktum erkennt Hans Kelsen unzweifelhaft an; vgl. H. Kelsen, Principles of International Law, S.43-44. 667 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.68; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 89-91. 668 Ausnahmen von diesem Prinzip sind in der Charta genau formuliert. Gemäß Art.51 besteht insbesondere ein Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, wenn ein UN-Mitglied gewaltsam angegriffen wird; aber nur solange, "bis der Sicherheitsrat die zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat". (Art. 51 UN-Charta); vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.285-293. 669 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 907-912.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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statt dessen friedliche Konfliktlösungen und Rechtsdurchsetzungsmaßnahmen favorisiert. 670 Gleichzeitig besteht der Vorrang des kollektiven Handeins der Mitglieder der Vereinten Nationen, wobei insbesondere der Sicherheitsrat als Vermittlungsorgan tätig wird. 671 Kelsen stellt in diesem Zusammenhang besonders heraus, daß das "naturgegebene"672 Recht jedes Staates, sich im Angriffsfall - bis zum Eingreifen der kollektiven Organe - selbst zu verteidigen, unverändert bestehen bleibt. 673 Für Kelsen stellt sich das Völkerrecht dennoch als Zwangsordnung dar, die auf den Sanktionsmöglichkeiten Repressalie und Krieg beruht. Als einen weiteren entscheidenden Wesenszug der Völkerrechtsordnung führt er ihre Primitivität an; denn sie besitzt keine arbeitsteilig funktionierenden Organe, die eine organisierte und zentralisierte Erzeugung und Anwendung der Rechtssätze leisten. Deutlich wird die dezentrale Struktur durch die Erzeugungsart der Völkerrechtsnormen. Ihre Setzung erfolgt durch die beteiligten Staaten mittels Vertragsschluß oder auf dem Weg der Gewohnheit und nicht - wie im nationalen Recht - durch eine zentrale Gesetzgebung. 674 Auch die Rechtsvollziehung fällt nach Ansicht Kelsens in die Verantwortlichkeit der Staaten; denn aufgrund des Fehlens einer zentralen Instanz kann der in seinen Interessen verletzte Staat selbst ein Fehlverhalten sanktionieren und mit Repressalien oder Krieg gegen den Rechtsverletzer vorgehen: "Es ist die Technik der Selbsthilfe, von der auch die Entwicklung der einzel staatlichen Rechtsordnung ausgegangen ist."675 Diese Thesen lassen Kelsen zu dem Ergebnis kommen, daß das Völ670 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht und D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 3. Teil; dazu auch 3. Teil, 3. Kap. I. 671 Das System der kollektiven Sicherheit ist insbesondere in den Art. 39-51 der UN-Charta ("Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen") geregelt; Zwangsmaßnahmen, die durch den Sicherheitsrat beschlossen werden, gelten als Kollektivmaßnahmen der Vereinten Nationen, die von ihren Mitgliedern ausgeführt werden; vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 291-298; H. Kelsen, Principles of International Law, S. 48. 672 Art. 51 UN -Charta. 673 Vgl. H. Kelsen, Principles of International Law, S.60. Gleichermaßen vertritt er die grundsätzliche Auffassung, daß die individuellen Selbsthilfemöglichkeiten der Staaten nur insoweit begrenzt werden sollten, wie sie gleichzeitig durch wirksame Kollektivmaßnahmen ersetzt werden (vgl. S.43). 674 "La difference la plus importante entre ces deux ordres juridiques reside dans le fait que le droit international est relativement decentralise, tandis que le droit national est relativement centralise. Cela apparait dans les methodes de creation et d' application des normes de ces deux droits. La coutume et les traites, qui sont les principales sources ou methodes de creation du droit international, sont des methodes decentralisees, tandis que la legislation, principale source du droit national, est une methode centralisee de creer le droit. En droit international general au contraire il n'y a pas d'organes speciaux pour l'application du droit et notamment pas d'organes centraux pur I' execution des sanctions. Ces fonctions sont laissees aux Etats en leur quaIite de sujets du droit international, .... " H. Kelsen, Theorie du droit international public, S. 183-184; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 323-324. 675 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 324.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
kerrecht als Recht zu werten ist, wenn es auch Schwächen aufweist, die ihm letztlich den Charakter einer "primitiven Rechtsordnung"676 geben. Kelsen läßt mit seiner Argumentationsweise den Eindruck entstehen, daß dem Völkerrecht ohne die Anerkennung von Repressalie und Krieg als Zwangsdurchsetzungsmiuel kein Rechtscharakter zukommen kann. 677 Mit diesem Anspruch, der bereits im Rahmen der Erörterung der Grundprinzipien der Reinen Rechtslehre formuliert wurde, setzt die Lehre Kelsens einen Gegenpunkt zur neueren Entwicklungsrichtung der Rechtslehre. 678 b) Die völkerrechtliche Normenhierarchie Trotz der Primitivität der Völkerrechtsordnung erkennt Kelsen in dem Gefüge verschiedener Rechtssätze eine klare Struktur. Eine erste gemeinsame Hierarchiestufe bilden die Regeln des allgemeinen Völkerrechts. Sie sind auf dem Weg der Gewohnheit entstanden und sind für alle Staaten verbindlich. 679 Dieser Stufe hinzuzuzählen ist der Grundsatz "pacta sunt servanda", der die Staaten berechtigt, Verträge abzuschließen. Das auf diese Weise entstehende partikuläre Völkerrecht entfaltet ausschließlich für die vertragsschließenden Staaten Geltungskraft. Für Kelsen werden die Staaten mit der Formel ermächtigt, ihr gegenseitiges Verhalten durch Ver676 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 323; vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 241; H. Bull, Hans Kelsen and International Law, in: Essays on Kelsen, hrsg. von Richard Tur und William Twining, 1986, S. 321-336, hier S. 322-326. 677 Bereits Jahre zuvor formuliert er den Zusammenhang seiner Argumente wesentlich deutlicher: "The obvious insufficiency of reprisals and war as sanctions of internationallaw is the consequence of the complete decentralization of the community constituted by this law, which, precisely because of this decentralization, and especially because of the lack of a centralized executive power, has the typical character of a primitive law. If reprisals and war - typical measures of self-help - are not considered as legal sanctions because a minimum of centralization is considered to be an essential element of the law, the social order we call general international law cannot be regarded as law in the true sense of the term." H. Kelsen, Principles of International Law, S. 36. 678 Dazu H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 28-29. Für Walter Schiffer dagegen ist die Frage nach der Wirksamkeit einer Ordnung für ihren rechtlichen Charakter maßgeblich: "Diese Wirksamkeit besteht darin, daß die durch den Rechtssatz hergestellte Verknüpfung von Tatbestand und Zwangsakt regelmäßig in der Wirklichkeit eintritt." W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.179. Bezüglich des Völkerrechts stellt Schiffer jedoch eine solche Beständigkeit nicht fest, weil seiner Meinung nach das Resultat von Krieg und Repressalie nicht vorhersehbar ist. Zudem besteht für den Staat keine Verpflichtung zur Maßnahmenergreifung. Die mangelnde Wirksamkeit des Völkerrechts resultiert nach Ansicht Schiffers aber ebenso aus der fehlenden Organisation, die auch nicht durch die Übernahme völkerrechtlicher Aufgaben durch staatliche Organe hergestellt werden kann. Aus dem Axiom, daß ohne eine Organisation keine Rechtsordnung bestehen kann, folgt für Schiffer: "Auch die Völkerrechtsordnung muß also Staat sein, wenn sie Recht sein soll." (S. 182, vgl. S. 179-184). Abschließend beurteilt er den Stand des Völkerrechts wie folgt: ,,Jedenfalls kann eine Ordnung, deren Inhalt im wesentlichen darin besteht, das, was ist, als gesollt zu bezeichnen - die Begrenzung der Staaten durch das Effektivitätsprinzip soll den Hauptinhalt des Völkerrechts bilden -, nicht als Rechtsordnung angesehen werden." (S.183); siehe auch 3. Teil, 2. Kap. 679 V gl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 324.
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träge zu organisieren und somit "das Verhalten ihrer Organe und Untertanen im Verhältnis zu den Organen und Untertanen der anderen durch Verträge zu regeln"680. Das Vertragsrecht ist demnach auf die erste Normenebene zurückzuführen und stellt eine zweite Stufe innerhalb der Normenhierarchie dar. Das durch internationale Organe und Gerichte gesetzte Recht faßt Kelsen als Rechtssätze der untersten Stufe der Völkerrechtsordnung zusammen; denn die Existenz dieser Organe basiert auf einem Völkerrechtsvertrag. 681 Wie bereits angedeutet, hat Kelsen das Element vom Stufenaufbau der Rechtsordnung von Adolj Merkl übernommen und in seine Reine Rechtslehre eingebracht. 682 Insbesondere dieses Prinzip hat über den Kreis der Anhänger der Reinen Rechtslehre hinaus Wirkung gezeigt; denn die Begriffe "Stufenaufbau der Rechtsordnung" oder "Rang der Rechtsquellen" sind in der Rechtswissenschaft gebräuchlich und anerkannt. Kelsen geht jedoch noch einen Schritt weiter und damit über eine rein hierarchisch strukturierte Völkerrechtsordnung hinaus: Ganz im Sinne der Reinen Rechtslehre muß auch das Völkerrecht auf eine völkerrechtliche Geltungsquelle zurückzuführen sein, die an der Spitze der Stufenordnung steht und die dem gewohnheitsrechtlichen staatlichen Verhalten Rechtscharakter zukommen läßt. Die Frage nach dem Wortlaut der Grundnorm des Völkerrechts steht in engem Zusammenhang mit dem Problem des Ve'rhältnisses der Rechtsordnungen und erfordert daher eine eingehendere Betrachtung der Rechtslehre Kelsens. c) Die Ablehnung des Triepelschen Dualismus Bereits 1920 bezieht Kelsen die Lehre Heinrich Triepels in seine Abhandlung "Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts" ein und nimmt zu ihren wesentlichen Grundaussagen Stellung. 683 Seiner Meinung nach kann weder eine Verschiedenheit des Normobjektes noch ein klarer Unterschied der Normadressaten festgestellt werden. 684 Der Inhalt beider Rechtsordnungen besteht für Kelsen aus menschlichem Verhalten, womit er die Behauptung, daß die Gesamtheit jegliH. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 324. Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 324-325. 682 V gl. A. M erkl, Die Lehre von der Rechtskraft; näher dazu A. Bleckmann, Grundprobleme und Methoden des Völkerrechts, S. 180-189 und P. Koller, Meilensteine des Rechtspositivismus im 20. Jahrhundert: Hans Kelsens Reine Rechtslehre und H. L. A. Harts "Concept of Law" , in: Forschungen aus Staat und Recht, hrsg. von Günther Winkler/Walter Antoniolli/Bemhard Raschauer, Band 81: Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, 1988, S. 129-178, hier S. 147-152; dazu 4. Teil, 3. Kap. 11. 1. b). 683 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 120-139. In seiner "Reinen Rechtslehre" nimmt Hans Kelsen erneut, aber nur kurz zur dualistischen Lehre Stellung und bezieht die Beurteilung ihrer Prinzipien eher direkter in die formulierung der monistischen Rechtsordnungskonstruktion mit ein; vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 330 und S. 333-336. 684 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I. 2. 680 681
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chen Verhaltens ohne Überschneidung in die beiden Rechtsordnungen eingeteilt werden kann, strikt ablehnt: 685 "Auch Pflichten und Rechte des Staates haben keinen anderen Inhalt als menschliches Verhalten, so wie die Handlungen des Staates nur menschliche Handlungen sind, auf die Einheit der Rechtsordnung bezogen, dem ,Staate', der Personifikation dieser Rechtsordnung, zugerechnet werden. Es ist nicht einzusehen, warum die staatliche Rechtsordnung nicht ein menschliches Verhalten als gesollt statuieren sollte, das ebenso als Inhalt einer Pflicht des Staates einem anderen Staate gegenüber gedeutet oder - was dasselbe ist: juristisch konstruiert werden kann, wie der Inhalt irgendeiner völkerrechtlichen Norm."686
Auch die zweite grundlegende Voraussetzung des Triepelschen Dualismus beurteilt Kelsen als unhaltbare Behauptung und widerlegt sie mit folgender Argumentation: "Die Sätze, daß das Völkerrecht nur die Staaten verpflichte und daß es eine von den staatlichen Rechtsordnungen gänzlich unabhängige und verschiedene, weil aus einer andem Quelle abgeleitete Ordnung sei, stehen zueinander in einem logischen Widerspruch .... Denn daß sich aus einem von der Quelle staatlichen Rechts unabhängigen Ursprung alle jene Normen, das heißt jene ganze Ordnung ableiten läßt, die als Substrat für eine spezifisch völkerrechtliche Persönlichkeit des Staates notwendig ist, kann wohl kaum behauptet werden."687
Demnach verpflichtet das Völkerrecht nicht nur die Staaten, sondern auch die Einzelmenschen. Die Bedeutung des Satzes "Das Völkerrecht berechtigt und verpflichtet die Staaten" liegt nach Ansicht Kelsens darin, daß die Berechtigung oder Verpflichtung von Individuen durch die Völkerrechtsnormen nicht direkt, sondern nur indirekt - nämlich mit Hilfe der staatlichen Rechtsordnung - erfolgt. Hintergrund dieser Struktur ist das Wesen des Völkerrechts; denn es bestimmt nur die grundsätzliche Handlungs- oder Verhaltensweise, nicht aber, welches Individuum die Pflichten erfüllen soll. Aufgrund dieser Ergänzungsbedürftigkeit übernehmen die einzelnen staatlichen Rechtsordnungen die näheren Ausführungen der völkerrechtlichen Rechte und Pflichten. Eine Verpflichtung des Völkerrechts oder ein daraus resultierendes menschliches Verhalten wird als Folge dieses Beziehungsgeflechts auf den Staat bezogen und insofern der einheitlichen staatlichen Rechtsordnung zugeschrieben. 688 Kelsen ist überzeugt, daß die Einzelmenschen in größerem Ausmaß unmit685 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.124-l30. 686 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.128 (Hervorhebung im Original). 687 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.131 und S.132. 688 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 325-328. "Darin, daß das Völkerrecht die staatlichen Rechtsordnungen delegiert, die Individuen zu bestimmen, durch deren Verhalten die vom Völkerrecht statuierten Pflichten erfüllt oder verletzt, die vom Völkerrecht statuierten Rechte ausgeübt werden, erschöpft sich der juristische Sinn jener Eigentümlichkeit des Völkerrechts, derzufolge dieses ,nur Staaten verpflichtet und berechtigt', oder derzufolge nur ,Staaten Subjekte des Völkerrechts' sind. Was damit zum Ausdruck kommt, ist lediglich die bloß mittelbare,
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telbar durch das Völkerrecht angesprochen werden, wenn dieses Regelungsgebiete einschließt, die zuvor nur durch das staatliche Recht nornüert wurden. 689 Ablehnend bewertet Kelsen weiterhin die These von der völligen Unterschiedlichkeit und gegenseitigen Unabhängigkeit der Rechtsquellen beider Ordnungen, welche Heinrich Triepel im Rahmen seiner dualistischen Rechtsauffassung auf die Verschiedenheit der "Willen" zurückführt. 69O Anders als Triepel kommt er zu dem Schluß, daß der Gemeinwille - in Form der Vereinbarung mehrerer Staaten - nicht der Geltungsgrund für die völkerrechtliche Verbindlichkeit darstellen kann. Aufgrund der Triepelschen Argumentationsweise, daß in der Vereinbarung nicht nur ein fremder Wille, sondern gleichzeitig auch der ureigene Wille des Staates steckt und daß dem einzelnen Staat "nichts auferlegt wird, was er sich nicht selbst auferlegt hat"691, kann Kelsen nur den eigenen staatlichen Willen als den entscheidenden Geltungsursprung des Völkerrechts in der Triepelschen Lehre erkennen. Indem Triepel die Bindung des Staates an die auf dem Weg der Vereinbarung erzeugten Rechtssätze mit dem Gefühl des Gebundenseins begründet, verstärkt dies die ablehnende Haltung Kelsens gegenüber der Lehre von Gemeinwillen nur noch. 692 Er kommt zu dem Ergebnis, daß im Triepelschen Dualismus hinsichtlich der Völkerrechtsordnung und der staatlichen Rechtsordnung keine völlig verschiedenen Quellen vorliegen. 693 Im Gegenteil: Ist generell der staatliche Wille als tatsächliche Rechtsquelle identifiziert, so kann es ein dualistisches Verhältnis der Ordnungen nicht geben und ein inhaltlicher Konflikt zwischen den Normen erscheint undenkbar; "denn in der Vereinbarung kann der Staat nicht das Gegenteil dessen wollen, was er in der staatlichen Rechtsordnung will"694. Weil Kelsen den Geltungsgrund der Rechtsordnungen im Triepelschen Dualismus auf den staatlichen Willen reduziert, beurteilt er die völkerund zwar durch die einzel staatliche Rechtsordnung vermittelte Verpflichtung und Berechtigung der Einzelmenschen durch das V6Ikerrecht." (S. 327). 689 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 328. 690 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.134-139; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. 1.3. 69\ H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 82. 692 "Denn ganz abgesehen von dieser für alle normlogischen Untersuchungen der herrschenden Lehre charakteristischen Entgleisung ins Psychologische ... - ins Normative übersetzt, bleibt doch wieder nur der eigene Wille des Staates als Geltungsgrund für die völkerrechtliche Verbindlichkeit übrig." H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 136. Statt dessen befürwortet er einen "normativ korrekten Ausdruck", so beispielsweise die Norm: "Vereinbarungen zwischen Staaten sollen verbindlich sein", die als Quelle des Völkerrechts gelten könnte. Ohne Zweifel wäre diese Rechtsquelle bezüglich der Geltungsquelle der staatlichen Rechtsordnung auch nicht gänzlich unabhängig und verschieden (v gl. S.136-137). 693 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 138; vgl.L. Meriggi, Das Wesen des internationalen Rechts und seine Beziehungen zum inneren Recht der Staaten, S. 746-747. 694 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.138. Deutlich erkennbar ist hierbei die streng monistische Rechtsauffassung, die Hans Kelsen in der damaligen Zeit vertritt: Ein Normenkonflikt zwischen der staatlichen Rechtsordnung und dem Völkerrecht erscheint ihm von vornherein gar nicht möglich zu sein.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
rechtlichen Normen als Bestandteil der staatlichen Rechtsordnung in einem einheitlichen Normensystem. 695 Bekräftigt wird dieser Gedanke Kelsens durch die Erfordernis der Anerkennung des Völkerrechts: "Durch die Notwendigkeit, das Völkerrecht als einen Komplex gültiger Rechtsnormen zu begreifen, wird die dualistische Konstruktion auf dem Wege der ihr unentbehrlichen Annahme, daß die Geltung des Völkerrechts für einen Staat von seiner Anerkennung durch diesen Staat abhängt, zur Selbstaufhebung gedrängt. Denn wenn das Völkerrecht nur als Bestandteil einer staatlichen Rechtsordnung gilt, kann es nicht eine von dieser verschiedene, in ihrer Geltung von dieser unabhängige Rechtsordnung sein; und dann kann es zwischen bei den schon darum keine Konflikte geben, weil beide - in der Sprache der traditionellen Jurisprudenz ausgedrückt- auf dem ,Willen' eines und desselben Staates beruhen."696
Auch wenn beide Rechtsordnungen verschiedene Quellen besitzen würden, folgt daraus für Kelsen nicht ohne weiteres die Konsequenz, daß Völkerrecht und staatliches Recht verschiedene Regelungsinhalte haben und deshalb - im Sinne Triepels - ein Normenkontlikt auszuschließen ist. Nach Ansicht Kelsens kann derselbe Gegenstand durch verschiedene - aus interdependenten Quellen resultierenden - Rechtsordnungen geregelt werden, womit er die Triepelsche These über die Konfliktfreiheit der Normen im dualistischen Rechtsordnungssystem als irrige Schlußfolgerung beurteilt. 697 Seine Wertung der dualistischen Lehre Triepels formuliert Kelsen abschließend: "Trotzdem Triepels Theorie der von der Quelle des Landesrechts verschiedenen Quelle des Völkerrechts schließlich auf die Bergbohm-Jellineksche Theorie der Selbstverpflichtung des Staates hinausläuft und damit das Völkerrecht zu einem Bestandteile der staatlichen Rechtsordnung werden muß, trotz dieser offenkundigen Identität der Quelle staatlichen und Völkerrechtes hält Triepel an der Möglichkeit eines unlösbaren Konfliktes zwischen beiden Rechtsordnungen fest. Und dieser Widerspruch wird um so auffallender, je deutlicher zutage tritt, daß die Triepelsche Konstruktion, sofern sie sich auf den GeItungsgrund des Völkerrechtes besinnt, aus einer dualistischen in jene monistische Auffassung abgleitet, die den Primat der staatlichen Rechtsordnung behauptet. Dies kommt besonders zum Ausdruck, wenn Triepel den in der herrschenden Völkerrechtstheorie allgemein akzeptierten Grundsatz, das Völkerrecht müsse von einem Staate anerkannt sein, um für ihn zu gelten, auch seinerseits annimmt ... ,,698
Die ablehnende Haltung Kelsens gegenüber der dualistischen Konstruktion liegt in ihrem Schwerpunkt jedoch nicht nur in den einzelnen Betrachtungspunkten be695 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 134, S.136 und S.138. 696 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 336; vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 138. 697 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 124. 698 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.138 (Hervorhebung im Original); vgl. L. Meriggi, Das Wesen des internationalen Rechts und seine Beziehungen zum inneren Recht der Staaten, S.746; siehe auch 4. Teil, 3. Kap. II.3.e) und 4. Kap. I. und H. 1.
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gründet, sondern resultiert aus der grundlegenden Denkart der Reinen Rechtslehre. Ihre rein normative Sichtweise führt zu einer geschlossen einheitlichen Normenordnung, so daß die gleichzeitige Geltung zweier Rechtssysteme, die - vermeintlich - auf zwei unterschiedlichen Quellen beruhen, nicht möglich ist, sofern von einem gemeinsamen Standpunkt der Betrachtung ausgegangen wird. 699 Die dualistische Konstruktion verursacht demnach, ausgehend von der Perspektive des Staatsrechts, die Leugnung der Völkerrechtsordnung, und umgekehrt bedingt sie, unter dem Blickwinkel des Völkerrechts, die Verneinung des staatlichen Rechts: 700 ..Wenn man die Auffassung, nach der staatliches Recht und Völkerrecht zwei voneinander verschiedene, unabhängige Normensysteme sind, als eine ,dualistische' bezeichnet, so muß betont werden, daß ein Dualismus in dem Sinne nicht möglich ist: von ein und demselben Betrachtungsstandpunkt aus beide Ordnungen als gültig zu erkennen. Die Einheit des Erkenntnisstandpunktes fordert gebieterisch eine monistische Anschauung."701
Demnach bilden nach der Reinen Rechtslehre Kelsens nicht nur die staatlichen Rechtssätze eine einheitliche Ordnung. Aus dem Einbezug der völkerrechtlichen Regeln und ihrer Berücksichtigung im Sinne einer Rechtsordnung resultiert für Kelsen - basierend auf dem Postulat der Einheit - ein unverändert einheitliches Normensystem, das sowohl die Regeln der staatlichen Rechtsordnung als auch die des Völkerrechts umfaßt. 702 699 .. Eine ,dualistische' Konstruktion des Völkerrechts könnte daher nur in dem Sinne möglich sein, daß die Betrachtung entweder vom Standpunkt der staatlichen Rechtsordnung oder von demjenigen des Völkerrechts ausgeht, wobei für jeden der beiden Standpunkte die Ordnung des anderen nicht gegeben sein kann .... In diesem Sinne glaubt aUerdings Triepel ... Völkerrecht und Landesrecht als zwei unabhängige und verschiedene Rechtsordnungen, als ,zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden' charakterisieren zu können. AUein was soU das bedeuten, daß sich diese Kreise ,berühren'? Darin steckt ja im Grunde doch die - nicht ganz zum Bewußtsein gelangte - Erkenntnis von der irgendwie beschaffenen Einheit beider Ordnungen, die bei gleichzeitiger Geltung unvermeidlich ist." H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 123 und S.123, Fußnote 1. Anders als Hans Kelsen dagegen Alfred Verdross, der eine dualistische Konstruktion im Sinne einer ..doppelten SoUebene" für theoretisch möglich hält, siehe A. Verdross, Zur Konstruktion des Völkerrechts, S. 334-335. 700 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 330. 701 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.122-123 (Hervorhebung im Original); vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 329. Ein dualistisches Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht hätte im Sinne der Reinen Rechtslehre zur Folge, daß eine gleichzeitige Geltung beider - aufgrund der erkenntnismäßigen Einheit des Rechts - unmöglich wäre. Hans Kelsen verdeutlicht dies anhand eines Beispiels: ..Das zeigt das Verhältnis zwischen Recht und Moral. Hier sind in der Tat solche Konflikte möglich, so wenn z. B. eine bestimmte Moralordnung das Töten eines Menschen unter aUen Umständen verbietet, eine positive Rechtsordnung aber Todesstrafe statuiert und die Regierung ermächtigt, unter den vom Völkerrecht bestimmten Bedingungen zum Krieg zu schreiten. Dann muß, wer das Recht als System gültiger Normen betrachtet, von der Moral, und wer die Moral als System gültiger Normen betrachtet, vom Recht absehen." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 329. 702 ..Man kann das Völkerrecht zusammen mit den einzelstaatlichen Rechtsordnungen ganz ebenso als ein einheitliches System von Normen begreifen, wie man die einzelstaatliche Rechtsordnung als Einheit anzusehen gewohnt ist." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 328-329.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
d) Der rechtslogische Monismus Kelsens Unter Berücksichtigung des Grundprinzips "Die Einheit der Ordnung ist das Grundaxiom aller normativen Erkenntnis"703 sowie der Beurteilung, daß das Völkerrecht und die nationalen Rechtsordnungen gültige und somit bindende Rechtssysteme sind, verbleibt für Kelsen nur die monistische Rechtsordnungsgliederung; denn nur sie ermöglicht die Aufnahme des gesamten Rechtsstoffs in einem geschlossenen System. 704 Mit der Einheit der Normen ist für Kelsen zugleich der Anspruch nach Konfliktfreiheit zwischen den Normen des Völkerrechts und des staatlichen Rechts verknüpft; ansonsten wäre eine dualistische Rechtsordnungskonstruktion unumgänglich: "Das negative Kriterium dieser Einheit ist die Widerspruchslosigkeit."705 Könnten Konflikte nicht aufgelöst werden, so käme dies - sofern das staatliche Recht als verbindliche Rechtsordnung betrachtet wird - obendrein einer Leugnung des Völkerrechts gleich. 706 Unlösbare Konflikte zwischen den bei den Rechtsteilen existieren nach Ansicht Kelsens jedoch nicht. Ein vermeintlicher Konflikt kann auftreten, wenn eine staatliche Regelung ihrem Inhalt nach einem völkerrechtlichen Vertrag widerspricht. 707 Er erkennt eine vergleichbare Konstellation im Einzelstaat. Dort bleibt die Einheit der Rechtsordnung erhalten, selbst wenn ein verfassungswidriges Gesetz oder Urteil Geltung erlangt. Der Widerspruch wird aufgelöst, indem die jeweils niederrangige Norm durch ein Gesetz oder Urteil vernichtet wird. Auch unter Einbezug des Völkerrechts bewirkt eine normwidrige Regel keinen Konflikt zwischen höherer und niederer Norm, sondern löst die Vernichtbarkeit der niederen Rechtsnorm aus. 708 703
H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 111.
704 Dieses universelle EinheitspostulatHans Kelsens wird von Gustav Walz unmißverständlich abgelehnt: "Eine Begründung dieses Postulats - darum erscheint es ja eben als Postulat - sucht man vergebens. Statt dessen versichert Kelsen unermüdlich, daß der wissenschaftliche Charakter der Jurisprudenz schlechthin von der Einheit des Erkannten, d. h. der Rechtsordnung, abhängig sei. Da nun Kelsens Blick keineswegs auf eine staatliche Rechtsordnung beschränkt, sondern auf das Recht schlechthin gerichtet ist, so bedeutet dieses Postulat objektive Einheit der Universalordnung. Es handelt sich um eine rein transzendentallogisch-theoretisch-apriorische Forderung." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 83. Insbesondere der in diesem Zusammenhang von Kelsen gezogene Vergleich zwischen dem System des Rechts und der Geometrie - der "Mathematisierung der Jurisprudenz" - ist seiner Meinung nach fehlerhaft; denn dieser Bereich der Mathematik beinhaltet zwar auch oberste Lehrsätze, aber daraus können nach Ansicht von Walz inhaltlich bestimmte Regeln abgeleitet werden, was bei der Ursprungsnorm nicht möglich ist; siehe G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.83-84; vgl. auch H. Kelsen, Der Soziologische und der Juristische Staatsbegriff, S.93-96. 705 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 329. 706 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 329; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.133. 707 Zum Problem der Konfliktmöglichkeit zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht siehe H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 328-332. 708 Dabei ist es möglich, daß sich aus dieser Regel, die bis zum Zeitpunkt ihrer Aufhebung oder Abänderung gültig ist, Sanktionen ergeben können, sofern sie den Tatbestand eines Delikts erfüllt; vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 331.
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Kommt es ohne die Existenz eines solchen Verfahrens zur Setzung einer völkerrechtswidrigen Norm - wie es für den Bereich des allgemeinen Völkerrechts möglich ist - und wird diese jedoch als völkerrechtliches Delikt beurteilt, so bleibt nach Ansicht Kelsens die Einheit des Rechtssystems gewahrt. 709 Diese Argumentationsweise zeigt eine Haltung Kelsens, die gemäßigter als jene erscheint, welche er in den Anfängen seiner Lehre vertreten hat. 710 Die Herstellung dieser logisch zusammenhängenden Einheit kann durch Überund Unterordnung der Rechtsordnungen erfolgen, so daß das monistische Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht sich in Form eines Rangordnungssystems darstellt. 711 In diesem Sinne ist eine Ordnung einer zweiten Ordnung untergeordnet, wenn letztere eine Norm beinhaltet, die auch die Geltung der ersten Ordnung begründet und somit Ausgangspunkt der Erzeugung ihrer Rechtssätze ist. 712 Der Geltungsgrund der höheren "Totalordnung"713 ist demnach die Grundnorm; sie stellt für die Normen beider Ordnungen innerhalb des Gesamtsystems den Geltungsgrund dar. Die Grundnorm erzeugt deshalb die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht und löst in der Lehre Kelsens das Problem über das grundsätzliche Verhältnis der Rechtsordnungen. Darüber hinaus ist sie für die Interpretation der monistischen Konstruktion von wesentlicher Bedeutung: Die Wahl der Grundnorm entscheidet über den Primat der staatlichen Rechtsordnung oder den Primat der Völkerrechtsordnung; denn die mit ihr inhärent verbundene Rechtsordnung ist zugleich die höchste Rechtserzeugnisquelle und damit Ausgangspunkt der Rechtserkenntnis. 709 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 331-332. Eine gänzlich andere Argumentationsweise - insbesondere in bezug auf die Ablehnung des Dualismus - stellt Hans Kelsen für die Scellesche Rechtslehre fest; denn Georges Scelle ist seiner Meinung nach bestrebt, "dem Dualismus dadurch den Boden zu entziehen, daß er die Unaufhebbarkeit des Widerspruchs leugnet". Anders dagegen die Reine Rechtslehre, die "den Dualismus nicht damit bekämpft, daß sie ein mit dem positiven Recht unvereinbares Derogationsverhältnis zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht behauptete, sondern damit, daß sie den Nachweis erbrachte, daß die sogenannten Widersprüche ... keine logischen Widersprüche seien, denn logische Widersprüche müßten zweifellos die Einheit des Systems aufheben; ... " H. Kelsen, Auseinandersetzungen zur Reinen Rechtslehre, S. 58-59. 710 Gustav Walz äußert sich trotz dieser gemäßigteren Auffassung Hans Kelsens weiterhin kritisch: "Obwohl Kelsen in anerkennenswerter Weise seine frühere unhaltbare apodiktorische Nichtigkeitsthese im vorgetragenen Sinn korrigiert, verstößt auch diese Konklusion immer noch genau so gegen die Rechtserfahrung." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 82; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 172; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. 11. 2. 711 Vgl. H. Kelsen, Theorie du droit international public, S. 186; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 332; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.234. 712 Das Verfahren zur Erzeugung der Normen der niederrangigen Ordnung kann direkt durch diese Norm angeordnet oder indirekt über eine Instanz veranlaßt werden. Dieses Organ ist dann beauftragt, die Normen des unteren Systems zu setzen. Für Hans Kelsen schafft ein solches indirektes Verfahren eine Einheit mit "Delegationszusammenhang"; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 332; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 235. 713 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 333; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.235.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Die notwendige Folge dieses monistischen Verhältnisses der Normenkomplexe ist für Kelsen, daß jene Ordnung, die sich aus einer höheren Ordnung ableitet und ihren letztendlichen Geltungsgrund in der Grundnorm dieser höheren Ordnung findet, als ein Bestandteil der höheren Rechtsordnung aufzufassen ist. Sie gilt als eine "Teilordnung"714 der höherrangigen Totalordnung. Eine gleichzeitige Geltung der staatlichen und der völkerrechtlichen Grundnorm ist für Kelsen demzufolge auszuschließen; die generelle Einmaligkeit der staatlichen Grundnorm ist nur solange gegeben, wie sich Kelsen auf die Reinheit der staatlichen Rechtsordnung konzentriert. 715 Das monistische Verhältnis der Rechtsordnungen ist demnach in zwei grundlegend verschiedenden Formen möglich, je nachdem ob das Völkerrecht oder das staatliche Recht den Ausgangspunkt bildet und die andere Ordnung als abgeleitetes und niederrangiges Normensystem zu begreifen ist: Ist das Völkerrecht als hochrangige Totalordnung zu verstehen, aus der sich die staatlichen Normen ableiten, oder ist es ein in die staatliche Rechtsordnung eingegliederter und deshalb ihr untergeordneter Rechtskomplex? Die Beantwortung der Frage, welcher Rechtsordnung im Monismus der Primat zukomme l6 , ist in der Lehre Kelsens demzufolge mit der Wahl der Grundnorm des Gesamtsystems verknüpft. e) Der Primat der staatlichen Rechtsordnung Für Kelsen ist es eine Frage der Weltanschauung, auf welchem Weg die Erkenntnis der Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht erreicht werden kann. Betrachtet man die staatliche Rechtsordnung als Ausgangspunkt, so ist der Geltungsgrund des Völkerrechts ausgehend von dieser Ordnung zu begründen. Er findet sich in der Anerkennung der allgemeinen Völkerrechtsnormen durch die Staaten: Nur wenn das Völkerrecht von einem Staat anerkannt wurde, kann es für diesen Staat gelten. 717 Mit diesem Gedankengang ist auch zugleich die These verbunden, daß ein 714 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 333; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 235. 715 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 202; siehe dazu auchA. Bleckmann, Monismus mit Primat des Völkerrechts - Zur Kelsenschen Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht, in: Rechtstheorie - Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts: Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, hrsg. von Werner Krawietz/Helmut Schlesky, Beiheft 5, 1984, S. 337-347. 716 Hans Kelsen prägte als erster Rechtswissenschaftler den Begriff "Primat des Völkerrechts"; er findet sich in dieser ausdrücklichen Fomulierung weder bei Hugo Krabbe noch bei Leon Duguit oder Georges Scelle. 717 Eine Anerkennung des allgemeinen Völkerrechts durch die Staaten kann in der Form eines Gesetzes oder auch durch das Anwenden der Völkerrechtsnormen, durch Schließung von Völkerrechtsverträgen usw. ausgedrückt werden, so daß das Völkerrecht Verbindlichkeit entfaltet. Unterbleibt eine solche ausdrückliche oder konkludente rechtliche Akzeptanz durch den Staat, ist das Völkerrecht für diesen nicht gültig, so daß seine Beziehungen zu anderen Staaten nicht nach völkerrechtlichen Normen zu beurteilen sind; vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 333-334; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 235-236.
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Primat der staatlichen Rechtsordnung besteht. Sie wird als höchstes Rechtssystem vorausgesetzt und in ihrer Geltung liegt somit auch der Geltungsgrund des Völkerrechts. Für Kelsen ist dieser Vorrang mit der Souveränität des Staates zu begründen: "Diese Souveränität des Staates ist der für die Annahme des Primats der staatlichen Rechtsordnung entscheidende Faktor. Diese Souveränität ist keine wahrnehmbare oder sonst objektiv erkennbare Qualität eines realen Gegenstandes, sondern eine Voraussetzung; die Voraussetzung einer normativen Ordnung als einer höchsten, in ihrer Geltung von keiner höheren Ordnung ableitbaren Ordnung. Die Frage, ob der Staat souverän ist, kann nicht durch eine Untersuchung der natürlichen Wirklichkeit beantwortet werden. Souveränität ist nicht Maximum an realer Macht .... Die Frage, ob ein Staat souverän ist, ist die Frage, ob man die staatliche Rechtsordnung als höchste voraussetzt."718
Die Annahme der Souveränität eines Staates bedeutet, daß "die Setzung der historisch ersten Verfassung als rechtserzeugender Tatbestand vorausgesetzt wird"719 und somit die Grundnorm dieser nationalen Verfassung als ursprünglicher Geltungsgrund aller Rechtsnormen zu deuten ist. In diesem Falle ist das Völkerrecht für Kelsen kein über den Staaten stehendes Normensystem, sondern eine Teilordnung innerhalb der höchsten nationalen Rechtsordnung, was nur auf dem Weg der Anerkennung erfolgen kann. Seine Rechtsverbindlichkeit erhält es von Seiten dieser souveränen Rechtsordnung und sein letzter Geltungsgrund ist deren Grundnorm - nämlich die historisch vorausgesetzte Verfassung. Eine Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht wird demnach auf der Grundlage des Primats der nationalen Rechtsordnung geschaffen. 720 Für Kelsen ist diese Rechtsauffassung nicht mit einer anderen monistischen Lehre über die Beziehungen von Völkerrecht und staatlichem Recht zu vergleichen, die das Völkerrecht als ein "äußeres Staatsrecht"721 versteht, und zwar insoweit, als daß es als ein Bestandteil innerhalb der staatlichen Rechtsordnung nur die äußeren Beziehungen des Staates zu anderen Staaten regelt. 722 Georg W F. H egel konzipierte diese Rechtsauffassung in ihrer ursprünglichen Form. Aufbauend darauf entwickelte sich die Lehre von der Selbstverpflichtung des Staates, die auch von den nachfolgenden Hegelianern vertreten wurde. Der staatliche Verpflichtungswille wird hier718 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.334-335, ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.237. 719 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 335; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 237. 720 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 335; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.237; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.100-102. 721 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 335; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.237. 722 Nach Meinung Hans Kelsens kann der Inhalt der Völkerrechtsregeln nur menschliches Verhalten sein, womit auch die Einzelmenschen durch die Völkerrechtsnormen mittelbar, vermittels der staatlichen Rechtsordnungen, berechtigt und verpflichtet werden. Aufgrund der U nvollkommenheit des Völkerrechts bleibt eine nähere Bestimmung der berechtigten oder verpflichteten Individuen dem einzelstaatlichen Rechtssystem überlassen; dazu 4. Teil, 3. Kap. 11.1. b) und 3. b).
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
bei als Geltungsgrundlage des Völkerrechts gedeutet, wodurch das Völkerrecht als unselbständiger Teilbereich jeder staatlichen Rechtsordnungen aufgefaßt und der Vorrang der Staatsrechtsordnungen zur notwendigen Folge wird. 723 Eine solche inhaltliche Erfassung des Völkerrechts ist aus der Sichtweise der Reinen Rechtslehre abzulehnen; statt dessen ist die Form der Erzeugung der Völkerrechtsnormen für die Bestimmung des Völkerrechts ausschlaggebend: Als Normensystem, das mittels Gewohnheit, Vertrag, oder internationalem Organ geschaffen wird, erlangt es durch die staatliche Rechtsordnung rechtliche Verbindlichkeit. 724 In ihrem grundsätzlichen Ergebnis - das heißt insbesondere hinsichtlich des Primats des staatlichen Rechts - ist die Lehre Kelsens mit der Lehre vom Außenstaatsrecht vergleichbar. Zwar kann Kelsen in diesem Sinne als ihr Fortsetzer angesehen werden, jedoch überwiegt die Verschiedenheit in den grundlegenden Thesen, auf die im weitem Verlauf der Arbeit einzugehen ist. 725 Wichtig ist die Tatsache, daß diese staatsrechtsprimäre Konstruktion Kelsens nicht in einem pluralistischen Verhältnis zwischen Völkerrechtsordnung und den staatlichen Rechtsordnungen mündet. Denn es ist nur eine der staatlichen Ordnungen, die den Ausgangspunkt des Monismus darstellt und deren Primat vorausgesetzt wird. Nur diese enthält das Völkerrecht als einen Bestandteil. 726 Infolgedessen sind sowohl das Völkerrecht als auch die anderen Staatsrechtsordnungen delegierte Teilordnung dieser übergeordneten staatlichen Universalordnung. In der Tat gibt es dann nur eine einzige souveräne Rechtsordnung. 727 Insbesondere aufgrund dieses Aspekts wertet Kelsen die Rechtsordnungskonstruktion mit dem Primat des Staates als "juristische Hypothese"728. Gänzlich unbeachtet von ihm bleibt die Frage, nach welchen Kriterien diese besondere Staatsrechtsordnung unter der Vielzahl an existierenden Staaten ausgewählt werden soll.729 Darüber hinaus resultiert eine weitere Schwierigkeit aus diesem universalmonistischen System: Wie kann das Völkerrecht rechtliche Verbindlichkeit sowohl für Dazu 4. Teil, 4. Kap. I. sowie 11. 1. und 2. Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 335; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 237-238. 725 Vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 174; dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 726 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 339; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 242; siehe dazu auch W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 76. 727 "Das bedeutet aber, daß als souverän nur die eigene, also einzige Rechtsordnung erkannt werden kann. Und da als das Wesen der Staatsordnung gerade vom Standpunkt dieser Anschauungsweise des Primats der einzeIstaatlichen, richtiger: eigenstaatlichen Rechtsordnung die Souveränität gelten muß, kann eine andere Rechtsordnung ... nicht eigentlich als ,Staat' angesprochen werden." H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 188, vgl. S. 187-190 und auch H. Kelsen, Les rapports de systeme entre le droit interne et le droit international public, S. 294-296. 728 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 188. 729 Siehe dazu 4. Teil, I. Kap. 11.2. a). 723
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3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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die eigenstaatliche als auch für alle anderen - fremden - Staatsrechtsordnungen entfalten? Zur Beantwortung dieser Frage betrachtet er diejenige staatliche Rechtsordnung genauer, welche den primären Status einnimmt. 730 Sie ist nach Meinung Kelsens einzuteilen in eine "staatliche Rechtsordnung in einem engeren Sinne" und eine "staatliche Rechtsordnung in einem weiteren Sinne".73! Erstere sind die Verfassungsnormen sowie die auf der Verfassung beruhenden Gesetze, Urteile und Verwaltungsentscheidungen. Der andere Teil umfaßt zudem das durch Staatengewohnheit und völkerrechtlichen Vertrag erzeugte und anerkannte Völkerrecht. Kelsen deutet diese umfassendere Rechtsordnung als den Ansatzpunkt zur Konstruktion des Staatsrechtsprimats. 732 Aufgrund seines Effektivitätsprinzips bestimmt das Völkerrecht nicht nur den Geltungsgrund und Geltungsbereich für jede staatlichen Rechtsordnung, sondern auch für die staatliche Rechtsordnung im engen Sinne. Damit ist ein hierarchisches Verhältnis erkennbar, in dem Sinne, daß der völkerrechtliche Teil der staatlichen Rechtsordnung dem staatlichen Recht im engeren Sinne übergeordnet ist. Hinter dieser Erkenntnis Kelsens steckt seine These: "Der Staat, der das Völkerrecht anerkennt, unterwirft sich damit dem Völkerrecht."733 Trotz alldem bleibt die Grundnorm - nicht. das Effektivitätsprinzip - für diese staatliche Rechtsordnung der letzte Geltungsursprung; sowohl für die staatliche Rechtsordnung im engeren Sinne als auch für die völkerrechtliche Teilordnung. In logischer Konsequenz betrifft der Vorrang der staatlichen Rechtsordnung lediglich das Verhältnis zwischen der Rechtsordnung im weiteren Sinne und der in ihr eingeschlossenen Völkerrechtsordnung. Ungeachtet der Vorbehalte, die bezüglich der Leistungsfähigkeit dieser monistischen Konstruktion angebracht werden können und die sich insbesondere aufgrund der umständlichen Begründung eines allgemein verbindlichen Völkerrechts stellen, muß anerkannt werden, daß mit ihr die Einheit der Rechtsordnung bewirkt werden kann. f) Der völkerrechtsprimäre Monismus
Doch auch eine weitere Rechtsordnungskonstruktion entwirft Kelsen, welche die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht erzielt. Bei dieser Möglichkeit ist die Völkerrechtsordnung der Ausgangspunkt; aus ihr ist die Geltung der staatlichen Rechtsordnung abzuleiten. Folglich liegt eine vollkommen andere Situation vor: Das Völkerrecht ist nunmehr kein Bestandteil der staatlichen Rechtsordnung, sondern eine übergeordnete und allein souveräne Rechtsordnung, welche nach dem GrundVgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 174. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 340; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 242. 732 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 340; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 242. m H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 340; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 243. 730 731
!4 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
satz des Effektivitätsprinzips den territorialen, temporalen und materialen Geltungsbereich der staatlichen Rechtsordnungen bestimmt und diese gegenseitig voneinander abgrenzt. 734 Insbesondere hinsichtlich der Bestimmung des materialen Geltungsbereichs ist das Völkerrecht von Bedeutung. Obwohl die Staaten grundsätzlich alle Sachverhalte innerhalb der staatlichen Rechtsordnung regeln können, kann das Völkerrecht die Normierung von Sachgebieten an sich ziehen und folglich die Rechtsetzungsbefugnis der Einzelstaaten einengen. 735 Als eine positive Norm des allgemeinen Völkerrechts ist das Prinzip der Effektivität demnach die Grundlage zur Errichtung der einzelstaatlichen Rechtsordnung. 736 Das partikuläre Völkerrecht findet durch eine weitere Norm des allgemeinen Völkerrechts, nämlich durch den gewohnheitsrechtlich erzeugten Grundsatz "pacta sunt servanda", seinen Geltungsgrund. Er begründet die rechtserzeugende Wirkung der abgeschlossenen Staatsverträge. 737 Mit dem Primat des Völkerrechts verlagert sich allerdings auch das Problem der Grundnorm; denn nun stellt sich die Frage nach dem ursprünglichen Geltungsgrund des Völkerrechts, auf den zugleich die Normen der einzelstaatlichen Rechtsordnungen zurückzuführen sind: "Dieser Geltungsgrund kann dann nur die Grundnorm des Völkerrechts sein, die sohin der mittelbare Geltungsgrund der staatlichen Rechtsordnung ist. Sie ist als echte Grundnorm keine gesetzte, sondern eine vorausgesetzte Norm."738
Denn nur aufgrund der Basis einer völkerrechtlichen Grundnorm können die auf dem Weg der Gewohnheit erzeugten, allgemeinen Regeln des Völkerrechts rechtsverbindliche Normen sein und die Rechtsgrundlage für alle anderen positiven Rechtsregeln des Völkerrechts und der nationalen Ordnungen bilden. 739 Nach dem 734 "Die diesen Geltungsgrund darstellende Norm des Völkerrechts wird üblicherweise in der Aussage beschrieben, daß nach allgemeinem Völkerrecht eine Regierung, die, von anderen Regierungen unabhängig, effektive Kontrolle über die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes ausübt, die legitime Regierung und daß das unter einer solchen Regierung auf diesem Gebiet lebende Volk einen Staat im Sinne des Völkerrechts bilden .... In die Sprache des Rechts übertragen: Eine Norm des allgemeinen Völkerrechts ermächtigt ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen auf Grund einer wirksamen Verfassung eine normative Zwangsordnung als legitime Regierung zu erzeugen und anzuwenden; sie legitimiert so diese Zwangsordnung für den territorialen Bereich ihrer tatsächlichen Wirksamkeit als gültige Rechtsordnung und die durch diese Zwangsordnung konstituierte Gemeinschaft als Staat im Sinne des Völkerrechts; ... " H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 221-222; vgl. S. 336-338; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.238-240. 735 Mit der Bestimmung des räumlichen und zeitlichen GeItungsbereichs wird die gleichwertige Existenz einer Vielzahl von Staaten ermöglicht und die Geltungsdauer der Staaten festgelegt; vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 337-338; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 239-240. 736 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 221-222. 737 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 223; vgl. H. Kelsen, General Theory of Law and State, S. 369. 738 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.222. 739 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 336; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.238.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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Verständnis Kelsens lautet die so festzustellende völkerrechtliche Grundnorm und damit die "rechtslogische Verfassung des Völkerrechts"740: "Die Staaten, das heißt die Regierungen der Staaten, sollen sich in ihren gegenseitigen Beziehungen so verhalten, oder, Zwang von Staat gegen Staat soll unter den Bedingungen und in der Weise geübt werden, wie es einer gegebenen Staatengewohnheit entspricht."741
Anders dagegen Dionisio Anzilotti, der zwar der Grundnormthese Kelsens grundsätzlich zustimmte, jedoch im Satz "pacta sunt servanda" den rechtserzeugenden Tatbestand der Völkerrechtsordnung begreift. 742 Der Staat erscheint in dieser Rechtskonstruktion als "nach jeder Richtung hin durch das Völkerrecht bestimmt"743; denn sowohl bezüglich ihrer Geltung als auch hinsichtlich ihres Geltungsbereichs besteht zwischen der staatlichen Rechtsordnung und der Völkerrechtsordnung ein Delegationsverhältnis. Allein die Völkerrechtsordnung ist im Besitz von Souveränität. 744 Die staatlichen Rechtsordnungen sind begrenzte Teilrechtsordnungen, die zusammen mit der Völkerrechtsordnung ein einheitliches Rechtssystem bilden, das von dem Primat des Völkerrechts gekennzeichnet ist: 745 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 222. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 222. Anschaulicher umschreibt er diese Definition: "In der vorausgesetzten Grundnorm des Völkerrechts, die die Staatengewohnheit als rechtserzeugenden Tatbestand einsetzt, kommt ein Prinzip zum Ausdruck, das die Grundvoraussetzung alles Gewohnheitsrechtes ist: der Einzelne soll sich so verhalten, wie sich die anderen, in der Meinung, sich so verhalten zu sollen, zu verhalten pflegen, angewendet auf das gegenseitige Verhalten der Staaten, das ist das Verhalten der Menschen, die nach der staatlichen Rechtsordnung in bestimmter Weise als Organe, und zwar als Regierungsorgane qualifiziert sind." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 223. Eine verkürztere, jedoch treffende Formulierung der Grundnorm des Völkerrechts ist: "The States ought to behave as they have customarily behaved." H. Kelsen, General Theory of Law and State, S. 369. 742 Vgl. D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 38; siehe 4. Teil, 1. Kap. 11.1. b). Auch Alfred Verdross trifft im Rahmen seiner Rechtsauffassung eine andere Grundnormwahl, nämlich die allgemeinen Rechtsgrundsätze; dazu 4. Teil, 3. Kap. 111. 2. c). Paul Guggenheim lehnt den Grundsatz "pacta sunt servanda" als Grundnorm ab, weil sie keine Erzeugungsgrundlage für das Völkergewohnheitsrecht sein kann. Deshalb folgt er der Auffassung Hans Kelsens, daß jene Norm, welche die Gewohnheit als Geltungsgrundlage bestimmt, die völkerrechtliche Grundnorm sein muß; vgl. P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 8-10. 743 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.338; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 240. 744 V gl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 338; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 240. 745 Eine wesentliche Konsequenz dieser Rechtsordnungskonstruktion ist für Hans Kelsen die Feststellung, daß der Staat nur noch unter Bezugnahme auf das Völkerrecht definiert werden kann, denn unter diesem Blickwinkel "ist er eine völkerrechtsunmittelbare, relativ zentralisierte Teilrechtsordnung mit völkerrechtlich begrenztem territorialen und temporalen Geltungsbereich und einem hinsichtlich des materialen Geltungsbereichs nur durch den Vorbehalt des Völkerrechts eingeschränkten Totalitätsanspruch". H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 339; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.241. 740 741
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
"Nur die Völkerrechtsordnung, keine staatliche Rechtsordnung ist souverän. Werden die staatlichen Rechtsordnungen oder die durch sie konstituierten Rechtsgemeinschaften, die Staaten, als ,souverän' bezeichnet, bedeutet dies lediglich, daß sie nur der Völkerrechtsordnung untergeordnet, völkerrechtsunmittelbar sind.,,746
Keinen Widerspruch zur Einheit der Rechtsordnungen und zum Völkerrechtsprimat sieht Kelsen in der Forderung nach einer Transformation des allgemeinen Völkerrechts. Eine solche generelle Transformationsvorschrift innerhalb einer staatlichen Rechtsordnung begründet im System des völkerrechtsprimären Monismus nicht die Geltung des Völkerrechts, sondern erkennt es als Bestandteil der staatlichen Rechtsordnung an und setzt seine Normen in staatliches Recht um. Für Kelsen ist eine solche Generalklausel dann obligatorisch, wenn die Organe eines Staates, speziell die staatlichen Gerichte, nur innerstaatliches Recht anwenden dürfen. In diesem Fall ist eine Anwendung der Völkerrechtsnormen ohne Transformation nicht ausführbar; die Geltung des Völkerrechts bleibt jedoch davon unberührt. Sollte ein Staat die verbindlichen Völkerrechtsregeln aufgrund einer fehlenden verfassungsmäßigen Transformation nicht anwenden und verletzt er infolgedessen seine völkerrechtlichen Pflichten, kann dies Sanktionen nach sich ziehen. 747 g) Die Wahlmöglichkeit innerhalb der monistischen Konzeption
In der Tat gleichen sich die beiden Möglichkeiten der monistischen Konstruktionen des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht in einem wesentlichen Ergebnis: Die Begründung der Einheit des Rechts. Auch die Inhalte des staatlichen Rechts sowie des Völkerrechts bleiben von der Wahl des einen oder des anderen Rechtsordnungsverhältnisses unberührt. Egal ob das Völkerrecht integrierter Bestandteil einer staatlichen Rechtsordnung oder vorrangiges Rechtssystem ist, in beiden Fällen hat es die Funktion, kraft seines Effektivitätsprinzips den Geltungsgrund und Geltungsbereich der staatlichen Rechtsordnungen zu bestimmen. 748 Diese Feststellungen dürfen jedoch nicht die Verschiedenheit der Ausgangspositionen vernachlässigen, die aufgrund der Unterschiedlichkeit des Geltungsursprungs gegeben ist. 749 So wird die Einheit des Rechts auf zwei Wegen erreicht, so daß die Lehre Kel746 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 338; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 240. 747 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 336-337; H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 239; dazu auch H. Kelsen, Principles ofIntemational Law, S. 194-196. Für Albert Bleckmann ist die Notwendigkeit einer Transformation eindeutiges Merkmal dafür, daß die Lehre Hans Kelsens als dualistische Rechtsordnungskonstruktion gewertet werden muß; vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S.11l. 748 "Da das Völkerrecht in beiden Fällen denselben Inhalt hat, hat es in beiden Fällen die gleichen Funktionen: es bestimmt durch sein Effektivitätsprinzip den Geltungsgrund und den Geltungsbereich der staatlichen Rechtsordnungen." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 339; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 242. 749 So ist ein grundlegender Unterschied für die staatlichen Rechtsordnungen erkennbar: Während im völkerrechtsprimären Monismus das Effektivitätsprinzip und letztlich die Grund-
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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sens als die Lehre vom Monismus mit Wahlmöglichkeit zwischen dem Primat der staatlichen Rechtsordnung und dem Vorrang der Völkerrechtsordnung zu verstehen ist: 750 "Kraft des Völkerrechts, das ihr Bestandteil ist, wird die staatliche Rechtsordnung, die den Ausgangspunkt der Konstruktion bildet, zu einer alle anderen staatlichen Rechtsordnungen delegierenden, sie umfassenden Universalrechtsordnung. Das Endergebnis ist das gleiche wie das, zu dem der Primat der Völkerrechtsordnung führt: die erkenntnismäßige Einheit alles geltenden Rechts. Aber während der Ausgangspunkt der Konstruktion im Falle des Primates des Völkerrechts nur dieses sein kann, kann der Ausgangspunkt der Konstruktion im Falle des Primates der staatlichen Rechtsordnung - wie schon bemerkt - jede beliebige, jedoch jeweils immer nur eine staatliche Rechtsordnung sein. Und nur wenn die Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht von einer staatlichen Rechtsordnung ihren Ausgang nimmt, muß es zur Annahme des Primates dieser staatlichen Rechtsordnung kommen, ja, ist dieser Primat schon vorausgesetzt."751
Das Resultat der Wahlmöglichkeiten Kelsens im Hinblick auf die Stellung von Völkerrecht und staatlichem Recht zueinander ist demnach deutlich zu unterscheinorm des Völkerrechts den Grund der staatlichen Rechtsordnungen darstellt, liegt im monistischen System mit Staatsrechtsprimat der Geltungsursprung aller fremden staatlichen Rechtsordnungen in der Grundnorm der vorrangigen Staatsrechtsordnung; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 341; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.243. 750 Anders dagegen Gustav Walz, der nicht nur von zwei, sondern von unbegrenzt vielen Wahlmöglichkeiten ausgeht; da die Wahl der Grundnorm von einer subjektiven Entscheidung abhängig ist. So kann seiner Meinung nach ein logisches Normensystem auch auf der Grundlage jeder Gemeinde-, Vereins-, oder Gesellschaftsverfassung aufgebaut werden; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.89-90. Für Walter Schiffer ist die Wahl der Grundnorm durch das Vorhandensein einer wirksamen Zwangsordnung bedingt, was der These von Walz nicht entgegenstehen würde; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 177-178. Für Albert Bleckmann ist das Kelsensche Rechtsordnungssystem nur dann vollkommen, wenn das Völkerrecht als den staatlichen Rechtsordnungen übergeordnet erscheint und sowohl eine völkerrechtliche Grundnorm als auch eine andere staatliche Grundnorm für jede Staatsrechtsordnung besteht. Andernfalls stimmen Staat und Rechtsordnung nicht miteinander überein. Bleckmann ist sich bewußt, daß dieses System eher einem dualistischen Ansatz entspricht; vgl. A. Bleckmann, Monismus mit Primat des Völkerrechts - Zur Kelsenschen Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht, S. 339 und S. 342. Zur Rechtsauffassung Bleckmanns siehe 4. Teil, 4. Kap. 11.4. 751 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 341 (Hervorhebung im Original); ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 244. Dagegen fallt für Gustav Walz "selbstverständlich das ganze Kelsensche System zusammen, soweit es auf dem apriorischen Einheitspostulat fundiert ist". G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.88. Anders Walter Schiffer; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 192. Boris Mirkine-Guetzevitch dagegen greift insbesondere das abstrakte Konzept Hans Kelsens und seine Ignoranz gegenüber der Tatsache, daß das Recht sich ständig weiterentwickelt und von der Geschichte beeinflußt wird, an. Sein Hauptgegenargument ist jedoch die These, daß das Recht auf das Rechtsbewußtsein zurückzuführen ist und nicht auf einer abstrakten Logik basiert: "Le droit n'est jamais un produit de la logique abstraite; le droit etant l'expression de la conscience juridique des peuples, se cree au milieu des luttes et des conflits; il est plus souvent le resultat d'un compromis entre differentes tendances et interets que la raison ecrite .... " B. MirkineGuetzevitch, Droit international et droit constitutionnel, S. 315; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. I. 3.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
den. 752 Die Differenz zwischen den beiden Rechtsordnungskonstruktionen vergleicht Kelsen mit dem Gegensatz von "subjektivistischer und objektivistischer Weltanschauung"753. Genauso, wie der Subjektivismus im souveränen "Ich" seinen Ansatzpunkt erkennt, geht die monistische Konstruktion mit Staatsrechtsprimat vom souveränen Staat aus. In beiden Fällen wird versucht, die jeweilige Außenwelt einzugliedern, das heißt, die Umwelt als Willen des eigenen "Ich" zu begreifen, nämlich das Völkerrecht und alle anderen staatlichen Rechtsordnungen als Bestandteil der eigenen Rechtsordnung aufzufassen. Die objektivistische Weltanschauung geht dagegen von der Außenwelt aus, um das jeweilige "Ich" zu erlernen. Dabei sind weder diese Wesen noch die Einzelstaaten souverän. Letztere gelten als in die Völkerrechtsordnung zu integrierende Teilordnungen. Kelsen erkennt demnach eine direkte Analogie zwischen "Rechtsanschauung" und "Weltanschauung". 754 Eine weitere Parallele zum Gegensatz der Rechtsordnungskonstruktionen erkennt Kelsen in den beiden Gegenpolen "geozentrisches Ptolemäisches" und "heliozentrisches Kopernikanisches" Weltbild, denen auch zwei verschiedene Bezugssysteme zugrunde liegen. Kelsen bezieht sich hierbei auf die Interpretation der physikalischen Relativitätstheorie von Max Planck und überträgt diese Denkweise auf seine juristische Rechtsanschauung. 755 Nach Meinung Kelsens kann keine der beiden monistischen Konstruktionen unter rechtswissenschaftlichen Gesichtspunkten bevorzugt werden; denn beide Sichtweisen sind "gleich korrekt und gleich berechtigt"756. Ausschließlich politische Denkweisen beeinflussen die Entscheidung für die eine und gegen die andere KonstrukVgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.79. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 343; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.246. 754 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.343-344; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.246-247. 755 "So wie nach der einen Konstruktion der eigene Staat im Mittelpunkt der Rechtswelt steht, steht im Ptolemäischen Weltbild unsere Erde in einem Mittelpunkt, um den sich die Sonne dreht. So wie nach der anderen Konstruktion das Völkerrecht im Mittelpunkt der Rechtswelt steht, steht im Kopernikanischen Weltbild die Sonne in dem Mittelpunkt, um den sich unsere Erde dreht. Aber dieser Gegensatz zweier astronomischer Weltbilder ist nur ein Gegensatz zweier verschiedener Bezugssysteme." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 344; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 247. Die beiden Rechtskonstruktionen zum Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht sind dementsprechend als zwei verschiedene Bezugssysteme zu begreifen; entweder ist das Bezugssystem in der staatlichen Rechtsordnung verankert oder es findet seinen Ansatzpunkt in der Völkerrechtsordnung; vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 344; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 247. Eine ablehnende Wertung dieser "juristischen Relativitätslehre" ist zu finden bei W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 135. 756 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 345; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 248. "Die Rechtswissenschaft kann nur beide darstellen und feststellen, daß das eine oder andere Bezugsystem akzeptiert werden muß, wenn das Verhältnis zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht zu bestimmen ist. Die Entscheidung selbst liegt außerhalb der Rechtswissenschaft." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 345; ebenso H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S.248. 752
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3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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tion: Die Wahl fallt auf die monistische Konstruktion mit Staatsrechtsprimat, sofern die Souveränität des Staates bedeutsam erscheint; wird die Weltrechtsorganisation als wichtigere Erscheinung eingeschätzt, dann fallt die Entscheidung zugunsten des völkerrechtsprimären Monismus. Mit dieser Argumentation ist die Politik bestrebt, die imperialistische Ideologie mit ihrer Fokussierung auf den souveränen Staat zu fördern, um auf diese Weise die Aktionsfreiheit des Staates nicht einzuschränken. Anhänger einer eher pazifistischen Ausrichtung entscheiden sich für den Primat des Völkerrechts, um eine weitergehende Beschränkung der Aktionsfreiheit der Staaten zu ermöglichen. Entsprechend der rechtstheoretischen Erkenntnis ist Kelsen jedoch überzeugt, daß es nur ein irrtümliches Denken sein kann, daß bei einem Primat der staatlichen Rechtsordnung das Dogma der Staatssouveränität besser gewahrt wird als bei einem Primat des Völkerrechts. Ein Fehlurteil ist für ihn auch die Annahme, daß die eingeschränkte Handlungsfreiheit der Staaten eher mit dem völkerrechtsprimären Monismus zu rechtfertigen sei: 757 "Der Primat des Völkerrechts spielt in der politischen Ideologie des Pazifismus eine entscheidende Rolle. Die Souveränität des Staates - die der Primat des Völkerrechts völlig ausschließt - ist etwas anderes als die Souveränität des Staates, die durch das Völkerrecht eingeschränkt wird. Jene bedeutet: höchste Rechtsautorität; diese: Aktionsfreiheit des Staates. Deren Einschränkung erfolgt durch das Völkerrecht ganz ebenso, wenn dieses als überstaatliche Rechtsordnung wie wenn es als der staatlichen Rechtsordnung eingegliederte Rechtsordnung gedacht wird. Eine wirksame Weltrechtsorganisation ist bei Annahme der einen ebenso wie bei Annahme der anderen Konstruktion möglich."758
Kelsen sieht den Grund für diese Mißdeutungen in der "Zweideutigkeit des Souveränitätsbegriffs"759, der "das eine Mal höchste Rechtsautorität, das andere Mal unbeschränkte Aktionsfreiheit"760 bedeutet. Festzustellen ist aber auch, daß der Begriff der Souveränität für alle staatlichen Rechtsordnungen nur dann verwendbar ist, wenn das Völkerrecht unberücksichtigt bleibt. 761 Wird das Völkerrecht in die rechtstheoretische Betrachtung mit einbezogen, so ist die Frage nach den gegenseitigen 757 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 345; vgl. H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 248. 758 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 342; vgl. H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 245. 759 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 345; vgl. H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 248. 760 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 345; vgl. H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 248. 761 Bereits zu Beginn seiner wissenschaftlichen Forschung nach der Reinen Rechtslehre stellt Hans Kelsen fest: "Denn so unentbehrlich die Souveränität ist, um eine Ordnung oder das sie personifizierende, sie vergegenständlichende Gemeinwesen gegenüber niederen, eingegliederten, unterstellten Ordnungen oder Gemeinwesen wesentlich zu differenzieren, so unvereinbar ist die Souveränität als Attribut des Staates mit der Annahme der Koexistenz anderer, prinzipiell gleichgestellter, ebenso souveräner Staaten unter einer über allen diesen Staaten stehenden, sie verbindenden Ordnung des Völkerrechts." H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 102.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Beziehungen der Nonnensysteme unmittelbar mit dem Souveränitätsproblem verbunden. 762 Die Rolle der Rechtslehre Kelsens ist bezüglich der Entscheidungsfindung über das Verhältnis der Rechtsordnungen klar bestimmt: Sie legt die rechtlich relevanten Gegebenheiten und Zusammenhänge - frei von ideologischen Sichtweisen - dar, ohne deren mögliche, politisch geprägte Schlußfolgerungen festzulegen. 763 Dennoch proklamiert Kelsen in einem seiner ersten Aufsätze über die Beziehungen der Rechtsordnungen zueinander die moralische Überlegenheit des "objectivisme juridique" 764, womit er sich augenfällig für den Primat des Völkerrechts entscheidet. 765 Wie bereits näher ausgeführt, entschieden sich die Vertreter einer monistischen Rechtsanschauung - beeinflußt von den Einsichten des Ersten Weltkriegs und beeindruckt von der Idee des Völkerbundes - für den Primat des Völkerrechts. 766 Aus den geschilderten Eckpunkten der Lehre Kelsens kann hinsichtlich der weiteren Entwicklungen des Verhältnisses von Völkerrecht und den staatlichen Rechtsordnungen gefolgert werden, daß es zu einer Aufweichung der Grenzen einzelner Rechtsbereiche kommen wird. Insbesondere das Eindringen des Völkerrechts in 762 Damit bezieht Hans Kelsen das Problem der Souveränität auf das gesamte System der Rechtsordnungen. Gustav Walz stellt diesem Zusammenhang drastischer dar; scharf kritisiert er zugleich die aus der Konstruktion der Universalordnung resultierende Anerkennung der Souveränität für die gesamte - staatliche oder völkerrechtliche - Rechtsordnung: "Führt man das Souveränitätsproblem auf ein Ordnungsproblem zurück, dann müßte konsequenterweise nicht der Ordnung, die nicht weiter ableitbar ist, sondern der Ursprungsnorm allein als der obersten, an der Spitze der Pyramide stehenden Norm Souveränität zugesprochen werden." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 95, vgl. S. 96. 763 "Indem die Reine Rechtslehre diese Trugschlüsse entlarvt, indem sie ihnen den Schein von logischen Beweisen nimmt, die als solche unwiderleglich wären, und sie zu politischen Argumentationen reduziert, denen mit gleichartigen Gegenargumenten begegnet werden kann, macht sie den Weg zu der einen wie zu der anderen politischen Entwicklung frei, ohne die eine oder andere zu postulieren oder zu rechtfertigen. Denn als Theorie steht sie ihnen ganz indifferent gegenüber." H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.345; vgl. H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 248; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 174. 764 H. Kelsen, Les rapports de systeme entre le droit interne et le droit international public, S. 325. "Cet etat transitoire se reflete dans les contradictions de la theorie du droit international, qui, engagee dans un conflit presque tragique, tend d'un cöte a s'elever a l'idee d'une communaute juridique mondiale superieure aux differents Etats, mais, de I' autre, reste prisonniere de la notion de souverainete de l'Etat. Malgre tout, elle est certainement sur la voie d'une conception objectiviste." (S. 326). 765 Vgl. J. Kunz, Völkerrechtswissenschaft und Reine Rechtslehre, S.82. Hans Kelsens Schüler Alfred Verdross, AdolfMerkl und Josej Kunz negieren die These vom Primat des Staatsrechts und damit eine Wahlmöglichkeit; dazuA. Merkl, Das Problem der Rechtskontinuität und die Forderung des einheitlichen rechtlichen Weltbildes, S. 497-527; J. Kunz, Zur Hypothesis vom Primat des Völkerrechts, in: Revue de droit international, de sciences diplomatiques et politiques, Nr.V., 1927, S. 3-15; J. Kunz, Die Staatenverbindungen, in: Handbuch des Völkerrechts, hrsg. von Fritz Stier-Somlo, Band 2, 4. Abteilung, 1929, S.6; zur Rechtslehre von Verdross siehe 4. Teil, 3. Kap. III. 766 Dazu W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 135; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 100.
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staatliche Regelungsgebiete und das Prinzip des Delegationszusammenhangs lassen dies erkennen. Dementsprechend scheint für Kelsen das endgültige Ziel einer sich zentralisierenden Völkerrechtsentwicklung "die organisatorische Einheit einer universalen Weltrechtsgemeinschaft, das heißt die Ausbildung eines Welt-Staates"767 zu sein. Auch wenn er sehr wohl erkennt, daß der tatsächliche Entwicklungsstand noch weit von dieser Vorstellung entfernt ist, stellt er dennoch mit Nachdruck fest: "Nur eine erkenntnismäßige Einheit alles Rechts ist gegeben; das heißt: man kann das Völkerrecht zusammen mit den einzelstaatlichen Rechtsordnungen ganz ebenso als einheitliches System von Normen begreifen, wie man die einzelstaatliche Rechtsordnung anzusehen gewohnt ist." 768
Nach Auffassung Walter Schiffers "nimmt die reine Rechtslehre in der den Völkerrechtsprimat behandelnden Literatur unbestreitbar den ersten Rang ein"769. Seine Überlegungen zur Lehre Kelsens sind jedoch überwiegend auf die Entwicklung eines Weltstaates ausgerichtet. Dem möglichen Primat des Völkerrechts stimmt er nicht zu, solange dieses nicht den Charakter einer wirksamen Zwangsordnung besitzt. 770 Mit der gleichen Argumentation lehnt Schiffer den möglichen Primat der einzelstaatlichen Rechtsordnung ab, weil seiner Meinung nach auch hier die Wirksamkeit des Völkerrechts nicht gesichert sein kann. 771 Demnach besteht das Rechtssystem aus einem "Pluralismus von selbständigen Staatsrechtsordnungen"m, und das Völkerrecht wird in das Recht der Einzelstaaten integriert. 773 Eine gemeinsame völkerrechtliche 767 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 328. Hubert Isak folgt zwar der Idee einer Weltrechtsgemeinschaft, die sich in Form von Vereinten Nationen und einer Praxis internationaler Organisationen immer deutlicher ausprägen kann. Streng davon trennen und zugleich ablehnen will er dagegen den weiterführenden Gedanken eines Weltstaates im Rechtssystem Hans Kelsens, weil mit der Vorstellung einer Gemeinschaft souveräner Staaten, der allenfalls das Völkerrecht übergeordnet sein kann, die Bildung eines Weltstaates ausgeschlossen wird. Lediglich eine den Staaten übergeordnete genossenschaftliche Rechtsordnungsorganisation erscheint Isak denkbar. Andernfalls wäre es ein Versuch, Strukturen der innerstaatlichen Rechtsordnung auf die Staatengemeinschaft zu übertragen, womit das Wesen des Völkerrechts negiert werden würde; vgl. H. Isak, Bemerkungen zu einigen völkerrechtlichen Lehren Hans Kelsens, S.260. 768 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 328. 769 W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 165. 770 Vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 190. Insbesondere die von Hans Kelsen geäußerte Anerkennung des Völkerrechts als Rechtsordnung veranlassen Walter Schiffer zur Überzeugung, daß die Rechtsauffassung Kelsens über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht nur im Falle der Existenz eines Überstaates zutreffen könne (v gl. S.203). 771 V gl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 191. Damit stellt sich für Walter Schiffer auch gar nicht die Frage nach der Grundnorm des einzelstaatlichen Rechts. Weiter argumentiert er: Die Tatsache allein, daß sich eine Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Grundnorm zu bieten scheint, ist schon ein Anzeichen dafür, daß eine wirksame Rechtsordnung in Wahrheit gar nicht vorhanden ist." (S. 191); vgl. dazu auch P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 11-12. 712 W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.191. 773 Diesen Pluralismus versteht Walter Schiffer allerdings nicht als Gegensätze voneinander unabhängiger Rechtsordnungen, sondern er betont, daß das Völkerrecht als abhängiger Teilbe-
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Grundnonn und die Einheit des Rechtssystem kann es folglich erst dann geben, wenn gleichfalls mit der Bildung eines Weltstaates eine "wirksame Rechtsordnung"774 entsteht. 775 Auch in der Rechtslehre Kelsens dominiert nach Ansicht Schiffers die Entwicklung hin zu einem überstaatlichen Rechtszustand, deren Endpunkt der Weltstaat darstellt. Auf diese Weise stellt sich für Schiffer die Frage nach dem Primat einer Rechtsordnung nicht mehr; denn mit dem Bestehen eines Weltstaates kann es nur noch eine Rechtsordnung geben, "deren höchste nur durch den Rückgang auf eine außerrechtliche Grundnonn zu begründende Sätze sich aus der historischen Bildungsfonn der Weltgemeinschaft ergeben"776. Wenn Schiffer in der Folge von einem Weltstaat spricht, in dem sich der "Monismus als das Produkt einer vom Pluralismus '" ausgehenden historischen Entwicklung"m vollendet, so erweckt dies den Anschein, daß er über die Grundthesen der Völkerrechtslehre Kelsens hinausgeht. 778 h) Die Rezeption der Grundnonnlehre Kelsens Die Lehre von der Grundnonn kann unzweifelhaft als ein zentraler Ansatzpunkt der Völkerrechtslehre Kelsens und zugleich als ein Mittelpunkt der rechtswissenschaftlichen Diskussionen über seine Lehre gewertet werden. Kelsen versteht die Grundnonn zunächst als Hypothese 779, später hat sie für ihn - wie bereits angedeutet - die Bedeutung einer "transzendental-logischen Voraussetzung"780. Die Grundreich der staatlichen Rechtsordnungen aufzufassen ist, womit er vermutlich ein monistisches Verhältnis ausdrücken möchte: "Insofern trifft es nicht zu, wenn gesagt worden ist, daß, falls das Einheitspostulat Kelsens sich als unbegründet erweist, sein ganzer monistischer Bau in sich zusammenstürzt." W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.192. 774 W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 192. 775 "Wenn eine wirksame überstaatliche Rechtsordnung besteht, muß sie also notwendig mit den ihr untergeordneten Systemen eine Einheit bilden. Ihre ausgedehnteste Verwirklichung findet diese Einheit im Weltstaat." W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 192, vgl. S. 191. 776 W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 194; vgl. S. 192-199; vgl. dazu auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.103. Gleichermaßen kann es in dieser umfassenden Rechtsordnung nicht zum Problem des Widerspruchs zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht kommen; vgl. S. 200-201. 777 W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 205. "Diese Entwicklung führt auf ihrem Wege nach der universalen Organisation zur Bildung beschränkter Staatengemeinschaften, ... In diese Klasse gehört der Völkerbund, der wie alle jene begrenzten Gruppen dem allgemeinen Völkerrecht untergeordnet ist." (S. 205, vgl. S. 187-188). 778 Ausdrücklich anzumerken ist nochmals, daß sich Walter Schiffer noch in der Entwicklungsphase der Rechtslehre Hans Kelsens mit dem Verhältnis der Rechtsordnungen beschäftigte, so daß er nicht die endgültigen Standpunkte der Reinen Rechtslehre Kelsens einbeziehen konnte. 779 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 97, Fußnote 1; zustimmend Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 375. 780 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.204. Kritisch dazu G. Wink/er, Rechtstheorie und Erkenntnislehre. Kritische Anmerkungen zum Dilemma von Sein und Sollen in der Reinen Rechtslehre aus geistesgeschichtlicher und erkenntnistheoretischer Sicht, S. 103-105; vgl.
3. Kap: Der völkerrechts primäre Monismus der Rechtsordnungen
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nonnthese erlangte nicht immer uneingeschränkte Zustimmung; denn sowohl nach Meinung außenstehender Kritiker als auch für den engeren Kreis der Wiener Schule fehlte es dem Begriff der Grundnonn an Bestimmtheit. 78I Deshalb stellt sich stets die Frage nach dem Charakter der Grundnonn: Ist sie tatsächlich als ein rein hypothetisches Medium zur Schaffung einer erkenntnistheoretischen Einheit zu beurteilen, oder besitzt sie die vergleichbare Objektivität einer positiven Rechtsnonn? Aus der Grundnonnlehre wird vielfach der Schluß gezogen, daß nur durch das positive Recht allein keine endgültige Erfassung der menschlichen Handlungen und Beziehungen möglich sein kann und der Ursprung des Rechts nicht der Rechtswissenschaft zugänglich ist, weil die Grundnonn kein positiver Rechtssatz, sondern nur ein hypothetisches Konstrukt sein kann. 782 Für Rudolf Bindschleder und Hubert lsak aber ist sie aus diesen Gründen vielmehr ein "Postulat der praktischen Vernunft"783. Oftmals jedoch wird ihr nur ein subjektiv-ethischer Wert beigemessen. 784 Günther auch D. Kühne, Die Grundnorm als inhaltlicher Geltungsgrund der Rechtsordnung, S.194-197; J.-M. Priester, Die Grundnorm - Eine Chimäre, S.228; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. 11. I. b). 781 Zu den Kritikern der Grundnormlehre innerhalb der Wiener Schule zählen insbesondere AdolfMerkl, Alfred Verdross und Pritz Sander sowie Julius Moor; vgl. A. Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft; A. Verdross, Le fondement du droit international, S.286; F. Sander, Rechtsdogmatik oder Theorie der Rechtserfahrung? Kritische Studie zur Rechtslehre Hans Ke1sens, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht, Band 2, 1921, insbesondere S. 511-513 und S. 615-616; J. Moor, Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Gesellschaft - Staat und Recht, Festschrift zum SO. Geburtstag von Hans Kelsen, hrsg. von Alfred Verdross, 1931, S. 58-105; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.96. 782 Vgl. Z. B. P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 8; J.-M. Priester, Die Grundnorm - Eine Chimäre, S. 228; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 96-97; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.I77 und S. 213. Ergänzend dazu schlußfolgert Walter Schiffer: "Nunmehr ergibt sich für die Frage des hypothetischen Charakters der Grundnorm und damit des Völkerrechtsprimats folgendes: Jede Grundnorm enthält zwei Elemente, die voneinander unterschieden werden müssen. Sie besagt einmal, daß die Geltung jeder Ordnung vorausgesetzt wird, wenn sie in der allgemeinen Rechtsform auftritt. Insofern ist sie hypothetischer Natur. Indem sie dann eine bestimmte rechtserzeugende Instanz einsetzt, deren Anordnungen im wesentlichen befolgt werden, zieht sie nur eine Folgerung aus dieser Voraussetzung, die jener Ordnung bereits den Rechtscharakter verleiht. Insofern kann man dann sagen, daß das Material den Inhalt der Grundnorm bestimmt. Legt man nämlich einmal einen bestimmten Rechtsbegriff zugrunde, dann ergibt sich aus einer Betrachtung des durch ihn als rechtlich gekennzeichneten Materials, welche Instanz als die anzusehen ist, von deren Willensakten sich alle anderen Rechtsakte ableiten lassen. Dann erklärt es sich, daß die Grundnorm ,keinen absoluten Inhalt, ja apriori überhaupt keinen Inhalt hat, sondern sich nach dem Material richtet, das als Recht einheitlich zu deuten ihre ausschließliche Funktion ist', daß aber andererseits ,diese Hypothesis ebenso nach dem von ihr zu erfassenden Material wie das Material nach der Hypothesis bestimmt' wird. Es trifft nicht zu, wenn man in diesen Äußerungen Kelsens einen Zirkel sehen will. Man muß sich nur klar machen, daß die Grundnorm hier jeweils in einer anderen Bedeutung erscheint." W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 213-214; dazu auch H. Kelsen, Hauptproblerne der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz, S. 104 und S. 25 I. 783 R. Bindschedler, Zum Problem der Grundnorm, S.73; vgl. H. Isak, Bemerkungen zu einigen völkerrechtlichen Lehren Hans Kelsens, S. 272-273. 784 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.96 und S. 100; J.-M. Priester, Die Grundnorm - Eine Chimäre, S. 228-230; P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 9-10.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Winkler wertet sie "gemäß der ihr von Kelsen zugedachten gegenstands gebundenen Funktion" als "eine Hypostase in Reinkultur, eine fiktive Vergegenständlichung der Erkenntnisform und der Funktion eines bloßen Erachtens"785.
Hinsichtlich jeder der Interpretationsmöglichkeiten kommen manche der Kritiker zur Schlußfolgerung, daß den positiven Normen auf diesem Weg keine Rechtsqualität und damit auch keine Rechtsverbindlichkeit zukommen kann. In diesem Sinne formuliert Heinrich Drost seine ablehnende Haltung drastisch: "An dieser Rechtsauffassung ist nicht nur ihre Anwendung auf das Völkerrecht, ... sondern ihr Kern selbst eine Irrlehre: Die Grundnorm soll den Rechtscharakter von Normen erzeugen, zugleich aber nach Kelsen als eine metajuristische Hypothese der Geltungsgrund aller Rechtsnormen sein. Eine Norm ... kann diese Fähigkeit der Rechtserzeugung logisch nicht besitzen, wenn sie der Ethik oder einer sonstigen, rechtsfremden Normenkategorie angehört, sondern nur, wenn und weil sie eine Rechtsnorm ist. ... ,,786
Ablehnend steht Drost im Rahmen seiner Argumentation insbesondere dem angenommenen hypothetischen Charakter der Grundnorm gegenüber; denn eine Hypothese kann die Geltung des Rechts nicht begründen, weil sich ihre Richtigkeit erst dadurch bestätigt, "daß die Tatsachen der Empirie wirklich in ihr den einheitlichen Erklärungsgrund finden"787. Die kritischen Bemerkungen von Gustav Walz konzentrieren sich statt dessen auf die mangelnde Objektivität der Grundnormhypothese, weil die Entscheidung für eine Ursprungs norm auf einer subjektiven Wertung des Einzelnen beruht und damit ausschließlich metarechtlich bedingt ist: 788 "Denn einerseits gründet sich der objektive Charakter aller Rechtsnormen nur auf die normlogischen Beziehungen zur Grundnorm unter Ausschluß aller faktisch-soziologischen, aber auch aller subjektiv-emotionalen Elemente. Auf der anderen Seite beruht die Setzung der Ursprungshypothese selber auf einem rein subjektiven Entscheinungsakt."789
Walz folgert aus diesen Erkenntnissen, daß nicht nur zwei alternative Grundnormen zur Wahl stehen, sondern in jeder Gemeinde- oder Vereinsverfassung - ja sogar in einem Kaufvertrag - kann die Grundnorm des Rechts gefunden werden. 79O Aus785 G. Winkler, Rechtstheorie und Erkenntnislehre. Kritische Anmerkungen zum Dilemma von Sein und Sollen in der Reinen Rechtslehre aus geistes geschichtlicher und erkenntnistheoretischer Sicht, S. 108, vgl. S. 107-111. 786 H. Drost, Grundlagen des Völkerrechts, S. 89-90. 787 H. Drost, Grundlagen des Völkerrechts, S. 90. Unter einer Hypothese versteht Heinrich Drost dementsprechend "eine vorläufige Annahme zur einheitlichen Erklärung verschiedener Tatsachen" (S. 90). 788 " ... so ruht die Objektivität des ganzen Systems auf ... der subjektiven Entscheidung des wertenden und erkennenden Subjekts." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 97; vgl. S.165. 789 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 96-97. 790 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.89-90.
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gehend von jener Sichtweise induziert Walz die Unhaltbarkeit der Kelsenschen Grundnormlehre und zugleich die Ablehnung der Methode der Reinen Rechtslehre zur Klärung des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichen Rechtsordnungen: "Es handelt sich durchweg um eine rein apriorisch-logische Einheitskonstruktion, deren Reichweite immer diesseits der Geltung des objektiven positiven Rechts bleibt. Es gibt in Wahrheit nicht zwei Wahlmöglichkeiten nach diesem System, sondern unendlich viele. Die Ergebnisse dieser Theorie stehen in offensichtlichem Widerspruch mit der Rechtserfahrung, deren Bereich sie gar nicht erreicht, da sie nur nomlogische Möglichkeiten produziert. Die proklamierte reine Methode wird selber von ihrem Schöpfer mehr als einmal aufgegeben, um den gesuchten Anschluß an das positiv wirkliche Recht zu erhalten .... "791
Für Hubert Isak dagegen ist der Charakter der Grundnorm nicht von wesentlicher Bedeutung, um die Lehre Kelsens beurteilen zu können: "Diese Grundnorm ... kann bloß formal oder inhaltlich bestimmt, eine tatsächlich geltende oder auch eine nur hypothetische Norm sein. Der rechtstheoretische Zweck der Kelsenschen Grundnorm ist nicht die moralisch-politische Rechtfertigung positiven Rechts, auch nicht die ... ,Information' hinsichtlich des zu schaffenden Rechts, sondern die logische Bedingung seiner Geltung, die Abgrenzung des Rechts von anderen Normensystemen wie dem Naturrecht, der Ethik usw. Nicht zuletzt soll mit der Grundnormhypothese eine Begründung der Wissenschaft vom positiven Recht durch die der Grundnorm innewohnenden Prinzipien der Delegation und Zuordnung erreicht und die wissenschaftliche Grundlage einer systematischen Rechtsdogmatik geliefert werden."792
Bei genauerer Betrachtung der Grundnormlehre stellen sich darüber hinaus weitere Fragen, insbesondere zur inhaltlichen Bestimmung der völkerrechtlichen Grundnorm. Für Kelsen besteht der rechtserzeugende Tatbestand des Völkerrechts in dem Grundsatz, daß sich die Staaten entsprechend ihrer gegebenen Gewohnheit verhalten sollen: "Die Staaten, das heißt die Regierungen der Staaten, sollen sich in ihren gegenseitigen Beziehungen so verhalten ... wie es einer gegebenen Staatengewohnheit entspricht."793
Den Grundsatz "pacta sunt servanda" lehnt er als Grundnorm ausdrücklich ab, weil dem Völkergewohnheitsrecht kein Vertragsrechtscharakter zukommt und es sich deshalb nicht - wie es nach dem Sinn des Delegationszusammenhangs erforderlich wä791 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 103. H.Isak, Bemerkungen zu einigen völkerrechtlichen Lehren Hans Kelsens, S. 274. 793 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 222. Als grundlegende Voraussetzung des Gewohnheitsrechts hebt er nachfolgendes Prinzip hervor: Der "Einzelne soll sich so verhalten, wie sich die anderen, in der Meinung, sich so verhalten zu sollen, zu verhalten pflegen, angewendet auf das gegenseitige Verhalten der Staaten, das ist das Verhalten der Menschen, die nach der staatlichen Rechtsordnung in bestimmter Weise als Organe, und zwar als Regierungsorgane qualifiziert sind". (S. 223). Ohne ein tatsächlich vorhandenes Beziehungsgefüge zwischen den Staaten kann demnach keine Völkerrechtsordnung bestehen; vgl. P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 10; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 187; G. Dahm, Völkerrecht, S. 10. 792
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
re - aus dem Satz "pacta sunt servanda" ableiten läßt. 794 Auch die These Albert Bleckmanns, daß die völkerrechtliche Grundnorm Kelsens das Effektivitätsprinzip darstellt, ist als ein Fehlschluß zu werten. 795 Nach Ansicht von Georg Dahm kann nur ein Grundnormgefüge, bestehend aus der Regel "pacta sunt servanda" und der Rechtsüberzeugung der internationalen Gemeinschaft, Grundlage der völkerrechtlichen Ordnung sein. 796 Geprüft werden muß darüber hinaus die Frage, ob Kelsen die Staatengewohnheit selbst als Grundnorm des Völkerrechts auffaßt oder ob er sich ausschließlich auf das Prinzip, daß die Staaten sich so verhalten sollen, wie es Staatenübung ist, beruft. Trifft ersteres zu, dann ist der Lehre Kelsens vorzuwerfen, daß sie einen empirisch geprägten letzten Schritt auf dem Weg zur Grundnorm unternimmt: Mit der Staatengewohnheit - im Sinne eines tatsächlichen staatlichen Verhaltens - als Grundnorm würden ursächliche Seinselemente zum rechtserzeugenden Tatbestand des Völkerrechts eingesetzt werden, was Kelsen in seiner Reinen Rechtslehre ausdrücklich ablehnt. 797 Sowohl dieser Gedankengang als auch die Kelsensche Formulierung der Grundnorm lassen die Schlußfolgerung zu, daß nicht die Staatenübung selbst ursprünglicher Geltungsgrund des Völkerrechts sein kann, sondern das der Staatengewohnheit zugrundeliegende Prinzip, daß sich die Staaten gemäß ihrer Übung verhalten sollen. Dabei stellt Kelsen insbesondere auf das "Sollen" ab, das dieses Prinzip zur objektiven Norm macht. Für die Rechtsgemeinschaft formuliert er das gesollte Verhalten als Prinzip des Gewohnheitsrechts und bekräftigt damit zugleich seine Grundnormthese: 794 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 223. Wie bereits näher ausgeführt wurde, wertet Hans Kelsen den Grundsatz "pacta sunt servanda" als ein Resultat der völkerrechtlichen Gewohnheit, der die Staaten befugt, Verträge zur Regelung ihrer Beziehungen abzuschließen; dazu 4. Teil, 3. Kap. 11. 3. b). Eine ausführliche Würdigung des Grundsatzes "paeta sunt servanda" als Grundnorm des Völkerrechts findet sich bei Albert Bleckmann. Er bestätigt zwar, daß Kelsen dieser Grundnorm nicht mehr zustimmt; dennoch geht er in seinen kritischen Anmerkungen von dem Satz "pacta sunt servanda" als Grundnorm der Kelsenschen Lehre aus; vgl. A. Bleckmann, Monismus mit Primat des Völkerrechts - Zur Kelsenschen Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht, S. 337-347, insbesondere S. 337-338 und S. 344-347. 795 Vgl. A. Bleckmann, Monismus mit Primat des Völkerrechts - Zur Kelsenschen Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht, S.337, Fußnote 2; A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechts lehre, 1995, S.423; siehe dazu auch W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.187-188. 796 Der Begriff der Grundnorm wird in der Rechtsauffassung Georg Dahms demnach anders definiert; unter einem Grundnormgefüge versteht er "die für den Bestand der int. Gemeinschaft unentbehrlichen Normen". Ohne den Satz "pacta sunt servanda" würde "das int. Leben dem Chaos und der Anarchie anheimfallen". Die zweite Grundnorm sieht Dahm als Ergänzung und Kontrolle für das Vertragsrecht an: Als Völkerrecht gilt, was im Rahmen der internationalen Beziehungen als Recht angesehen und angewendet wird, oder genauer: "Recht ist, was dem Willen, den Wertvorstellungen, der Rechtsüberzeugung der int. Gemeinschaft entspricht und in ihr allgemein als Norm des praktischen Handelns befolgt wird." Beide Grundnormen sind durch Konkretisierung in Form von Verträgen oder durch Realisierung der Rechtsüberzeugung auszufüllen; siehe G. Dahm, Völkerrecht, S. 12-13. 797 Dazu 4. Teil, 3. Kap. 11. 1. a).
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"Wenn Menschen, die gesellschaftlich zusammenleben, durch eine gewisse Zeit hindurch sich unter gewissen gleichen Bedingungen in gewisser gleicher Weise verhalten, so entsteht in den einzelnen Individuen der Wille, sich so zu verhalten, wie sich die Gemeinschaftsmitglieder gewohnheitsmäßig verhalten. Der subjektive Sinn der Akte, die den Tatbestand der Gewohnheit konstituieren, ist zunächst nicht ein Sollen. Erst wenn diese Akte durch eine gewisse Zeit erfolgt sind, entsteht in dem einzelnen Individuum die Vorstellung, daß es sich so verhalten will, wie sich die Gemeinschaftsmitglieder zu verhalten pflegen, und der Wille, daß sich auch die anderen Gemeinschaftsmitglieder so verhalten sollen .... So wird der Tatbestand zu einem kollektiven Willen, dessen subjektiver Sinn ein Sollen ist. Als objektiv gültige Norm kann aber der subjektive Sinn der die Gewohnheit konstituierenden Akte nur gedeutet werden, wenn die Gewohnheit durch eine höhere Norm als normerzeugender Tatbestand eingesetzt wird. "798
Aus dieser Argumentationsfolge heraus kann zum einen festgesellt werden, daß die gewohnheitsrechtlichen Sollensvorschriften des Völkerrechts letztlich allein aus einem tatsächlichen Verhalten der Staaten heraus resultieren, obgleich dies im Rahmen der Reinen Rechtslehre Kelsens als undenkbarer Zusammenhang zu werten ist. 799 Zum anderen fällt auf, daß Kelsen nicht nur für das völkerrechtliche Vertragsrecht, sondern auch für den Bereich des Völkergewohnheitsrechts weder die gemeinsame Rechtsüberzeugung noch den Willen als ein Grundelement der Normerzeugung ansieht. 800 Trotz dieser kritischen Ansatzpunkte und unabhängig davon, daß Kelsen die Frage nach dem Primat innerhalb der Einheit der Rechtsordnungen nicht entschieden hat, kann festgestellt werden, daß sich seine normlogisch geprägte Völkerrechtslehre zu einer neuen, großen Strömung in der Völkerrechtswissenschaft entwickeln und daß die Kontroversen um sein Grundnormkonzept auf die Völkerrechtslehre nach dem Ersten Weltkrieg einwirken konnten. Darüber hinaus gelang es Kelsen, Gegensätze und Berührungspunkte zwischen Naturrechtslehre und Rechtspositivismus zu präzisieren. 801 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 9; vgl. S. 231-232. Nach Ansicht von Julius Moor ist es Hans Kelsen mit seiner Reinen Rechtslehre nicht gelungen, eine normative Konstruktion der Rechtsordnung zu begründen. Statt dessen sind Momente des Seins und Sollens eng miteinander verbunden: "Die Grundnorm als logische Voraussetzung der Rechtswissenschaft hat die Funktion, dem Faktum der historisch ersten Verfassungserzeugung die normative Bedeutung eines Grundgesetzes zu geben, mit anderen Worten: ein Faktum als eine Norm zu deuten. Besteht aber die Behauptung Kelsens, daß aus einem Sein niemals ein Sollen folgen könne, zu Recht, so bedeutet die Annahme der Grundnorm nichts anderes, als daß eine logische Unmöglichkeit zur logischen Voraussetzung der Rechtswissenschaft gemacht wurde." J. Moor, Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, S. 67, vgl. S. 66-70; siehe auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 100; A. Emmerieh-Fritsehe, Vom Völkerrecht zum We1trecht. 800 Vgl. K.A. Sehaehtsehneider, Res publica res populi, S. 521-525, S. 564 und S. 996-997; A. Emmerieh-Fritsehe, Vom Völkerrecht zum Weltrecht; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. I. 801 Hans Kelsen anerkannte vor allem, daß beide Auffassungen die Rechtsbegründung durch eine außerhalb des Rechts liegenden Norm vertraten; vgl. H. Kelsen, Vom Geltungsgrund des Rechts, S. 165; H. Bull, Hans Ke1sen and International Law, S. 330-332; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. 11.1. b). 798
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Erkennbar ist auch, daß sich die "Reine Völkerrechts lehre" Kelsens im Vergleich zu den Lehren Hugo Krabbes, Leon Duguits und Georges See lies als eine völlig neue Richtung innerhalb der monistischen Rechtsauffassung auszeichnet, die auch noch in der gegenwärtigen Völkerrechtsliteratur Beachtung findet. 802 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Reine Rechtslehre Kelsens insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg wirkte und in der Folgezeit einerseits Anerkennung, andererseits jedoch auch Zurückweisung und Widerspruch auslöste. 803 Eine konkrete Fortführung seiner Völkerrechtsauffassung ist gegenwärtig nicht festzustellen. Dies könnte einerseits mit der radikal posivistischen Begründung seiner Völkerrechtslehre in Verbindung mit einer neukantianischen GrundeinsteIlung zusammenhängen sowie andererseits mit dem Auftauchen fundamental neuer völkerrechtlicher Inteiessen und Probleme begründet werden. 804 802 Vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 165; F. Koja, Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre, S. 37. Anderer Auffassung ist Georg Dahm, der feststellt: "An der Verbindlichkeit des Völkerrechts wird heute nicht mehr gezweifelt. Insofern wirken die Erörterungen über den Grund seiner Geltung ein wenig akademisch und ihre Ergebnisse - z. B. das, was im Schrifttum als Inhalt der sog. ,Grundnorm' festgestellt wird,- bis zu einem gewissen Grade trivial. Doch ist nicht zu vergessen, daß die Verbindlichkeit des VR und sein Charakter als Recht vor noch nicht langer Zeit nicht so unbestritten war, wie es heute der Fall ist, und daß die VR-Wissenschaft mit dazu beigetragen hat, diese Überzeugung allgemein werden zu lassen." G. Dahm, Völkerrecht, S. 7. 803 Näheres dazu in der Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts: Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, Band 2, 1978; insbesondere bei N. Achterberg , Die Reine Rechtslehre in der Staatstheorie der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 2, 1978, S. 7-54, M. Kerchove, Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in Frankreich und Belgien, in: Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 2: Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, 1978, S. 113-136. 804 Hubert [sak zweifelt daran, daß die Lehre Hans Kelsens wie auch die gesamte Rechtslehre des beginnenden 20. Jahrhunderts den Anforderungen der neuen Bereiche der V6lkerrechtsordnung - insbesondere was das internationale Umwelt-, Weltraum- und Wirtschaftsrecht, das Recht der Internationalen Organisationen und das Hervortreten der Staaten der Dritten Welt betrifft - gerecht werden kann, weil diese Denkschule "als formal und schematisch, statisch und non-behaviouristisch beschrieben wird und sich als ahistorisch und apolititsch verstand". Er fordert eine Rechtswissenschaft, die "in konstruktiv-innovatorischer Weise Fragen wissenschaftlich bewältigen muß, die im Verständnis Kelsens vermutlich jenseits der Rechtswissenschaft gelegen wären". H. [sak, Bemerkungen zu einigen völkerrechtlichen Lehren Hans Kelsens, S. 261 und S. 277, vgl. S. 260-261 und S. 274-277; siehe dazu auch S.L. Paulson, Die Rezeption Kelsens in Amerika, in: Forschungen aus Staat und Recht, hrsg. von Günther Winkler/Walter Antoniolli/Bernhard Raschauer, Band 81: Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, 1988, S. 179-202, hier S. 180-181. Ein gemäßigteres Urteil ist zu finden bei H. Bull, Hans Kelsen and International Law, S. 332-335. Stanley L. Paulson kommt bei der Klärung der Frage, wie das Gesamtwerk Kelsens in Amerika - dort lebte und arbeitete Kelsen über dreißig Jahre - aufgenommen wurde, zu dem Schluß, daß zwischen Kelsens rechtsdogmatischen Auffassungen und der Rechtslehre der Amerikaner eine zu große Lücke bestand. Er argumentiert weiter: "Diese naheliegende Erklärung ändert aber nichts an der wichtigen und weniger naheliegenden Tatsache, daß es Kelsen auch nicht gelang, außerhalb der Rechtstheorie eine große Anhängerschaft zu gewinnen. So hat er mit seinen Arbeiten auf
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III. Die naturrechtliche Grundlegung der Universalrechtsordnung durch Alfred Verdross 1. Die staatsrechtsprimäre Konstruktion der Rechtsordnungen Der österreichische Rechtswissenschaftler Alfred Verdross 805 wurde von der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens - insbesondere in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg - stark geprägt. 806 Nach Beendigung seiner Studien und Promotion im Jahr 1913 setzt er sich in den Diskussionsrunden des Privatseminars Ke lsens erstmals mit den vom Positivismus und Neukantianismus geprägten Rechtsauffassungen auseinander. 807 Durch das Werk Heinrich Triepels angespornt 808 , versuchte Verdross bereits in seiner ersten wichtigen Veröffentlichung "Zur Konstruktion des Völkerrechts"809 über die damals rein staatsrechtlichen Betrachtungen Kelsens hinauszugedem Gebiet des Völkerrechts nicht viele bekehrt. Kurzum, die Reine Rechtslehre wurde - und wird - bei uns nicht verstanden; Kelsens Arbeiten auf anderem Gebiet wurden zwar verstanden, aber größtenteils abgelehnt." S. L. Paulson, Die Rezeption Kelsens in Amerika, S.202. 805 Alfred Verdross (1890-1980) studierte an den Universitäten in Wien, München und Lausanne und setzte nach seiner Promotion einerseits seine wissenschaftliche Laufbahn fort; so war er ab 1921 Professor in Wien, zwischen 1957-1966 Mitglied der Internationalen Rechtskommission der Vereinten Nationen, ab 1958 Richter beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und von 1959 bis 1961 Präsident des "Institut de Droit International". Andererseits übernahm er verschiedene Aufgaben im Gerichtsdienst (1913-1917) und ab 1918 im diplomatischen Dienst; vgl. H. Scheuba, Lebenslauf und Publikationsverzeichnis von Alfred Verdross, in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, hrsg. von Hans Klecatsky/Rene MarciclHerbert Schambeck, Band 2: Ausgewählte Schriften von Hans Ke1sen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross, 1968, S.2395-2408, hier S. 2397-2398; S. Verosta, Alfred Verdross - Leben und Werk, S. 1-13. 806 Vgl. H./sak, Bemerkungen zu einigen völkerrechtlichen Lehren Hans Ke1sens, S. 257. 807 An diesem Seminar nahm er zusammen mit Adolf Merkl, Leonidas Pitamic und Fritz Sander teil; es gilt als erster Schritt hin zur "Wiener Schule". Nach dem Krieg beteiligten sich auch Walter Heinrich, lose! Kunz, Felix Kaufmann, Fritz Schreier. lose! Dobretsberger und Eric Voegelin an den Diskussionsrunden. Die Beschäftigung mit rechtstheoretischen Studien und die beginnende Freundschaft mit Hans Kelsen, der zum damaligen Zeitpunkt auch als Privatdozent für Staatsrecht und Staatslehre an der Universität in Wien lehrte, war von entscheidender Bedeutung für die wissenschaftliche Weiterentwicklung von Alfred Verdross. Bereits während seiner Studienzeit nahm er an Seminaren von Hans von Voltelini. Leo Strisowers und Eugen von Böhm-Bawerks teil; vgl. E. Mock, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie durch Alfred Verdross, in: lus Humanitas, Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, hrsg. von Herbert MiehslerlEberhard MockJBruno Simmajllmar Tamme1o, 1980, S. 9-22, hier S. 10-11. 808 Dabei ist nochmals auf die Beurteilung Heinrich Triepels hinzuweisen: "Nun ist aber der Versuch, das Verhältnis von Völker- und Landesrecht nach allen Seiten hin festzustellen, noch niemals unternommen worden. Eine Monographie über das Problem gibt es nicht; Abhandlungen, deren Titel den Anschein erweckt, als böten sie das Gesuchte, enttäuschen, sobald man sie aufschlägt." H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 3; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. 1. I. 809 A. Verdross, Zur Konstruktion des Völkerrechts, in: Zeitschrift für Völkerrecht, hrsg. von Max Fleischmann/Karl Strupp, Band VIII, 1914, S.329-359; zu finden auch in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, hrsg. von Hans Klecatsky/Rene MarciclHerbert Schambeck, 15 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
hen und das Völkerrecht in die Rechtslehre mit einzubeziehen. sIO Beide Rechtswissenschaftler haben sich in der Folgezeit bezüglich ihrer Erkenntnisse gegenseitig beeinflußt und vorangetrieben. Noch stärker als die Lehre Kelsens durchlief die Völkerrechtslehre von Verdross verschiedene Entwicklungsstufen und hat dabei - ausgehend von den Grundlagen der Reinen Rechtslehre Kelsens - eine neue, naturrechtlich geprägte Richtung eingeschlagen, die als eine weitere Möglichkeit zur Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht zu werten ist. Die Ergebnisse seiner erstmaligen Beschäftigung mit diesem Problem wurden nicht nur von den Ideen Kelsens zur Reinen Rechtslehre, sondern auch von den Gedanken Kar! Bergbohms, Georg fellineks und Albert Zorns beeinflußt. SII Verdross hält die Lehre vom Monismus der Rechtsordnungen für "eine folgerichtige Fortführung der Thesen Heinrich Triepels.. sI2 ; denn der Triepelsche
Dualismus beansprucht zwar formal die Trennung der Geltungsgrundlagen der Rechtsordnungen, aber er begründet dennoch das Völkerrecht mit der staatlichen Anerkennung. Weil sich der Staat außerdem seiner eigenen, souveränen Rechtsordnung unterwirft, kann es zu unlösbaren inneren Widersprüchen bezüglich der staatlichen Verpflichtungen kommen. S13 Die Entscheidung gegen eine konsequente Trennung der Rechtsordnungen und für eine monistische Konstruktion der Rechtsordnungsbeziehungen resultiert für Verdross daraus, daß das Völkerrecht nur durch seine Verankerung im einheitlichen Staatswillen den Charakter einer positiven Rechtsordnung erlangen kann. S14 In der Fortführung dieses Gedankens und unter dem EinBand 2: Ausgewählte Schriften von Hans Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross, 1968,S. 1995-2022. 810 Hans Kelsen war in dieser Zeit primär auf die Einheit des einzelstaatlichen Rechtssystems fokussiert und stand einer dualistischen Auffassung der Rechtsordnungen näher, während Alfred Verdross nach einer möglichen Verbindung von Völkerrecht und staatlichem Recht suchte. Kelsens aktuelle Abhandlungen in der damaligen Zeit waren insbesondere "Über Staatsunrecht" sowie "Hauptproblerne der Staatsrechtslehre"; dazu 4. Teil, 3. Kap. 11. 1. a) und 2. Dementsprechend bemerkt Verdross im Rückblick auf das Seminar Kelsens: "Mich hat von allem Anfang an das Problem des Völkerrechts und sein Verhältnis zum staatlichen Recht gefesselt." A. Verdross, zitiert in: B. Simma, Der Beitrag von Alfred Verdross zur Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft, in: lus Humanitas, Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, hrsg. von Herbert Miehsler/Eberhard Mock/Bruno Simma/llmar Tammelo, 1980, S.23-43, S.24; vgl. S.27. 811 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11. 1. 812 "Die monistische, Völkerrecht und staatliches Recht einheitlich erfassende Rechtskonstruktion, ... ist im Kampfe gegen die dualistische ... Auffassung entstanden. In ihrem Weiterbau aber ist es ... immer klarer geworden daß die neue Lehre nur eine folgerichtige Fortführung der Gedanken Heinrich Triepels bildet, der, trotz seines dualistischen Ausgangspunktes, Völkerrecht und staatliches Recht so nahe aneinandergeTÜckt hat, daß es nur mehr weniger Schritte bedurfte, um das dualistische Gehäuse zu sprengen und zur Einsicht der Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht zu gelangen." A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. VI., vgl. S.34. 813 Vgl. A. Verdross, Zur Konstruktion des Völkerrechts, S. 333-336. 814 Vgl. A. Verdross, Zur Konstruktion des Völkerrechts, S. 337-338. Offensichtlich ist es also die Frage nach der gegebenen Positivität der Völkerrechtsordnung, die für Alfred Verdross
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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fluß des damals herrschenden staatlichen Souveränitätsdogmas lehnte Verdross den Primat des Völkerrechts zunächst ab und setzte den Ausgangspunkt des einheitlichen Rechtssystems im Staatsrecht. Das Völkerrecht wird so zu einem integriertem Teilbereich der einzelstaatlichen Rechtsordnungen, so daß dem staatlichen Recht der Primat zukommt. 815 Die Einheit der Normensysteme verankert Verdross in den positiven nationalen Normen der Verfassung, welche die Staatsorgane zum Abschluß internationaler Verträge berechtigen und die völkerrechtlichen Regeln im staatlichen Recht integrieren konnten. 816 Für Verdross sind die beteiligten Staaten mit einem Vertrags abschluß an ihren so ausgedrückten Staatswillen gebunden, so daß eine Abänderung oder Auflösung des Vertrages nur mit dem Einverständnis aller Vertragspartner akzeptiert werden konnte. 817 Auf diese Weise entsteht die Völkerrechtsgemeinschaft auf der Basis selbständig geltender Staatsrechtsordnungen. 8I8 Insbesondere Gustav Walz wertet die damalige Konzeption als "pseudomonistische"819 Rechtsauffassung, weil die staatlichen Rechtsordnungen als souverän, als "aus sich selbst heraus gedacht werden"820 und somit kein einheitliches Rechtssystem besteht. Das Völkerrecht als unselbständiger Bestandteil jeder dieser Rechtsordnungen der Staatengemeinschaft "entbehrt selber notwendig jeden eigenen Ordnungscharakters, stellt nichts anderes als einen künstlich zusammengestellten Komplex aus verschiedenen selbständigen Soll-Ordnungen dar"821. Demnach kann es die Wahl zwischen monistischer und dualistischer Konstruktion entscheidet: " ... will man vielmehr, daß dem Völkerrechte dieselbe Positivität wie dem innerstaatlichen Rechte zukomme, so muß es im einheitlichen Staatswillen verankert werden; ebenso wie die einst naturrechtlichen Freiheitsrechte des Liberalismus erst dann zu positiven wurden, als sie in der Verfassung ihren Sitz fanden." (S. 338). 815 Den Völkerrechtsprimat lehnte er ab, weil die souveränen Staaten ihre unbegrenzte Normierungskompetenz verlieren würden und "das staatliche Recht formal völlig im Völkerrechte aufginge". A. Verdross, Zur Konstruktion des Völkerrechts, S. 337. 816 Vgl. A. Verdross, Zur Konstruktion des Völkerrechts, S. 339-342. 817 Vgl. A. Verdross, Zur Konstruktion des Völkerrechts, S. 346-347 und S. 357-359. Ablehnend dazu G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 50-51. 818 "Das Völkerrecht wird so zu einem integrierenden Bestandteile der Rechtsordnungen aller jener Staaten, deren Verfassungen den Abschluß von Verträgen mit anderen Staaten zulassen, und deren zuständige Organe auf Grund dieser Ermächtigung auch Staatsverträge schließen. Da aber alle zivilisierten Staaten dies tun, so gehören alle diese der großen Völkerrechtsgemeinschaft an. Erst so wird das Völkerrecht als ein zwei, mehreren oder allen Staaten gemeinsames und doch nicht einer höheren Autorität entstammendes Recht aufgezeigt .... Dies ist aber die einzige Möglichkeit, die die Beziehungen der Staaten untereinander betreffenden Normen als von souveränen Staaten - das heißt von Staaten mit souveränen Rechtsordnungen - anerkannt, von diesen gewollt und für ihre Organe rechtlich gesollt zu denken." A. Verdross, Zur Konstruktion des Völkerrechts, S. 341-342. 819 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.40, vgl. S.47-49. 820 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.48. 821 G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.49. "Denn sie entpuppt sich ... als eine ,pluralistische' Konstruktion des Rechtsuniversums und hat also alle die von Verdross gegen die dualistische Theorie vorgebrachten Einwände gegen sich selber gelten zu lassen. Pluralistisch gegliedert erscheint nämlich das Rechtsuniversum bei Verdross, weil er lediglich das Völkerrecht - und dieses nur zum Teil- in die Staatsrechtsordnungen aufgelöst hat, weil aber die Fül15*
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
sich nach Ansicht von Walz ausschließlich Um eine pluralistische Konstruktion der Rechtsordnungen handeln. 822 2. Der Weg zum gemäßigten Monismus auf der Grundlage der Völkerrechtsverfassung
a) Der differenzierte Völkerrechtsprimat im einheitlichen Rechtssystem Ein erster - deutlicher - Wendepunkt in seiner völkerrechtswissenschaftlichen Arbeit zeigte sich in seiner Habilitationsschrift "Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten"823, die er nach Beendigung des Krieges veröffentlichte. Ausschlaggebend war die Erkenntnis, daß in seiner Rechtsordnungskonstruktion "zwar nahezu alle, aber (eben) doch nicht alle Völkerrechts sätze ihren Platz finden"824. Dieses Argument bezog sich insbesondere auf Staatsverträge, weil sie - aufgrund Verdrossens Feststellung, daß ihre Geltung bei revolutionären Verfassungsänderungen bestehen bleibt - nicht auf die einzelstaatlichen Verfassungen zurückführbar sind und sie deshalb auf einem übergeordneten Rechtssatz beruhen müssen. 825 Darüber hinaus erachtet Verdross es als unmöglich, das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht mit seiner ursprünglichen Rechtskonstruktion staatsrechtlich zu erfassen. 826 Demnach war Verdross nun bestrebt, den Primat des Völkerrechts le der einzelnen Staatsrechtsordnungen mit selbständiger Sollgeltung in rechtlich unverbundener, gleichzeitiger Sollgeltung angenommen werden, ohne daß Verdross von seinem betonten ,monistischen' Standpunkt aus auch nur die leisesten Bedenken gegen diesen Zustand auftauchen." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.48; ebenso W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 136; W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 218. m Ein weiterer Kritikpunkt von Gustav Walz ist die Tatsache, daß Alfred Verdross das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht bewußt aus seiner Konzeption ausklammert; unter diesem Blickwinkel stellt die Rechtsordnungskonzeption für Walz lediglich einen "partiellen Dualismus" dar; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.45. Seine Argumente resümierend, bezweifelt Walz letztlich den Rechtscharakter des durch Eingliederung in die staatlichen Rechtsordnungen aufgelösten "Völkerrechts" (vgl. S.49). 823 A. Verdross, Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten, 1920. 824 A. Verdross, Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten, S.4l. 825 Vgl. A. Verdross, Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten, S.42; vgl. H. Miehsler, Alfred Verdross' Theorie des gemäßigten Monismus und das Bundesverfassungsgesetz vom 4. März 1964, BGBl. Nr. 59, S. 568-569. Für Erhard Mock haben diese neuen Standpunkte einen bedeutungsvollen Hintergrund: "Fürs erste scheint dies wie eine Einschwörung auf das Programm des Rechtspositivismus. Sie bedeutet jedoch in Wahrheit eine Rückkehr zur Sache, zum Gegenstand des Völkerrechts und seiner Realität in erkenntnistheoretischem Sinne." E. Mock, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie durch AIfred Verdross, S. 12. 826 Vgl. A. Verdross, Grundlagen und Grundlegungen des Völkerrechts - Ein Beitrag zu den Hypothesen des Völkerrechtspositivismus, in: Niemeyers Zeitschrift für internationales Recht, Band 29,1921, S.65-91, hier S. 70.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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im einheitlichen System der Rechtsordnungen nachzuweisen, was er mit der Kernthese, daß das Völkerrecht "wenigstens in seiner obersten Spitze"827 über dem staatliche Recht stehen sollte, erreichte. 828 Anzunehmen ist, daß Hans Kelsen unter anderem von diesen neuen Thesen beeinflußt wurde; denn auch er wendet sich zur gleichen Zeit einem völkerrechtsprimären Monismus ZU. 829 SO schufen nicht nur die weltpolitischen Probleme dieser Zeit, sondern auch jener neue Standpunkt Kelsens für die Völkerrechts wissenschaft und insbesondere auch für Verdross die Grundlage zur weiterführenden Auseinandersetzung mit der Konstruktion der Beziehungen von Völkerrecht und staatlichem Recht. 830 Die erste ausführliche Ausarbeitung seiner geänderten Lehre veröffentlicht Verdross 1923 in "Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung"831. Ansatzpunkt seiner Thesen ist die Ablehnung der Lehre vom Staats willen, wie sie von der herrschenden dualistischen Rechtsauffassung vertreten wurde. Mit ihrer Forderung, daß die Staaten das Völkerrecht anerkennen müssen, damit es als positives Recht gelten kann, wird alles Völkerrecht zum "Staatsver827 A. Verdross, Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten, S.42-43; siehe auch A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. VI. und S. 83. 828 In der Studie "Grundlagen und Grundlegungen des Völkerrechts - Ein Beitrag zu den Hypothesen des Völkerrechtspositivismus" bestätigte und festigte Alfred Verdross diesen Gedanken: "Es gibt Völkerrechtsnormen, die sich ihrem Inhalte nach über die staatlichen Verfassungen erheben und die Verbindung zwischen zwei, durch keine staatsrechtliche Kontinuität verbundenen Verfassungen eines Staates herstellen." A. Verdross, Grundlagen und Grundlegungen des Völkerrechts - Ein Beitrag zu den Hypothesen des Völkerrechtspositivismus, S. 70; vgl. weiterhin: A. Verdross, Völkerrecht und einheitliches Rechtssystem - Kritische Studie zu den Völkerrechtstheorien von Max Wenzel, Hans Kelsen und Fritz Sander, in: Zeitschrift für Völkerrecht, Band 12,1923, S.405-438. 829 Seine Monographie "Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts" wurde 1920, also im gleichen Jahr wie die Habilitationsschrift von Alfred Verdross, veröffentlicht; vgl. B. Simma, Der Beitrag von Alfred Verdross zur Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft, S. 28; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. 11.2. 830 Vgl. B. Simma, Der Beitrag von Alfred Verdross zur Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft, S. 28-29. 831 A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, 1923. Gewidmet ist dieses Werk Hans Kelsen, "dem unermüdlichen Vorkämpfer für eine reine Rechtslehre". In seinem Vorwort verdeutlicht er seine Ziele: "Die folgenden Untersuchungen sind theoretischer Natur.... Die Fragestellung ist also nicht rechtspolitisch orientiert, indem sie nicht untersucht, auf welche Weise eine harmonische Weltordnung hergestellt werden könnte, sie geht vielmehr dahin aus, zu ermitteln, ob das erfahrungsmäßig vorliegende Recht ein Chaos ist oder einen Kosmos bildet. Hierbei wird das Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, weil erst in dieser geklärt werden kann, ob sich von Rechtskreis zu Rechtskreis Fäden spinnen, die alles Recht zu einer Einheit verknüpfen .... So ist es gerade die gegenwärtige Weltkrise, die die Kritik anregt, unserem Probleme aufs neue nachzuspüren, zumal die auf dem Horizonte aufgetauchten Möglichkeiten einer neuen Weltverfassung den Blick gegenüber der rechtlichen Vergangenheit und Gegenwart besonders schärfen." A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. IX.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
tragsrecht"832. Nach Ansicht von Verdross ist jedoch die Vertragsform in Verbindung mit den Staatsverfassungen insbesondere aufgrund des Revolutionsarguments nicht fähig, die Grundlage für das gesamte Völkerrecht zu sein. 833 Demnach muß es nach Ansicht von Verdross mindestens einen Völkerrechtssatz geben, der den Staatsverfassungen übergeordnet ist, um die Geltung des Völkerrechts beständig zu sichern. 834 Verdross fordert demnach, daß diese völkerrechtliche Geltungsgrundlage nicht von den Staaten erzeugt wird, sondern vorauszusetzen ist. Ganz offensichtlich legt Verdross bei dieser Argumentation bereits den von Adolf Merkl entwickelten Stufenaufbau der Rechtsordnungen sowie die von Kelsen vertretene Grundnormkonzeption zugrunde. 835 Genauso, wie die staatlichen Rechtssätze ihre Grundlage in der Staatsverfassung finden, ist die Geltungsgrundlage und Einheit der Völkerrechtssätze durch ihre Zurückführung auf einen Komplex von bestimmten Rechtsnormen gewährleistet. Im Sinne von Verdross stellen diese die "Völkerrechtsverfassung"836 dar, welche als ein Gefüge von Rechtssätzen "die Bedingung aller übrigen ist, ohne selbst von ihnen bedingt zu sein"837. Mit diesem Gedankenaufbau unter832 A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 103. 833 Vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 101-104. Als gedankliche Grundlage dieser Erkenntnisse gibt er die Thesen von Johann Jacob Moser und William Blackstone an; vgl. S.98-101. 834 Für die Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Verträge nach einem möglichen Verfassungsuntergang ist nach Meinung von Alfred Verdross folgender übergeordneter Völkerrechtsgrundsatz ausschlaggebend: "Die auf Grund einer bestimmten Staatsverfassung abgeschlossenen Staatsverträge bleiben auch nach Setzung einer neuen revolutionären Verfassung grundsätzlich aufrecht." A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 105. Gustav Walz lehnt das Revolutionsargument grundSätzlich ab, weil seiner Ansicht nach in der rechtsgeschichtlichen Wirklichkeit große Teile des öffentlichen Rechts bei einer Verfassungsänderung erfahrungsgemäß unberührt bleiben. Fernerhin sieht er es nicht als zwingend an, daß die von Verdross geforderte Norm nicht von den Staaten erzeugt werden darf und dem Völkerrecht angehören muß. Es genügt seiner Meinung nach die Schlußfolgerung, "daß man, um die Kontinuität zu wahren, eine Stufe über die provisorisch angenommene verfassungsmäßige Ursprungsnorm hinaufsteigen muß ... und damit die Revolution eben nur - wie das normalerweise auch der Fall ist - als ungewöhnliche teilweise Rechtsänderung konstruiert, die eben im Ausnahmefall insoweit auch als von der Ursprungsnorm delegiert anzusehen ist". Eine geeignete staatliche Norm ist für ihn der Satz ..pacta sunt servanda", der auch im revolutionären Staat gilt. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 110-111, vgl. S. 107-108. Diesen Grundsatz lehnt Verdross jedoch ausdrücklich als alleinige Grundnorm ab; vgl. A. Verdross, Grundlagen und Grundlegungen des Völkerrechts - Ein Beitrag zu den Hypothesen des Völkerrechtspositivismus, S. 84. 835 Vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S.58-59 und S.130, Fußnote 1; A. Verdross, Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten, S. 42. Wahrend er sich im Rahmen seiner Argumentationen offen und unmittelbar auf Adolf Merkl bezieht, geht er an den entscheidenden Stellen nicht explizit auf die Grundnormlehre Hans Kelsens ein, obwohl er doch die vorauszusetzende und nicht von den Staaten zu schaffende Norm unzweifelhaft als Ursprungsnorm entwirft; siehe dazu auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 105 und S.112. 836 A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 59.
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nimmt Verdross den Versuch, die staatlichen Rechtsordnungen auf einem Gefüge aus übergeordneten positiven Völkerrechtssätzen zu begründen. 838 Zu diesem überstaatlichen Rechtskreis, der durch revolutionäre Verfassungsänderungen nicht berührt werden kann und der für die inhaltliche Bestimmung aller weiteren Völkerrechts sätze verantwortlich ist, zählt Verdross primär den völkerrechtlichen Vertrag und die völkerrechtliche Gewohnheit. Als eine subsidiäre Rechtsquelle nennt er die internationale Gerechtigkeit, wie sie zum Beispiel in den Grundsätzen der "bona fides" oder der "res iudicata" zum Ausdruck kommen,839 die sich dann einschalten, wenn noch keine vertragliche oder gewohnheitsrechtliehe Regelung bestehet. 840 An die Spitze des Weltrechtssystems stellt Verdross somit drei selbständig nebeneinander bestehende und sich ergänzende Völkerrechtsquellen, die als Völkerrechtsverfassung an die Stelle des Grundnonnprinzips treten. 841 Zur korrekten, vollständigen Realisierung der Verfahren der Völkerrechtsverfassung müssen jedoch die Staatsverfassungen hinzugezogen werden, welche die zur Festlegung der Rechtsetzungsverfahren berechtigten staatlichen Organe bestim837 "Vor allem kann die Einheit jedes Rechtssystems einzig und allein durch einen oder mehrere Rechtssätze hergestellt werden, die die Spitze der Rechtspyramide bilden .... Als Völkerrechtsverfassung wird dann jener Rechtssatz oder jener Komplex von Rechtssätzen zu bezeichnen sein, der die Bedingung aller übrigen ist, ohne selbst von ihnen bedingt zu sein. Zur Begründung der Einheit des Völkerrechts ist also nicht nach dem Analogon eines Gesetzgebers, sondern nach dem Analogon einer ,Staatsverfassung' zu fahnden." A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 58-59; siehe auch A. Verdross, Völkerrecht und einheitliches Rechtssystem - Kritische Studie zu den Völkerrechtstheorien von Max Wenzel, Hans Kelsen und Fritz Sander, S.412. Auf die in seiner Habilitationsschrift geäußerte These, daß das internationale Rechtsbewußtsein die Erzeugungsgrundlage dieser vorauszusetzenden Norm sei, geht er nun allerdings nicht mehr ein; vgl. A. Verdross, Die völkerrechtswidrige Kriegshandlung und der Strafanspruch der Staaten, S.42. 838 Vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 2; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 122; w. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 222. Nach Ansicht von Walter Rudolfist dieser Versuch gescheitert, weil diese obersten Rechtssätze lediglich aufgrund einer rechtslogischen Annahme bestehen; vgl. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 136. 839 Dazu E. Mock, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie durch Alfred Verdross, S.12-13. 840 Vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 105-126. 841 Während er zu Beginn der Entwicklung des Revolutionsarguments nur eine Ursprungsnorm forderte, gelangt Alfred Verdross bald zur Auffassung, daß nur ein Komplex verschiedenartiger Völkerrechtsquellen das übrige positive Völkerrecht begründen kann; so erstmals in A. Verdross, Grundlagen und Grundlegungen des Völkerrechts - Ein Beitrag zu den Hypothesen des Völkerrechtspositivismus, S. 84-90; dann auch in A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 59, Fußnote 2 und A. Verdross, Völkerrecht und einheitliches Rechtssystem - Kritische Studie zu den Völkerrechtstheorien von Max Wenzel, Hans Kelsen und Fritz Sander, S.412, Fußnote 13. Gustav Walz kritisiert diese Wendung als "pluralistische Ursprungsnomentheorie", weil die Vereinigung zum Begriff der Völkerrechtsverfassung für ihn ein rein begriffliches Konstrukt ist, so daß die drei genannten Rechtsquellen unvermittelt und uneinheitlich nebeneinander stehen; siehe G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 122.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
men. 842 Durch die genannten Verfahren der Völkerrechts verfassung erfolgt zugleich eine Abgrenzung der Kompetenzbereiche der Staaten, so daß für Verdross die Völkerrechtsverfassung deshalb mittelbar die Verfassung jener Staatsrechts ordnungen ist, die das Völkerrecht anerkennen. Er entwickelt auf diese Weise die Völkerrechtsverfassung zur "Verfassung des einheitlichen Systems"843 aller geltenden Rechtssätze. 844 In diesem Sinne versteht Verdross unter der staatlichen Souveränität das Maß der rechtlichen Kompetenz, die den Staaten durch das Völkerrecht vermittelt wird. Die staatliche Souveränität ist für Verdross deshalb gleichzusetzen mit dem Begriff der "unmittelbaren Völkerrechtsunterworfenheit"845. In Anlehnung an die Merklsehe Lehre vom Stufenaufbau löst Verdross demnach das Völkerrechtssystem in Schichten auf, die aus verschiedenen Rechtssätzen mit unterschiedlichem Rechtsrang bestehen. 846 In dieser Konstruktion ist nur die Völkerrechtsverfassung den staatlichen Rechtsordnungen übergelagert; alle anderen völkerrechtlichen Normen werden unter Einschaltung der staatlichen Rechtsordnungen gesetzt. Verdross schließt daraus den untergeordneten Rang dieser zweiten Gruppe der Völkerrechtssätze: "Zwischen die Völkerrechtsverfassung und die übrigen Völkerrechtssätze schieben sich daher jedenfalls die Staatsverfassungen ein."847 Im Gegensatz zu Hans Kelsen kommt Verdross zu dem Schluß, daß nicht dem ganzen Völkerrechtssystem, sondern ausschließlich den obersten Völkerrechtssätzen der Primat zukommen kann, weil nur diese rangmäßig über den einzelstaatlichen Rechtsordnungen stehen können. Eine Unterscheidung zwischen völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Rechtssätzen wird entsprechend ihrer Rechtsinhalte getroffen. In der Tat ist es dann eine konsequente Schlußfolgerung, daß sich für Verdross eine Wahlmöglichkeit zwischen dem Primat des staatlichen Rechts und dem Primat des Völkerrechts nicht stellt. 848 Dennoch könnte man von einem "differenzierten Völ842 Vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 126-127. 843 A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 127. 844 Eine Einordnung der Rechtssätze in Völkerrecht und staatliches Recht ist von ihrem Rechtsinhalt abhängig; so gehören Normen, welche die Beziehungen zwischen den Staaten regeln, zur Gruppe der völkerrechtlichen Normen; vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 129. 845 A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 35; vgl. B. Simma, Der Beitrag von Alfred Verdross zur Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft, S. 30-31. 846 V gl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 130-133; siehe dazu auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 108. 847 A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 134. Die unter Mitwirkung der staatlichen Organe und Verfahren gebildeten Rechtssätze können allerdings nicht auf die gleiche Weise wie die einzelstaatlichen Normen verändert oder außer Kraft gesetzt werden; denn dazu ist die Einigung der Staatengemeinschaft erforderlich (v gl. S. 135). 848 "Es ist daher sowohl der Primat des Völkerrechts, wie auch der des staatlichen Rechts abzulehnen. Denn weder ist das ganze Völkerrecht in den Bau des staatlichen Rechts eingeglie-
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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kerrechtsprimat" im Rahmen des einheitlichen Weltbildes sprechen. Die Einheitlichkeit dieses universalen Rechtssystems begründet Verdross darüber hinausgehend als Resultat der geschichtlichen Entwicklung der Staaten beziehungen, womit er die Erfassung der Rechtswirklichkeit als die wesentliche Grundlage seiner Rechtskonstruktion herausstellt. 849 b) Der Grundsatz "paeta sunt servanda" als Grundnorm Die Einheit im Rechtssystem kann durch mögliche Widersprüche zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht nicht gestört werden; denn völkerrechtliche Regeln zur Streitbeseitigung bedingen lediglich eine vorläufige Geltung völkerrechtswidriger staatlicher Rechtssätze. 850 Auch in der 1926 erschienenen "Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft"851 bestärkt Verdross erneut diese These: "Einerseits nämlich begrenzt das Völkerrecht das freie Ermessen der Staaten, indem es ihnen in einer bestimmten, wenngleich sehr umfassenden Sphäre Rechtskompetenz einräumt, andererseits aber sind die völkerrechtswidrigen, also kompetenzwidrigen Staatsakte keineswegs nichtig, sondern bloß im völkerrechtlichen Streiterledigungsverfahren ... anfechtbar. Sie sind also trotz ihrer Völkerrechtswidrigkeit so lange gültig, bis sie von der staatsrechtlich zuständigen Stelle behoben werden."852
Andererseits setzt Verdross in diesem Werk den Anfangspunkt einer entscheidenden Wendung hin zu einer verstärkten Fokussierung auf die Rechtserfahrung und auf den ethischen Wertebereich, indem er insbesondere seine Ursprungsnormenlehre eidert, noch auch ist es über diesem gelagert." A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 134, siehe auch S. 84. 849 "Ist nämlich einmal erkannt, daß das Recht der modemen Staaten keine in sich geschlossene Monade bildet, sondern über sich hinaus weist, in dem es sich durch ,Bekenntnis' zum Völkerrecht an einen über ihm stehenden Rechtskreis anrankt, durch dessen Vermittlung aber gleichzeitig mit den übrigen staatlichen Rechtskomplexen in Verbindung tritt, so ist damit das einheitliche Rechtssystem im Grundriß entworfen. Statt aber der Parole des Vaters des völkerrechtlichen Positivismus zu folgen, hat der herrschende Positivismus diesen zu übertrumpfen geglaubt, indem er vor der Willenslehre kapituliert hat. Ja der Gedanke, daß alles Recht im ,Staatswillen' zu fundieren sei, wurde geradezu als der Triumph der positivistischen Methode gepriesen. Durch die Einschaltung des ,Staatswillens' wurde aber die gerade aufdämmende Einsicht in die rechtssatzmäßige Verwobenheit des staatlichen Rechtes mit dem Völkerrechte gewaltsam verschüttet." A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S.IOI-102; siehe auch S. 135-139. 850 Vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 162-169; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. III. 2. c). 851 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926. Obwohl er in der "Einheit des rechtlichen Weltbildes" die begriffliche Verwendung des Völkerrechtsprimats ablehnte, anerkennt er nun die Bezeichnung "Primat des Völkerrechts", sofern darunter der Vorrang des "Völkerrechts im engeren Sinne", d.h. der Völkerrechtsverfassung, verstanden wird (vgl. S.47). 852 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 37.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
ner erneuten Revision unterzieht. Ausgehend von der Methode des Delegationszusammenhangs 853 sieht Verdross die Frage nach der Geltung und Einheit des Völkerrechts mit der Existenz einer Grundnorm beantwortet, die als eine höchste Norm oder ein höchstes Normengefüge den direkten oder mittelbaren Geltungsgrund aller weiteren Völkerrechtsnormen darstellt. 854 Ist auf diesem Weg die einheitliche Ordnung gewährleistet, so ist für Verdross auch die Einheitlichkeit der gesamten Völkerrechtsgemeinschaft gegeben. 855 Wesentliche Voraussetzung für die Geltungsbegründung der Völkerrechtsordnung ist damit die Zurückführung aller positiven Rechtssätze auf die Ursprungs- oder Grundnorm. Jedoch soll nun kein Komplex aus drei verschiedenen Ursprungsnormen, sondern nur noch eine oberste Norm die Einheit der Völkerrechtsgemeinschaft begründen. Für die weitere Entwicklung seiner Rechtsordnungskonstruktion ist die von Verdross aufgeworfene Frage nach dem Charakter der Grundnorm entscheidend. Seiner Meinung nach kann die gesuchte Grundnorm keine subjektive Hypothese sein, "die das wissenschaftliche Denken spontan setzt, um den Gegenstand ,Recht' zu erzeugen"856. Mit dieser Kritik lehnt Verdross die hypotheti853 "Diese Beziehungen zwischen dem Völkerrechte und dem staatlichen Rechte können aber nur Delegationsbeziehungen sein, da ... jeder rechtliche Normen-Zusammenhang ein Delegationszusammenhang ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer monistischen, Völkerrecht und Staatsrecht einheitlich umfassenden Konstruktion, die den zwischen dem Völkerrechte und dem staatlichen Rechte bestehenden Verweisungszusammenhang aufdeckt." A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.15, vgl. S.II-12; Gustav Walz sieht die Figur des Delegationszusammenhangs jedoch als unvereinbar mit der Rechtswirklichkeit, vgl. dazu auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.128-130. 854 "Bloß der Bestand einer solchen Grundnorm, die die normative Grundlage für alle übrigen Völkerrechtssätze liefert, vermag die Einheitlichkeit des Völkerrechts zu verbürgen, da die Einheitlichkeit jedes Normensystems nur dadurch möglich ist, daß alle seine Normen aus einern einheitlichen Brennpunkte ausstrahlen, über den und durch den sie zusammenhängen. Das Problem der Einheitlichkeit des Völkerrechtes steht und fällt daher mit dem Problem der völkerrechtlichen Grundnorm." A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.12, vgl. S. 11-12. 855 In enger Anlehnung an Othmar Spann entwickelt Alfred Verdross die These, daß kein unmittelbares Verhältnis zwischen den einzelnen Rechtsgemeinschaften bestehen kann, sondern daß ihre Verbindung nur als Glieder eines Ganzen, d. h. einer höheren Rechtsgemeinschaft, hergestellt werden kann. Die Glieder untereinander können gleichgeordnet sein oder unterschiedlichen Rang besitzen: "Daher ist die Völkerrechtsgemeinschaft die alle positiv-rechtlichen Gemeinschaften überspannende Rechtseinheit, die, gleich einer Kuppel, den ganzen großen Rechtsbau überwölbt." A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.9, vgl. S. 7-9. Indern Verdross in der Völkerrechtsgemeinschaft diese ursprüngliche übergeordnete Einheit erkennt, greift er die Gedanken von Francisco de Victoria und Francisco Suarez erneut auf. Beide hatten die Staatengemeinschaft als logisch erste Einheit gedeutet, die sich in die staatlichen Gemeinschaften zergliedert; dazu 2. Teil, 2. Kap. I. Die von Max Wenzel vertretene These, daß erst eine zentrale Instanz die Einheit der Rechtsordnung erzielen kann, läßt Verdross nicht gelten, weil der Rechtsinstanz immer ein Rechtssatz vorausgeht; nur wenn ein solcher vorausgesetzt wird, kann die Einheit des Rechtssystems erreicht werden; vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 9-11 und S. 39; M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, 1920, S. 397-398. 856 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 22.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
235
sche Grundnormlehre Hans Kelsens ab. 857 Statt dessen fordert er einen absoluten Wert, der eine - von der gedanklichen Setzung subjektiver Annahmen unabhängige - Grundlegung des positiven Rechts ermöglicht. 858 Demnach soll die Grundnorm im objektiven Wertebereich angesiedelt werden: "Ist aber die Grundnorm nicht nur vorläufig für den Juristen, sondern auch für den Rechtsphilosophen endgültig eine bloße Setzung des Denkens, nichts als eine wissenschaftliche Ursprungshypothese, die als solche keinen objektiven Bestand hat, dann kann zwar mit ihrer Hilfe eine positive Rechtsordnung als gesollt angenommen werden, als gesollt fingiert, niemals aber die objektive Geltung dieser Ordnung erkannt werden. Das ist nur möglich, wenn die Grundnorm als objektive Norm, als objektiver Wert erfaßt wird, die das Denken erkennend vorfindet, die also unabhängig davon gilt, ob sie das Denken setzt oder nicht setzt, erkennt oder verkennt. Soll demnach dem positiven Rechte objektive Geltung zukommen, dann muß es durch seine Grundnorm im objektiven Reiche der Werte verankert werden."859
Verdross hat durch die "Objektivierung der Grundnorm" die entscheidende Änderung seiner Völkerrechtskonzeption vollzogen, die bis damals stark durch den subjektiven Positivismus der Kelsenschen Rechtslehre geprägt war. Anders als Kelsen sieht Verdross die Grundnorm nicht mehr als Grenzpunkt der juristischen Grundlegung. Mit der Zurückführung der positiven Rechtssätze auf nur einen absoluten Wert deutet er seine Wendung zur naturrechtlichen Begründung des Völkerrechts an. 86O Seine Wahl fällt dabei auf die Regel "pacta sunt servanda", die als völkerrechtliche Grundnorm die internationale Rechtsgemeinschaft entstehen läßt. 861 857 V gl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 21-23; Gustav Walz vertritt die These, daß Alfred Verdross die Schwächen der Grundnormlehre Hans Kelsens erkannte und deshalb das Wesen der Grundnorm weiterentwickelte: "Das bedeutet aber die Aufgabe der kritischen Transzendentallogik zugunsten einer echt emanatistischen Logik von metaphysischer Objektivität, nach deren Prinzip der oberste absolute Wert in stetiger stufenförmiger Konkretion die übrigen nachgeordneten Teilwerte entläßt und ,positiviert'." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 123, vgl. S. 122-123. 858 Anders dagegen J. Kunz, Die definitive Formulierung der Reinen Rechtslehre, S. 385. 859 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.23 (Hervorhebungen im Original). Die Frage nach dem Ursprung des Rechts kann demnach grundsätzlich unter dem Blickwinkel des subjektiven oder objektiven Idealismus betrachtet werden. Wahrend man bei der ersten Alternative davon ausgeht, daß "die Vernunft die Gegenstände durch ihre Kategorien erzeugt oder formt", wird im zweiten Fall angenommen, daß "das Denken die kategorial geformten Sachverhalte schon vorfindet" (S. 22). 860 "Die Staaten sind also schon von allem Anfang an potentielle Glieder der Staatengemeinschaft; sie vermögen nicht mehr, als diese zur aktuellen auszugestalten, indem sie auf Grund der Norm ,pacta sunt servanda' Vereinbarungen abschließen. Es ist daher zwischen der durch die Grundnorm gestifteten Staatengemeinschaft und der Verknüpfung der Staaten durch positive Völkerrechtsnormen zu unterscheiden." A. Verdross, Grundlagen und Grundlegungen des Völkerrechts - Ein Beitrag zu den Hypothesen des Völkerrechtspositivismus, S.128. Mit dieser These nimmt Alfred Verdross zugleich an, daß die Bedingungen für das Bestehen der V6lkerrechtsgemeinschaftjederzeit gegeben waren; siehe dazu auch W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 228-229. 861 "Diese Norm ,paeta sunt servanda', nicht der einzelne Wille des Staates, noch auch ihr Gemeinwille, ist die letzte Grundlage, der letzte Geltungsgrund des V6Ikerrechts." A. Verdross,
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Als Grundnorm qualifiziert sie sich nach Meinung von Verdross sowohl wegen ihres absoluten und zugleich ethischen Charakters als auch aufgrund der Erfahrungen der Staatenpraxis. 862 Weil Verdross nun das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht "im Sinne der klassischen Völkerrechtslehre"863 als stillschweigenden Vertrag anerkennt, ist der Satz "pacta sunt servanda" nicht nur unmittelbare Geltungsgrundlage für völkerrechtliche Verträge, sondern auch für das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht. 864 Als dritte Rechtsquelle, die Verdross direkt im Gewohnheitsrecht begründet sieht und seiner Meinung nach mittelbar in der Grundnorm verankert ist, nennt er die allgemeinen Rechtsgrundsätze. 865 Mit dieser einzigen Ursprungsnorm, auf die infolge des Delegationszusammenhangs die Geltung des Völkerrechts und der Staatsrechtsordnungen zurückzuführen ist, hat Verdross sein Ziel des Monismus besiegelt. Aufgrund des Revolutionsarguments 866 kann die Grundlegung des Völkerrechts nur mit einer Grundnorm, die über das staatliche Recht hinausgeht, erzielt werden. Dann sind es folglich die Staatsrechtsordnungen, die von der völkerrechtlichen Grundnorm delegiert werden. Insofern sieht Verdross das Völkerrecht - und dabei bezieht er sich auch auf die Lehre Heinrich Triepels 867 - als überstaatliches Recht, und zwar in dem Sinne, "daß die Grundlagen und Grundlegungen des Völkerrechts - Ein Beitrag zu den Hypothesen des Völkerrechtspositivismus, S.29, vgl. S.12 und S.28-33. 862 "Cette regle ,pacta sunt servanda' n' est donc pas seulement une simple norme juridique, elle est egalement une regle ethique, c'est-a-dire une valeur evidente ou qui se degage logiquement d'une regle absolue, par exemple de la norme ,suum cuique'." A. Verdross, Le fondement du droit international, S. 286; vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 23, S. 3 und S. 32. 863 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.29. 864 Vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.42-63. Kritisch merkt Gustav Walz an, daß es nicht zu verstehen ist, warum Alfred Verdross den völkerrechtlichen Vertrag und das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht als Rechtsquellen auswählt und Verträge zwischen Individuen außen vor läßt; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.125-126. 865 "Daß die Norm ,pacta sunt servanda' die völkerrechtliche Grundnorm bildet, wird auch durch die Erfahrung der Staatenpraxis bezeugt. Der ganze völkerrechtliche Verkehr geht von dieser Grundnorm aus, baut auf dieser Grundlage auf, da jede ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung der Staaten schon die Grundnorm ,pacta sunt servanda' voraussetzt, nur unter dieser Voraussetzung sinnvoll ist. Legt aber jede Vereinbarung diese Norm zugrunde, dann kann sie nicht selbst durch ein zwischenstaatliches Übereinkommen gesetzt worden sein." A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 32, vgl. S.42-63, insbesondere S.59. 866 Für Alfred Verdross ist dieses Argument weiterhin ausschlaggebend für die Ablehnung des Primats des staatlichen Rechts; vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 16-20. 867 Bereits in der Triepelschen Lehre wurde die Überordnung des Völkerrechts anerkannt; vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 258; dazu auch 4. Teil, I. Kap. 1.4. und 6. Wie bereits angedeutet, führt für Alfred Verdross die Lehre vom Gemeinwillen zwangsläufig zur Anerkennung des Völkerrechtsprimats, indem anerkannt wird, daß der staatliche Gemeinwille selbst auch auf einen Geltungsgrund zurückgeführt werden muß; vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 20-21 und S. 33-35.
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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staatlichen Ordnungen Ausgliederungen der Völkerrechtsordnung sind"868. In rechtlicher Hinsicht ist die staatliche Existenz allein auf das Völkerrecht, das heißt auf die völkerrechtliche Grundnorm, zurückzuführen. 869 Den Staaten verbleibt demnach eine relative Selbständigkeit; denn nach Verdross ist die staatliche Freiheit "nichts anderes als eine den Staaten vom Völkerrechte zugestandene Sphäre freien Ermessens"870. Auch wenn den positiven Völkerrechts sätzen seit dem Beginn des Staatenverkehrs der Primat zukommt, bleibt das staatliche Eigenleben erhalten: 871 "Die Unterwerfung der Staaten unter das positive Völkerrecht bedeutet aber, daß die Staaten auch positiv-rechtlich als unbedingt selbständige Rechtsgemeinschaften untergehen, sich in die VÖlkerrechtsordnung eingliedern, um sich aus ihr als verhältnismäßig selbständige völkerrechtliche Teilordnungen wieder auszugliedern."872
Mit dieser monistischen Konstruktion versucht Verdross die Trennung des Rechts in eine Vielzahl staatlicher Rechtsordnungen - wie sie noch in der Lehre Hans Kelsens vorzufinden war - aufzuheben. Sein einheitliches Weltbild wird bekräftigt, indem Verdross das enge Zusammenwirken der staatlichen und völkerrechtlichen Gemeinschaften klar herausstellt. Nach wie vor sieht er das Völkerrecht nur durch die Staaten verwirklicht, indem jene die notwendigen Organe zur Ausgestaltung des völkerrechtlichen Vertrags- und Gewohnheitsrechts zur Verfügung stellen. Demnach werden zusammenwirkende staatliche Organe zu unmittelbaren Organen des Völkerrechts, welche von der völkerrechtlichen Grundnorm über das Zwischenglied der staatlichen Rechtsordnungen zur Setzung der positiven Völkerrechtsnormen berufen werden. 873 Die wertphilosophische Grundlegung des Völkerrechts durch Verdross liegt in der aristotelisch-thomasischen und christlichen Erkenntnislehre über die Einheitlichkeit der Rechtswirklichkeit begründet. 874 Diese hatte bereits auf die erstmalige Darstel868 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 34. 869 Der rechtslogische Vorrang des Völkerrechts ist jedoch nach Ansicht von Alfred Verdross nicht gleichzusetzen mit der Annahme, daß sich die Staatsrechtsordnungen innerhalb der geschichtlichen Entwicklung aus der Völkerrechtsordnung herausgebildet haben; vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.40. 870 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 35, vgl. S.4l. 871 Vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.40-4l. 872 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.40 (Hervorhebungen im Original). 873 Vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.41 und S.48-49. Durch diese Erkenntnisse sieht sich Alfred Verdross nun in der unwiderruflichen Ablehnung der dualistischen Rechtsordnungskonstruktion bestärkt (v gl. S.42). 874 "Man betrachtet das positive Recht nun nicht mehr hypothetisch verbindlich, wenn die vom juristischen Denken eingeführte Grundnorm ihm zu gehorchen gebietet, sondern es wird deshalb als verbindlich angenommen, weil es bestimmte, objektive Werte verwirklicht." A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, in: Rechtsfragen der internationalen Organisation, Festschrift für Hans Wehberg zu seinem 70. Geburtstag, hrsg. von Walter SchätzellHans-Jürgen Schlochauer, 1956, S. 385-394, hier S. 386-387. In seiner Abkehr vom Neukantianismus und seiner Hinwendung zur aristotelisch-thomasischen Erkenntnislehre ha-
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
lung der Völkerrechtslehre durch Francisco Suarez und Hugo Grotius entscheidenden Einfluß. 875 Auch Verdross kommt zu der Erkenntnis, daß weder der Rechtspositivismus an sich noch eine wissenschaftliche Hypothese die Grundlage der positiven Rechtssätze sein kann, sondern nur eine objektiv gültige Norm die Grundlegung des Völkerrechts sichern kann. 876 Dennoch liegt in der Grundnorm "pacta sunt servanda" noch eine verbleibende Anerkennung des Rechtspositivismus. 877 Als Geltungsursprung der völkerrechtlichen und staatlichen Rechtssätze deutet Verdross diesen Grundsatz zwar als ethisches Prinzip. Gleichermaßen ist der Satz "pacta sunt servanda" - auch nach Ansicht von Verdross - Bestandteil des positiven Rechts, der von der Staatenpraxis anerkannt wird. Sein Charakter ist also zweifacher Natur. 878 ben ihn die Arbeiten von Joseph Geyser, Edmund Husserl und Nicolai Hartmann bestärkt; vgl. E. M ock, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie durch Alfred Verdross, S. 15-19; A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 388. 875 Beide Rechtswissenschaftler hatten sich schon mit der Frage nach der Geltungsgrundlage des Völkerrechts beschäftigt; Francisco Suarez fokussiert dabei eine eher naturrechtliche Begründung der positiven Rechtssätze, verbunden mit einer exakten begrifflichen und inhaltlichen Trennung zwischen Naturrecht und positivem Recht, während Hugo Grotius beide Rechtsarten als Völkerrechtsquellen zuläßt und ihre Vermengung bejaht. Während in der Lehre von Suarez der Grundsatz "pacta sunt servanda" als naturrechtliche Geltungsgrundlage nur angedeutet wird, spielt er bei Grotius die entscheidende Rolle; vgl. A. Verdross, Der Beitrag der christlichen Naturrechtslehre zum Primat des Völkerrechts, in: Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, hrsg. von Adolf Merkl/Alfred Verdross/Rene Marcic/Robert Walter, 1971, S.276-284; A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 26-28 und S. 41; dazu auch 2. Teil, 2. Kap. I. und 11. 876 "Erst im Urgrunde des Kosmos ist aber ein fester und endgültiger Ausgangspunkt gegeben, während alle anderen hypothetisch angenommenen Ausgangspunkte nur vorläufige Haltestellen bilden, die im weiteren Erkenntnisverfahren in ihrer Eigenschaft als Ausgangspunkte wieder aufgehoben werden müssen. So kann auch die Selbständigkeit und Geschlossenheit des positiven Rechts nur eine verhältnismäßige, relative, keine unbedingte, absolute sein, da sich auch dieser Kulturbereich in die allumfassende Ordnung des Kosmos einfügen muß." A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 32, vgl. S. 29-32 und S.41; A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 386-387. 877 Vgl. S. Verosta, Alfred Verdross - Leben und Werk, S. 16-18. 878 Vgl. A. Verdross, Le fondement du droit international, S.285-286. Die doppelte Bedeutung erachtet Gustav Walz dagegen für "schlechthin unmöglich"; weil Alfred Verdross dem positiven Recht "une valeur relative" zukommen läßt, kann der Satz "pacta sunt servanda" laut Walz nicht gleichzeitig - auch nicht teilweise - einen absoluten Wert besitzen. Für ihn kann dieser Grundsatz keinesfalls eine selbständige Rechtsnorm sein, weil er inhärent mit den Tatbeständen der positiven Verträge verbunden ist; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 125-128; siehe auch J. Kunz, The changing law of nations, S. 366. Eine generell ablehnende Haltung zur Grundnormlehre - egal ob sie im Sinne einer hypothetischen oder absolut-objektiven Ursprungsnorm konzipiert wird - ist darüber hinaus auch in folgenden Werken zu finden: F. Sander, Rechtsdogmatik oder Theorie der Rechtserfahrung? Kritische Studie zur Rechtslehre Hans Kelsens, S.511-513 und S.615-616; H. Triepel, Les rapports entre le droit interne et le droit international, S. 87; C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S.69-71; H. Heller, Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, 1927, S. 55 und S. 132; G. Husser!, Rechtskraft und Rechtsgeltung, Band 1, 1925, S.39; K. Wolff, Grundlehre des Sollens, 1924, S. 142 und S. 193; M. Wenzel, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: VVDStRL, Band 4, 1928, S.136-167, hierS.157; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. II.3.h).
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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c) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Kern der natürlichen Einheit des rechtlichen Weltbildes Seine endgültige Entwicklung hin zu einer naturrechtlichen Werterkenntnis führt Verdross auf das Wesen der Menschen zurück, in deren Wesen es liege, in einer sozialen Gemeinschaft zu leben. Es erscheint ihm möglich, aus den unentbehrlichen Zielen der menschlichen Natur allgemeingültige Grundsätze zu ergründen. Die Wahl der Grundnorm sorgt für die Gewährleistung dieser grundlegenden Werte im gemeinschaftlichen Leben. 879 Solche Werte stellen für Verdross Ruhe, Ordnung und Sicherheit dar, so daß sich jede Rechtsordnung im Sinne einer "Friedensordnung"880 entwickele. Der "Friedenswert"881 der Rechtsordnung ist vielschichtig; denn er umfaßt nicht nur Ruhe, Sicherheit und Ordnung, sondern schließt all jene objektiven Werte ein, die ein "harmonischesZusammenleben"882 in der Gemeinschaft erzielen. 883 Die Werte eines so verstandenen Naturrechts drücken sich in Form der allgemeinen Rechtssätze aus und sind sowohl Entwicklungsgrundlage als auch objektiver Maßstab für das positive Recht. 884 Das positive Recht ist demnach nur deshalb verbindlich, weil es gewisse objektive Werte realisiert. 885 Für Verdross stellen die allgemeinen Rechtsgrundsätze somit "die Brücke zwischen dem reinen Naturrecht und dem reinen positiven Recht"886 dar. Obgleich Verdross zunächst von einem unveränderlichen Inhalt der völkerrechtlichen Geltungsgrundlage ausging, stellt er schließlich fest, daß die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Rechtsbewußtsein der Glieder der Rechtsgemeinschaft entstehen und entsprechend der zeitlichen, kulturellen und örtlichen Bedingungen unterschiedliche Prägung aufweisen können. 887 879 Vgl. A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 386 und S. 388; A.verdross, Völkerrecht, S. 18-19; E. Mock, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie durch Alfred Verdross, S. 19 und S. 21. 880 A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 386; A. Verdross, Völkerrecht, S.18. 881 A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 386; A. Verdross, Völkerrecht, S. 18. 882 A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 387; A. Verdross, Völkerrecht, S. 19. 883 So sind beispielsweise das Willkürverbot und das Gemeinwohl zu den Sätzen des Naturrechts zu zählen; vgl. E. Mock, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie durch Alfred Verdross, S. 19; A. Verdross, Völkerrecht, S. 18. Alfred Verdross nennt die objektiven Werte des Naturrechts auch "überpositive Werte"; A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 387. 884 Unter Naturrecht sind folglich die Normen zu verstehen, die der sozialen Natur der Menschen entsprechen; vgl. S. Verosta, Alfred Verdross - Leben und Werk, S. 26. 885 Vgl. A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 387; A. Verdross, Völkerrecht, S. 19. Bereits in seinem Vorwort zum Werk "Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung" deutet er seine Neigung zum "Naturrecht im ursprünglichen Sinne" an; A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. VIII. 886 A. Verdross, Völkerrecht, S. 39. 887 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 38-39.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Mit der Verankerung des positiven Rechts im Bereich der objektiven Werte überwindet Verdross den Rechtspositivismus. Es kommt zu einer endgültigen Abwendung von den Grundansichten der Kelsenschen Schule durch die Herausarbeitung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Ursprungsgrundlage des positiven Völkerrechts. 888 Verdross gelangt zu dieser Erkenntnis, weil seiner Meinung nach der Grundsatz "pacta sunt servanda" keinesfalls unbegrenzte Geltung erlangt hat, sondern schon immer "nur mit bestimmten Einschränkungen"889 anerkannt worden ist. Dabei stellen insbesondere die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine solche Begrenzung dar. 890 Damit vollzieht Verdross seine Hinwendung zum Naturrecht und es ergibt sich seine endgültige Formulierung der völkerrechtlichen Grundnorm: "Wenn daher die völkerrechtliche Grundnorm formuliert werden soll, so kann sie nur lauten, daß sich die Völkerrechtssubjekte so verhalten sollen, wie es die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die auf ihrer Grundlage erzeugten Normen des Vertragsrechts und des Gewohnheitsrechts vorschreiben."89'
In diesem Sinne ist es nach Meinung von Verdross genauer, von einem System von Rechtsgrundsätzen anstelle von einer einzigen Grundnorm zu sprechen. 892 Er stellt heraus, daß sich sowohl die Urteile der internationalen Schiedsgerichte als auch die Staatenpraxis nicht nur auf die völkerrechtlichen Verträge und das Völkergewohnheitsrecht, sondern auch auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze beziehen. 893 888 Bereits in seinem Werk "Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf der Grundlage der Völkerrechtsverfassung" hat Alfred Verdross die allgemeinen Rechtsgrundsätze - in der Form der "internationalen Gerechtigkeit" - als dritte Völkerrechtsquelle entwickelt und später in der "Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft" als Rechtsquelle bestätigt und fortentwickelt; vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf der Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S.120-125; A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 57-63; A. Verdross, Der Grundsatz "pacta sunt servanda" und die Grenze der "guten Sitten" im Völkerrecht, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht, hrsg. von Dionisio Anzilotti/Hans Kelsen/Alfred Verdross/AdolfMerkl u.a., Band XVI, 1936 (unveränderter Nachdruck 1969), S. 79-86, hier S. 80. Später weitete er diese Grundnorm zum Grundsatz der "bona lides" aus; vgl. A. Verdross, Die bona fides als Grundlage des Völkerrechts, in: Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie, Festschrift für RudolfLaun zu seinem 70. Geburtstag, 1953, S. 7-87. 889 A. Verdross, Der Grundsatz "pacta sunt servanda" und die Grenze der "guten Sitten" im Völkerrecht, S. 85-86. 890 Vgl. A. Verdross, Der Grundsatz "pacta sunt servanda" und die Grenze der "guten Sitten" im Völkerrecht, S. 80 und S. 85-86. 89l A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S.394; vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 24-25. Alfred Verdross hatte diese Gedanken zur Grundnorm bereits 1930 bzw. 1931 in zwei Aufsätzen veröffentlicht; vgl. A. Verdross, Die Rechtstheorie Hans Kelsens, Juristische Blätter, Heft 59 (1930), S.423ff.; A. Verdross, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völkerrecht, in: Gesellschaft - Staat und Recht, Festschrift zum 50. Geburtstag von Hans Kelsen, hrsg. von Alfred Verdross, 1931, S. 354-398. 892 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 25. 893 Vgl. A. Verdross, Der Grundsatz "pacta sunt servanda" und die Grenze der "guten Sitten" im Völkerrecht, S. 81; S. Verosta, Alfred Verdross - Leben und Werk, S. 19. Im Statut des Internationalen Gerichtshofs wurde die gängige staatliche und schiedsgerichtliche Praxis kodi-
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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Demnach sieht Verdross das positive Recht als ein rechtliches System, das über sich selbst hinausgehend auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze verweist und diese als geltend voraussetzt. 894 Damit stimmt also Verdross mit Hans Kelsen überein, daß mit der Grundnorm eine Grundlegung des positiven Rechts erreicht werden könne. Verdross lehnt es jedoch ab, eine hypothetische Grundnorm anzunehmen, die zudem "durch jeden beliebigen Inhalt ausgefüllt werden kann"895, wie es bei dem Satz "pacta sunt servanda" und der Grundnorm Kelsens der Fall sei. 896 Zwischen dem Wesen und der Funktion der Grundnorm von Verdross und jener Kelsens sind demzufolge grundsätzliche Unterschiede feststellbar: Die Grundnorm Kelsens stellt den Abschluß des Stufenaufbaus des Rechts dar und versieht jeden rechtslogisch darauf zurückführbaren positiven Rechtssatz mit objektiver Geltungskraft. 897 Nach Ansicht von Verdross kann jedoch eine Ursprungsnorm einer Friedensordnung, welche die willkürliche Herrschaft ablehnt, "sich nicht damit begnügen, bestimmte Menschen als normsetzende Autorität einzusetzen, sondern sie muß zugleich die Zuständigkeit dieser Autorität durch den Hinweis auf bestimmte Werte, die sie verwirklichen soll, begrenzen. Nur in diesem Rahmen kann der Gesetzgeber sittlich verbindliche Normen erlassen, da eine Grundnorm, die eine Gehorsamspflicht gegenüber willkürlichen Anordnungen vorschreibt, den menschlichen Grundwerten widerspricht."898
Aus diesem Grund ist in der "naturrechtlichen Grundnormkonzeption" von Verdross auch die inhaltliche Übereinstimmung der positiven Rechtsätze mit den naturrechtlichen Wertvorstellungen nötig. 899 Demzufolge vertritt Verdross die These, daß die allgemeinen Grundsätze und die staatlichen Rechtsgemeinschaften bereits vor der Entstehung des Völkerrechts galten; denn sowohl die gewohnheitsrechtliche Übung der Staaten als auch der zwischenstaatliche Vertrag kommen auf deren Grundlage zustande. 900 Die daraus entstehenden positiven Normen des Völkerfiziert. In Art. 38 Abs. 1 lit. c wird der Gerichtshof angewiesen, neben dem völkerrechtlichen Vertrags- und Gewohnheitsrecht auch "die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze" anzuwenden; vgl. dazu A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 380-381; A. Verdross, Völkerrecht, S. 22. 894 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 23; A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 393. 895 A. Verdross, Völkerrecht, S. 22; A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 390. 896 Vgl. S. Verosta, Alfred Verdross - Leben und Werk, S. 23; A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 390. 897 Vgl. E. M ock, Die Erschließung der materialen Rechtsphilosophie durch Alfred Verdross, S.18; R. Bindschedler, Zum Problem der Grundnorm, S. 76. 898 A. Verdross, Völkerrecht, S. 20; A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 389. 899 Mit der Setzung eines inhaltlichen Maßstabs nähert sich die Lehre von Alfred Verdross der Rechtsauffassung Georges Scelles; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S.241 und S. 248; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. I. 5. 900 "Diese, aus den eingegliederten Rechtsordnungen übernommenen Rechtsgrundsätze gelten also schon, noch bevor das Völkerrecht im Wege der Übung oder durch Staatsverträge eigene 16 Amrhein·Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
rechts bilden sich demnach "auf Grund des übereinstimmenden Rechtsbewußtseins der Völker"901. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze verlieren dennoch nicht ihre originäre Bedeutung; denn sie bilden nach wie vor die Grundlage des positivierten Rechts und schreiten dann ein, wenn noch keine positive Völkerrechtsnorm existiert. 902 Wie bereits angedeutet, regelt nach Ansicht von Verdross das staatliche Recht Rechtsbeziehungen nur in dem vom Völkerrecht vorgeschriebenen Bereich. Widersprüche zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht sind nur vorläufiger Natur. 903 In seinem Lehrbuch "Völkerrecht" bestätigt er seine Thesen zum Problem der völkerrechtswidrigen staatlichen Normen. So bekräftigt Verdross, daß den Staaten aufgrund der Ableitung ihrer Hoheitsrechte aus dem Völkerrecht ein weiter Gestaltungsspielraum und somit eine relativ selbständige Rechtsordnung zukommt. Eine radikale Durchsetzungsmöglichkeit des Völkerrechts erkennt Verdross nicht, vielmehr behält das staatliche Recht im Konfliktfall zunächst Geltungskraft. Findet der Streitfall zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht letztlich seine Auflösung in einem völkerrechtlichen Verfahren, dann setzt sich nach Ansicht von Verdross das Völkerrecht durch: "Daher siegt immer das Völkerrecht über das ihm widersprechende staatliche Recht, wenn der Streit einem Schiedsgerichte oder dem InternaNormen hervorgebracht hat. Diese Priorität ist aber nicht nur eine historische, sondern eine normative, da jede Übung bereits Grundsätze voraussetzt, die durch die Übung befolgt werden." A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 391; vgl. A.verdross, Völkerrecht, S.22; siehe dazu auch A. Verdross, Die normative Verknüpfung von Völkerrecht und Staatsrecht, in: Festschrift für Adolf Merkl zum 80. Geburtstag, hrsg. von May Imboden/Friedrich Koja/Rene Marcic/Kurt Ringhofer/Robert Walter, 1970, S. 425-438, hier S. 426-427. Anderer Auffassung ist Walter Schiffer, der die These aufstellt, daß die allgemeinen Rechtsgrundsätze erst durch die Existenz der positiven Rechtssätze erkennbar werden; vgl. W. Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 247-249. 901 A. Verdross, Völkerrecht, S. 22; A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 391. Rudolf Bindschedler beschreibt das Wesen dieser Grundnorrnkonzeption wie folgt: "Sie [die allgemeinen Rechtsgrundsätze1galten, bevor das Völkerrecht entstanden ist, da jede Übung Grundsätze voraussetzt, die durch sie befolgt werden. Sie verkörpern allgemein menschliche Werte, die die Zuständigkeit des Rechtssetzers beschränken; dieser kann nur Werte verwirklichen. Jedes Soll bildet die normative Formulierung eines Wertes; so kann das Recht nur insoweit verbindlich sein, als es sich auf Werte stützt. Die Grundnorm ist also hier eine eigent1iche Norm, und zwar wohl eine inhaltlich bestimmte, indem sie auf materielle Grundsätze und letzten Endes auf ein diesen zugrunde liegendes gemeinsames Rechtsbewußtsein der Völker verweist." R. Bindschedler, Zum Problem der Grundnorm, S.69. 902 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S.22; A. Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, S. 391-392. 903 Unter einem Widerspruch zwischen Rechtssätzen versteht Wilhelm WengIer die logische Unvereinbarkeit von der "Verwirklichung dessen, was die eine Norm gebietet, mit der Verwirklichung dessen, was die andere gebietet", so daß nicht beide gleichzeitig in vollem Maß Geltung entfalten können, d. h. regelmäßig eingehalten werden. Deshalb bezieht sich das Problem der Normenkonflikte auf gesetztes Recht und findet sich nicht bei den Gewohnheitsrechtsnormen; W. WengIer, Studien zur Lehre vom Primat des Völkerrechts, S. 377, vgl. S. 329 und S. 377-381; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. III.2. b).
3. Kap: Der völkerrechtsprimäre Monismus der Rechtsordnungen
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tionalen Gerichtshof vorgelegt wird."904 Der Vorrang des Völkerrechts bedeutet demzufolge, daß sich ein Staat nicht auf die Vorschriften seiner eigenen Rechtsordnung beziehen kann, um die Verletzung einer völkerrechtlichen Pflicht zu rechtfertigen. 905 Folgerichtig schließt Verdross daraus, "daß sich das staatliche Recht nur in jenem Rahmen unangefochten bewegen kann, den das Völkerrecht abgegrenzt hat"906 und erweitert den früher proklamierten Vorrang der Völkerrechtsverfassung auf den Primat des gesamten Völkerrechts. 907 Grundsätzlich ist also eine Existenz völkerrechtswidrigen staatlichen Rechts möglich; dennoch werden Konflikte im einheitlichen Rechtssystem aufgelöst: "Aus diesem Grund kann nur eine solche Theorie der Rechtswirklichkeit entsprechen, die zwar anerkennt, daß zwischen VR und staatlichem Recht Konflikte möglich sind, aber auch einsieht, daß diese Konflikte nicht endgültiger Natur sind, sondern in der Einheit des Rechtssystems ihre Auflösung finden. Diese Theorie nenne ich den gemäßigten oder gegliederten Monismus auf der Grundlage des Primates des VR, da diese Theorie die Verschiedenheit von VR und staatlichem Recht aufrechterhält, zugleich aber ihre Verknüpfung in einem einheitlichen Rechtssystem auf der Grundlage der Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft hervorhebt. ,,908 904 A. Verdross, Die normative Verknüpfung von Völkerrecht und Staatsrecht, S.430. Alfred Verdross stellt weiterhin die These auf, daß der Staat die Rücknahme oder Änderung eines völkerrechtswidrigen Gesetzes mit einer Repressalie einfordern kann, sofern keine schiedsgerichtliche oder gerichtliche Lösung möglich ist (vgl. S.429). In dieser Hinsicht bestehen die gleichen Bedenken, wie schon bei Hans Kelsen, weil es nicht nur an einer einheitlichen Konkretisierung und Durchführung der Völkerrechtsordnung fehlt, sondern grundsätzlich ein Verbot der Gewaltanwendung oder -androhung (Art. 2 Ziff.4 der UN-Charta) zur Durchsetzung des Völkerrechts besteht; dazu 4. Teil, 3. Kap. 11.3. a). 905 Vgl. A. Verdross, Die doppelte Bedeutung des Ausdrucks "Primat des Völkerrechts", in: Festschrift für Rudolf Bindschedler zum 65. Geburtstag, hrsg. von Emanuel Diez/Jean Monnier/Jörg P. MüllerIHeinrich Reimann/Luzius Wildhaber, 1980, S.261-267, hier S. 262. Für den Primat des Völkerrechts innerhalb der Staatengemeinschaft ist es nach Ansicht von Alfred Verdross völlig unerheblich, welche Position den Völkerrechtsregeln im innerstaatlichen Bereich zukommt (vgl. S. 266). Bezüglich der Frage, welche Stellung das Völkerrecht im innerstaatlichen Bereich innehält, vertritt Verdross - nach vielen inhaltlichen Schwankungen - die These, daß es den Staaten überlassen bleibt, die Wirksamkeit der völkerrechtlichen Regeln im innerstaatlichen Bereich zu regeln. Damit erkennt Verdross die Methode der Transformation des Völkerrechts an (v gl. S.264-266); er deutet sie jedoch nicht im Sinne einer Umwandlung einer völkerrechtlichen Norm in eine innerstaatliche Norm, sondern als "Vollziehung einer höheren Norm durch eine niedere Norm" (A. Verdross, Völkerrecht, S. 117), so daß Verdross vielmehr eine Adoption oder einen Vollzug des Völkerrechts innerhalb des einheitlichen Rechtsuniversums bevorzugt; siehe dazu auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.145-146, insbesondere Fußnote 247; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 154, insbesondere Fußnote 117. Zum Wesen der Transformations-, Vollzugs- und Adoptionslehre siehe 5. Teil, 2. Kap. I. 906 A. Verdross, Völkerrecht, S. 113. 907 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 111-122, insbesondere S. 113; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 54-55. 908 A. Verdross, Völkerrecht, S. 113-114 (Hervorhebung im Original). Als ein weiterer Anhänger des gemäßigten Monismus gilt /gnaz Seidl-Hohenveldern; vgl./. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S.141-143 und S. 147-149. Auch Hans Kelsen hat nach Meinung von Alfred Ver-
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Bei einer abschließenden Zusammenschau dieses gemäßigten Monismus ist festzustellen, daß Verdross eine einheitliche Universalordnung aufgrund der Tatsachen der Rechtserfahrung entwickelt. 909 Im Unterschied zu Hans Kelsen, für den die Konstruktion des Rechts auf der Rechtswissenschaft beruht, orientiert sich Verdross an der Rechtswirklichkeit des positiven Rechts. 910 Dennoch ist sein Rechtssystem zunächst auf einer rein rechtslogischen Begründung der Rechtsordnungen aufgebaut. Nach etlichen inhaltlichen Schwankungen seiner Lehre versteht Verdross die Grundnorm nicht mehr als eine hypothetische Norm, sondern als Norm, die im objektiven Wertebereich verankert ist, womit er zu einer naturrechtlichen Begründung seiner monistischen Rechtsordnungskonstruktion gelangt. Eine mögliche Konfliktsituation kann durch den Primat des Völkerrechts bereinigt werden. Die Staaten erscheinen in diesem System als Glieder einer umfassenden Rechtsgemeinschaft, die sich als Staatengemeinschaft organisieren, mit dem Ziel, den Frieden dauerhaft zu sichern. 911 Eine zentralisierte Weltrechtsordnung wurde von Verdross zu keinem Zeitpunkt angestrebt;912 vielmehr stellte er zunehmend das Nebeneinanderbestehen der Vielheit von Staaten innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft heraus und lehnt - auch nach seiner letzten Wendung zum reinen Naturrecht - ein überstaatliches Recht ab. 913
dross seine Auffassung im Verlauf der Entwicklung seiner Lehre an die Lehre vom gemäßigten Monismus angenähert; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.54. Was die Möglichkeit eines Konflikts betrifft, entsprechen sich die Lehren von Verdross und Kelsen, weil beide die Vernichtbarkeit der völkerrechtswidrigen Norm erkennen, nur daß sich in der Kelsensehen Lehre die Konfliktsituation bereits in ihrer Entstehungsphase auflöst; dazu 4. Teil, 3. Kap. 11.3. d). 909 Gegen eine solche Einheitlichkeit wird jedoch oftmals das Argument der gegenwärtigen Rechtswirklichkeit angebracht, die immer noch von einer nur lückenhaften Organisation der internationalen Staatengemeinschaft sowie von den detailliert geordneten Staatsrechtssystemen geprägt ist; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 135. 910 Den gleichen Ansatz wählt lose! Kunz: "Daher ist weiter die Einheit der Rechtsordnung unter dem Primat der Völkerrechtsordnung, wie ich ihn verstehe, nicht eine logische Notwendigkeit, sondern ergibt sich aus der Rechtserfahrung; dies im Gegensatz zu Kelsen, für den die Einheit der Rechtsordnung, aber gerade mit der Wahlmöglichkeit zwischen den beiden Primaten eine logische Notwendigkeit bedeutet." l. Kunz, Zur Hypothesis vom Primat des Völkerrechts, S. 13. 911 Unter diesem Blickwinkel erkennt Alfred Verdross nicht nur den Primat des Völkerrechts, sondern das Hinauswachsen des zwischenstaatlichen Rechts zu einem "Menschheitsrecht". A. Verdross, Der Beitrag der christlichen Naturrechtslehre zum Primat des Völkerrechts, S. 283. 912 Vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.41. 91J Alfred Verdross anerkennt hierbei die Erfordernis einer überstaatlichen Organisation; vgl. A. Verdross, Le fondement du droit international, S. 254; A. Verdross, Völkerrecht, S. 122-123.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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Viertes Kapitel
Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts I. Der souveräne Staatswille als völkerrechtliche Grundlage in der Rechtsauffassung Georg W. F. Hegels Insbesondere in der monistischen Rechtslehre von Alfred Verdross ist ein Bezug zur naturrechtlichen Anschauung erkennbar. Nach jener basieren die Grundlagen des Völkerrechts und des staatlichen Rechts auf den Quellen des Naturrechts: Sie ruhen auf der menschlichen Vernunft, der Sittlichkeit, dem Rechtsgefühl, der Rechtsüberzeugung, oder wie auch immer der Ursprung des Naturrechts genannt wird, woraus sich eine einheitliche Konzeption der Rechtsbereiche ergibt und Konflikte zwischen beiden Teilen ausgeschlossen - beziehungsweise aufgelöst - werden können. Mit dem naturrechtlichen Völkerrechtsbegriff war die Vorstellung eines überstaatlichen Rechts, das unabhängig vom einseitigen Willen des Einzelstaates verbindlich ist, verbunden. Ein solches Völkerrecht richtet sich nicht nur an die Staatspersonen, sondern auch an den Einzelmenschen. 914 Unter dem Einfluß des aufkommenden Positivismus wurde die naturrechtliehe Quellenlehre zurückgewiesen, die Einheit der Rechtsordnungen entzweit, ein Dualismus der Geltungsgründe für Völkerrecht und staatliches Recht entwickelt und die Individuen wurden nun als Subjekte des Völkerrechts abgelehnt. Heinrich Triepel vollzog mit seinem Werk die rechtstheoretische Begründung der dualistischen Rechtsordnungsauffassung. Die Völkerrechtswissenschaft wurde jedoch auch weiterhin von dem jahrhundertelang gereiften Begriff eines objektiv verbindlichen Völkerrechts, das über den Staaten steht und nicht vom staatlichen Einzelwillen bedingt wird, geprägt. Wie bereits verdeutlicht wurde, gewannen jene Lösungsversuche zum Verhältnis des Völkerrechts und staatlichen Rechts, die eine erkenntnismäßige Einheit allen Rechts auf einen naturrechtlich begründeten Primat des Völkerrechts zurückführten, trotz Verlust einer Dominanz der Naturrechtsauffassung an Bedeutung. 915 Der dualistischen Lehre steht jedoch nicht nur der völkerrechtsprimäre Monismus gegenüber, sondern auch die ältere monistische Rechtsauffassung mit dem Pri914 Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S.128-129. Walter Rudolfresümiert: "Aus der engen Verbindung des europäischen Völkerrechts mit dem christlichen und später dem rationalistischen Naturrecht war überhaupt nur eine Einheitskonzeption des Rechts möglich." W Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 130. 915 Bis auf Hans Kelsen, der wahlweise auch den Vorrang des staatlichen Rechts anerkennt und den Versuch unternimmt, eine positivistisch begründete einheitliche Rechtslehre zu entwerfen, bekennen sich alle bisher genannten Monisten - Wilhelm Kaufmann, Hugo Krabbe, Leon Duguit, Georges Scelle und Alfred Verdross - zum Primat des Völkerrechts. Unter Einbezug der Tatsache, daß die Lehre von W Kaufmann kurze Zeit vor dem Werk Heinrich Triepels veröffentlicht wurde, ist die monistische Lehre mit Primat des Völkerrechts im Vergleich zur dualistischen Lehre als die ältere Rechtsordnungskonzeption zu bewerten; vgl. W Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.130.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
mat des staatlichen Rechts, dessen Ursprünge sich bis Georg W. F Hegel 916 zurückverfolgen lassen. 9I7 Dessen Thesen über die staatliche Souveränität waren zu Beginn des letzten Jahrhunderts zugleich Auslöser und Eckstein der Souveränitätsauffassung der Völkerrechtswissenschaft. 918 Nach der Lehre Hegels ist das Recht nicht auf eine eigenständige Quelle zurückzuführen, sondern ist das Ergebnis des Willens. Weil im Wesen des Staates "die Wirklichkeit des substanziellen Willens"919 liegt, wird der Staatswille zur Grundlage des Rechts: "Das Volk als Staat ist der Geist in seiner substantiellen Vernünftigkeit und unmittelbaren Wirklichkeit, daher die absolute Macht auf Erden. ,,920 Das Wohl des Staates besitzt höchste Priorität. Diese Maxime stellt die staatliche Souveränität dar, so daß der einzelne Staatswille ausschließlich sein eigenes Wohl anerkennt. 921 Demzufolge entstehen die Regeln des Völkerrechts nur durch den "besonderen souveränen Willen"922 der Einzelstaaten. Damit ist das Völkerrecht im Sinne Hegels als "äußeres Staatsrecht" zu erkennen, weil es nicht auf einer übergreifenden Ordnung beruht: "Das äußere Staatsrecht geht von dem Verhältnisse selbständiger Staaten aus; was an und für sich in demselben ist, erhält daher die Form des Sollens, weil, daß es wirklich ist, auf unterschiedlichen souveränen Willen beruht."923
In dieser Formulierung liegt Hegels gedankliche Grundkonzeption der internationalen Wirklichkeit. Der "souveräne Willen" der Staaten läßt keine dem Staat übergeordnete universale Ordnung entstehen, sondern entwickelt aus jeder einzelnen staatlichen Rechtsordnung heraus einen eigenen völkerrechtlichen Normenkom916 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) studierte ab 1788 Philosophie und Theologie am Tübinger Stift. Nach seiner Habilitation im Jahr 1801 wurde er Professorin Jena (1805), Heidelberg (1816) und Berlin (1818). Seine bedeutenden Werke sind: Wissenschaft der Logik (1812-1816), Encyc\opädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817) und Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). 917 Vgl. A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S.53; G. Sperduti, Dualism and Monism: A confrontation to be overcome, in: Estudios de derecho internacional homenaje al Profesor Miaja de la Muela, Festschrift für Miaja de la Mue\a, Band 1,1979, S.459-476. Bezieht man jedoch die enge Verbindung des völkerrechtsprimären Monismus zu dem naturrechtlieh-christlichen überstaatlichen Völkerrecht von Francisco de Vitoria und Francisco Suarez mit ein, so reichen zumindest seine Ursprünge noch weiter zurück; siehe dazu auchA. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 62. 918 V gl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 4; A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 15-16. 919 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258; vgl. S.278. 920 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 331. 921 Vgl. G. w.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 278, § 336. 922 G. w.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 333. 923 G. w.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §330 (Hervorhebungen im Original). Hegel verwendet die Form des Sollens für den übereinstimmenden Willen der Staaten deshalb, weil noch keine über den Staaten stehende Ordnung in der geschichtlichen Wirklichkeit existiert und als angestrebtes, aber nicht erreichtes Ziel im unvollkommen Ausdruck des Sollens verbleiben muß; vgl. A. Trott zu Stolz, Hegels Staatsphilosophie und das Internationale Recht, 1932 (Neudruck 1967), S. 78.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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plex. Nur das Besondere, das von den Staaten ausgeht, ist als Recht zu begreifen. Ohne eine staatliche Zustimmung kann für den Staat demnach keine völkerrechtliche Berechtigung oder Verpflichtung vorliegen, so daß daraus der Vorrang des innerstaatlichen Rechts gefolgert werden kann. 924 Aus diesem Konzept der selbständigen Staatswillen ergeben sich für Hegel prinzipielle Verhältnisse zwischen den Staaten: Aufgrund des Souveränitätsdogmas stellt die gegenseitige Anerkennung der staatlichen Selbständigkeit ihre "erste absolute Berechtigung dar"925 und schafft aus dem Zustand sich gegenüberstehender Staaten ihre innere Verbindung. Ein weiterer Beziehungszusammenhang zwischen den Staaten sind die völkerrechtlichen Verträge; von Hege! als "Traktate"926 bezeichnet. Ihr Umfang und ihre Bedeutung sind für Hege! allerdings gering, weil die selbständigen Staaten seiner Ansicht nach nicht aufeinander angewiesen sind, sondern ihre ökonomische und gesellschaftliche Zufriedenheit durch sich selbst verwirklichen können. 927 Mit einer intensiven Verquickung der Staaten, wie sie sich nur einige Jahrzehnte später entwickelte, rechnete Hege! somit nicht. Dadurch, daß die Staats willen als das oberste Gesetz nur auf das Wohl des eigenen Staates achten, kann die Geltung der Traktate nur insoweit und solange bestehen, als sie diesem Anspruch genügen. 928 Da es eine übergreifende Macht aufgrund dieser besonderen Willen nicht gibt, führt ihr Widerspruch zu einer Entscheidung durch Krieg. 929 In einem solchen Fall des totalen Widerstreits der Staatswillen bleiben jedoch die gegenseitige Anerkennung und die grundlegenden sittlichen Werte erhalten, womit Hege! die zwischen den Staaten üblichen Sitten als eine weitere staatliche Grundbeziehung deutet. 930 Für Hege! zeigt sich im Staatswillen die ganze Fülle des tatsächlichen historischen Weltgeschehens sowie die aus ihrem sittlichen Wesen entstehenden staatlichen Verhältnisse. 931 Mit seiner These, daß der souveräne Staatswille nicht nur Entstehungsvoraussetzung einer völkerrechtlichen Pflicht oder Berechtigung, sondern insbesondere ihre Geltungsgrundlage darstellt, schafft Hegel das zentrale Prinzip der klassischen Völkerrechtslehre. Es wird nicht nur für jene Autoren zum Ausgangspunkt ihrer Lehre, die eine naturrechtliche Begründung des Rechts ablehnen und den Ansatzpunkt allen Rechts in der staatlichen Rechtsordnung erkennen, sonVgl. G. w.F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §333. G. W. F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 331. 926 G. W. F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 333. 927 Vgl. G. w.F. Heget, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §332. 928 Vgl. G. w.F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §336 und § 337. 929 Vgl. G. w.F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §334. 930 "Sonst beruht das gegenseitige Verhalten im Kriege (z. B. daß Gefangene gemacht werden) und was im Frieden ein Staat den Angehörigen eines anderen an Rechten für den Privatverkehr einräumt u. s. f., vornehmlich auf den Sitten der Nationen, als der inneren unter allen Verhältnissen sich erhaltenden Allgemeinheit des Betragens." G. w.F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 339. 931 Vgl. G.F. W. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §340. 924
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
dem auch für die dualistischen Lehren von Heinrich Triepel und Dionisio Anzilotti, in denen der staatliche Wille die Wurzel des Gemeinwillens ist. 932 Dennoch erreichte die Hegeische Rechtsauffassung als Ganzes keine umfassende und ausnahmslose Anerkennung, weil für die Mehrzahl der Rechtswissenschaftler die zwangsläufigen Konsequenzen seiner Lehre nicht akzeptabel waren. Stimmt man dem Ausgangspunkt der Völkerrechtslehre Hegels zu, so folgt daraus insbesondere, daß eine völkerrechtliche Norm für einen Staat nicht verbindlich sein kann, wenn sein Staatswille ihr entgegensteht. Sowohl die Gegner als auch jene, welche die Willenslehre bejahten, konnten das Prinzip "pacta sunt servanda" nicht mit der möglichen Situation einer staatlichen Willensänderung in Übereinstimmung bringen. 933 Für Hegel selbst resultierte aus der Forderung nach einer Verpflichtung zur Vertragstreue kein Problem; denn seiner Meinung nach stellte das Völkerrecht, wie das gesamte Recht an sich, eine vom Willen abgeleitete, abhängige Domäne dar. 934 11. Das Völkerrecht als Teil der innerstaatlichen Rechtsordnungen 1. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts aufgrund der staatlichen Selbstverpflichtung
Erstmals aufgegriffen wurde die Hegeische Lehre von der Staatssouveränität durch Karl Bergbohm und Georg lellinek, welche die Frage nach der völkerrechtlichen Bindung des Staatswillens mit der Lehre von der Selbstverpflichtung zu beantworten versuchten: "Vor allem erscheint die Vorstellung selbst, als werde durch die Statuierung eines Rechtes unter den Völkern ein Recht über die Völker gestellt, welches mit ihrer Freiheit, Unabhängigkeit oder Souveränität unverträglich sein müsse, unklar. Ihren eigenen Willen können sie doch unbeschadet ihrer Selbständigkeit gelten lassen? Oder müssen sie wirklich ihren eigenen Willen gerade deshalb verleugnen, weil der Wille einiger oder vieler anderer Staaten genau denselben Inhalt hat?"935
Insbesondere lellinek stellt seine Thesen unter der Annahme der Staatssouveränität auf und kommt zu dem Ergebnis, daß eine staatliche Verpflichtung nur dann besteht, wenn der Staat sich selbst verpflichtet, weil er keiner anderen Gewalt unter932 Vgl. P. Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts, S. 35-36. 933 Vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S.6-8. Für Alfred Verdross sind diese Kontroverse und die Lehre Georg w.F. Hegels auf ihre Unvereinbarkeit mit der Pflicht zur Vertragstreue zurückzuführen: "So wird die Lehre vom Staatswillen als Basis des Rechts, wenn sie zu Ende gedacht wird, dazu getrieben, entweder ihre Grundlage aufzugeben oder aber das Völkerrecht als ein die Staaten auch im Falle ihrer, Willensänderung' bindendes Recht preiszugeben. Einen anderen Ausweg gibt es nicht und kann es nicht geben, solange am Willensdogma festgehalten wird. Daher schwankt die Völkerrechtswissenschaft zwischen zwei Polen hin und her." (S. 8). 934 Dazu auch 3. Teil, 2. Kap. 935 K. Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts, S.19.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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worfen sei. 936 Sowohl Rechtserzeugung als auch Rechtsbindung liegen im Kompetenzbereich der souveränen Staaten. Ihr Wille entscheidet auch nach Abschluß eines Vertrages über seine Verbindlichkeit; denn ein Staat kann sich von einer vertraglich festgelegten Verpflichtung lösen, sofern es das selbst bestimmbare Staatsinteresse erfordert: "Dajede staatliche Verpflichtung, ihrer substantiellen Seite nach, eine Erfüllung des Staatszwecks ist, so besteht sie nur so lange, als sie diesem Zwecke genügt."937 Der Ursprung des Völkerrechts, wie allen übrigen Rechts, liegt demnach im Willen der Staaten. 938 Die Gegner der Selbstverpflichtungslehre führen dazu an, daß sie weder eine tatsächliche Völkerrechtsverbindlichkeit für die Staaten noch eine Rechtssicherheit innerhalb des Staatenverkehrs gewährleisten kann. Alfred Verdross beschreibt die Zerrissenheit der Konsequenzen der Selbstverpflichtungslehre: "Aber auch die modeme Selbstverpflichtungslehre mußte an derselben Klippe scheitern, an der schon die antike zerschellt ist. Denn auch sie wurde vor die Wahl gestellt, entweder eine einseitige Änderungsmöglichkeit des staatsvertraglich gebundenen Staatswillens zuzugeben und damit das Völkerrecht als eine objektive, die Staaten auch gegen ihren Willen bindende Ordnung preiszugeben oder aber am objektiven Völkerrechte festzuhalten, dann aber der Selbstverpflichtungslehre, einschließlich der Lehre vom Staatswillen als Grundlage allen Rechtes, zu entsagen und sich zu einer überstaatlichen Völkerrechtsgrundlage zu bekennen."939
Indem Jellinek die Selbstverpflichtung des Staates als Geltungsgrund des Völkerrechts erachtet, sieht auch er das gemeinsame Völkerrecht der Staaten als integrierten äußeren Teilbereich der innerstaatlichen Rechtsordnung, woraus der Primat der staatlichen Rechtsordnung resultiert: "Denn nur sich selbst kann der Staat sich unterordnen und nur, wenn er sich unterordnen kann, ist er imstande, sich ein Recht nach außen zu setzen."940 Damit lehnt er folgerichtig die Vorstellung einer überstaat936 Vgl. G. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, 1880. Gleicher Ansicht ist Franz Liszt, vgl. F. Liszt, Das Völkerrecht, 11. Aufl., 1918, S.6. Alfred Verdross argumentiert dagegen, daß ein Wille sich nicht selbst binden kann, sondern die völkerrechtliche Verpflichtung auf einem Gesetz beruht. Die staatliche Willenserklärung, sich an das Völkerrecht zu binden, stellt nur das Medium der Verpflichtungsbegründung dar. Daraus folgt für Verdross, "daß der, Wille' nicht die Grundlage des Völkerrechts sein kann, da er seIbst erst, wenn er ein rechtlich relevanter Wille sein soll, das Recht voraussetzt". A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 37. 937 G. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, S. 40. 938 Vgl. G. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, S. 2-3 und S. 45. 939 A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S.14. Nach Ansicht von Al!red Verdross geht die Selbstverpflichtungslehre, wie sie insbesondere von Georg Jellinek vertreten wird, nicht erst auf den Hegelsehen Begriff des "äußeren Staatsrechts" zurück, sondern hat ihre Ursprünge schon in der römischen Lehre über die Staatsverträge. Bereits in dieser Zeit wurde die staatliche Selbstbindung an einen Vertrag dadurch ergänzt, daß sich jeder Staat zusätzlich auch gegenüber seiner jeweiligen Gottheit zur Vertragserfüllung verpflichtete. Auch dieser Konzeption mangelte es nach Meinung von Verdross zur Begründung zwischenstaatlicher Normen an einer gemeinsamen Geltungsgrundlage, die für ihn nur in einem überstaatlichen Fundament zu finden ist (v gl. S. 12-14). 94ü G. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, S. 7.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
lichen objektiven Rechtsordnung ab. 941 Dennoch ist er - im Gegensatz zu Georg W F. Hegel- bestrebt, die Pflicht zur Vertragstreue mit der Willenslehre in Einklang zu bringen, wenn er die Prinzipien der Sittlichkeit als Grund der völkerrechtlichen Bindung der Staaten anführt. 942 Jellinek geht sogar noch einen Schritt weiter und nähert sich - nach Ansicht von Hans Kelsen und Alfred Verdross - einem objektiven willensunabhängigen Völkerrecht an, was ihrer Meinung nach in einem eindeutigen Widerspruch zur Selbstbindung des Staatswillens steht: 943 So soll nach Ansicht von Jellinek der ursprüngliche Staatswillen weiterhin gelten, auch wenn sich sein Inhalt geändert haben sollte; "denn was einmal als gemeinsame Rechtsüberzeugung ausgesprochen ist, tritt nun allen Mitgliedern der Staatengemeinschaft als gültige Norm entgegen, welcher der Rücktritt nicht gestattet ist und auch alle künftigen Mitglieder bindet."944
Jellinek unternimmt damit den Versuch, ein "gemeinsames Recht"945 zu konzipieren, obwohl er weiterhin die Erzeugung der Völkerrechtsnormen auf dem Weg der staatlichen Selbstbindung annimmt. Jedoch nicht nur Jellinek, sondern auch Karl Bergbohm 946 , Ot/ried Nippold 947 und Lassa Oppenheim 948 schwanken in ihren Rechtsauffassungen zwischen den beiden Polen einer objektiven Völkerrechtsordnung und dem Willensdogma hin und her. Für die Frage nach der Beziehung des Völkerrechts zum staatlichen Recht bildet die völkerrechtliche Selbstverpflichtungslehre in Verbindung mit dem absoluten Souveränitätsverständnis einen neuen Ausgangspunkt; denn in der Folgezeit ent941 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S.170. 942 Vgl. G. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, S. 57; A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 8. 943 Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 182-187; A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 6-7. 944 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 324; siehe auch G. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, S.48. Für Hans Kelsen und Alfred Verdross wird somit aus der Selbstverpflichtungslehre eine "Fremdverpflichtungslehre": "Damit haben wir aber die Staatswillensgrundlage völlig verlassen und uns auf eine andere Warte gestellt, von der aus der Staatswille beurteilt wird. Nun handelt es sich nicht um den tatsächlichen Inhalt des Staatswillens, sondern um jenen, der von jener Warte aus begehrt wird. Also dreht es sich jetzt nicht mehr um den Staatswillen, sondern um den ,Willen' einer anderen, ein bestimmtes staatliches Verhalten wollenden Stelle .... So mündet die Selbstverpflichtungslehre, von den eigenen Prämissen aus zur Selbstauflösung getrieben, in ihr Gegenteil: die Fremdverpflichtungslehre." A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 37; ähnlich H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 184. 945 G. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, S.48. 946 Siehe K. Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts, 1877. 947 Siehe O. Nippold, Der völkerrechtliche Vertrag, seine Stellung im Rechtssystem und seine Bedeutung für das internationale Recht, 1894. 948 Siehe L. Oppenheim, International Law, hrsg. von Hersch Lauterpacht, Band 1: Peace, 7. Aufl., 1948.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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wickelte sich aus der Auffassung, daß "das Völkerrecht nur als Selbstbindung des Staates in seiner eigenen Ordnung"949 zu erfassen ist, eine weitere Rechtsordnungskonstruktion. So sind neben Bergbohm auch Albert Zorn 950 , Max Wenzel 951 und Andre Decenciere-Ferrandiere 952 als Vertreter dieser staatsrechtsprimären Rechtsordnungskonstruktion zu erwähnen. 953 Auch Alfred Verdross vertrat - wie bereits dargestellt - zunächst eine monistische Lehre mit Primat des staatlichen Rechts. 954 In der vorherrschenden Völkerrechts literatur wurde diese Rechtslehre bis in die jüngste Vergangenheit fast einstimmig beurteilt: In der Regel wird sie nur kurz erwähnt und mit dem Argument, daß die absolute staatliche Souveränität mittlerweile nicht mehr vertreten würde, als "überwunden" oder "ungeeignet" bezeichnet. 955 Die Annahme, daß das Völkerrecht als "äußeres Staatsrecht" jedes Einzelstaates zu deuten ist, stößt insbesondere dann auf Ablehnung, wenn die Selbstverpflichtungslehre im Sinne von Bergbohm und Wenzel aufgefaßt wird: Für beide ist der staatliche Willen, sich an das Völkerrecht zu bind~n, zu jeder Zeit widerrufbar. 956 Selbst wenn mit der Selbstverpflichtungslehre entsprechend der Vereinbarungsiehre die staatliche Gebundenheit an den einmal ausgedrückten Willen verknüpft wird, so ist dies einerA. Verdross, Universelles Völkerrecht, S. 54. Siehe A. Zorn, Grundzüge des Völkerrechts, 2. Aufl., 1903. 95\ Siehe M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, 1920. 952 Siehe A. Decenciere-Ferrandiere, Considerations sur le droit international dans ses rapports avec le droit de l'etat, in: Revue generale de droit international public, Band 40, 1933, S.45-70. 953 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 54, Fußnote 7; H.-I. Sehlochauer, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, in: Archiv des Völkerrechts, hrsg. von Hans-Jürgen Schlochauer, Band 11, (1963/64), S.I-34, hier S. 9, Fußnote 32. 954 Von dieser Auffassung ist die bereits erläuterte Lehre Hans Kelsens zu trennen, der auch die Darstellung des Völkerrechts als Teil der staatlichen Rechtsordnung anerkennt und dies ebenfalls als Monismus mit Primat des Staatsrechts bezeichnet. Hierbei liegt jedoch der Ausgangspunkt nicht in der Selbstverpflichtungslehre, sondern die Grundnorm der Staatsverfassung stellt den Geltungsgrund eines selbständigen Völkerrechts dar. Insbesondere charakterisiert Kelsen das vertrags- oder gewohnheitsrechtlich entstehende Recht als völkerrechtlichen und nicht als staatlichen Normenkomplex. In der jüngeren Literatur fand diese Lehre - bis auf Panayis Papaligouras - keine Anhänger mehr; vgl. P. Papaligouras, Theorie de la societe internationale, insbesondere S.146-147, S.171, S.199 und S.204-205. 955 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 54; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1073; J. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 141. Nach Ansicht von Alfred Verdross und Bruno Simma fand diese Lehre "in den letzten Jahrzehnten keine Anhänger mehr, da ihre Wurzel, die absolute staatliche Souveränität, unhaltbar geworden ist". A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 54. Gustav Walz äußert sich schärfer: "Die Bonner Schule Philipp Zorns, die mit der Theorie Max Wenzels ihre weitaus bedeutendste Formulierung erhalten hat, unternimmt es, der Rechtswirklichkeit eine Theorie zu unterschieben, die diese nicht erklärt, sondern desavouiert. Denn daß die Geltung der Völkerrechtsnormen grundSätzlich dem Eingriff des staatlichen Gesetzgebers entzogen ist, darüber sollte angesichts des weitschichtigen positiven Rechtsmaterials nicht mehr diskutiert werden." G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 250; vgl. J. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 8. 956 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 502-5 I I; I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 8. 949
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
seits eine für den Bestand des Völkerrechts freundlichere Auslegung, andererseits wird dadurch die Staatswillensgrundlage verlassen. Nach Ansicht von Ignaz SeidlHohenveldern kann mit der letztgenannten These nur die Geltungsgrundlage für das völkerrechtliche Vertragsrecht, nicht jedoch für das Gewohnheitsrecht geschaffen werden. 957 Trotz der Tatsache, daß der Monismus mit dem Primat des staatlichen Rechts in der Völkerrechtswissenschaft überwiegend eine kritische Zurückweisung erfährt und er - abgesehen von Hans Kelsen, der ihn optional, aber nur in Verbindung mit seiner Grundnormlehre anerkennt - in der modemen Völkerrechtslehre nicht mehr vertreten wird, gilt es an dieser Stelle einige bedeutsame Gedankengänge der Anhänger dieser zurückgedrängten Lehre näher zu betrachten. Nach Bergbohm folgt auch Zorn der Hegelsehen Souveränitätslehre. 958 Auf der Grundlage des erklärten Staatswillens begründet er die Geltungsgrundlage und Verbindlichkeit des Rechts. 959 Demnach ist der erklärte Wille des Staates mit dem vom Staate gesetzten Recht identisch. Für Zorn besitzen die Völkerrechtsnormen nur aufgrund der Feststellung, daß bei der zwischenstaatlichen Regelung gemeinsamer Interessen die Bindung der beteiligten Staaten durch ihre Willen erfolgt, rechtlichen Charakter. Die staatliche Willenseinigung erzeugt auf diesem Weg Völkerrecht, das in rechtlicher Hinsicht nur als staatliches Recht zu begreifen ist. Demzufolge versteht Zorn das Völkerrecht als Teil der nationalen Rechtsordnungen, das als willentliche Übereinkunft durch zwischenstaatliche Verträge oder "gemeinsame Rechtsüberzeugung"960 gebildet wird. 961 Analog zur Auffassung Georg lellineks, wonach alles Recht als innerstaatliches Recht zu verstehen ist, kommt Zorn zu dem Schluß: .. Völkerrecht ist juristisch Recht nur, wenn und soweit es Staatsrecht ist ... 962
Vgl./. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 8-9. "Auszugehen ist für die Darstellung des Völkerrechts sodann davon, daß alle Staaten ... souverän, d. h. in der Ausübung ihrer staatsrechtlichen Funktionen absolut unabhängig und nur durch sich selbst beschränkt und beschränkbar sind, daß es mithin eine höhere Gewalt über der Staatsgewalt nicht gibt. Daraus folgt weiterhin die prinzipielle Gleichstellung aller souveränen Staaten für ihre Behandlung als Rechtssubjekte des Völkerrechts und für die hieraus sich ergebenden Verbindlichkeiten." A. Zorn, Grundzüge des Völkerrechts, S.4. 959 "In dieser Form erklärt der Staat seinen Willen, und erst, wenn der Wille des Staates von ihm in dieser von ihm selbst festgestellten Form abgegeben ist, ist er nach allen Richtungen hin als vollgültiger Wille des Staates und damit, weil der Wille des Staates im Recht des Staates seine äußere Gestalt findet, als Recht anzusehen." A. Zorn, Grundzüge des Völkerrechts, S. 6. 960 A. Zorn, Grundzüge des Völkerrechts, S. 9. 96\ Vgl. A. Zorn, Grundzüge des Völkerrechts, S. 8-9. 962 A. Zorn, Grundzüge des Völkerrechts, S. 7 (Hervorhebung im Original); vgl. G. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, S. 7. 957 958
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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2. Die Lehre Max Wenzels a) Der Vorrang des staatlichen Rechts Auch Max Wenzel beschäftigt sich mit der Konstruktion der Rechtsordnungen und entwickelt den Vorrang des staatlichen Rechts am sorgfältigsten. 963 In Einklang mit Hegel, Bergbohm und Zorn sieht er den Geltungsgrund des Völkerrechts im Willen des Staates und folgt ebenso der fellinekschen Selbstverpflichtungslehre. 964 Wenzel erscheint demzufolge das Entstehen eines "einheitlichen Völkerrechtssystems"965 unmöglich, weil das Zusammenwirken von Staaten, die mit ihren jeweiligen Staatswillen in verschiedenster Zusammensetzung Normen und Verträge erzeugen, unterschiedliche "Völkerrecht erzeugende Instanzen" entstehen läßt und es somit keine einheitliche Instanz gibt, der alle Völkerrechtsnormen untergeordnet sind. 966 Die Untersuchungen Wenzels konzentrieren sich auf den für ihn wichtigsten Ausdruck des Rechts, den Gesetzesbegriff. 967 Unter diesem Blickwinkel versucht er, das rechtliche Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht aufzuklären. Insbesondere das Völkergewohnheitsrecht zieht er nicht in seine Betrachtungen mit ein, weil es seiner Meinung nach "nur in Zusammenhang mit dem Gewohnheitsrecht erörtert werden kann"968. Im Sinne einer empirischen Vorgehensweise nimmt er dabei die unstrittig geltenden Völkerrechtsnormen - das heißt die zwischen den Staaten bestehenden Verträge - zum Ausgangspunkt und betrachtet ihre rechtliche Beziehung zu den Gesetzesvorschriften der vertragsschließenden Staaten. 969 Die rechtlichen Ge963 Nach Ansicht von Alfred Verdross können auch Walter Heinrich und Leo Wittmayer zu den Anhängern einer monistischen Rechtsauffassung mit Primat des Staatsrechts gezählt werden; vgl. A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 15, S. 17 und S.19. 964 "Unzweifelhaft ist zunächst, daß mit der innerstaatlichen Publikation, genauer mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der publizierten Bestimmungen verbindliche Normen, Recht, entstanden sind. Wie aus der Art und Weise der Publikation und dem hiermit kundgegebenen Willen evident hervorgeht, beruht die Geltung dieser Rechtsnormen allein auf dem Willen des publizierenden Staates. Sie sind von ihm allein gesetztes Recht. Sie haben denselben Charakter, wie die übrigen vom Staatshaupt, allein oder nach Zustimmung der gesetzgebenden Faktoren, im Gesetzblatt publizierten Rechtsnormen; sie sind ebenso staatliches Recht wie diese. Sie gelten also mit der den Gesetzen und Verordnungen dieses Staates zukommenden Autorität und können nur mit seinem Willen geändert und aufgehoben werden." M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 351. 965 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 357. 966 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 356-358. 967 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.5. 968 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 347, Fußnote 1. 969 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 346 und S. 386. "Die Frage, was Völkerrecht ist und ob es ein solches positives Recht gibt, darf der Jurist nur aus den Dingen beantworten, die wirklich sind: aus den unzweifelhaft geltenden und allgemeinen, Völkerrecht' genannten Normen und aus dem zweifellosen Recht, an dem als Maßstab die Rechtsnatur dieser ,Völkerrechtsnormen' zu prüfen ist." (S.427). Obwohl auch die Regeln des Völkergewohnheitsrecht in diesem Sinne als unzweifelhafte positive Völkerrechtsregeln anzuerkennen sind, grenzt er sie von vornherein aus und konzentriert sich auf die Grundlegung des Staatsvertrags-
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gebenheiten in bezug auf das Zustandekommen und den Abschluß der Staatsverträge lassen Wenzel zu dem Schluß kommen, daß das Völkerrecht durch das Zusammenwirken von Staatspersonen, denen verschiedene Gesetzessysteme zugrunde liegen, entsteht. 970 Daraus schlußfolgert er: "Die ermächtigenden Gesetzesbestimmungen machen die Form der Verständigung der eigenen Staatsperson mit einer fremden Staatsperson zu einer Entstehungsform verbindlicher Normen. Die Gemeinschaft der beteiligten Staatspersonen erscheint in dieser Bildungsform als die normsetzende Instanz. ,,971
Das Völkerrecht erlangt demnach nicht aufgrund einer einheitlichen Quelle Verbindlichkeit, sondern findet in den Gesetzessystemen der staatlichen Rechtsordnungen der jeweils kontrahierenden Staaten seinen Geltungsgrund. 972 Aus diesem Grund ordnet Wenzel das Völkerrecht im Sinne eines "Untergesetzesrecht" in die einzelstaatlichen Ordnungen ein: "Die Völkerrechtsnormen haben also so viele Geltungsgründe, als Staaten und damit Gesetzessysteme an ihrer Setzung beteiligt sind . ... Das Völkerrecht ist vielmehr dem Gesetze, in dem es seinen Geltungsgrund findet, untergeordnet. Es ist Untergesetzesrecht, gleichwie Rechtsverordnungen, das ortsstatutarische Recht u. a. Das Gesetz ist ihm gegenüber ein höheres Recht; der Gesetzgeber steht über der völkerrechtsetzenden Instanz; ... [So] können die Normen des Gesetzes die des Völkerrechts außer Kraft setzen; sie gehen diesen vor."973
Verbunden mit dieser staatsrechtlichen Auflösung der Völkerrechtsnormen ist die Ablehnung der naturrechtlich geprägten Lehre von der Überordnung des Völkerrechts über das staatliche Recht. 974 Auch die Möglichkeit einer Verweisung des Gerechts; kritisch auch z. B. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.59; A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 55 und S. 57 und A. Verdross, Völkerrecht und einheitliches Rechtssystem - Kritische Studie zu den Völkerrechtstheorien von Max Wenzel, Hans Kelsen und Fritz Sander, S.414. 970 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 356, S. 361-368 und S. 386. 971 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 386-387 (Hervorhebung im Original). "Indem die Form des zwischenstaatlichen Vertrages die Entstehungsform des Völkerrechts ist, ist das Gesetz des vertragsschließenden Staates der Schöpfer der Bildungsform des Völkerrechts dieses Staates und damit der nächste Grund der Verbindlichkeit der durch sie gesetzten Völkerrechtsimperative." (S. 387). 972 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 387. Mit dieser These verbindet Max Wenzel einen seiner Hauptkritikpunkte gegen die Triepelsche Lehre, weil dieser den Geltungsgrund der Vereinbarung nicht im Landesrecht erkennt (vgl. S. 451; siehe auch S.444-455). 973 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 387, S. 405 und S. 406 (Hervorhebung im Original). 974 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.404. Jenen Lehren, die das Völkerrecht als selbständige neben- oder überstaatliche Rechtsordnung anerkennen, wirft Max Wenzel vor, sich einem aprioristisch-naturrechtlichen Verständnis des Völkerrechtsbegriffes zu unterwerfen: "Vor allem ist es der Begriff des Völkerrechts, der apriori geformt wird. Wie sollte es auch anders sein! Ist doch die Geschichte dieses Begriffs aufs engste mit der Geschichte des Naturrechts, dieser durch und durch aprioristischen Rechtslehre, verwachsen. Er ist zu naturrechtlichen Zeiten ,entstanden aus der Forderung des Kulturbewußtseins, daß auch die Staaten als Personen in ihren gegenseitigen Verhältnissen unter der Herrschaft des Rechts stehen müssen' ,
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setzesrechts auf ein überstaatliches Recht lehnt Wenzel ab. 975 Für Wenzel ist es somit ausschließlich das staatliche Gesetzessystem, von dem sich die Geltung der Völkerrechtsnormen ableitet, so daß diesem der Primat zukommt. 976 Hand in Hand mit diesen Schlußfolgerungen geht die Feststellung Wenzels, daß keine einheitliche Völkerrechtsgemeinschaft existiert. Grund dafür ist die Vielzahl internationaler Staatengemeinschaften, die infolge verschiedener Interessengebiete bestehen: "Völkerrechtsgemeinschaften gibt es mithin so viele, als durch Völkerrecht normierte Interessengemeinschaften von Staaten da sind."977 Wie schon angedeutet, sind für Wenzel damit die auf dem Weg der Vertragsschließung entstehenden mannigfaltigen Völkerrechtsnormen nicht geeignet, ein einheitliches Rechtssystem entstehen zu lassen. Statt dessen besteht das Völkerrecht aus einer Vielzahl gleichgestellter Rechtskreise. 978 Eine einheitliche völkerrechtliche Gemeinschaft wäre nach Meinung Wenzels nur dann vorstellbar, "wenn alle seine Normen in ihrer Geltung einer autoritativen Zentralinstanz unterständen, so daß diese jede Völkerrechtsnorm ändern und aufheben könnte. Eine solche Zentralinstanz gibt es aber nicht"979. Gleicher Ansicht ist Andre Decenciere-Ferrandiere, der nur einige Jahre später eine vergleichende Betrachtung zwischen dem völkerrechtsprimären Monismus und dem Monismus mit gleich den Privatpersonen, daß es ein Recht geben muß, das auch über den Staaten steht und sie objektiv bindet. Man stellte sich das für die Staaten untereinander geltende Recht vor ... als ein über ihnen schwebendes, in seiner Geltung ihrem einseitigen Willen entzogenes, einheitliches Recht." M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.423. Sogar der jüngeren dualistischen Lehre wirft Wenzel das Festhalten an diesem Völkerrechtsbegriff vor (v gl. S. 429 und S. 431-432). Als den richtigen Ansatz erkennt er nur die empirische Methode an, die laut Wenzel zur Ablehnung eines außerstaatIichen Völkerrechts führt (vgl. S.427-428); vgl. auch G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.60. 975 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.388-395 und S.404. 976 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.405-407. 977 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 396, vgl. S. 390-397. 978 "Der Inbegriff der Völkerrechtsnormen ist gar nicht geeignet, das einigende Band einer Gemeinschaft zu bilden. Denn das setzt notwendig voraus, daß alles Völkerrecht ein einheitliches Recht d. h. Normen eines einheitlichen Systems ist. Das ist aber, wie wir gesehen haben, nicht der Fall. Das Völkerrecht ist so wenig ein einheitliches Recht wie etwa das Privatrecht, das Strafrecht, das Gesetzesrecht schlechthin. Vielmehr enthält es eine Vielheit von Rechtskreisen, die ebenso gleichgeordnet nebeneinander existieren, wie z. B. die verschiedenen Privatrechte oder Gesetzessysteme, aus denen das Privatrecht bezw. Das Gesetzesrecht besteht." M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 397-398, vgl. S. 357. 979 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 398. Kritisch dazu G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 60. Max Wenzel spricht damit die eigentlich überkommene Forderung nach einer Zentralgewalt an, die insbesondere die Leugner des Völkerrechts als Beurteilungsmaßstab herangezogen hatten; siehe 3. Teil, 2. Kap.; dazu A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 57-58. Nach der Lehre von Alfred Verdross kann selbst eine zentrale Instanz keine Einheit entstehen lassen, wenn kein Rechtssatz existiert, der ihre Rechtsetzungsbefugnis ermöglicht. Ferner muß nicht eine Person oder Körperschaft die höchste Instanz darstellen; dies können auch die Bedingungen zur Bildung des Vertrags- oder Gewohnheitsrecht sein. Für Verdross sind es die Rechtssätze der Verfassung, die im Sinne der Spitze der Rechtspyramide die Einheit jedes Rechtssystems bilden (v gl. S. 58-59); dazu auchA. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 10-1 I sowie 4. Teil, 3. Kap. III.
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Vorrang des staatlichen Rechts ausgearbeitet hat. Sein wohl bedeutsamstes Argument, nämlich das Fehlen einer "autorite au-dessus des Etats"98o, führt ihn schließlich zur Überzeugung: ,,11 faut etre moniste, et, si l'on veut s'en tenir sur le terrain des faits, il faut admettre la primaute du droit de l'Etat."981 Existiert keine universale internationale Rechtsgemeinschaft, so kann diese auch nicht die erkenntnismäßige Grundlage des Völkerrechts darstellen. Ebensowenig eignen sich nach Ansicht von Wenzel die zwischenstaatlichen Interessengemeinschaften als juristische Geltungsgründe des Völkerrechts, weil insbesondere rechtlich unwiderrufliche Widersprüche zwischen dem jeweiligen Völkerrecht und Gesetzesrecht eines Staates die Folge wären. 982 Wenzel deutet die gemeinschaftserzeugenden Interessen demzufolge nur als "entferntere Ursachen oder innere Bestimmungsgründe der Völkerrechtsnormen"983, welche die Staaten zur Setzung des Völkerrechts motivieren. Für das Wesen des Völkerrechts innerhalb der Rechtsordnungskonzeption Wenzels folgt aus diesen Erkenntnissen: "Gemeinschaftsrecht ist Völkerrecht nur in dem Sinne, daß es die Verhältnisse zwischenstaatlicher Interessengemeinschaften regelt und von den an ihnen beteiligten Staaten im Wege gemeinschaftlicher Verständigung gesetzt wird; nicht aber in dem Sinne, daß es ein vom staatlichen Recht verschiedenes, selbständiges Staatengemeinschaftsrecht ist, dessen Geltungsgrund die ,Solidarität der internationalen Interessen' bildet. Der Geltungsgrund kann nur in den zu Vereinbarungen ermächtigenden Gesetzesnormen der beteiligten Staaten gefunden werden."984
Das Völkerrecht in der Lehre Wenzels ist dennoch als besonderes Recht innerhalb des Ordnungssystems eigenständig erfaßbar; denn es unterscheidet sich primär hinsichtlich seiner Entstehung von dem übrigen Gesetzesrecht der Staaten. Dagegen besteht weder eine nennenswerte Verschiedenheit zwischen Völkerrecht und Gesetzesrecht bezüglich ihrer Normadressaten noch des Inhalts der von ihnen begründeten Normen. 985 Die Thesen, daß Völkerrecht und Gesetzesrecht Ausdruck des Staatswillens sind und dieselbe verbindliche Kraft besitzen, wobei die Völkerrechts980 A. Decenciere-Ferrandiere, Considerations sur le droit international dans ses rapports avec le droit de l'etat, S.65. 981 Andre Decenciere-Ferrandiere begründet die Entscheidung für den Primat des staatlichen Rechts mit dem Fehlen einer überstaatlichen Instanz, A. Decenciere-Ferrandiere, Considerations sur le droit international dans ses rapports avec le droit de I' etat, S. 66. 982 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 398-401. 983 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.401. 984 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.401. 985 In beiden Rechtskreisen sind es laut Max Wenzel die obersten Staatsorgane, die mit gleichen Geboten und Verboten ermächtigt und verpflichtet werden, insbesondere Verfügungen für Behörden und Untertanen zu erlassen. Allerdings ist der Adressatenkreis des Völkerrechts - im Gegensatz zum Gesetzesrecht, das sich auch an Individuen und Behörden wendet - generell auf die obersten Staatsorgane begrenzt, was zwar ein spezielles Kriterium des Völkerrechts, jedoch kein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zu den Gesetzesregeln ist; siehe M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 384-385 und S. 404.
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nonnen auf den Gesetzesnonnen beruhen und damit aus dem Staat heraus gelten, lassen Wenzel zu dem Schluß kommen: "Völkerrecht ist staatliches Recht . ... Es bildet einen organischen Teil der einheitlichen Rechtsmasse des staatlichen Rechts, von ihr ab-geteilt nach dem Gesichtspunkt der Bildungsform."986
Mit der Einheitlichkeit des Gesetzessystems sind für ihn zugleich auch unlösbare Widersprüche undenkbar, seien es Konflikte zwischen den innerstaatlichen Gesetzesnonnen, zwischen den darauf beruhenden Völkerrechtsnonnen oder zwischen Gesetzes- und Völkerrechtsnonnen. Damit ist jedoch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Staat zwar im Sinne seines Gesetzesrechts, aber entgegen den völkerrechtlichen Bestimmungen handeln kann, so daß seine Vorgehensweise vorübergehend zugleich gesetzesmäßig und völkerrechtswidrig ist. 987 Dieser von Wenzel vertretene Standpunkt führt folgerichtig zu der These, daß der Grundsatz "pacta sunt servanda" nicht als Einschränkung der staatlichen Handlungsfreiheit anzusehen ist; denn ausschließlich das staatliche Recht kann bestimmen, mit welcher Vorgehensweise sich der Staat von einem zwischenstaatlichen Vertrag ablösen kann. 988 Wenzel ist der Auffassung, daß selbst dann, wenn keine Kündigungsregelung für einen rechtsetzenden Staatsvertrag existieren sollte, die Konsequenzen einer unbegrenzten Geltung dieses Rechts nicht beabsichtigt wären und sich der Grundsatz "pacta sunt servanda" nicht begründen ließe. Für Wenzel ist er eine Nonn des staatlichen Rechts, die nicht unabänderlich ist. 989 Außerdem kann dieses Prinzip für ihn nicht die Rechtswirklichkeit erfassen, weil in vielen völkerrechtlichen Vereinbarungen zugleich eine einseitige Kündigungsklausel aufgenommen ist. 990 Entschließt sich ein Staat, der sich den Bedingungen eines Vertrages nicht länger unterwerfen will, von diesem zurückzutreten, auch wenn keine einseitige Kündigung vorgesehen ist, so führt das in der Lehre Wenzels zu folgenden rechtlichen Konsequenzen: "Erfüllt also der zurücktretende Staat den Vertrag nicht mehr, so verstößt er nicht gegen sein eigenes Völkerrecht, wohl aber gegen fremdes. Er handelt rechtmäßig im Sinne der einen und rechtswidrig im Sinne der anderen Rechtsordnung. Nimmt der fremde Vertragsstaat die 986 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 403 (Hervorhebung im Original), vgl. S.409-41O. "Das Völkerrecht gilt aus dem Staat, für den Staat und gegen den Staat. Es gilt mit derselben Autorität, wie das übrige aus dem Staate geltende Recht. Kürzer gesagt: Völkerrecht ist staatliches Recht." (S.403, vgl. S.402-403). Ein dem staatlichen Recht übergeordneter Rechtskreis kann das Völkerrecht für Max Wenzel schon deshalb nicht sein, weil es nur Staatsorgane, nicht Behörden und Individuen, verpflichten kann und auf ihre Anordnungen somit keinen Einfluß haben wird (v gl. S.404). 987 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.406-407. 988 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.502-508. 989 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.51l. 990 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.511. Anderer Ansicht ist Gustav Walz, der eine individuell vereinbarte Kündigung nicht als ein Gegenargument zum Grundsatz der Vertragstreue anerkennt; vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.57, Fußnote 186.
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Verletzung seines Rechtes hin, ohne zu protestieren, so wird man in diesem Verhalten eine ,stillschweigende' Aufhebung auch seines Völkerrechts erblicken dürfen. Protestiert er aber und greift zu Zwangsmitteln, so kommt es zum Streite, dessen Ausgang entscheidet, ob und inwieweit er sein Völkerrecht zurückzieht oder den anderen Staat zwingt, die Vereinbarung zu erfüllen und das aufgehobene Völkerrecht wieder aufzurichten."991
Was die Auswirkungen zum eigenstaatlichen Völkerrecht angeht, so ist offensichtlich jeder dauerhafte Konflikt innerhalb des Staatsrechtssystems undenkbar; denn das Gesetzesrecht geht dem Völkerrecht vor. Bezüglich des rechtswidrigen HandeIns gegenüber dem fremden Völkerrecht wird die rechtliche Übereinstimmung durch gemeinsames Verhandeln wiederhergestellt. 992 b) Das Völkerrecht als gemeinsames Recht der Staaten
Im Gegensatz zu der einheitlichen Rechtsmasse der verschiedenen staatlichen Rechtsordnungen, dem das Völkerrecht jeweils als integrierter Bestandteil angehört, erzeugt das Zusammenwirken der Staaten im zwischenstaatlichen Vertrag durch die Vielzahl der staatlichen Geltungsgründe keine "einheitliche Gesamtautorität" und damit auch "kein einheitliches, sondern gemeinsames Recht".993 In diesem Sinne gehören nach Meinung von Wenzel die vereinbarten Völkerrechtsnormen zu jeder an der Vertragssetzung beteiligten staatlichen Rechtsordnungen, so daß in jeder staatlichen Einheit die gleichen völkerrechtlichen Rechte und Pflichten für den jeweils 991 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.508-509. Nach Ansicht von Alfred Verdross entwertet Max Wenzel das Völkerrecht angesichts der einseitigen Ablösungsmöglichkeit zu einem "äußeren Staatsrecht". Er weist den von Wenzel gemachten Vorwurf, daß die staatliche Bindung an eine geschlossene Vereinbarung ein Grundprinzip der naturrechtlichen V6lkerrechtslehre sei, teilweise zurück. Für Verdross wird der Grundsatz "paeta sunt servanda" durch die völkerrechtliche Praxis und von der Rechtswissenschaft mittlerweile als positiver Rechtssatz allgemein anerkannt, so daß Wenzel demnach von seiner empirischen Methode abweicht und diesen Grundsatz nicht bzw. nur verändert in seine Völkerrechtslehre aufnimmt, um die Logik seiner Lehre nicht zu gefährden. Im Sinne von Verdross hat er damit das Ziel verfehlt, alle Rechtssätze in einem einheitlichen System zu erfassen, vgl. A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, S. 61-62; A. Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 16; M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.455-459, insbesondere S.457. 992 Für Gustav Walz ist diese getrennte Behandlung des eigenen und fremden Völkerrechts nur ein weiteres Indiz einer "unüberbrückten pluralistischen Rechtsordnungskonstruktion" , G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 62. Seiner Meinung nach widerspricht diese Uneinigkeit der von Max Wenzel immer wieder proklamierten rechtlichen Gemeinsamkeit des Völkerrechts (vgl. S.63-64). 993 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.408; vgl. S. 397, S.403 und S. 414. "Die gemeinschaftlich gesetzten Normen für sich,losgelöst vom staatlichen Rechtssystem, zu betrachten, wäre nur dann verständlich und richtig, wenn sie einheitliches und nicht gemeinsames Recht darstellten, eine Auffassung, die wir als falsch erkannt haben." (S.412). Ähnlich bereits K. Bergbohm, Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts, S. 89; G. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, S. 2-3 und S. 45-47.
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eigenen und fremden Staat gelten. Das völkerrechtliche Vertragsrecht beinhaltet somit gleichermaßen eigenes und fremdes "staatliches (Völker-)Recht": "Das Völkerrecht gilt aus jedem der es vereinbarenden Staaten für und gegen jeden. Es ist gemeinsames Recht dieser Staaten. "994
Die Regelung zwischenstaatlicher Interessenkomplexe durch diese gemeinsamen Rechtsetzungsakte lassen verschiedene "internationale Rechtsgemeinschaften" entstehen, die alle in das jeweilige staatliche Rechtssystem der vereinbarenden Staaten integriert sind und somit individuelle Völkerrechtskreise bilden. Auf diese Weise entsteht "beiderseitiges Recht"995, welches durch die gemeinsame Bildungsform des Völkerrechts eine rechtliche Brücke zwischen den Völkerrechtskreisen schlägt. 996 Für Wenzel bestimmt sich folglich aus der Menge beteiligter staatlicher Gesetzessysteme die Anzahl bestehender nationaler Völkerrechtskreise: "Ist das Gesetz der Ge\tungsgrund des Völkerrechts, ... so gibt es notwendig so viele verschiedene koordinierte Völkerrechtskreise. als verschiedene Gesetzessysteme oder souveräne Staaten da sind. Jedes staatliche Rechtssystem hat seine Völkerrechtsabteilung. Es gibt demnach ein deutsches, ein englisches, ein französisches, ein schweizerisches usw. Völkerrecht."997
Macht es bei diesem Ergebnis überhaupt noch einen Sinn, von einer monistischen Rechtsauffassung mit Primat des staatlichen Rechts zu sprechen? Sofern man sie primär als eine Konstruktion mit einem Pluralismus der Geltungsgründe begreift, der auf einer Vielzahl staatlicher Rechtsordnungen beruht, in welche das Völkerrecht als "Außenstaatsrecht" integriert ist, spricht die Literatur vereinzelt von einer pluralistischen Rechtsordnungsgliederung. 998 Insbesondere Gustav Walz erkennt in der Lehre Wenzels eine pluralistische Beziehung zwischen Völkerrecht und den staatlichen Rechtsordnungen, weil für Wenzel nicht nur.ein Gesetzessystem, sondern eine Vielzahl staatlicher Systeme das gesamte Rechtsuniversum beherrscht und der Gesamtbestand des Völkerrechts in die jeweils eigenständigen Gesetzesordnungen aufgelöst wird. 999 Als Folge dieser Konzeption sieht Walz die staatlichen Gesetzessysteme als zusammenhanglos nebeneinander stehend an, so daß seiner Meinung nach Überschneidungen und Widerstreite - auch durch ein übergeordnetes Völkerrecht - rechtlich unlösbar sind. 1000 Auch Albert Bleckmann äußert sich kritisch zur Erzielung einer Einheit des Völkerrechts auf diesem Weg: "Denn im Ergebnis zerfällt die Völkerrechtsordnung in ebenso viele nationale Rechtsordnungen, wie es M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.408 (Hervorhebungen im Original). M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.409 (Hervorhebung im Original). 996 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.409-41O. 997 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.41O (Hervorhebung im Original). 998 Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 261; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S.16; E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S.51. 999 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.57-58; M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S. 140, S. 397-398, S.402, S.408-41O, S.447, S. 452 und S. 510-512. 1000 Vgl. G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.58. 994 995
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Staaten gibt. Zwischenstaatliche Rechtsbeziehungen im engeren Sinne gibt es in einer solchen Konzeption nicht."]OO] Wird jedoch der Aspekt des Völkerrechts als gemeinsames Recht der Staaten miteinbezogen und dabei berücksichtigt, daß die Gemeinsamkeit der Völkerrechtsnormen nicht zufallig entstanden, "sondem eine rechtlich gewollte, durch die Bildungsform notwendig bedingte" ]002 Verbundenheit ist, so besteht demnach doch eine enge Verbindung zwischen den staatlichen Gesetzessystemen. ]003 Betrachtet man die Frage nach dem Verhältnis der Rechtsordnungen aus dem Blickwinkel einer einzelnen staatlichen Rechtsordnung - wie es auch beispielsweise in der Triepelschen Lehre praktiziert wurde -, so resultiert daraus eine Konstruktion, die staatliches Recht und Völkerrecht in einer einheitlichen Rechtsordnung erfaßt.]OO4 Monistisch ist diese Rechtsordnungskonstruktion also insofern, als nur das innerstaatliche Recht als Grundlage der völkerrechtlichen Verbindlichkeit anerkannt wird. In diesem Sinne kann auch von einem Primat des staatlichen Rechts gesprochen werden. Bei einem Vergleich der Völkerrechtsnormen der staatlichen Rechtsordnungen lassen sich insbesondere die durch die Gemeinschaftlichkeit der Erzeugung miteinander verbundenen und gemeinsamen Normen herausfinden und zu einem Völkerrechtskreis zusammenfassen: "Durch Rechtsvergleichung läßt sich für jede internationale Interessengemeinschaft von Staaten das Völkerrecht dieser Gemeinschaft feststellen, für den Kreis der zivilisierten Staaten also das Völkerrecht der Kulturstaatengemeinschaft, auch das allgemeine oder das universelle Völkerrecht oder schlechthin das Völkerrecht genannt. Noch besser eignet sich hierfür der Ausdruck Weltvölkerrecht. Dieses Weltvölkerrecht ist kein einheitliches, sondern gleichheitliches Recht." 1005
Ein weiterer Einwand gegen die staatsrechtsprimäre Rechtsauffassung ensteht für einige Autoren aus der Konsequenz, daß der sich an die völkerrechtlichen Rechtssätze bindende Staat sich wieder nach eigenem Willen von ihnen lösen kann. Für die Kritiker dieser Lehre resultiert aus der freiwilligen Selbstverpflichtung der Staaten deshalb grundsätzlich die Verleugnung der Existenz eines verbindlichen VölkerA. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.422. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.409. 1003 Anderer Auffassung ist Gustav Walz, der trotz der gemeinsamen völkerrechtlichen Rechtsetzung in Form der Staatsverträge keine rechtliche Verbindung zwischen den Gesetzessystemen anerkennt: "Tatsächlich ist es Wenzel gar nicht gelungen, den Staatsvertrag in seiner unverfälschten juristischen Form durch seine Theorie aufzufangen. Indem er ihn nach beiden Seiten in das einseitig befehlende Gesetzessystem auflöst, muß er selbstverständlich das einheitliche juristische Band zerschneiden, das den Staatsvertrag unabhängig von den gesetzlichen Geltungsgründen der Staatsrechtsordnungen, die nur für die Legitimation der Organe eine Rolle spielen, zur Rechtsfigur des Völkerrechts erhebt. Ich sehe nicht ein, worin sich die Wenzelsche StaatsvertragSlheorie von zwei mit gegenseitigen Reziprocitätsklauseln arbeitenden Gesetzessystemen unterscheidet!" G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.58. 1004 Vgl. M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.403 und S.406. 1005 M. Wenzel, Juristische Grundprobleme, S.4l3. 1001
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4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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rechts. !OO6 Andererseits wurde bereits ausgeführt, daß das Völkerrecht als positives Recht in dieser Lehre gerade nicht aus sich selbst heraus Verbindlichkeit erzeugen soll, sondern als Recht der einzelnen Staaten der Staatengemeinschaft - als ihr jeweiliges nationales Recht. Demzufolge stellt die Rechtsauffassung Max Wenzels den bisherigen Höhepunkt der auf Georg W. F H egel beruhenden Lehre vom Außenstaatsrecht dar. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts ist es Hans Kelsen, der auf den Ansatz Hegels zurückgreift und wahlweise ein über dem Völkerrecht stehendes Staatsrecht zuläßt. In diesem Sinne entwickelt er den älteren Monismus weiter. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts beruht für ihn jedoch letztlich nicht auf einer innerstaatlichen Willensbildung, sondern auf einer staatlichen Grundnorm. !OO7 3. Der umgekehrte Monismus Karl Albrecht Schachtschneiders
a) Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht in Rechtsprechung und Lehre Auch in der von Karl Albrecht Schachtschneider vertretenen Lehre sind Berührungspunkte zur älteren monistischen Rechtsauffassung feststellbar. Seine Dogmatik kommt diesem staatsrechtlichen Monismus am nähesten. Er befaßt sich im Rahmen des internationalen Rechts speziell mit den Grundfragen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, so daß sich für ihn das Problem des Verhältnisses von nationalem und europäischem Recht als eine der Kernfragen darstellt. !OO8 Genauso, wie die Verbindlichkeit völkerrechtlicher Vorschriften in den innerstaatlichen Rechtsordnungen kann auch das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum mitgliedstaatlichen Recht in Anlehnung an die Lehren vom Monismus und Dualismus konzipiert werden. Die Rechtsnatur der Gemeinschaften und ihre Beziehung zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten lassen sich aber auch in Abkehr von den traditionellen Lösungsansätzen erfassen. !OO9 Es wird allgemein anerkannt, daß ihre Gründungsverträge völkerrechtlicher Natur sind. 1010 Dabei ist unzweifelhaft zuzustimmen, daß die Inte1006 Vgl. z. B. H.-I. Schlochauer, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, S. 9; I. Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, S. 8. 1007 Dazu 4. Teil, 3. Kap. 11., insbesondere 3. e). 1008 Vgl. K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S. 17-2l. 1009 Dazu K. Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsvergleichung und des Völkerrechts, 2. Aufl., 1980, S. 79-80; M. SchweitzerlW Hummer, Europarecht, S. 210-215; rh. Oppermann, Europarecht, S. 178-183 und S.334-337. 1010 Unter dieser Voraussetzung gelten für das Gemeinschaftsrecht die völkerrechtlichen Grundsätze zur Auslegung und Anwendung der Verträge sowie auch die Wiener Vertragsrechtskonvention; vgl. H.-I. Schlochauer, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, S. 2-3 und S. 8;
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
gration der Europäischen Gemeinschaften stärker als bei anderen zwischenstaatlichen Organisationsformen oder der durch multilateralen Vertrag entstandenen UNO fortgeschritten ist. 1011 Aufgrund ihrer vergleichsweise weitreichenden Rechtsetzungsbefugnisse gegenüber den Mitgliedstaaten und der unmittelbaren Anwendbarkeit ihrer Rechtsakte werden sie bevorzugt als supranationale Organisationen bezeichnet. 1012 Schachtschneider definiert den Begriff der Supranationalität als "die Hoheitlichkeit (Gewalt) von Institutionen ... , deren Maßnahmen unabhängig vom Willen der Nationen (Völker) verbindlich sind und durchgesetzt werden können"I013. Im Gegensatz zur Auffassung Schachtschneiders gehen zahlreiche Autoren bezüglich des Europäischen Gemeinschaftsrechts von der endgültigen Abgabe von Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten an unabhängige Organe der Europäischen Gemeinschaften aus, womit zugleich deren überstaatlicher Charakter begründet wird. 1014 Nach dieser Auffassung können die Mitgliedstaaten aufgrund der SupranaA. Bleckmann, Europarecht, S. 122-123; anders dagegen H. Köck, Der Gesamtakt in der deutschen Integrationslehre, 1978. Auch Karl Albrecht Schachtschneider bejaht die völkerrechtliche Natur der Gemeinschaftsverträge; dazu K.A. Schachtschneider, Die Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft, S. 93; K.A. Schachtschneider u. a., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, Manuskript des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Oktober 2000, S. 25-26. Die begrenzten Kündigungsmöglichkeiten der Wiener Vertragsrechtskonvention sind seiner Meinung nach jedoch nicht anwendbar, weil eine unauflösliche europäische Staatengemeinschaft dem Prinzip der Freiheit widersprechen würde; vgl. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 102. 1011 Nach Ansicht von Alfred Verdross, Bruno Simma und Otto Kimminich sind die Europäischen Gemeinschaften unter dem Dach der Europäischen Union "supranationale Organisationen", die "europäisches Völkerrecht" darstellen und sich "zur Integration verdichtet" haben, so daß das Recht dieser Gemeinschaften "zu einer Sonderdisziplin entwickelt" wurde; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 597 und O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.512-513. 1012 Der Begriff der Supranationalität verbreitete sich erstmals in Verbindung mit dem Beginn der europäischen Integration nach dem ZweitenWeltkrieg und wurde zum festen terminologischen Bestandteil der Rechtswissenschaft und Politik, obwohl der Begriff unterschiedlich definiert wird und bezüglich seiner Verwendung auf die Europäischen Gemeinschaften strittig ist; vgl. M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, S. 224-225; A. Bleckmann, Europarecht, S. 409-415; G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 28; K. Doehring/T. BuergenthallJ. Kokott/ H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S. 48-50. Als supranationale Gemeinschaften sind sie im Sinne des Bundesverfassungsgerichts weder als Staat noch als Bundesstaat anzusehen, vgl. BVerfGE 22, 293 (296). 1013 K.A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, in: ARSP-Beiheft 71: Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Umbruchs, hrsg. von Rolf Göschner und Martin Morlok, 1997, S.153-177, hier S.163, Fußnote 78. Dazu auch M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, S.224; Th.Oppermann, Europarecht, S.180-181. 1014 Siehe z. B. Th.Oppermann, Europarecht, S. 337; M. Schweitzer/W. Hummer, Europarecht, S. 225; G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 28-29; I. Seidl-Hohenveldern, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 3. Aufl., 1979, S. 8; H.-I. Schlochauer, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, S. 2-3; zur Auffassung Karl Albrecht Schachtschneiders siehe 4. Teil, 4. Kap. II. 3. b) und c).
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
263
tionalität der Europäischen Gemeinschaften durch Mehrheitsbeschlüsse oder Beschlüsse supranationaler Organe berechtigt und verpflichtet werden. Die Rechtsnatur des supranationalen Rechts wird unterschiedlich beurteilt. Entweder sieht man es als Völkerrecht 1015 oder als eine neben dem Völkerrecht stehende eigene Rechtsordnung oder aber als einen mit ihm verwandten Normenkreis an. 1016 Die Ablehnung der völkerrechtlichen Sicht wird mit den Besonderheiten der Gemeinschaften begründet, weshalb sie eine eigenständige Rechtsordnung darstellen, die als "sui generis" weder dem Völkerrecht noch dem nationalen Recht angehören. 1017 Diese Doktrin hat sich mit der Zeit zur herrschenden Lehre entwickelt und ist zum Bestandteil der Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs als auch des Bundesverfassungsgerichts geworden. 1018 Dabei hat insbesondere das Problem des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts primäre Bedeutung. Diese Sicht des Europä1015 So z. B. E. Suy, Les rapports entre le droit communautaire et le droit interne des etats membres, S. 11; R. Bindschedler, Rechtsfragen der Europäischen Einigung, 1954, S.201; F. Münch, Die Abgrenzung des Rechtsbereichs der supranationalen Gemeinschaft gegenüber dem innerstaatlichen Recht, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 2, 1958, S. 73-135, hier S. 77; U. Scheuner, Die Rechtsetzungsbefugnis internationaler Gemeinschaften, in: Völkerrecht und rechtliches Weltbild, Festschrift für Alfred Verdross, 1960, S.229-242, hier S. 233 und S. 235. Der völkerrechtliche Charakter des Gemeinschaftsrechts wird dabei insbesondere mit den Argumenten begründet, daß die Gründung dieser Gemeinschaften auf völkerrechtlichen Verträgen beruht oder daß staatliche Verbindungen entweder staatsrechtlicher oder völkerrechtlicher Art sein müssen; vgl. E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, in: Abhandlungen aus dem Seminar für öffentliches Recht, hrsg. von Rudolf LaunlHans-Peter Ipsen, Heft 55, 1966, insbesondere S. 11-13 und S. 19-33. 1016 Insbesondere für Hans-Jürgen Schlochauer stellt das Gemeinschaftsrecht wegen seines besonderen Inhalts einen eigenen Rechtskreis dar; dennoch besitzt es seiner Meinung nach aufgrund seiner Gründungsform verwandte Züge zum Völkerrecht; vgl. H.-J. Schlochauer, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, S. 3 und S. 6-8. Andere folgen dem von Alfred Verdross geprägten Ausdruck "internes Staatengemeinschaftsrecht" oder erkennen es wie Georg Er/er als "transnationales Recht", um damit die Besonderheit dieser Rechtsmasse gegenüber dem Völkerrecht auszudrücken; A. Verdross, Völkerrecht, S. 4, erstmals in A. Verdross, Regles generales du droit de la paix, in: RdC, V, Nr.30, 1929, S. 275-507, hier S. 311; G. Erler, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, in: VVDStRL, Band 18, 1960, S.7-49, hier S. 22. 1011 Auch wenn die Vertreter dieser Auffassung die völkerrechtliche Entstehung des Gemeinschaftsrechts anerkennen, sind sie von seiner Autonomie überzeugt; Hans-Peter Ipsen prägte in diesem Zusammenhang - wohl auch in bezug auf die Rechtsprechung des EuGH - den Begriff der "autonomen Rechtsordnung", H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 63, vgl. S. 60-71; ähnlich G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 30; vgl. auch M. Schweitzer/Wo Hummer, Europarecht, S. 207-211 und M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrechtlEuroparecht, 7. Autl., 2000, S.16-17; besonders ausführlich G. Prasch: Die unmittelbare Wirkung des EWG-Vertrages auf die Wirtschaftsunternehmen, in: Schriftenreihe zum Handbuch für Europäische Wirtschaft, hrsg. von Heinrich Rieber, Band 34, 1967. 1018 Für den Europäischen Gerichtshof ist das Gemeinschaftsrecht zunächst eine "neue Rechtsordnung des Völkerrechts" und später ein Recht, das einer "autonomen Rechtsquelle" entspringt; siehe dazu die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen "van Gend & Loos" (EuGH v. 05.02.1963 - Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (24f.» und "Costa/ENEL" (EuGH v. 15.07.1964-Rs.6/64, Slg. 1964, 1251 (l269f.».
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
ischen Gerichtshofs, welche er in ständiger Rechtsprechung wiederholt lO19, ist mit einer dualistischen Grundhaltung verbunden, welche das Europäische Gemeinschaftsrecht als "autonome", "nicht-völkerrechtliche" Rechtsordnung auf der einen Seite und das nationale Recht der Mitgliedstaaten auf der anderen Seite als zwei grundsätzlich voneinander getrennte Rechtskreise ansieht. Die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung resultiert nach Auffassung dieses Gerichts aus der Besonderheit der Gründung der Gemeinschaftsverträge, welche in der Übertragung von Hoheitsrechten liegt. Das Gemeinschaftsrecht bedarf jedoch keiner Umsetzung - sei es auf dem Weg der Transformation oder mittels Rechtsanwendungsbefehl- in den innerstaatlichen Rechtsbereich; denn ihre Bestimmungen strömen mit ihrem Inkrafttreten in das Recht der Mitgliedstaaten ein und besitzen dort unmittelbare Geltung und Vorrang. 1020 Was das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht betrifft, so folgt die Bundesrepublik Deutschland der dualistischen Lehre, und die herrschende Meinung deutet die Umsetzung der völkerrechtlichen Verträge als Rechtsanwendungsbefehl im Sinne der Vollzugslehre. 1021 Art. 59 Abs. 2 GG soll demnach nicht nur rechtliche Grundlage für die Ratifikation völkerrechtlicher Verträge sein, sondern zugleich auch Ausdruck ihrer Übernahme in die innerstaatliche Rechtsordnung. 1022 Für das Gemeinschaftsrecht lehnte das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Eigenart der 1019 So z. B. in der Rechtssache "Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel" (EuGH v. 17.12.1970 - Rs. 11/70, Sig. 1970, 1125 (1135)); in diesem Sinne auch die Entscheidungen des EuGH "Kunstschätze 11" (EuGH v. 13.07.1972- Rs.48/71, Sig. 1972,529 (534f.)) und "Hauer" (EuGH v. 13.12.1979-Rs.44/79, Sig. 1979, 3727 (3744)); siehe auch Th. Oppermann, Europarecht, S. 231. 1020 Vgl. H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S.70-71; Rechtssache "Costa/ ENEL" (EuGH v. 15.07.1964 - Rs. 6/64, Sig. 1964, 1251 (1269f.)); dazu auch R. Streinz, Bundesverfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, I. Aufl., 1989, S.59-76; K. Ipsen, Völkerrecht (4. Aufl.), S.447-448; Th.Oppermann, Europarecht, S.229-236. 1021 Das Völkerrecht selbst enthält keine Vorschriften über sein Verhältnis zum innerstaatlichen Recht. Es entscheidet deshalb für die Staaten, die dem Dualismus folgen, auch nicht, wie die Völkerrechtsnormen in innerstaatliches Recht umzusetzen sind. Im Rahmen der von der 1. Studienkommission der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht entwickelten und von Karl losej Partsch dokumentierten Vollzugslehre erfüllt die staatliche Rechtsetzung im Sinne der Art. 25 und 59 Abs. 2 GG keine Transformationsfunktion, sondern befiehlt die Anwendung der völkerrechtlichen Normen innerhalb der nationalen Rechtsordnung; siehe 5. Teil, 2. Kap. I. und 11. sowie 3. Kap. 1.; ausführlich dazu auch K. l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, insbesondere S. 19-31 und S. 156-157; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 539-540 und S. 546; O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S.497-500; A. Bleckmann, Das Verhältnis des Völkerrechts zum Landesrecht im Lichte der "Bedingungstheorie", S.270-277; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 277-296; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, insbesondere S.40; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1078-1080 und S. 1096-1101; A. Randelzhojer, Incorporation ofInternational Treaties into Municipal Law, in: Veröffentlichungen des Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, hrsg. von Jost Delbrück/Wilhelm A. Kewenig/Rüdiger Wolfrum, Band 103: International Law and Municipal Law, hrsg. von Grigory I. Tunkin/Rüdiger Wolfrum, 1988, S. 101-114.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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Gemeinschaftsrechtsordnung die völkerrechtliche Sichtweise ab und schloß sich zunächst der Auffassung und Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs an. 1023 Mittlerweile folgt das Gericht in seinen Beschlüssen der Vollzugslehre, nach welcher durch das Zustimmungsgesetz im Sinne eines Rechtsanwendungsbefehls die innerstaatliche Geltung der völkerrechtlichen Gemeinschaftsverträge angeordnet wird. 1024 Bekräftigt hat das Bundesverfassungsgericht die Vollzugslehre nicht nur in der "Solange 11 "-Entscheidung 1025, sondern auch in dem Urteil über den Vertrag von Maastricht. 1026 Dabei ergibt sich für das Gericht aufgrund des Rechtsanwendungsbefehls des Zustimmungsgesetzes eine unmittelbare Geltung sowohl des primären als auch sekundären Gemeinschaftsrechts und ihr Anwendungsvorrang gegenüber innerstaatlichem Recht. 1027 Mit den dargestellten Rechtsauffassungen wird deutlich, daß das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zum Recht der Mitgliedstaaten grundsätzlich entsprechend dem Verhältnis von Völkerrecht zu staatlichem Recht beurteilt werden kann, 1028 wenn man die Besonderheiten der europäischen Gemeinschaftsverträge berücksichtigt. 1029 Sowohl aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als auch ausgehend von den Urteilen des Bundesverfassungsgericht ist im Grunde auf ein dualistisches - genauer pluralistisches - Verhältnis von staatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht zu schließen. Zugleich ist erkennbar, daß für beide Gerichte die 1022 Vgl. A. Bleckmann, Europarecht, S. 291-292; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.270-271; BVerfGE 30, 272 (284f.); BVerfGE 1,396 (410f.); BVerfGE 6, 290 (294f.); dazu auch 5. Teil, 2. Kap. II.2 und 3. Kap. I. 1023 Vgl. BVerfGE 22, 293 (295f.); BVerfGE 31, 145 (173f.) und BVerfGE 37, S.271 (S. 277 ff.). 1024 Die parlamentarische Zustimmung ist in Art. 59 Abs. 2 GG verankert und ermöglicht die Ratifikation völkerrechtlicher Verträge; vgl. A. Bleckmann, Europarecht, S. 291-292; siehe. Zur Vollzugslehre des Bundesverfassungsgerichts siehe BVerfGE 45, 142 (169); BVerfGE 52, 187 (199), BVerfGE 73, 339 (367); BVerfGE 89,155 (190); dazu auch 5. Teil, 2. Kap. 1.2. und 3. Kap. 1025 Vgl. BVerfGE 73, 339 (367ff.). 1026 Vgl. BVerfGE 89, 155 (190). 1027 Vgl. BVerfGE 73,339 (374f.). Die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung wird demnach sowohl vom EuGH als auch vom Bundesverfassungsgericht bejaht, obgleich sie unterschiedliche Erklärungsansätze dogmatisieren; siehe dazu auch K.A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, in: DSWR, Nr. 3, 1999, Teil 11, S. 81-85 und Nr.4, 1999, Teil 111, S.116-119. Zur Beurteilung der Vollzugslehre im Rahmen der Lehre vom umgekehrten Monismus siehe 4. Teil, 4. Kap. II. 3. b) und d) sowie 5. Teil, 3. Kap. I. 1028 Siehe dazu auch E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 13; H.-J. Schlochauer, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, S. 22-23; C. Alder, Koordination und Integration als Rechtsprinzipien, in: Cahiers de Bruges, Nr.23, 1969, S.43-54 und S. 63-67; M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, in: Kölner Schriften zum Europarecht, hrsg. vom Institut für das Recht der Europäischen Gemeinschaften der Universität Köln, Band 9, 1969, S. 20-21. 1029 Andere Ansicht bei M. SchweitzerlW. Hummer, Europarecht, S. 215.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
europäischen Verträge - aufgrund der fortgeschrittenen Integration - das Verhältnis zwischen den Rechtsordnungen in spezieller Weise gestalten. Demnach weichen insbesondere ihre Auffassungen bezüglich der Verbindlichkeit des Gemeinschaftsrechts im nationalen Recht der Mitgliedstaaten von den traditionellen Rechtsordnungskonzeptionen ab: Für den Europäischen Gerichtshof ist trotz eines dualistischen Verhältnisses zwischen Gemeinschaftsrecht und staatlichem Recht ein innerstaatlicher Anwendungs- oder Transformationsbefehl nicht erforderlich und nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bewahrt das Gemeinschaftsrecht ungeachtet der Notwendigkeit eines solchen staatlichen Aktes seine unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit. 1030 Es ist also deutlich zu erkennen, daß die pluralistische Grundkonstruktion - durch die besondere europarechtliche Sichtweise stark beeinflußt - von einem monistischen Ansatz überdeckt wird. b) Das europäische Recht als gemeinschaftlicher Teil der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Die Auffassung, daß die Beschränkung der Souveränität der Mitgliedstaaten charakteristisch für die Supranationalität der Europäischen Gemeinschaften ist, teilt Karl Albrecht Schachtschneider nicht. Seiner Meinung nach zeichnet sich die Europäische Union dadurch aus, daß die Mitgliedstaaten den gemeinschaftlichen Organen begrenzt Hoheitsrechte übertragen haben, wie es zunächst durch Art. 24 Abs. 1 GG und später insbesondere durch Art. 23 Abs.l GG gestattet wurde. 103\ Die Übertragung der Hoheit selbst, als Einschränkung der Souveränität zugunsten der Gemeinschaften oder sogar im Sinne einer Abgabe der höchsten Gewalt der Mitgliedstaaten an eine europäische Republik ist damit nicht verbunden. 1032 Aufgrund des Fehlens dieses Integrationsschritts folgert Schachtschneider: \030 Ähnlich K. Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsvergleichung und des Völkerrechts, S. 80; siehe dazu auch A. Bleckmann, Europarecht, S. 122-123. \03\ Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 94. \032 Vgl. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 76-77; K.A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S. 163; K.A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung des staatlichen und kommunalen Verrnessungswesens in Bayern, S.16-17 und S. 23-26. Ebenso H. Krüger, Souveränität und Staatengemeinschaft, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 1, 1957, S. 3 und C. Alder, Koordination und Integration als Rechtsprinzipien, S. 44-45; dazu auch H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 21-22, S. 513, S. 848 und S. 858-860. Für Karl Doehring dagegen besitzen die Europäischen Gemeinschaften eine "eigene Hoheitsgewalt", so daß seiner Meinung nach bezüglich der Regelungsbereiche der europäischen Verträge die "typische staatliche Souveränität" nicht mehr besteht; siehe K. Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsvergleichung und des Völkerrechts, S. 80-82. Ähnliche Erkenntnisse vertritt Man/red Zuleeg, für den die Gemeinschaften umfassende "Herrschaftsbefugnisse" gegenüber den mitgliedstaatlichen Bürgern besitzen. Unentschieden ist er gegenüber der Frage, ob die
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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"Solange und soweit die europäische Republik die höchste Gewalt den Mitgliedstaaten beläßt, ist ihre Gemeinschaft nicht supra-, sondern international. Daß eine höchste Gewalt der europäischen Republik nur durch einen Verfassungsakt der Bürger Europas herbeigeführt werden kann, versteht sich. Es würde voraussetzen, daß die Völker Europas sich für eine solche Integration durch Referenden öffnen."\033
Im Urteil von Maastricht vom 12. Oktober 1993 bezeichnet das Bundesverfassungsgericht die Europäische Union als eine "völkerrechtliche Vereinbarung über einen auf Fortentwicklung angelegten mitgliedstaatlichen Verbund" 1034. Es bekräftigt die endgültige Abkehr von seiner Auffassung, daß die Rechtsordnung der Gemeinschaften eine "autonome" Rechtsordnung sei; 1035 dennoch hält es an der Notwendigkeit des nationalen Vollzugsbefehls fest, der den Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen darstellen soll: "Die Bundesrepublik Deutschland ist somit auch nach dem Inkrafttreten des Unions-Vertrags Mitglied in einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken kann."1036
Nach Ansicht von Schachtschneider zeigt sich jedoch in der Urteilsbegründung eine neue, für das Problem der Rechtsgeltung relevante Erkenntnis des Gerichts: Es stellt erstmals heraus, daß die Verbindlichkeit des Gemeinschaftsrechts auf dem Willen des deutschen Volkes beruht. 1037 Mit dieser Auffassung knüpft das Gericht an die Lehre Schachtschneiders an. 1038 Er vertritt die These, daß die Rechtsakte des Gemeinschaftsrechts ausschließlich als Wille der Nationen verbindlich sind und von den Staaten dadurch ihre Souveränität eingebüßt haben; siehe M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, S. 16-17. \033 K.A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S.175, vgl. S. 176; siehe dazu auch W. HankellW. Nölling/K. A. Schachtschneiderll. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, 1998, S.249-251. \034 BVerfGE 89, 155 (200). 1035 Vgl. BVerfGE 89,155 (175); Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 100. \036 BVerfGE 89,155 (190). \037 "Deutschland ist einer der ,Herren der Verträge', die ihre Gebundenheit an den ,auf unbegrenzte Zeit' geschlossenen Unions-Vertrag (Art. Q EUV) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft begründet haben, diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben könnten. Geltung und Anwendung von Europarecht hängen von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes ab. Deutschland wahrt damit die Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht und den Status der souveränen Gleichheit mit anderen Staaten i. S. des Art. 2 Nr. 1 der Satzung der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945." BVerfGE 89, 155 (190); dazu auch K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 102-104. Zur Autonomie des Willens siehe K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 4. Kap. I. und 11. \038 Dazu I. Winkelmann (Hrsg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, in: Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, hrsg. von Wolfgang GrafVitzthum u.a., 1994, S.408-409, S.414-416 und S.418-419.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
mitglied staatlichen Organen durchgesetzt werden, womit das Gemeinschaftsrecht keiner "eigenen" oder "autonomen" Rechtsordnung entspringen kann: "Recht kann in Deutschland nach dem Grundgesetz nur vom deutschen Volke ausgehen (Art. 20 Abs.2 S. I GG). Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, die Willensautonomie der Bürger Deutschlands, von vielen und auch vom BundesveIfassungsgericht (monarchistisch) die ,Souveränität' Deutschlands genannt, ist nach dem Grundgesetz unaufhebbar und unübertragbar (argurnenturn ex Art. 79 Abs. 3 GG)." 1039
Ausgangspunkt der - von Kant geprägten - Rechtslehre Schachtschneiders ist das Freiheitsprinzip: "Die Freiheit als Autonomie des Willens ist der Grund, auf dem Recht und Staat gründen, ohne daß sie identisch mit dem sie als Recht schützenden Grundrecht wird. Die Freiheit liegt allem objektiven Recht und allen subjektiven Rechten zugrunde."I04O
Die äußere Freiheit - in der Lehre Kants als die "Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" 1041 definiert - ist mit dem Wesen der Menschen untrennbar verbunden 1042 und stellt für Schachtschneider im Sinne einer "äußeren Freiheit" 1043 den transzendentalen Geltungsursprung allen Rechts dar: "Recht kann nur eine Grundlage haben - die Freiheit." 1044 Zur Verwirklichung des Rechts bedarf es der allgemeinen Gesetzlichkeit, also des positiven Rechts, welches nach einer freiheitlichen Rechtsauffassung nur durch "allgemeine Gesetze"1045 materialisiert werden kann. 1046 Der Grundsatz, daß der Mensch nur nach dem allgemeinen Gesetz handelt, 1039 K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 100-\01, vgl. S.98; dazu auch K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung des staatlichen und kommunalen Vermessungswesens in Bayern, S. 16 und S. 25-26. 1040 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 332. 1041 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345. 1042 "Freiheit ... , sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht." Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345; vgl. K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.332-334; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 1. Kap., 2. Kap. I. und 11. 1043 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 280; dazu auch K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 2. Kap. 111., IV., VI. und 4. Kap. I. 1044 K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S. 19; vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1-11, S. 253-259 und S. 519-536; K.A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 1. Kap., 2. Kap. III. und 7. Kap. 1045 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785/86, in: Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band 6, 5. Nachdruck 1983, S. 7-\02, hier S. 81 und Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S.139. 1046 Vgl. K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 315-322 und S. 399-401; K.A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 4. Kap. 11., 111. und IV. In der Kantianischen Lehre ist das Recht "der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann". Kant, Metaphysik der Sitten, S. 337.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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kann sich nur unter Einhaltung des kategorischen Imperativs von Kant, also des Sittengesetzes 1047, erfüllen: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."1048 Die Idee der Sittlichkeit des Menschen ist zugleich das Prinzip der "inneren Freiheit"1049, welche wiederum die Willkürfreiheit voraussetzt, so daß sich äußere und innere Freiheit gegenseitig bedingen. 105o Diese "Idee der Freiheit"1051 ist das Fundament jedes freiheitlichen Gemeinwesens: "Die Idee (das transzendentale Apriori) Freiheit ist die Verfassung, auf die das Grundgesetz das gemeinsame Leben aufbaut: die Idee der Republik." 1052 Im Sinne Schachtschneiders sind die Gesetze die volonte generale und verwirklichen somit das freiheitliche gemeinsame Leben der Bürger - ohne daß Unter- und Überordnungsverhältnisse mit einer Obrigkeit entstehen: 1053 "Die Ethik als die Lehre vom Sollen ist die Lehre von der Freiheit (Kant), weil Sollen und damit die Verbindlichkeit der Gesetze nur auf die durch das Sittengesetz definierte Freiheit und damit auf den Willen aller, der volonte generale, (transzendental) gegründet werden kann, jedenfalls seit durch die Aufklärung ein religiöser Geltungsgrund der Gesetze nicht mehr begründbar ist. ,Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus' ist die Logik der Freiheit. Auf dieses Fundament stellt Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG die demokratische Republik und nimmt damit jeder Herrschaft und jeder Herrschaftslehre die Legitimation." 1054
Schachtschneider vertritt die These, daß die Bereitschaft und der Wille des deutschen Volkes, die Verbindlichkeit der Rechtsordnung der Gemeinschaften anzuerkennen, durch die Zustimmungsgesetze im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG ausgedrückt wurde, welche die Voraussetzung der Ratifikation der Gemeinschaftsverträge sind. 1055 Im Sinne des Völkerrechts stellt dies das Selbstbestimmungsrecht der Völ1047 Vgl. Art. 2 Abs. 1 GG; Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 142; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 317-318; ausführlich dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 3. Kap. I. und 11. 1048 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 140, vgl. S. 141-142; entsprechend: Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 51 und S. 69-71 und Kant, Metaphysik der Sitten, S.331 und S.526. Siehe dazu K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.275-325; K.A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 2. Kap.V. 1049 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 280; K.A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 2. Kap. VI. und VII. 1050 Vgl. K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.289-297 und S. 320-325; K.A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 2. Kap. VII. 1051 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 321-335, insbesondere S.338, S.426-433 und S.492-494, siehe auch Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 217-234; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345. 1052 K.A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 1. Kap.; dazu auch K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 155-158. 1053 Vgl. K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.292-932; K.A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teile A, Bund D. 1054 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 520-521. 1055 Siehe dazu auch K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 99.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
ker dar, das in Art. 1 Ziff.2 und Art. 2 Ziff. 1 der Satzung der Vereinten Nationen verankert ist. 1056 Dieser wesentliche Grundsatz des Völkerrechts ist in der Lehre Schachtschneiders die Autonomie des Willens eines staatlichen Gemeinwesens. 1057 Dieser Maxime entspricht das Grundgesetz Deutschlands, welches in Art. 24 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 1 GG die Übertragung von Hoheitsrechten auf "zwischenstaatliche Einrichtungen" bzw. auf die "Europäische Union" durch Zustimmungsgesetze ermöglicht. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Übertragung von Hoheitsrechten der Bundesrepublik Deutschland als Befugnisse zur Ausübung der Staatsgewalt. 1058 Nach Ansicht Schachtschneiders sind diese Ermächtigungen ausschließlich als "Vertretungsrechte" 1059 zu bewerten und nicht als die Übertragung der Staatsgewalt an die Europäische Union. Demnach verbleibt für Schachtschneider die Staatsgewalt an sich, welche die Willensautonomie der Bürger umfaßt, beim Volk. 1060 Als ein oberstes Verfassungsprinzip ist dies in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankert; denn "alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". 1061 Zur Ausübung dieser Staatsgewalt sieht das Grundgesetz besondere, demokratisch legitimierte Vertretungsorgane vor, welche die "Staatlichkeit im funktionellen Sinne"1062 darstellen. 1063 Schachtschneider erkennt in dieser Konzeption eine Möglichkeit, innerhalb einer staatlichen Gemein1056 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S.161-163. Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker siehe auch G. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1955; K. Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz des Völkerrechts, in: BDGVR, Heft 14, 1947, insbesondere S. 7-10 und S.47-48; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 135-140; A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S.315-321. 1057 Vgl. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 84, S. 95 und S. 102. 1058 Vgl. BVerfGE 89,155 (184, 186f.). Diese Hoheitsgewalt kann nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts nur nach dem "Prinzip der begrenzten Ermächtigung" auf die Europäische Union übertragen werden; vgl. BVerfGE 89,155 (181,191 ff.). Ausführlich zur Staatsgewalt, die im Rahmen der Drei-Elemente-Lehre in Verbindung mit dem Staatsgebiet und Staatsvolk die Einheit des Staates darstellt, G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394-434; A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 223-226; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 134-135. 1059 K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.95. 1060 Vgl. K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S.19; K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 95-96; K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung des staatlichen und kommunalen Vermessungswesens in Bayern, S.16, S. 21 und S. 25-26. 1061 Dazu K.A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil B. 1062 K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.76; dazu K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung des staatlichen und kommunalen Vermessungswesens in Bayern, S.26-27 und S. 37-38. 1063 Die Staatsgewalt "wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt". Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG; vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.637-644.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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schaft die bestmögliche Verwirklichung der allgemeinen Freiheit für ein gutes Leben aller Bürger auf dem Weg der Gesetzlichkeit zu erreichen: 1064 "Ohne ein Parlament aus den Vertretern des ganzen Volkes aber ist die allgemeine Autonomie des Willens, also die Freiheit aller Bürger, nicht realisierbar. Die Verwirklichung der allgemeinen Freiheit ist die einzige und zugleich unabweisbare Rechtfertigung moderner Staatlichkeit. Die Gesetzgebung ist autonom, wenn sie die Erkenntnisse des Richtigen für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit verabschiedet. Für diese Aufgabe ist ein Parlament als die Versammlung der für die Bewältigung insbesondere dieser Aufgabe gewählten Vertreter des ganzen Volkes das bestmöglich konzipierte Organ."1065
Zugleich stellt Schachtschneider heraus, daß die Verfassung Deutschlands auch eine gemeinschaftliche Ausübung der deutschen Hoheitsrechte mit anderen Völkern, die sich im Sinne des Art. 23 Abs. I GG in der Europäischen Union zusammenschließen, ermöglicht. So werden seiner Lehre nach mittels der Übertragung der Befugnis zur Ausübung der nationalen Hoheitsgewalt auf die Europäischen Gemeinschaften deren Organe in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten integriert. I066 Das Bundesverfassungsgericht führt im Urteil von Maastricht dazu aus: "Der Unions-Vertrag begründet... einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatlich organisierten - Völker Europas ... , keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat. ... Die Mitgliedstaaten haben die Europäische Union gegründet, um einen Teil der Aufgaben gemeinsam wahrzunehmen und insoweit ihre Souveränität gemeinsam auszuüben .... " 1067
Schachtschneider betont, daß mit der Integration der gemeinschaftlichen Organe in die jeweilige nationale "existentielle Staatlichkeit" 1068 der Mitgliedstaaten keine Einschränkung der Freiheit, der Hoheitsgewalt oder der staatlichen Zwangsbefugnisse verbunden ist. Die existentielle Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutsch1064 Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.637 und S.929-932; K A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil D. I. und Teil F. I. 2.; siehe auch K A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 4. Kap. I. und 6. Kap. 11.; K. A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S.154-161. 1065 KA. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 638. 1066 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S.161-165; K.A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S. 19; K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.94. 1067 BVerfGE 89,155 (188f.). 1068 Den existentiellen Staat beschreibt Karl Albrecht Schachtschneider dabei als die "verfaßte Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit" oder als "das Volk". Neben der Verfassungshoheit sind seine wesentlichen Merkmale die Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungshoheit sowie insbesondere die Kompetenz zur Ausübung von Gewalt. Im Vergleich zur funktionalen Staatlichkeit, d. h. zum Staat im engeren Sinne, stellt die existentielle Staatlichkeit den Staat im weiteren Sinne dar; siehe K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.75-77; siehe dazu auch K.A. Schachtschneider, Die Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft, S. 81-82; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.545-559.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
land - die herrschende Lehre und das Bundesverfassungsgericht sprechen von der "Souveränität" 1069 - darf somit zur Bildung der Europäischen Union nicht aufgehoben werden. 1070 Auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bleiben die Mitgliedstaaten souverän, so daß substantielle Aufgaben und Befugnisse auch weiterhin vom deutschen Staat übernommen werden. 1071 Folglich schafft die Übertragung von Hoheitsrechten keine selbständige, über oder neben den Staaten stehende europäische Gewalt,1072 sondern ermöglicht ausschließlich die gemeinschaftliche Ausübung der bei den Völkern verbleibenden Staatsgewalt. 1073 Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union besitzen nach Ansicht Schachtschneiders demnach Staatlichkeit nur im "funktionellen Sinne" 1074, so daß die Organe der Gemeinschaftsrechtsordnung - aufgrund der übertragenen begrenzten Vertretungsrechte - die funktionale Staatlichkeit aller Mitgliedstaaten gemeinsam ausüben. 1075 Übereinstimmend damit hat Hans Peter Ipsen die Europäischen Gemeinschaften als "Zweckverband funktioneller Integration"1076 gedeutet. 1077 Für Schachtschneider BVerfGE 89,155 (S.189). Vgl. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas' und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 87 und S. 92-94. Kritisch äußert sich Karl Albrecht Schachtschneider zur Errichtung einer Europäischen Zentralbank im Rahmen der dritten Stufe der Währungsunion, durch welche seines Erachtens die existentielle Staatlichkeit der Völker geschwächt wird (vgl. S.129-132); dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 11. 3.c). 1071 Vgl. BVerfGE 89,155 (S.186f., l88ff.); dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 11. 3.c) und d). 1072 In diesem Sinne aber begründen die Gemeinschaftsverträge laut Bundesverfassungsgericht eine "von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedene öffentlichen Gewalt"; BVerfGE 89, 155 (175); ähnlich auch BVerfGE 22, 293 (295 f.); H.-P./psen, Europäisches Ge. meinschaftsrecht, S.232; Th. Oppermann, Europarecht, S. 336. 1073 ,,Ein Volk kann sich entscheiden, seine funktionale Staatlichkeit auf das eigene Hoheitsgebiet zu beschränken, kann aber darüber hinausgehend Staatsgewalt gemeinschaftlich mit anderen Völkern ausüben. Das ist seit 1949 der in der Präambel des Grundgesetzes und in Art. 24 Abs. 1 GG erklärte Wille des Deutschen Volkes." K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 87, vgl. S. 87-88 und S. 94. 1074 K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 76. 1075 "Die (funktionale) Gemeinschaftsstaatlichkeit der Europäischen Union ist (unter Rechtsprinzipien) jeweils Teil der nationalen Staatlichkeit (im existentiellen Sinne), etwa der Teil, der in bestimmter Organisation von den Völkern gemeinschaftlich ausgeübt wird. Gemeinschaftsrecht ist somit Teil der nationalen Rechtsordnung, nämlich der gemeinschaftliche Teil." K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S. 20. 1076 H.-P./psen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 196; dazu Th.Oppermann, Europarecht, S. 341-342. 1077 Auch Philip Allott folgt diesen Thesen: "Gemeinschaftsrecht ist integraler Teil des nationalen Rechts .... Nationale Verfassungsorgane sind zugleich Organe der Europäischen Union." Damit wären seiner Ansicht nach die Interessen der Europäischen Union "integraler Bestandteil des nationalen Interesses ihrer Mitgliedstaaten" und die Verfassungen aller Mitgliedstaaten würden "horizontal zu einer virtuellen Verfassung der Europäischen Union verknüpft. Die nationalen Verfassungsorgane wären dann nicht mehr am Rand der Union angesiedelt, sondern zentraler Bestandteil der neuen Unions-Verfassung und würden den Gemein1069 1070
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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besitzen diese Vertretungsrechte deshalb nationalen Charakter. So sind für ihn die Organe der Europäischen Gemeinschaften deshalb deutsche, französische, britische, italienische ... Organe, die durch die Gemeinschaftsverträge in die nationalen Verfassungen integriert wurden. Genauso ist das von diesen Organen gesetzte Recht nicht nur deutsches, sondern zugleich auch z. B. französisches, britisches, italienisches Recht - also Gemeinschaftsrecht. Dieses wird nicht aus einer eigenen Rechtsordnung heraus materialisiert, sondern es ist als ein Teil des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten zu verstehen, welches - folgt man dem Prinzip der Freiheit - seine unmittelbare Geltung nur durch den Willen des Volkes erlangen kann: 1078 "Das Gemeinschaftsrecht hat nicht etwa eine ,autonome Rechtsquelle' , sondern ist deutsches Recht, weil dessen Verbindlichkeit auf dem Willen des deutschen Volkes beruht. Recht besteht aus Gesetzen, die das, was für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit als richtig erkannt ist, namens des Volkes beschließen; denn das Volk will dieses Richtige als Recht. Die Kompetenz zur Erkenntnis des Richtigen ist in bestimmten Grenzen den gemeinschaftlichen Organen der Völker übertragen, weil das Richtige für die Gemeinschaft nur gemeinschaftlich erkannt werden kann. Der Rechtserzeugungswille bleibt aber der der zu Staaten im existentiellen Sinne verfaßten Völker, von denen allein die Staatsgewalt ausgeht. (Art. 20 Abs. 2 S. I GG)." 1079
Demgemäß lehnt Schachtschneider den vom Bundesverfassungsgericht dogmatisierten mitgliedstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl als Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts ab,1080 weil jenes für ihn keine eigenständige Rechtsordnung mit einem fremden Gesetzgeber darstellt. Im Gegenteil: Die Organe der Gemeinschaften sind in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen integriert, so daß die Vollzugslehre fraglich erscheint. In der Lehre Schachtschneiders sind Zustimmungsgesetze im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG einerseits verfassungsmäßige Bedingung für den Abschluß völkerrechtlicher Verträge, andererseits auch als Gesetze zur Übertragung willen der gesamten Union mit zum Ausdruck bringen. Die Unions-Verfassung müßte dann nicht mehr als eine oktroyierte Ordnung angesehen werden, sondern entstünde von innen, wäre zugleich Auswirkung und Außenwirkung der nationalen Verfassungen." Ph.Allott, Integration von Verfassungen, nicht von Staaten, in: FAZ vom 09.05.2001, S.13. 1078 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 100. Auch Claudius Alder lehnt den eigenständigen Charakter der Gemeinschaftsrechtsordnung ab und betont ihren inhärenten Zusammenhang mit den mitgliedstaatlichen Verfassungsvorschriften: "Die Gemeinschaftsrechtsordnung stellt sich innerstaatlich also nicht als eine unabhängige, sich selbst genügende und als solche anwendbare Rechtsordnung dar; sie ist vielmehr ... derivativer Natur, ihre innerstaatliche Geltung wird aus den Verfassungsnormen der Mitgliedstaaten abgeleitet." C. Alder, Koordination und Integration als Rechtsprinzipien, S.44; vgl. dazu auch H.-i. Schlochauer, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Wirtschafts gemeinschaft zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, S. 27-29; U. Scheuner, Die Rechtsetzungsbefugnis internationaler Gemeinschaften, S.240-241; F. Münch, Die Abgrenzung des Rechtsbereichs der supranationalen Gemeinschaft gegenüber dem innerstaatlichen Recht, S.76-78. 1079 K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.97-98. 1080 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11. 3. a) und 5. Teil, 3. Kap. 18 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
der Hoheitsrechte zu bewerten. 1081 Beide Vorgänge vereinen sich in der Zustimmung des deutschen Parlaments, die innerhalb des mehrphasigen Ratifikationsverfahrens von diesem abgegeben werden muß. 1082 c) Die existentielle Staatlichkeit als Begrenzung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts Obwohl das Bundesverfassungsgericht neben dem Rechtsanwendungsbefehl auch den Willen der Mitgliedstaaten für die Rechtsgeltung des Gemeinschaftsrechtsrechts verantwortlich macht und die Völker in diesem Sinne als "Herren der Verträge" 1083 versteht, wachsen die substantiellen Befugnisse der Europäischen Union stetig an, selbst wenn eine eigene existentielle Staatlichkeit der Union von den Völkern bisher nicht geschaffen wurde. Mit der Entwicklung eines solchen "unvollkommenen Gemeinschaftsstaates"1084 besteht nach Ansicht Schachtschneiders zugleich die Gefahr, daß die existentielle Staatlichkeit der nationalen Gemeinwesen ausgehöhlt wird. Insbesondere die wirtschaftspolitischen Bestimmungen im Rahmen der Währungsunion verletzen - aufgrund der fehlenden demokratischen Legitimation durch die Bürger im Sinne des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG - die Verfassung Deutschlands. 1085 Auch die Charta der Grundrechte für die Europäische Union stellen für Schachtschneider einen weiteren Schritt dar, die existentielle Staatlichkeit der Union zu forcieren und die Souveränität der Mitgliedstaaten aufzulösen. 1086 Wie bereits angedeutet, folgt das Bundesverfassungsgericht im Urteil von Maastricht der Auffassung über die Notwendigkeit der Wahrung der existentiellen Staatlichkeit der Völker; 1087 denn es zieht - ausgehend von der deutschen Rechtsordnung - insbeson1081 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 99-100; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S.19. 1082 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.450-461. 1083 BVerfGE 89,155 (190 bzw. 199). 1084 K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S.20; dazu auch W Hanke/! w. Nölling/K.A. Schachtschneiderll. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, S. 256-259. 1085 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 127-132 und S. 138-139; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S.20 und Teil III, S.118; dazu auchH.-M. Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip. Die gesarntwirtschaftliche Stabilität der deutschen Wirtschafts verfassung und die Europäische Wahrungsunion, Dissertation an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, demnächst, 5. Teil, 2. Kap. 1086 Vgl. K.A. Schachtschneider, Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union, S.13-21. 1087 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. b).
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dere fünf Grenzlinien, unter die sich das Gemeinschaftsrecht einordnen muß. Neben der Wahrung des Grundrechtsschutzes durch den Europäischen Gerichtshof,1088 der Achtung der Strukturprinzipien der deutschen Verfassung bei der Setzung von Rechtsakten 1089 und der Einhaltung des Prinzips der begrenzten Ermächtigung der Europäischen Gemeinschaften lO90, schränkt auch das Subsidiaritätsprinzip l091 dessen Kompetenzen verbindlich ein. Weiterhin gilt das gemeinschaftsrechtliche Mehrheitsprinzip nur in den Grenzen der "elementaren Interessen der Mitgliedstaaten" und deren "Verfassungsprinzipien".1092 Obwohl das Gericht den Vorrang des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich anerkennt 1093, stellt es die genannten fundamentalen Rechtsprinzipien unter die endgültige Verantwortung nationaler Gerichte, was die Sicherung der Rechtseinheit durch den Europäischen Gerichtshof in den Gemeinschaften erheblich erschwert. 1094 Auch wenn diese Konzeption zu ungleichem Europarecht innerhalb der nationalen Rechtsordnungen führt, müssen nach Ansicht von Schachtschneider die Rechtmäßigkeit und der Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen immer nach Maßgabe des Willens und damit der Verfassung der Völker unabdingbar gewährleistet werden: "Rechtseinheit kann ... nur verlangt werden, solange die Rechtsakte rechtens sind." 1095 In der Rechtsprechung 1096 und Literatur lO97 wird überwiegend der generelle Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht vertreten. Die Frage nach dem Rangverhältnis zwischen den Rechtsordnungen stellt sich, wenn sie sich bezüglich der Regelung des selben Falles widersprechen. Die Gemeinschaftsverträge 1088 Vgl. BVerfGE 89, 155 (174f., 189, 193, 2IOff.); siehe dazu K.A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E.l. 4. 1089 Vgl. BVerfGE 89, 155 (187f.); dazu auch BVerfGE 37, 271 (279); BVerfGE 73, 339 (376). 1090 Vgl. BVerfGE 89, 155 (187ff., 191 ff.); dazu ausführlicher Th. Oppermann, Europarecht, S. 197-201; A. Bleckmann, Europarecht, S.69-77, S. 117 und S.120. 1091 Vgl. BVerfGE 89, 155 (189, 193, 2IOff.); dazu Th. Oppermann, Europarecht, S.199-201. 1092 BVerfGE 89, 155 (184); dieses Rechtsprinzip bezieht sich auf den "Luxemburger Kompromiß" von 1966; dazu Th. Oppermann, Europarecht, S. 15-16; A. Bleckmann, Europarecht, S.30-31. 1093 Vgl. BVerfGE 89,155 (182ff., 190f., 197ff.). 1094 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.I07-108. 1095 K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil III, S. 117. 1096 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. a). 1097 Vgl. z. B. Th. Oppermann, Europarecht, S. 229-233; A. Bleckmann, Europarecht, S. 297-308; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht!Europarecht, S. 17-20; P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: HStR, hrsg. von Josef IsenseelPaul Kirchhof, Band VII: Normativität und Schutz der Verfassung - Internationale Beziehungen, 1992, § 183, S.855-888, Rdn.66; R. Streinz, Bundesverfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S.59-76.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
beinhalten bislang keine generellen Bestimmungen über das Rangverhältnis 1098 - die herrschende Lehre folgert jedoch aus der Besonderheit und Autonomie der Rechtsordnung der Gemeinschaften zugleich auch ihre vorrangige Anwendbarkeit. Begründet wird dies mit der unmittelbaren Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Rechtsraum, unabhängig von den Vorschriften der nationalen Rechtsordnungen. 1099 Deutlich erkennbar ist, daß nach dieser Lehre alle Gesichtspunkte der innerstaatlichen Rechtsposition des Gemeinschaftsrechts durch das Gemeinschaftsrecht selbst bestimmt werden sollen.
Schachtschneider folgt in seiner Lehre grundsätzlich dem Primat des Gemeinschaftsrechts. 1100 Dabei stimmt er mit der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs und der vorherrschenden Literatur in dem Punkt überein, daß der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ausschließlich ein Anwendungsvorrang, jedoch kein Geltungsvorrang ist. 1101 Demnach ist das nationale Recht im Falle eines Widerspruchs zum Gemeinschaftsrecht zwar unanwendbar, aber keineswegs nichtig. 1102 Der Praxis des Europäischen Gerichtshofs, dem Gemeinschaftsrecht einen unbeschränkten Vorrang vor dem gesamten Recht - einschließlich dem Verfassungsrecht - der Mitgliedstaaten einzuräumen, stimmt Schachtschneider jedoch nicht zu. Er wertet, ausgehend von seiner freiheitlichen Republiklehre und den Aussagen des Bundesver1098 Regelmäßig herangezogen werden aber sowohl einzelne Vorschriften der Gemeinschaftsverträge, wie Art. 249 Abs. 2 und Art. 10 EGV (n.F.), als auch die Bestimmungen der nationalen Verfassungen zur Errichtung der Europäischen Gemeinschaften; vgl. H.-P./psen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 285-287; E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 98-100; A. Bleckmann, Europarecht, S. 307-308; M. SchweitzerlW. Hummer, Europarecht, S. 212-215. 1099 Dazu 4. Teil, 4. Kap. H. 3. a). 1100 Vgl. K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil 111, S. 117-118. 1101 Zum Anwendungsvorrang siehe z. B.: Rechtssache "Internationale Handelsgesellschaft/ Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel" (EuGH v. 17.12.1970 - Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135)); Rechtssache "Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal" (EuGH v. 09.03.1978 - Rs. 106/77, Slg. 1978,629 (644ff.)) sowie die Rechtssache "Jongeneel Kaas/Niederlande" (EuGH v. 07.02.1984 - Rs. 237/82, Slg. 1984,483 (483ff.)); M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, S. 128, S. 135, S.334 und S.375; M. Schweitzer, Staatsrecht 111: StaatsrechtNölkerrecht!Europarecht, S. 19; A. Bleckmann, Europarecht, S. 235. Zum Geltungs- und Anwendungsvorrang vgl. Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 548-555. 1102 Für die Nichtigkeit des nachrangigen mitgliedstaatlichen Rechts spricht sich Eberhard Grabitz aus: "Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht", siehe E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 89-100. Kritische Argumente zu dieser Regel bei M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, S.124-128. Karl Albrecht Schachtschneider lehnt die Vernichtbarkeit des nationalen Rechts aufgrund praktischer Überlegungen ab; denn für den Fall, daß es zur Aufhebung von Gemeinschaftsrechtsakten oder zur Beendigung der Mitgliedschaft eines Staates kommt, dienen die mitgliedstaatlichen Vorschriften zur Regelung der Rechtsbeziehungen, vgl. K.A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsehe, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil 111, S. 118; dazu auch Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S.426-427, S. 432-436, S. 554 und S. 571-575.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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fassungsgerichts im Urteil von Maastricht, die existentielle Staatlichkeit als unabdingbare Beschränkung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts: "Rechtliche Verbindlichkeit kann in Deutschland nur aus dem Willen der Deutschen folgen. Eine von dem Willen und damit von der Verfassung der Völker unabhängige, also eigenständige europäische Staatsgewalt, ein Staat Europa im existentiellen Sinn, setzt eine europäische Verfassung und damit ein europäisches Volk voraus, welche die deutsche Verfassungshoheit und zugleich die existentielle Staatlichkeit des deutschen Volkes aufhebt. Jedes Volk ist innerstaatlich verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht als Teil der eigenen Rechtsordnung zu verwirklichen (Art. 10 EGV). Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts hat aber Grenzen, die sich aus der existentiellen Staatlichkeit der Völker ergeben." 1103
In der Lehre Schachtschneiders resultiert dieser "eingeschränkte Anwendungsvorrang" des Gemeinschaftsrechts in bezug auf sein Verhältnis zur deutschen Rechtsordnung folgerichtig aus dem Willen der Deutschen, die europäische Integration nach Maßgabe des Art. 23 Abs. I GG voranzutreiben. Der Primat ihrer Rechtssätze beruht demnach auf der gemeinschaftlichen Ausübung eines Teils der funktionalen Staatsgewalt der Mitgliedstaaten, auch wenn die freiwillige Übertragung der Hoheitsrechte jederzeit wieder aufgehoben werden kann, sollte sich ein Mitgliedstaat aus der Gemeinschaft zurückziehen wollen: 1104 "Der Vorrang selbst folgt aus der Logik der gemeinschaftlichen Ausübung der Staatlichkeit. Die gemeinschaftlichen Rechtsakte können aus der Gemeinschaftlichkeit nur einheitlich in der Gemeinschaft gelten, wenn nicht die Gemeinschaft aufgehoben und damit das Integrationsprinzip verlassen werden soll. Mit der Gemeinschaftlichkeit ist Einheitlichkeit verbunden. Diese ist die Allgemeinheit der Geltung und Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts. Das zwingt jedoch nicht zur Dogmatik einer eigenständigen Gemeinschaftsgewalt mit einer autonomen Rechtsordnung. Der Vorrang folgt dem demokratischen Dogma, daß die Gemeinschaftsorgane (auch) deutsche Staatlichkeit ausüben und zwar nach dem Willen der Deutschen.,,"05
Unbestreitbar ebnet die staatliche Integration Europas und die gemeinschaftliche Ausübung des europäischen Verfassungs- und Vertragsrechts den Weg, die Lebensverhältnisse gemeinschaftlich und gewaltlos zu meistem; dennoch verbleibt die existentielle Staatsgewalt in der freiheitlich konzipierten Republiklehre Schachtschneiders bei den Völkern. Insbesondere für ihre jeweiligen Verfassungen übernehmen ll03 K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil III, S. 117; vgl. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.103; K.A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S.168 und S.I72. IJ04 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 101-103; W. HankellW. NöllinglK. A. Schachtschneiderll. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, S. 196-197. Dazu auch H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 21-22 und S. 848. ll05 K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil III, S. 118.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
die Mitgliedstaaten weiterhin selbst die Verantwortung. 1106 Der "eingeschränkte Vorrang" des Gemeinschaftsrechts vor den nationalen Gesetzen der Mitgliedstaaten ergibt sich demnach daraus, daß ihre Rechtsakte den jeweiligen verfassungsmäßigen Rechtsprinzipien 1107 entsprechen müssen, um auf diese Weise für die Mitgliedstaaten rechtliche Verbindlichkeit erlangen können. Folgt man der Lehre Schachtschneiders, so kann es in Deutschland nur gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen geben, die weder im Widerspruch zur deutschen Verfassung noch im Widerspruch zu den von Deutschland eingegangenen anderen völkerrechtlichen Pflichten stehen. d) Der umgekehrte Monismus Das Zusammenrücken der europäischen Völker - wie auch die Organisation des Lebens jedes Europäers in einer Rechtsgemeinschaft - dient insbesondere dem Schutz des Friedens in Europa. Auch wirtschaftliche und ökologische Lebensverhältnisse können gemeinschaftlich geregelt und verbessert werden. 1108 Dennoch muß nach Ansicht Schachtschneiders "das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit" 1109 auch im Rahmen der europäischen Integration gewährleistet werden. Oberste Maxime für einen eigenen Staat Europa, mit dem zugleich ein Verlust der staatlichen Identität - und damit in erster Linie der existentiellen Staatlichkeit - der Völker verbunden wäre, ist demnach die Sicherung der Rechtsprinzipien und der allgemeinen Freiheit. Dieser Weg erfordert die Zustimmung der Bürger aller Mitgliedstaaten. Einen solchen Willen haben die Völker und ihre Staaten jedoch nach Schachtschneider (noch) nicht. 1110 Das Europäische Gemeinschaftsrecht und die Weltwirtschaftsordnung demonstrieren seiner Meinung nach gegenwärtig, daß auch die Ordnung umfassender Wirtschaftsräume ohne einen europäischen Staat möglich ist. Wird indessen die Maxime verfolgt, eine politische Union Europas zu formen, welche eine Gemeinschaftlichkeit gleichermaßen in wirtschaftlichen, sozialen und währungsrechtlichen Bereichen erreichen soll, so zeigt sich dabei die Unvereinbarkeit dieser Zielsetzung mit der existentiellen Staatlichkeit der Völker sowie mit ihrer fehlenden sozialen und ökonomischen Homogenität. 1111 Aus diesen Kerngedanken wird deutlich, daß die europäische Integration in Vgl. K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil D.II. I. Für Deutschland wurde die Einhaltung dieser Fundamentalprinzipien insbesondere im Urteil von Maastricht durch das Bundesverfassungsgericht gefordert. Damit liegt es im Kompetenzbereich der nationalen Gerichte, über die Einhaltung dieser Prinzipien zu urteilen; siehe dazu den Beginn dieses Abschnitts c). 1108 Vgl. K.A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil 111, S. 118. 1109 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.996 und S. 638; vgl. K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 2. Kap. V. und VI.; dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 11.3. b). 1110 Dazu K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.138-139. 1111 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S.176. In diesem Sinne stellt sich die Währungsunion für Karl Albrecht Schachtschneider als verfassungswidrig dar, 1106 1107
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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der Lehre Schachtschneiders durch eine föderale Gemeinschaft von Republiken der Völker, deren ursprünglichstes Wesen in der allgemeinen Freiheit, im Recht und im Staat liegen. Die Entwicklung der Europäischen Union darf nicht durch rein wirtschaftliche Maßstäbe bestimmt werden, auch wenn die Wirtschaftsaktivitäten schon lange auf europäischer Ebene geregelt werden: 1112 "Bestmöglich wird Europa als Föderalismus freier Staaten, als Republik der Republiken, verwirklicpt." 1113 Schachtschneider greift damit die Konzeption Kants auf, der bereits zwei Jahrhunderte zuvor den Gedanken eines "Föderalism freier Staaten" 1114 entworfen hat. Die Autonomie des Willens der Völker stellt sowohl die Geltungsgrundlage des staatlichen als auch des gemeinschaftlichen Rechts dar und ist die demokratische Legitimation des europäischen Verfassungskonzepts. 1115 Folgt man diesem Rechtsprinzip der Selbstbestimmung, so ergibt sich der "eingeschränkte Vorrang" des Gemeinschaftsrechts notwendig aus dem Willen der gemeinschaftlichen Setzung der Rechtsakte und damit aus der Notwendigkeit ihrer einheitlichen Geltung. Die Grenze dieses Vorrangs stellt die Verfassungsmäßigkeit der Mitgliedstaaten dar, so daß ihre obersten nationalen Rechtsprinzipien unumstößlich verbindlich sind. Dadurch daß die Mitgliedstaaten für ihr Recht weiterhin die Verantwortung übernehmen und das internationale Recht in die jeweilige Rechtsordnung des Volkes integriert wird, ist die Sicherung der wesentlichen Verfassungsprinzipien - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Eigentum, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie - garantiert. 1116 weil sie sowohl das Sozialprinzip als auch das darin begründete Stabilitätsprinzip verletzt und mit der Errichtung einer Europäischen Zentralbank die existentielle Staatlichkeit der Mitgliedstaaten entkräftet. Darüber hinaus wird sie seiner Meinung nach nicht erfolgreich sein können; dazu fehlt die Vereinbarung und gemeinschaftliche Umsetzung einer politischen Union verbunden mit einer Annäherung der Volkswirtschaften im Währungsgebiet; vgl. K.A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil 111, S. 118; W. Hankel/W. NöllingIK.A. Schachtschneiderl J. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, S. 192-206, S. 214-221 und S. 247-251; K. A. Schachtschneider, Euro - der Rechtsbruch, in: Wilhelm Hankel/Wilhelm Nölling/Karl Albrecht Schachtschneider/Joachim Starbatty: Die Euro-Illusion. Ist Europa noch zu retten?, 2001, S.25-52, hier S.40-48. Zum Sozialprinzip siehe auch K.A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil D. I. 5. und K. A. Schachtschneider, Verweigerung des Rechtsschutzes in der Euro-Politik und Wiederherstellung des Rechts durch Austritt aus der Währungsunion, in: Wilhelm Hankel/Wilhelm Nölling/Karl Albrecht Schachtschneider/Joachim Starbatty: Die Euro-Illusion. Ist Europa noch zu retten?, 2001, S. 27 1-344, hier S. 314-320. 1112 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.139. 1113 K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil 111, S.118; ausführlich dazu K.A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S. 154-161. 1114 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 208. 1115 Zur mangelnden demokratischen Legitimation der Europäischen Union siehe K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, S.119-148; K.A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil G.1. 2. und Teil H.1. 3. 1116 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teile A, Bund D. 11. I.; K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1-23; K. A. Schachtschneider, Die existentielle
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Nach Ansicht von Schachtschneider sind mit dem Abschluß der Gemeinschaftsverträge völkerrechtliche Verbindlichkeiten entstanden, deren Erfüllung durch einen Mitgliedstaat weder von der Gemeinschaft noch von anderen Mitgliedstaaten durchgesetzt werden kann. 11 I7 Eine eigenständige Verbindlichkeit der Gemeinschaftsverträge selbst besteht nicht. Gleichermaßen sind die Mitgliedstaaten ausschließlich völkerrechtlich verpflichtet, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs einzuhalten. Die Vollstreckung der Entscheidungen erfolgt entsprechend den nationalen Vorschriften des Mitgliedstaates, in dessen Hoheitsgebiet sie erfolgt. 1118 Demnach ist die eigentliche Zwangsgewalt den Mitgliedstaaten vorbehalten. 1119 Aus der mit der Freiheitsmaxime begründeten Verbindlichkeit der Gemeinschaftsverträge resultiert aber die innerstaatliche Erzwingbarkeit der Entscheidungen und ein Anspruch der Bürger auf die Durchsetzbarkeit des von ihm gewollten Rechts. 1120 Für die Verbindlichkeit des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts garantieren also die Staaten. Nach dem Ansatz Schachtschneiders übernehmen sie selbst die Verantwortung für ihr Recht, solange sie noch existentielle Staaten sind und die Europäische Gemeinschaft keine Gebietshoheit besitzt. In diesem Sinne ist die innerstaatliche Verpflichtung, das Gemeinschaftsrecht als Bestandteil der einze1staatliehen Rechtsordnungen zu verwirklichen, Ausdruck des Willens der in der Gemeinschaft verbundenen Völker. 1121 Die Integration Deutschlands in die Europäische Union stellt nur dann keine Beeinträchtigung des Rechtsstaates dar, wenn die demokratische Legitimation der Gemeinschaftsrechtsetzung durch das deutsche Volk gesichert ist. 1122 Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.103-107; K.A. Schachtschneider, Verweigerung des Rechtsschutzes in der Euro-Politik und Wiederherstellung des Rechts durch Austritt aus der Währungsunion, S. 327-328. 1117 Vgl. K. A. Schachtschneider, Die Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft, S.93; A. Bleckmann, Europarecht, S. 225-226. 1118 Vgl. Art. 187 i.V. m. Art. 192 EGV (a.E) bzw. Art. 244 i.V.m. Art. 256 EGV (n.E); K.A. Schachtschneider, Die Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft, S.93; Th. Oppermann, Europarecht, S. 272-274; A. Bleckmann, Europarecht, S.278-279. 1119 "Noch ist das sogenannte Europa eine Gemeinschaft der Völker, nicht ein Volk, nicht ein Staat mit verfaßter Staatsgewalt, nicht ein Staat mit verfaßter Gebietshoheit zur Verwirklichung der Freiheit durch verwirklichte Gesetzlichkeit." K.A. Schachtschneider, Die Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft, S.94; dazu Th. Oppermann, Europarecht, S. 14-16; Präambel des EGV; siehe auch 3. Teil, 2. und 3. Kap. 1120 In einer Gemeinschaft, die sich ausweislich des neuen Art. 6 Abs. I EUV (n. E) zur Rechtsstaatlichkeit bekennt, darf der Rechtsschutz nicht verwehrt werden: "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam." Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 361-363. 1121 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.109-11O; K.A. Schachtschneider, Die Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft, S. 93. 1122 Die Legalisierung des Rechts durch das Volk kommt insbesondere in Form der Einhaltung des demokratischen Prinzips und des Prinzip der kleinen Einheit zum Ausdruck; dazu ausführlich K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die
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Für Schachtschneider gehören nicht nur die Gemeinschaftsverträge und Rechtsakte der Europäischen Union zum objektiven Recht der nationalen Rechtsordnungen, sondern ebenso die mannigfaltigen Verträge des Völkerrechts, seien sie multioder bilateraler Art. Genauso wie das Gemeinschaftsrecht beruht auch dessen Geltungskraft nicht auf einer eigenständigen Rechtsverbindlichkeit der völkerrechtlichen Verträge, 1123 weil bei einer freiheitlichen Begründung des Rechts alle Staatsgewalt nur dem Willen des Volkes entspringen kann. 1124 Eine unabhängige Völkerrechtsordnung kann es nach dieser Lehre nicht geben: "Das Völkerrecht und das Staatsrecht unterscheiden sich nicht wesentlich, wenn die Staatlichkeit des gemeinsamen Lebens republikanisch verlaßt wird, weil das Recht unabhängig von seiner Materie und von seinem Wirkungsbereich auf der Freiheit der Bürger, d. h. auf dem Willen des jeweiligen Volkes, beruht. Die Völker selbst sichern die Verbindlichkeit des Rechts unter den Völkern, wenn sie sich zu Republiken, d. h. als freiheitliches Gemeinwesen, verlaßt haben. Das Völkerrecht ist nicht minder der Wille der Völker als das Staatsrecht. Das Wesen der Republik ist die Verwirklichung des guten Lebens in allgemeiner Freiheit, wesentlich also der Freiheit durch die Rechtlichkeit unter den Menschen. Wenn allerdings dem Staat eine eigenständige, vom Volk unabhängige Existenz zuerkannt wird ... , wenn also der Staat als (von der Gesellschaft zu unterscheidendes) Herrschaftsgebilde konzipiert wird, sind Staatsrecht und Völkerrecht wesensverschieden, weil die Subjekte des Staatsrechts und des Völkerrechts andere sind, nämlich die Bürger die des Staatsrechts und die Staaten die des Völkerrechts." 1125
Nach Auffassung Schachtschneiders können die Staaten wegen ihrer fehlenden Persönlichkeit und Willensfähigkeit nicht die tatsächlichen Träger von Rechten und Pflichten sein. Ihre Rechtssubjektivität ist im Rahmen dieser Lehre rein technischer Natur, indem sie den allgemeinen Willen des Volkes vertreten. 1126 Zugleich folgt aus seiner Kernthese, daß nur die Bürger Rechtssubjektivität im eigentlichen Sinne - sowohl in bezug auf das Staats- und Gemeinschaftsrecht als auch für das Völkerrecht - besitzen. In diesem Sinne ist in der Lehre Schachtschneiders nicht nur die Geltung des Staats- und Gemeinschaftsrechts, sondern auch die Geltung alles weiteren Völkerstaatliche Integration der Europäischen Union, S.116-117; K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. S. 14-35 und S. 650-652; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teile D. 11.1., E.1. 4. und H.3.; K. A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S.170-174. 1123 In diesem Sinne konzipiert die Lehre vom Monismus mit Primat des Völkerrechts die Verbindlichkeit des Völkerrechts; dazu 4. Teil, 3. Kap. 1124 Dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 11.3. b). 1125 K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 88-89; ebenso K.A. Schachtschneider, Die Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft, S. 88-89; vgl. K. A. SchachtschneiderlA. EmmerichFritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S.19. 1126 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 89; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teile A, C, G und H; zur Begriffsbestimmung des Staates siehe G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 174.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
rechts auf die Autonomie des Willens der Bürger zurückzuführen. Im Völkerrecht spricht man vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. "27 Der Staat schließt die völkerrechtlichen Verträge in Vertretung des Volkes ab. Die vertragliche Bindung der Staaten im Sinne des völkerrechtlichen Grundprinzips "pacta sunt servanda" wird durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach Ansicht Schachtschneiders nicht verhindert: "Das völkerrechtliche Grundprinzip ist: pacta sunt servanda. Dieses Prinzip folgt der Logik der Freiheit, ja der Idee des Rechts überhaupt, weil (und wenn) die Verträge unter den Völkern der Wille der Völker sind (umgekehrter Monismus)." 1128
Genauso wie für das Gemeinschaftsrecht gilt auch für das Völkerrecht: Solange die Völkergemeinschaft keinen Staat im existentiellen Sinne bildet, kann nur der Wille der Völker die Verbindlichkeit des Völkerrechts begründen. Denn eine auf der Freiheitsmaxime begründete Verbindlichkeit des Rechts impliziert für Schachtschneider - entsprechend der Lehre Kants - auch die Möglichkeit der Zwangsausübung: "Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden." 1129 Die Ausübung der Zwangsrechte erfolgt sowohl für das Europarecht als auch im Bereich des Völkerrechts durch die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen, weil nur die Staaten im existentiellen Sinne Gewaltbefugnisse besitzen. 1130 Die für das Gemeinschaftsrecht zutreffende These Schachtschneiders, daß die Verträge der Union oder den Gemeinschaften keine Gewaltbefugnisse verschaffen, sondern "deren Organe in die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten"1l31 integrieren, gilt als Analogon auch für das Völkerrecht. Alle völkerrechtlichen Verpflichtungen - die des Gemeinschaftsrechts eingeschlossen - werden innerhalb der Staaten mit Hilfe der nationalen Gerichte durchgesetzt: Es gibt also Zwang im Völkerrecht. 1132 Es ist erkennbar, daß die Lehre Schachtschneiders über das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschlands, auch die Beziehung zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht erklären kann. Genauso, wie sich das Gemeinschaftsrecht als "gemeinschaftlicher Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. b). K.A. Schachtschneider u. a., Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, S. 80; vgl. K.A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E. I. 3.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 365 und O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S.228, S. 236 und S. 271; K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S.99-1OO. 1129 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338, vgl. S. 338-341. Auch im Sinne Kants ist die Sicherung des Rechts mit Zwangsrechten erforderlich, weil ein gesetzmäßiges Handeln der Individuen grundSätzlich nicht vorausgesetzt werden kann; denn sie sind keine Vernunftwesen, dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.545-559; dazu auch 3. Teil, 2. Kap. 1130 Dazu K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 110. 1131 K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 94. 1132 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht. 1127
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Teil der jeweiligen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten" 1133 darstellt, ist auch das Völkerrecht in die nationalen Rechtsordnungen integriert, weil es nach dem Prinzip der Freiheit Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist. Diese Erkenntnisse Schachtschneiders lassen den Schluß zu, daß eine Einheit des Rechts besteht, dessen Geltung allein auf der Freiheit der Bürger, auf deren allgemeinem Willen, beruht. Folgt man dieser republikanisch begründeten Konzeption, so gelangt man zu einer monistischen Sichtweise. Nationales, europäisches und internationales Recht bilden eine einheitliche Rechtsordnung. Schachtschneider bezeichnet seine Lehre als "umgekehrten Monismus" 1134. Diese Dogmatik kommt dem älteren Monismus, welcher den Primat des innerstaatlichen Rechts herausstellt, am nähesten. Für die Lehre vom umgekehrten Monismus ist wesentlich, daß die völkerrechtlichen Verträge als staatliches Recht Verbindlichkeit entfalten. Ausgehend von dieser Betrachtungsweise verschwinden die Unterschiede zwischen Völkerrecht und Europarecht einerseits und Völkerrecht und Staatsrecht andererseits. 1135 Anders als Schachtschneider gehen die Vertreter des staatsrechtsprimären Monismus davon aus, daß das staatliche Gemeinwesen zeitlich vor dem Recht besteht und logisch von ihm unabhängig ist, daß die staatliche Aufgabe aber darin besteht, eine Rechtsordnung zu schaffen, zu deren Einhaltung der Staat sich selbst verpflichtet. Auch die Erzeugung der Völkerrechtsnormen beruht auf diesem Vorgang; deshalb gilt das Völkerrecht nach dieser Lehre ausschließlich aufgrund seiner Beachtung durch den Staat. Der staatliche Wille und seine Rechtsordnung ist der Geltungsgrund des Völkerrechts. Es wird in dieser monistischen Konstruktion zum äußeren Staatsrecht, das als Teilbereich der nationalen Rechtsordnung das staatliche Verhalten zu anderen Einze1staaten regelt. Mit alldem wird zugleich der Primat der staatlichen Rechtsordnung begründet. 1136 Folgt man der Lehre vom umgekehrten Monismus, kommt man im Vergleich zu den bisher betrachteten Beziehungsmöglichkeiten der Rechtsordnungen zueinander zu einem darüber hinausgehenden Ergebnis. Soweit die Verbindlichkeit des Europarechts und Völkerrechts der Wille der jeweils beteiligten Völker ist, beruht ihre Geltung auf den Rechtsordnungen der Staaten. Für Schachtschneider zeigt sich der Staat als Rechtsgemeinschaft der Bürger. 1137 Staat 1133 K A. SehaehtsehneiderlA. Emmerieh-Fritsehe, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S. 19. 1134 KA. Sehaehtsehneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 110; K. A. SehaehtsehneiderlA. Emmerieh-Fritsehe, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S. 19. 1135 Vgl. KA. Sehaehtsehneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 88 und S. 110. 1136 Dazu 4. Teil, 4. Kap. I. sowie II. 1. und 2. 1137 "Das Verfassungsgesetz ordnet den Staat. Es hat Verbindlichkeit für die Bürger und ihren Staat. Niemand im Gemeinwesen darf ex constitutione stehen. Alle Menschen, die miteinander leben, also aufeinander einwirken, sind verpflichtet, sich eine ,bürgerliche Verfassung' zu geben, also sich zu einem Staat zu vereinen." K.A. Sehaehtsehneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil C, bezugnehmend auf Kant, Metaphysik der Sitten, S.366-367 und Kant, Zum ewigen Frieden, S. 203. Grundlage ist sowohl die Definition Kants "Ein Staat ist die Vereini-
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
und Recht sind demnach inhärent miteinander verbunden. Der Geltungsursprung allen Rechts in dieser staatlichen Rechtsgemeinschaft liegt im Willen des Volkes oder der Völker, woraus sich die Einheit des Rechts ergibt. Nur dann ist die nationale Rechtsordnung Grundlage des Völkerrechts und der Staat schließt die völkerrechtlichen Verträge in Vertretung des Volkes ab. Ausgehend von einem so verstandenen staatlichen Geltungsgrund allen Rechts kann auf den Primat der staatlichen Rechtsordnung innerhalb einer monistischen Konzeption geschlossen werden. Diesem steht die Erkenntnis über den "eingeschränkten Anwendungsvorrang" I 138 des Europarechts nicht entgegen. Auch dem Völkerrecht ist ein solcher Vorrang einzuräumen, wenn und weil dies der Wille der Völker ist. Denn für die Existenz einer Völkerrechtsgemeinschaft bedarf es der einheitlichen allgemeinen Geltung und Anwendbarkeit ihrer Rechtsnormen. Daraus folgt jedoch nicht zwingend die Dogmatik einer eigenständigen Völkerrechtsordnung mit einer selbständigen Geltungsgrundlage, wie es in der Lehre vom Dualismus der Rechtsordnungen gelehrt wird. 1139 Nach Ansicht Schachtschneiders drückt sich in der Bundesrepublik Deutschland der Wille des Volkes, dem Völkerrecht Verbindlichkeit zukommen zu lassen und seine Regeln zu beachten, entsprechend den verfassungsmäßigen Bestimmungen des Grundgesetzes aus. 1140 Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind gemäß Art. 25 GG Gegenstand des Bundesrechts; sie "gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes".1141 Die multiund bilateralen Verträge werden durch das Zustimmungsgesetz entsprechend Art. 59 Abs.2 GG Bestandteil des Bundesrechts. 1142 Für die Vertreter einer dualistischen Rechtsauffassung sind diese nationalen Regelungen notwendig, um geltendes Völkerrecht in die jeweiligen staatlichen Rechtsordnungen einzubringen. Geht man dagegen von der Einheit des Rechts aus, so ist zur innerstaatlichen Geltung des Völkerrechts weder eine Transformation noch ein Rechtsanwendungsbefehl notwendig. Die Völkerrechtsnormen gelten unmittelbar innerhalb der nationalen Rechtsordnungen. 1143 Im Sinne der Lehre vom umgekehrten Monismus "werden die Verträge gung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" als auch jene Ciceros "Was ist denn der Staat, wenn nicht die Rechtsgemeinschaft der Bürger"; Kant, Metaphysik der Sitten, S.431 und Cicero, De re publica, Vom Gemeinwesen, hrsg. und übersetzt von Karl Büchner, Reclam, 1979, S.144 und S.145; dazu auch K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.426, S.519-526, S.551-553 und S.562-563. 1138 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 1I.3.c). 1139 Dazu 4. Teil, I. Kap. 1140 Vgl. K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E.1. 3. Für den zustimmenden Willen zur Beteiligung des deutschen Volkes an der europäischen Integration ist Art. 23 Abs. I GG die einschlägige Verfassungsnorrn; dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. b). 1141 Dazu K. Ipsen, Völkerrecht (3. Autl.), S. 1086-1093. 1142 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist das Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsanwendungsbefehl, der wegen des dualistischen Verhältnisses der Rechtsordnungen zueinander die Verbindlichkeit des völkerrechtlichen Vertrages für die staatlichen Organe und Staatsbürger bewirkt; dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. a). 1143 Während durch den Transforrnationsbefehl nur eine mittelbare Geltung des Völkerrechts erzielt werden kann, bewirkt die Vollzugslehre dagegen auch eine unmittelbare Geltung des
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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durch die Zustimmungsgesetze in den allgemeinen politischen Willen des Volkes aufgenommen und gewinnen dadurch Verbindlichkeit" 1 144. Obwohl auch das Europäische Gemeinschaftsrecht eine völkerrechtliche Grundlage hat und sich hinsichtlich seiner mehrheitlichen Attribute nicht vom Völkerrecht unterscheidet, deutet sich der einzige wesentliche Unterschied durch die verfassungsmäßig separate Regelung an. Art. 23 Abs. 1 GG drückt den Willen des deutschen Volkes aus, zwecks einer gemeinschaftlichen Ausübung der funktionalen Staatlichkeit Vertretungsrechte auf die Organe der Europäische Union zu übertragen. 1145 In den Regelungsgebieten des Völkerrechts ist eine solche Integrationsstufe gegenwärtig nicht erreicht. Zwar besteht die Erkenntnis und der Wille der Völker, bestimmte Lebensbereiche - z. B. wirtschaftliche, militärische oder gesundheitspolitische Aufgaben - gemeinschaftlich zu regeln. Es existieren deshalb einerseits bilaterale völkerrechtliche Abkommen oder Verträge zwischen lediglich einigen wenigen Einzelstaaten, wie z. B. Staatenverträge über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen, über die Rechtshilfe in Strafsachen, über die Regelung von Doppelbesteuerung oder über gemeinsame umweltpolitische Maßnahmen. Andererseits entwickelten sich bereits vielfältige multilaterale Vereinbarungen, an denen eine große Zahl von Staaten beteiligt ist. 1146 Beachtung finden gegenwärtig nicht nur das Recht der Vereinten Nationen, die NATO oder die Vereinbarungen im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation, sondern insbesondere das WTO-Abkommen gewann in den letzten Jahren zunehmend Einfluß und Bedeutung im Staatenverkehr. 1147 Doch diese Art gemeinschaftlicher Ausübung von Regelungsbefugnissen schafft keinen Staat im existentiellen Sinne. Auch auf die Ausübung von funktionaler Staatlichkeit kann nicht geschlossen werden. Das geht aus den Bestimmungen der Art. 25 Völkerrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung; dazu 5. Teil, 2. Kap. I. und 3. Kap. I. Die Lehre vom Monismus als Lehre über die Einheit der Rechtsordnungen ermöglicht die unmittelbare Geltung der völkerrechtlichen Verträge, weil diese ohne Transformation nach Inkrafttreten des Vertrages innerstaatlich gelten. In den Staaten, die der monistischen Rechtsauffassung folgen, stellen die im nationalen Recht vorgeschriebene parlamentarische Zustimmung zum Vertragsabschluß und die Veröffentlichung des Abkommens verfassungsmäßige Voraussetzungen dar, um die unmittelbare Geltung zu gewährleisten; vgl. A. Bleckmann, Europarecht, S.292 und S. 294; dazu auch 5. und 6. Teil. Heinz Wagner vertritt eine radikalere Ansicht: .. Für den Monisten sind derartige vorliegende Staatsakte entweder überflüssig oder bloße Veröffentlichungen." H. Wagner, Monismus und Dualismus: eine methodenkritische Betrachtung zum Theorienstreit, in: Archiv des öffentlichen Rechts, hrsg. von Otto Bachof/Horst Ehmke/Walter Mallmann, Band 89, Heft 2,1964, S.212-241, hier S.237. 1144 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E.1. 3. 1145 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. b). 1146 Dazu o. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 231; W. Fiedler, Quantitative und qualitative Aspekte der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in völkerrechtliche Verträge, 2000. 1147 Dazu D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 4. Teil und J. Delbrück, Zur Entwicklung der internationalen Rechtsordnung, in: Sicherheit und Frieden, Heft 2, 1998, S. 66-68, hier S.67-68; siehe auch 2. Teil, 2. Kap. III.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
und 59 Abs. 2 GG deutlich hervor; denn sie stellen keine Rechtsgrundlage für die Übertragung hoheitlicher Vertretungsrechte dar. Demnach beruht die Durchsetzung des Völkerrechts auf dem Willen der Völker, sich nach dem Grundsatz "pacta sunt servanda" zu binden, aber sie kann (noch) nicht auf eine Basis der gemeinsamen Ausübung der Staatlichkeit im funktionellen Sinne zurückgeführt werden. Zur Verwirklichung der völkerrechtlich vereinbarten Rechte und Pflichten ist neben dem Grundsatz "pacta sunt servanda" und der Maxime der "bona fides" 1148 das Prinzip der Reziprozität von entscheidender Bedeutung. 1149 Jener Grundsatz ist eine logische Folge des Prinzips der Gleichheit der Staaten und prägt insbesondere das Zustandekommen, den Inhalt und die Einhaltung des gesamten Völkerrechts. ll5o Die Anerkennung des Reziprozitätsprinzips im allgemeinen Völkerrecht erfolgte mit dem Art. 60 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention 1151, der die Suspension der Vertragserfüllung erlaubt. 1152 Für den Fall, daß eine erhebliche Vertragsverletzung eines Vertragspartners vorliegt, kann der betroffene Staat die Erfüllung des Vertrages einstellen, d. h. seine Leistung verweigern und damit die Anwendung des Vertrages aussetzen. 1153 Auch die Repressalie und die Retorsion - als erlaubte Selbsthilfe zur Durchsetzung völkerrechtlicher Ansprüche - sind Ausdruck des Reziprozitätsprinzips. 1154 Beide Maßnahmearten müssen nicht notwendig mit dem verletzten Vertrag in Verbindung stehen, zielen aber den1148 In Art. 2 Ziff. 2 der UN-Charta werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre übernommenen Verpflichtungen "nach Treu und Glauben" zu erfüllen. Darüber hinaus findet sich der Grundsatz der "bona fides" sowohl im deutschen Recht (§§ 157, 162, 242, 320 Abs. 2 und 815 BGB) als auch in Art. 36 der Wiener Vertragsrechtskonvention. 1149 VgI. K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E. I. 3.; D. Siebold, Der Fall Bananenmarktordnung. Die Europäische Gemeinschaft im Streit mit der Welthandelsorganisation; D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 6. und 7. Teil; M.N. Shaw, International Law, S.8. 1150 VgI. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.48-50; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 318-320; ausführlich B. Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge. Gedanken zu einem Bauprinzip der internationalen Rechtsbeziehungen, 1972. 1151 Die Wiener Konvention über das Recht der Verträge wurde nach langjähriger Vorbereitung durch die International Law Commission (ILC) von der Wiener Vertragsrechtskonferenz am 23.05.1969 unterzeichnet und trat nach der Ratifizierung durch 35 Staaten am 27.01.1980 in Kraft. Sie kodifiziert für das Wesen des Vertragsrechts überwiegend das bereits vorher geltende Völkergewohnheitsrecht sowie die neueste völkerrechtliche Staatenpraxis. Dieses Übereinkommen gilt als umfassendes Regelwerk zur Problematik des Zustandekommens, der Anwendung und Auslegung von Verträgen sowie deren Beendigung und Nichtigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte die Konvention im Jahr 1987; vgI. M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S. 36-37; K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/ H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S.90-108. 1152 VgI. K. Doehring/T. Buergenthal/J. Kokott/H. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S.105-107. 1153 VgI. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 515-517. 1154 Zum Wesen von Retorsion und Repressalie siehe 3. Teil, 3. Kap. I. 4.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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noch darauf ab, ein rechtmäßiges Verhalten des anderen Staates zu erzwingen. 1155 Im internationalen Wirtschaftsrecht findet sich nach Ansicht von Alfred Verdross und Bruno Simma ein weiterer Ausdruck des Reziprozitätsprinzips, nämlich in Form des Grundsatzes der Meistbegünstigung. Dieser regelt, daß sich die Vertragsstaaten jene Rechte, die sie einem dritten Staat einräumen, auch gegenseitig zusichern. 1156 Die Reziprozität stellt damit einen essentiellen Grundsatz zur Ordnung des zwischenstaatlichen Verkehrs dar und garantiert die Effektivität l157 , das heißt die "regelmäßige Wirksamkeit" 1158 des Völkerrechts. Der Grundsatz der Gegenseitigkeit beherrscht nicht nur das gesamte Völkerrecht, sondern auch privatrechtliche Verträge, wie die §§ 320 ff. BGB zeigen. 1159 Doch eine übergeordnete Durchsetzungsgewalt, wie sie auf nationaler Ebene die suprema potestas 1160 des Staates einschließt, existiert für die staatlichen Vertragspartner nicht. 1161 Nur der Staat im existentiellen Sinne kann die Erfüllung der Vertragsverbindlichkeiten erzwingen, um ein gemeinsames Leben in allgemeiner Gesetzlichkeit und Freiheit zu ermöglichen. 1162 Zur Verwirklichung des Europäischen Gemeinschaftsrechts stellt die gemeinsame Ausübung der funktionalen Staatlichkeit die Grundlage dar. In diesem Punkt unterscheidet sich das Europarecht vom Wesen des Völkerrechts; denn im Bereich des Völkerrechts hängt die Anwendung und Durchsetzung der völkerrechtlichen Verträge von den Regelungen der Verträge selbst ab. Ihre Verbindlichkeit ergibt sich in der Lehre Karl Albrecht Schachtschneiders aus dem Willen der Völker; sie drückt sich aber seiner Meinung nach auch in dem Prinzip der Gegenseitigkeit aus. 1163 Kein Unterschied zwischen Europarecht und Völkerrecht besteht jedoch hinsichtlich ihrer Beziehung zu staatlichem Recht. Beide stehen in einem (umgekehrt) monistischen Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen, so daß nationale, europäische und völkerrechtliche Normen eine Rechtseinheit bilden; denn ihr gemeinsamer Geltungsursprung ist der Wille des Vol1155 Vgl. K. Doehring/T. BuergenthallJ. KokottlH. Maier, Grundzüge des Völkerrechts, S.229-232. 1156 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.49 und S.485; Präambel und Art 1 des GATI; dazu auch A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht. 1157 Zum Effektivitätsgrundsatz sieheA. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.49 und S. 51-53. 1158 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 51. 1159 Vgl. H. Brox, Allgemeines Schuldrecht, 19. Aufl., 1991, S. 15-16 und S. 90-92; dazu auch K.A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E.l. 3. 1160 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E.1. 3.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.545-559. 1161 Art. 2 Ziff. 3 und 4 der UN-Charta manifestieren ein grundsätzliches Gewaltverbot, das den Staaten den Angriffskrieg untersagt und damit auch den Einsatz militärischer Gewalt zur Durchsetzung von Verträgen verbietet; vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.74-76; dazu auch 3. Teil, 2. Kap. 1162 Vgl. K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 291 und S. 545-559; dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 11. b) und c). 1163 Vgl. K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E.1. 3.
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
kes: Ihre demokratische Legitimation erhalten sowohl die Europarechtsordnung und Völkerrechtsordnung als auch eine künftige Weltrechtsordnung 1164 nur als Teil der einzelstaatlichen Rechtsordnungen. Nach dieser Lehre ist die einheitliche Rechtsordnung im Grunde nur nationalstaatlich begründbar, weil sich Recht und Freiheit nur in den staatlichen Gemeinwesen entfalten.
4. Die Lehre Albert Bleckmanns a) Die Einheit des Rechts auf der Basis der Allgemeininteressen der Völkerrechtsgemeinschaft Auch Albert Blechmann erkennt im Ergebnis an, daß Völkerrecht und staatliches Recht eine einheitliche Rechtsordnung bilden. Ansatzpunkt seiner Rechtsauffassung ist im Grunde die Betrachtung der wachsenden Interdependenz der Individuen und der Staaten 1165 sowie der damit verbundene Entwicklungsgang, den die Lehren vom Staats- und Völkerrecht im Ablauf der Geschichte vollzogen haben. 1166 Nach Ansicht von Bleckmann ist die objektive Rechtsordnung eines Staates insbesondere vom Allgemeininteresse geprägt, das sich durch das Zusammenwirken von Volk und Parlament im Rahmen des politischen Willensbildungsprozesses bildet. 1167 Gleichzeitig kann jedes Individuum seine eigenen Interessen und somit subjektiven Rechte geltend machen. Bleckmann unterscheidet zwischen den subjektiven Interessen des Individuums, die es zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund einer "subjektiven Wertordnung" 1168 tatsächlich vertritt und den daran anknüpfenden objektiven Interessen, welche die objektive Rechtsordnung als gemeinsame Interessen aller Bürger oder Staaten berücksichtigt. 1169 Über diesen objektiven Interessenschutz hinaus wird die Rechtsordnung den Individuen auch weitreichende Handlungsspielräume reservieren, innerhalb derer sie ihre subjektiven Interessen verwirklichen können: "Die Grundrechte fordern in der liberalen Sicht in der Tat, daß dem Bürger nicht nur zu bestimmten Zielen verwendbare Rechte und damit Kompetenzen, sondern subjektive Rechte und damit Handlungsspielräume zugeteilt werden, die als generelle Mittel zu beliebigen Zwecken eingesetzt werden können. Die äußerste Grenze wird dabei nur erreicht, wenn die Individuen nur das Ziel verfolgen, andere Rechtssubjekte zu verletzen (Schikaneverbot), oder wenn die Durchsetzung der Individualinteressen die Allgemeininteressen beeinträchtigt." 1170 Dazu auch 6. Teil. Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 9, S. 53 und S. 55-56. 1166 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.109. 1167 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.12-14. 1168 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 8. 1169 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 8-10. 1170 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 11-12. 1164
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4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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Dabei berücksichtigt die Rechtsordnung alle "wahrscheinlich subjektiven Interessen, welche die Individuen oder Staaten in einer bestimmten Rolle - als Eigentümer, Käufer, Mieter - nach aller Erfahrung nonnalerweise haben"I171. Nach Bleckmann können dies nur durchschnittliche, also objektive Interessen sein. 1l72 Zwar sind in seiner Konzeption die objektiven Interessen der Individuen vom objektiven Allgemeininteresse zu trennen, weil letzteres nur von den Organen der Staaten wahrgenommen werden kann. Allerdings umfaßt in einem Staat, der auf rechtsstaatlichen Prinzipien beruht, das Allgemeininteresse die Gesamtheit der durch die Grundrechte geschützten objektiven Privatinteressen. 1173 Auch im Völkerrecht gibt es diese Duplizität von eigenstaatlicher subjektiver Ordnung der Werte und den Allgemeininteressen der Völkerrechtsgemeinschaft. Für Bleckmann ist es allerdings fraglich, ob auch auf dieser Ebene von einer Identität der staatlichen Interessen mit dem internationalen Allgemeininteresse gesprochen werden kann. 1174 Die Bildung des völkerrechtlichen Allgemeininteresses erfolgt auf dem Weg der "traite-Iois" 1175, die als rechtsetzende Verträge gleichgerichtete Interessen der Staaten vereinigen. Sie kennzeichnen für Bleckmann das gegenwärtig entstehende Kooperationsvölkerrecht. Dagegen verliert der "traite-contrat", der entgegengesetzte - im Sinne von sich ergänzende - Interessen regelt, an Bedeutung. 1176 Trotz der Entwicklung hin zu einem gemeinsamen Rechtssystem auf der Basis des Allgemeininteresses vertiefen sich zugleich die Gegensätze der staatlichen Individualinteressen, so daß der Allgemeinkonsens der Staaten wegen der Durchsetzung ihrer verschiedenen Individualinteressen immer wieder gestört wird. Dennoch ist die internationale Kooperation für die Staaten obligatorisch, damit sie die vielfaltigen Bedürfnisse der Bürger erfüllen können. 1177 Bleckmann spricht von einem globalen "Kooperationszwang" 1178; denn für ein wirkliches Allgemeininteresse der Völkergemeinschaft ist seiner Meinung nach eine umfassende homogene Vertragsstruktur erforderlich. 1179 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechts lehre, S. 9. Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 9. 1173 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 14. 1174 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 27. 1175 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.106. 1176 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 106. 1177 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 106-108. Zur Notwen1171
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digkeit, daß die Staaten miteinander kooperieren und nicht mehr lediglich in Frieden koexistieren, siehe auch W. Friedmann, The changing structure of international law, S.61-67; E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 3. 1178 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechts lehre, S. 107. 1179 "Dieser Zwang zum Abschluß, der über den im Völkerrecht bekannten Abschlußzwang des pactum de contrahendo weit hinausgeht, zeigt sich auch in der Tatsache, daß die Minister und Regierungschefs, welche die Verträge wegen ihrer nationalen Bedeutung meist aushandeln oder zumindest abschließen, ,zum Erfolg verurteilt' sind: Wegen der von der Bevölkerung wachsenden erfühlten Bedeutung der internationalen Kooperation für ihre Allgemeininteressen muß der Regierungschef, wenn er von internationalen Verhandlungen zurückkehrt, einen im Abschluß eines Vertrages bestehenden Erfolg vorweisen können." A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 107. 19 Amrhein-Hofmann
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
Aus alldem läßt sich eine klare Entwicklungslinie erkennen: Infolge der zunehmenden Interdependenz entwickelt sich aus dem nationalen Individualinteresse der Bürger das Allgemeininteresse des Staates und in der Folge das Allgemeininteresse der Staatengemeinschaft. Letzteres wird im Vergleich zum Interesse der Individuen und der Staaten immer bedeutsamer, so daß sich zur Absicherung des gemeinsamen Interessengeflechts eine Rechtsordnung herausbildet, die eine erneute Verstärkung der Interdependenzen und die "wachsende gefühlsmäßige Einheit der Staaten"1180 begründet. Die ehemals vorherrschenden bilateralen und multilateralen Verträge, die im Sinne eines "traite-contrat"1181 subjektive Rechte für die Staaten begründen und damit unter deren eigener Verfügungs gewalt stehen, treten aufgrund des Einflusses der Allgemeininteressen der Staatengemeinschaft hinter dem "zwingenden Völkerrecht" 1182 zurück. Jenes kann nach Ansicht Bleckmanns sowohl durch Gewohnheits- oder Vertragsrecht als auch durch universelles, partikuläres oder regionales Völkerrecht entstehen. 1183 Für Bleckmann führt demnach das sich festigende Allgemeininteresse der Völkerrechtsgemeinschaft zu einer Objektivierung und infolgedessen zur Einheit der Rechtsordnung. Dieser Prozeß der "Integration" 1184 - der insbesondere für das Europäische Gemeinschaftsrecht oft mit dem Begriff der Supranationalität umschrieben wird - zeigt sich insbesondere auf europäischer, aber auch auf internationaler Ebene. 1185 Die organisatorische Gestaltung der Integration ist dabei auf eine effektive und gerechte Bestimmung der Allgemeininteressen der Völkerrechts- oder engeren Staatengemeinschaft auszurichten. Dazu zählt Bleckmann sowohl die besonderen Organe der Europäischen Gemeinschaften als auch das regelmäßige Beraten und Verhandeln der Staaten innerhalb der internationalen Organisationen. 1186 Nach Ansicht von Bleckmann werden deren Befugnisse kontinuierlich ausgebaut, so daß sie schließlich den gleichen Umfang an Hoheitsgewalt wie ihre Mitgliedstaaten erhalten können und das gesetzte Recht der völkerrechtlichen Institutionen ein Geltungs- und Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalem Recht besitzt. Einen wichtigen Bestandteil dieses Prozesses erkennt Bleckmann in der Errichtung einer obligatorischen Gerichtsbarkeit zur Sicherung eines einheitlichen Rechtsprechungsstandards und Rechtsvollzugs. Die Durchsetzung des VölA. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 109. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 106. 1182 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 110. 1183 Albert Bleckmann unterscheidet dabei zwei Formen des "ius cogens": Zum einen besteht die Möglichkeit, daß ein gegen zwingendes Recht verstoßender Vertrag nichtig ist und eine entgegenstehende Staatenpraxis nicht Völkergewohnheitsrecht begründen kann. Andererseits rechnet er auch multilaterale Verträge, die zwar keine anderslautenden Vereinbarungen gestatten, die aber nicht zu deren Ungültigkeit führen, auch zum zwingenden Völkerrecht. Als Beispiele für diese Gruppe nennt Bleckmann insbesondere die Entwicklung von "Einheitsverträgen", wie z. B. den EG-Vertrag und die EMRK, die Anspruch auf ein striktes Einhalten und Durchsetzen ihres Rechts erheben; vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 110. 1184 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.108. 1185 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 108-109. 1186 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.11O und S.497. 1180 1181
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kerrechts erfolgt dabei zunächst mittels der Transformation der Völkerrechtsregeln in die nationalen Rechtsordnungen. Ausgehend von dieser dualistischen Rechtsauffassung erfolgt in einer weiteren Entwicklungsstufe der Wechsel hin zur monistischen Konstruktion der Rechtsordnungen, welche in ihrer vollen Ausprägung zu einer Einheit der Rechtsordnungen mit Primat des Völkerrechts führt. 1187 In ihren Anfängen kommt die Einheit durch die zunehmende und regelmäßigere Wirkung des Völkerrechts im nationalen Rechtsraum und durch die Entwicklung allgemeiner völkerrechtlicher Rechtsgrundsätze, die auf dem nationalen Recht der Staaten beruhen, zum Ausdruck. Das wechselseitige Durchdringen des Völkerrechts und des innerstaatlichen Rechts erfordert zugleich eine gegenseitige Rücksichtnahme; insbesondere hinsichtlich der jeweiligen Rechtsstrukturen und Interessen. 1188 Für Bleckmann ist dies ein Merkmal dafür, daß sich das Völkerrecht in seiner Beziehung zum staatlichen Recht vom Kompetenz- zum Kooperationsrecht entwickelt. 1189 Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß in der Lehre Bleckmanns die Entwicklung der internationalen Allgemeininteressen inhärent mit der einheitlichen (Welt-)Rechtsordnung verbunden ist: "Die Allgemeininteressen der Völkerrechtsgemeinschaft führen damit wachsend zu einer Ersetzung der dualistischen durch monistische Theorien, welche die Einheit nicht nur des Völkerrechts sondern der gesamten, das Völkerrecht und das nationale Recht umfassenden Weltrechtsordnung begründen." I 190
b) Die Verbindlichkeit des Völkerrechts aufgrund des Zusammentreffens von Individualismus und Kollektivismus
Bleckmann entwirft mit dieser Konzeption einen weltrechtlichen Monismus, dessen Inhalt und Struktur von den Individuen und deren Grundrechten ausgeht. Damit stellt sich für ihn zugleich die grundlegende Frage, wie die Verbindlichkeit des Völker- und Weltrechts begründet werden kann. In seine Überlegungen bezieht BleckVgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 111 und S.497-498. Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 112. 1189 Die Entwicklung zum Kooperationsvölkerrecht begründet Albert Bleckmann zusammenfassend: "Die Interessen der Staaten haben sich, wenn man jeden Staat nicht isoliert betrachtet, vom Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf alle modernen Wohlfahrtsaufgaben erstreckt. Diese Interdependenz zeigte sich zunehmend auch im Außenbereich: Der einzelne Staat kann seine neuen Staatsaufgaben nicht mehr isoliert, sondern nur in Zusammenarbeit mit anderen Staaten erreichen. Diese Entwicklung führte also zu einer wachsenden Interessenverflechtung der Staaten. Die Kompetenzen und Rechte der Staaten können also nicht mehr so klar wie früher voneinander abgegrenzt werden." A. Bleckmann, Allgemeine Staatsund Völkerrechtslehre, S. 697, vgl. S. 112 und S. 696-699; zum Kompetenzrecht siehe A. Bleck'mann, Das Verhältnis des Völkerrechts zum Landesrecht im Lichte der "Bedingungstheorie", S. 257-264; A. Bleckmann, Die Handlungsfreiheit der Staaten, in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht und Völkerrecht, hrsg. von Alfred Verdross, Band 29, Nr.3-4, 1978, S.173-196. 1190 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 111. 1187 1188
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
mann insbesondere die Vereinbarungslehre Heinrich Triepels ein, in welcher die Bindungswirkung der völkerrechtlichen Gewohnheits- und Vertragsrechtssätze auf individuelle Vereinbarungen der souveränen Staaten zurückgeführt werden. 1191 Hierzu sind für Bleckmann Parallelen zur Gesellschaftsvertragslehre des 18. Jahrhunderts erkennbar; denn seiner Meinung nach vertreten deren Anhänger - insbesondere lean-laques Rousseau und lohn Locke - auf der Basis eines konsequenten Individualismus eine absolute Souveränität des Individuums. lln Die Existenz des Staates und die Verbindlichkeit seines Rechts beruht nach dieser Lehre auf der Selbstbindung der Individuen eines Gemeinwesens in einem historischen Gesellschaftsvertrag. Überträgt man diese Sichtweise auf das Völkerrecht, kann seine Verbindlichkeit nur mit der Selbstverpflichtung der Staaten im Rahmen eines alle Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft umfassenden förmlichen Vertrages oder informellen Übereinkommens begründet werden. Eine solche Einigung kann nach Ansicht Bleckmanns bereits während den Anfängen des Völkerrechts besiegelt worden sein oder sich als eine in der Gegenwart abgeschlossene Satzung einer internationalen Organisation äußern oder auch einen regelmäßigen Prozeß der Staaten darstellen, in welchem diese ständig neu über die Bindungswirkung der Völkerrechtssätze übereinkommen. 1193 Darüber hinaus vertritt Bleckmann die These, daß sich die vertragliche Bindung der Staaten sowohl auf die völkerrechtliche Grundnorm als auch auf "die drei echten Quellen" I 194 des Völkerrechts als auch auf jeweils individuelle Völkerrechtssätze beziehen kann: "Alle völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Gesellschaftsvertragstheorien müssen also im Ergebnis die Bindungswirkung auf einen historischen, feststellbaren Vertrag zurückführen, der sich entweder auf die ganze Rechtsordnung oder aber, wie Triepel annimmt, auf einzelne Rechtssätze bezieht.""95 Grundsätzlich kann die Verbindlichkeit des Rechts nur dann auf die Selbstbindung zurückgeführt werden, sofern sich jedes Individuum oder jeder Staat selbst ausdrücklich dazu verpflichtet hat; denn für Bleckmann umfaßt der Begriff der Souveränität sowohl die absolute Freiheit von jeder Rechtsbindung als auch die Berechtigung, sich selbst zu binden. In jenen Lehren, die von einem historischen Gesellschaftsvertrag der Individuen oder der Staaten ausgehen, muß deshalb angenommen werden, daß dieser ursprüngliche Vertrag den Staat respektive die Völkerrechtsgemeinschaft entstehen läßt. Alle nachkommenden Individuen sind an das Recht gebunden, weil sie in dieses staatliche bzw. völkerrechtliche Gemeinwesen hineingeboren sind. Eine solche Annahme ist entbehrlich, sofern der Gesellschaftsvertrag im Rousseauischen Sinne als kontinuierlicher Willensbildungsprozeß verstanden wird oder im Triepelschen Sinne die einzelnen Verträge als bindendes Recht angesehen 1191 Dazu 4. Teil, I. Kap. I. 3. 1192 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.415-417. 1193 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.417-418. 1194 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.417. 1195 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.419.
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
293
werden. 1196 Bleckmann kommt demnach zu dem Ergebnis, daß die Verbindlichkeit sowohl des nationalen Rechts als auch des Völkerrechts nicht mit der Selbstbindung der Individuen erklärt werden kann, sondern immer auf einen Vertrag zurückführbar ist. In diesem Sinne basiert nach Ansicht Bleckmanns der die Staaten bindende Gesamtwillen in der Vereinbarungslehre Triepels auf dem Grundsatz "pacta sunt servanda" - also auf der Rechtsordnung - und nicht auf dem souveränen Staatswillen. 1197 Die Selbstbindung der Souveräne als Grundlage der völkerrechtlichen Verbindlichkeit kann sich Bleckmann allenfalls in bezug auf die einzelnen Willenserklärungen, die zur Vertragsentstehung führen, vorstellen. Seiner Meinung nach wurde die gleiche These auch von Georg W. F. H egel vertreten, der aufgrund dessen das Völkerrecht als reines Außenstaatsrecht konzipierte. 1198 Hans Kelsen, der diese Lehre fortentwickelte, führte dagegen die Bindungswirkung des Selbstverptlichtungswillen jedes Einzelstaates letztlich auf die staatliche Grundnorm zurück. 1199 Die kritischen Einwände Bleckmanns gegenüber der Außenstaatslehre konzentrieren sich insbesondere auf drei Problemstellungen: Weil im Rahmen dieser Lehre die Regeln des Völkerrechts jeweils als innerstaatliches Recht der Staaten angesehen werden, wird nach Ansicht Bleckmanns die Entwicklung des Völkerrechts aufgrund innerstaatlicher Willensbildungsprozesse und nicht durch einen international-einheitlichen Willensbildungsprozeß vorangetrieben. Folglich zergliedert sich die Völkerrechtsordnung in genauso viele nationale Rechtsordnungen, wie es Staaten gibt. Eine einheitliche Systematik des Völkerrechts kann Bleckmann daher nicht erkennen. Für den Fall, daß sich die Selbstbindung auf jeden einzelnen völkerrechtlichen , Vertrag bezieht, wird auch die Einheit eines jedes Vertrages eingebüßt; denn die wechselseitigen Vertragsptlichten sind in der jeweils anderen nationalen Rechtsordnung und nicht in einer universalen Völkerrechtsordnung verankert. 1200 Des weiteren sieht Bleckmann die Selbstbindung des Staates nicht hinreichend begründet. Nur wenn das Bestehen des Staates sowie seine Befugnisse und Rechtsordnung auf einen zwischen den Individuen abgeschlossenen Gesellschaftsvertrag zurückgeführt werden kann, besteht eine Bindungswirkung der Völkerrechtsregeln. Dazu muß - wie bereits ausgeführt - jedes Individuum in jedem Staat seinem jeweiligen Gesellschaftsvertrag zugestimmt haben. Bleckmann kommt aus diesem Grund zu dem Schluß, daß "die für das Recht erforderliche Mehrheitsbildung und die Allgemeininteressen sowie die Kontinuität des Staates und der nationalen und internationalen Rechtsordnung" 1201 bei einer solchen Rechtslehre völlig verloren gehen. Bleckmanns letztes Argument gegen eine rechtliche Verbindlichkeit des VölkerVgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.418-419. Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.419-420. 1198 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.420; dazu auch 4. Teil, 4. Kap. I. 1199 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.420, S.424-425; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. H., insbesondere 1. b) und 3.e). 1200 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.422. 1201 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 422. 1196 1197
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4. Teil: Das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht
rechts, wenn es als Außenstaatsrecht konzipiert wird, ist die These, daß in dieser Lehre jeder Staat nicht nur innerhalb seiner nationalen Rechtsordnung, sondern bereits im "Völkerrechtsraum" den Rang und die unmittelbare Anwendbarkeit des Völkerrechts selbst bestimmen kann. 1202 Bleckmanns Fazit bezüglich der Lehre vom Außenstaatsrecht fallt demnach eindeutig aus: "Aus theoretischen Überlegungen und weil diese Auffassung letztlich den Grundprinzipien des positiven Völkerrechts widerspricht, kann das Souveränitätsprinzip, obwohl es den Inhalt der Völkerrechtsordnung bestimmt, für die Bindungswirkung des Völkerrechts also nicht herangezogen werden."1203
Diesen kritischen Gedanken muß sich wohl auch der umgekehrte Monismus stellen. Allerdings ist Bleckmanns Kritikpunkt hinsichtlich der mangelnden Verbindlichkeit des Völkerrechts aufgrund der Selbstbindung der Staaten hierbei sicherlich zurückzuweisen. Denn wie bereits ausgeführt, geht die umgekehrt monistische Sichtweise davon aus, daß die völkerrechtliche Bindungswirkung auf der Freiheit der Bürger, das heißt auf dem Willen des jeweiligen Volkes, beruht. 1204 Bleckmann selbst stützt die Bindungswirkung des Rechts generell auf die "kollektiven Naturrechtsauffassungen" 1205, die dem Individualismus entgegengesetzt sind. Dem Kollektivismus zufolge werden die Individuen in die jeweilige Gemeinschaft hineingeboren und sind infolgedessen an das jeweilige Recht gebunden. Charakteristisch für diese Rechtsauffassung ist die These, daß das Kollektiv einschließlich seiner Allgemeininteressen prinzipiell den Interessen der jeweiligen Einheiten - das heißt der Individuen oder der Staaten - übergeordnet ist. 1206 Der Satz "ibi communitas, ibi ius", der zugleich auch umgekehrt "ibi ius, ibi communitas" zu lesen ist, drückt den Dualismus von Kollektivismus und Individualismus aus, wobei sich beide Naturrechtsauffassungen nicht tatsächlich entgegenstehen, sondern sich notwendig ergänzen. Einerseits müssen die Individuen zur Befriedigung ihrer Interessen und Bedürfnisse die Existenz eines übergeordneten Gemeinwesens akzeptieren; andererseits muß auch das Kollektiv die Individualinteressen, die Rechtspersönlichkeit und die Grundrechte der Individuen anerkennen. 1207 Bleckmann streitet demnach die Rechtspersönlichkeit der Menschen keineswegs ab; er fordert vielmehr, daß sowohl die Staaten als auch die Völker- und Weltrechtsordnung inhaltlich und organisatorisch von den Grundrechten der Individuen aus gedacht werden sollen: "Die Existenz und die Kompetenzen des Staates beruhen auf den Grundrechten, die dem 1202 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 423. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.423. 1204 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11. 3. d). 1205 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.433, vgl. S. 427-432. Albert Bleckmann bezieht sich hierbei auf die naturrechtlich geprägte Lehre der Gerechtigkeit von lohn Rawls; dazu l. Rawls, A Theory of Justice, 1971. 1206 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.433 und S.419. 1207 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S.433, S.438 und S.498-500. 1203
4. Kap.: Der Monismus mit Primat des innerstaatlichen Rechts
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staatlichen Handeln nicht nur Schranken ziehen, sondern Ziele setzen."120S Er entwirft auf diese Weise ein einheitlich-weltrechtliches Konzept, das nicht auf der Freiheit und dem Willen der Völker, sondern auf den Individuen als Rechtssubjekten basiert, welche materielle Grundrechte innehaben: "Das Völkerrecht entwickelt sich mit der Anerkennung der Rechtspersönlichkeit der Individuen, mit der Auffassung, daß die Allgemeininteressen der Völkerrechtsgemeinschaft letztlich nur Individualinteressen darstellen und vor allem mit der Durchsetzung von internationalen Menschenrechtspakten eindeutig in diese Richtung."1209
1208 1209
A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 500, vgl. S. 501-502. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 501, vgl. S. 500.
Fünfter Teil
Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum Erstes Kapitel Verfassungsrechtliche Bestimmungen zur Stellung der Bundesrepublik Deutschland in der internationalen Gemeinschaft Die Erkenntnisse der vorangegangenen Kapitel lassen eindeutig den Schluß zu, daß Völkerrecht und staatliches Recht sich nicht indifferent zueinander verhalten. Das Völkerrecht regelt die Rechtsbeziehungen der Völkerrechtssubjekte. Womit insbesondere die Staaten gemeint sind, die an das Völkerrecht gebunden sind. I Die staatliche Rechtsetzung kann demnach an völkerrechtliche Grenzen stoßen. Andererseits richtet das nationale Recht seinen Blick auch auf die Bildung völkerrechtlicher Normen und regelt beispielweise die Zuständigkeiten beim Abschluß von Völkerrechtsverträgen. Die sich aus dem Völkerrecht ergebenden Rechte und Verpflichtungen hat jeder Staat selbst zu vollziehen. 2 Der Vollzug des Völkerrechts wird dem innerstaatlichen Recht überlassen; denn das Völkerrecht selbst enthält keine Vorschriften über sein Verhältnis zum innerstaatlichen Recht. Es schreibt auch nicht vor, wie die Staaten die Befolgung der Völkerrechtsregeln im nationalen Rechtsraum sicherstellen sollen. Das Völkerrecht steckt lediglich das Ziel, daß die innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit seiner Rechtsnormen garantiert werden. Die Staaten bestimmen daher selbst, ob und auf welche Art und Weise sie sich für eine Öffnung ihrer Staatlichkeit nach außen entscheiden. 3
Im Rahmen der Betrachtung der Konzeption von Völkerrecht und staatlichem Recht ist es demnach notwendig, auch die jeweilige staatliche Rechtsordnung dahingehend zu befragen, wie sie ihre Beziehung zum Völkerrecht ordnet. Bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wurde diese den Staaten anvertraute Aufgabe erfüllt und Regelungen zum Verhältnis zwischen Völkerrecht und deutschem Recht getroffen. Allerdings wurde weder eine ausdrückDazu 3. Teil, I. Kap. Vgl. Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Völkerrecht, hrsg. von Wolfgang GrafVitzthum, 1997, S.lOl-181, hier S.107; dazu auch 3. Teil, 2. und 3. Kap. 3 Vgl. A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.539-540; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 265; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S. 141; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 265. 1
2
1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland
297
liche Regelung der Verhältnisfrage vorgenommen noch sind alle Bestimmungen zur Ausübung der auswärtigen Gewalt 4 in einem eigenen Abschnitt zusammengefaßt worden. Die sich auf das Völkerrecht beziehenden Vorschriften sind vielmehr über den gesamten Verfassungstext verteilt. 5 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Beziehung des Völkerrechts zum deutschen Recht bisher noch nicht eindeutig Stellung bezogen. 6 Ungeachtet der mehrdeutigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und der daher inkonstanten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ziehen die Vertreter der Völkerrechts lehren einzelne Normen des Grundgesetzes zur Begründung ihrer jeweils dualistischen oder monistischen Rechtsauffassung heran. 7 Innerhalb der internationalen Völkergemeinschaft steht die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich souverän neben allen anderen Staaten und materialisiert das nationale Recht durch ihre Rechtsordnung. Aus der Präambel sowie aus Art. I Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 23-26, Art. 32 und Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes wird deutlich, daß die Bundesrepublik Deutschland sich dem Völkerrecht öffnen und mit der Gestaltung der staatlichen Strukturen den effektiven Vollzug des Völkerrechts im nationalen Rechtsraum sichern will. Diese Maxime des Grundgesetzes wird auch im Friedensziel der Präambel sowie der Art. 1 Abs.2 und Art. 26 erkennbar. 8 Bei einer Gesamtbetrachtung der verfassungsrechtlichen Grundorientierung wird deshalb vom Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes gesprochen. 9 Auch 4 Zum Begriff der auswärtigen Gewalt, die laut herrschender Lehre auf die verschiedenen - im Grundgesetz gesondert erwähnten - Gewalten aufgeteilt ist, siehe R. Bernhard, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in: HStR, hrsg. von losef Isensee/paul Kirchhof, Band VII: Normativität und Schutz der Verfassung - Internationale Beziehungen, 1992, § 174, S. 571-598; W. G. Grewe, Auswärtige Gewalt, HStR, Band III: Das Handeln des Staates, 1988, § 77, S. 921-975; R. Wolfrum, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, in: VVDStRL, Band 56, 1996, S. 39-66; M. Schweitzer, Staatsrecht 111: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S. 239-251; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 118-119; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.179-183; M. Zuleeg, Zum Standort des Verfassungsstaats im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: Die Öffentliche Verwaltung, Heft 13/14, 30.lg. (1977), S.461-467; K.A. Schachtschneider, in: Aussprache und Schlußworte (Kontrolle der auswärtigen Gewalt), in: VVDStRL, Band 56, 1996, S. 97-159, hier S. 100-102; dazu auch D. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 5. Teil, 1. Kap. I. 5 Vgl. insbesondere Art. 23-26, 32, 59, 73 Ziff. I, 79 Abs. 1 Satz 2, 80a, 87 a, 100 Abs. 2, 115a, und Art. 1151 GG. 6 Dazu 5. Teil, 3. Kap. 11. 7 Vgl. M. Schweitzer, Staatsrecht 111: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S.15; E. Menzell K.lpsen, Völkerrecht, S. 59; dazu auch 5. Teil, 3. Kap. I. 8 Dazu Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 109-111; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S.298-300; K.lpsen, Völkerrecht (3.Aufl.), S. 1106-1 108; A. Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, in: Die Öffentliche Verwaltung, Heft 4, Februar 1996, S.137-145, hier S. 140-141. 9 Ausführlich dazu A. Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, S. 137-145; vgl. K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1084; O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 500.
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
für das Bundesverfassungsgericht wird das Grundgesetz "insgesamt von einer völkerrechtsfreundlichen Tendenz getragen"IO. Sowohl für die Völkerrechts lehre als auch für das Bundesverfassungsgericht sind zur Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht und dem damit verbundenen Problem der innerstaatlichen Verbindlichkeit völkerrechtlicher Rechtssätze insbesondere Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG von grundlegender Bedeutsamkeit: Art. 25 GG bestimmt: "Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes."
Art. 59 Abs. 1 und 2 GG lautet: "Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfangt die Gesandten. Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln, oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Für die Verwaltungsabkommen gelten die Vorschriften über die Bundesverwaltung entsprechend."
Das Grundgesetz unterscheidet demnach bei der Einbeziehung von Völkerrecht in deutsches Recht zwischen allgemeinen Regeln des Völkerrechts und völkerrechtlichen Verträgen. 11
Zweites Kapitel
Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts in der deutschen Rechtsordnung I. Die Möglichkeiten zur Einbeziehung völkerrechtlicher Normen in die staatliche Rechtsordnung Die Frage nach der Einbeziehung des Völkerrechts in den staatlichen Rechtsbereich steht in engem Zusammenhang mit der dualistischen und monistischen Rechtsordnungskonzeption. Nach den Lehren vom Monismus müßten völkerrechtliche Bestimmungen grundsätzlich ohne weiteres innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit erlangen, sofern sie höherrangigem Recht nicht widersprechen. Jedoch kann auch ungeachtet der Lehre von der Einheit der Rechtsordnungen eine innerstaatliche Anordnung gefordert werden; nämlich dann, sofern innerhalb der moni10 BVerfGE 18, 112 (121); 31, 58 (75ff.); vgl. BVerfGE 89, 155 (183); dazu Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 112-113. 11 Dazu 5. Teil, 2. Kap. 11.
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
299
stischen Lehre die These vertreten wird, daß durch das Völkerrecht zunächst nur der Staat verpflichtet wird. 12 Dagegen ist für den Dualismus das Völkerrecht innerstaatlich nur dann verbindlich und vollziehbar, wenn dies ein entsprechender staatlicher Akt anordnet. 13 Dabei ist hervorzuheben, daß von den Staaten im Rahmen der internationalen Staatenpraxis keine Position im Sinne der erörterten Lehren verlangt wird. Umgekehrt kann sich kein Staat auf die monistische oder dualistische Grundhaltung seiner Rechtsordnung berufen, um seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu entgehen. In der Tat können die Staaten ihre innerstaatliche Rechtsordnungsstruktur eigenständig gestalten, solange die Erfüllung der völkerrechtlichen Vorschriften dabei gewährleistet wird. 14 Festzustellen ist, daß sowohl bei der Annahme der monistischen als auch der dualistischen Rechtsordnungskonstruktion die Staaten ihr Recht dem Völkerrecht anpassen müssen - jedoch immer unter dem Vorbehalt der nationalen Verfassungsprinzipien. In den einzelnen Staaten werden durchaus verschiedene juristische Mechanismen verwendet, die in der Regel in den Verfassungen festgelegt sind, um den Völkerrechtsnormen innerstaatliche Verbindlichkeit zu verschaffen. Dabei kann festgestellt werden, daß selbst innerhalb einer staatlichen Rechtsordnung jeweils unterschiedliche Techniken für das Völkervertragsrecht einerseits und das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht andererseits vorgesehen sind. 15 Es lassen sich drei Grundansätze zur Einbeziehung des Völkerrechts in den nationalen Rechtsraum unterscheiden: Im einzelnen sind dies die Transformationslehre, die Vollzugslehre und die Adoptionslehre.
12 In den Staaten, die dem Monismus näher stehen, stellen die vorgeschriebenen Anordnungen zum Einbezug des Völkerrechts in den innerstaatlichen Rechtsraum auch verfassungsmäßige Voraussetzungen dar, um die unmittelbare Geltung zu gewährleisten; vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 117; A. Bleckmann, Europarecht, S. 292-294; dazu auch H. Wagner, Monismus und Dualismus: eine methodenkritische Betrachtung zum Theorienstreit, S.236-238; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S. 18; siehe 5. Teil, 2. Kap. n. Il Vgl. M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht!Europarecht, S. 141; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 118-119; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, insbesondere S.18; dazu auch 4. Teil. 14 Vgl. Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 120; E. Menzel/K. /psen, Völkerrecht, S.54. Art. 27 der Wiener Vertragsrechtskonvention formuliert den Grundsatz, daß sich kein Staat auf sein innerstaatliches Recht berufen kann, um sich zu rechtfertigen, wenn er einen Vertrag nicht einhält; vgl. A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S.445; K. Doehring, Völkerrecht, S. 303. 15 Dazu G. DahmlJ. DelbrücklR. Wolfrum, Völkerrecht, Band I, 1. Aufl., 1988, S. 104-117; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 151; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 120; E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 125-129; zum Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht nach den Rechtsordnungen einzelner Staaten siehe 6. Teil.
300
5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
J. Die Transformationslehre
Die Transfonnationslehre geht davon aus, daß die Völkerrechts nonnen als solche nur im zwischenstaatlichen Bereich gelten. Deren Verbindlichkeit im innerstaatlichen Bereich wird dadurch bewirkt, daß das Völkerrecht in innerstaatliches Recht umgewandelt wird. Mittels eines solchen Transfonnationsaktes, der in dieser Lehre sowohl für das völkerrechtliche Vertragsrecht als auch für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts erforderlich ist, wird gleichlautendes innerstaatliches Recht gesetzt und somit der Geltungsgrund und Geltungsbereich der transfonnierten Völkerrechtsnonn verändert: Ihre Rechtsquelle stellt nun das staatliche Recht dar, und für den innerstaatlichen Nonnadressaten - sei es der Staatsbürger oder das für die Durchführung verantwortliche Staatsorgan - ist die transfonnierte Rechtsnonn maßgebend. 16 Die jeweilige staatliche Transfonnationsnonn bestimmt darüber hinaus den Rang des transfonnierten Rechts in der innerstaatlichen Nonnenhierarchie. Dabei richtet sich sein Rang entweder nach dem Rang der innerstaatlichen Transfonnationsnonn oder nach der in der Transfonnationsnonn genannten Regelung. 17 Insgesamt betrachtet beruht die Transfonnationslehre auf der dualistischen Sichtweise; denn sie geht von der Trennung zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht aus und folgt der Annahme, daß die Völkerrechtsnonnen als solche innerstaatlich weder gelten noch angewendet werden können. 18 Aus einer strengen Deutung dieser Transfonnationsthese - wie sie insbesondere Heinrich Triepel im Rahmen seiner strikt dualistischen Lehre begründet hat 19 - folgt 16 Zur Transformationslehre siehe W. RudolJ, Völkerrecht und deutsches Recht, S.158-164; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1078-1080; E. MenzellK. Ipsen, Völkerrecht, S. 54; K. Doehring, Völkerrecht, S. 299-300; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S.277-285 und S. 289-291; A. Bleckmann, Das Verhältnis des Völkerrechts zum Landesrecht im Lichte der "Bedingungstheorie", S. 282-283; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. 1.5. Eine andere Auffassung bezüglich der Änderung des Adressatenkreises vermittelt der Bericht von Karl lose! Partsch über die Untersuchungen der Ersten Studienkommission der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht zum Problem der Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich: Nach deren Deutung der Transformationslehre erhält die dem Völkerrecht entstammende Norm keine neuen Adressaten, wenn sie in die staatliche Rechtsordnung übernommen wird; denn es sind nach Ansicht der Kommission nur jene Völkerrechtsnormen transformierbar, welche sich ihrem Inhalt nach an die innerstaatlichen Organe und Rechtsunterworfene wenden, d. h. unmittelbar anwendbar sind; vgl. K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 20; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. I. 2. 17 Vgl. Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 152; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1081; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S. 144; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. 11. Eine umfassende Behandlung prinzipieller Rang- und Geltungsfragen leistet Theodor Schilling; er vertritt insbesondere den Grundsatz, daß sich der Rang einer Norm, die in eine Rechtsordnung einbezogen wird, nach dem Rang der Norm richtet, welche diesen Vorgang anordnet; vgl. Th.Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S.163-174, insbesondere S.167-168. 18 Vgl. K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1078-1079; w. RudolJ, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 158; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 264; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. 19 Dazu 4. Teil, 1. Kap. I.
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
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die vollständige Trennung zwischen der transfonnierten innerstaatlichen und der ursprünglichen völkerrechtlichen Nonn, so daß der Zusammenhang zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht verloren geht. Folglich ist der Sachverhalt zugleich völkerrechtlich und innerstaatlich in gleicher Weise geregelt. So können Fragen bezüglich Inkrafttreten, Auslegung und Beendigung der Rechtsnonn einerseits nach dem Völkerrecht und andererseits nach dem innerstaatlichen Recht beantwortet werden. Für die Geltung und Anwendung des Völkerrechts in der nationalen Rechtsordnung ist demzufolge nicht der völkerrechtliche Vertrag, sondern ausschließlich die vertragsgemäße nationale Nonn maßgeblich. 20 Diese Isolierung der Rechtsordnungen entspricht zwar einem konsequenten Dualismus, wird aber der Staatenpraxis nicht gerecht. In der Regel bestehen Verbindungen zwischen der Völkerrechtsnonn und der innerstaatlichen Nonn; so beispielsweise bezüglich der Entstehung und Beendigung völkerrechtlicher Verträge: Die Transfonnationsnonn und das transfonnierte Recht sind erst dann innerstaatlich wirksam, wenn der völkerrechtliche Vertrag zwischenstaatlich in Kraft tritt und erst bei dessen Außerkraftsetzung erlischt auch die Geltung der Transfonnation. 21 In dem Bestreben, den innerstaatlichen Vollzug völkerrechtlicher Nonnen rechtsdogmatisch zu erklären und der Praxis der Staaten gerecht zu werden, hat sich eine gemäßigte Transfonnationslehre herausgebildet, die auf einer gemilderten dualistischen Völkerrechtskonzeption beruht. Sie geht zwar auch davon aus, daß die Transfonnation eine Umsetzung des Völkerrechts in innerstaatliches Recht bewirkt und den Adressatenkreis verändert. Allerdings tritt dabei das Merkmal der inhaltlichen Verwandlung in den Hintergrund und der Zusammenhang zwischen Völkerrecht und dem transfonnierten Recht wird nicht unterbrochen, womit sich innerstaatliches Inkrafttreten, Verbindlichkeit, Interpretation und Beendigung des Vertrages weiterhin nach dem Völkerrecht richten. 22 20 Der Begriff der Transformation (Umwandlung) ist in diesem Zusammenhang demnach mißverständlich. Aus ihm folgt nicht, daß das Völkerrecht in staatliches Recht verwandelt wird und insofern eine Verknüpfung entsteht; vgl. G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 16; A. Hold-Ferneck, Lehrbuch des Völkerrechts, S. 117; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. I. 5. 21 Vgl. M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/Völkerrecht!Europarecht, S. 145-146; E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S. 55; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.159-163. Walter Rudolfkommt zu dem Ergebnis: "Die überkommene Transformationstheorie entspricht dem konsequenten Dualismus, ist aber mit der gemäßigten dualistischen Konzeption, die allein die reale Wirklichkeit des Verhältnisses völkerrechtlicher und staatsrechtlicher Normen zu deuten vermag, nicht vereinbar." (S. 163-164). 22 Vgl. K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1079-1080; E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S. 55; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 264. Insbesondere Walter Rudolffolgt der gemäßigten Form des Dualismus, die Einwirkungen des Völkerrechts auf die Gestaltung der staatlichen Rechtsordnung zuläßt; vgl. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 141-146, S. 159 und S. 164. Die juristische Bedeutung der Transformation besteht für ihn darin, "daß vermittels eines staatsrechtlichen Anwendungsbefehls die völkerrechtliche Norm inhaltlich in eine solche des staatlichen Rechts unter Änderung der Normadressaten umgewandelt wird, ohne daß jedoch der ursprüngliche Systemzusammenhang der transformierten Norm mit dem Völkerrecht zerrissen wird. Der staatsrechtliche Vollzugsbefehl äußert seine adressatenändemde Wirkung darin, daß das transformierte Recht nicht mehr wie das untransformierte
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
Der Transfonnationsakt zur Umsetzung des Völkerrechts kann prinzipiell in zwei Fonnen stattfinden, der speziellen und der generellen Transfonnation. Nach der speziellen Transfonnation wird jede Völkerrechtsnonn durch einen besonderen Akt in die staatliche Rechtsordnung umgegossen. Dies erfolgt je nach den verfassungsrechtlichen Bestimmungen durch den Erlaß eines gesonderten staatlichen Rechtsaktes - in der Regel durch eine parlamentarische Zustimmung in Fonn eines Gesetzes. 23 Die generelle Transfonnation übernimmt die Nonnen des Völkerrechts dagegen insgesamt und en bloc in das staatliche Recht, ohne daß jeweils ein gesonderter Rechtsakt erforderlich wäre. 24 Die Staatenpraxis macht von ihr überwiegend für das Völkergewohnheitsrecht Gebrauch und verwendet die spezielle Transfonnation in bezug auf völkerrechtliche Verträge. 25
2. Die Vollzugslehre Die Vollzugslehre wurde von der Ersten Studienkommission der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht - unter der Leitung von Karl lose!Partsch - im Rahmen ihrer Untersuchung zur Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich, die insbesondere von der Absicht der Überprüfung der Transfonnationslehre geprägt war, gezielt erarbeitet und von Partsch dokumentiert. 26 Zugleich wird in der völkerrechtlichen Literatur anerkannt, daß sie zuvor bereits von Dionisio Anzilotti erstmals begründet und nachfolgend von Herman Mosler vertreten wurdeY Nach der Vollzugslehre bedarf es ebenfalls eines staatlichen Rechtsaktes, um die innerstaatliche Verbindlichkeit eines Völkerrechtssatzes herbeizuführen. Im Sinne eines Rechtsanwendungsbefehls erklärt er die jeweilige Völkerrechtsnonn für innerstaatlich vollVölkerrecht den Staat als solchen, sondern den Staatsbürger im allgemeinen wie im sog. besonderen Gewaltverhältnis oder ein mit der Durchführung der völkerrechtlichen Norm betrautes Staatsorgan (möglicherweise bis zum kleinsten Amtsträger) zum Normadressaten hat, d.h. ihnen Rechte und Pflichten auferlegt". (S. 171); dazu auch 5. Teil, 3. Kap. I. 23 Vgl. K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1079; M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/ Völkerrecht/Europarecht, S. 145. Die spezielle Transformation könnte jedoch auch durch andere innerstaatliche Rechtsvorschriften, durch einfache Zustimmung des Gesetzgebers oder durch Veröffentlichung bewirkt werden; vgl. E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S.54. 24 Vgl. K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1079; M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/ Völkerrecht/Europarecht, S. 145. 25 Zu den Schwierigkeiten der speziellen Transformation beim Völkergewohnheitsrecht siehe K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1079. 26 Siehe K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht. Die dogmatische Anregung zur Entwicklung der Vollzugslehre gaben Erich Kaufmann und Hermann Mosler; vgl. G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 36-38; A. Bleckmann, Europarecht, S. 292. 27 Vgl. K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 19 und S. 24; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 289; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, insbesondere S.15-19 und S.40; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 39-40; andere Ansicht bei W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 164, Fußnote 145; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. H. 1.
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
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ziehbar und ordnet die Anwendung der völkerrechtlichen Norm als solche innerhalb der nationalen Rechtsordnung an, ohne diese inhaltlich zu ändern. Im Gegensatz zur Transformation bleibt dabei der völkerrechtliche Geltungsgrund der Norm sowie ihr Adressatenkreis und somit ihr Völkerrechtscharakter erhalten. Der Vollzugsbefehl tritt zu dem Geltungsgrund des Völkerrechts ergänzend hinzu und erfüllt damit lediglich die Geltungs- und Anwendungsvoraussetzung der Völkerrechtsnorm im innerstaatlichen Bereich. Er hat jedoch nicht die Entstehung einer Norm des nationalen Rechts zu Folge, die als Gegenstück zur originären Völkerrechtsnorm in der innerstaatlichen Rechtsordnung entsteht. 28 Folglich beantworten sich alle Fragen zur Auslegung und Anwendung von Völkergewohnheits- und Vertragsrecht nach dem Völkerrecht. 29 Den Rang, den das einbezogene Recht in der staatlichen Normenhierarchie einnimmt, bestimmen die Staaten selbst. Demnach treffen sowohl die Transformations- als auch die Vollzugslehre keine Aussage zur Rangeinstufung. 30 Weder die Transformations- noch die Vollzugslehre sind zwingende Folge einer monistischen oder dualistischen Lehre. Beide Rechtsordnungskonzeptionen fordern keine spezielle Methode der Einbeziehung des Völkerrechts in die innerstaatliche Rechtsordnung. Andererseits liegt der Transformationslehre laut herrschender Meinung grundsätzlich das dualistische Verhältnis der Rechtsordnungen zugrunde. 31 Für die Vollzugslehre wird dagegen eine solche eindeutige Aussage nicht getroffen; in der Völkerrechtsliteratur bleibt die Frage nach der mit der Vollzugslehre zu vereinbarenden Rechtsordnungskonzeption oftmals unbeantwortet und es wird der Eindruck vermittelt, daß auch sie die Verschiedenheit der Rechtsordnungen unabdingbar voraussetze. 32 Nach Ansicht von Walter Rudolf ist die Vollzugslehre nur unter der Annahme, Völkerrecht und staatliches Recht seien Bestandteile einer einheitlichen Rechtsordnung, verständlich, weil durch den Rechtsanwendungsbefehl weder der Geltungsursprung noch die Adressaten der Völkerrechtsnormen geändert würden. 33 Auch für Michael Schweitzer ist die Vollzugslehre nur im Rahmen der Lehre 28 Zum Wesen der Vollzugslehre siehe K. l. Partseh, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, insbesondere S.19-31 und S.156-157; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1080-1081; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 123; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 564; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 265. 29 Zur Interpretation völkerrechtlicher Verträge unter dem Aspekt ihrer Stellung im innerstaatlichen Recht der Staaten siehe eh. Schreuer, Wechselwirkung zwischen Völkerrecht und Verfassung bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 23, 1982, S. 61-91. 30 Vgl. K.l. Partseh, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 19, S.22-24 und S. 157; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1081-1082. 31 Vgl. z.B. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.165; Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 122. 32 Vgl. K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1080-1081; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.546; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 289-291; K. Doehring, Völkerrecht, S. 299; E. MenzellK.lpsen, Völkerrecht, S. 55-56. 33 Vgl. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.165. Walter Rudolf- als Vertreter einer dualistischen Rechtsordnungskonzeption - lehnt damit die Vollzugs lehre als Methode zur Durchführung des Völkerrechts im nationalen Rechtsraum ab. Für Karl lose! Partsch liegt der
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
vom Monismus schlüssig, weil eine dualistische Rechtslehre nicht mit der These, daß das Völkerrecht als solches in der innerstaatlichen Rechtsordnung anwendbar ist, vereinbart werden könne. 34 In Anlehnung an Karl lose! Partsch wird hingegen die Auffassung vertreten, daß die Vollzugslehre sowohl mit dem Dualismus als auch mit dem Monismus in Einklang zu bringen sei. 35 Eine weitere Gemeinsamkeit von Transformations- und Vollzugslehre erkennt ein Teil der Rechtswissenschaft darin, daß nur Normen, die "self-executing" sind, d. h. selbständig angewendet werden können, transformiert werden könnten oder vollzugsfahig seien. Diese Eigenschaft der unmittelbaren Anwendbarkeit besitzen nur Völkerrechts sätze, die mit ihrer adressatenändernden Aufnahme in den staatlichen Normenbestand nach ihrem Inhalt, Zweck und Wortlaut geeignet sind, Staatsorgane oder Rechtsunterworfene verpflichten und berechtigen zu können, ohne daß weitere völker- oder staatsrechtliche Akte notwendig werden. Ist eine völkerrechtliche Norm nicht geeignet, innerstaatliche Rechtswirkung hervorzurufen, gilt sie zwar für den Staat; sie kann aber nach dieser Auffassung nicht in die staatliche Rechtsordnung transformiert oder einbezogen werden. Eine innerstaatliche Geltung für die Individuen wird nach dieser Meinung folglich nur dann erreicht, wenn das Völkerrecht Unterschied zwischen Transformations- und Vollzugslehre nur darin, "daß diese [die Vollzugslehre] in der Erstreckung auf die innerstaatlichen Rechtsanwendungsorgane und Rechtsunterworfenen keine Inhaltsänderung der aus dem Völkerrecht stammenden Norm sieht". (K. J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 20). Seiner Meinung nach erhält nach beiden Lehren die aus dem Völkerrecht stammende Norm keine neuen Adressaten, weil diese davon ausgehen, daß ausschließlich jene Normen transformierbar oder vollziehbar sind, die sich an die Staatsorgane oder Staatsbürger wenden. Einzige Verschiedenheit dabei sei, daß die Transformationslehre darauf abstelle, ob durch die Völkerrechtsnorm eine Verpflichtung für den innerstaatlichen Rechtsunterworfenen eintritt und die Vollzugslehre sich demgegenüber damit begnüge, "daß die Norm ihrem Inhalt nach abstrakt geeignet ist, das ins Auge gefaßte Rechtssubjekt zu binden oder zu verpflichten ohne Rücksicht darauf, ob die Wirkung der Bindung oder Verpflichtung durch den Erlaß der Norm wirklich eintritt oder ob es dazu noch eines ergänzenden Aktes bedarf" (S. 20). Für Partsch ist demnach der Begriff "Adressat einer Rechtsnorm" (S. 20) in den beiden Lehren unterschiedlich zu deuten. Anderer Ansicht ist Walter Rudolf, der bei einer Transformation von einer Änderung des Geltungsbereichs auf neue Adressaten und von einer unmittelbaren Rechtsverpflichtungserfordernis für die innerstaatlichen Rechtssubjekte ausgeht; vgl. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 158 und S. 173. Es ist erkennbar, daß sich Rudolfund Partsch zwar jeweils mit der Lehre des anderen auseinandersetzen, dabei jedoch von verschiedenen Grundannahmen ausgehen. 34 Vgl. M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S.142-143. 35 "Die Transformationslehre setzt zwar voraus, daß Völkerrecht und Landesrecht zwei verschiedene Rechtsordnungen sind. Diese dualistische Konstruktion führt aber nicht notwendig zur Transformationslehre, sondern läßt auch eine Anwendung der Vollzugslehre zu. Diese Vollzugslehre ist aber nicht nur mit einer dualistischen Konstruktion· vereinbar, sondern auch mit der Auffassung, Völkerrecht und Landesrecht seien Bestandteile einer einheitlichen Rechtsordnung. Selbst die Ansicht, die Landesrechtsordnung sei von der Völkerrechtsordnung abgeleitet, schließt eine Anwendung der Vollzugslehre nicht aus, sofern die Staaten als berechtigt angesehen werden, über die innerstaatliche Wirkung von Völkerrechtsnormen zu entscheiden, und aus dem Delegationsverhältnis nicht hergeleitet wird, daß alles Landesrecht vor Völkerrechtsnormen zurückweiche." K. J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 157; vgl. S.24-25; siehe auch Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 123.
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
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auch unmittelbar anwendungs fähig ist. 36 Nach neuerer Auffassung ist zwischen innerstaatlicher Geltung und innerstaatlicher Anwendbarkeit 37 einer völkerrechtlichen Norm zu unterscheiden. Ihre innerstaatliche Geltung ist dann gegeben, wenn sie als Bestandteil der staatlichen Rechtsordnung geltendes Recht verkörpert. Dieser Schritt erfolgt mittels Transformations- oder Vollzugsbefehl. Nun erst ist zu entscheiden, ob die geltende Norm unmittelbar anwendbar ist oder den Einzelnen nicht berechtigen oder verpflichten kann. Dieser Ansicht nach erlangt das Volkerrecht einerseits in vollem Umfang Geltungskraft in der nationalen Rechtsordnung; andererseits ist es von den Gerichten nur dann anzuwenden, wenn es unmittelbar anwendbar ist. 38 Nach diesem Standpunkt ist die innerstaatliche Anwendbarkeit eine nicht unentbehrliche Voraussetzung der Geltung der Völkerrechtsnormen in der nationa36 Dazu ausführlich W. R udolJ, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 173-175 und S. 257-262. Sein Ergebnis formuliert er deutlich: "Nicht unmittelbar anwendungsfähiges Völkerrecht, d. h. Völkerrecht, das nicht "self-executing" ist, kommt deshalb als Gegenstand einer Transformation nicht in Betracht. Ob eine Völkerrechtsnorm innerstaatlich anwendungsreif ist oder nicht, ist dabei eine Interpretationsfrage." (S. 174); vgl. auch I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 145; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S.20-23; K. I. Partseh, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.20; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht!Europarecht, S. 147-148; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.216-219 und S.336; W. Wengier, Völkerrecht, S.453. Dieser Auffassung folgte auch das Reichsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung; vgl. z.B. RGZ 121, S. 9 und RGZ 132, S. 216; in diesem Zusammenhang hat sich das Gericht zum Dualismus und der damit verbundenen Transformationslehre bekannt; vgl. RGSt. 12, S. 381 ff. (Urteil vom 22.09.1885). Ähnliche Urteile im Sinne der dualistischen Auffassung: RGZ 105, S.260ff.; RGZ 111, S.40ff.; RGZ 117, S. 284ff.; RGZ 119, S. 156ff.; RGZ 21, S. 7ff.; RGZ 131, S. 251 ff.; RGZ 115, S. 257 ff.; RGZ 159, S. 33 ff.; dazu G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 19; H.-I. Schlochauer, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, S.15, Fußnote 65. Auch der Reichsfinanzhof hat sich in seinen Stellungnahmen deutlich zugunsten des Dualismus im Sinne Heinrich Triepels geäußert; vgl. RFH 21, S.68ff. und S.73f. (Entscheidung vom 07.12.1926), zitiert in: G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S.20; vgl. auch RFH 3, S. IOff. 37 Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm hängt davon ab, ob sie klar und ausreichend bestimmt ist, so daß sich konkrete Rechtsfolgen ableiten lassen und zu ihrer Durchführung kein weiterer staatlicher Akt notwendig ist, um die Individuen berechtigen oder verpflichten zu können. Folglich können diese sich vor staatlichen Organen, insbesondere vor Gerichten, auf die unmittelbar anwendbare Norm berufen. Zur Unterscheidung von Geltung und Anwendbarkeit der Völkerrechtsnormen vgl. K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1090-1091; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 123-124; Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S.548-558 und S. 629; K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsehe, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S.17; A. Bleckmann, Europarecht, S. 334-350; vgl. dazu auch die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen "Bananen" (EuGH v. 29.06.1993 - Rs. C. - 280/93 R, Sig. 1993), "Bundesrepublik Deutschland!Rat" (EuGH v. 05.10.1994 - Rs. C.-280/93, Sig. 1994) und "Portugal!Rat" (EuGH v. 23.11.1999 - Rs. C.-149/96, Sig. 1999). 38 Vgl. K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1090-1091; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 123-124; G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S.8-9; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 279-285; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht!Europarecht, S.149; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S. 19-20.
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
len Rechtsordnung. Das Ergebnis beider Auffassungen ist hinsichtlich der RechtssteIlung der Staatsbürger identisch: "Self-executing"-Nonnen berechtigen oder verpflichten den Einzelnen unmittelbar, "non-self-executing"-Nonnen dagegen nicht. 39 Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu diesem Themenkomplex geäußert, ohne jedoch einer der bei den Meinungen zuzustimmen: "Nur solche völkerrechtliche Vertragsbestimmungen können durch das Zustimmungsgesetz in innerstaatlich anwendbares Recht umgesetzt werden, die alle Eigenschaften besitzen, welche ein Gesetz nach innerstaatlichem Recht haben muß, um berechtigen oder verpflichten zu können; die Vertragsbestimmung muß nach Wortlaut, Zweck und Inhalt wie eine innerstaatliche Gesetzesvorschrift rechtliche Wirkung auszulösen geeignet sein. Nur unter diesen Voraussetzungen entstehen für den Staatsbürger verbindliche Rechtsnormen." 4O
Die innerstaatliche Transfonnation und der Vollzugsbefehl unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf die Geltung der Völkerrechtsnonnen: Eine Transfonnation kann den völkerrechtlichen Nonnen nur eine mittelbare Geltung verschaffen, weil sie nach dieser Lehre nur als nationale Nonnen innerhalb der innerstaatlichen Rechtsordnungen verbindlich sein können. 41 Die Vollzugslehre hält zwar auch an der Erfordernis eines staatlichen Rechtsaktes fest, bewahrt jedoch den völkerrechtlichen Charakter und Geltungsgrund der Rechtsnonnen, so daß der Rechtsanwendungsbefehl das Völkerrecht lediglich für innerstaatlich vollziehbar erklärt und sich daraus dessen unmittelbare Geltung ableiten läßt. Auch die Lehre vom Monismus als Lehre von der Einheit der Rechtsordnungen ennöglicht - wie bereits in den entsprechenden Lehren des Völkerrechts ausgeführt - die unmittelbare Geltung der völkerrechtlichen Verträge, weil diese ohne Transfonnation nach Inkrafttreten des Vertrages innerstaatlich gelten. 42
3. Die Adoptionslehre Die Adopotion oder Inkorporation gilt als älteste Methode zur innerstaatlichen Durchführung der völkerrechtlichen Nonnen; denn sie hat ihren Ursprung in dem von William Blackstone 1769 geprägten und von der englischen Gerichtspraxis im wesentlichen für das Völkergewohnheitsrecht verwendeten Grundsatz "internationallaw ist part of the law of the land"43. Auch von den USA wurde diese Fonnel Vgl. M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrechtlEuroparecht, S. 149. BVerfGE 29,348 (360), (Hervorhebung durch den Verfasser). 41 Dazu A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 300. 42 Dazu 4. Teil, 2., 3. und 4. Kap. 43 W. Blackstone, Commentaries on the laws of England, S. 67. Dieser Grundsatz besagt, daß das Völkerrecht automatisch Bestandteil des innerstaatlichen Rechts ist. Er trifft heute in England grundsätzlich nur für das Völkergewohnheitsrecht zu, während das Völkervertragsrecht erst durch einen Transformationsakt britisches Recht wird; vgl. G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S.107-109; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 263; dazu auch 6. Teil. Eine ausführliche Erörterung des englischen Rechts ist zu finden bei G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 275-290 und S. 349-357. 39 40
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
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übernommen. Sie fand hinsichtlich des Vertragsvölkerrechts Eingang in die Verfassung vom 17. September 1787, deren Art. VI Abs. 2 die völkerrechtlichen Verträge als "supreme law of the land" in das innerstaatliche amerikanische Recht inkorporiert. 44 Nach der Adoptions- oder Inkorporationslehre erfolgt die Rezeption des Völkerrechts in das nationale Recht derart, daß es ohne Umwandlung in die innerstaatliche Rechtsordnung eingelassen wird und folglich seinen völkerrechtlichen Charakter beibehält. Der zur innerstaatlichen Verbindlichkeit des Völkerrechts erforderliche staatliche Rechtsakt besitzt in dieser Lehre nur deklaratorische Bedeutung und stellt demnach keinen Vollzugsakt im Sinne eines Bindegliedes zwischen der originären Völkerrechtsnorm und deren innerstaatlichen Geltung dar. 45 Damit gelten die Völkerrechtsnormen als solche in der nationalen Rechtsordnung unmittelbar und die Verwaltungsbehörden und Gerichte sind verpflichtet, sie unmittelbar anzuwenden. Das Wesen der Adoption hat zur Folge, daß sich die Verbindlichkeit, Beendigung und Interpretation einer Völkerrechtsnorm nach den entsprechenden Vorschriften des Völkerrechts richten. 46 Nach der herrschenden Meinung steht die Adoptionslehre in enger dogmatischer Beziehung zur monistischen Konzeption, weil das Völkerrecht als solches im innerstaatlichen Rechtsraum unmittelbare Geltung und Anwen44 Nach der neueren britischen und amerikanischen Rechtsauffassung besteht allerdings nur für jene Völkerrechtsnormen, die dem innerstaatlichen Recht nicht widersprechen, die Möglichkeit zur Adoption; K. lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1078; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 152-153. Zwar gilt die Adoptionslehre in den USA nach dem Verfassungstext (Art. VI Abs. 2) für Völkerrechtsverträge, sie wird aber auch auf das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht ausgedehnt, so daß das gesamte Völkerrecht amerikanisches Recht ist; siehe dazu ausführlich G. DahmlJ. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S.IIO-112; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 290-296 und S. 357-369; dazu auch 6. Teil. 45 Theodor Schilling vertritt eine andere Definition des Begriffs der Inkorporation, weil er von der Schaffung neuen Rechts in Anlehnung an die inkorporierte Norm ausgeht. Für ihn ist die Inkorporation - im Sinne einer Übernahme der Wirkung von Normen - "keine Erstreckung der Geltung, die sie [die Normen] gegebenenfalls in der Ordnung hatten, in der sie erlassen wurden, auf die Rechtsordnung, in die sie inkorporiert werden: Die außerhalb der bestimmten Rechtsordnung existierenden Normen sind für diese grundsätzlich nur Rohmaterial, mit dem sie prinzipiell, nach näherer Maßgabe der inkorporierenden Norm, nach Belieben verfahren kann. Unabhängig von der rechtstechnischen Form, die diese Inkorporation annehmen kann, handelt es sich der Sache nach ausnahmslos um die Schaffung neuen Rechts in Anlehnung an die inkorporierte Norm". Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 300, vgl. S. 162. Die offenste Form einer Inkorporation ist nach Meinung Schillings die Verweisung, mittels derer "ein Gesetzgeber die Wirkung einer fremden Norm in seiner Rechtsordnung ... ausdrücklich anordnet und damit in seiner Rechtsordnung ... eine inhaltlich parallele Norm schafft" (S. 304-305). Eine solche Art der Inkorporation erkennt Schilling in Art. 25 GG (vgl. S.167 und S. 305); dazu auch 5. Teil, 2. Kap. 11. 1. 46 Zum Wesen der Adoptionslehre siehe K. lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1078; M. Schweitzer, Staatsrecht 111: StaatsrechtNölkerrecht!Europarecht, S. 141-142; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.151-158; Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.122-123; E. Menzel/K.lpsen, Völkerrecht, S. 55; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 546.
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dung finden kann. 47 Sie stimmt folglich mit der Vollzuglehre in der Entbehrlichkeit einer Norrnumwandlung überein, unterscheidet sich aber sowohl von der Transformations- als auch der Vollzugslehre hinsichtlich der Erforderlichkeit eines staatlichen Rechtsaktes. 48
11. Die Regelungen des Grundgesetzes zur Durchführung von Vertrags- und Gewohnheitsvölkerrecht 1. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Zu den Regeln des Völkerrechts zählen das Völkergewohnheitsrecht, das Völkervertragsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze. 49 Art. 25 Satz 1 GG bezieht jedoch ausschließlich die "allgemeinen Regeln des Völkerrechts" in die deutsche Rechtsordnung ein. Dieser Begriff bezieht sich laut herrschender Meinung auf Regeln, die allgemeine Geltung für die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der Völkergemeinschaft beanspruchen. 50 Die Allgemeinheit der Völkerrechtsregeln be47 Vgl. K.Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1078; M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/ Völkerrecht/Europarecht, S.142; Walter Rudolflehnt die Adoptionslehre bei der Zugrundelegung eines dualistischen Rechtsordnungsverständnisses ab: "Die von der Adoptionstheorie behauptete Nicht-Veränderung völkerrechtlicher Normen bei ihrer Adoption in das staatliche Recht setzt indes notwendig eine monistische Konzeption des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht voraus. Von jeher stand die von naturrechtlich orientierten Juristen entwickelte Adoptionsthese in engem Zusammenhang mit der Theorie vom Völkerrechtsprimat. Wird dagegen entsprechend der der heutigen geschichtlichen Situation allein angemessenen dualistischen Konzeption zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht als grundsätzlich getrennten Rechtskreisen unterschieden, dann bleibt für die Anwendung der Adoptionsthese kein Raum .... " W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.154. Für Rudolfist die Adoptionslehre mit dem Monismus untrennbar verbunden; hinsichtlich der Lehre vom Primat des Völkerrechts bezieht sich Rudolfinsbesondere auf die Rechtsauffassung von Alfred Verdross (vgl. S. 147-149 und S.154-158); dazu 4. Teil, 3. Kap.III.; anderer Ansicht istPhilip Kunig, der den innerstaatlichen Anwendungsbefehl im Rahmen der Adoptionslehre sowohl im dualistischen als auch im monistischen Sinn deutet, Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.122-123. 48 Vgl. K.Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1080. Zum Teil wird die Meinung vertreten, daß sich die Vollzugslehre insgesamt der Adoptionslehre so beträchtlich angenähert hat und die beiden Begriffe für dieselbe Lehre stehen; vgl. I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 148; M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/Völkerrecht/Europarecht, S. 143; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 165. 49 V gl. Art. 38 Abs. I des Statuts des Internationalen Gerichtshofs; dazu O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 268; dazu auch 3. Teil, 4. Kap. 50 Vgl. dazu G. DahmlJ. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S. 118; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 239-240; E. Menzel/K.Ipsen, Völkerrecht, S. 59; K.Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1087; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 161 und S. 164; K. Doehring, Völkerrecht, S. 306; M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/Völkerrecht/Europarecht, S. 163; W. Rudolf, Incorporation of Customary International Law into Municipal Law, in: Veröffentlichungen des Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, hrsg. von lost Delbrück/Wilhelm A. Kewenig/Rüdiger Wolfrum, Band 103: International Law and Municipal Law, hrsg. von Grigory I. Tunkin/Rüdiger Wolfrum, 1988, S. 24-40, hier S. 29-34.
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
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stimmt sich demnach nicht nach ihrem Inhalt, sondern ist abhängig von ihrem Regelungscharakter, d. h. dem Geltungsbereich für die Völkerrechtssubjekte. 51 "Allgemeine Regeln" im Sinne des Art. 25 GG sind damit hauptsächlich die Normen des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts. Schwierig gestaltet sich die Frage, ob die "von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze"52 unter die allgemeinen Völkerrechtsregeln im Sinne des Art. 25 GG fallen. Einerseits wird dies mit der Begründung verneint, die allgemeinen Rechtsgrundsätze seien ohnehin schon Bestandteil der deutschen Rechtsordnung, weil diese als Ordnung einer "zivilisierten" Nation zu werten seL 53 Andererseits geht das Bundesverfassungsgericht - unter Zustimmung durch einen anderen Teil der Lehre - davon aus, daß Art. 25 GG auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze umfaßt: "Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind vorwiegend universell geltendes Völkergewohnheitsrecht, ergänzt durch anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze."54 51 In Rechtsprechung und Lehre wird dabei die Ansicht vertreten, daß es nicht relevant sei, ob die Bundesrepublik Deutschland eine Norm ausdrücklich im Völkerrechtsverkehr anerkannt hat, damit sie als allgemeine Regel über Art. 25 GG in das nationale Recht Deutschlands gelangt. Das wird insbesondere aufgrund des Vergleichs mit Art. 4 der Weimarer Reichsverfassung, der die "allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts" als Bestandteile des Reichsrechts erfaßte, herausgestellt und durch die Entstehungsgeschichte des Art.25 GG unterstützt; vgl. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.240-250; E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S. 59; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1087; G. Dahm/J. DelbrücklR. Wolfrum, Völkerrecht, S. 118; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S.292. "Allgemein" sind diese Regeln demnach dann, "wenn sie von der weitaus größeren Zahl der Staaten - nicht notwendigerweise auch von der Bundesrepublik Deutschland - anerkannt" werden; BVerfGE 15, 25 (34); vgl. BVerfGE 16,27 (33). Laut herrschender Meinung kann jedoch eine innerstaatliche Bindung einer allgemeinen Völkerrechtsregel nicht entstehen, wenn ihr die Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich widerspricht; dagegen wird eine indifferente Haltung der Bundesrepublik Deutschland nicht als Verhinderung der Bildung einer Norm im Sinne des Art. 25 GG angesehen, sofern diese im überwiegenden Staatenverkehr anerkannt wird; vgl. BVerfGE 46, 342 (389); M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/Völkerrecht/Europarecht, S. 163; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 164. 52 Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut; dazu auch 3. Teil, 4. Kap. 5) So äußerte sich erstmals W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 255-257, für den die Transformation durch Art. 25 GG eine überflüssige "Re-Rezeption" darstellt (S.256); ebenso Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 170; M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/Völkerrecht/Europarecht, S.162-163; vgl. K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S.1089; siehe auch H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S.32-34. Nach Ansicht von Karl Doehring umfaßt der Begriff der allgemeinen Regeln des Völkerrechts zweifellos das gesamte Völkerrecht mit Ausnahme der im Sinne von Art. 59 Abs. 2 GG abgeschlossenen Verträge; vgl. K. Doehring, Völkerrecht, S. 311. 54 BVerfGE 23, 288 (317); vgl. BVerfGE 31, 145 (177); vgl. K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1089; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 291. Zu beachten ist, daß die allgemeinen Rechtsgrundsätze gegenüber den primären Rechtsquellen des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts und des Völkervertragsrechts lediglich eine subsidiäre Rechtsquelle darstellen und demnach im Sinne des Art. 25 GG nur ergänzend zur Anwendung kommen; vgl. K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1089-1090; dazu auch 3. Teil, 4. Kap. Die Frage, ob eine Einbeziehung des Satzes "pacta sunt servanda" über Art. 25 GG in die nationale Rechtsordnung erfolgt, wird
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
Die besonderen völkerrechtlichen Regeln, wie das Völkervertragsrecht und die regionalen oder partikulären Rechtssätze des Gewohnheitsvölkerrechts, werden demnach von Art. 25 GG nicht erfaßt. 55 So ist erkennbar, daß nur ein spezieller Teil des Völkerrechts den Status der allgemeinen Regeln besitzt. Das Grundgesetz wählt für das allgemeine Völkergewohnheitsrecht in Art. 25 GG eine erkennbar andere Regelungstechnik als in Art. 59 Abs. 2 GG hinsichtlich der völkerrechtlichen Verträge. 56 Nach Art. 25 Satz 1 GG sollen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts "Bestandteil des Bundesrechts" sein, so daß der Inhalt des erfaßten Völkerrechts nicht mehr nur den Staat als Völkerrechtssubjekt bindet, sondern auch seine innerstaatliche Geltung herbeigeführt wird. 57 Der zweite Satz: "Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes" bezieht sich auf den Rang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts und stellt zugleich fest, daß die staatlichen Rechtssubjekte durch diese berechtigt und verpflichtet werden können. 58 Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedeutung von innerstaatlicher Geltung und Anwendbarkeit ist bei der Bewertung des Art. 25 GG folgendes zu beachten: Art. 25 Satz I GG verschafft sowohl den allgemeinen Völkerrechtsnormen, die bereits hinsichtlich ihres Inhalts und Adressatenkreises auf Individualrechte von der herrschenden Meinung verneint. Dieser Grundsatz sei nur auf völkerrechtlicher Ebene bedeutsam und hält die Staaten als Völkerrechts subjekte an, ihre vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten; außerdem erfasse Art. 25 GG ausschließlich Normen, die unmittelbar Rechte und Pflichten für die Bewohner des Bundesgebietes begründen können; des weiteren räume Art. 59 GG im Sinne einer lex specialis den Völkerrechtsverträgen im innerstaatlichen Recht nur den Rang eines Gesetzes ein; dazu W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 259-261; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S. 39; o. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 501-502; K. lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1089; K. Doehring, Völkerrecht, S. 311-312; K. J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.72-79; so auch BVerfGE 6, 309 (363). 55 Dazu A. Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, S.137; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.239 und S. 250-255; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S.1088; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 161 und S. 163. Zur Umsetzung des partikulären und lokalen Völkergewohnheitsrechts siehe W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 275-281; seiner Meinung nach können diese Normen auch über eine bereits vor der Weimarer Verfassung anerkannte Norm des Verfassungsgewohnheitsrechts ("gewohnheitsrechtliche Transformationsnorm") in die deutsche Rechtsordnung einbezogen werden (S. 278); ebenso E. Menzel/K. lpsen, Völkerrecht, S. 60. Anderer Ansicht ist Albert Bleckmann, der die These vertritt, daß Art. 25 GG alle Völkerrechtsregeln. die nicht Völkervertragsrecht sind, erfaßt. Dazu zählt er folglich auch das partikuläre Völkergewohnheitsrecht und die regionalen allgemeinen Rechtsprinzipien; dies resultiert für ihn aus der Völkerrechtsfreundlichkeit der nationalen Rechtsordnung; vgl. A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S.291-293. 56 Dazu 5. Teil, 2. Kap. 11.2. 57 Dazu Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 164-165; K. lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1090; G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S. 119-120. 58 V gl. Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 165; K. lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S.1090-1091.
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
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und -pflichten ausgerichtet sind, als auch jenen Regeln, die sich von vornherein an den Staat wenden und deshalb nicht oder nur durch einen ergänzungs bedürftigen Staatsakt geeignet sind, Rechte und Pflichten für Privatpersonen zu bewirken, unmittelbare innerstaatliche Geltung. 59 Dagegen bereitet die Interpretation des Art. 25 Satz 2 GG Schwierigkeiten. In jedem Fall erfaßt diese Bestimmung diejenigen allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die bereits auf völkerrechtlicher Ebene das Individuum zum Rechtsträger oder Rechtsverpflichteten erklären. Solche Regeln sind vor allem im Bereich der gewohnheitsrechtlich anerkannten Menschenrechte enthalten. Ein Teil der Lehre folgt der Meinung des Bundesverfassungsgerichts, daß Art. 25 Satz 2 GG bezüglich dieser Gruppe der allgemeinen Regeln lediglich ein rein deklaratorischer Charakter zukommt, weil diese ihrem Wesen nach infolge der Geltungsanordnung in Art. 25 Satz 1 GG den Einzelnen unmittelbar berechtigen und verpflichten können. 60 Andererseits kann Art. 25 Satz 2 auch als konstitutive Bestimmung gedeutet werden, die diese allgemeinen Völkerrechtsnormen den Einzelnen erst zugänglich macht. 61 Für jene Normen, die an den Staat oder nur mittelbar an die innerstaatlichen Rechtssubjekte gerichtet sind, ist die Bedeutung des Art. 25 Satz 2 GG damit nicht beantwortet; denn es stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen der Adressatenkreis dieser Gruppe von Völkerrechtsregeln durch Art. 25 Satz 2 GG innerstaatlich erweitert werden kann, indem er subjektive Rechte und Pflichten der Privatpersonen begründet. Während dieser Problemkreis durch das Bundesverfassungsgericht unbeantwortet bleibt,62 lehnt die bisher überwiegende Lehre eine solche konstitutive Wirkung für ausschließlich staatsgerichtete allgemeine Völkerrechtsregeln ab. 63 Demgegenüber wird jedoch zum Teil die Ansicht vertreten, daß Art. 25 Satz 2 GG für solche staatsgerichtete Normen, die inhaltlich für eine Inanspruchnahme durch Individuen geeignet sind, ohne ihnen bereits auf völkerrechtlicher Ebene eine Rechtsposition einzuräumen, bedeutsam sei. 64 In diesem Sinne bewirkt Art. 25 Satz 2 GG für alle diejenigen allgemeinen Regeln des Völkerrechts einen auf das deutsche Recht begrenzten 59 Die innerstaatliche Geltung der staatsgerichteten Völkerrechtsnorrnen gemäß Art. 25 Satz 1 GG veranIaßt, daß eine Bindung der staatlichen Organe begründet wird; vgl. Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.165; G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S.120. 60 Vgl. BVerfGE 15, 25 (33f.); zustimmend W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.270; dazu auch E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 62; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 165-166. 61 Dazu M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S. 164; O. Kimminieh, Einführung in das Völkerrecht, S. 269. 62 Vgl. BVerfGE 15,25 (33f.); BVerfGE 46,342 (362f.). 63 Vgl. E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 62; Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 165-166; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S. 164; G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S.120; dazu auch W. Rudolf, Incorporation of Customary International Law into Municipal Law, S.28-29. 64 Ein Beispiel für diese Gruppe von Völkerrechtsnorrnen stellt das Recht dar, ein fremdes Küstenmeer gefahrlos durchschiffen zu können; vgl. Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 167; E. Menzel/K. /psen, Völkerrecht, S. 62; K. /psen, Völkerrecht (3. Aufl.), S.1090-1091.
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
"Adressaten- und inhaltlichen Wechsel, welche dies nach ihrer völkerrechtlichen Zweckbestimmung ertragen"65. Entsprechend dieser Auffassung besitzt jede Teilaussage des Art. 25 GG ihre eigene Bedeutung für den Vollzug dieser allgemeinen Völkerrechtsregeln; denn Satz I ermöglicht ihre objektive Geltung und Satz 2 veranlaßt ihre subjektive Anwendung in der deutschen Rechtsordnung. 66 Das nationale Recht Deutschlands erklärt jedoch durch Art. 25 GG nicht nur, daß die allgemeinen Regeln des Völkerrechts innerstaatlich gelten und insoweit "selfexecuting" wirken, als sie Rechte und Pflichten für die Bürger begründen können, sondern es bestimmt auch, daß diese Regeln den Gesetzen vorgehen. Aufgrund der Formulierung des Art. 25 Satz 2 GG besteht zwar bezüglich ihres Vorrangs gegenüber den Bundesgesetzen Einvernehmen; dennoch ist ihr formeller Rang umstritten und entfachte in der Rechtslehre kontroverse Erörterungen, weil Art. 25 GG die Frage, welchen Rang die allgemeinen Regeln des Völkerrechts gegenüber dem Verfassungsrecht einnehmen, nicht beantwortet. Aufgrund der Formulierung des Art. 25 GG, daß die allgemeinen Regeln den Gesetzen vorgehen, werden die allgemeinen Regeln des Völkerrechts entweder als Verfassungsrecht eingeordnet oder ihnen wird ein Rang über der Verfassung zugesprochen. Aber auch die Ansicht, es als Recht zwischen dem Verfassungsrecht und dem Gesetzesrecht anzusehen, wird vertreten. 67 Unterstützung findet die Auffassung vom Überverfassungsrang in der Entstehungsgeschichte des Art. 25 GG; denn im Rahmen der Beratungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates wurde ein solcher Rang partiell gefordert. 68 Gegen diese These wird eingewendet, daß Art. 25 GG nicht einmal zu den in Art. 79 Abs. 3 GG besonders geschützten Grundgesetznormen gehöre und demnach keinen erhöhten Verfassungsrang haben könne. 69 Die Annahme eines Überverfassungsrangs erscheint abwegig und ist insbesondere nicht mit Art. 79 Abs. 1 GG vereinbar, weil aus einem Wandel des allgemeinen Völkerrechts eine formlose Änderung des Grundgesetzes resultieren würde. 70 Auch Art. 100 Abs. 2 GG spricht dagegen; denn 6S Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.167. Zu den Anforderungen einer völkerrechtlichen Norm, damit diese durch Art. 25 Satz 2 GG innerstaatlich anwendbar wird vgl. S.167-168. 66 Grundlegend dazu K. Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1963. 67 Vgl. K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1091; G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S. 120; M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/Völkerrecht!Europarecht, S.164-165; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.264; K. Doehring, Völkerrecht, S. 306-307. 68 Dazu ausführlich K. l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.63-65; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.243-246 und S. 264-266. 69 Dazu K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1092; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 294; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.168; K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.66; E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S.63-64. 70 Vgl. Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.168; K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 67; E. Menzel/K.lpsen, Völkerrecht, S.64. Zu den Rechtswissenschaftlern, die von einem Überverfassungsrang der allgemeinen Regeln des
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
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er eröffnet für das Bundesverfassungsgericht nur die Möglichkeit zur Prüfung der Frage, "ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist".7l Folgt man dem Grundsatz, daß sich der Rang einer Norm, die in eine Rechtsordnung einbezogen wird, nach dem Rang der Norm richtet, welche diesen Vorgang anordnet, so haben die allgemeinen Regeln des Völkerrechts den Rang des Art. 25 GG, d. h. Verfassungsrang. 72 Verstärkt wird von einem Rang über dem Gesetzesrecht, aber unter dem Verfassungsrecht ausgegangen. 73 Dieser Zwischenrang der allgemeinen Regeln bewirkt, daß ihnen widersprechende einfache Gesetze rechtswidrig sind, ohne jedoch das Grundgesetz selbst in Frage zu stellen. 74 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Rangregelung des Art. 25 GG zwar nicht eingehend auseinandergesetzt, aber dennoch die grundlegende Meinung formuliert, daß Art. 25 GG Völkerrechts ausgehen, zählen Eberhard Menzel, Friedrich Klein, Wolfgang Pigorsch, Wilfried Schaumann und Carl Friedrich Ophüls; dagegen votieren Karl Doehring, Karl lose! Partsch, Walter Rudolf, Hans Ulrich Scupin, Helmut Strebel und Theodor Schilling für einen Verfassungsrang dieser Nonnen; vgl. E. MenzellK. Ipsen, Völkerrecht, S. 62; K. l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 61-71; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 264-270; W. Pigorsch, Die Einordnung völkerrechtlicher Nonnen in das Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1959, S.25-36 und S. 56-59; K. Doehring, Völkerrecht, S. 306-307; Th.Schilling, Rang und Geltung von Nonnen in gestuften Rechtsordnungen, S. 167-168 und S.421. 71 Vgl. K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1092; G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S.121; K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.67. In der völkerrechtlichen Literatur wird Art. 100 Abs. 2 GG oftmals als Gegenstück zu Art. 25 GG bewertet, weil sich die deutsche Rechtsordnung dem Völkergewohnheitsrecht mittels Art. 25 GG öffnet und Art. 100 Abs. 2 GG dem Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeit zur Befassung mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zuweist. So entscheidet das Bundesverfassungsgericht, wenn in einem möglichen Rechtsstreit Zweifel bestehen, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt. Eine solche Feststellung der Existenz und des Inhalts einer Völkerrechtsnonn ist für den völkerrechtlichen Bereich nicht verbindlich, sondern bestimmt ausschließlich für die deutsche Rechtsordnung, ob eine Nonn Bestandteil des Bundesrechts ist, d. h., ob sie innerstaatliche Wirkung erlangt; dazu O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 487-488 und S. 495-496; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.250; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 169-170; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1093; A. Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, S. 140. Zur Funktion und zu den Grenzen der völkerrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S.490-494. 72 Vgl. Th. Schilling, Rang und Geltung von Nonnen in gestuften Rechtsordnungen, S.163-174, insbesondere S.167-168 und S.421. 73 Einen solchen Rang zwischen den Gesetzen und der Verfassung befürworten etwa Her' mann Mosler, Rudolf Bernhardt, Wifhelm Bertram, Ulrich Scheuner, Ignaz Seidl-Hohenveldern, Georg Dahm, Knut Ipsen, Philip Kunig; siehe dazu G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S. 121; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S.43-45; I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S.149; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S.1093; Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 168; K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.61. 74 Vgl. M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S.165; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1093; ebenso BVerfGE 23, 288 (300).
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
den allgemeinen Regeln des Völkerrechts den Vorrang vor deutschem innerstaatlichem Recht - nicht jedoch vor Verfassungsrecht - einräume. 75 Sowohl die Vertreter der These vom Verfassungsrang als auch vom Zwischenrang deuten diese Aussage jeweils als Bestätigung ihrer Argumentationen. 76 2. Das vertragliche Völkerrecht Völkerrechtliche Verträge sind im Grundgesetz in Art. 59, Art. 32 77 , Art. 23 und Art. 24 geregelt. Für ihre Bedeutung im innerstaatlichen Bereich ist jedoch allein Art. 59 Abs. 2 GG maßgebend, wenn nicht Verträge im Rahmen einer Mitgliedschaft Deutschlands an Internationalen Organisationen oder an der Europäischen Union abgeschlossen werden. Der innerstaatliche Vollzug jener Rechtsnormen feHlt in den Anwendungsbereich der Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 GG. 78 Im Gegensatz zur Regelung des Grundgesetzes für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts fehlt eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Vorschrift für eine ge75 Siehe dazu das Konkordatsurteil vom 26.03.1957: "Art.25 GG räumt nur den ,allgemeinen Regeln des Völkerrechts' den Charakter innerstaatlichen Rechts und den Vorrang vor den Gesetzen ein. Diese Bestimmung bewirkt, daß diese Regeln ohne ein Transformationsgesetz, also unmittelbar, Eingang in die deutsche Rechtsordnung finden und dem deutschen innerstaatlichen Recht - nicht dem Verfassungsrecht - im Range vorgehen. Diese Rechtssätze brechen insoweit jede Norm aus deutscher Rechtsquelle, die hinter ihnen zurückbleibt oder ihnen widerspricht." BVerfGE 6,309 (363); vgl. BVerfGE 37, 271 (279). 76 Vgl. Z. B. H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S.44; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.266; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S.165. 77 Art. 32 GG eröffnet den Ländern die Möglichkeit, in der Völkerrechtsordnung als Vertragspartner zu anderen Völkerrechtssubjekten auftreten zu können. Demnach können Länder in beschränktem Umfang, d. h., in denjenigen Bereichen, für welche ihnen die Gesetzgebungskompetenz überlassen bleibt, mit Zustimmung der Bundesregierung völkerrechtliche Verträge abschließen (v gl. Art. 32 Abs. 3 GG); ausführlich dazu W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 178 und S. 227-238; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 132-135; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1084-1086; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S. 170-173; Th. Maunz, Kommentar zum Grundgesetz, Band III, Art. 38-91, 1994, hier Art. 59, S.3, Rdn.1. 78 Auf die Besonderheiten des Unionsvertrages und der Gemeinschaftsverträge im deutschen Recht und der Beteiligung an der Gründung zwischenstaatlicher Einrichtungen, wie z.B. Eurocontrol und die Europäische Patentorganisation, sowie auf die rechtliche Bedeutung und Wirkung der Art. 23 und 24 GG soll nicht detailliert eingegangen werden. Einen Überblick dazu bieten Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 153-159; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 302-337; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrechtl Europarecht, S. 175-181; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S.1101-1107; I. Seidl-Hohenveldern, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen nach österreichisehern und deutschem Verfassungsrecht, in: Einigkeit und Recht und Freiheit, Festschrift für Karl Carstens zum 70. Geburtstag am 14. Dezember 1984, hrsg. von Bodo Börner!Hermann Jahrreiß/Klaus Stern, Band 1: Europarecht. Völkerrecht, 1984, S.497-505. Zum Wesen des Europäischen Gemeinschaftsrechts und zu seinem Verhältnis zum nationalen Recht Deutschlands siehe auch 4. Teil, 4. Kap. 11.3.
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
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nerelle Einbeziehung aller völkerrechtlicher Verträge in das Bundesrecht; denn für Verträge gelten besondere Bestimmungen. Der Verfassungsgeber hat die vom Völkerrecht überlassene Möglichkeit zur Regelung des Vollzugs der Völkerrechtsnormen wahrgenommen und in Art. 59 GG bestimmte Voraussetzungen zum Abschluß von Völkerrechtsverträgen festgelegt. 79 Art. 59 Abs. 1 GG benennt den Bundespräsidenten als Vertretungsorgan der Bundesrepublik Deutschland nach außen und gibt ihm die Befugnis zum Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen. 80 Das Grundgesetz bestimmt in Art. 59 Abs. 2 jene völkerrechtlichen Verträge, zu deren Verbindlichkeit die Zustimmung oder Mitwirkung des Parlaments und gegebenenfalls der Ländervertretung notwendig ist. 81 Dabei stellt es in Art. 59 Abs. 2 Satz 1 den Staatsverträgen die in Art. 59 Abs. 2 Satz 2 genannten Verwaltungsabkommen gegenüber. Zur letztgenannten Kategorie zählen alle Verträge, die nicht unter Art. 59 Abs. 2 Satz 1 fallen und zu deren innerstaatlichem Vollzug kein Bundesgesetz benötigt wird, die aber mit Hilfe von Rechtsverordnung, Verwaltungsvorschrift, Verwaltungs akt oder Anweisung in der deutschen Rechtsordnung durchgeführt werden können. 82 Zu den Staatsverträgen im Sinne des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zählen jene zwischenstaatlichen Abkommen, welche die "politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen". Zur erstgenannten Alternative sind nur jene Verträge zu zählen, die politi79 Vgl. E. Menzel/K. Ipsen, Völkerrecht, S. 64; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 544. 80 In der Praxis werden die Handlungsbefugnisse für die Verhandlungen und Abschlüsse der Verträge weitgehend auf die Bundesregierung, das Auswärtige Amt und den Bundeskanzler delegiert; dazu Th.Maunz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 59, S.4-6, Rdn. 3-10; K. Ipsen, Völkerrecht (3.Aufl.), S.1094-1095; Ph.Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.135-140; W. RudolJ, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 179-183. Der Bundespräsident und die Bundesregierung können damit völkerrechtliche Vertrags bindungen für Deutschland herbeiführen, ungeachtet dessen, ob innerstaatliches Recht dem entgegensteht; dazu auch 5. Teil, 1. Kap. In der völkerrechtlichen Staatenpraxis wird regelmäßig die "Ratifikationsklausel" in die Verträge aufgenommen, um zu verhindern, daß der Vertrag ohne die Erfüllung der innerstaatlichen Voraussetzungen des Art. 59 Abs. 2 GG in Kraft tritt. Die Ratifikation bedeutet dabei die an den oder die Vertragspartner abgegebene Erklärung, daß die innerstaatlichen Voraussetzungen geschaffen wurden und der Vertrag in der deutschen Rechtsordnung erfüllt werden kann. In der Praxis der Staaten ist demnach der wirksame Vertragsabschluß die Ratifikation durch den Bundespräsidenten; vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 232 und S. 271-272; siehe auch Th.Maunz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 59, S.16-21, Rdn.28-36. 81 Die Beteiligung von Bundestag und Bundesrat richtet sich demzufolge nach den verfassungsrechtlichen Vorschriften über die Gesetzgebungsverfahren der Art. 76 ff. GG; vgl. Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 148-151; W. RudolJ, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 195-198. 82 Der Begriff der Verwaltungsabkommen wurde aufgrund der unklaren Formulierung des Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG in der Völkerrechtsliteratur diskutiert; ausführlich dazu W. RudolJ, Völkerrecht und deutsches Recht, S.219-223; vgl. auch K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S.1096-1097; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht!Europarecht, S.158-162; Th.Maunz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 59, S. 21-22, Rdn. 37-43; A. Randelzhofer, Incorporation ofInternational Treaties into Municipal Law, S. 102-103.
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sche Grundentscheidungen enthalten, wie beispielsweise Bündnisse, Garantiepakte, Abkommen über politische Zusammenarbeit sowie Friedens-, Abrüstungs- und Schiedsverträge. 83 Maßgebend für die zweite Alternative ist nicht der Zuständigkeitskatalog des Grundgesetzes, der dem Bund die Gesetzgebungsbefugnis für bestimmte Materien zukommen läßt, sondern die Frage, "ob im konkreten Einzelfall ein Vollzugsakt unter Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften erforderlich ist"84. Ein Vertragsinhalt ist demnach nur dann Gegenstand der Bundesgesetzgebung, "wenn zur Vollziehung des Vertrages ein Bundesgesetz erforderlich ist, also wenn der Bund durch den Vertrag Verpflichtungen übernimmt, deren Erfüllung allein durch Erlaß eines Bundesgesetzes möglich ist"85. Art. 59 Abs. 2 GG nennt alle Vertragsgruppen, für die eine Beteiligung der Legislative erforderlich ist, mit dem Ziel, eine parlamentarische Kontrolle des Vertragsabschlusses zu garantieren. 86 Laut herrschender Meinung bedürfen Verträge für ihre Verbindlichkeit demnach eines besonderen staatlichen Aktes in Form eines Gesetzes. 87 Die verfassungsrechtliche Maxime von Art. 59 Abs. 2 GG ist ihrem Wortlaut nach zwar nur die Gewährleistung der Beteiligung der Verfassungsorgane; jedoch besteht Einigkeit, daß diese Bestimmung zugleich über die Voraussetzungen für die 83 Vgl. BVerfGE I, 380 (381). Das Bundesverfassungsgericht versteht unter "politischen Beziehungen" jene Beziehungen, "die wesentlich und unmittelbar den Bestand des Staates oder dessen Stellung und Gewicht innerhalb der Staatengemeinschaft oder die Ordnung der Staatengemeinschaft betreffen. Inhalt oder Zweck eines Vertrages im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG müssen auf die Regelung der politischen Beziehungen zu auswärtigen Staaten gerichtet sein. Der Vertrag muß selbst eine Regelung von politischen Beziehungen zu auswärtigen Staaten enthalten oder bezwecken, nicht nur eine sekundäre, vielleicht sogar ungewollte und unerwartete Auswirkung auf diese Beziehungen haben." BVerfGE I, 380 (382); vgl. w. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.190-191; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1095; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.144-146; Th. Maunz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 59, S. 8-10, Rdn. 13-15; A. RandelzhoJer, Incorporation of International Treaties into Municipal Law, S. 105-106; I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 68-69. 84 BVerfGE I, 380 (388). 85 BVerfGE I, 380 (389). Der Grund für diese Bestimmung liegt darin, daß der Bundespräsident und die Bundesregierung ohne die Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften keine völkerrechtlichen Pflichten übernehmen sollen, "wenn sie diese Verpflichtungen nicht auch in eigener Kompetenz ohne ein Tatigwerden der gesetzgebenden Körperschaften erfüllen" können. BVerfGE I, 380 (390); dazu auch W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.192-194; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.143-144 und S.146-148; A. RandelzhoJer, Incorporation ofinternational Treaties into Municipal Law, S. 105-106; Th. Maunz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 59, S. 10-11, Rdn.16-17; I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 68-69. 86 Vgl. BVerfGE 36, I (13). 87 Oft wird die Verwendung des neutralen Begriffs "Vertragsgesetz" anstelle der häufig benutzten Bezeichnungen ,,zustimmungsgesetz", "Transformationsgesetz" oder "Ratifikationsgesetz" bevorzugt, weil jene die Funktionen dieses Gesetzes nur unvollständig oder unzutreffend widerspiegeln; vgl. G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 7-8; G. DahmlJ. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S. 119; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1098; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S.15; siehe auch BVerfGE 6, 290 (294f.).
2. Kap.: Die Grundfragen der Verbindlichkeit des Völkerrechts
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innerstaatliche Geltung völkerrechtlicher Verträge und über ihren Rang in der deutschen Rechtsordnung entscheidet. 88 Demnach besitzt Art. 59 Abs. 2 GG eine dreifache rechtliche Bedeutung. Neben der parlamentarischen Zustimmung zur Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages durch den Bundespräsidenten 89 wird dem Vertragsgesetz die Funktion, das Recht des völkerrechtlichen Vertrages in die deutsche Rechtsordnung einzuführen, zuerkannt, so daß es innerstaatliche Geltung erlangt. 90 Insofern bestimmt Art. 59 Abs. 2 GG die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes für das nationale Gesetz, das nicht nur als Zustimmung zum Völkerrechtsvertrag, sondern - je nach vertretener Lehre - als Transformationsakt oder Vollzugs befehl angesehen wird. 91 Diese Funktion der innerstaatlichen Geltungsbegründung wird ergänzt um die Rangordnungsfunktion; denn der innerstaatliche Rang des Völkervertragsrechts bestimmt sich nach der Art und Weise, wie es in das staatliche Recht einbezogen wird. Der Rang des transformierten oder vollzogenen Völkerrechts im Stufenaufbau der deutschen Rechtsordnung ist für seine Geltung und Durchsetzung im Falle der Kollision mit inhaltlich entgegenstehendem deutschem Recht entscheidend. Für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts findet sich eine ausdrücklich - wenn auch nicht eindeutig - formulierte Vorrangklausel in Art. 25 GG. 92 Bei Art. 59 Abs. 2 GG ist dies nicht der Fall. Soweit es um den innerstaatlichen Rang der im völkerrechtlichen Vertrag fixierten Normen geht, führen die Transformations- und Vollzugslehre zu jeweils unterschiedlichen Sichtweisen. Die Transformationslehre als solche gibt noch keinen Hinweis darauf, welchen Rang das in die nationale Rechtsordnung einbezogene Recht besitzt. 93 Es wird allerdings übereinstimmend angenommen, daß sich der Rang des transformierten Rechts nach dem Transformator richtet. Demzufolge besitzen die über Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in die deutsche Rechtsordnung einbezogenen Verträge den Rang eines einfachen Gesetzesrechts. 94 Für ihr Verhältnis zu anderen nationalen Normen gelten insbesondere die Auslegungsrege!n des Vorrangs 88 Vgl. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 270; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 131 und S. 148-151; A. RandelzhoJer, Incorporation of International Treaties into Municipal Law, S. 110. 89 Vgl. BVerfGE I, 396 (410); K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1098-1099; A. Verdross/ B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.544; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S. 152; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 200-204. 90 Vgl. K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1099; G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S. 119; K. Doehring, Völkerrecht, S. 298; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.205-21!. 91 Dazu 5. Teil, 2. Kap. I. I. und 2. 92 Vgl. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 547-548; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. 11. 1. 93 Vgl. K.l. Partseh, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 19. 94 Vgl. K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1100; M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/ Völkerrecht/Europarecht, S. 144 und S. 152; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S.152; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.212-215; Th.Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 167-168; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. 11.1.
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
der speziellen vor der allgemeinen und der jüngeren vor der älteren Vorschrift. 95 Auch nach der Vollzugslehre sollen diese Regeln gelten. 96 Demgegenüber kommt es nach der Vollzugslehre nicht auf den Rang des Vertragsgesetzes an, sondern die Staaten nehmen für sich in Anspruch, den Rang einer Völkervertragsnorm im Verhältnis zum nationalen Recht mittels Rechtsanwendungsbefehl zu bestimmen. 97 Dies bedeutet, daß sich für das Völkervertragsrecht ein Gesetzesrang ergibt, weil der innerstaatliche Verfassungsgesetzgeber den Vollzug und Rang des Völkerrechts laut Art. 59 Abs. 2 GG in Form eines Gesetzes festlegt und eine rechtliche Verpflichtung zur Befolgung der Vertragsnormen keinen höheren Rang als der Rechtsanwendungsbefehl einnehmen kann. 98 In bezug auf den Rang des durch Art. 59 Abs. 2 GG einbezogenen Völkervertragsrechts innerhalb der deutschen Rechtsordnung kommen die Transformations- und die Vollzugslehre zum gleichen Ergebnis.
95 Dazu Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.547-548; K.lpsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1100; siehe auch Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 396-401, S. 447-458 und S. 551-555. Zum Teil wird demgegenüber die Auffassung vertreten, daß die Regel "lex posterior derogat legi priori" nicht generell zutreffen würde, weil dem Völkervertragsrecht ein höherer "Wertrang" im Vergleich zum Gesetzesrecht zukäme. Die Grundlage dieses so interpretierten Vorrangs sei einerseits durch den Grundsatz der "Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung" und andererseits aufgrund der Wertung des Völkervertragsrechts als lex specialis gegenüber späterem Gesetzesrecht gegeben; vgl. A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 277-279; vgl. auch Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 548-550. Walter Rudolf äußert sich dazu eindeutig: "Man dan freilich nicht übersehen, daß es trotz dieser von der Rechtsprechung praktizierten Regel über die völkerrechtsfreundliche Auslegung nachfolgender Bundesgesetze möglich ist, daß späteres Bundesrecht das transformierte Vertragsrecht zu derogieren vermag, wenn der Inhalt des nachfolgenden Gesetzes die innerstaatliche Fortgeltung des Vertragsrechts nicht zuläßt. ... Denn jedem Staat steht es frei, den Rang des innerstaatlich anzuwendenden Völkerrechts wie überhaupt die Träger der vertragsschließenden Gewalt, nach deren Rang sich der Rang der von ihnen erlassenen Normen grundsätzlich richtet, selbst zu bestimmen, sofern nur der Vollzug des Völkerrechts gesichert ist. Nach deutschem Bundesrecht kommt dem transformierten Vertragsrecht nur einfacher Gesetzesrang zu. Eine erhöhte Bindung des Gesetzgebers des Zustimmungsgesetzes besteht rechtlich nicht und könnte, selbst wenn man eine ,Selbstbindung' des Gesetzgebers für zulässig hielte, jedenfalls nicht für den Gesetzgeber der nächsten Legislaturperiode gelten." W Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 213-214. 96 In diesem Sinne K. l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 95; andere Ansicht bei W Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.214-215. 97 Dazu K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 22-23, S. 93-94 und S. 157; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 152-153; G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 65-76. Dagegen vertritt Michael Schweitzer die Ansicht, daß das Völkerrecht keinen innerstaatlichen Rang bekommen kann, weil es nicht in nationales Recht umgewandelt wird; vgl. M. Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht/ Völkerrecht/Europarecht, S. 153. 98 Vgl. G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 66-67; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S.1100; K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 93-94.
3. Kap.: Das Völkerrecht in der Lehre und Rechtsprechung
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Drittes Kapitel
Das Völkerrecht in der Lehre und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts I. Die Standpunkte der Völkerrechtslehre Die vorausgehenden Erläuterungen lassen bereits erkennen, daß das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland weder eindeutig einer monistischen oder dualistischen völkerrechtlichen Geltungslehre zuzuordnen ist noch ausdrücklich einem speziellen juristischen Mechanismus folgt, um dem Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht innerstaatliche Verbindlichkeit zu verschaffen. Die Rechtslage der Bundesrepublik Deutschland läßt sich demnach sowohl aus dualistischer wie auch aus monistischer Grundhaltung erklären. 99 Insbesondere Art. 25 GG bewirkt die sowohl mit dem Monismus als auch mit dem Dualismus zu vereinbarende innerstaatliche Öffnung gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht, wobei dieser Vorschrift aus der Sicht der Monisten teilweise lediglich deklaratorische Bedeutung beigemessen wird. Auch das Bundesverfassungsgericht anerkennt das Ziel des Art. 25 GG, die innerstaatlichen Rechtssubjekte und die Staatsorgane zur unmittelbaren Anwendung der Völkerrechtssätze zu verpflichten: "Mit der durch Art. 25 GG vollzogenen Eingliederung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in das Bundesrecht mit Vorrang vor den Gesetzen erzwingt die Verfassung eine dem allgemeinen Völkerrecht entsprechende Gestaltung des Bundesrechts. Der Sinn der unmittelbaren Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts liegt darin, kollidierendes innerstaatliches Recht zu verdrängen oder seine völkerrechtskonforrne Anwendung zu bewirken."lOo
In der Lehre wird demzufolge die dogmatische Kontroverse über das Verhältnis des Völkerrechts zum innerstaatlichen Recht auch unter dem Grundgesetz fortgesetzt. Der eine - überwiegende - Teil der Lehre deutet die Art. 25 und 59 Abs. 2 GG im Sinne der dualistischen Vorstellung von der Notwendigkeit eines innerstaatlichen Rechtsaktes, um die innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit des Völkerrechts zu garantieren. Vorherrschend wird dabei die Meinung vertreten, dieser Akt erfolge transformatorisch oder als Vollzugs befehl. 101 So ist ein Teil der Lehre eher der Transformationsthese zugeneigt; insbesondere der gemäßigten Form, wie sie 99 Dazu Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 121; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 157-158; K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 158. 100 BVerfGE 23,288 (316). 101 Vgl. Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 151. Die Adoptionslehre wird gegenwärtig nur noch vereinzelt vertreten; so beispielsweise von Ignaz Seidl-Hohenveldern, der als Anhänger eines gemäßigten Monismus gilt; vgl. I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S.140-148.
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
von Walter Rudolf begründet wurde. 102 Aber auch der Bericht von Karl lose! Partsch über die Erörterungen der Kommission der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht zur Vollzugslehre hat in der Völkerrechtslehre Zustimmung gefunden. 103 Partsch vertritt die These, daß "beide Lehren dazu dienen, Verlassungsbestimmungen auszulegen, welche dogmatisch offen sind. Es können aus ihnen hingegen keine Schlußfolgerungen hergeleitet werden, die im Widerspruch zu diesen Verlassungsbestimmungen stehen. Bedarl ein Vertrag nach einer Verlassung der Zustimmung oder Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften, dann sind diese sowohl nach der Transformationslehre als auch nach der Vollzugslehre herbeizuführen, um den Vertrag innerstaatlich verbindlich zu machen. Die Zustimmung hat nach den beiden Lehren nur unterschiedliche Wirkungen."I04
Nach der Transformationslehre werden die Art. 25 und 59 Abs. 2 GG als Transformationsnormen angesehen: 105 Das Gesetz im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG wird demnach in der Regel als "Transformationsakt"I06, aber auch genauer und in Abgrenzung zur Bedeutung von Art. 25 GG als "spezielle Transformation" 107, als "Spezialtransformation" 108 oder als "Transformationsgesetz" 109 bezeichnet. Demgegenüber stellt Art. 25 GG nach dieser Lehre einen "generellen Transformator" 110 oder einen "Generaltransformator"ll1 dar, der die adressatenändernde Umwandlung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in das Bundesrecht bewirkt. 112 Das Wesen und 102 Dazu 5. Teil, 2. Kap. I. I. 103 Dazu 5. Teil, 2. Kap. I. 2. 104 K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.45-46; vgl. S.52; zustimmend G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S.38. 105 Die Deutung der verlassungsrechtlichen Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Transformationslehre wird z. B. vertreten von A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 277-2295, insbesondere S.289-291; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 270; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1094; Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 153; W Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, insbesondere S.158-171, S. 177-178, S. 190-215, S.262-275; Th. Maunz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 59, S.13-16, Rdn.22-28. 106 SO Z. B. O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 270. 107 I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 145; I. Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Lexikon des Rechts - Völkerrecht, 1985, S. 212; I. Seidl-Hohenveldern, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, S. 257; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht!Europarecht, S. 152; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S.1094. 108 O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverlassungsgerichts, S.499. 109 A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 290; ebenso BVerfGE 6, 309 (363). Zur terminologischen und rechtsdogmatischen Auffassung des Bundesverlassungsgerichts siehe 5. Teil, 3. Kap. 11. 110 A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S.277 und 291; vgl. E. Menzel/K./psen, Völkerrecht, S. 54; W Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.160. III W Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 262. 112 In diesem Sinne veranlaßt Art. 25 GG für Otto Kimminich eine generelle Transformation" oder eine "Generaltransformation"; vgl. O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtspre-
3. Kap.: Das Völkerrecht in der Lehre und Rechtsprechung
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die Unterschiede zwischen der speziellen und generellen Transformation faßt Rudolfwie folgt zusammen: "Art. 25 GG bestimmt, daß die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts sind. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, daß das gesamte anwendungsreife allgemeine Gewohnheitsvölkerrecht generell der deutschen Rechtsordnung inkorporiert ist. Eines besonderen Anwendungsbefehls bedarf es nicht. Dieser Befehl liegt vielmehr in Art. 25 GG selbst. Anders als beim Vertragsvölkerrecht, wo für jeden transformablen Vertrag eine spezielle Transformation durch das zuständige staatliche Organ erforderlich ist, erteilt für das allgemeine Gewohnheitsvölkerrecht Art. 25 GG selbst generell und perpetuierlich den Rechtsanwendungsbefehl. Er ist Generaltransformator für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ... " 113
Im Sinne der Vollzugslehre werden der Art. 25 GG und die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 59 Abs. 2 GG als innerstaatlicher Rechtsanwendungsbefehl ausgelegt, der das jeweilige Völkerrecht innerstaatlich verbindlich macht. 114 Dabei wird zum Teil auch hier - analog zur Transformationslehre - zwischen einem speziellen und einem generellen Vollzugs befehl unterschieden. 115 Die Vertreter der Vollzugslehre, insbesondere die Mitglieder der Ersten Studienkommission der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, geben ihr sowohl aus dogmatischen als auch aus praktischen Gründen den Vorzug. 116 Hinsichtlich der allgemeinen Regeln des Völkerrechts stimchung des Bundesverfassungsgerichts, S. 499. Vereinzelt wird auch der Begriff der "antizipierenden Transformation" verwendet; K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, insbesondere S. 85 und S. 159; W. Rudolj, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 161. Aljred Verdross und Bruno Simma bevorzugen eine andere Einteilung: Sie sehen sowohl in Art. 25 GG als auch in Art. 59 Abs. 2 GG eine "generelle Durchführung" des Völkerrechts und grenzen diese gegen die u. a. von Großbritannien angewandte "individuelle" bzw. "spezielle Durchführung" des Völkerrechts ab. Während bei der individuellen Durchführung jede einzelne Völkerrechtsnorm des Vertragsrechts durch einen eigenen Rechtsakt (Gesetz oder Verordnung) umgesetzt werden muß, erfolgt dies bei der generellen Durchführung in "Bausch und Bogen"; vgl. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 539-546; A. Verdross, Völkerrecht, S. 117; dazu auch 4. Teil, l. Kap. I. 5. 113 W. Rudolj, Völkerrecht und deutsches Recht, S.262; dazu auch A. Bleckmann, Das Verhältnis des Völkerrechts zum Landesrecht im Lichte der "Bedingungstheorie", S. 27 1-272. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, daß Walter Rudolj ein Vertreter einer gemäßigten Transformationslehre ist und seiner Ansicht nach die unmittelbare Anwendungsreife einer Völkerrechtsnorm Voraussetzung zur Transformation ist; dazu 5. Teil, 2.Kap.1. l. und 2. 114 Eine Auslegung der Bestimmungen des Grundgesetzes entsprechend der Vollzugslehre vertreten v. a. K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, insbesondere S.86, S.142-147 und S. 160-163; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S. 14-18 und S. 40; G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 34 und S. 66-76; G. Dahm/J. Delbrück/R. Woljrum, Völkerrecht, S. 121; K. Doehring, Völkerrecht, S. 299-300. 115 V gl. H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S.40; K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 83-86 und S. 86-117. 116 Karl lose! Partsch faßt die Thesen der Mitglieder der Kommission wie folgt zusammen: " ... sie [die Vollzugs lehre] sei einfacher und eleganter, stehe besser in Übereinstimmung mit den politischen Grundanschauungen der internationalen Rechtsgemeinschaft (Ophüls), sie sei dogmatisch richtig (Schaumann) oder überlegen (Meyer-Lindenberg/von Schenck), sie ent21 Amrhein·Hofmann
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
men sie überein, daß sie durch Art. 25 GG nur für vollziehbar erklärt werden und diese Normen aufgrund ihrer inhaltlichen Veränderbarkeit ohnehin nicht für eine Transformation geeignet seien. 117 Eine Umwandlung des vertraglichen Völkerrechts in innerstaatliches Recht entsprechend des Art. 59 Abs. 2 GG ist ihrer Meinung nach jedoch rechtstheoretisch möglich, auch wenn durch eine strenge Transformationslehre die Einheit eines Vertrages entzweit wird und im Gegensatz zur Vollzugslehre somit keine "vollkommene Harmonie" 118 zwischen Völkervertragsrecht und staatlichem Recht hergestellt werden kann. 119 Auch wenn die Kommission einige Vorzüge der Transformation bezüglich der internationalen Verträge anerkennt,120 schätzen sie die praktischen Vorteile der Vollzugslehre im Vergleich zur Transformation weitaus höher ein: Aus dem staatlichen Vollzugsbefehl ergibt sich zugleich unmittelbar der Zeitpunkt der innerstaatlichen Anwendbarkeit; 121 außerdem bezieht er sich auf den gesamten völkerrechtlichen Vertragsinhalt, der in Kraft treten wird, so daß im Falle eines Ratifikationsvorbehalts der Umfang der Wirksamkeit des Vertragsrechts sowie die Handlungsfreiheit der Staaten nicht eingeschränkt sind. 122 Weiterhin bewirkt die Aufhebung der völkerrechtlichen Verpflichtung - beispielsweise aufgrund spreche besser dem Primat des Völkerrechts (Seidl-Hohenveldern), sie belasse Verträge in ihrem völkerrechtlichen Rahmen, aus dem sie nicht ohne Gewaltsamkeit, Entstellung und Sinnwidrigkeiten ins innerstaatliche Recht verpflanzt werden könnten (Strebe!). Übereinstimmend werden auch praktische Vorteile bejaht. Das stärkste Argument für die Vollzugslehre liegt aber wohl darin, daß die Staats- und Gerichtspraxis derjenigen Staaten, in denen grundsätzlich der Transformationslehre gefolgt wird, dennoch bei der Entscheidung wichtiger Fragen den Konsequenzen der Transformationslehre ausweicht und Lösungen handhabt, die nur von der Vollzugslehre aus folgerichtig und zulässig sind. Das gilt sowohl für die Auslegung, die Einlegung von Vorbehalten und schließlich auch für die Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunktes des Inkrafttretens von Verträgen." K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 143-144. 1I7 V gl. K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 84-86, S. 144 und S. 159; ablehnend dazu W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S.16l. 118 K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.160. 119 Vgl. K. l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 105-109, S. 144 und S. 160. Diesem wesentlichen Kritikpunkt an der (strengen) Transformationslehre wirkt Walter Rudoljmit der Begründung seiner gemäßigten Transformationslehre entgegen, die den rechtlichen Zusammenhang zwischen Völkervertragsrecht und transformiertem Recht bewahrt; vgl. W. Rudolj, Völkerrecht und deutsches Recht, insbesondere S. 162 und S. 171; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. I. l. 120 Dazu zählt nicht nur die These, daß die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsorganen unberührt bleibe, während die Vollzugslehre die Stellung der Gerichte verstärken würde, sondern auch die Tatsache, daß der völkerrechtliche Vertrag gänzlich in die Rechtsquellenhierarchie und das Gedankengebäude des staatlichen Rechts eingegliedert wird und seine Anwendung für die innerstaatlichen Organe somit erleichtert würde. Andererseits könne ..beim heutigen Grad internationaler Verflechtung die Fähigkeit zu sachgemäßer Erkenntnis und Anwendung allgemeinen und vertraglichen Völkerrechts erwartet werden". Dazu ausführlich K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 144-147 und S. 160. 121 Vgl. K.l. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 87-90. 122 Vgl. K.J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 90-93; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. 11.2.
3. Kap.: Das Völkerrecht in der Lehre und Rechtsprechung
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einer Kündigung - gleichzeitig die Unanwendbarkeit des Vollzugsbefehls im innerstaatlichen Rechtsraum, sofern sein Inhalt nicht schon als selbständiger Teil des innerstaatlichen Rechts zu werten ist. Eines actus contrarius der Staatsorgane bedarf es dazu nicht zwingend, auch wenn dieser im Interesse der Rechtssicherheit zweckmäßig erscheint. 123 Darüber hinaus gewährleistet der Vollzug des Vertragsrechts eine stärkere völkerrechtskonforme Auslegung des Vertrages als Transformation. 124 Zu diesen - von der Kommission angeführten - Vorteilen der Vollzugslehre zählen schließlich auch die bessere Handhabung der Probleme, welche infolge der verschiedenen maßgeblichen sprachlichen Fassungen des Vertrages sowie anläßlich einer Vertragsänderung entstehen können. 125 Für Karl Doehring spricht die Formulierung des Art. 59 Abs. 2 GG für die Vollzugslehre. Indem das Parlament "in der Form eines Bundesgesetzes" die Zustimmung erteilt, handelt es sich seiner Meinung nach nur der Form nach um ein innerstaatliches Gesetz, nicht jedoch um ein Gesetz, welches originär deutsches Recht begründet. 126 Demgegenüber entspricht es nach Ansicht von Philip Kunig "dem Bild des Art. 59 Abs. 2 GG besser und dient der Rechtssicherheit, den völkerrechtlichen Vertrag als transformiert, das Gesetz oder den sonstigen, innerstaatliche Geltung bewirkenden Akt als Entstehungsgrund dem Vertrag entsprechenden deutschen Rechts anzusehen und dieses zu behandeln wie sonstiges Recht auch"127. Den Kernpunkt der Argumente der Vertreter der Transformationslehre führt Walter Rudolfaus; denn für ihn ist eine Transformation des Vertrags- und Gewohnheitsvölkerrechts im Sinne der Art. 59 Abs.2 und Art. 25 GG nicht nur rechtstheoretisch möglich, sondern infolge der verschiedenen Rechtsquellen, Normadressaten und Rechtsstrukturen von Völkerrecht und nationalem Recht unabdingbar erforderlich. 128 Aus der Sicht der Transformationslehre kann und will der Vollzugsbefehl die aufgrund des Dualismus der Rechtsordnungen erforderliche normative inhalts- und adressatenändernde Umformung der völkerrechtlichen Rechtssätze nicht leisten. 129 Im Gegensatz zum Transformationsakt gibt der Vollzugsbefehl ausschließlich die innerstaatliche Anwendung der Völkerrechtsnormen frei, ohne den Inhalt und die Adressaten zu ändern, woraus Albert Bleckmann schlußfolgert, daß das Völkerrecht im Sinne der Vollzugslehre nur in jenem Umfang von den nationalen Gerichten unmittelbar anzuwenden ist, als es eine solche Anwendung beabsichtigt. 130 Zwar müsse das Völkerrecht auch im Rahmen der 123 Vgl. K. J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 105-109 und S. 134-142. 124 Vgl. K. J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.109-117. 125 Vgl. K. J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.117-134. 126 Vgl. K. Doehring, Völkerrecht, S. 300. 127 Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, 5.153. 128 V gl. W. Rudolj, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 158-159 und S. 167. 129 Dazu 5. Teil, 2. Kap. I. 1. und 2. 130 Diese Ansicht vertritt insbesondere A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, 5.290; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. 1. 1. und 2.
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
Transformationslehre nach ihrem Inhalt, Zweck und Fassung geeignet sein, innerstaatliche Rechtswirkung zu erzeugen - aber abweichend von der Vollzugs lehre könne die Transformation mittels einer "Vermutung für den Gesetzeswillen" zur innerstaatlichen Anwendung den Vollzug des Völkerrechts besser gewährleisten. \31 Diese Kritikpunkte an der Vollzugslehre greifen nicht, wenn man sie in Anlehnung an Karl lose!Partsch und der Ersten Studienkommission der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht nicht nur in Zusammenhang mit dem Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht bringt, sondern auch in der monistischen Konstruktion der Rechtsordnungen eine mögliche Grundlage der Vollzugslehre erkennt. 132 Selbst wenn die Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG überwiegend im Sinne des Dualismus gedeutet werden und als rechtliche Grundlage für einen innerstaatlichen Transformations- oder Vollzugsakt die Erzwingbarkeit des Völkerrechts im deutschen Rechtsraum sichern sollen, wird in der Völkerrechtslehre auch auf dem Boden des Monismus argumentiert. 133 Entsprechend dem Konzept eines gemäßigten Monismus, welches erstmalig von Alfred Verdross begründet wurde, muß sich das Völkerrecht nicht unter allen Umständen und in allen Rechtsbereichen gegenüber dem innerstaatlichen Recht sofort und unmittelbar durchsetzen. Der Einzelne wird vielmehr aufgrund des Völkerrechts nur insoweit verpflichtet, als dies das innerstaatliche Recht bestimmt. 134 Nach Ansicht von Verdross regeln die Staatsverfassungen zwar nicht die internationale Geltung des Völkerrechts, wohl aber seine innerstaatliche Durchführung. 135 Diese deutet Verdross nicht als Transformation von Völkerrecht in innerstaatliches Recht im Sinne einer Umwandlung, sondern als die "Vollziehung einer höheren Norm durch eine niedere Norm"I36, so daß er eine Adoption oder einen Vollzug des Völkerrechts innerhalb der einheitlichen Rechtsordnung befürwortet. Er führt dazu aus: "Diese Vollziehung des VR durch das staatliche Recht ist deshalb notwendig, da die meisten völkerrechtlichen Normen keine eigenen Organe zu ihrer Anwendung berufen, sondern ihre Durchführung den verpflichteten Staaten überlassen. Da nun aber das VR grundsätzlich nur Staaten verpflichtet, muß erst durch staatliches Recht bestimmt werden, welche Organe mit seiner Durchführung betraut sind. Dazu kommt, daß der Inhalt vieler völkerrechtlicher Normen sehr ungenau ist. Ein Staat kann es daher seiner Zentralgewalt vorbehalten, ihre nähere Bestimmung durch eine innerstaatliche Vorschrift vorzunehmen, um diese Aufgabe nicht dem Ermessen der einzelnen Gerichte und Verwaltungsbehörden zu überlassen."!37 131 Dazu ausführlich A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 281-285 und S.290-291. 132 Dazu 5. Teil, 2. Kap. I. 2. und 3. Kap. 11. 133 Vgl. Ph. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, S. 121, Fußnote 48 und S. 160. 134 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 113-115; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S.54-58; so auch I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 141-142; dazu auch 4. Teil, 3. Kap. 111. 135 Vgl. A. Verdross, Völkerrecht, S. 116. 136 A. Verdross, Völkerrecht, S. 117. 137 A. Verdross, Völkerrecht, S. 117; vgl. I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 143-152.
3. Kap.: Das Völkerrecht in der Lehre und Rechtsprechung
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Karl Albrecht Schachtschneider kommt - resultierend aus seiner umgekehrt monistischen Lehre - zu neuen Erkenntnissen bezüglich der innerstaatlichen Verbindlichkeit des Völker- und Europarechts, die von den Thesen der Vollzugs- und Transforrnationslehre abweichen. 138 Grundlage seiner Rechtslehre ist das Prinzip der Freiheit; denn jene stellt nach der Auffassung von Schachtschneider den Geltungsgrund allen Rechts dar. Zur Verwirklichung des Rechts in jeder freiheitlich begründeten Gemeinschaft bedarf es der allgemeinen Gesetzlichkeit. 139 Die Verbindlichkeit des gesetzlichen Rechts beruht demnach auf der durch das Sittengesetz definierten Freiheit und damit auch auf dem Willen aller; denn alle Staatsgewalt geht vom Volk aus (Art. 20 Abs. 2 Satz I GG).140 Nach der Lehre von Schachtschneider sind auf der Grundlage der Willensautonomie des Volkes nicht nur das Europäische Gemeinschaftsrecht und deren Organe als gemeinschaftlicher Teil der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anzuerkennen, sondern alles Völkerrecht ist in die nationalen Rechtsordnungen integriert. Aus diesen Überlegungen folgt für Schachtschneider die Einheit der Rechtsordnungen auf der Basis der verfassungsrechtlichen Prinzipien des existentiellen Staates: 141 "Der Wille des Volkes ist, weil alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), im Rahmen der Verfassung der Freiheit und damit der Bürgerlichkeit der Bürger, das höchste Rechtsprinzip. Auch die Verpflichtung aus einem Vertrag mit einem anderen Staat oder mehreren anderen Staaten haben ihren Rechtsgrund im Willen des Volkes, der freilich das Rechtsprinzip der Menschheit des Menschen und darum das zwingende Völkerrecht achten muss. Das lehrt der (umgekehrte) Monismus, der der Einheit der Rechtsordnung verpflichtet ist und darum Widersprüche zwischen den staatlichen Prinzipien und Regeln und den völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht hinnimmt, im Gegensatz zum Dualismus, der diese Widersprüche kennt, aber für die innerstaatliche Erzwingbarkeit des Völkerrechts einen Transformationsakt oder im Sinne der Vollzugslehre einen Rechtsanwendungsbefehl voraussetzt."142
Wie bereits erläutert, verändert der Rechtsanwendungsbefehl im Sinne der Vollzugslehre im Gegensatz zum Transforrnationsakt den völkerrechtlichen Geltungsgrund der Völkerrechtsnorrnen nicht, so daß ihr ursprünglicher Rechtscharakter erhalten bleibt. 143 Entsprechend der von Schachtschneider entwickelten demokratierechtlichen Geltungslehre des Rechts kann jedoch sowohl das Vollzugsgesetz als auch der Transforrnationsakt nur im Rahmen der Verfassungs gesetze RechtswirkunZur Lehre vom umgekehrten Monismus siehe 4. Teil, 4. Kap. 11. 3. d). Vgl. K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.I-II, S. 253-259 und S. 519-536; K.A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 1. Kap., 2. Kap. III. und 7. Kap.; K.A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I, S. 19; dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 11. 3. b). 140 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil Bund K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S.519-530. 141 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. c). 142 K. A. Schachtschneider, Verweigerung des Rechtsschutzes in der Euro-Politik und Wiederherstellung des Rechts durch Austritt aus der Währungsunion, S. 327-328. 143 Dazu 5. Teil, Kap. 2. I. 1. und 2. 138 139
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
gen erzeugen, um den völkerrechtlichen Geltungsvorbehalt des Staatswillens zu verwirklichen. Schachtschneider folgt der herrschenden Auffassung, daß die Zustimmungsgesetze einerseits als verfassungsmäßige Voraussetzung zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge zu werten sind. l44 Darüber hinaus drückt seiner Meinung nach Art. 59 Abs. 2 GG den Willen des deutschen Volkes aus, die Verbindlichkeit des Völkerrechts anzuerkennen. 145 Demzufolge "werden die Verträge durch die Zustimmungsgesetze in den allgemeinen politischen Willen des Volkes aufgenommen und gewinnen dadurch Verbindlichkeit"I46. Aufgrund der Einheit des internationalen und staatlichen Rechts wird jedoch eine Transformationsfunktion der Verfassungsnormen zweifellos entbehrlich und auch der Rechtsanwendungsbefehl im Sinne der Vollzugslehre verliert in der Lehre vom umgekehrten Monismus seine Bedeutung. 147 Selbst wenn zum Teil die Ansicht vertreten wird, daß die Vollzugslehre auch mit einer monistischen Rechtsordnungskonzeption vereinbart werden kann,148 so erscheint sie - speziell für das europäische Recht - fragwürdig, wenn im Sinne des umgekehrten Monismus argumentiert wird: 149 "Die nationalen Zustimmungsgesetze erteilen keinen ,Rechtsanwendungsbefehl '. Ein solcher würde voraussetzen, daß das Gemeinschaftsrecht eine eigenständige Rechtsordnung ist. Art. 23 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 GG, die ein Gesetz des Bundes für die Übertragung der Hoheitsrechte genügen lassen, ermächtigen die gesetzgebenden Vertretungsorgane nicht, eine originäre öffentliche Gewalt zu begründen. Eine solche Gewalt wäre nicht die Staatsgewalt des Volkes, welche von Staatsorganen des Volkes, auch von gemeinschaftlich mit anderen Völkern institutionalisierten, ausgeübt werden darf. Die Hoheitsrechte, die übertragen werden, können keine anderen sein als Rechte zur Ausübung der Staatsgewalt; denn die Staatsgewalt ist mit dem Volk untrennbar verbunden ...."150
Die Autonomie des Willens des deutschen Volkes als Geltungsgrundlage und als demokratische Legitimation sowohl des nationalen Rechts als auch des Völker- und Europarechts steht folgerichtig in Einklang mit den verfassungsmäßigen Bestimmungen des Grundgesetzes. In der Bundesrepublik Deutschland drückt sich die Bereitschaft des Volkes, die Verbindlichkeit der internationalen Rechtsnormen im Rahmen der Verfassung anzuerkennen, durch Art. 25 GG sowie durch die Zustim144
Dazu 5. Teil, Kap. 2. 11.2.
145 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die
staatliche Integration der Europäischen Union, S. 99-100. 146 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E.I. 3. 147 Nach der Auffassung von Theodor Schilling ist ein Anwendungsbefehl zur Einführung eines völkerrechtlichen Vertrages in das nationale Recht nur dann erforderlich, sofern er nicht "self-executing" ist oder wenn ein allgemeines Anwendungsverbot besteht; vgl. Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S.133-134, S.140 und S. 318; dazu auch 4. Teil, 4. Kap. 11.3. b) und d). 148 Dazu 5. Teil, 2. Kap. I. 2. 149 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. d). 150 K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil I. S.19.
3. Kap.: Das Völkerrecht in der Lehre und Rechtsprechung
327
mungsgesetze nach Art. 59 Abs. 2 GG aus. 151 Daraus folgt, daß es eine völkerrechtliche und staatliche Verbindlichkeit dieser Rechtsnormen, die sich aus der Hoheit des Volkes herleitet, ausschließlich im Rahmen der verfassungs gesetzlichen Grenzen geben kann und daß Widersprüche zwischen dem nationalen Recht und Völkerrecht demnach nicht möglich sind. 152 Ausgehend von der Lehre vom umgekehrten Monismus ist die rechtliche Bedeutung der grundgesetzlichen Bestimmungen neu zu bedenken. Insbesondere Art. 25 GG leistet in diesem Sinne eine dynamische Adoption eines Komplexes beweglicher Rechtsvorschriften, die als flexible Verweisung auf das Völkerrecht aufzufassen ist. Aber auch Art. 59 Abs. 2 GG kann im Sinne der Adoptions- oder Inkorporationslehre gedeutet werden, so daß für eine Rezeption des Völkerrechts in das deutsche Recht kein staatlicher Rechtsakt zwingend erforderlich ist, der als rechtliches Bindeglied - sei es aufgrund eines Transformationsaktes oder eines Vollzugsbefehls - zwischen der originären Völkerrechtsnorm und deren innerstaatlichen Geltung oder der staatlichen Norm agiert. Sowohl das Europäische Gemeinschaftsrecht als auch das Völkerrecht wird nach der Lehre Schachtschneiders nicht aus einer eigenen Rechtsordnung heraus materialisiert, sondern ist integrierter Bestandteil der staatlichen Rechtsordnungen und erlangt seine unmittelbare Geltung - nach dem Prinzip der Freiheit - ausschließlich durch den Willen des Volkes. 153 "Rechtliche Verbindlichkeit kann in Deutschland nur aus dem Willen der Deutschen folgen . ... Jedes Volk ist innerstaatlich verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht als Teil der eigenen Rechtsordnung zu verwirklichen (Art. 10 EGV). Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts hat aber Grenzen, die sich aus der existentiellen Staatlichkeit der Völker ergeben. ,,154
\5\ Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.99; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teil E. I. 3. \52 Vgl. K.A. Schachtschneider, Verweigerung des Rechtsschutzes in der Euro-Politik und Wiederherstellung des Rechts durch Austritt aus der Wahrungsunion, S. 327-328. Diese Thesen scheinen auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Gemeinschaftsrecht im Urteil von Maastricht zu entsprechen, auch im Hinblick auf seine demokratierechtlichen Überlegungen; vgl. BVerfGE 89, 155 ff.; dazu auch 5. Teil, 3. Kap. 11. \53 Vgl. K.A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S.97-1oo; K. A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S.161-165; K.A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Teile A, Bund D. 11. 1.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1-23. 154 K. A. SchachtschneiderlA. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, Teil 111, S. 117; vgl. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 103; K.A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S. 168 und S.I72.
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
11. Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Aus dem vorangehenden Kapitel wurde deutlich, daß sich das Grundgesetz auf keine der dargestellten Lehren zur Einbeziehung des Völkerrechts in die deutsche Rechtsordnung eindeutig festlegt. Auch die Praxis der Staaten läßt sich insgesamt weder im Sinne der Transformations-, Vollzugs- oder Adoptionslehre noch als eine einhellige Befürwortung und Realisation der dualistischen oder monistischen Rechtsordnungskonzeption deuten. 155 Abgesehen von einigen Urteilen der ersten Wirkungszeit ist eine definitive Zuordnung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls nicht möglich. Erschwert wird dies dadurch, daß viele Äußerungen und Thesen des Gerichts sowohl mit der Transformationslehre als auch mit der Vollzugslehre zu harmonieren scheinen. So hat sich das Bundesverfassungsgericht zunächst zur Transformationslehre bekannt, indem es dem Vertragsgesetz im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG die Bedeutung zukommen läßt, "dem Inhalt des völkerrechtlichen Vertrages die Geltung als innerstaatliches deutsches Recht zu verleihen (Transformation)" 156. Der Begriff "Transformation" wird dabei ausdrücklich erwähnt, um den Vorgang der Umsetzung des Völkervertrages in geltendes deutsches Recht darzustellen. Wiederholt und bekräftigt hat das Gericht seine Meinung zugunsten der Transformationslehre in der folgenden Stellungnahme: "Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach entschieden, daß auch Zustimmungsgesetze zu Verträgen mit auswärtigen Staaten, sogenannte Vertragsgesetze, der verfassungsgerichtlichen Prüfung im Normenkontrollverfahren unterliegen (BVerfGE I, 396 [410); 4, 157 [162)). Die rechtliche Bedeutung solcher Gesetze erschöpft sich nicht darin, daß von ihrem Erlaß das verfassungsmäßige Zustandekommen des Vertrages abhängt. Sie transformieren zugleich den Inhalt des völkerrechtlichen Vertrages insoweit in innerstaatliches Recht, als sie ihn sowohl für die staatlichen Organe als auch - falls er sich auf das rechtliche Verhalten der Staatsbürger bezieht - für diese verbindlich machen. Über die Zustimmung zum Vertrag hinaus können - wie das hier geschehen ist - im Rahmen desselben Gesetzes unmittelbar Rechte und Pflichten des einzelnen begründet werden. In beiden Fällen können durch das Vertragsgesetz Grundrechte verletzt werden. Deshalb unterliegen sie der verfassungsgerichtlichen Prüfung auch im Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde, die dem Bürger einen wirksamen Grundrechtsschutz geben SOIl."157 Dazu 6. Teil. BVerfGE I, 396 (411), Urteil vom 30.07.1952; ähnlich bereits BVerfGE I, 372 ff., Urteil vom 29.07.1952. Dazu Th. Maunz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 59, S. 13-14, Rdn. 22-24; H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S.15; G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 35; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 286. 157 BVerfGE 6,290 (294f.). Nach Ansicht von Hermann Mosler hat sich das Gericht mit diesem Wortlaut "zu weit vorgewagt", weil es sich damit zu sehr auf eine strenge Trennung der Rechtsordnungen festlegt: "Die Verwendung des mit bestimmtem Begriffsinhalt belasteten Wortes Transformation ist der unbefangenen Beurteilung der Rechtswirkungen der Verträge im innerstaatlichen Bereich hinderlich. Die Vorstellung einer scharfen dualistischen Trennung von Vertrag und Gesetz, die sich, wie wir sehen werden, gar nicht konsequent durchführen läßt, wird unnötigerweise beschworen. Der Begriff aus dem Arsenal des TheoISS
156
3. Kap.: Das Völkerrecht in der Lehre und Rechtsprechung
329
In seinem Urteil zum Konkordatsstreit über die Regelung der Rechtsverhältnisse des Bundes mit dem Heiligen Stuhl 158 rückt das Bundesverfassungsgericht jedoch von seiner eindeutig zustimmenden Haltung gegenüber der Transformationslehre ab. Dies wird im Rahmen seiner Aussagen bezüglich der Verbindlichkeit und des Rangs der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung besonders deutlich: "Art. 25 GG räumt nur den, allgemeinen Regeln des Völkerrechts' den Charakter innerstaatlichen Rechts und den Vorrang vor den Gesetzen ein. Diese Bestimmung bewirkt, daß diese Regeln ohne ein Transformationsgesetz, also unmittelbar, Eingang in die deutsche Rechtsordnung finden und dem deutschen innerstaatlichen Recht - nicht dem Verfassungsrecht - im Range vorgehen. Diese Rechtssätze brechen insoweit jede Norm aus deutscher Rechtsquelle, die hinter ihnen zurückbleibt oder ihnen widerspricht."159 Nach dieser Formulierung erscheint es ungewiß, ob das Gericht Art. 25 GG als echten transformatorischen Umsetzungsakt im Sinne der Lehre Heinrich Triepels oder als Rechtsanwendungsbefehl entsprechend der von Karl loset Partsch entwikkelten Vollzugslehre beurteilt. 160 Der Ausdruck "Eingang in die deutsche Rechtsordnung" kann jedoch nicht nur im Sinne eines dualistischen Rechtsordnungsverständnisses gedeutet werden, sondern ist auch mit der monistischen Lehre vereinbar. 161 Darüber hinaus ließ das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung die Frage nach der Erforderlichkeit einer Transformation von völkerrechtlichen Verträgen in deutsches Recht offenkundig unbeantwortet, 162 so daß es damit den Weg zu neuen Auseinandersetzungen über das Problem des Einbezugs völkerrechtlicher Normen in die nationale Rechtsordnung geöffnet hat. 163 In seinen folgenden Aussagen gibt das Gericht nachhaltig die Terminologie, die zweifelsfrei auf die Transformationslehre hinweist, auf und verwendet Formulierienstreits trägt nicht zur Klärung des Phänomens bei, sondern belastet die Handhabung des Vertragsrechts mit einer theoretischen Hypothek." H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S. 15-16; vgl. O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S.505. Weitere Urteile im Sinne der Transformationslehre BVerfGE 22, 293 (296); BVerfGE 29, 198 (210); BVerfGE 30, 272 (284ff.); BVerfGE 37, 271 (277f.). 158 Vgl. BVerfGE 6, 309 ff., Urteil vom 26.03.1957; dazu K. lpsen, Völkerrecht (3.Aufl.), S.1094. 159 BVerfGE 6, 309 (363). 160 Vgl. O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S.499-5oo. 161 Anderer Ansicht in Waller Rudolf; denn seiner Meinung nach liegt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eindeutig die dualistische Transformationslehre zugrunde; vgl. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 261-262 und S. 275. 162 Dazu BVerfGE 6,309 (332ff.). 163 Wie bereits ausgeführt, wertet Waller Rudolj Art. 25 GG einen "Generaltransformator" W. Rudolj, Völkerrecht und deutsches Recht, S.262. Anders dagegen H. Mosler, Das Völkerrecht in der Praxis der deutschen Gerichte, S.40; dazu 5. Teil, 3. Kap. I.
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5. Teil: Das Völkerrecht im deutschen Rechtsraum
rungen, die beiden genannten Lehren zugeordnet werden können. So spricht das Bundesverfassungsgericht von der durch Art. 25 GG "vollzogenen Eingliederung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in das Bundesrecht" 164. Mittlerweile ist festzustellen, daß das Gericht - insbesondere in seinen Beschlüssen zum Europäischen Gemeinschaftsrecht - der Vollzugslehre folgt. 165 Dies ist nicht nur aus dem Wortlaut der "Solange II"-Entscheidung erkennbar, der die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 24 Abs. I und Art. 59 Abs. 2 Satz I GG zu den Gemeinschaftsverträgen als Rechtsanwendungsbefehle deutet, 166 sondern auch für das Urteil über den Vertrag von Maastricht festzustellen: "Die Bundesrepublik Deutschland ist somit auch nach dem Inkrafttreten des Unions-Vertrags Mitglied in einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken kann. Deutschland ist einer der ,Herren der Verträge', die ihre Gebundenheit an den ,auf unbegrenzte Zeit' geschlossenen Unions-Vertrag (Art. Q EUV) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft begründet haben, diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben könnten. Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland hängen von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes ab. Deutschland wahrt damit die Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht und den Status der souveränen Gleichheit mit anderen Staaten i. S. des Art. 2 Nr. I der Satzung der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (BGBI. 1973 11 S.430)."167
Mit dieser Aussage und den weiteren demokratierechtlichen Überlegungen im Urteil über den Vertrag von Maastricht wertet das Bundesverfassungsgericht den nationalen Rechtsanwendungsbefehl als die Geltungsgrundlage des Gemeinschaftsrechts in der deutschen Rechtsordnung. Demnach ist es herrschende Meinung, daß die Bundesrepublik Deutschland zwar weiterhin der Lehre vom Dualismus folgt, jedoch in den verfassungsrechtlichen Vorschriften nicht mehr der Transformationslehre, sondern mittlerweile der Vollzugslehre nahesteht, nach der sich die innerstaatliche Verbindlichkeit des Völkerrechts von einem jeweiligen staatlichen Rechtsanwendungs- oder Vollzugsbefehl herleitet. 168 Bereits 1977 heißt es in einem Beschluß des zweiten Senats, daß "das Recht dieser Gemeinschaft, deren Mitglied die Bundesrepublik Deutschland ist, nicht als fremdes Recht zu qualifizieren ist. Das primäre Gemeinschaftsrecht gilt für den Ho164 BVerfGE 15,25 (34). In diesem Sinne auch BVerfGE 18,441 (448); BVerfGE 27, 253 (274); BVerfGE 29, 348 (360); BVerfGE 46,342 (361 ff.); BVerfGE 75, 223 (244). 165 Vgl. BVerfGE 45, 142 (169); BVerfGE 52, 187 (199); BVerfGE 73, 339 (367ff.); BVerfGE 89,155 (190). 166 Vgl. BVerfGE 73, 339 (367ff.). 167 BVerfGE 89,155 (190). 168 Siehe G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S.118-121; M. Schweitzer, Staatsrecht III: StaatsrechtNölkerrecht/Europarecht, S. 150-151; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 277-302; A. Bleckmann, Europarecht, S. 291-292; H.-P./psen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 74-76; K. Doehring, Völkerrecht, S. 300.
3. Kap.: Das Völkerrecht in der Lehre und Rechtsprechung
331
heitsbereich der Bundesrepublik Deutschland kraft des Rechtsanwendungsbefehls, den die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 59 Abs. 2 GG den Gemeinschaftsverträgen erteilt haben"169. Die Bekräftigung dieser Aussage des Gerichts im Urteil über den Vertrag von Maastricht und die Feststellung, daß die Verbindlichkeit des Vertrages zur Gründung der Europäischen Union auf dem "Willen zur langfristigen Mitgliedschaft" der Bundesrepublik Deutschland beruht, könnten auf eine Wendung der gerichtlichen Dogmatik im Sinne des Monismus hinweisen. Mit dieser Auffassung anerkennt das Bundesverfassungsgericht die Auffassung Karl Albrecht Schachtschneiders, daß die Rechtsakte des Gemeinschaftsrechts ausnahmslos als Wille des deutschen Volkes Verbindlichkeit entfalten, der durch das Zustimmungsgesetz im Rahmen der verfassungsmäßigen Bestimmungen zum Ausdruck kommt. 170
169 170
BVerfGE 45, 142 (169). Dazu 4. Teil, 4. Kap. 1I.3.
Sechster Teil
Schlußbetrachtung und Ausblick Der Gegensatz zwischen der monistischen und dualistischen Grundkonzeption besteht bis heute weiter. 1 Die Relevanz der Frage nach der Rechtsordnungsgliederung ist unvermindert. 2 Dennoch haben die rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen in den letzten Jahrzehnten an Härte verloren; denn die radikale Position der dualistischen Völkerrechtslehre zur strikten Trennung der Rechtsordnungen wurde immer weiter entschärft und hat sich so dem gemäßigten Monismus mit Völkerrechtsprimat angenähert. 3 Weitgehende Einigkeit besteht inzwischen darüber, daß das Völkerrecht dem staatlichen Recht einerseits übergeordnet ist, daß es jedoch durch das staatliche Recht dem Individuum vermittelt wird. Damit ist völkerrechtswidriges staatliches Recht nicht notwendig unmittelbar nichtig und völkerrechtliche Rechte und Pflichten werden durch das staatliche Recht wirksam. Für die Anhänger dieser Auffassung lassen sich die Verfassungsnormen der Staaten übereinstimmend mit den beiden gemäßigten Ausprägungen der Völkerrechtslehren deuten. 4 In diesem Sinne wird in jüngerer Vergangenheit sowohl ein gemäßigter Dualismus der I "Der Theorienstreit um Monismus und Dualismus hat heute an Bedeutung verloren; erledigt ist er nicht. Seine mehr oder weniger ausführliche Wiedergabe gehört noch immer zu den rituellen Einleitungen vieler Darstellungen über die innerstaatliche Wirksamkeit außerstaatlich entstandenen Rechts. Meist werden Triepels Ansichten vom verschiedenen Geltungsgrund und der Wesensverschiedenheit referiert und widerlegt, die monistische Staatsrechtsprimatskonstruktion als nicht mehr vertreten, die monistische Völkerrechtsprimatskonstruktionen als die fortschrittlichere Lösung bezeichnet, aber nur in ihrer gemäßigten Form der augenblicklichen Weltordnung entsprechend gehalten .... Man kann geradezu von dualistischen und monistischen Manifesten sprechen." H. Wagner, Monismus und Dualismus: eine methodenkritische Betrachtung zum Theorienstreit, S. 212 und S. 213. 2 Eine solche Auffassung vertritt Gerald Fitzmaurice: "First of all however a racial view of the whole subject may be propounded to the effect that the entire monist-dualist controversy is unreal, artificial and strictly beside the point, because it assurnes something that has to exist for there to be any controversy at all- and which in fact does not exist - namely a common field in which the two legal orders under discussion both simultaneously have their spheres of activity." G. Fitzmaurice, The general principles ofinternationallaw, in: RdC, 11, Nr. 92,1957, S.I-227, hier S. 71. Fitzmaurice leugnet ein "common field" zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht, so daß er trotz seiner Kritik von einem dualistischen Verhältnis auszugehen scheint; siehe dazu auch G. Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, S. 2-3. 3 Dazu G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S.100. 4 Vgl. H. Wagner, Monismus und Dualismus: eine methodenkritische Betrachtung zum Theorienstreit, S.237; K. Ipsen, Völkerrecht (3. Aufl.), S. 1076; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 143.
6. Teil: Schlußbetrachtung und Ausblick
333
RechtsordnungenS als auch ein gemäßigter Monismus mit Primat des Völkerrechts vertreten, 6 womit feststellbar ist, daß sich beide Grundkonzeptionen nur in ihren jeweils gemilderten Formen durchsetzen konnten. Die Relativierung erfolgte wohl auch aufgrund der Tatsache, daß beide Grundhaltungen in ihrer jeweils strengen Ausprägung an der staats- und völkerrechtlichen Wirklichkeit vorbeigehen, weil sie ihren alleinigen Ausgangspunkt entweder in der absoluten staatlichen Souveränität oder in der Dominanz der Staatengemeinschaft setzen. Darüber hinaus beschäftigen sich insbesondere die Staaten mittlerweile deutlich weniger mit den grundlegenden dogmatischen Fragen, sondern haben sich den konkreten Methoden des innerstaatlichen Vollzugs des Völkerrechts zugewandt. 7 Einerseits erweisen sich der zwischenstaatliche Verkehr und die nationalen Verfassungsbestimmungen als äußerst differenziert und es ist schwierig zu beurteilen, welche der Völkerrechtslehren der jeweiligen Völkerrechts- und Staatenpraxis entspricht. 8 Andererseits kann auch argumentiert werden, daß sich die staatsrechtlichen Normen über die Durchführung des Völkerrechts gleichzeitig und widerspruchslos sowohl mit dem monistischen als auch dualistischen Ansatz verbinden lassen. 9 Den5 Vgl. W. Rudolf, Incorporation of Customary International Law into Municipal Law, S.24-40; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 145-150. Kritische Einwände gegenüberdem gemäßigten Monismus äußert Walter Rudoifinsbesondere in bezug auf die These von der völkerrechtlichen Delegation der staatlichen Rechtsordnungen sowie hinsichtlich der Annahme, daß ein möglicher Konflikt zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht nur vorläufiger Natur sein kann. Dabei bezieht er sich insbesondere auf die Lehre von Aifred Verdross (vgl. S. 147-149); dazu 4. Teil, 3. Kap. 111. 6 "Wir meinen, die Lösung in einem differenzierenden Monismus zu finden, in dem Gedanken, daß das VR für die Staaten verbindlich sei, die Einzelnen in der Regel aber nur auf dem Umwege über das inländische Recht zu erreichen vermöge .... Auch im Falle des Konflikts hält sich das Völkerrecht zurück .... Wenn nationales zum VR als der höheren Norm im Widerspruch steht, so hat der Staat sein Recht im Sinne des VR umzugestalten. Gegebenenfalls ist er zur Wiederherstellung des dem VR entsprechenden Zustandes und zum Ersatz des Schadens verpflichtet.... " G. Dahm, Völkerrecht, S. 55 und S. 56, vgl. S. 53-56; ebenso G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S.IOI, S.102 und S.103; vgl. S.100-103. 7 Dazu E. Menzel, Neue Tendenzen in der Frage der Zuordnung von Völkerrecht und staatlichem Recht, in: Schriftenreihe der Deutschen Gruppe der AAA, hrsg. von Ignaz Seidl-Hohenveldern/Heinrich Nagel, Band 111: Beiträge aus Völkerrecht und Rechtsvergleichung, 1969, S. 47-73, hier S. 48-49. 8 Vgl. R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 16; K. /psen, Völkerrecht (3.Aufl.), S. 1076; E. MenzellK./psen, Völkerrecht, S. 52-53; M. Zuleeg, Zum Standort des Verfassungsstaats im Geflecht der internationalen Beziehungen, S.467. 9 Zustimmend W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 145. Anders dagegen H. Wagner, Monismus und Dualismus: eine methodenkritische Betrachtung zum Theorienstreit, S.213 und S. 236-238: "Kurz, was die Staatenpraxis bei der innerstaatlichen Durchsetzung des Völkerrechts angeht, so sind beide Theorien gleichwertig. Deshalb sind alle Feststellungen, die italienische Rechtsordnung oder Art. 59 GG usw. stehe auf dem Boden des Dualismus, logisch richtig und nicht widerlegbar, ... ; aber ebenso richtig und genauso unwiderlegbar wäre die Berufung auf den Monismus." (S.238). Letztlich gibt Heinz Wagner - trotz der von ihm bekräftigten Gleichwertigkeit der gemäßigten Lehren - dem Monismus mit Völkerrechtsprimat aus psychologischen Gründen den Vorzug: "Obwohl der gegliederte Monismus dem Staat die selbe
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6. Teil: Schlußbetrachtung und Ausblick
noch ist es mißverständlich zu sagen, daß durch die Annäherung von Monismus und Dualismus in fast allen praktischen Fragen übereinstimmende Schlußfolgerungen gezogen werden können; 10 denn beide Konzeptionen sind in ihren Aussagen grundverschieden. So lassen sich die Rechtssysteme der Einzelstaaten hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Ausrichtung entweder entsprechend der Lehre vom Monismus oder Dualismus zuordnen. Dabei ist erkennbar, daß jeder Staat die Fragen nach der innerstaatlichen Geltung und Anwendbarkeit des Völkerrechts sowie nach dessen Rang individuell und zudem möglicherweise entgegen seiner bestehenden dualistischen oder monistischen Grundhaltung beantwortet. Ausgehend von den Verfassungsbestimmungen der Staaten kann insbesondere für Dänemark, Deutschland, Griechenland, Großbritannien 11, Irland, Italien und die ehemalige Sowjetunion 12 festgestellt werFreiheit in der positiv-rechtlichen Ausgestaltung läßt, wie sie der dualistischen Auffassung selbstverständlich ist, und obwohl die Anhänger der dualistischen Theorie sich rückhaltlos an das Völkerrecht gebunden halten, ist die Stellung des Staates nach bei den Auffassungen doch verschieden. Eine monistische Konzeption zerstört die Auffassung von der Allgewalt des staatlichen Gesetzgebers und vom Rechtsetzungsmonopol des Parlaments .... " (S. 240). 10 So aber B. Simma, Der Beitrag von Alfred Verdross zur Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft, S. 33. II Großbritannien gilt als Vertreter einer streng dualistischen Lehre; hinzu kommt, daß in diesem Staat der Abschluß völkerrechtlicher Verträge allein der Krone obliegt und so die staatliche Bindung an den Vertrag auch ohne Zustimmung des Parlaments erreicht wird. Vielfach wird die Meinung vertreten, daß der Vertrag jedoch solange in der britischen Rechtsordnung unbeachtet bleibt, bis das Parlament die Bestimmungen des Vertrages durch ein besonderes Gesetz in die Rechtsordnung Großbritanniens transformiert, weil sonst die Exekutive in den parlamentarischen Kompetenzbereich eingreifen würde. Generell wird deshalb vor jeder Ratifizierung die Zustimmung des Parlaments eingeholt. Vor dem 19. Jahrhundert folgte der angelsächsische Rechtskreis bezüglich des Völkerrechts einer Lehre, die auf William Blackstone zurückgeht. Ihr Prinzip basiert auf dem Satz "The law of nations wherever any question arises which is properly the object of its jurisdiction is here adopted, in its full extent, by the common law and is held to be apart ofthe law ofthe land". (w. Blackstone, Commentaries on the laws of England, S. 67). Er drückt aus, daß das Völkerrecht automatisch und im ganzen innerstaatliche Geltung erhält und Teil des nationalen Rechts ist. Heute gilt dieser Satz im wesentlichen nur noch für das Völkergewohnheitsrecht. Diese generelle Übernahme des Völkerrechts wird auch in der deutschen (Art. 25 GG), österreichischen (Art. 9 Abs. I des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes vom 20.11.1920) und spanischen (Art. 7 der spanischen Verfassung vom 09.12.1931) Verfassung für die "allgemeinen Regeln des Völkerrechts" bestimmt, wobei die Lehre zwischen verschiedenen Techniken des Einbezugs des Völkerrechts in die nationale Rechtsordnung unterscheidet; vgl. G. Dahm/J. DelbrücklR. Woltrum, Völkerrecht, S.107-109; A. VerdrosslB. Simma, Universelles Völkerrecht, S.541-544; O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 263; A. Bleckmann, Europarecht, S.294; I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 66; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. I. 12 Vgl. G. Dahm/J. DelbrücklR. Wolfrum, Völkerrecht, S. 116, F. Malekian, The system of internationallaw, S. 70-75. Grigorij I. Tunkin gilt als bedeutender Vertreter der dualistischen Völkerrechtslehre für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion; siehe G.I. Tunkin, Grundlagen des modernen Völkerrechts (1956), in: Drei sowjetische Beiträge zur Völkerrechtslehre, hrsg. vom Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel, 1969; G.I. Tunkin, Theory of International Law, 1974; G. W. KeetonlG. Schwarzenberger (Hrsg.), The Library ofworld affairs, NT. 26: The communist theory of law, 1955; D.B. Lewin, Grundprobleme des modernen Völ-
6. Teil: Schlußbetrachtung und Ausblick
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den, daß sie der dualistischen Doktrin folgen. Die in diesen Staaten jeweils herrschende Lehre deutet die daraus resultierende erforderliche Umsetzung des Völkerrechts in den innerstaatlichen Rechtsbereich entweder als Transformation oder Vollzugsbefehl. I3 Als Vertreter des Monismus mit Primat des Völkerrechts werden insbesondere Belgien, Frankreich 14, Luxemburg, Österreich und die Niederlande angesehen. In diesen Staaten wird die vorgeschriebene parlamentarische Zustimmung zum Vertragsabschluß und die Veröffentlichung des Abkommens nicht als nationaler Rechtsakt im Sinne der Transformations- oder Vollzugslehre gedeutet - obwohl sie verfassungsmäßige Voraussetzungen darstellen, um die unmittelbare Geltung zu gewährleisten. Der Völkerrechtsvertrag erlangt ab dem Zeitpunkt, an dem er für die Vertragsstaaten rechtlich bindend ist, sowie durch eine Anwendungsaufforderung des Völkerrechts seine innerstaatliche Verbindlichkeit. 15 In den Vereinigten Staaten ist ebenso eine automatische Geltung völkerrechtlicher Bestimmungen im nationalen Recht gewährleistet, 16 so daß das Völkerrecht ohne erneute Umwandlung als ein Teil des amerikanischen Rechts angesehen wird. Folglich zeigt auch dieses Recht deutliche monistische Züge. 17 Mit der Einbeziehung völkerrechtlicher Normen in kerrechts (1958), in: Drei sowjetische Beiträge zur Völkerrechts lehre, hrsg. vom Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel, 1969. 13 Dazu ausführlich A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 273, S.275 und S.277-302; A. Bleckmann, Europarecht, S. 291-296; H.-P. lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S.74-76; G. DahmlJ. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S. 115-122; E. Menzel, Neue Tendenzen in der Frage der Zuordnung von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 52-56. Speziell zur Interpretation der Bestimmungen Deutschlands siehe W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, S. 177-281. Walter Rudolf ist Anhänger einer gemäßigt dualistischen Lehre und deutet die Verfassungsbestimmungen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Transformationslehre; dazu auch 5. Teil, 2. Kap. I. und 3. Kap. I. 14 Interessant erscheint der französische gemäßigte Monismus; denn Art.55 der französischen Verfassung vom 04.10.1958 legt fest, daß abgeschlossene völkerrechtliche Verträge zwar über den Gesetzen, jedoch nicht über der französischen Verfassung stehen: "Les traites ou accords regulierement ratifies ou approuves ont, des leur publication, une autorite superieure a celle des lois, sous reserve, pour chaque accord ou traite, de son application par I' autre partie." Dazu I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 147-148. 15 Generell folgen diese Staaten einem gemäßigten Monismus - eine Ausnahme bilden Belgien und Luxemburg. Sie werden als Staaten gewertet, welche der streng monistischen Lehre anhängen, wie sie in der französischen Schule von Leon Duguit und Georges Scelle vertreten wurde: Das Völkervertragsrecht steht demnach über den nationalen Gesetzen und der Verfassung; vgl. A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 274 und S. 276-277; A. Bleckmann, Europarecht, S. 292 und S. 294-295; A. Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, S.139; E. Menzel, Neue Tendenzen in der Frage der Zuordnung von Völkerrecht und staatlichem Recht, S. 56-60. 16 Art. VI Abs. 2 der amerikanischen Verfassung vom 17.09.1787 garantiert als offizielle Verfassungsdoktrin: "This Constitution, and the Laws ofthe United States which shall be made in Pursuance thereof; and all Treaties made, or which shall be made, under the Authority of the United States, shall be the supreme Law of the Land; and the Judges in every State shall be bound thereby, anything in the Constitution or Laws of any State to the Contrary notwithstanding." 17 Dazu G. DahmlJ. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, S.110-112; anders dagegenL. Henkin, International Law: Politics and Values, S. 68-71, insbesondere S. 71.
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6. Teil: Schlußbetrachtung und Ausblick
den nationalen Bereich wird regelmäßig zugleich ihre Rangeinstufung im staatlichen Normengefüge verbunden. Exemplarisch seien der Art. 25 des Grundgesetzes genannt, der eine Vorrangklausel zugunsten der allgemeinen Völkerrechtsregeln enthält sowie Art. 55 der französischen Verfassung, der den Primat des Völkervertragsrechts gegenüber dem nationalen Gesetzesrecht bestimmt. 1B Die grundlegende Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht verliert, trotz der Schwierigkeiten in Hinblick auf die Durchleuchtung der gegenwärtigen Staatenpraxis, nicht an Bedeutung. Ganz im Gegenteil- die Notwendigkeit bleibt bestehen, dieses Problem in Einklang mit den heutigen völkerrechtlichen Anforderungen zu analysieren. Dabei hat im Rahmen der Globalisierung der Lebensverhältnisse und des Rechts die Schaffung der Europäischen Gemeinschaften zu einer gewissen Wiederbelebung der rechtswissenschaftlichen Diskussion über die Verbindung der Rechtsordnungen geführt. Nicht nur die zunehmende Internationalisierung des Rechts, sondern auch die Stärkung der Kooperation zwischen den Staaten durch die internationalen Organisationen mit der damit verbundenen gemeinsamen Ausübung der Staatlichkeit schränkt die besondere Stellung der Staaten im Völkerrecht ein. 19 Insbesondere die Vereinten Nationen, die zum Zweck der kollektiven Friedenssicherung gegründet wurden, erlangten in den letzten Jahren zentrale Bedeutung. Dem Sicherheitsrat stehen nach der UN-Charta weitreichende Durchsetzungsbefugnisse zu, die auch die inneren Angelegenheiten der Staaten betreffen können. 2o Trotz der Universalität der Vereinten Nationen und der erkennbaren Tendenz zur weltweiten Annäherung der Völker ist gegenwärtig noch kein Schritt auf dem Weg hin zu einem Weltstaat feststellbar. 21 Eine weitere Intensivierung der staatlichen Kooperation ist jedoch insbesondere in den Bereichen der Weltwirtschaftsordnung, des Umweltschutzes und der internationalen Gemeinschaftsräume - dazu zählen das hohe Meer und der Weltraum - zu erwarten. 22 Erkennbar 18 Zur Problematik des Rangs der Völkerrechtsnormen in der nationalen Normenhierarchie, insbesondere verbunden mit der Transformations- und Vollzugslehre siehe 5. Teil, 2. Kap.; dazu insbesondere K. J. Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S.22, 52, 56-79 und S. 93-105; A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S.285-291; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 547-550. 19 Vgl. 1. Delbrück, Zur Entwicklung der internationalen Rechtsordnung, S.66-67. 20 Vgl. Art. 39-51 UN-Charta; dazu auch 2. Teil, 2. Kap. III. und 3. Teil, 3. Kap. I. 5. 21 Vgl. H. Mosler, The international society as a legal community, S. 13. Nach Ansicht von Jost Delbrück befindet sich das Völkerrecht "in einem sich globalisierenden internationalen System", in dem das staatliche Souveränitätsprinzip beschränkt und die internationalen Beziehungen entstaatlicht werden; siehe J. Delbrück, Zur Entwicklung der internationalen Rechtsordnung, S. 67. Kritische Einwände bezüglich des Entstehens eines Weltstaates, die sich vor allem auf die mangelnde Transparenz und Homogenität der Werte sowie auf den Verlust der überschaubaren Einheiten beziehen, sind zu finden bei A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 778-779 und K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 10. Kap.; vgl. auch O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 334. Zur grundsätzlichen Frage des Weltstaates siehe A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht. 22 Dazu O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 108-115, S. 327-337 und S.401-415; A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht.
6. Teil: Schlußbetrachtung und Ausblick
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wird die Stärkung der Rechtsverwirklichung des Völkerrechts durch die Ergänzung der internationalen Gerichtsbarkeit um die Strafgerichte für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, um die Errichtung des Internationalen Seegerichtshofs in Hamburg und des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. 23 Die Globalisierung der Lebensverhältnisse lassen die Nationalstaaten bestimmte Aufgaben nicht mehr allein, sondern nur auf weltstaatlicher Ebene ausreichend lösen, selbst wenn gegenläufige Interessen der Staaten diese Entwicklung erschweren sollten. Gegenwärtig dominiert die Lehre über eine bestehende Völkerrechtsordnung im Vergleich zur Dogmatik eines Weltrechts. Aber vor allem das unternehmerische Wirtschaften strebt zum Weltmarkt, womit sich die Entwicklungsrichtung der Völkerrechtsordnung hin zur Weltrechtsordnung andeutet. 24 Doch nicht nur die vertrags- und gewohnheitsrechtlichen Regeln des zwischenstaatlichen Staatenverkehrs, sondern insbesondere die ergänzenden Normen des zwingenden Völkerrechts haben Auswirkungen auf die Einheit der Rechtsordnungen und die weltrechtliche Entwicklung. Nach der Lehre Albert Bleckmanns bildet sich "ius cogens" nur in Einklang mit der Entstehung von Allgemeininteressen innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft. 25 Er ist der Ansicht, daß die Bildung von zwingendem Völkerrecht " ... eine stärkere Integration der Völkerrechtsgemeinschaft, eine Überwindung des Grundsatzes darstellt, daß das Völkerrecht immer nur Bündel von bilateralen Rechtsbeziehungen begründet, über welche die Mitgliedstaaten frei verfügen können. Das ius cogens-Konzept fördert die Einheit zunächst der Völkerrechtsordnung, dann der das Völkerrecht und das nationale Recht umfassenden Weltrechtsordnung. An die Stelle dualistischer treten monistische Konzeptionen. Dabei führt die Integration zu einer wachsenden Zentralisierung der Weltrechtsordnung ... 26
Die Fortführung dieses Gedankens schafft die Erkenntnis, daß nur der gemeinsame Konsens der Staatengemeinschaft eine Weiterentwicklung der völkerrechtlichen Regeln ermöglichen kann. 27 Im Sinne des umgekehrten Monismus 28 von Karl AIbrecht Schachtschneider beruhen dieses übereinstimmende Interesse und die innerstaatliche Geltung des daraus entstehenden Völkerrechts auf dem Willen der Menschen. Solange es noch keine einheitlich begründete Weltrepublik mit eigenem Weltparlament gibt, folgt aus einer solchen freiheitlichen Begründung der nationalen und völkerrechtlichen Regeln die Einheit der Rechtsordnungen. Schon Kant erfaßt unter dem allgemeinen Begriff des öffentlichen Rechts sowohl das Staats- als auch das Völkerrecht, Dazu 3. Teil, 3. Kap. 1.3. Vgl. A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht; A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechts lehre, S. 501-502. 25 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11. 4. 26 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechts lehre, S. 845; dazu auch O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, S. 330; A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht. 27 Dazu auch A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandels recht. 28 Dazu 4. Teil, 4. Kap. 11.3. d). 23
24
22 Amrhein-Hofmann
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6. Teil: Schlußbetrachtung und Ausblick
"welches dann, weil der Erdboden eine nicht grenzenlose, sondern sich selbst schließende Fläche ist, beides zusammen zu einer Idee eines Völkerstaatsrechts (ius gentium) oder des Weltbürgerrechts (ius cosmopoliticum) unumgänglich hinleitet: so daß, wenn unter diesen drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes es nur einer an dem die äußere Freiheit durch Gesetze einschränkenden Prinzip fehlt, das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden und endlich einstürzen muß. ,,29
Aus dieser rechtlichen Verknüpfung kann folgende Erkenntnis gewonnen werden: Die Frage nach dem Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht sollte sich nicht primär unter dem Blickwinkel der Über- und Unterordnung stellen, sondern unter dem des erforderlichen Zusammenhangs und der notwendigen gegenseitigen Ergänzung der Rechtsordnungen. Ein freiheitlich begründetes Völkerrecht, dessen Geltungsgrund es ist, daß es gewollt ist, kann in diesem Sinne als Ausweitung und Vervollständigung des Rechts gedeutet werden, das gemeinschaftlich in die innerstaatlichen Rechtsordnungen aufgenommen wird. Daraus folgt zugleich die Einheit der Rechtsordnungen.
29 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S.429. Kant beschreibt das öffentliche Recht als "ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen Einflusse gegeneinander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einern sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio), bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden" (S.429).
Siebter Teil
Zusammenfassung Den zentralen Gegenstand der Untersuchungen stellt die Betrachtung der grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht dar. Die zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen der Staaten forcieren die Idee eines Völkerrechts als einheitliche Rechtsordnung einer organisierten Staatengemeinschaft, das auf einer Vielzahl souveräner Staaten beruht. Mit der Bildung völkerrechtlicher Regeln wurde zugleich der Gedanke an die Beziehung der Rechtsbereiche zu einem der besonderen Probleme der Völkerrechtslehre und ist bis heute Anlaß rechtsdogmatischer Auseinandersetzungen. Für eine komplexe Darstellung und Beurteilung der ausgewählten Lehren vom Monismus und Dualismus der Rechtsordnungen setzt sich der Zweite Teil zunächst mit der Entwicklungsgeschichte der völkerrechtlichen Beziehungen und den Anfangen der Völkerrechtsschulen auseinander. Die Ursprünge des Völkerrechts liegen in der altorientalischen und antiken Welt, in der vor allem Friedensbündnisse und erste Handelsabkommen geschlossen wurden. Die älteste Bezeichnung des Völkerrechts - "ius gentium" - ist bei den Römern zu finden. Dieses verstand sich nicht nur als zwischenstaatliches Recht, sondern es umfaßte das gesamte Recht der antiken Kulturvölker. Im Verlauf des Mittelalters entwickelte sich eine Praxis politischer und handelsrechtlicher Verträge; darüber hinaus verbreiteten sich erste rechtswissenschaftliche Diskussionen über die Grundfragen zu Krieg und Frieden. Die selbständige Erfassung des Völkerrechts wurde von Francisco de Vitoria und Francisco Suarez geleistet. Deren Leistung nutzte Hugo Grotius, um die Völkerrechtswissenschaft auf der Grundlage der Naturrechtsgedankens zu systematisieren; er gilt als wesentlicher Mitbegründer des klassischen Völkerrechts. Jenes wurde vom europäischen Staatensystem der beginnenden Neuzeit, das durch den Begriff der Souveränität und das daraus abgeleitete Recht zum Krieg gekennzeichnet war sowie von den weltumgreifenden Entdeckungen und Kolonialisierungen der europäischen Mächte geprägt. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeichnete sich zugleich das Ende des klassischen Völkerrechts ab. Es ging in das moderne Völkerrecht über, das sich seit den beiden Weltkriegen, der Entkolonialisierung und der Spaltung der Weltgesellschaft in Staatenblöcke in Phasen tiefgreifender Veränderungen befindet. Mit der universellen UNO und den Europäischen Gemeinschaften entstanden internationale Organisationen, die den Schutz des Weltfriedens, die Förderung der internationalen Zusammenarbeit, die Festigung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker zum Ziel haben. 22'
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7. Teil: Zusammenfassung
Der Dritte Teil vervollständigt die Darstellung der völkerrechtlichen Grundlagen; denn er beschäftigt sich mit dem Völkerrecht als der Rechtsordnung der internationalen Staatengemeinschaft. Aufgrund der intensivierten Wechselwirkungen zwischen den Staaten und der wachsenden Bedeutung der internationalen Staatengemeinschaft werden die völkerrechtlichen Regeln umfangreicher und finden zunehmend Beachtung. Dabei wird die Gesamtheit der Normen, welche die Rechte und Pflichten der Staaten im Rahmen des zwischenstaatlichen Verkehrs regeln, als Völkerrecht bezeichnet. Die Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit erweist sich als diffiziles und komplexes Problem, mit dem sich die Völkerrechtswissenschaft schon lange auseinandersetzt. Angesichts der Besonderheiten des Völkerrechts - insbesondere des Fehlens einer zentralen Zwangs gewalt - wurde sein Rechtscharakter zum Teil angezweifelt. Die Leugnung des Rechtscharakters resultiert dabei aus einem am innerstaatlichen Subordinationsrecht orientierten Rechtsbegriff. Dieser Ansicht nach können als Recht nur Verhaltensregeln angesehen werden, die - wenn sie nicht befolgt werden - zwangsweise durchgesetzt werden. Für eine andere Gruppe von Völkerrechtswissenschaftlern stellt sich das Völkerrecht demgegenüber als Koordinationsrecht dar, wonach insbesondere das Zwangskriterium keine Voraussetzung für die Rechtsnormqualität des Völkerrechts sein kann. In diesem Sinne ist das Völkerrecht als echtes Recht zu sehen. Zum Teil wird das Völkerrecht als lediglich primitive oder unvollkommene Rechtsordnung im Vergleich zur staatlichen Rechtsordnung gewertet. Als charakteristisches Merkmal gilt dabei die dezentrale Struktur dieser Rechtsordnung, die sich zwischen voneinander unabhängigen Staaten aufgrund deren Willen bildet und in der die Staaten selbst das Erzeugen, Vollziehen und die zwangsweise Durchsetzung der Rechtsregeln übernehmen. Trotz des Mangels einer zentralen Gewalt bietet das Völkerrecht Methoden, die den Rechtsvollzug gewährleisten. Als solche haben sich in erster Linie der diplomatische Weg, die Vermittlung durch Dritte, die Schiedsgerichtsbarkeit, die internationale Gerichtsbarkeit, die anerkannten Arten von Selbsthilfemaßnahmen sowie das System kollektiver Sicherheit herausgebildet. Es wird festgestellt, daß die Völkerrechtsordnung keine übergeordnete Zentralgewalt besitzt, die eine Durchsetzung der völkerrechtlichen Normen garantiert, daß das Völkerrecht dennoch kein Recht ohne jegliche Zwangsmöglichkeiten ist, auch wenn es auf dem Konsensprinzip basiert. Es sind die Staaten, die zur Umsetzung und gewaltsamen Durchsetzung des Völkerrechts im innerstaatlichen Bereich beflihigt sind. Demnach ist der Zwangscharakter der Völkerrechtsordnung nicht abzustreiten und es scheint gerechtfertigt zu sein - so das Ergebnis dieses Abschnitts - den Rechtscharakter des Völkerrechts anzuerkennen; mit der Besonderheit, es als Recht auf einer noch nicht vollständig entwickelten Rechtsstufe einzuordnen. In bezug auf die Art und Weise der Entstehung der Völkerrechtsnormen kann zwischen Völkergewohnheitsrecht, Völkervertragsrecht, den allgemeinen Rechtsgrundsätzen sowie der völkerrechtlichen Judikatur und Lehre unterschieden werden. Wird das Merkmal des Geltungsbereichs in die Betrachtung miteinbezogen, so liegt eine Einteilung in universelles und partikuläres Völkerrecht nahe. Hinsichtlich der Än-
7. Teil: Zusammenfassung
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derbarkeit der Völkerrechtsnonnen wird zwischen "ius dispositivum" und "ius cogens" unterschieden. Im Gegensatz zu Nonnen des Völkervertrags- oder Völkergewohnheitsrechts, die als "ius dispositivum" gelten, kann das "ius cogens" nicht ohne weiteres verändert oder aufgehoben werden, weil diese Nonnen fundamentale Rechtsbereiche betreffen und damit eine grundlegende Verpflichtung der internationalen Rechtsordnung darstellen. Die Vorstellung und Erörterung der grundlegenden Aspekte zum Problem des Verhältnisses zwischen den staatlichen Rechtsordnungen und der Völkerrechtsordnung bildet den Gegenstand des gesamten Vierten Teils der Arbeit. Im Grundsatz werden die Lehren vom Dualismus und Monismus einander gegenübergestellt. Folgt aus der Erfassung der Beziehung von staatlichem Recht und Völkerrecht die Verschiedenheit der Rechtsordnungen, so wird ein dualistisches Verhältnis angenommen. Ihren repräsentativsten Vertreter fand die dualistische Lehre in Heinrich Triepel, der staatliches Recht und Völkerrecht als voneinander vollkommen unabhängige und getrennte Rechtsordnungen wertete. Ausgangspunkt ist die Existenz des Gemeinwillens der Staaten, auf dem Triepels Vereinbarungslehre und damit die Geltungsgrundlage des Völkerrechts beruht. Demgegenüber basiert die Verbindlichkeit des staatlichen Rechts auf dem jeweiligen Staatswillen. Daraus ergibt sich ein Gegensatz zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht nicht nur hinsichtlich der Rechtsquellen, sondern auch in bezug auf die Nonnierung der Rechtsverhältnisse, weil die Rechtsordnungen verschiedene Nonnadressaten besitzen. Die Folge ist, daß aus keiner der beiden Rechtsordnungen verbindliche Nonnen für den jeweils anderen Rechtsbereich hervorgehen können. Darüber hinaus kann es zu keinen Konflikten zwischen den nationalen Rechtssätzen und den Regeln des Völkerrechts kommen. Die mittelbare Geltung und Anwendbarkeit des Völkerrechts innerhalb der nationalen Rechtsordnungen ennöglicht die Transfonnation des Völkerrechts in die nationale Rechtsordnung. Triepels strenger Dualismus wurde insbesondere von Dionisio Anzilotti weiterentwickelt, der eine gemäßigte dualistische Rechtsordnungskonzeption entwirft, die Einwirkungen des Völkerrechts auf das staatliche Recht bejaht. Unterstützung fand dieser gemäßigte Dualismus unter anderem durch Gustav Walz, Ulrich Scheuner und Walter Rudolf. Dabei war es vor allem Walz, der die in der Literatur als dualistische Lehre bekannte Rechtsauffassung als pluralistische Rechtsordnungskonzeption definierte, weil die verschiedenen - rechtlich eigenständigen - staatlichen Rechtsordnungen und die Völkerrechtsordnung in die Betrachtung miteinbezogen wurden. Dieser Rechtsauffassung steht die monistische Lehre gegenüber, deren Vertreter weder von grundlegend sachlich verschiedenen Geltungsbereichen noch von unterschiedlichen Rechtsquellen ausgehen. Folglich gehören dieser Ansicht nach staatliches Recht und Völkerrecht nicht jeweils getrennten Rechtsordnungen an, sondern sind verschiedene Elemente einer einheitlichen Rechtsordnung. Nach der Lehre vom Monismus von Völkerrecht und staatlichem Recht auf der Grundlage des Primats des Völkerrechts wird angenommen, daß sich das staatliche Recht vom Völ-
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7. Teil: Zusammenfassung
kerrecht ableitet und dem Völkerrecht rangmäßig untergeordnet ist. Für die Vertreter des Primats des staatlichen Rechts geht das Völkerrecht zweifellos aus dem nationalen Recht der Staaten hervor, so daß jenem der Vorrang eingeräumt wird. I Im Rahmen dieses Beziehungszusammenhangs sind Widersprüche zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und staatlichen Regeln prinzipiell möglich; sie werden aber nicht hingenommen, sondern durch die Zurückführung des gesamten Rechts auf einen einheitlichen Geltungsgrund aufgelöst. So können Normenkonflikte zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht entweder aufgrund des Primats des Völkerrechts oder des staatlichen Rechts bereinigt werden. Die Einheit der Rechtsordnungen in Verbindung mit einem strikten Primat des Völkerrechts vertreten insbesondere Hugo Krabbe, Hermann Isay, Boris MirkineGuetzevitch, Leon Duguit, Georges SceUe. Die Verbindlichkeit des staatlichen Rechts und des Völkerrechts ist für jene auf das Rechtsbewußtsein der Individuen zurückzuführen. Daraus resultiert zugleich der Primat der völkerrechtlichen Normen, sei es wegen des größeren Umfangs des Rechtsbewußtseins der internationalen Gemeinschaft oder aufgrund eines überstaatlichen Bewußtseins, so daß die daraus entstehenden Völkerrechtsnormen den Rechtsnormen der staatlichen Gemeinschaften übergeordnet sind. Ein Widerspruch zwischen den Rechtsnormen ist zwar möglich; aber tatsächlich kann er nicht bestehen, weil sich das innerstaatliche Recht im Falle eines Konflikts dem Völkerrecht unterordnet und sich inhaltlich ändern muß, um seine Geltung nicht zu verlieren. Der Prozeß der Einheit der Rechtsordnungen kann sich soweit fortentwickeln, bis eine geordnete, überstaatliche Organisation entsteht, die alle Normen einschließt. Eine weitergehende Entwicklung hin zu einer einheitlichen Weltrechtsordnung mit der Einordnung der Einzelstaaten in eine solche weltumfassende Gemeinschaft ist für diese Gruppe der Völkerrechtswissenschaftler denkbar. Neben diesen streng monistischen Lehren, für die das Recht auf einem von soziologischen Erkenntnissen gestützten Naturrecht beruht, wird die Rechtsauffassung Hans Kelsens erörtert. Dieser sieht eine Wahlmöglichkeit zwischen dem Primat des Völkerrechts und dem des staatlichen Rechts vor, obwohl aus seinen Thesen zu folgern ist, daß er den völkerrechtsprimären Monismus vorzieht. Kelsen greift sowohl über die positivistische Willenslehre als auch über die Lehren vom Rechtsbewußtsein hinaus und führt die Bindungswirkung des Völkerrechts auf eine Grundnorm zurück. Deren Bedeutung ist es, die objektive Geltung einer positiven Rechtsordnung zu begründen. Hauptkritikpunkt an der Lehre von der Grundnorm ist das Argument, daß auf ihr die verpflichtende Kraft des Völkerrechts nicht beruhen kann; denn ebenso wie Heinrich Triepel hinsichtlich seiner Vereinbarungslehre wird auch I Analog zur Kritik bezüglich der dualistischen Rechtsordnungskonzeption steht Gustav Walz der Bezeichnung dieser Rechtsauffassung als monistische Konstruktion mit Primat des Staatsrechts ablehnend gegenüber. Aufgrund der Auflösung der Völkerrechtsnormen in die verschiedenen eigenständigen Staatsrechtsordnungen wertet er diese Lehre als "pseudomonistischen Konstruktionsversuch" und ordnet sie den pluralistischen Rechtsordnungskonzeptionen zu; G. Walz, Völkerrecht und staatliches Recht, S.lO, vgl. S.40 und S.47-49; dazu auch 4. Teil, 1. Kap. 11.2. a).
7. Teil: Zusammenfassung
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Kelsen bezüglich seiner Reinen Rechtslehre vorgeworfen, auf eine metajuristische Ebene verweisen zu müssen. Anders als der rechtslogische Monismus Kelsens besitzt die endgültige Fassung der gemäßigt monistischen Lehre von Alfred Verdross eine starke naturrechtliche Grundlage. Die Abwendung von den Grundansichten des Rechtspositivismus vollzieht er dadurch, daß er die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Völkergemeinschaft als Ursprungsgrundlage des Völkerrechts herausarbeitet. Daraus resultiert zugleich der Primat des Völkerrechts. Aus der These, daß sich das staatliche Recht nur in jenem Rahmen, den das Völkerrecht absteckt, unangefochten bewegen könne, folgt der inhaltliche Vorrang des Völkerrechts. Als entscheidend neue Erkenntnis entwickelt Verdross auf der Grundlage des Völkerrechtsprimats die Lehre eines gemäßigten Monismus, der die Konfliktmöglichkeit zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht zwar anerkennt, aber nicht von der radikalen Dominanz der Völkerrechtsnormen, sondern von der Auflösung dieser Konflikte innerhalb der Einheit des Rechtssystems ausgeht. Um die völkerrechtlichen und staatlichen Normenbereiche in einem widerspruchslosen System zu begreifen, vertritt ein anderer Teil der Monisten die Einheit der Rechtsordnungen auf der Grundlage des Primats des staatlichen Rechts. Als eine der ältesten Rechtslehren basiert sie auf der insbesondere von Georg Jellinek entwickelten Selbstverpflichtungslehre, die auf Georg W F. Hegels Begriff des "äußeren Staatsrechts" zurückgeht. Hiernach liegen die Erzeugung und die Verbindlichkeit allen Rechts allein beim souveränen Staat. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Annahme, daß der Staat logisch und zeitlich vor dem Recht existiert hat. Mit der Schaffung der staatlichen Rechtsordnung unterwirft er sich dieser und verpflichtet und berechtigt sich durch sein eigenes Recht selbst. Analoges gilt für die Verbindlichkeit des Völkerrechts, so daß jenes folglich zum äußeren Teil der staatlichen Rechtsordnung wird, welche das Verhalten der Einzelstaaten zueinander regelt. Die völkerrechtlichen Normen leiten ihren Geltungsursprung demnach aus den Gesetzessystemen der staatlichen Rechtsordnungen ab, woraus eine Vielzahl gleichgestellter Völkerrechtskreise innerhalb der staatlichen Rechtsordnungen entsteht, die das gemeinsame Völkerrecht darstellen. Aufgrund der Einheit dieser Normenkomplexe lösen sich Normenkonflikte auf. Zu den Vertretern der Lehre zählen insbesondere Karl Bergbohm, Albert Zorn, Max Wenzel und Andre Decenciere-Ferrandiere. Zum Teil- vornehmlich von Bergbohm und Wenzel- wird die Ansicht vertreten, daß sich der Staat von einer vertraglich festgelegten Verpflichtung lösen kann, sofern es der Staatszweck erfordert. Dies wird einerseits als Wesen der staatlichen Selbstverpflichtung aber andererseits zugleich als Hauptkritikpunkt an der staatsrechtsprimären Rechtsauffassung angesehen, weil auf derartige Weise kein verbindliches Völkerrecht entstehen könne. Obwohl die Bedeutung dieser Rechtsauffassung zunächst kaum erkannt wurde, erlangen ihre prinzipiellen Erkenntnisse in der Rechtsauffassung Karl Albrecht Schachtschneiders einen neuen Stellenwert. In seiner Lehre ist der Wille des Volkes im Rahmen einer freiheitlichen Verfassung das höchste Rechtsprinzip; denn alle
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7. Teil: Zusammenfassung
Staatsgewalt geht vom Volk aus (Art. 20 Abs. 2 Satz I GG). Folglich beruhen auch die völkerrechtlichen Vertrags verpflichtungen auf dem Willen des Volkes, woraus sich die Einheit des Rechts ergibt. Zugleich wird die nationale Rechtsordnung unmittelbarer Geltungsgrund des Völkerrechts und der Staat schließt die völkerrechtlichen Verträge in Vertretung des Volkes ab. Grundsätzlich resultiert daraus der Primat der staatlichen Rechtsordnung. Aber auch dem Völkerrecht ist als integraler Bestandteil der staatlichen Rechtsordnung ein solcher Vorrang einzuräumen, wenn und weil es der Wille der Völker ist. Er findet jedoch seine Begrenzung in den fundamentalen Verfassungsprinzipien der existentiellen Staaten. Damit sind die obersten nationalen Rechtsprinzipien unumstößlich verbindlich. Die Dogmatik dieses umgekehrten Monismus weist Parallelen zum staatsrechtsprimären Monismus auf; insbesondere hinsichtlich der Erkenntnis, daß das Völkerrecht als inhärenter Bestandteil des staatlichen Rechts zu werten ist. Dennoch gehen seine Aussagen in bezug auf die Geltung und den Rang des Völkerrechts über die Ergebnisse des staatsrechtsprimären Monismus hinaus. Auch die Erkenntnisse Albert Bleckmanns führen zum Ergebnis, daß Völkerrecht und staatliches Recht eine einheitliche objektive Rechtsordnung bilden. Diese entsteht aufgrund der wachsenden Interdependenzen der Individuen und der Staaten, die sich zunächst im Allgemeininteresse des Staates und schließlich im Allgemeininteresse der Staatengemeinschaft ausdrückt. Die Verbindlichkeit des Rechts führt Bleckmann weder auf die Selbstbindung der Staaten noch auf dem Willen der Völker zurück, sondern auf die Interessen und Grundrechte der Individuen, die als Rechtssubjekte in die staatliche und völkerrechtliche Gemeinschaft hineingeboren sind. Von einem unbeschränkten Primat der staatlichen Rechtsordnung kann auch in dieser Rechtsauffassung nicht ausgegangen werden; denn die Allgemeininteressen des Kollektivs sind grundSätzlich den Interessen der Individuen und der Einzelstaaten übergeordnet. Die Kontroverse zwischen den Lehren vom Dualismus und Monismus besteht bis in die Gegenwart weiter, selbst wenn sie sich gegenseitig durch die Konzeption gemäßigter Formen angenähert haben. Auch diese Entwicklung wird im Vierten Teil aufgedeckt. Darüber hinaus wird deutlich, daß das Beziehungsgefiecht der Rechtsordnungen nicht in einfache juristische Konzeptionen zusammenzufassen ist - sondern einer genauen Abgrenzung bedarf. Mittlerweile haben in der Völkerrechtswissenschaft neben dem grundlegenden dogmatischen Problem des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht auch die Fragen nach den Methoden des innerstaatlichen Vollzugs des Völkerrechts Bedeutung erlangt. Im Fünften Teil werden deshalb zunächst die Transformationslehre, die Vollzugslehre und die Adoptionslehre als grundlegende Techniken zur Einbeziehung des Völkerrechts in den nationalen Rechtsraum sowie ihr enger rechtsdogmatischer Zusammenhang zu den dualistischen und monistischen Lehren erörtert. In den einzelnen Staaten folgt man diesen verschiedenen juristischen Mechanismen, um den Völkerrechtsnormen innerstaatliche Verbindlichkeit zu ver-
7. Teil: Zusammenfassung
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schaffen; denn die Staaten gestalten ihre innerstaatliche Rechtsordnungsstruktur eigenständig, und die Art und Weise des Einbezugs des Völkerrechts in die nationale Rechtsordnung wird dem innerstaatlichen Recht überlassen. Das Völkerrecht fordert nur, daß die Befolgung der Völkerrechtsregeln im nationalen Rechtsraum sichergestellt ist. Festgestellt wird, daß die allgemeine Staatenpraxis sowohl unter der Annahme einer monistischen als auch der dualistischen Lehre ihre Rechtsordnungen dem Völkerrecht durch eine nationale Verfassungsbestimmung öffnen. In der Tat ist nach der Lehre vom Dualismus das Völkerrecht innerstaatlich nur dann verbindlich und vollziehbar, wenn dies ein entsprechender staatlicher Transformationsoder Vollzugsakt anordnet. Dagegen ermöglicht die Lehre vom Monismus prinzipiell die unmittelbare innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Bestimmungen, sofern sie höherrangigem nationalen Recht nicht widersprechen. Dessen ungeachtet sieht die Staatenpraxis auch hier eine Adoption oder einen Vollzugsbefehl zur Einbeziehung des Völkerrechts vor, selbst wenn diesen nationalen Rechtsakten aus der Sicht der Monisten lediglich deklaratorische Bedeutung beigemessen wird. Im Sinne der Lehre vom umgekehrten Monismus sind das Europäische Gemeinschaftsrecht und das Völkerrecht auf der Grundlage des Willens der Völker verbindlich, so daß sowohl die europäischen als auch die völkerrechtlichen Rechtsnormen in die jeweilige nationale Rechtsordnung integriert werden. Der Transformationsakt und der Vollzugsbefehl verlieren aufgrund der Einheit der Rechtsordnungen ihre Bedeutung. Um einen Einblick in die Praxis zu erlangen, wie die jeweiligen Staaten ihre Beziehung zum Völkerrecht ordnen, und für eine abschließende praxisbezogene Betrachtung der Lehren vom Monismus und Dualismus werden exemplarisch die grundgesetzlichen Regelungen der Bundesrepublik Deutschland zur Durchführung der Regeln des Vertrags- und Gewohnheitsvölkerrecht untersucht. Dabei ist festzustellen, daß das deutsche Verfassungsrecht keine eindeutige Aussage macht, die eine rein monistische oder dualistische Grundhaltung dokumentiert oder ausdrücklich einem speziellen juristischen Mechanismus folgt, um dem Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht innerstaatliche Verbindlichkeit zu verschaffen. So deutet die Völkerrechts lehre Art. 59 Abs. 2 GG für den Einbezug des Völkervertragsrechts überwiegend im dualistischen Sinn als Transformationsakt oder als Vollzugsbefehl. Dagegen wird Art. 25 GG als eine mit dem Monismus oder dem Dualismus zu vereinbarende innerstaatliche Öffnung gegenüber den allgemeinen Regeln des Völkerrechts bewertet. Nach der Lehre vom umgekehrten Monismus kann sowohl Art. 25 GG als auch Art. 59 Abs. 2 GG im Sinne einer Integration oder Inkorporation des Völkerrechts in die nationale Rechtsordnung auf der Grundlage des Willens des Volkes gedeutet werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgte lange Zeit der dualistischen Rechtsauffassung und der daraus resultierenden Transformationslehre; mittlerweile ist es herrschende Meinung, daß das Bundesverfassungsgericht zwar weiterhin der Lehre vom Dualismus nahesteht, jedoch Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG als nationale Rechtsanwendungsbefehle entsprechend der Vollzugslehre deutet.
346
7. Teil: Zusammenfassung
Aus den Ergebnissen des Vierten, Fünften und Sechsten Teils ist erkennbar, daß der Gegensatz zwischen Monismus und Dualismus nicht nur in den Völkerrechtslehren, sondern auch innerhalb der Staatenpraxis weiterbesteht. Allerdings haben sich die monistische und die dualistische Grundkonzeption deutlich einander angenähert. Festgestellt wird, daß sie sich nur in ihren jeweils gemäßigten Formen durchsetzen konnten, jedoch in ihren grundlegenden Aussagen zum Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht weiterhin verschiedene Positionen beziehen. Nach wie vor bleibt die Notwendigkeit bestehen, sich mit dem Wesen des Völkerrechts und seiner Beziehung zum nationalen Recht der Einzelstaaten auseinanderzusetzen. Dies erfordert vor allem die zunehmende Globalisierung der Lebensverhältnisse und die damit verbundene Internationalisierung des Rechts sowie eine wachsende Kooperation zwischen den Einzelstaaten im Rahmen der internationalen Organisationen. Insbesondere die Vereinten Nationen erlangten in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung und sind zur Grundlage der universellen Staatengemeinschaft geworden. Die Idee einer sich ausweitenden, einheitlichen Völkerrechtsordnung ist derzeit vorherrschend und zeigt zudem weltrechtliche Tendenzen auf. Die Frage nach dem Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht sollte sich demnach in erster Linie unter dem Blickwinkel des erforderlichen Zusammenhangs und der notwendigen gegenseitigen Ergänzung der Rechtsordnungen stellen. Nur dann ist eine Entwicklungsrichtung hin zur Entstehung einer Weltrechtsordnung denkbar. Allerdings kann nur der gemeinsame Konsens der Staatengemeinschaft - basierend auf dem Willen der Völker - sowie die Förderung der Einheit der Rechtsordnungen eine Weiterentwicklung des Völkerrechts in diesem Sinne ermöglichen.
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Sachwortverzeichnis Adoption 14,324,327,345 Adoptionslehre 299, 306ff., 327f., 344 bellumjustum 22ff., 196 Briand-Kellogg-Pakt 33,196 Diplomatische Verfahren 61, 340 Dualismus 80 ff. - gemäßigter 16, 119ff., 141 ff., 147, 301,332,341,344,346 - strenger 16,31, 107ff., 121, 123ff., 137ff., 144, 147,333,341 - Wesen 14,16,31,121, 128ff. Effektivitätsprinzip 209 ff., 287 Einzelwille 89 ff. Europäische Gemeinschaften - Anwendung 265f., 276ff., 287 - autonome Rechtsordnung 263f., 267f., 272f. - Charta der Grundrechte 274 - Durchsetzung 66f., 268, 280, 287 - Europäische Union 37ff., 41, 46f., 267ff., 314, 331, 336, 339 - Europäischer Gerichtshof 66 f., 263 ff., 280 - Geltung 263ff., 273f., 276, 279, 281, 283, 326f., 330f. - Geltungsgrund 267,273,279,284, 287,326,330 - Geltungsursprung siehe Geltungsgrund - Gemeinschaftsrecht 13,15,43,261 ff., 325 ff., 330, 345 - Gründungsverträge 13,261 ff., 331 - Rang 263 ff., 274 ff. - Ratifikation 269,274 - Rechtsakte 262,267,279 - Rechtsetzungsbefugnis 262 - Rechtsnatur 13,261,263,280,285 - Rechtsprechung 66 f.
- Supranationalität 262f., 266, 290 - Verbindlichkeit 266ff., 280, 283, 325ff., 330ff., 345 - Vollzug 280 - Währungsunion 38, 274 - Zwangsausübung 280, 282 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 67 Europarecht siehe Europäische Gemeinschaften Freiheit der Meere 25, 42, 78 Freiheitsprinzip 268ff., 278f., 280ff., 294f., 325ff., 338, 343 Frieden 34,37,78, 116f., 146f., 239ff., 278,297,336,339 siehe Weltfrieden und Vereinte Nationen Gegenseitigkeit siehe Reziprozität Gemeinschaftsgebundenheit 142 Gemeinwille 31, 89ff., 121, 142,201, 248,341 Gleichheit der Staaten 78, 286 siehe Vereinte Nationen Globalisierung 38, 336f., 346 Grundnorm 118ff., 141, 177ff., 230ff., 239ff., 292f., 342 Haager Friedenskonferenz 30, 62f., 116 International Labour Organization 41 Internationale Gerechtigkeit 231 Internationale Gerichtsbarkeit 63 ff., 290, 337,340 Internationale Schiedsgerichtsbarkeit 29, 62f., 70, 74, 150, 240ff., 340 Internationale Sicherheit 71 Internationaler Seegerichtshof 67,337 Internationaler Strafgerichtshof 67,337 Internationaler Währungsfond 41
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Sachwortverzeichnis
Internationalisierung 19, 81, 336, 346 ius ad bellum 25,32 ius civile 21 ius gentium 20ff.,339 ius gentium voluntarium 27 ius inter gentes 22 ius publicum civitatum 53 ius publicum europaeum 25 kategorischer Imperativ 54, 269 Koexistenz 35 Konflikte - zwischen Völkerrecht und Gemeinschaftsrecht 276ff.,327 - zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht 14ff., 79ff., 111 f., 122f., 126, 137ff., 144, 161 ff., 169, 173ff., 202ff., 233, 242ff., 245, 256ff., 313, 327, 332, 341 ff. Kriegsrecht 22, 24ff., 29, 32ff., 52f., 68, 70,146, 195ff., 247, 339 Lotus-Fall 59 f. Majoritätsprinzip 154 ff. Meistbegünstigung 40, 287 Menschenrechte 33,35 ff., 43, 47,60,311, 339 Monismus 107,124,127,144, 146ff. - gemäßigter 17,205, 243f., 324, 332f., 343f.,346 - mit Primat des staatlichen Rechts 131,194, 205ff., 225ff., 245ff., 283, 342ff. - mit Primat des Völkerrechts 17, 107, 120,131,136,144, 147ff., 152ff., 170ff., 194,205, 209ff., 227ff., 291, 332f., 341 ff. - radikaler siehe strenger - strenger 17,194,333 - umgekehrter 18,261 ff., 278ff., 294, 325ff., 337, 344f. - ursprünglicher 150 f. - Vorläufer 151 - Wesen 14, 16ff., 31, 128ff.
NATO 285 Naturrechtslehre 23f., 26ff., 30f., 77, 79, 142,158,183, 190f., 223, 226, 235, 239ff., 245 ff., 254, 294, 339, 342f. Nothilfe 71 Notwehr 71 Objektivismus 165 ff., 171 ff. Obrigkeitsstaat 152 ff. pacta sunt servanda 56,60, 117ff., 141, 198, 2IOf., 221 f., 233 ff., 240ff., 248ff., 257,282,286,293 Rechtsanwendungsbefehl 264 ff., 273 f., 284,302 ff., 318, 321, 325f., 329ff., 345 siehe Vollzugsbefehl Rechtsbewußtsein 78, 152ff., 161 ff., 165 ff., 239 ff. - Individuen 153ff., 166ff., 173f., 183, 342 - international 167f., 174,342 - Staaten 141 ff., 170 ff., 222 f., 252, 342 - weltumgreifend 158 f. Rechtserfahrung 132ff., 233ff., 244 Rechtspositivismus 27f., 30f., 77, 79f., 121,142,144,158, 178ff., 223, 225f., 238 ff., 245, 342f. Rechtssouveränität 153 ff. Rechtsstaat 155 ff. Reine Rechtslehre 176ff., 226, 343 Repressalie 52,71 f., 195 ff., 286 Res iudicata 231 Retorsion 52,71,286 Rezeption 99ff., 123ff., 162,327 Reziprozität 40,56,60,71, 286f. Schiedsklausel 63 Schiedsvertrag 63 Seerecht 26, 29, 35, 76 Selbstbestimmungsrecht 33,37,78,116, 268 f., 282 f., 339 Selbsthilfemaßnahmen 69 ff., 196 f., 286, 340 Selbstverpflichtungslehre 93,121, 207f., 248ff., 260, 283, 292ff., 343f. self-executing 304, 312 Solange lI-Entscheidung 265,330
Sachwortverzeichnis Souveränität - des Individuums 292 - des Rechts 191 ff., 211 ff. - des Staates 29,31 f., 35,43,46, 49f., 58,83,139, 146f., 153ff., 165, 168ff., 191, 207ff., 227, 232, 246ff., 266, 272ff., 292f., 297, 333, 339, 343 Staatengemeinschaft 20,22, 54f., 88, 117f., 142, 147f., 151, 167, 170, 174ff., 196,227,244,255 f., 261,290,333,337, 339f., 344, 346 Staatenpraxis 31, 58, 63, 113, 133 f., 140, 145,162,236,238,240,299,301,333, 336,345f. Staatlichkeit - existentielle 57,73,271 ff., 325, 344 - funktionale 270ff. Ständiger Internationaler Gerichtshof 32,64,140,146 Ständiger Internationaler Strafgerichtshof 67ff. Ständiger Schiedshof 62 Strafgerichte für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda 67, 337 Streitbeilegungsverfahren 33,51, 60ff. Stufenaufbau der Rechtsordnungen 186ff., 199ff., 230ff., 241, 317 Transformation 102, 109ff., 124ff., 129, 134ff., 142f., 156, 162, 169, 175,212, 264ff., 284, 291, 322ff., 328f., 335, 341 - Akt 14,16,111,160, 3OOff., 317, 319f., 324f., 327, 329, 345 - Lehre llOff.,134,299ff.,317ff., 328ff., 335, 344f. Treu und Glauben (bona fides) 56,60, 231,286 UN-Charta siehe Vereinte Nationen Urteil von Maastricht 265,267,271,274, 277,330f. Vereinbarungslehre 91 ff., 201, 292, 341 f. Vereinte Nationen 14,41 f., 44, 46f., 75 f., 285,336,339,346 - Charta 35, 51, 270 - Durchsetzung des Völkerrechts 33, 70, 197
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- Friedenssicherung 33f., 37, 72, 196f. Gewaltverbot 33f., 60, 70ff., 196 Grundsatz der souveränen Gleichheit 33,37,43,50,78,286 - Gründung 33 - International Law Commission 77 - Internationaler Gerichtshof 33, 51, 63ff., 72f., 74f., 242 - Schiedsgerichtsbarkeit 63 - Selbstbestimmungsrecht 33, 269 - Sicherheitsrat 64, 69 ff., 197 - Streitbeilegungsverfahren 60 - System der kollektiven Sicherheit 34, 72f., 340 Verhältnis zwischen Europarecht und staatlichem Recht 15,261 ff., 282f., 287, 325 ff., 328 ff. Verhältnis zwischen Völkerrecht und staatlichemRecht 14, 79ff., 103ff., 137ff., 142ff., 149ff., 160, 162, 164, 169ff., 179,187,191 ff., 200ff., 216f., 221, 227ff., 236ff., 245f., 250ff., 258ff., 282ff., 296ff., 3OOff., 319, 325ff., 328ff., 332ff., 339ff. - Beziehungsmöglichkeiten 128 ff. - Delegationszusammenhang 136,211, 217,221,234ff. - Koordinationsverhältnis 104, 192 - pluralistische Rechtsordnungskonzeption 129ff., 208, 217f., 227, 259, 341 - Über-/Unterordnungsverhältnis 104 ff. Vertrag von Amsterdam 37 f. Vertrag von Maastricht 37 f. Vertrag von Nizza 37,39 Verweisung 99ff., 123ff., 145, 254f. Völkerbund 46,116,168,175 - Gründung 32, 146f. Völkergewohnheitsrecht siehe Völkerrecht Völkerrecht - allgemeine Rechtsgrundsätze 14,75ff., 140,162,236, 239ff., 291, 308f., 340, 343 - allgemeines 64,70,77,95, 162, 198, 206,210,286,300, 308ff., 317, 319, 321,329
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Sachwortverzeichnis
- Anwendung 14ff., 63, 102f., 113f., 126f., 212, 284, 287, 290, 294, 296ff., 301 ff., 319, 322ff., 334, 341, 345 - Auslegung 63,65, 113 f., 301, 303, 307 - äußeres Staatsrecht 49, 207f., 246ff., 259ff., 283, 293f., 343 - Begriff 45 ff., 149, 175,340 - Durchsetzung 33,50, 56f., 59ff., 73f., 106,153,174,181, 197f., 242f., 286f., 290f., 324, 336f., 340, 345 Entwicklung 14, 19ff., 47, 49, 57, 336ff. - Geltung 14ff., 30, 47, 75ff., 93ff., 108ff., 117ff., 132ff., 142ff., 150, 152ff., 168ff., 179, 200ff., 230, 242, 255ff., 281 ff., 290, 296ff., 301, 303ff., 317,319, 322ff., 330f., 334f., 337, 341 f., 344f. - GeItungsgrund 14ff.,27f.,30f.,59,75, 79ff., 95ff., 117ff., 141 ff., 153ff., 177ff., 201, 207ff., 234ff., 246ff., 249, 252ff., 256, 259, 283f., 287, 300ff., 317,323, 325f., 330f., 341 ff. siehe Rechtsquelle - Geltungsursprung siehe GeItungsgrund - genossenschaftliches Recht 54 ff., 87 - Gewohnheitsrecht 14,23,28, 75ff., 96, 112, 124f., 142, 157, 162, 197f., 208ff., 221 ff., 228, 231, 236f., 240f., 252f., 290,292,299,303,306, 308ff., 319, 323,337, 340f., 345 - intersoziales Recht 167 ff., 172 ff. ius cogens 76 ff., 337, 341 - ius dispositivum 76ff.,341 - Judikatur und Lehre 75,340 - Kompetenzrecht 291 - Konsensprinzip 54, 56, 58, 64, 73, 78, 340 - Kooperationsrecht 35,289,291 - Koordinationsrecht 47ff.,340 - Leugner 47ff. - objektives Recht 90 ff., 129 f., 169 ff. - . öffentliches Recht 14, 53 - partikuläres 75f., 95,198,210,290, 310,340
- positives Recht 23f., 27f., 30f., 77, 132,136,158, 170ff., 210, 229, 231 ff., 244,261 - Rang 15, 17f., 79,112,150, 160ff., 163, 169ff., 172, 176, 199,232,243, 247, 258f., 284, 290, 294, 298, 300, 303, 310,312,317 f., 329, 332, 334, 336, 338, 342 ff. siehe Monismus mit Primat des staatlichen Rechts bzw. des Völkerrechts - Ratifikation 69,264,274,317,322 - Rechtscharakter 15,31, 47ff., 59ff., 74, 79ff., 96ff., 132f., 140, 153, 156, 172 f., 195 ff., 252, 339 f. - Rechtsnatur siehe Rechtscharakter - Rechtsprechungsstandard 290 - Rechtsquelle 74 ff., 84 ff., 98 ff., 149 f., 161 ff., 199ff., 227, 230ff., 292, 300, 323,341 siehe Geltungsgrund regionales 290, 310 - soft law 74 - Subordinationsrecht 47ff.,340 - supranationales Recht 155 ff. - universelles 75 ff., 290, 340 - Verbindlichkeit 47ff., 83, 88ff., 118, 133f., 137ff., 142, 150, 153, 156, 160, 195ff., 200, 208f., 247ff., 252, 254ff., 260f., 280ff., 291 ff., 298ff., 301 ff., 307,310, 315f., 319f., 324ff., 329ff., 335, 340ff. - Verletzung 59 ff., 67 f., 71 f., 83, 112, 122,136,144,243, 257f., 286 - Vertrag 23f.,90ff., 113,117,146,197, 208ff., 227ff., 236f., 240f., 247ff., 253ff., 281 ff., 292f., 296, 301, 306, 314ff., 322f., 326, 329, 339, 344 - Vertragsrecht 21,23 f., 28, 75 ff., 81 ff., 90ff., 112, 142, 157, 162, 198f., 223, 229,237,240,252,290, 299f., 303, 307, 308,310, 318f., 323, 337, 340f., 345 Vollzug 73f., 197,290, 296ff., 301, 304,312, 314ff., 322ff., 333, 340, 344f. - Zwang 48ff., 59ff., 73f., 96ff., 153, 168,181 f., 195ff., 217, 282, 324, 340 Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes 297 f.
Sachwortverzeichnis Völkerrechtsgemeinschaft 19,23,76,88, 114,143,147,157,235,244,255,284, 288ff. Völkerrechtsnormen - Arten 74ff., 97ff., 340 - Erzeugung 74ff., 88ff., 96f., 118, 157, 197,208,249(,256,260,283,340,343 Völkerrechtspersönlichkeit siehe Völkerrechtssubjektivität Völkerrechtssubjektivität 45 ff., 50, 122, 125,132, 135f., 142, 149, 156, 166ff., 175, 2ooff., 245, 281, 294ff., 309ff., 319,344 Völkerrechtsverfassung 230ff.,243 Vollzugsbefehl 14,16,267, 303ff., 317, 319ff., 330, 335, 345 siehe Rechtsanwendungsbefehl
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Vollzugslehre 264f., 273, 299, 302ff., 317f., 320ff., 328ff., 335, 344f. Weltbank 41 Weltfrieden 33, 70ff., 339 Weltgesundheitsorganisation 285 Weltmarkt 337 Weltrecht 21,36, 43f., 51, 64, 67, 73, 159ff., 174ff., 217, 244, 260, 288, 291, 337,342,346 Weltstaat 21,51, 158ff., 170,217(, 336f. Wiener Kongreß 25, 28f., 93 Wiener Schule 178, 219 Wiener Vertragsrechtskonvention 77 f., 286 WTO 39ff., 41, 43f., 51, 285 - Panel-Verfahren 65 f.