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German Pages 333 [336] Year 2007
Florian Finck Platons Begründung der Seele im absoluten Denken
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Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler
Band 76
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Platons Begründung der Seele im absoluten Denken von
Florian Finck
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019563-7 ISSN 0344-8142 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Ursula Finck Wolfgang Finck
Vorwort Das vorliegende Buch wurde im Wintersemester 2005/06 unter dem Titel Das absolute Denken als Prinzip des Menschen: Platons Konzeption der ” Seele“ bei der Philosophischen Fakult¨ at der Universit¨ at Freiburg als Dissertation eingereicht. Das Buch w¨ are nicht entstanden ohne die vielfache Unterst¨ utzung, die ich w¨ ahrend des Schreibens erfahren habe. Mein Dank gilt allen Teilnehmern des Colloquium Platonicum an der Universit¨ at Freiburg. Viele der im Folgenden behandelten Themen haben wir im Laufe der Zeit gemeinsam diskutiert. Mehrfach hatte ich Gelegenheit, Teile der Arbeit in diesem Rahmen vorzustellen. F¨ ur die Hilfe bei den Korrekturen danke ich Hannah Grosse-Wiesmann, Sandra Hesse, Katja Huber, Ulrich Keiser, Edwin Johannes de Sterke und Ansgar Vaut. Natalia Pedrique hat schwierige Textstellen mit mir diskutiert. Michael Spieker danke ich f¨ ur Zuspruch und Kritik – beides war eines guten Freundes w¨ urdig. F¨ ur die Wissensvermittlung innerhalb und außerhalb curricularer Veranstaltungen m¨ ochte ich Bernhard Uhde und Bruno Haas danken. HansHelmuth Gander und Bernhard Zimmermann danke ich f¨ ur ihre gutachterliche T¨ atigkeit. Mein besonderer Dank gilt Friedrich A. Uehlein. Unter seiner Anleitung habe ich in langen Jahren enger Zusammenarbeit die antike Philosophie und besonders Platon studiert. In seinem Unterricht sind die antiken Texte lebendig geworden. Es w¨ are mir eine große Freude, wenn man diese Lebendigkeit auch in dem vorliegenden Buche noch sp¨ uren k¨ onnte. Der Landesgraduiertenf¨ orderung des Landes Baden-W¨ urttemberg danke ich f¨ ur die finanzielle Unterst¨ utzung. J¨ urgen Mittelstraß, Dominik Perler und Jens Halfwassen gilt mein Dank f¨ ur die Aufnahme des Buches in die Reihe Quellen und Studien zur Philosophie“. ” Mai 2007
Florian Finck
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1 Die Einf¨ uhrung der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1.1 Aporien der Nicht-Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 L¨ osung der Aporien durch Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem in der Zweiten Fahrt . . . . . . . . .
11
2 Die Charakterisierung der Ideen . . . . . . . . . . . . . . .
31
2.1 Sein als Bestimmt-Sein: Politeia 476e-477a . . . . . . . . . 2.2 Die Unver¨ anderlichkeit der Ideen . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Denkbarkeit der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 38 41
3 Die Charakterisierung der Instanzen
7
. . . . .
47
4 Die Verflechtung der Ideen im Sophistes . . . . . . . . . .
67
4.1 Das Problem der vielfachen Benennung . . . . . . . . . . . 4.2 Die Dialektik als Wissenschaft von den Relationen der Bestimmtheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Bedeutungsverschiebung der Schl¨ usselbegriffe . . . . . 4.4 Die Bestimmung der Bewegung“ . . . . . . . . . . . . . . ” 4.5 Die Funktion der gr¨ oßten Gattungen . . . . . . . . . . . . 4.6 Die Bedeutung der Ideenverflechtung f¨ ur die Instanzen . .
67
3.1 3.2 3.3 3.4
Instanzen zwischen Sein und Das Werden der Instanzen . Die Sch¨ onheit der Instanzen Die Mitursache des Werdens
. . Nicht-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
5 Die Abwehr von Missverst¨andnissen: Parmenides 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . Zum Status der Kritik an der Ideenlehre im Parmenides Sokrates’ Einf¨ uhrung der Ideen im Parmenides . . . . . Parmenides 130b-130d: Wovon gibt es Ideen? . . . . . . Parmenides 130e-131e: Idee als Segeltuch“ . . . . . . . ” Parmenides 131e-132b: der Dritte Mensch“ (1) . . . . . ” Parmenides 132b-132c: Idee als Gedachtes“ . . . . . . . ” Parmenides 132c-133a: der Dritte Mensch“ (2) . . . . . ”
. . . . . . . .
47 50 58 62
72 75 78 89 93
99 99 101 104 106 111 114 117
x
Inhaltsverzeichnis
5.8 Parmenides 133a-134e: die Trennung“ . . . . . . . . . . . ” 6 Die Erkenntnis der Ideen: Siebter Brief . . . . . . . . . . 6.1 Zur Echtheit des Briefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zum Kontext des philosophischen Exkurses: Siebter Brief 341a-342a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Erkenntnismittel: Siebter Brief 342a-342d . . . . . . . 6.4 Die Defizienz der Erkenntnismittel: Siebter Brief 342e-343d 6.5 Die philosophische Erkenntnis: Siebter Brief 343e-344b . .
7 Die Wiedererinnerungslehre im Phaidon: 72e-77a
. . . . 7.1 Die Wiedererinnerung als Subsumtion: Phaidon 73c1-74a1 7.2 Das vorgeburtliche Ideenwissen: Phaidon 74a1-75d3 . . . . 7.3 Die Formen des Ideenwissens: Phaidon 75d3-77a5 . . . . .
119
123 123 127 137 144 157
169 169 174 181
8 Zum Zusammenhang zwischen Tugend und Wissen . . . 185 8.1 Wahrnehmen, Meinen und Wissen . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Begehrendes, eifriges und denkendes Seelenverm¨ ogen . . . 8.3 Die menschliche Tugend nach Politeia IV 427d-434c, 441c442d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Exkurs zur Einheit von Theorie und Praxis im sokratischen Dialog: Laches 187e-189a . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 193 202 227
9 Zur Platonischen Angleichung an Gott . . . . . . . . . . . 243 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7
Theaitetos 176af. . . . . . . . . . . . . Symposion 207e-209e . . . . . . . . . . Phaidros 252d-253c . . . . . . . . . . . Politeia 383c, 500cf., 613af. . . . . . . Timaios 90b-d . . . . . . . . . . . . . . Nomoi 716c . . . . . . . . . . . . . . . Zum Gottesbegriff der Angleichung an ”
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott“
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
243 247 250 252 255 259 262
10 Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens . . . . . . . 265 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7
Welches Problem soll die Annahme von Seele l¨ osen? . . . . 265 Die Lehre der Atheisten: Nomoi 888d-892d . . . . . . . . . 269 Die Seele als Selbstbewegung: Nomoi 893b-896d . . . . . . 276 Die Seele als vern¨ unftige Selbstbewegung: Nomoi 896d-898d 280 Das Denken der g¨ ottlichen Vernunft . . . . . . . . . . . . . 284 Die Seele als Abbild der g¨ ottlichen Vernunft . . . . . . . . 288 Die menschliche Seele als Abbild der g¨ ottlichen Vernunft . 295
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Literatur
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Einleitung Platon spricht an verschiedenen Stellen davon, dass Seele und Ideen miteinander verwandt“ seien. Hier stellt sich die Frage, ob wir es bei dieser ” Behauptung mit der begrifflichen Bestimmung eines Verh¨ altnisses oder eher mit einem Rest mythischer Sprechweise zu tun haben. Von solchen mythischen Verwandtschaftsverh¨ altnissen spricht schließlich nicht nur Hesiod in seiner Theogonie, sondern auch Platon im Symposion, wo er den Eros auf Poros und Penia zur¨ uckf¨ uhrt. Aber schon der Verweis auf die Genealogie des Eros zeigt, dass mythische Ankl¨ ange bei Platon keineswegs unbegrifflich sind. Von daher ist es geboten, Platons Formulierung ernst zu nehmen und nach einer philosophischen Erkl¨ arung zu suchen. Die Gr¨ unde, die Platon f¨ ur die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen angibt, scheinen zun¨ achst keine Hilfe zu sein: Platon begr¨ undet seine Behauptung im Phaidon durch den Hinweis, dass sowohl Seele als auch Ideen unsichtbar sind. Das Kriterium der Sichtbarkeit scheint aber auf eine der Sache eher ¨ außerliche Koinzidenz hinzuweisen. Wenn bloße Unsichtbarkeit schon ein Verwandtschaftsverh¨ altnis begr¨ undet, dann – so ist zu vermuten – handelt es sich bei Seele und Ideen wohl eher um entfernte Verwandte. Platon gibt uns im Phaidon aber auch noch eine andere Begr¨ undung f¨ ur die Verwandtschaft, dass n¨ amlich die Seele Ideen denkt oder wenigstens danach strebt, solches zu tun. Mit diesem Hinweis scheinen wir der Sache schon etwas n¨ aher zu kommen, handelt es sich bei den Ideen doch wesentlich um Denkbares, w¨ ahrend Seele etwas mit dem menschlichen Denkverm¨ ogen zu tun hat. Mitunter scheint es sogar, als w¨ urde Platon beides miteinander identifizieren. In diesem Zusammenhang w¨ are es schon eher plausibel, von einer Verwandtschaft“ zu sprechen, n¨ amlich derjeni” gen zwischen dem Denkverm¨ ogen und seinen Gegenst¨ anden. Aber auch diese Erkl¨ arung l¨ asst offen, warum das Verh¨ altnis eines Denkverm¨ ogens zu den denkbaren Gegenst¨ anden vergleichbar sein soll mit demjenigen von Eltern zu ihren Kindern oder von Geschwistern untereinander. Die Rede von der Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen ist noch erstaunlicher, wenn wir bedenken, dass Platon die Ideen ewig und unver¨ anderlich konzipiert, w¨ahrend er die Seele nicht nur f¨ ur etwas Bewegtes h¨ alt, sondern sie im Phaidros und in den Nomoi sogar als Selbstbewegung“ versteht. Vom ”
2
Einleitung
Aspekt der Bewegung her betrachtet, scheinen Seele und Ideen ¨ außerste Gegens¨ atze zu bilden. Um unserer Frage auf den Grund zu gehen, reicht es nicht, die fragli¨ chen Textstellen zu vergleichen und oberfl¨ achlich Ubereinstimmungen und Unterschiede zu konstatieren. Um das Verh¨ altnis von Seele und Ideen zu bestimmen, empfiehlt es sich statt dessen, Sokrates’ Methode im Phaidon zu folgen: Insgesamt n¨ amlich ist es n¨ otig, von Werden und Vergehen die ” Ursache zu behandeln“ (95e8f.). Nach einer verbreiteten Auffassung hat Platon die unver¨ anderlichen Ideen postuliert, weil sich in der werdenden Welt keine unver¨ anderlichen Gegenst¨ ande finden, die sichere Erkenntnis zuließen. Platons Ideenphilosophie sei demnach als eine Flucht vor der Unbest¨ andigkeit des Werdenden zu interpretieren. Dieser Auffassung liegt die richtige Einsicht zugrunde, dass Platon die radikale Ver¨ anderlichkeit der Welt ernst nimmt. Sein philosophisches Projekt besteht aber nicht darin, sich in eine unver¨ anderliche Hinterwelt zu fl¨ uchten. Seine Frage ist vielmehr: Wie sind Erkenntnis und Handeln in einer ver¨ anderlichen Welt m¨ oglich? Platons grundlegende Einsicht besteht darin, dass ein ver¨ anderliches Ding zwar jetzt so und im n¨ achsten Moment anders bestimmt sein mag, dass die jeweilige Bestimmtheit aber unver¨ anderlich ist. Ein Goldschmied mag aus einer goldenen Kugel einen goldenen W¨ urfel formen, aber die Bestimmtheiten des Kugel-Seins bzw. W¨ urfel-Seins bleiben dieselben. Die Platonischen Ideen sind nichts anderes als diese Bestimmtheiten. Diese Konzeption des Werdenden erm¨ oglicht es uns, die Ver¨ anderlichkeit des Werdenden als Wechsel seiner Bestimmtheit zu verstehen. Wir k¨ onnen damit nicht nur das Werdende in seiner Ver¨ anderlichkeit richtig unterscheiden, sondern auch seine jeweilige Bestimmtheit festhalten und erkennen. Die Bewegung des Werdenden ist stets eine bestimmte Bewegung. Die Bestimmtheit der Bewegung erkl¨ art Platon durch die Ideen. Damit ist zwar die Bestimmtheit des Bewegten erkl¨ art, aber noch nicht seine Bewegung. Platon f¨ uhrt die Bewegung auf ein Prinzip zur¨ uck: die Selbstbewegung. Die Selbstbewegung bezeichnet Platon als Seele“. So” fern es sich bei der Bewegung um die kosmische Bewegung u ¨berhaupt handelt, ist ihr Prinzip die so genannte Weltseele. Die Bewegung der einzelnen Lebewesen erkl¨ art Platon ebenfalls durch Selbstbewegung; in diesem Zusammenhang geht es aber um die Einzelseele. Platon nimmt die geordnete Bewegung des Kosmos nicht einfach als etwas Gegebenes hin, sondern f¨ uhrt sie auf das Prinzip einer Seele zur¨ uck, die die Ideen im Denken erkennen und als Ordnungsstrukturen in der werdenden Welt hervorbringen kann. Auch das menschliche Verm¨ogen zu erkennen und zu handeln erkl¨ art Platon durch das Prinzip der Selbstbewegung. Erkennen ist eine seelische Leistung, die bei der reinen sinnlichen Empfindung an-
Einleitung
3
f¨ angt und auf die Erkenntnis der Ideen im Denken zielt. Beim Handeln geht es darum, die Tugendbestimmungen des Menschen im Lebensvollzug zu verwirklichen. Um die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen zu verstehen, m¨ ussen wir die Seinsweise der Ideen n¨ aher betrachten. Dabei wird es sich zeigen, dass die Ideen zwar unver¨ anderlich, aber nicht unbewegt sind. Die Bewegung der Ideen besteht darin, dass sie sich voneinander differenzieren und in bestimmte Verh¨ altnisse zueinander treten. Diese Entfaltung der denkbaren Bestimmtheiten werden wir als ein vollkommen differenziertes Denken dessen erweisen, was u oglich ist. Wenn wir so¨berhaupt seinsm¨ wohl von diesem Denken als auch von der Seele als Bewegung“ sprechen, ” dann handelt es sich dabei nicht um zwei verschiedene Sachen, die wir mit demselben Wort bezeichnen. In beiden F¨ allen ist die Bewegung als Hervorbringung von Bestimmtheiten zu verstehen. Im ersten Falle handelt es sich um die außerzeitliche Hervorbringung der Bestimmtheiten selbst, im zweiten um die zeitliche Hervorbringung der Bestimmtheiten in den werdenden Dingen. Seele erweist sich damit als ein zeitliches Abbild von jenem Denken, das die Seinsweise der Ideen charakterisiert. Aus diesem Gedanken heraus erkl¨ art sich die Verwandtschaft“ zwischen Seele und ” Ideen: Seele ist zwar Prinzip zeitlicher Bewegung, aber als solches ist sie nicht der erste Ursprung von allem. Das Prinzip zeitlicher Bewegung ist seinerseits abh¨ angig von den durch die Ideen garantierten Seinsm¨ oglichkeiten. Dieses Abh¨ angigkeitsverh¨ altnis erkl¨ art die Abk¨ unftigkeit der Seele von den Ideen. Im Folgenden werden wir diesen Gedanken von Grund auf entwickeln. Die ersten vier Kapitel entfalten die Platonische Ideenlehre. Im ersten Kapitel werden die Ideen eingef¨ uhrt. Das zweite Kapitel entfaltet ihre wichtigsten Charakteristika. Das dritte Kapitel soll die Bedeutung der Ideenannahme f¨ ur das Werden kl¨ aren, w¨ ahrend Kapitel vier das Verh¨ altnis der Ideen zueinander betrachtet. Gegen diese und andere Interpretationen der Ideenlehre ließe sich ein Einwand erheben: Platon kritisiert die Ideenannahme im ersten Teil des Parmenides. Im f¨ unften Kapitel zeigen wir aber, dass die Aporien des Parmenides nicht als Selbstkritik Platons, sondern als Abwehr von Missverst¨ andnissen zu verstehen sind. Gegenstand des sechsten Kapitels ist die Erkenntnis der Ideen. Dabei zeigt sich eine gewisse Verwandtschaft zwischen Erkennendem und der erkannten Sache als Erkenntnisvoraussetzung. Die beiden folgenden Kapitel gehen auf diese Erkenntnisvoraussetzung genauer ein: Im siebten Kapitel geht es um das epistemische, im achten Kapitel um das praktische Verh¨ altnis der Seele zu den Ideen. W¨ ahrend das Ziel des Erkenntnisstrebens darin besteht, die Ideen zu denken, geht es in der Praxis um die Verwirklichung der Tugendideen im Lebensvollzug. Theorie und Praxis erweisen sich im
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Einleitung
neunten Kapitel als zwei Seiten dessen, was Platon als Angleichung an ” Gott“ bezeichnet, wobei der Gott, von dem hier die Rede ist, mit der Gesamtheit der Ideen zu identifizieren ist. Auf dieser Grundlage k¨ onnen wir im zehnten Kapitel die Bestimmung der Seele ausf¨ uhren. Die Forschungsliteratur ist umfangreich. Allein die Kommentare zu denjenigen Dialogen, in denen das Problem der Seele ausf¨ uhrlich er¨ ortert wird, ist kaum u are ¨berschaubar. Die Hervorhebung einzelner Arbeiten w¨ willk¨ urlich. Die Untersuchungen speziell zur Seele beschr¨ anken sich teils auf einen bestimmten Aspekt, z. B. die ausgezeichnete Arbeit von Graeser (1969) zur Frage der Seelenteilung, teils versuchen sie, die Seelenlehre insgesamt darzustellen, so z. B. Robinson (1970). Andere Studien zielen eher darauf, Platons Konzeption der Seele auf einen Begriff zu bringen. Als Beispiele hierf¨ ur seien Steiner (1992b) und Szlez´ ak (2005) genannt. Steiner ber¨ ucksichtigt in seiner Interpretation besonders die Bedeutung ¨ der Dialogform. Szlez´ ak weist auf Widerspr¨ uche in Platons Außerungen u ahrend Robinson (1970) dieses Problem entwicklungsge¨ber Seele hin. W¨ schichtlich l¨ osen will, schl¨ agt Szlez´ ak eine andere Interpretation vor. Seiner Ansicht nach sind die Dialoge hinsichtlich ihres dogmatischen Gehalts nicht autark“ 1 . Trotz der unterschiedlichen Ans¨ atze ber¨ uhren sich die In” terpretationen von Steiner und Szlez´ ak in einem entscheidenden Punkt: Beide verstehen Seele ihrem Wesen nach als Vermittlung“. Steiner (1992b, ” S. 176) versteht Seele als Vermittlung aller Gegens¨ atze“, d. i. nicht nur von ” Idee und Einzelnem, sondern auch etwa als Vermittlung von Denken und Begehren im Eifer. 2 Szlez´ak (2005, S. 79) fasst diesen Gedanken enger und sieht die Funktion der Seele vor allem in der Vermittlung zwischen dem Guten und der , zwischen den Ideen und der sinnlichen Welt. Bei allen Unterschieden in der Ausf¨ uhrung stimmt die vorliegende Arbeit in diesem zentralen Punkt mit den genannten Interpretationen u ¨ber¨ ein. Mit Steiner (1992b) teilt sie die Uberzeugung, dass die Dialogform der Sache nicht ¨ außerlich ist und Platons Schriften in ihrem philosophischen Gehalt selbst¨ andig sind. Die verschiedenen Texte erl¨ autern einander wechselseitig, aber in ihrer Gesamtheit sind sie aus sich heraus verst¨ and¨ lich. Wir bed¨ urfen zu ihrer Interpretation keiner indirekten Uberlieferung von Platons Lehrmeinungen. Hinsichtlich des Verh¨ altnisses von Seele und Ideen stimmt die vorliegende Arbeit mit Szlez´ ak u uhrt aus: ¨berein. Er f¨ Bewegung und Erkennen [. . . ] sind zwei abgeleitete Formen der Teilhabe ” an der des Geistes, die Erkennen ist (Soph. 248dff.).“ 3 Bei Szlez´ak bleibt allerdings ein wichtiges Problem ungel¨ ost. Wie l¨ asst es sich im Rahmen des Sophistes erkl¨ aren, dass den Ideen zukommt? In der 1 2 3
Szlez´ ak (2005, S. 75). Vgl. dazu Steiner (1992b, S. 156-60). Szlez´ ak (2005, S. 79).
Einleitung
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vorliegenden Arbeit wird dieser Gedanke ausgef¨ uhrt. Im Folgenden werden wir allein aus Platons Schriften heraus die Konzeption der Seele als ein zeitliches Abbild des zeitenthobenen Denkens der Ideen entfalten. Wir werden also versuchen, einen einheitlichen Begriff von Seele anzugeben. Der Gedankengang ist dabei nicht nach einzelnen Dialogen geordnet, die dann der Reihe nach interpretiert w¨ urden, sondern er folgt – soweit m¨ oglich – einer systematischen Ordnung. Durch die Entfaltung der Ideenlehre ¨ und die Einbeziehung der theoretischen und praktischen Uberlegungen Platons wird die Seelenlehre nicht isoliert, sondern im Zusammenhang der Platonischen Philosophie insgesamt entwickelt. 4
4
¨ Sofern nichts Gegenteiliges vermerkt ist, sind die Ubersetzungen vom Verfasser, wobei ¨ in vielen F¨ allen die Ubersetzung in Eigler (1990) als Vorlage benutzt wurde. Der griechische Text und die Angabe von Platon-Stellen folgen Eigler (1990). Innerhalb ¨ von Ubersetzungen wird die griechische Formulierung in (. . . ) angegeben. Eingriffe in Zitate sind durch [. . . ] gekennzeichnet.
1 Die Einfu ¨hrung der Ideen 1.1 Aporien der Nicht-Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem Platon unterscheidet Ideen und Einzeldinge. Die Einzeldinge sind Instanzen der Ideen. Wie kommt Platon u ¨berhaupt zu der Unterscheidung von Instanzen und Ideen? Im Hippias Maior 1 (286cf.) berichtet Sokrates wie er unl¨ angst einiges als h¨ asslich getadelt und anderes als sch¨ on gelobt habe. Daraufhin sei er gefragt worden, woher er wisse, was sch¨ on sei und was h¨ asslich? Diese Frage habe ihn in Verlegenheit gef¨ uhrt, weshalb er nun seinerseits Hippias fragt: , was ist das Sch¨ one? Das ” Sch¨ one“, von dem hier die Rede ist, darf nicht mit der Idee des Sch¨ onen identifiziert werden, von der Diotima im Symposion (210e-211b) berichtet. Sokrates fragt Hippias nicht, was die Idee des Sch¨ onen ist, von Ideen war noch keine Rede. Sokrates hatte Sch¨ ones von H¨ asslichem unterschieden. Sein Problem ist diese allt¨ agliche Unterscheidung von sch¨ on und h¨ asslich. Welches Kriterium erlaubt ihm, einiges als h¨ asslich zu tadeln und anderes als sch¨ on zu loben? 2 Dabei fungiert die Unterscheidung von sch¨ on und h¨ asslich lediglich als ein Beispiel f¨ ur die Unterscheidungen, die im allt¨ aglichen Sprechen und Denken vorkommen. Sobald wir sprechen oder denken, unterscheiden wir: sch¨ on und h¨ asslich, Handwerker und Politiker, fliegen und sitzen. Erweisen sich diese Unterscheidungen als unbegr¨ undet, sind also sch¨ on und h¨ asslich nicht verschieden, sondern identisch, dann wird die M¨ oglichkeit von Sprechen und Denken insgesamt aufgehoben. Die -Frage zielt auf dasjenige, wodurch wir sch¨ on und h¨ asslich, Sch¨ ones und H¨ assliches voneinander unterscheiden. Das Erfragte bezeichnet Sokrates als das Sch¨ one“ (vgl. 287c12), n¨ amlich dasjenige, wo” durch alles Sch¨ one vom Nicht-Sch¨ onen verschieden ist. Hippias beantwor1
2
Die Echtheit des Dialoges ist nicht unumstritten. F¨ ur Literaturangaben zur Diskussion siehe Guthrie (1975, S. 175-7). Seither bestreitet Heitsch (1999) die Echtheit aufgrund philologischer Erw¨ agungen, vgl. auch Tarrant (1976, S. ix-xvii); f¨ ur echt h¨ alt den Dialog Woodruff (1982, S. xii). Ledger (1989, S. 168, vgl. 156f.) h¨ alt nach seiner stilmessenden Untersuchung die Zur¨ uckweisung des Dialoges als unecht f¨ ur scarcely ” rational“. Die vorliegende Arbeit akzeptiert den Dialog als ein Werk Platons. Zu dieser Interpretation der Stelle vgl. Woodruff (1982, S. 164f.).
8
Die Einf¨ uhrung der Ideen
tet die Frage, was das Sch¨ one ist, mit , sch¨ ones M¨ adchen“ ” (287e4). Diese Antwort ist typisch f¨ ur die Gespr¨ achspartner des Sokrates: Als Antwort auf die Frage Was ist X?“ nennen sie eine X“-Sache, z. B. ein ” ” sch¨ ones M¨ adchen. Sokrates ist mit diesen Antworten stets unzufrieden. In Anlehnung an Aristoteles (Metaphysik A 6, 987b3) k¨ onnte man diese Unzufriedenheit dadurch erkl¨ aren, dass Sokrates (gemeint ist der historische Sokrates) nach dem Allgemeinen oder nach Definitionen gesucht habe. Dieser Hinweis erkl¨ art aber nicht, warum Sokrates Definitionen suchte und was an Hippias’ Antwort problematisch ist. Der (literarische) Sokrates u ¨berdenkt Hippias’ Antwort folgendermaßen: (288a811). Dieses alles, von dem du sagst, dass es sch¨ on sei, wenn was doch das Sch¨ one selbst ist, d¨ urfte dieses sch¨ on sein? Ich werde sagen, dass wenn sch¨ ones M¨ adchen das Sch¨ one ist, so ist es, wodurch jenes [d. i. die sch¨ onen Dinge] sch¨ on sein d¨ urfte. 3
Sokrates sucht nach demjenigen, wodurch wir etwas Sch¨ ones als sch¨ on unterscheiden k¨ onnen. Darauf zielt die -Frage (288a9): Wenn was doch ” das Sch¨ one selbst ist, d¨ urfte dieses sch¨ on sein?“ Was ist das Kriterium f¨ ur Sch¨ onheit, an dem man erkennt, dass die von Hippias sch¨ on“ genannten ” Dinge auch wirklich sch¨ on sind? Hippias’ Vorschlag sch¨ ones M¨ adchen“ ” bedeutet dann: Wenn sch¨ ones M¨ adchen“ das Sch¨ one ist, so ist es dieses, ” n¨ amlich das Sch¨ ones-M¨ adchen-Sein, wodurch alles Sch¨ one sch¨ on ist. 4 Etwas Sch¨ ones erkennt man daran, dass es ein sch¨ ones M¨ adchen ist, und nur ein sch¨ ones M¨ adchen – nicht auch eine sch¨ one Stute – ist demnach sch¨ on 3
4
Der angegebene Text folgt der Oxford-Ausgabe. Die Textstelle ist schwierig: 1) Burnet gegen¨ uber in T W. Da es um eine -Frage geht, ist F folgt in a9 Hs. F mit (a10) ist gegen¨ uber T W der Vorzug zu geben. 2) Die Antwort (a9): Wenn was doch das Sch¨ one selbst parallel zu der Frage ist, [. . . ]?-Wenn sch¨ ones M¨ adchen das Sch¨ one selbst ist, [. . . ]. 3) In dem Ausdruck ist ein Neutrum und stimmt nicht mit seinem femininen Subjekt u ur solche Konstruktionen auf K¨ uh¨berein. Woodruff verweist f¨ ner und Gerth (1898, II.1, S. 58-60, §360): In such cases, the subject must be taken ” generally. Hippias has no particular girl in mind“ (Woodruff, 1982, S. 50 Anm. 63). 4) (a10) nimmt (a9) auf und ist deshalb zu interpretieren als das ” 289e3 und z. B. Phaidon 75b1, wo ein Adjektiv auch Sch¨ one“ (vgl. auch ohne Artikel die Bestimmtheit des Gleichen selbst bezeichnet), nicht als eine Sch¨ on” heit“ oder etwas Sch¨ ones“. Entsprechend u ¨bersetzt Nehamas (1975, S. 300) Hippias’ ” Antwort: Being a beautiful maiden is (what it is to be) beautiful“. Grube (1926, ” und u S. 189) liest ¨bersetzt: Am I ” to answer that, if a beautiful maiden is the beautiful, it is through this that they [die ¨ sch¨ onen Dinge] are beautiful[?]“. Diese Ubersetzung trifft den Sinn der Stelle. Gemeint ist nicht: Wenn ein sch¨ ones M¨ adchen sch¨ on ist, dann existiert (beachte Burnets in a10) etwas, wodurch alles Sch¨ one sch¨ on ist. ¨ Ahnlich interpretiert die Stelle Woodruff (1982, S. 168).
Nicht-Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem
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zu nennen. Dar¨ uber hinaus setzt Hippias’ Erkl¨ arung sch¨ ones M¨ adchen“ ” das Zu-Erkl¨ arende voraus: Um ein sch¨ ones M¨ adchen von einem weniger sch¨ onen M¨ adchen unterscheiden zu k¨ onnen, bedarf es bereits eines Kriteriums, anhand dessen sich die Sch¨ onheit eines M¨ adchens beurteilen l¨ asst. Dieses Problem vermeidet Hippias’ zweiter Versuch zur Bestimmung des Sch¨ onen: Das Sch¨ one ist nichts anderes als Gold (289e3). Wenn das Gold zu einer Sache hinzukommt“ ( 289e5), dann erscheint ” diese als sch¨ on. Im Sinne der von Sokrates gestellten Frage bedeutet diese Antwort: Die Anwesenheit von Gold an oder in etwas ist dasjenige, woran man etwas Sch¨ ones erkennt. Auch dieser Bestimmungsversuch l¨ asst sich leicht durch ein Gegenbeispiel widerlegen: ein von Pheidias aus Elfenbein gefertigtes Bildnis der Athene. Wenn dieses von Gold freie G¨ otterbildnis sch¨ on ist – und dar¨ uber besteht zwischen den Gespr¨ achspartnern Einigkeit –, dann kann es nicht die Anwesenheit des Goldes sein, die die Sch¨ onheit ausmacht. An dem Versuch, das Sch¨ one als Gold zu bestimmen, ist vor allem zu beachten, dass es hier die Beif¨ ugung eines bestimmten Stoffes ist, die als Unterscheidungskriterium des Sch¨ onen dient. Das Gold scheint das Sch¨ on-Sein an sich zu haben, aber das Gold hat das Sch¨ on-Sein nicht nur an sich, sondern es macht auch dasjenige sch¨ on, dem das Gold beigemischt oder zugef¨ ugt wird: Das Gold ist Tr¨ ager“ und Vermittler“ des ” ” Sch¨ on-Seins. Beide Versuche von Hippias, die Bestimmtheit des Sch¨ onSeins durch etwas bestimmtes Sch¨ ones zu erkl¨ aren, lassen sich durch die Nennung einer anderen sch¨ onen Sache ad absurdum f¨ uhren. Der reductio ad absurdum liegt – unausdr¨ ucklich – die Vermeidung des Widerspruches 5 zugrunde: Hippias definiert das Sch¨ one als Gold. Der Verweis auf die sch¨ one Statue aus Elfenbein zeigt, das das Sch¨ one nicht Gold ist. Das Sch¨ one, d. h. das Kriterium des Sch¨ on-Seins, ist also Gold und nicht Gold. Ausdr¨ ucklich wird die Vermeidung des Widerspruches im so genannten Fingerbeispiel“ in der Politeia (523a-524d). 6 Auch hier ” geht es um die -Frage, problematisiert wird aber nicht das FingerSein der Finger, sondern deren Gr¨ oße. Der Ringfinger ist gr¨ oßer als der kleine Finger, im Vergleich mit dem kleinen Finger erscheint der Ringfinger als groß. Analog zu Hippias’ Bestimmungen des Sch¨ onen, k¨ onnte der Verstand das Große bestimmen als die L¨ ange des Ringfingers. Andererseits ist der Ringfinger kleiner als der Mittelfinger und erscheint im Vergleich mit diesem als klein. Bestimmt der Verstand nun das Kleine als die L¨ ange des Ringfingers, dann gilt: Das Große ist die L¨ ange des Ringfingers, das Kleine ist die L¨ ange des Ringfingers, ergo das Große und das 5 6
Zum Satz vom zu vermeidenden Widerspruch vgl. Politeia 436b8-c2. Vgl. dazu Schmitt (1973, S. 101ff.), Schmitt (1989, S. 65f.) und Radke (2002, S. 49ff.).
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Die Einf¨ uhrung der Ideen
Kleine sind dasselbe. 7 Damit lassen sich groß und klein aber nicht mehr unterscheiden. 8 Es geht im Kontext dieser Stelle um die Umwendung vom Werden zum Sein (521d4, vgl. 523a3), der die Umwendung von Wahrnehmung ( ) zu Denken ( ) entspricht. Das Problem besteht nicht darin, dass der wahrnehmbare Ringfinger ein widerspr¨ uchliches Ding ist. Der Widerspruch entspringt erst dem unkritisch an der Wahrnehmung orientierten Urteil, wonach die Gr¨ oße des Ringfingers das Große ist. Demselben unkritischen Vertrauen auf die Wahrnehmung entspringen auch Hippias’ Bestimmungen des Sch¨ onen als sch¨ ones M¨ adchen“ bzw. als Gold“. In ” ” allen drei F¨ allen wird auf die Frage nach dem Unterscheidungskriterium eine Sache genannt, die dem Kriterium gen¨ ugt. Den entsprechenden Antworten liegt derselbe Fehler zugrunde: Sie verwechseln das Unterscheidungskriterium mit einer anhand dieses Kriteriums unterscheidbaren Sache. Unterscheidbar ist eine Sache, weil sie so und nicht anders, d. h. weil sie bestimmt ist. Dasjenige, woraufhin die Sache unterscheidbar ist, ist eine Bestimmtheit. Kriterium f¨ ur die Unterscheidung von sch¨ onen und h¨ asslichen Dingen ist die Bestimmtheit des Sch¨ onen. Eine Sache ist sch¨ on, wenn ihr die Bestimmtheit des Sch¨ onen zukommt. Hippias Fehler besteht also darin, dass er statt der Bestimmtheit jeweils eine bestimmte Sache nennt. Er ger¨ at in Aporie durch den Verweis auf andere Sachen, denen die gesuchte Bestimmtheit ebenfalls zukommt. Bestimmtheit und bestimmte Sache k¨ onnen nicht identisch sein. In der Politeia entspringt 7
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Diese und a ¨hnliche Textstellen haben Platon den Vorwurf der Verwechslung einstelliger (Eigenschaften) und zweistelliger Pr¨ adikate (Relationen) eingehandelt, vgl. dazu Anmerkung 43 auf Seite 22. Platon verwendet in diesem Kontext Relationsbestimmungen, weil sie mit ihrem Gegensatz besonders geeignet sind, aus der NichtUnterscheidung von Bestimmtem und Bestimmtheit Widerspr¨ uche herzuleiten. Die Herleitung des Widerspruches scheint darauf zu beruhen, dass die Relation ist gr¨ oßer ” als“ verstanden wird als ist groß“. Umgekehrt scheint Platon ist sch¨ on“ im Hippias ” ” Maior (288e-289b) als ist sch¨ oner als“ zu verstehen. Von dem Wechsel zwischen ein” stelligem Pr¨ adikat und zweistelliger Relation h¨ angt die Argumentation nicht ab: Was ” ¨ ist das Uberragen (das Gr¨ oßer-Sein als)? Das Verh¨ altnis der L¨ ange des Ringfingers zu der L¨ ange des kleinen Fingers.“ Diese – logischer Verwechslungen unverd¨ achtige – Antwort f¨ uhrt dazu, dass der Mittelfinger den Ringfinger definitionsgem¨ aß nicht u ¨berragen w¨ urde, sobald das Verh¨ altnis der L¨ ange des Mittelfingers zu der des Ringfingers nicht genau das Verh¨ altnis der L¨ ange des Ringfingers zu der des kleinen Fingers ist. Nehamas (1975, S. 289) hat einer verbreiteten Interpretation widersprochen, wonach der Fehler der Gespr¨ achspartner der so genannten Definitionsdialoge darin bestehe, auf die Frage nach der Definition eines Allgemeinbegriffs mit der Nennung konkreter Einzeldinge zu antworten. Dieser Hinweis ist richtig: Hippias nennt zur Bestimmung des Sch¨ onen nicht ein besonderes M¨ adchen und nicht dieses besondere St¨ uck Gold, sondern den Begriff sch¨ ones M¨ adchen“ und Gold u ¨berhaupt. Dennoch entspringt ” die Aporie jeweils daraus, dass Hippias den Begriff von etwas bestimmtem Sch¨ onen angibt, der anderes bestimmtes Sch¨ ones nicht erfasst. Im Falle des Fingerbeispiels ist das anders, weil Sokrates auf die drei Finger seiner Hand hinweist.
Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem in der Zweiten Fahrt
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die Aporie daraus, dass die mit der Bestimmtheit identifizierte bestimmte Sache auch die entgegengesetzte Bestimmtheit zu sein scheint. Auch hier gilt, dass Bestimmtheit und bestimmte Sache nicht identisch sein k¨ onnen. Der Fehler, auf den es Platon ankommt, ist die Nicht-Unterscheidung von Bestimmtem und Bestimmtheit. 9
1.2 L¨osung der Aporien durch Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem in der Zweiten Fahrt Die Textpassage zur Zweiten Fahrt im Phaidon (99dff.) ist in der Kommentarliteratur sehr unterschiedlich interpretiert worden. Die Kommentatoren sind sich in vielen Hinsichten uneinig: 1. Wie ist die Metapher zu interpretieren? 10 Der Ausdruck entstammt dem Schifffahrtswesen und bezeichnet dort die Verwendung der Ruder bei Windstille. Unterscheiden sich Erste und Zweiten Fahrt lediglich in der Methode oder auch hinsichtlich des Zieles? Ist dabei die Zweite Fahrt im Gegensatz zur ersten nur die zweitbeste Fahrt? 11 2. Worin besteht im Phaidon die Erste Fahrt? Wo beginnt der Argumentationsgang der Ersten Fahrt? 12 Die in der Ersten Fahrt aufgeworfenen Probleme sind jeweils f¨ ur sich und im Verh¨ altnis zueinander umstritten. Wie ist Sokrates’ Verwirrung u alt sich ¨ber die Erste Fahrt zu verstehen? 13 3. Wie verh¨ das Bild der Sonnenfinsternis (99d) zur Sonnenmetaphorik der Politeia (VI-VII)? 14 Diese drei Fragen spielen f¨ ur den in der vorliegenden Arbeit entwickelten Gedankengang eine untergeordnete Rolle und werden nicht weiter diskutiert. Entscheidend sind dagegen die folgenden Fragen: 4. Wie ist die Umwendung von der Betrachtung des Seienden mit den Augen hin zu verstehen? Betrachtet die neue Methozu der Betrachtung in de das Seiende rein a priori? 15 5. Was ist Gegenstand der Hypothese 9
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Die Nicht-Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem ist keine Eigent¨ umlichkeit von Hippias. Hippias steht in dieser Frage stellvertretend f¨ ur die vorsokratische Naturphilosophie: In pre-Socratic thought ,the hot‘, ,the cold‘, etc., had been treated ” as things ( ) having each a characteristic power ( ) in which its nature was manifested by action on other things“ (Cornford, 1937, S. 180). Diese Frage behandeln zuletzt wieder Baumgarten (1998, S. 124-136) und Kanayama (2000, S. 87-96). Diese Interpretation vertreten z. B. Hackforth (1955, S. 137) und Tait (1986, S. 456f.), dagegen argumentiert z. B. Kanayama (2000, S. 95). Baumgarten (1998, S. 124). Frede (1999, S. 101-112, insb. 105). Vgl. Goodrich (1903, S. 383f.) und im Anschluss daran Gallop (1975, S. 177). Vgl. Bostock (1986, S. 147).
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Die Einf¨ uhrung der Ideen
(100a3, 100b5)? 16 6. Sokrates setzt als wahr, was mit der Hypothese zusammenzustimmen ( 100a5) scheint, was nicht, als nicht wahr (vgl. 101d6). Was bedeutet hier zusammenstimmen“ ” bzw. nicht zusammenstimmen“? 17 7. Was sind die h¨ oheren Hypothesen ” 16
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Viele Interpreten halten die Existenz der Ideen f¨ ur den Gegenstand der Hypothese. Schleiermacher u o¨bersetzt: [ich] fange davon an, dass ich voraussetze, es gebe ein Sch¨ ” nes an und f¨ ur sich“, Hackforth (1955, S. 134, vgl. 143): I shall assume the existence ” of a beautiful that is in and by itself“, Bostock (1986, S. 159) kommentiert: [he] hy” pothesizes that there are such things as forms (100b4-7)“, vgl. Ross (1951, S. 25, 35), Plass (1960, S. 104f.), Stahl (1960, S. 429), Vlastos (1978, S. 139), Nehamas (1973, S. 464), Dorter (1982, S. 128), Wieland (1999, S. 157), Menkhaus (2003, S. 151) und Ebert (2004, S. 64, 355). Bluck interpretiert die Hypothesen als Definitionen, bemerkt must imply an existential proposition“ (Bluck, 1955, aber: No doubt each ” S. 163). Gallop (1975, S. 52, vgl. 182) u ¨bersetzt: I’ll go back to those much harped-on ” entities, and start from them, hypothesizing that a beautiful, itself by itself, is something“ und kommentiert ‘hypothesizing’ that beautiful, good, large, and other Forms ” exist (b5-7)“ (Gallop, 1975, S. 179), vgl. Rowe (1993a, S. 55ff.), Rowe (1993b, S. 241f.) und Rowe (1996, S. 228). Gallop (1975, S. 179ff.) spricht von einer Form-Reason hypo” thesis“, Rowe (1993a, S. 55ff.) von Form-participation hypothesis“, wobei die Existenz ” der Ideen Gegenstand des ersten Teiles, Teilhabe Gegenstand des zweiten Teiles der kombinierten Hypothese ist. Diese Interpretation wird von Van Eck mit dem Hinweis kritisiert, die Teilhabe sei nicht Gegenstand einer Hypothese. Aber w¨ ahrend van Eck die kombinierte Existenz-Teilhabe-Hypothese ablehnt, h¨ alt er daran fest, dass die Existenz der Ideen hypothetisch angenommen werde, vgl. Van Eck (1994, S. 22, 30f.) und Van Eck (1996, S. 214ff.). Wie van Eck lehnt auch Kanayama die kombinierte Existenz-Teilhabe-Hypothese ab und h¨ alt an der Existenz-Hypothese fest, aber gegen (101d2f.) van Eck wendet Kanayama ein, dass sich auf die Aitia-proposition“ (100c-101c, 102b1), beziehe und ihr den Status einer ” Hypothese gebe, vgl. Kanayama (2000, S. 52f., 61f.). Die Eigent¨ umlichkeit von Kamayamas Interpretation besteht ferner darin, auch den three laws of aitia“ (If x is an ” aitia for anything being F : 1. x must not be un-F 2. x ’s opposite must not be an aitia for anything being F 3. x must never be an aitia for anything being un-F ) den Status von Hypothesen zuzugestehen, siehe Kanayama (2000, S. 54, 65). Viele Kommentatoren halten die Zugrundelegung der Ideen lediglich f¨ ur ein Beispiel einer universell anwendbaren Methode, z. B. Robinson (1953, S. 143), dagegen argumentieren Schmitt (1973, S. 211f., 219f.) und Tait (1986, S. 468). Viele Kommentatoren denken hierbei an ein Verh¨ altnis von aussagenlogischer Konsistenz oder Deduzierbarkeit, z. B. Ross (1951, S. 28), Robinson (1953, S. 105f., 126ff.), Hackforth (1955, S. 139ff.), Stahl (1960, S. 427f.) und Kanayama (2000, S. 62-66). Ausgangspunkt der Diskussion ist Robinsons Interpretation: Zur Erkl¨ arung der Metapher von Zusammenstimmen/Nicht-Zusammenstimmen erw¨ agt er aussagenlogische (1) Konsistenz/Inkonsistenz und (2) Deduzierbarkeit/Nicht-Deduzierbarkeit (Robinson, 1953, S. 126). Nach (1) w¨ urde Sokrates als wahr setzen, was mit der Hypothese konsistent ist, als unwahr, was inkonsistent ist. Bloße Konsistenz mit der Hypothese ist aber ein ungeeignetes Wahrheitskriterium, weil alle kontextfremden S¨ atze, die inhaltlich mit der Hypothese nichts zu tun haben, mit dieser logisch konsistent sind. Nach (1) w¨ urde Sokrates solche S¨ atze also s¨ amtlich f¨ ur wahr halten. Nach (2) w¨ urde Sokrates als wahr setzen, was aus der Hypothese deduzierbar ist, als unwahr, was nicht deduzierbar ist. Diese Interpretation f¨ uhrt zu der unsinnigen Konsequenz, dass Sokrates alle kontextfremden S¨ atze als unwahr setzen w¨ urde. W¨ ahrend Robinson sich f¨ ur (1) entscheidet (wor¨ uber in der Literatur Unklarheit herrscht, vgl. Tait (1986,
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(101d8)? 18 8. Wie ist es um die Sicherheit der urspr¨ unglichen bzw. der
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S. 465), Gonzalez (1998a, S. 196) und Kanayama (2000, S. 63), siehe aber Robinson (1953, S. 130)), bevorzugt Stahl (2), Hackforth eine Mischung aus beidem (Deduzierbarkeit/Inkonsistenz). Kanayama entscheidet sich f¨ ur (1) und versucht, das Problem der kontextfremden S¨ atze durch Beschr¨ ankung des Anwendungsbereiches der Methode zu l¨ osen; diese L¨ osung schl¨ agt auch Gonzalez (1998a, S. 196) vor, der dar¨ uber hinaus ¨ erg¨ anzt, Ubereinstimmung mit der Hypothese sei lediglich eine notwendige Bedingung f¨ ur Wahrheit, was nicht impliziere, dass sie auch hinreichende Bedingung sei. Van Eck (1996, S. 216) denkt an ein unverbindlicheres Verh¨ altnis von giving rise ” to“, das zwischen der Existenzhypothese und der Teilhabebehauptung bestehe. Dieser ¨ Interpretation widerspricht Rowe (1996, S. 231). Ahnlich wie van Eck argumentiert Dorter (1982, S. 129f.), dass Sokrates Teilhabe an Ideen behauptet, weil sie mit der Existenzhypothese harmoniere ( harmonize“), w¨ ahrend er physical causes“ und ma” ” ” terial causes“ ablehnt, weil sie mit der Existenzhypothese nicht harmonieren. Gallop (1975, S. 181) denkt an das Verh¨ altnis der allgemeinen Form-Reason hypothesis“ und ” ihrer spezifischen Formulierung f¨ ur eine Idee: Thus, ‘x is beautiful because it partici” pates in the Form Beautiful’ and ‘x is large because it participates in the Form Large’ may be put down as true, since they are ‘in accord’ with the relevant Form-Reason hypothesis; whereas ‘x is beautiful because of its colour or shape’ and ‘x is larger by a head’ are not ‘in accord’ with the relevant hypothesis, and may therefore be put down as not true“. Gegen eine aussagenlogische Interpretation wendet Schmitt (1973, S. 212) ein, dass sie auch auf die naturphilosophischen Ursachenangaben der Ersten Fahrt anwendbar w¨ are, die Einf¨ uhrung der Idee bedingt in keiner Weise die Einf¨ uhrung einer aussagenlogischen Methode. Insbesondere gegen diejenige aussagenlogische Interpretation, wonach Teilhabe aus der Existenzhypothese abgeleitet wird (Stahl, 1960, S. 429f.), wendet Schmitt ein, dass erstens Sokrates Existenzhypothese und Teilhabe nach seiner eigenen Methodenanweisung (101e1-3) genau unterscheiden m¨ usste, was er nicht tut, und dass zweitens die Beispiele 100c-101c aufgrund innerer Widerspr¨ uche zur¨ uckgewiesen werden, nicht weil sie der Existenzhypothese widersprechen. Darin l¨ age eine bemerkenswerte Differenz zwischen Beweistheorie und -praxis, siehe Schmitt (1973, S. 221 Anm. 3), vgl. Plass (1960, S. 104). Gonzalez (1998a, S. 196f.) weicht die aussagenlogische Interpretation auf, er wendet gegen Robinson ein, dass es hier nicht um ein completely self-contained vacuum-tight logical system“ gehe, und l¨ asst neben ” logischen Deduktionen auch Anwendungen der Hypothese unter den zusammenstimmenden S¨ atzen zu. Ebert (2004, S. 351-354) h¨ alt den Text f¨ ur verdorben: Statt (100a6f.) liest er , d. h. Was (mir mit diesem) nicht (¨ ubereinzustimmen scheint, behaupte ich) ” nicht als wahr.“ (Ebert, 2004, S. 353). Demnach w¨ urde Sokrates Aussagen, die sich aus der Ausgangsaussage ableiten lassen, als wahr annehmen, die Aussagen dagegen, die sich nicht daraus ableiten lassen, nicht als wahr. Die Interpretation der vorliegenden Arbeit kommt ohne Konjektur aus. Van Eck und andere Kommentatoren denken bei den h¨ oheren Hypothesen an Argumente zugunsten der Existenz von Ideen, die sich in anderen Dialogen finden, z. B. Timaios 51de, siehe Van Eck (1994, S. 32) und Van Eck (1996, S. 222). Dorter (1982, S. 132) denkt an eine better formulation“ der urspr¨ unglichen Hypothese. Rowe inter” und (100d5) als pretiert die alternativen Termini f¨ ur die Teilhabe, h¨ ohere Hypothesen zu einer kombinierten Existenz-Teilhabe-Hypothese, siehe Rowe (1993a, S. 54-58) und Rowe (1996, S. 237). Schmitt (1973, S. 243-248, insb. 247) interpretiert die h¨ oheren Hypothesen als die feineren Ursachen (103cff., 105c2), wobei die feineren Ursachen das wesentliche Sein der in der einfachen Hypothese angegebenen Idee bestimmen. Auch Gonzalez nennt die feineren Ursachen als Beispiele f¨ ur h¨ ohere Hypothesen, versteht diese aber als Instanzen, die ihrem Wesen nach an einer Idee
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Die Einf¨ uhrung der Ideen
h¨ oheren Hypothesen bestellt? 19 9. Wie ist Sokrates’ Rat an Kebes zu verstehen (101de)? Nach der klassischen Interpretation bedeutet der Auseine Hypothese akzeptieren“ (101d2) und zwei druck ” Zeilen sp¨ ater eine Hypothese angreifen“. 20 Ferner: In welchem Sinne soll ” Kebes durch die Annahme einer h¨ oheren Hypothese von der urspr¨ unglichen Hypothese Rechenschaft ablegen (101d7)? In welchem Verh¨ altnis stehen h¨ ohere und urspr¨ ungliche Hypothese zueinander? 21 Was meinen (101e2) und das daraus Folgende, (101d5, vgl. 101e3)? 22 10. Umstritten ist schließlich auch, inwiefern die hypothetische
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teilhaben: A thing thus [wie Feuer und Hitze] incapable of admitting a form (qua” lity) opposed to the one it has can serve as the cause of other things having that form“ (Gonzalez, 1998a, S. 205), wobei er h¨ oher“ einfach als besser“ interpretiert, ” ” better either in the sense of remedying the inadequacies of the initial hypothesis or ” in the sense of offering a better explanation of what was already stated in the initial hypothesis“ (Gonzalez, 1998a, S. 198). Eine Verbindung zur ungeschriebenen Lehre“ ” bestreiten die meisten Kommentatoren, behauptet hat sie z. B. Reale (1993, S. 150f.). Vgl. Phaidon 100a4, 100d8, 101d2, 101e1, 105b7f. Die klassische Interpretation vertritt Robinson (1953, S. 130f.); Bostock (1986, S. 168170) diskutiert das Problem, akzeptiert aber mangels Alternativen die klassische Interpretation. Gegen die klassische Interpretation schl¨ agt Blank (1986, S. 152f.) vor, dass der vorgestellte Gespr¨ achspartner von Kebes die Hypothese in 101d4 als Basis der Untersuchung akzeptiert. Van Eck votiert f¨ ur attack“ in 101d4, w¨ ahrend Rowe zwi” schen beiden Interpretationen schwankt, siehe Van Eck (1994, S. 31f.), Van Eck (1996, S. 221 Anm. 10), Rowe (1993a, S. 63) und Rowe (1996, S. 240). Wie Blank versteht in 101d4 als ein Festhalten an der Hypothese, auch Kanayama aber im Gegensatz zu Blank versteht Kanayama dieses Festhalten an der Hypothese nicht als gemeinsame Basis weiterer Untersuchung, sondern sieht darin ein Hindernis: too much emphasis on the safety of the hypothesis may make the enquirer neglect ” other things as shaky, even if they are in accord with the hypothesis and are necessary to carry out the enquiry“ (Kanayama, 2000, S. 78, siehe auch S. 77 Anm. 79), vgl. Sedley (1995, S. 16f.). Auch hier denken einige Kommentatoren an aussagenlogische Verh¨ altnisse, z. B. Robinson (1953, S. 136) und Hackforth (1955, S. 139ff.). Nach der Interpretation von Schmitt (1973, S. 243-248, 276) legt die h¨ ohere Hypothese von der urspr¨ unglichen Rechenschaft ab, indem sie das Wesen der in der urspr¨ unglichen Hypothese als Ursache angesetzten Idee expliziert. Zu der Frage, ob die geeignete h¨ ohere Hypothese ein unhypothetisches Prinzip im Sinne von Politeia 511b6f. sei, siehe Bluck (1955, S. 163), Bluck (1957, S. 24-26) und Reale (1993, S. 148-152) f¨ ur eine bejahende und Gonzalez (1998a, S. 198 mit S. 353 Anm. 18) f¨ ur eine ablehnende Beurteilung. Dorter (1982, S. 132) beobachtet, dass die Idee des Guten als h¨ ohere Hypothese nicht in Frage kommt, weil das Gute bereits gemeinsam mit den anderen Ideen zugrundegelegt wurde (100b6). als aussagenlogische Konsequenzen zu Robinson (1953, S. 129) erw¨ agt, zu erinterpretieren, sieht aber die Schwierigkeit, dass daf¨ ur eher warten w¨ are. Zur L¨ osung dieses Problems schl¨ agt Hackforth (1955, S. 139f.) vor, als diejenigen Schritte einer Deduktion zu interpretieren, die zwischen der Pr¨ amisse und der Konklusion liegen. Die Interpretation von h¨ angt mit der von / in 101d6 zusammen: Falls letztere im Sinne von Deduzierbarkeit/Nicht-Deduzierbarkeit zu verstehen ist, dann stellt sich mit als aussagenlogischen Konsequenzen die Frage, warum die deduzierten Kon-
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Methode von Sokrates im Phaidon angewendet wird. Die verschiedenen Antworten auf diese Frage h¨ angen jeweils davon ab, wie die hypothetische Methode verstanden wird. 23 Der Kerngedanke der Zweiten Fahrt ist von – beinahe – trivialer Einfachheit 24 : Warum ist etwas sch¨ on? Ursache ist nicht die Farbe, Gestalt oder sonst etwas derartiges (100d1), sondern die Anwesenheit ( ) oder Gemeinschaft ( ) mit dem Sch¨ onen (100d5). Die Aporien, die sich daraus ergeben, wenn man eine Farbe oder Gestalt als Ursache daf¨ ur angibt, warum etwas sch¨ on ist, lassen sich nach den in Kapitel 1.1 entwickelten Aporien leicht absehen. 25 Was bedeutet die neue Antwort auf die Frage nach dem Sch¨ onen? Etwas Sch¨ ones ist als sch¨ on von allem Nicht-Sch¨ onen unterscheidbar wegen der Anwesenheit des Sch¨ onen; das
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sequenzen daraufhin gepr¨ uft werden sollten, ob sie auch auseinander deduziert werden / im Sinne von Konsistenz/Inkonsistenz zu k¨ onnen oder nicht. Falls als aussagenlogischen Konsequeninterpretieren sind, dann ergibt sich mit zen die Frage, wie die aussagenlogischen Konsequenzen einer einfachen Hypothese untereinander inkonsistent sein k¨ onnen. Diese Schwierigkeit l¨ asst sich l¨ osen, indem are in the broadest sense all man mit Plass (1960, S. 110) interpretiert: ” relevant propositions brought up in the course of a discussion“. Gegen diese Interpreganz spezifisch als das aus einer tation spricht aber, dass 101e2f. nahe legt, Folgende zu verstehen. Bluck denkt bei an den Begriff einer Idee, z. B. Geals notions or rechtigkeit als giving every man his due“, und versteht ” ” propositions that x, y and z are just acts“ (Bluck, 1957, S. 28). Van Eck (1996, S. 216) und , ihm winennt Existenzhypothese und Teilhabebehauptung als derspricht Rowe (1996, S. 231). Wie bei van Eck folgt auch f¨ ur Kanayama (2000, S. 66) die Teilhabebehauptung, der allerdings der Status einer Hypothese zugestanden wird, der Existenzhypothese. Nach der Interpretation von Schmitt (1973, S. 231) geht es um das Verh¨ altnis von Idee und Instanz. Vgl. Robinson (1953, S. 142). Hackforth (1955, S. 133) sieht die Anwendung in der Deduktion der Unsterblichkeit der Seele aus der Hypothese der Ideenexistenz. Gonzalez (1998a, S. 205) interpretiert die feineren Ursachen (105c2) als h¨ ohere Hypothesen im Sinne von 101d8. Gallop (1975, S. 181) sieht die Anwendung der Form-Reason hy” pothesis“ in 100b-101c; dieser Interpretation widerspricht Van Eck, der seinerseits die erste Ablehnung einer Ursachenangabe wegen Nicht¨ ubereinstimmung mit dem st¨ arksten Logos in 102b3-d3 findet, siehe Van Eck (1994, S. 29) und Van Eck (1996, S. 215-7). Vgl. Phaidon 100d3, 105c1. Die Ausf¨ uhrungen in Kapitel 1.1 sollen die Behandlung derjenigen Aspekte der Ersten Fahrt ersetzten, die f¨ ur den folgenden systematischen Gedanken entscheidend sind. F¨ ur eine Interpretation der Ersten Fahrt in diesem Sinne siehe Schmitt (1973, S. 133-153). Eine vollst¨ andige Interpretation der Ersten Fahrt im Kontext der im Phaidon untersuchten Probleme, m¨ usste dar¨ uber hinaus ber¨ ucksichtigen, dass – aus Platons Sicht – , soweit sie hier rezipiert wird, darin besteht, die zender Fehler der trale Funktion von Seele zu u ¨bergehen: Entstehung der Lebewesen, Denken, Wissen, Himmelserscheinungen (96b), wie jedes geordnet und am besten ist, Form, Ort, relative Geschwindigkeiten und Entstehung der Gestirne (97b-98c, 99bc, vgl. dazu Timaios 44d-47e und Nomoi 888d-898c); nichts davon ist f¨ ur Platon ohne Ber¨ ucksichtigung von Seele zu verstehen.
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Sch¨ one ist eine Bestimmtheit, durch deren Anwesenheit etwas Sch¨ ones als sch¨ on unterscheidbar ist. 26 Die Erkl¨ arung scheint eine Tautologie 27 zu sein im Sinne von et” was Sch¨ ones ist sch¨ on, weil es sch¨ on ist“, was aber nicht der Fall ist. Die Erkl¨ arung beruht auf einer Voraussetzung: Das Sch¨ one muss eine Bestimmtheit sein. Diese Voraussetzung macht Sokrates explizit: [I]ch ” lege zugrunde, dass sch¨ on selbst f¨ ur sich selbst etwas Bestimmtes ist“ 28 , (100b5). Die Betonung liegt auf dem , das Radke als etwas Bestimmtes“ wiedergibt, nicht auf dem , ” das dann als existenzielles ist“ verstanden wird. 29 Es geht nicht darum, ” 26
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In der Literatur ist die Frage diskutiert worden, in welchem Sinne der vier Ursachen bei Aristoteles Platons Ideen Ursachen“ sind, vgl. dazu Vlastos (1978, S. 143-145) und ” die Kritik bei Schmitt (1973, S. 248-270). Zu der von Vlastos vorgeschlagenen Interpretation der Ursache der Zweiten Fahrt als logical aitia“ siehe auch Woodruff (1982, ” S. 151-153, 170f.). Eine geometrische Figur ist ein Quadrat, wenn sie bestimmte Bedingungen erf¨ ullt; die logischen Bedingungen f¨ ur das Quadrat-Sein nennt Vlastos (1978, S. 146f.) logical cause“. Platons logische Verursachung sei aber nicht so zu verstehen, ” dass ein Einzelding einen Begriff genau dann instantiiert, wenn es der Definition des Begriffes gen¨ ugt. Denn dann w¨ are Logik f¨ ur Platon ein metaphysically noncommit” tal business“, w¨ ahrend die Ideenlehre gerade darin bestehe, dass logische Sachverhalte metaphysische Entit¨ aten voraussetzen, vgl. Vlastos (1978, S. 148). Wenn Logik“ hier ” als nicht als formale Logik zu verstehen ist, sondern im Sinne des Subsumtion einer Instanz unter ihren Wesensbegriff, und wenn metaphysical entity“ ” nichts anderes als eine Bestimmtheit im Sinne der hier vorgelegten Interpretation ist, dann ist Vlastos soweit zuzustimmen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Vlastos’ und der hier vorgelegten Interpretation der Ideen als Bestimmtheiten besteht darin, dass die Annahme unver¨ anderlicher Bestimmtheiten keineswegs abwegig ist. Nach Woodruff m¨ ussen logische Ursachen nicht unbedingt Forms“ oder universals“ sein, ” ” im Phaidon seien diejenigen logischen Ursachen, denen das gr¨ oßte Interesse gelte, nicht Ideen, etwa die Idee des Feuers, sondern Entit¨ aten wie unser phenomenal fire“: All ” ” they need is to be by their own nature (cf. [Phaidon] 104a3) what they make other things to be and to be unable to remain in things that acquire opposite properties“ (Woodruff, 1982, S. 171). Vlastos konzipiert logische Verursachung als Erkl¨ arung f¨ ur Verursachungsverh¨ altnisse, wie sie Phaidon 101c (z. B. Ursache des Zwei-gewordenSeins) in den Blick genommen werden. Woodruffs Begriff von logischer Verursachung ist f¨ ur eine solche Erkl¨ arung nicht geeignet, da phenomenal fire“ keine Bestimmtheit, ” sondern etwas Bestimmtes ist. Shorey (1933, S. 179) nennt das tautological logic“, vgl. Graeser (1975, S. 87) und die ” Gegenposition bei Schmitt (1989, S. 73f.). ¨ F¨ ur diese Ubersetzung siehe Radke (2002, S. 31), vgl. Schmitt (1989, S. 72). Neben Schmitt (1973) und Schmitt (2003, S. 215-240) sind diese Arbeiten grundlegend f¨ ur den in Kapitel 1 entwickelten Gedankengang. ¨ 1. Vergleiche dazu die auf Seite 12 zitierten Ubersetzungen und Kommentare zur Stelle. 2. Parallelstellen f¨ ur die Verwendung von im Sinne von etwas Bestimmtes“ finden ” 1006a12f. sich bei Aristoteles Metaphysik Γ 4, z. B. 1006a24f. Im ersten Beispiel geht es nicht darum, ob der Einoder redner etwas Existierendes im Gegensatz zu Nicht-Existierendem ausspricht, sondern ob er etwas Bestimmtes und nicht zugleich das Gegenteil behauptet. Das zweite Beispiel sagt ausdr¨ ucklich, dass es um Bestimmtheit geht: Wenn jemand etwas sagt, dann
Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem in der Zweiten Fahrt
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die Existenz zweifelhafter Gegenst¨ ande, der Idee des Sch¨ onen und der anderen Ideen hypothetisch vorauszusetzen, Platon f¨ uhrt hier nicht sein bekanntestes Lehrst¨ uck, die Ideenlehre, als eine Hypothese ein, der man zustimmen kann oder nicht. Die Voraussetzung ist viel bescheidener und zugleich auch viel schwieriger zu bestreiten. Vorausgesetzt wird lediglich, dass Sch¨ onheit eine Bestimmtheit ist. Eine Bestimmtheit ist unterscheidbar, d. h. es macht einen Unterschied, ob etwas so-und-so bestimmt ist oder anders. Bei den Platonischen Ideen handelt es sich um Bestimmtheiten. 30 Vorausgesetzt wird in der Zweiten Fahrt nicht die Existenz der Ideen, insbesondere nicht die separate Existenz. 31 Der Zusatz selbst f¨ ur sich selbst“, ” (100b5), dr¨ uckt aus, dass die Bestimmtheit nicht identisch ist mit dem, was durch sie bestimmt ist, Bestimmtheit und Bestimmtes sind zu unterscheiden. 32 Nicht das Bestimmte ist die Bestimmtheit, son-
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wird dieses begrenzt“, definiert“ sein, d. h. was er sagt, ist abgegrenzt von dem, was ” ” er nicht sagt; es macht einen Unterschied, ob er dieses oder dessen Gegenteil behauptet. F¨ ur Parallelstellen bei Platon siehe Hippias Maior 287c5ff., Protagoras 330b8f. und 330d2-4, Kratylos 439c7-d1 und 439e1f., wo das Bestimmt-Sein der Ideen ihrer hypothetisch erwogenen Ver¨ anderlichkeit gegen¨ ubersteht, Phaidon 65d3f., 74a8-10 und vor allem 102a11, Politeia 476c10, Parmenides 129a1 und 130e5, Theaitetos 152d3, 153d10, Sophistes 237c10-d2, vgl. dazu Kolb (1997, S. 80f.), Timaios 49e1f., vgl. dazu Lee (1967, S. 10), und 51b8. 3. Bestimmt-Sein bedeutet nicht schon Definierbar-Sein, insofern eine Definition sprachlich ist. Dass sprachliche Ausdr¨ ucke geeignet sind, eine Bestimmtheit hinreichend zu definieren, ist nicht selbstverst¨ andlich (vgl. dazu den so genannten philosophischen Exkurs im Siebten Brief 342a-344d, insb. 343a1 und Kapitel 6.4) und auch nicht Teil der Hypothese. Der Fortschritt der Zweiten Fahrt ist nicht um den Preis der Propositionalisierung erkauft, wie Gonzalez (1998a, S. 202, 99e5 und 100a1 nichts. 205) meint; daran ¨ andert auch die Verwendung von Die Verwendung des Terminus Bestimmtheit“ bedarf einer Erkl¨ arung: Die Ideen be” stimmen ihre Instanzen, sie machen sie zu so-beschaffenen Sachen. Bestimmtheit“ ist ” von dieser Verwendung von bestimmen“ abgeleitet. In der Kommentarliteratur ist ” aten“ die Rede. statt von Bestimmtheiten“ vielfach von Eigenschaften“ oder Qualit¨ ” ” ” Beide Begriffe haben den Nachteil, dass sie aristotelische Assoziationen mit sich bringen. Man unterscheidet wesentliche“ von unwesentlichen“ Eigenschaften und denkt ” ” dabei an die aristotelische Unterscheidung von Wesen und Akzidentien. Der Begriff der Qualit¨ at verweist auf Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Einzelding und jenen Kategorien, gem¨ aß denen etwas von einem Einzelding ausgesagt wird. Der Terminus Bestimmtheit“ ist neutral gegen¨ uber der Frage, auf welche Weise die Bestimmtheit ” einer Sache zukommt. Er trifft keine Vorentscheidung dar¨ uber, ob eine Bestimmtheit die Ganzheit einer so-beschaffenen Sache konstituiert oder nicht. Aristotelische Assoziationen sind insbesondere deshalb fernzuhalten, weil Aristoteles – anders als Platon –, nicht die Idee, sondern das Einzelding f¨ ur das prim¨ ar Seiende h¨ alt. Eigenschaften oder Qualit¨ aten kommen in den Blick, insofern sie an Einzeldingen vorliegen. Platons Bestimmtheiten sind aber unabh¨ angig davon, ob sie von Einzeldingen instantiiert werden oder nicht. Vgl. Ross (1951, S. 25, 35). Die Bestimmtheit selbst f¨ ur sich selbst ist nicht nur von dem durch sie Bestimmten zu unterscheiden, sondern auch von unserer Auffassung von der Bestimmtheit. Die
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dern die Bestimmtheit ist selbst f¨ ur sich selbst die Bestimmtheit. Um bei den in Kapitel 1.1 diskutierten Aporien aus dem Hippias Maior zu bleiben: Hippias hat zugestanden (287cf.), dass Sch¨ onheit eine Bestimmtheit ist, in Aporie ger¨ at er, weil er Sch¨ onheit und sch¨ ones M¨ adchen“ ” bzw. das sch¨ one Gold nicht unterscheidet und jeweils etwas bestimmtes Sch¨ ones mit der Bestimmung des Sch¨ onen identifiziert. Hippias’ Fehler ist die Nicht-Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem. Sobald das Bestimmte nicht mehr mit einer seiner Bestimmtheiten identifiziert wird, k¨ onnen einer Sache ohne Widerspruch verschiedene Bestimmtheiten zukommen: Wenn das M¨ adchen ist – verglichen mit einer Stute – sch¨ on“ ” nicht mehr verstanden wird als das M¨ adchen ist das Sch¨ one“, dann kann ” ohne Widerspruch gesagt werden, das M¨ adchen ist – verglichen mit einer ” G¨ ottin – nicht sch¨ on“, weil letzteres nicht mehr bedeutet das M¨ adchen ” ist das Nicht-Sch¨ one“, so dass nicht die Identit¨ at des Sch¨ onen und Nichtonen folgt. Sch¨ In der Zweiten Fahrt werden Bestimmtheit und Bestimmtes unterschieden, aber sie werden nicht getrennt. Die Abtrennung der Bestimmtheit vom Bestimmten w¨ urde dazu f¨ uhren, dass die Bestimmtheit das vermeintlich Bestimmte gar nicht mehr bestimmen k¨ onnte. Die NichtTrennung von Bestimmtheit und Bestimmtem wird aus der Perspektive des Bestimmten dadurch zum Ausdruck gebracht, dass das Bestimmte an der Bestimmtheit teilhat“ ( 100c5), aus der Perspektive ” der Bestimmtheit kann von der Anwesenheit“ ( 100d5) der Be” stimmtheit bei dem Bestimmten gesprochen werden, ohne eine der beiden Perspektiven kann das Verh¨ altnis als Gemeinschaft“ ( 100d5) be” zeichnet werden. Die Teilhabe des Bestimmten an der Bestimmtheit ist lediglich die andere Seite der Hypothese, dass die Bestimmtheit des Bestimmten selbst f¨ ur sich selbst“ ist. Teilhabe an einer Idee bedeutet nichts ” anderes als dass das Teilhabende eine Bestimmtheit hat, n¨ amlich die Bevon Gadamer inspirierte hermeneutische“ Platon-Interpretation von Foster verwech” selt die Bestimmtheit mit unserem vorl¨ aufigen und fortschreitenden Verst¨ andnis dieser Bestimmtheit und kommt zu dem Ergebnis: [T]he Form is always a process“ (Foster, ” 2001, S. 50), n¨ amlich der Prozess unserer Verst¨ andigung u ¨ber die Bestimmtheit. Eine Konsequenz dieser Auffassung besteht darin, dass auch die Instanzen nicht an sich selbst bestimmt sind und wir sie – indem wir sie bestimmen – erst zu Bestimmtem machen. Es stellt sich dann aber die Frage, was die Instanzen sind, wenn wir beginnen, sie zu bestimmen. Im Gegensatz dazu konzipiert Platon die Bestimmtheit selbst f¨ ur sich selbst unabh¨ angig von unserer Auffassung der Bestimmtheit. Das gilt insbeson. Das dere auch f¨ ur Philebos 16d1f.: Erkennende Subjekt setzt nicht die Idee, sondern es sucht sie. Wenn das Subjekt die Idee eigenm¨ achtig setzen k¨ onnte, br¨ auchte es die Idee nicht zu suchen. Das Gesuchte, die Idee, ist unabh¨ angig von dem Erkenntnisbem¨ uhen des erkennenden Subjekts. Was das Subjekt hier setzt, ist lediglich die eigene vorl¨ aufige Auffassung der selbst f¨ ur sich selbst seienden Idee.
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stimmtheit, die jene Idee ist. 33 Die teilhabende Sache ist eine Instanz der Idee. In welchem Sinne handelt es sich dabei um eine Hypothese, dass sch¨ on ” selbst f¨ ur sich selbst etwas Bestimmtes ist“? 34 Bevor Sokrates Hippias im Hippias Maior danach fragt, was das Sch¨ one ist, stellt er ihm eine andere Frage: Er fragt, ob das Sch¨ one (die Gerechtigkeit, die Weisheit und das Gute) etwas ( ) ist (287cf.). 35 Erst nach Hippias’ Bejahung fragt Sokrates weiter, was denn das Sch¨ one ist. Die erste Frage ist Grundlage der zweiten, im ersten Schritt einigen sich die Gespr¨ achspartner darauf, dass ¨ Sch¨ onheit eine unterscheidbare Bestimmtheit ist. 36 Diese Ubereinstimmung liegt der weiteren Untersuchung der Bestimmtheit des Sch¨ onen als Hypothese zugrunde. In diesem Sinne ist die Hypothese die als wahr akzeptierte Grundlage eines Gedankenganges. Bedeutet das zugleich, dass es sich bei der Hypothese bloß um eine Arbeitshypothese handelt, deren Best¨ atigung aussteht? Um diese Frage zu entscheiden, muss man die Gegenprobe machen: Was w¨ urde es bedeuten, wenn das Sch¨ one, Gerechte etc. nicht etwas, d. h. wenn es keine unterscheidbaren Bestimmtheiten 33
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Zu der These, die Teilhabebehauptung sei eine Konsequenz aus der Hypothese Es ” gibt Ideen“ siehe Schmitt (1973, S. 221 Anm. 3). Die Frage der Unver¨ anderlichkeit der Bestimmtheiten und die damit verbundene Unterscheidung von Seiendem und Werdendem sei an dieser Stelle noch zur¨ uckgestellt, vgl. dazu Kapitel 2.2 und 3.2. Zu dieser Frage sind verschiedene Positionen vertreten worden. Die eine Position foror ‘hypothesize’ is to muliert besonders deutlich Robinson (1953, S. 95): ” posit as a preliminary. It conveys the notion of laying down a proposition as the beginning of a process of thinking, in order to work on the basis thereof“, ihm folgen Hackforth (1955, S. 133, vgl. S. 114 Anm. 1), der von proposition assumed to be true“ ” spricht, und in letzter Zeit wieder Menkhaus (2003, S. 153). Dagegen wendet Gallop (1975, S. 179) ein: ‘Hypotheses’ need not be hypotheses in the modern sense, i. e. ex” planatory theories as yet unconfirmed. Nor need they be ‘hypothetical’ in the sense of being conditional in form, though they may need to be supported by further argument“. Schmitt und Radke halten die Hypothesen der Zweiten Fahrt f¨ ur die sichere ” Grundlage jeder Argumentation“ (Schmitt, 1973, S. 217), sicherste Erkenntnisbasis“ ” (Radke, 2002, S. 34-36, dort auch weitere Literatur), ¨ aquivalent zu dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch bei Aristoteles (Metaphysik Γ 3, 1005b19f.), vgl. dazu Schmitt (1973, S. 186-9) und Schmitt (1989, S. 72). Vgl. Phaidon 65d3f. Hippias Maior 287cf. ist in dieser Hinsicht eine Parallelstelle zu Phaidon 100a3 und 100b5. W¨ ahrend aber im Phaidon die Hypothese, dass Sch¨ onheit etc. Bestimmtheiten sind, der Behauptung, die sch¨ onen Dinge seien sch¨ on aufgrund der Teilhabe (Anwesenheit, Gemeinschaft) am Sch¨ onen (100c6, d4f.), vorausgeht, ist die Reihenfolge im Hippias Maior umgekehrt: Hier l¨ asst Sokrates sich zuerst versichern, dass die Gerechten durch die Gerechtigkeit gerecht, die Weisen durch die Weisheit weise und das Sch¨ one durch die Sch¨ onheit sch¨ on ist. Terminologisch wird das Verursachungsverh¨ alt(Phaidon 100c6, nis Hippias Maior 287cf. nicht durch d5) ausgedr¨ uckt, sondern durch den Dativ. Vgl. aber Hippias Maior 294a1f., c4, 6 und 300a10. F¨ ur die Verwendung des Dativs zum Ausdruck des Teilhabeverh¨ altnisses im Kontext der Zweiten Fahrt siehe Nehamas (1973, S. 465 Anm. 6) und Sedley (1998, S. 115).
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w¨ aren? Dann w¨ are das Sch¨ one, Gerechte etc. weder erkennbar noch pr¨ adizierbar, es w¨ urde dann keinen Unterschied machen, ob etwas sch¨ on genannt wird oder nicht. Jedem Versuch der Bestimmung des Sch¨ onen w¨ are die Grundlage entzogen, das folgende Gespr¨ ach von Sokrates und Hippias w¨ urde sich er¨ ubrigen. 37 Wenn aber nicht nur von dem Sch¨ onen, Gerechten etc., sondern von allen vermeintlichen Bestimmtheiten gilt, dass sie keine Bestimmtheiten sind, dann wird die M¨ oglichkeit von Denken und Sprechen u oglichkeit von ¨berhaupt aufgehoben. 38 Als Bedingung der M¨ Denken und Sprechen, wird die Sicherheit der hypothetischen Annahme der Bestimmtheiten schon dadurch garantiert, dass wir u ¨berhaupt denken und sprechen k¨ onnen. Der Zusammenhang mit dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch bei Aristoteles ist deutlich: Dasselbe n¨ amlich kann demselben und in ” derselben Hinsicht unm¨ oglich zugleich zukommen und nicht zukommen“ (Metaphysik Γ 3, 1005b19f.). 39 Eine Bestimmtheit kann einer Sache nicht (zugleich und in derselben Hinsicht) zukommen und nicht zukommen. Das gilt nur, wenn die vermeintliche Bestimmtheit tats¨ achlich eine von ihrem Gegenteil unterscheidbare Bestimmtheit ist. Wenn zwischen sch¨ on“ und ” nicht-sch¨ on“ kein Unterschied besteht, dann kann beides (demselben zu” gleich und in derselben Hinsicht) zukommen. Wenn umgekehrt eine vermeintliche Bestimmtheit (demselben zugleich und in derselben Hinsicht) zukommen und nicht zukommen kann, dann kann es sich bei dieser vermeintlichen Bestimmtheit nicht um eine unterscheidbare Bestimmtheit handeln. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch bei Aristoteles und die hypothetische Annahme der Bestimmtheiten im Phaidon sind in diesem Sinne ¨ aquivalent. 40 Das soll nicht dar¨ uber hinwegt¨ auschen, dass beide 37
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Vgl. Euthydemos 303d7-e2: Die Sophisten Euthydemos und Dionysodoros leugnen, dass es eine sch¨ one, gute, weiße oder sonstwie bestimmte Sache gibt, womit sie den ” ). Die Menschen den Mund zusammenn¨ ahen“ ( Sophisten behaupten nicht, dass weiß“ zwar eine unterscheidbare Bestimmtheit ist, ” dass es aber keine Sache gibt, der diese Bestimmtheit zukommt. Diese Behauptung w¨ urde die Gespr¨ achspartner nicht sprachlos machen: Sie w¨ urden die Sophisten n¨ otigen, die Bestimmtheit weiß“ anzugeben, und dann auf eine Sache verweisen, der ” die angegebene Bestimmtheit zukommt. Sprachlos sind die Menschen, weil die Sophisten leugnen, dass sch¨ on“, gut“ etc. unterscheidbare Bestimmtheiten sind. Wer ” ” das leugnet, entzieht jedem Gespr¨ ach u ¨ber das Gute die Grundlage und macht seine Gespr¨ achspartner mundtot. Zu dieser Deutung der Textstelle vgl. Gonzalez (1998a, S. 124) und Gonzalez (2002, S. 62). Vgl. Parmenides 135bf. Zu Platons Formulierung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch in Politeia 436b8f. vgl. Seite 82. Mit Hinsicht auf Politeia 436bf. behauptet Prauss, dass Platon dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch nicht weniger gen¨ uge als Aristoteles, aber auf ganz andere , an einem Einheitlich-Identischen festWeise: W¨ ahrend dieser [Aristoteles] am ” aufl¨ ost, h¨ alt umgekehrt Platon gerade die fest und h¨ alt und daf¨ ur die
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nicht identisch sind: Aristoteles spricht in der klassischen Formulierung (Metaphysik Γ 3, 1005b19f.) des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch u ¨ber eine Sache 41 und eine Bestimmtheit, die der Sache nicht zugleich und in derselben Hinsicht zukommen und nicht zukommen kann. Unabh¨ angig davon, dass Aristoteles das Einzelding (die Sache) und seine Bestimmtheiten (unterschieden in Wesensbestimmtheit und Akzidentien) etwas anders konzipiert als Platon, geht es bei der Zugrundelegung der Ideen in der Zweiten Fahrt um die Bestimmtheiten selbst. Sokrates legt zugrunde, dass Sch¨ onheit etwas Bestimmtes ist, verschieden von NichtSch¨ onheit oder H¨ asslichkeit. Es geht Sokrates nicht darum, dass damit eine Instanz nicht zugleich und in derselben Hinsicht sch¨ on und nicht-sch¨ on sein kann. Die Zweite Fahrt ist Voraussetzung der Formulierung des Satzes durch Aristoteles. Diese Herkunft des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch klingt bei Aristoteles an (Metaphysik Γ 4, 1006b24f.): Das Mensch-Sein und das Nicht-Mensch-Sein m¨ ussen verschieden und nicht ein und dasselbe sein. Aristoteles gibt ferner einen elenktischen Beweis“ ” (Metaphysik Γ 4, 1006a11f.) des Satzes an: Falls jemand versucht, den Satz zu bestreiten, muss man ihn einfach nur reden lassen (Metaphysik Γ 4, 1006a12f.), denn sobald er redet, behauptet er etwas Bestimmtes und nicht zugleich das Gegenteil. Der Versuch der Widerlegung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch setzt dessen G¨ ultigkeit voraus. Der elenktische Beweis“ ist eine Erwiderung auf den zusammengen¨ ah” ” ten Mund“ im Euthydemos: Wer die Bestimmtheiten leugnet, der macht seinen Gespr¨ achspartner mundtot. Aber indem der Sophist die Bestimmtheiten leugnet, hat er schon etwas Bestimmtes gesagt und damit seine eigene Rede widerlegt. Das in dem st¨ arksten Satz“ (100a4) Zugrundegelegte hat drei Aspek” te: Erstens die Unterscheidbarkeit der Bestimmtheit ( 100b5), zweitens die Differenzierung zwischen Bestimmtheit und Bestimmtem (die Bestimmtheit ist 100b5), ohne dass Bestimmtheit und Bestimmtes getrennt werden, so dass drittens die Bestimmung des Bestimmten durch die Bestimmtheit (als Teilhabe, Anwesenheit oder Gemeinschaft 100c6, d5) gedacht werden kann. Genau diese drei Aspekte des st¨ arksten Satzes“ nimmt Sokrates nach der Z¨ asur (102a) ” wieder auf (102b-103c): Das Groß-Sein und das Klein-Sein sind zwei Be(102d6), und stimmtheiten. F¨ ur das Groß-Sein selbst, f¨ ur die Bestimmtheit des Groß-Seins, insofern sie einer Sache zukommt,
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gibt daf¨ ur das , das Einheitlich-Identische preis“ (Prauss, 1966, S. 96). Einzeldinge seien f¨ ur Platon mithin bloße Aggregate von Bestimmtheiten. Diese Interpretation hat durchaus Anh¨ anger gefunden, siehe z. B. Patzig (1970, S. 118) und Graeser (1975, S. 41 Anm. 4). Zur Beurteilung dieser Interpretation siehe Anmerkung 45 auf Seite 23. Metaphysik Γ 4, 1006b22: Es geht nicht um die Bedeutung von Vgl. auch W¨ ortern, sondern um die Sache.
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(102d7), gilt, dass das Groß-Sein die Bestimmtheit des Klein-Seins niemals aufnimmt ( 102d8) oder u ¨bertroffen werden will ( 102d8), d. h. die Bestimmtheit des Groß-Seins ist niemals die Bestimmtheit des Klein-Seins und umgekehrt (102e6-103a2), beide Bestimmtheiten sind verschieden. 42 Die besondere Natur dieser Bestimmtheiten ist, dass sie einer Sache nicht an sich, sondern immer nur in Beziehung auf anderes zukommen. 43 Das Groß-Sein ¨ ¨ ist das Uberragen, das Klein-Sein das Uberragt-Werden (vgl. Parmeni44 des 150cf.). Simmias ist gr¨ oßer als Sokrates und kleiner als Phaidon 42
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Das Sprechen u ¨ber Bestimmtheiten bringt es mit sich, dass Bestimmtheiten bezeichnet werden, z. B. als das Große selbst“, und von dem Bezeichneten etwas ausgesagt wird, ” z. B. will nicht u ¨bertroffen werden“. Sobald eine Bestimmtheit bezeichnet und von ihr ” etwas pr¨ adiziert wird, besteht die Gefahr der Verdinglichung. Was nicht u ¨bertroffen werden will, hat offenbar selbst eine Gr¨ oße, die Bestimmtheit wird zu einem großen Ding. Die Tendenz der Verdinglichung liegt in der Sprache selbst, man entkommt ihr auch nicht durch die Verwendung philosophischer Kunstsprache, die das Große selbst“ ” oder das Groß-Sein“ sagt, um das Große als Bestimmtheit zu bezeichnen. Angefangen ” von Aristoteles haben viele Kommentatoren Platon daf¨ ur kritisiert. Platon selbst hat auf dieses Problem hingewiesen und die daraus entspringenden Aporien durchgespielt, z. B. Parmenides 131c-e. H¨ alt man daran fest, dass die Ideen Bestimmtheiten sind, dann sind Aussagen wie das Große selbst will nicht u ¨bertroffen werden“ hinreichend ” deutlich: Die Bestimmtheit des Großen ist weder ein Ding noch ein Lebewesen, das u ugt, sondern die Bestimmtheit des Großen ist verschieden von ¨ber einen Willen verf¨ der Bestimmtheit des Kleinen. Die mit der Thematisierung der Ideen verbundene Gefahr der Verdinglichung behandelt vor allem Wieland (1999, §6-7). Die Kritik an Platons Umgang mit Relationsbestimmungen ist ein Topos der neueren Platon-Forschung, vgl. Cornford (1935, S. 43-45 und 282-284), Hackforth (1955, S. 69 Anm. 3 und S. 155), Owen (1957, S. 110), Vlastos (1965, S. 14), Prauss (1966, S. 87 und S. 103 Anm. 26), Patzig (1970, S. 116), Graeser (1975, S. 33 Anm. 1), Bostock (1986, S. 49-51, 105, 81-183), vgl. dagegen Schmitt (1973, S. 233-236). Der zentrale Vorwurf besteht darin, dass Platon Relationen angeblich wie Eigenschaften behandle. Der Vorwurf entspringt Platons Sprachgebrauch, kommentarlos von zweistelligen Relationspr¨ adikaten, z. B. ist gr¨ oßer als“, zu einstelligen Eigenschaftspr¨ adikaten, z. B. ist ” ” groß“, u ¨berzugehen. Dass der Vorwurf unberechtigt ist, zeigt Van Eck (1994, S. 35f.) mit R¨ ucksicht auf Phaidon 102b-d. Simmias ist gr¨ oßer als Sokrates, dieser Sachverhalt ist dahingehend zu interpretieren, dass Simmias an der Bestimmung der Gr¨ oße teilhat, und zwar nicht an sich, sondern in Bezug auf die Kleinheit des Sokrates, die wiederum diesem nicht an sich, sondern in Beziehung auf die Gr¨ oße des Simmias zukommt. Die Relation des Gr¨ oßer-Seins ist demnach zu interpretieren durch zwei Teilhabeverh¨ altnisse, je eines f¨ ur jedes der beiden Relata, aber in diesen Teilhabeverh¨ altnissen stehen die Relata nicht an sich, sondern in Beziehung zum jeweils anderen: Thus Plato does ” indeed reduce relations to so-called 1-place, i. e., monadic forms. [. . . ] But that is not to say that he reduces relational facts to monadic facts“ (Eck, 1994, S. 36). Damit sind Relationen insbesondere nicht so zu verstehen, dass beide Relata gemeinsam an einer Relationsidee teilhaben, vgl. Tait (1986, S. 481). An dieser Stelle mag die Frage er¨ ortert werden, ob es u otig ist, zwei Be¨berhaupt n¨ stimmtheiten, die des Großen und die des Kleinen anzunehmen, oder ob eine Bestimmtheit, z. B. Gr¨ oße oder In-bestimmter-Weise-dimensioniert-Sein, ausreicht. Der Sachverhalt Simmias u ¨berragt Sokrates“ unterscheidet sich nicht von dem Sachver” halt Sokrates wird von Simmias u otigt uns dieser eine Sachverhalt, ¨berragt“. Warum n¨ ”
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(102b3f.). Simmias ist groß“ meint nach der Unterscheidung von Be” stimmtheit und Bestimmtem nicht mehr Simmias ist das Groß-Sein“, ” i. S. v. Simmias ist genau und nur, was das Groß-Sein ausmacht (das Simmias-Sein ist nicht das Groß-Sein 45 102b8-c1), sondern Simmias ist ”
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zwei verschiedene Bestimmtheiten anzunehmen? Gr¨ oße und Kleinheit sind nicht zwei Bestimmtheiten in dem Sinne, dass sie unabh¨ angig voneinander auftreten. Wenn Simmias groß ist, z. B. im Verh¨ altnis zu Sokrates, dann ist Sokrates klein im Verh¨ altnis ¨ zu Simmias. Dennoch handelt es sich um zwei Bestimmtheiten, denn Uberragen ist ¨ etwas anderes als Uberragt-Werden. L¨ asst sich die Zweiheit von Gr¨ oße und Kleinheit vermeiden, wenn man nur eine Bestimmtheit wie In-bestimmter-Weise-dimensioniertSein annimmt, wobei die bestimmte Dimensioniertheit durch Messung zu bestimmen ist? Das Messen ist ein quantitativer Vergleich zwischen dem Zu-Messenden und einer geeigneten Maßeinheit, z. B. wenn man die K¨ orpergr¨ oße von Sokrates in Zentimetern misst. Das Zu-Messende erweist sich als groß in Hinsicht auf die Maßeinheit, die Maßeinheit erweist sich als klein in Hinsicht auf das Zu-Messende. Informativ ist die Messung aber nur, wenn auch die Messergebnisse miteinander verglichen werden. Auch hier gilt: Die Anzahl der Maßeinheiten von Simmias K¨ orpergr¨ oße ist gr¨ oßer als die entsprechende Anzahl bei Sokrates. Relationen implizieren zwei verschiedene, aber aufeinander bezogene Bestimmtheiten. Diese Stelle war Anlass f¨ ur eine Diskussion, ob es Sokrates hierbei um den Unterschied zwischen wesentlicher und akzidentieller Pr¨ adikation gehe, vgl. Van Eck (1994, S. 2326, 33-39) mit der dort angegebenen Literatur. Prauss (1966, S. 92f.) vertritt dazu eine radikale These: Anders als der Sprachgebrauch, Dingen Eigenschaften zuzusprechen, ” nahelegt, haben nicht die Dinge, sondern nur ihre Dynameis [i. e. Bestimmtheiten] eine ‘Dynamis’. Und die Dinge als Dinge sind Aggregate solcher Dynameis und nichts dar¨ uber hinaus“. Die Prauss’sche These bedeutet, dass in einem Aggregat Pferd“ die ” Sachgehalte Lebewesen“, S¨ augetier“, Pferd“, wiehernd“, vierhufig“ und sch¨ on“ re” ” ” ” ” ” lationslos nebeneinanderstehen. Schmitt (1973, S. 282-284, vgl. 96f.) bringt drei Einw¨ ande gegen diese These vor: 1. Eine Grundintention der Hypothesis der Idee ist, dass das Teilhabende an verschiedenen Ideen teilhaben kann; in einem Aggregat hat nur das Groß“ an der Gr¨ oße teil, so dass Teilhabe nicht mehr begr¨ undet, wie etwas ” Großes auch klein sein kann (z. B. 102c7-d2). 2. Sokrates unterscheidet die Gr¨ oße ” 102e3), selbst“ (102d6), die Gr¨ oße in uns“ (102d7) und das Aufnehmende ( ” 102e4). 3. Ein Aggregat alle drei bleiben, was sie sind (beachte insbesondere relationsloser Bestimmtheiten setzt voraus, dass auch die Ideen in keiner Weise miteinander verbunden sind; dass das nicht der Fall ist, zeigt Sokrates im Kontext der feineren“ Hypothesen 103c-105c an der Relation von Ideen wie Feuer und W¨ arme: ” Der Sachgehalt Feuer“ ist immer verbunden mit dem Sachgehalt W¨ arme“. Baumgar” ” ten versucht eine Verteidigung der Prauss’schen These vom Einzelding als Aggregat von Bestimmungen, spricht dabei aber selbst von Haupt- und Nebensachgehalten“ ” (Baumgarten, 1998, S. 157f. Anm. 4). Den Vergleich eines M¨ adchens mit einem Pferd kommentiert Baumgarten (1998, S. 157f.): In Bezug auf die verschiedenen Aggregate, ” die nach ihrem Hauptsachgehalt benannt sind, wird ein weiterer Sachgehalt herausgehoben, n¨ amlich ,sch¨ on‘ neben dem Sachgehalt ,M¨ adchen‘ und ,h¨ aßlich‘ neben dem Sachgehalt ,Pferd‘“. Baumgarten erwidert damit nur den ersten der drei aufgef¨ uhrten Einw¨ ande. In seiner Erwiderung nimmt er aber die Pointe der Prauss’schen These zur¨ uck, dass n¨ amlich Platon mit seinen Aggregaten im Gegensatz zu Aristoteles das , das Einheitlich-Identische“, preisgebe (Prauss, 1966, S. 96). Das nach seinem ” Hauptsachgehalt benannte Aggregat Pferd“ mag in anderer Hinsicht auch noch den ” Nebensachgehalt sch¨ on“ in sich haben, aber das Aggregat ist nicht Pferd und Nicht” Pferd auf die gleiche Weise wie es sch¨ on und nicht-sch¨ on ist. Haupts¨ achlich ist das
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groß“ ist dahingehend zu interpretieren, dass Simmias an der Idee des Großen teilhat, Simmias kommt die Bestimmtheit des Groß-Seins zu. Damit l¨ asst sich aus den S¨ atzen Simmias ist groß“ und Simmias ist klein“ ” ” nicht mehr auf die Identit¨ at des Groß- und des Klein-Seins schließen. 46 Durch die Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem erlaubt der st¨ arkste Satz“ an der Verschiedenheit der Bestimmtheiten und da” mit in S¨ atzen wie Simmias ist groß“ und Simmias ist klein“ an der ” ” Identit¨ at des Gemeinten festzuhalten. In diesem Fall kann dieselbe Sache zugleich, aber in verschiedener Hinsicht entgegengesetzte Bestimmungen annehmen. Dar¨ uber hinaus erlaubt die Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem, etwas Bleibendes im Werden festzuhalten: Eine Sache kann nacheinander entgegengesetzte Bestimmungen annehmen und dabei immer noch diese Sache bleiben, ohne dass deshalb ihre entgegengesetzten Bestimmungen miteinander identisch sind (103b). Vom st¨ arksten Satz heißt es, dass Sokrates als wahr setzt, was mit diesem zusammenstimmt ( ), als nicht wahr, was nicht mit ihm zusammenstimmt (100a5f.), es mag nun von Ursachen die Rede sein oder ” von was nur sonst“ (100a6). Der verallgemeinernde Nachsatz bezieht sich nicht auf den st¨ arksten Satz, es geht nicht darum, jeweils einen anderen st¨ arksten Satz zu ermitteln, sondern auf dasjenige, was mit dem st¨ arksten Satz zusammenstimmt oder nicht. 47 Sokrates behauptet, als wahr zu setzen, was mit der Zugrundelegung der Idee zusammenstimmt, was nicht mit ihr zusammenstimmt als unwahr: Es wird zugrundegelegt, dass eine Bestimmtheit bestimmt ist. Diese Bestimmtheit ist verschieden von allen anderen Bestimmtheiten. Nun geht es nicht darum, ob die zugrundegelegte Bestimmtheit in abstracto mit allen anderen Bestimmtheiten zusammenstimmt oder nicht, sondern ob sie als Bestimmtheit einer Sache mit den anderen Bestimmtheiten, an denen die Sache teilhat, zusammenstimmt oder nicht. Die zugrundegelegte Bestimmtheit kommt einer Sache zu, wenn sie mit keiner anderen Bestimmtheit der Sache in Widerspruch steht; die Bestimmtheit kommt dieser Sache nicht zu, falls die Sache andere Bestimmtheiten hat, die mit jener Bestimmtheit in Wi-
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Aggregat ein Pferd: Die Sachgehalte des Aggregats sind nicht gleichg¨ ultig, der Hauptsachgehalt konstituiert eine Identit¨ at. Dass zwischen der Ideenkonzeption im Phaidon und der Wesen-Akzidenz-Lehre bei Aristoteles dennoch ein Unterschied besteht, ist eine Selbstverst¨ andlichkeit. Es ist ein zentraler Gedanke von Schmitts Die Bedeutung der sophistischen Logik f¨ ur ” die mittlere Dialektik Platons“ (Schmitt, 1973, vgl. S. 9-12, 230), dass die Zugrundelegung des st¨ arksten Satzes“ dieser sophistischen Argumentationsweise die Grundlage ” entzieht. Nicht f¨ ur die Hypothesis also ist es gleichg¨ ultig, ob in ihr von Ursachen oder belie” bigem anderen die Rede ist, sondern f¨ ur das, was an ihr u uft werden kann und ¨berpr¨ soll.“ (Schmitt, 1973, S. 224).
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derspruch stehen. 48 Dieses Verst¨ andnis entspricht dem nat¨ urlichen Sinn der Metapher von Zusammenstimmen/Nicht-Zusammenstimmen, n¨ amlich Konsistenz/Inkonsistenz. 49 Nach der hier vorgetragenen Interpretation geht es Sokrates an dieser Stelle aber nicht um das aussagenlogische Verh¨ altnis beliebiger S¨ atze zu einer Hypothese, sondern um das Verh¨ altnis von Bestimmtheiten einer Sache zueinander: Der zweite Teil dieser Vorgehensweise ist unproblematisch, er besagt nichts anderes als dass einer Sache keine widerspr¨ uchlichen Bestimmtheiten zukommen k¨ onnen bzw. dass eine Aussage, die einer Sache widerspr¨ uchliche Bestimmungen zuschreibt, falsch ist. Aber wie steht es mit dem ersten Teil? Eine beliebige Bestimmtheit kommt einer Sache zu, falls sie zu den anderen Bestimmtheiten der Sache nicht in Widerspruch steht. Sokrates ist Philosoph und Hoplit, Philosoph- und Hoplit-Sein bilden (bei Sokrates) keinen Widerspruch, beides ist als spezifische Ausformung seines Mensch-Seins miteinander vertr¨ aglich. Anders verh¨ alt es sich dagegen mit dem Pferdoder Vase-Sein, beides ist mit Sokrates’ Mensch-Sein nicht vertr¨ aglich. 50 Die Metapher des Zusammenstimmens nimmt Sokrates in seinem Rat an Kebes (101de) wieder auf: Kebes soll betrachten, ob das aus der Hypothese Folgende ( 101d5) untereinander zusammenstimmt oder nicht ( 101d6). Ferner warnt Sokrates Kebes davor, wie die Widerredner ( 101e1f.) bald von dem Prinzip und bald von dem daraus Folgenden zu reden ( 101e2f.). Aus der bisher entwickelten Interpretation ergibt sich eine ganz schlichte Auslegung von (101e2) und (101d5) bzw. (101e3): ist die Idee, sie ist Prinzip (w¨ ortlich: Anfang) der Bestimmtheit ihrer Instanzen. Wenn die 48 49
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Vgl. Schmitt (1973, S. 237). So Kanayama (2000, S. 64), vgl. Robinson (1953, S. 126). Alle Kommentatoren, die die Zweite Fahrt als eine universell anwendbare aussagenlogische Methode interpretieren, denken bei Konsistenz/Inkonsistenz an das Verh¨ altnis zwischen irgendeiner Hypothese und beliebigen anderen S¨ atzen. Diese Interpretation f¨ uhrt zu dem Problem der kontextfremden S¨ atze, die s¨ amtlich mit der Hypothese konsistent sind und von Sokrates deshalb als wahr gesetzt w¨ urden. Wenn man die Metapher von Zusammenstimmen/Nicht-Zusammenstimmen im Sinne von Konsistenz/Inkonsistenz beliebiger Aussagen mit der Hypothese interpretiert, dann setzt Sokrates alle S¨ atze als wahr, die inhaltlich nichts mit der Hypothese zu tun haben und deshalb aussagenlogisch konsistent mit der Hypothese sind. Analog zu dem Problem der kontextfremden S¨ atze einer aussagenlogischen Interpretation stellt sich f¨ ur die hier vorgelegte Interpretation der Metapher als das Zusammenstimmen verschiedener Bestimmtheiten einer Sache die Frage, ob Sokrates dieser Sache beliebige (kontextfremde) Bestimmtheiten zuschreiben m¨ usste? Falls das Pferd- oder Vase-Sein geeignete Beispiele f¨ ur beliebige Bestimmtheiten sind, dann legt ihre Unvertr¨ aglichkeit mit Sokrates’ Mensch-Sein nahe, dass die vorgelegte Interpretation nicht anf¨ allig ist f¨ ur Aporien, die analog sind zu dem Problem, das kontextfremden S¨ atze f¨ ur eine aussagenlogische Interpretation darstellen.
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Idee Prinzip oder Anfang“ ist, dann ist die Instanz als das Prinzipiierte ” sp¨ ater“ oder das aus dem Prinzip Folgende. 51 Genauer: Die Idee ist eine ” Bestimmtheit selbst f¨ ur sich selbst; eine Instanz hat nicht nur eine, sondern viele Bestimmtheiten; das aus der Idee Folgende ist die Bestimmtheit der Idee, insofern sie der Instanz zukommt, die Bestimmtheit in“ der Sa” che. 52 Etwas in der Welt instantiiert viele Bestimmtheiten; Kebes soll pr¨ ufen, ob diese Bestimmtheiten untereinander zusammenstimmen oder nicht (101d6), d. h. Kebes soll pr¨ ufen, ob die Bestimmtheiten, die einer Sache zugeschrieben werden, miteinander konsistent sind. 53 Damit ist auch der Sinn der Anweisung klar, nicht wie die Widerredner bald vom Prinzip und bald von dem daraus Folgenden zu sprechen: Die Widerredner alias Sophisten erzeugen – zumindest nach Platons Interpretation – Widerspr¨ uche, indem sie Bestimmtheit und Bestimmtes nicht unterscheiden. Im Hippias Maior tritt der Sophist Hippias nicht als Widerredner auf, aber sein systematischer Fehler besteht genau in der Nicht-Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem. In der Rolle des Widerredners treten im Euthydemos die Sophisten Euthydemos und Dionysodoros auf: Sophroniskos wird Vater genannt, f¨ ur Dionysodoros ist Sophroniskos damit Vater von jedermann und nichts außer Sophroniskos kommt es zu, Vater zu sein. 54 Der Sophist vermischt dabei den einen Vater Sophroniskos und das Vater-Sein u ¨berhaupt. Das Vater-Sein ist die Bestimmtheit, der eine 51
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Vgl. Schmitt (1973, S. 144f., 231). Wenn in diesem Zusammenhang von Anfang“, ” fr¨ uher“ und sp¨ ater“ die Rede ist, dann ist dabei nicht an eine zeitliche Abfolge zu ” ” denken, sondern an ein Abh¨ angigkeitsverh¨ altnis. Letzteres ist eine Sprechweise (vgl. Phaidon 102d7), der darin liegende r¨ aumliche Anklang geh¨ ort nicht hierher und kann zu Aporien f¨ uhren, vgl. Parmenides 131ab. die verschiedenen Bestimmtheiten einer SaNach dieser Interpretation sind che. Insofern es verschiedene Bestimmtheiten sind, kommen sie der Sache von verschiedenen Ideen her zu. Insofern die Zweite Fahrt die Unterscheidung von Bestimmtheit und bestimmter Sache einf¨ uhrt und damit erst erm¨ oglicht, einer Sache verschiedene im Sinne der verschiedenen Bestimmtheiten zuzuschreiben, liegt es nahe, Bestimmtheiten einer Sache zu interpretieren. Eine andere Auslegung ist denkbar, wenngleich die dahinter stehende Fragestellung erst in sp¨ ateren Dialogen (Parmenides, Sophistes, Timaios) in den Blick kommt: In der Zweiten Fahrt wird die Einheit einer jeden Bestimmtheit nicht weiter thematisiert, sie ist bei der Zugrundelegung einer Bestimmtheit impliziert. Jede Bestimmtheit ist nicht nur eine Bestimmtheit, sondern auch eine Bestimmtheit, eine Einheit. Zu einer Idee kann es verschiedene Instanzen geben. Die Instantiierungen der Idee, diese eine Bestimmtheit in“ verschie” denen Sachen, kann jeweils verschieden ausgepr¨ agt sein, ohne dass es sich deshalb um verschiedene Bestimmtheiten handelt. Sokrates verwirklicht sein Mensch-Sein anders k¨ onnten auch als Alkibiades. Ohne auf diese Frage jetzt n¨ aher einzugehen: die verschiedenen Instantiierungen einer Idee sein. In diesem Fall best¨ unde der Rat an Kebes darin, die verschiedenen Instantiierungen auf ihr Zusammenstimmen hin zu pr¨ ufen, z. B. ob es sich dabei tats¨ achlich um Instantiierungen einer Idee handelt. Euthydemos 297ef., vgl. Schmitt (1973, S. 70).
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Vater das Bestimmte. In der Terminologie der Phaidon-Stelle vermischt Dionysodoros Prinzip und das daraus Folgende. Der Rat an Kebes hat insgesamt vier Teile: Kebes soll erstens an der Zugrundelegung der Bestimmtheiten festhalten (101d2), zweitens soll er das aus der Idee Folgende, die , daraufhin pr¨ ufen, ob sie untereinander zusammenstimmen oder nicht (101d5f.). 55 Falls es drittens n¨ otig sein sollte, von dem Zugrundegelegten Rechenschaft abzulegen ( 101d7), dann solle Kebes das auf gleiche Weise ( 101d7) tun und wieder eine andere Hypothese zugrundelegen, welche ihm n¨ amlich von den h¨ oheren als die beste erscheine ( 101d8), solange bis er auf etwas Geeignetes komme ( 101d8f.). Viertens solle er dabei Prinzip und Prinzipiiertes nicht vermischen (101e2f.). Die urspr¨ ungliche Hypothese legt zugrunde, dass die Bestimmtheiten bestimmt sind, dass sie selbst f¨ ur sich selbst sind und dass sie das Bestimmte bestimmen. Von jedem dieser Aspekte ließe sich Rechenschaft ablegen. Die Diskussion der Sicherheit der urspr¨ unglichen Hypothese und ihrer Verwandtschaft zum Satz vom zu vermeidenden Widerspruch zeigt in welche Richtung es gehen k¨ onnte, auf diese Weise von der urspr¨ unglichen Hypothese Rechenschaft abzulegen. Eine solche Diskussion findet im Phaidon nicht statt und es ist auch nicht erkennbar, dass es daf¨ ur h¨ o” herer Hypothesen“ bed¨ urfte. Dagegen liegt eine andere Frage nahe, u ¨ber die sowohl ein die Hypothese akzeptierender Gespr¨ achspartner als auch ein die Hypothese ablehnender Einredner Rechenschaft fordern w¨ urde: Hippias akzeptiert im Hippias Maior (287cf.), dass das Sch¨ one eine unterscheidbare Bestimmtheit ist und dass etwas Sch¨ ones durch das Sch¨ one sch¨ on ist. Die Gespr¨ achspartner legen damit die Unterscheidbarkeit der Bestimmtheit (die Bestimmtheit der Bestimmtheit) und die Bestimmung des Bestimmten durch die Bestimmtheit zugrunde. Diese beiden Schritte formuliert die Zweite Fahrt als allgemeine Methode. Auf dieser Grundlage fragt Sokrates im Hippias Maior : Was ist das Sch¨ one? Worin besteht die Bestimmtheit des Sch¨ onen? Dass das Sch¨ one eine Bestimmtheit ist, haben die Gespr¨ achspartner zugrundegelegt, der n¨ achste Schritt besteht 55
Das Problem der Interpretation von in 101d4 vermag ich nicht zu entscheiden. Ob es bedeutet, dass der vorgestellte Gespr¨ achspartner von Kebes sich an ” das Zugrundegelegte h¨ alt“ im Sinne einer Infragestellung (klassische Interpretation), das Zugrundegelegte akzeptierend als Basis weiterer gemeinsamer Untersuchungen (Blank, 1986, S. 152f.) oder indem seine Akzeptanz des Zugrundegelegten zu einem Hindernis f¨ ur die weitere Untersuchung wird (Kanayama, 2000, S. 77f.), in allen drei auf Zusammenstimmen oder NichtF¨ allen ist klar: Zun¨ achst soll Kebes die Zusammenstimmen pr¨ ufen, um dann von dem Zugrundegelegten selbst Rechenschaft in 101d4 h¨ angt lediglich ab, abzulegen. Von der Interpretation von ob das Rechenschaft-Ablegen den Charakter eines Streitgespr¨ aches hat oder nicht.
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darin, die zugrundegelegte Bestimmtheit zu bestimmen. Ohne n¨ ahere Bestimmung bleibt die Zugrundelegung der Bestimmtheit richtig, aber leer 105c1). Sokrates’ Hinweis, von der Hypothese mitund einf¨ altig“ ( ” tels h¨ oherer Hypothesen“ Rechenschaft abzulegen, nennt die Methode zu ” einer solchen Bestimmung der zugrundegelegten Bestimmtheit. Eine Bestimmtheit wird durch die Angabe der sie definierenden Bestimmtheiten artikuliert. Wie bei der definierten Bestimmtheit ist auch bei den definierenden Bestimmtheiten zugrundezulegen, dass sie unterscheidbare Bestimmtheiten sind. In diesem Sinne sind auch die definierenden Bestimmtheiten Hypothesen. Die definierenden Bestimmtheiten sind h¨ oher“ als die definierte Bestimmtheit. Unter allen m¨ oglichen Be” stimmtheiten soll Kebes solange suchen, bis er etwas Geeignetes, d. h. bis er diejenigen Bestimmtheiten gefunden hat, die die urspr¨ ungliche Bestimmtheit definieren. Im Fortgang des Gespr¨ achs im Phaidon wird keine Bestimmtheit durch die Angabe anderer Bestimmtheiten vollst¨ andig bestimmt, anders als im Hippias Maior fragt Sokrates auch nicht danach. Ein Ansatz zu der Bestimmung einer Bestimmtheit sind aber die feine” ren“ ( 105c2) Hypothesen: Die Zahl Drei ist ungerade, Feuer ist warm und Schnee ist kalt etc.; die Bestimmtheit der Drei enth¨ alt die Bestimmtheit des Ungeraden, die Bestimmtheit des Feuers die der W¨ arme, die Bestimmtheit des Schnees die der K¨ alte. 56 In Sokrates’ Sprechweise in der entsprechenden Textpassage (103c-105b) schillert besonders die Bedeutung von Feuer“ und Schnee“ zwischen den Instanzen von Feuer ” ” und Schnee und den jeweiligen Ideen. Den Tatsachen, dass eine Instanz von Feuer warm, eine Instanz von Schnee kalt ist, entspricht, dass die Bestimmtheit des Feuers die Bestimmtheit der W¨ arme, die Bestimmtheit des Schnees die der K¨ alte enth¨ alt. Es geht hier nicht darum, Instanzen als Ursachen f¨ ur die Bestimmtheit von anderen Instanzen anzugeben – das w¨ are ein R¨ uckfall hinter die Zweite Fahrt 57 –, sondern die feineren 56
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An dieser Stelle unterscheidet sich die hier entwickelte Interpretation von Schmitt (1973, S. 246) und Radke (2002, S. 47f.): Beide verstehen die Beispiele dahingehend, dass die angegebenen h¨ oheren Bestimmtheiten notwendige und hinreichende Bedingungen sind, die immer und nur angeben, was bei Dreiheit, Feuer-Sein und Schnee-Sein der Fall ist. Neben dem Ungeraden kommen der Drei noch viele andere Bestimmtheiten zu, z. B. gr¨ oßer als Zwei und kleiner als Vier zu sein, das Feuer ist nicht nur warm, sondern auch hell, der Schnee nicht nur kalt, sondern auch weiß, vgl. Vlastos (1978, S. 158 Anm. 66). Ein solcher R¨ uckfall liegt bei Gonzalez vor, der bei den h¨ oheren Hypothesen an kausale Verursachung durch Instanzen von Ideen denkt, solche Instanzen, die immer an einer Idee teilhaben, z. B. Feuer und W¨ arme: The recognition, however, that fire as long as ” it is fire always participates in heat allows the existence of an intermediary cause that introduces the causality of the form into the world of generation and destruction“, f¨ ur eine solche Ursache gilt: it is ontologically ‘lower’ than the initial form-hypothesis“ ” (Gonzalez, 1998a, S. 205), vgl. Nehamas (1973, S. 490). Keinen R¨ uckfall hinter die Zweite Fahrt bedeutet u ¨brigens die aristotelische Definitionsweise durch genus proxi-
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Hypothesen geben Verh¨ altnisse zwischen Bestimmtheiten an. Damit gilt auch schon f¨ ur den Phaidon, dass die Ideen hier nicht heilig und ehrw¨ ur” dig“ ( , Sophistes 249a1f.), relationslos wie G¨ otterstatuen nebeneinander stehen. Die Methode der Zweiten Fahrt beginnt mit der Zugrundelegung der Bestimmtheiten, dass sie selbst f¨ ur sich selbst und bestimmt sind, und f¨ uhrt mit den im Sinne der feineren Hypothesen interpretierten h¨ oheren Hypothesen bis zur Angabe der Bestimmtheit einzelner Ideen und damit der Relationen zwischen den Ideen. Sokrates betont die Sicherheit der Zugrundelegung der Bestimmtheiten (105b7), bei den feineren Hypothe105b8). Wie sen sieht er eine andere Sicherheit ( die Sicherheit der Hypothesen zu beurteilen ist, h¨ angt von der Rolle der Erfahrung ab. 58 Die urspr¨ ungliche Hypothese von der Bestimmtheit der Bestimmtheiten gilt vollkommen a priori und ist eine von aller Erfahrung unabh¨ angige Voraussetzung der Erkenntnis von Bestimmtheiten. Sobald es aber um die Bestimmtheit des Sch¨ onen, des Feuers und des Schnees geht, spielt die sinnliche Erfahrung von sch¨ onen Dingen, von brennendem Feuer und kaltem Schnee eine Rolle. Dass Feuer heiß und Schnee kalt ist, wissen wir bekanntlich nicht a priori. 59 Die Verbindung zwischen den Bestimmtheiten Feuer und W¨ arme, Schnee und K¨ alte besteht auch ohne unsere Erfahrung von diesen Bestimmtheiten; dass diese Verbindungen bestehen, ist dagegen eine Erkenntnis aposteriori. Dass die Bestimmtheiten durch Angabe h¨ oherer Bestimmtheiten zu bestimmen sind und die Bestimmtheiten daher in bestimmten Relationen zueinander stehen, gilt a priori; in welchem Verh¨ altnis die Bestimmtheiten zueinander stehen, l¨ asst sich a priori nicht angeben. Das erkl¨ art die andere Sicherheit der feineren Hypothesen.
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mum et differentia specifica: Eine Bestimmtheit, die Art, wird durch Angabe von zwei anderen Bestimmtheiten, Gattung und Differenz, bestimmt; sowohl Gattung als auch Differenz w¨ aren im Sinne von 101d8 h¨ ohere“ Bestimmtheiten. ” Vgl. Hackforth (1955, S. 157), Stahl (1960, S. 436f.), Bostock (1986, S. 147, 162) und Kanayama (2000, S. 66-76). Das ist auch bei Platon nicht anders, insbesondere die Wiedererinnerungslehre behauptet nichts Gegenteiliges, vgl. dazu Kapitel 7.
2 Die Charakterisierung der Ideen In der Zweiten Fahrt unterscheidet Sokrates Bestimmtheit und Bestimmtes, Idee und Instanz. Sokrates spricht im Phaidon von den Ideen einerseits und den Instanzen andererseits als zwei Formen von Seiendem, (79a6). 1 W¨ ahrend die Instanzen zu anderer Zeit anders und niemals auf dieselbe Weise sind (78c6f., d2, e4f.), verhalten sich die Ideen immer auf dieselbe Weise (78c5, d2, d5f.) und nehmen die Ver¨ anderung, genauer: den Umschlag ( ) niemals auf (78d4). Die eine Form von Seiendem ist im emphatischen Sinne; die andere Form von Seiendem ist nicht, sondern wird, sie ist die Gesamtheit all dessen, was der Ver¨ anderung unterworfen ist. In der Textpassage zur Wiedererinnerung geht es um die Idee der Gleichheit und die vielen gleichen Dinge. Nachdr¨ ucklich weist Sokrates an dieser Stelle darauf hin, dass eine Instanz schlechter“ ( 74e1, 75b7) ist als die Idee, dass ihr etwas man” gelt oder dass sie zumindest bed¨ urftig ist gegen¨ uber der Idee (74d5f., d9, e3, 75a3, b1). In der Politeia (477a) unterscheidet Sokrates nicht zwei Formen von Seiendem, sondern dreierlei, wobei es sich aber nicht mehr um Formen von Seiendem handelt, sondern um das vollkommen Seiende ( ), das Nicht-Seiende ( ) und etwas zwischen beiden ( ). Der Abstufung von Sein entspricht an dieser Stelle eine der Erkennbarkeit: Das vollkommen Seiende ist vollkommen erkennbar, das NichtSeiende ist auch nicht erkennbar, von dem, was zwischen beiden steht, gibt es immerhin Meinung ( ). Eine etwas andere Einteilung nimmt Platon im Timaios vor: Timaios f¨ uhrt zun¨ achst eine Unterscheidung zwischen Werdendem und Seiendem ein, ersteres wahrnehmbar, letzteres im Denken zug¨ anglich (Timaios 27df.); diese Zweiteilung erweitert er sp¨ ater um das, was das Werdende aufnimmt ( 49a6, vgl. 52b1), zu einer Dreiteilung. Die Ideen sind auch nach dieser Einteilung das im emphatischen Sinne Seiende, w¨ ahrend das Werden nicht im eigentlichen Sinne ist, sondern sich irgendwie ans Sein klammert“ ( ” 52c4f.). 1
F¨ ur die Charakterisierung dieser Formen des Seienden gibt es im Platonischen Werk mehrere klassische Textpassagen: Dazu geh¨ oren neben Phaidon 78c-79a auch Phaidon 74a-75b, Symposion 211ab, Politeia 476e-479d sowie Timaios 27df. und 48e-52c.
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2.1 Sein als Bestimmt-Sein: Politeia 476e-477a Wie ist das emphatische Sein der Ideen zu verstehen? In der Politeia (476ef.) stimmen Sokrates und Glaukon zun¨ achst in f¨ unf Punkten u ¨berein: 1. Wer erkennt, erkennt etwas ( 476e7). 2. Er erkennt etwas Seiendes ( 476e10). 3. Was nicht etwas ist, kann auch nicht erkannt werden ( 477a1). 4. Das vollkommen Seiende ist auch vollkommen erkennbar ( 477a3). 5. Das auf keine Weise Seiende ist auch ganz und gar unerkennbar ( 477a3f.). Von diesen Punkten geht eine Argumentation aus, die etwas zwischen ( 477a7ff.) Seiendem und Nicht-Seiendem etablieren soll, dem eine bestimmte Erkenntnisweise eigent¨ umlich ist, n¨ amlich die Meinung ( 477b5ff.). 2 Ist Sein“ hier im ” Sinne von Existenz“ zu verstehen? Die Schwierigkeit dieser Frage beginnt ” damit, dass auch das vermeintlich Erkl¨ arende, Existenz“, unklar ist. Oh” ne die Schwierigkeiten des Existenz-Begriffes weiter auszuf¨ uhren, k¨ onnte eine Erkl¨ arung von Existenz“ sein: Was zu einer bestimmten Zeit einen ” bestimmten Ort einnimmt. 3 Die Ideen sind nicht zu irgendeiner bestimmten Zeit da. Wenn es von der Idee des Sch¨ onen heißt, sie sei immer ( , Symposion 211a1, b2), oder wenn den Ideen insgesamt Ewigkeit zugeschrieben wird (z. B. Timaios 29a5), dann soll das nicht bedeuten, dass die Ideen zu jedem Zeitpunkt sind, sondern dass sie u ¨berhaupt nicht in der Zeit sind. Das Immer-Sein der Ideen ist die zeitenthobene Ewigkeit (Timaios 37c-38b). Die Ideen sind also nicht in der Zeit, aber immerhin existieren“ sie dann vielleicht am u ¨berhimmlischen Ort“ (Phaidros ” ” ¨ 247c3, vgl. Politeia 592b3)? Der Himmel ist der Ort aller Orter, die Metapher vom u ¨ber himmlischen Ort zielt darauf, dass die Ideen selbst an u ¨berhaupt keinem Ort sind. 4 Ideen sind weder im Raum noch in Zeit. 2
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¨ Einen Uberblick u ¨ber die Kommentarliteratur bietet Graeser (1991). Seither hat Szaif (1998, S. 102-132, 183-324) eine ausf¨ uhrliche Abw¨ agung relevanter Textstellen zur Diskussion beigetragen. Aus der Perspektive der in der vorliegenden Arbeit entwickelten Interpretation stellt sich die Sachlage allerdings etwas anders dar als f¨ ur Szaif. Grundlegend f¨ ur diesen Unterschied sind verschiedene Auffassungen von der Platonischen Idee: Szaif orientiert sich in seiner Diskussion weitgehend am Verst¨ andnis der Idee als Paradigma (zu dem die Einzelf¨ alle in einer Approximationsbeziehung stehen), siehe insb. Szaif (1998, S. 85-95), im Gegensatz zu der hier entwickelten Interpretation als Seinsbestimmtheit. Die Annahme einer Approximationsbeziehung zwischen Idee und Instanz ist problematisch, weil sie den kategorialen Unterschied verwischt, so als ob die Instanz im Grenz¨ ubergang Idee werden k¨ onnte. Die Textpassage Politeia 476eff. ist f¨ ur die Fragestellung der vorliegenden Arbeit vor allem wegen ihrer Unterscheidung von Sein und Nicht-Sein interessant. Auf die Unterscheidung von Wissen und Meinung werde ich an dieser Stelle nicht n¨ aher eingehen und verweise statt dessen auf Kapitel 8.1. ¨ Vgl. Gorgias Uber das Nichtseiende, Fragment 3 (Nr. 70) in Buchheim (1989, S. 56). Vgl. Aristoteles Physik III 4, 203a9 und IV 2, 209b34.
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Wenn Existenz“ bedeutet, dass etwas sich zu irgendeiner Zeit an irgend” einem Ort befindet, dann existieren die Ideen nicht. In der fraglichen Textstelle ist nicht nur von Sein die Rede, sondern auch von Nicht-Sein und von etwas zwischen beidem, das ist und auch nicht ist. Wenn Sein als Existenz zu verstehen ist, dann bedeutet NichtSein Nicht-Existieren, f¨ ur dasjenige zwischen Sein und Nicht-Sein, w¨ urde gelten, dass es existiert und nicht existiert. Die Aussage, dass etwas nicht existiert, ist so problematisch wie diejenige, dass es existiert. Zus¨ atzlich stiften hier Fragen der folgenden Art Verwirrung: In welchem Sinne gibt es dasjenige, von dem wir sagen, dass es nicht existiert? Hier ist nicht der Ort, um solchen Fragen nachzugehen. Wichtiger ist aber, warum vollkommen erkennbar sein soll, was existiert. Warum ist vollkommen erkennbar, was zu irgendeiner Zeit irgendeinen Ort einnimmt, so entlegen dieser Raumzeit-Punkt auch sein mag, w¨ ahrend es u ¨berhaupt keine Erkenntnis von demjenigen geben soll, was nicht existiert? Pegasus ist zu keiner Zeit an irgendeinem Ort, deshalb gilt aber nicht ohne weiteres, dass Pegasus in keiner Weise erkennbar ist; immerhin k¨ onnen wir angeben, was wir unter Pegasus“ verstehen. Die Objekte der Geometrie existieren eben” falls nicht zu irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort, der Erkenntnis sind sie trotzdem zug¨ anglich. Problematisch ist es auch, dasjenige existent“ zu ” nennen, was zwischen Sein und Nicht-Sein ist und nicht ist: Wenn etwas existiert und nicht existiert in dem Sinne, dass es zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Ort einnimmt und nicht einnimmt, dann handelt es sich dabei um einen handfesten Widerspruch. Wenn wir Platon nicht die Konzeption eines widerspr¨ uchlichen Seinsbereiches unterstellen wollen, kann Sein“ Politeia 476ef. nicht Existenz“ im ausgef¨ uhrten Sinne ” ” meinen. 5 Die Bedeutung der Textstelle erschließt sich u ¨ber das Kriterium der Erkennbarkeit. Erkennen ist sowohl f¨ ur Platon als auch f¨ ur Aristoteles 5
Vlastos (1965, S. 8) behauptet ebenfalls, dass es bei Platons Sprechweise vom voll” kommen“ oder rein“ Seienden nicht um Existenzgrade, um mehr oder weniger Exis” tierendes gehe. Statt dessen f¨ uhrt er die Abstufung des Seienden auf ein bestimmtes Verst¨ andnis von Wissen zur¨ uck, wonach f¨ ur Platon sicheres Wissen darin bestehe, dass es logical necessity“ oder logical certainty“ habe (Vlastos, 1965, S. 12, 17). Dieses ” ” Kriterium k¨ onnten aber nur Aussagen u ullen, empirisches Wissen k¨ onne ¨ber Ideen erf¨ dem nicht gen¨ ugen: Eine Aussage der Form F ist H“ handle demnach von Ideen F ” und H und sei wahr, weil diese Ideen logisch oder wesentlich verbunden seien (Vlastos, 1965, S. 13). Platon habe deshalb keine andere Wahl gehabt und sagen m¨ ussen, dass allein Ideen vollkommenes und reines Sein h¨ atten (Vlastos, 1965, S. 17). F¨ ur eine Kritik dieser Interpretation siehe Brentlinger (1972, S. 120-123, 149-151). Brentlinger (1972, S. 152) selbst schl¨ agt vor: take ,has more properties of the perfect F ‘ as the ” definiens of ,more real F ‘“. Diese Interpretation beruht allerdings auf einem zweifelhaften Verst¨ andnis von Ideen als vollkommenen F -Dingen mit bestimmten Eigenschaften, von denen sich eine mehr oder weniger große Zahl auch an den F -Instanzen findet.
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Die Charakterisierung der Ideen
nicht Bewusstsein haben von etwas“, sondern Unterscheiden, .6 ” Als Beleg l¨ asst sich die bereits in Kapitel 1.1 diskutierte Stelle Hippias Maior 286-7 anf¨ uhren: Sokrates sucht nach demjenigen, wodurch wir etwas Sch¨ ones als sch¨ on unterscheiden k¨ onnen von demjenigen, was nicht sch¨ on ist. Die Erkenntnis dessen, was das Sch¨ one ist, zeigt sich darin, diesen Unterschied angeben zu k¨ onnen. Entsprechende Fragestellungen sind Ausgangspunkt der Untersuchung in allen so genannten Definitionsdialogen. Auch das Dihairesis-Verfahren im Sophistes und Politikos beruht auf dem Verst¨ andnis von Erkennen als Unterscheiden. Was etwas ist, wird in den Dihairesen dadurch erkannt, dass es von anderem unterschieden wird. Etwas kann nur erkannt werden, wenn es als dieses Etwas unterscheidbar ist. Das erkennende Unterscheiden beschr¨ ankt sich allerdings nicht darauf, die Andersheit zu anderem zu konstatieren, Platon ist kein Differenz-Denker“. 7 Die zu erkennende Sache ist nicht nur von dem zu ” unterscheiden, was sie nicht ist, sondern auch als das zu identifizieren, was sie ist. Die doppelte Funktion der Definition 8 besteht darin, abzugrenzen, was das Definiendum nicht ist, und einzugrenzen, was es ist. Eine Sache ist erkennbar nur dann, wenn sie unterscheidbar ist, d. h. die Sache muss etwas sein und anderes nicht sein, kurz: die Sache muss bestimmt sein. Umgekehrt ist nicht erkennbar, was nicht unterscheidbar ist. Hierf¨ ur lassen sich Belege anf¨ uhren: Die , das Aufnehmende, im Timaios (51a6) ist eine schwierige und dunkle Form“ ( ” , Timaios 49a4, vgl. Philebos 24a6), denn f¨ ur sich ist sie frei von den Bestimmtheiten, die sie aufnimmt (50bff.). Sie ist deshalb nur durch ein Bastard-Denken“ (52b3) erfassbar: Der fehlende Vater“ ist ” ” die Bestimmtheit. Ausgehend von dem, was Bestimmtheit hat, soll durch Negation aller Bestimmtheit etwas f¨ ur sich selbst Bestimmungsloses gedacht werden. Aber insofern das Aufnehmende selbst keine Bestimmtheit 6
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Vgl. dazu Bernard (1988, z. B. S. 224) und Radke (2002, S. 33f.). Das gilt von der bloßen sinnlichen Wahrnehmung bis zur Vernunfterkenntnis. Als Beispiel f¨ ur die Unterscheidungsleistung sinnlicher Wahrnehmung aus der zur Diskussion stehenden Passage siehe Politeia 477c8f.; dass es auch bei der Ideenerkenntnis um eine Unterscheidungsleistung geht, belegt z. B. Politeia 534b9. Grundlegend f¨ ur das Folgende ist vor allem Schmitt (2003, S. 54, 215-240). Platon deutet die M¨ oglichkeit eines Differenz-Denkens an zwei Stellen kurz an: Parmenides 146d1 und Sophistes 255c8f. Parmenides 146d5ff. spielt er die Aporien durch, in die man ger¨ at, wenn man Selbigkeit und Verschiedenheit in Seiendem unvereinbar einander entgegensetzt und Selbigkeit des Seienden ohne Verschiedenheit denkt. Den umgekehrten Fall, Verschiedenheit ohne Selbigkeit zu denken, spielt Platon an dieser Stelle nicht durch, vgl. dazu aber 164c1f.: Verschieden . . . ist das Verschiedene von ” einem Verschiedenen“. In der Diskussion der gr¨ oßten Gattungen im Sophistes wird das dialektische Zusammenspiel von Selbigkeit und Verschiedenheit gedacht. Die Dialektik von Selbigkeit und Verschiedenheit im Sophistes ist der Ausweg aus der im Parmenides entwickelten Aporie. , beide Begriffe bedeuten w¨ ortlich Begrenzung. Definition“ u ¨bersetzt ”
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hat, ist es f¨ ur das Denken (und alle anderen Erkenntnisverm¨ ogen) nicht erfassbar. Wenn wir das Aufnehmende bestimmen als dasjenige, was f¨ ur sich frei ist von allen Bestimmtheiten, handelt es sich dabei lediglich um eine Bestimmung ex negativo. Timaios bezeichnet das Aufnehmende als eine schwierige und dunkle Form“, die Helligkeitsmetaphorik ist auch ” an der gegenw¨ artig untersuchten Stelle pr¨ asent: Was zwischen Sein und Nicht-Sein steht, k¨ onne nicht dunkler“ als das Nicht-Seiende und heller“ ” ” als das Seiende sein (Politeia 479c8f., vgl. 478c14). ¨ Aus dieser Uberlegung erschließt sich, warum das auf keine Weise Seiende auch ganz und gar unerkennbar ist: Unerkennbar ist etwas, insofern es keinerlei unterscheidbare Bestimmtheit hat. Es hat radikal keinerlei Bestimmtheit, die es erlauben w¨ urde, es von anderem zu unterscheiden und als es selbst zu identifizieren. Es ist damit unm¨ oglich, von ihm zu sagen, was es ist, denn die Angabe dessen, was es ist, identifiziert eine Bestimmtheit der Sache. Es ist aber nicht nur unm¨ oglich zu bestimmen, was es ist, man kann auch nicht darauf zeigen, denn schon der Hinweis, dieses (nicht jenes) sei gemeint, unterscheidet es von anderem. Was frei von unterscheidbaren Bestimmtheiten ist, ist nicht irgendetwas Bestimmtes. Was aber in keiner Weise irgendetwas Bestimmtes ist, das ist u ¨berhaupt nicht (vgl. Politeia 478b12-c1 und das Problem des in keiner Weise Seienden, , Sophistes 237b-d). 9 Von ihm kann man nicht einmal sagen, dass es nicht sei. Umgekehrt gilt, dass sobald irgendeine Bestimmtheit von etwas identifiziert werden kann, dann geh¨ ort es nicht mehr zu jenem auf gar keine Weise Seienden, von dem keinerlei Bestimmtheit unterscheidbar ist. Nach dieser Interpretation ist evident, dass das auf keine Weise Seiende auch ganz und gar unerkennbar ist. Was folgt daraus f¨ ur die Erkennbarkeit des Seienden? 10 Wenn das Seiende u ¨berhaupt erkennbar sein soll, muss es unterscheidbar sein. Damit es unterscheidbar sein kann, muss es irgendeine Bestimmtheit haben. Nun geht es an dieser Stelle nicht um etwas, das irgendwie erkennbar ist und mithin auch irgendwie bestimmt sein muss. Mit dem gr¨ oßten sprachlichen Nachdruck geht es um dasjenige, was vollkommen ( 477a3) 9
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Zu der Interpretation von Nicht-Sein als Bestimmungslosigkeit siehe auch Graeser (1991, S. 376 Anm. 28), der allerdings nicht auch umgekehrt Sein als Bestimmt-Sein versteht. Nach Graeser (der auf eine Mitteilung von Theo Ebert hinweist) entspringt die These Was vorz¨ uglich ist, ist vorz¨ uglich erkennbar (477a3)“ einem Fehlschluss: Denn ” ” aus der These ,(x)(gnoston x → on x)‘[476e10-477a1] l¨ aßt sich zwar ,(x)(me on x → me gnoston x)‘ableiten (i. e. die Kontraposition, aus der die These gerade vorher abgeleitet wurde), nicht aber ,(x)(on x → gnoston x)‘, i. e. die einfache Umkehrung der in 477a1 erreichten These“ (Graeser, 1991, S. 375 Anm. 27). Wenn man dagegen Sein als Bestimmt-Sein und Erkennen als Unterscheiden versteht, dann sind Sein und Erkennbarkeit Korrelate und es gilt ,(x)(on x ↔ gnoston x)‘, womit Platon an dieser Stelle kein Fehlschluss – inszeniert oder versehentlich – unterl¨ auft.
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erkennbar ist. Im Erkennen werden Bestimmtheiten unterschieden. Die¨ se Uberlegung legt nahe, dass die Bestimmtheit selbst dasjenige ist, was vollkommen erkennbar ist. In der Zweiten Fahrt hat Sokrates Bestimmtheit und Bestimmtes unterschieden; davon ist das Bestimmte erkennbar und die Bestimmtheit vollkommen erkennbar. Aber warum sollte das Bestimmte, das die Bestimmtheit immerhin hat, nicht selbst vollkommen erkennbar sein? Sokrates qualifiziert und (477a3) durch , nur vier Zeilen sp¨ ater ersetzt er durch (ebenso 478d6 und 479d5): Zur Abgrenzung des vollkommen Seienden von dem aus Sein und Nicht-Sein Gemischten, spricht Sokrates vom vollkommen Seienden nun als dem rein Seienden. Im Gegensatz zu der bestimmten Sache ist die Bestimmtheit vollkommen erkennbar, weil sie diese eine Bestimmtheit rein von anderen Bestimmtheiten ist. Ein sch¨ ones M¨ adchen ist nicht nur sch¨ on, sondern auch M¨ adchen. Was bestimmt ist, hat nicht nur eine Bestimmtheit, sondern mehrere; der Bestimmungsversuch zeigt, dass etwas Bestimmtes praktisch unz¨ ahlig viele Bestimmtheiten hat, die wiederum in Verh¨ altnissen zueinander stehen. Die Schwierigkeit der Durchf¨ uhrung von Bestimmungen entspringt nicht der Tatsache, dass die Sache unbestimmt ist, sondern dass sie zahlreiche Bestimmungen hat, deren Verh¨ altnis zueinander nicht leicht anzugeben ist. 11 Was vollkommen erkennbar und vollkommen seiend ist, ist die Bestimmtheit selbst f¨ ur sich selbst: die Idee. Sein“ bedeutet hier offenbar ” nicht Existieren“ in dem oben angegebenen Sinn raum-zeitlichen Daseins. ” Wenn u selten in der Be¨berhaupt, dann verwendet Platon das Verb deutung von existieren“. Sein ist f¨ ur Platon stets mit Bestimmtheit ver” bunden. 12 Als Beleg daf¨ ur l¨ asst sich ferner Parmenides 144b (vgl. 141e11 und Sophistes 244b-d) anf¨ uhren: Das Sein ist von allem am meisten geteilt, es ist zerhauen“. Gemeint ist: Sein ist bei jedem Seienden, denn ” wie sollte Sein Seiendes verlassen?“ (144b3f.). Jedes Seiende ist zugleich ” eines, so dass Sein und Eines an vielen Stellen zugleich sind, n¨ amlich in allen Seienden. Sein und Eines sind in jedem Seienden ohne darin aufzugehen oder in kleine Teile zu zerfallen. Sein steht nicht alleine, es ist stets mit Einheit verbunden und kommt dem Seienden nicht als ein weiteres 11
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Ein Platonisches Beispiel f¨ ur diese Schwierigkeit ist die Bestimmung des Sophisten im Sophistes: Keine der Dihairesen bestimmt f¨ ur sich betrachtet den Sophisten hinreichend, aber trotzdem bestimmen selbst die offenkundig ironischen Unterscheidungen einen richtigen Aspekt der Sache. Die Angabe einer dieser Bestimmungen reicht f¨ ur die Bestimmung des Sophisten nicht aus. Die Versuche, f¨ ur Platon die Unterscheidung eines ist“ i. S. v. existiert“ nachzuweisen, ” ” behandelt Frede (1967, vgl. insb. S. 40-54), vgl. ferner Vlastos (1965, S. 8 Anm. 5), Graeser (1975, S. 148-155), Kahn (1981, S. 112), Radke (2002, S. 30-33) und Silverman (2002, S. 19): existence, if it makes sense as a notion at all to Plato, flows from ” essence“.
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reales Pr¨ adikat“ zu. 13 Das Sein raum-zeitlicher Erscheinungen ist stets ” mit Bestimmtheit verbunden. Es ist nicht leicht anzugeben, was den Erscheinungen außer Bestimmtheit noch zukommen muss, damit wir ihnen raum-zeitliche Existenz zuschreiben. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich dabei um besondere Bestimmtheiten wie haptische oder optische Wahrur sich selbst, die Idee, nehmbarkeit handelt. 14 Die Bestimmtheit selbst f¨ ist von diesen besonderen Bestimmtheiten frei, die Idee ist weder haptisch noch optisch wahrnehmbar. Wie auch immer das Sein der Erscheinungen zu fassen ist, das Sein der Ideen ist reines Bestimmt-Sein. 15 Eine klassische Einf¨ uhrung von Ideen im Dialog erfolgt durch die Fragen Ist X etwas oder nichts?“, Sagen wir, X sei etwas oder nichts?“, ” ” wobei X f¨ ur eine der dabei typischerweise angef¨ uhrten Bestimmtheiten steht. Viele Kommentatoren verstehen diese Frage im Sinne von Existenzfragen: Existiert die Idee X oder existiert eine solche Idee nicht? Was hierbei unter Existenz“ zu verstehen ist, bleibt allerdings unklar. Ge” wiss d¨ urfte dabei kaum jemand an raum-zeitliche Existenz in dem oben skizzierten Sinne denken, eher schon an materiefreie Existenz“ meta” physischer Gegenst¨ ande“ in einem Ideenhimmel“. Von Existenz“, Ge” ” ” ” genstand“ und Himmel“ ist in einer solchen Erkl¨ arung metaphorisch die ” Rede. Wenn bei Ideen u ¨berhaupt von Existenz“ zu sprechen ist, dann in ” 13
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Das Gegenteil behauptet Br¨ ocker (1959, S. 423): Platon h¨ alt [. . . ] die Existenz f¨ ur ” ein Pr¨ adikat der Dinge wie jedes andere, das sie bestimmt in dem, was sie sind. Er weiß noch nicht, was Kant weiß, wenn er sagt: ,Sein ist kein reales Pr¨ adikat‘“. Anselm denkt Gott als dasjenige, wor¨ uber hinaus nichts Gr¨ oßeres gedacht werden kann, womit Gott auch das Pr¨ adikat des Seins zukomme. Gegen diesen Gottesbeweis wendet Kant ein: Sein ist offenbar kein reales Pr¨ adikat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu ” dem Begriffe eines Dinges hinzukommen k¨ onne“ (KdrV B626). Sein“ bedeutet f¨ ur ” Kant in der Anschauung Gegeben-Sein“, und in der Tat f¨ ugt ein solches Sein“ dem ” ” Begriff nichts hinzu, es ist kein reales Pr¨ adikat. Nach Br¨ ocker ist Platons allgemeiner ” Seinsbegriff“: Alles das ist seiend, was an der Idee des Seienden ( ) teilhat. Und ” diese Antwort beruht darauf, dass Platon sich nicht am esse essentiae, sondern am esse existentiae orientiert“ (Br¨ ocker, 1959, S. 422). Br¨ ocker erkl¨ art allerdings nicht, warum nach diesem Seinsverst¨ andnis das Nicht-Seiende zugleich nicht erkennbar ist. Hier ist auch deshalb Vorsicht geboten, weil Instanzen f¨ ur Platon – anders als das Einzelne f¨ ur Aristoteles – nicht nur materielle Gegenst¨ ande sind; die Instanzen des Sch¨ onen k¨ onnen auch Reden, Seelen, Gesetze oder Erkenntnisse sein. Vgl. dazu z. B. Symposion 210a-d und Szaif (1998, S. 83-85). Diese Interpretation f¨ ugt sich zu der Bestimmung von Sein, die H¨ olscher (1976, S. 39) vorgelegt hat: Das platonische Seiende ist Wesensbestimmtheit, sein Gegenbegriff ist nicht das Nichts, sondern das Unbestimmte. Es bietet sich ferner folgender Ausblick: Analog zu dem Verst¨ andnis von Erkennen als einem identifizierenden Unterscheiden ist das Bestimmt-Sein n¨ aher zu verstehen als Selbig-verschieden-Sein, d. h. Bestimmtheit ist nicht bloß Andersheit von anderem, das wieder anders als anderes ist, sondern das Bestimmte ist mit sich selbig von anderem verschieden, also selbig-verschieden (vgl. dazu die Dialektik der gr¨ oßten Gattungen im Sophistes 254bff.). Sein und Erkenntnis sind eng miteinander verwandt, die Begr¨ undung dieser Verwandtschaft steht allerdings noch aus.
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einer anderen Bedeutung als derjenigen eines raum-zeitlichen Vorliegens. Das Kriterium zur Beantwortung der Frage, ob das Sch¨ one etc. etwas sei oder nichts, besteht nicht darin, ob ein Gegenstand, genannt das Sch¨ o” ne“, zu irgendeiner Zeit einen Ort in der Welt einnimmt. Kriterium ist vielmehr, ob sch¨ on“ etwas anderes bezeichnet als nicht-sch¨ on“, ob es ” ” also einen Unterschied macht, ob etwas sch¨ on ist oder nicht. Eine vermeintliche Bestimmtheit ist keine Bestimmtheit, wenn kein Unterschied zwischen der vermeintlichen Bestimmtheit und ihrem Gegenteil besteht. Diese Erkl¨ arung unterscheidet sich von dem, was gew¨ ohnlich unter Exis” tenz“ verstanden wird. Deshalb ist es besser, u ¨berhaupt nicht von der Existenz“ von Ideen zu sprechen. ” Noch ein Wort zum metaphorischen Sprechen u ¨ber Ideen: Die Metaphern lassen sich teilweise auf Platons eigenen Sprachgebrauch zur¨ uckf¨ uhren, so z. B. die Himmelsmetaphorik auf die genannte Phaidros-Stelle und das Sonnengleichnis in der Politeia. Die Verwendung solcher Metaphern entspringt der Schwierigkeit, in einer Sprache, die prim¨ ar zum Zwecke der Verst¨ andigung u ande in der Welt gebildet ist, u ¨ber Gegenst¨ ¨ber etwas zu sprechen, was nicht Gegenstand in der Welt ist. Im Sprechen u ¨ber Ideen verschiebt sich die Bedeutung der dabei verwendeten Ausdr¨ ucke gegenu ¨ber ihrer normalsprachlichen Verwendung. Sprachphilosophen werden an dieser Stelle misstrauisch und wittern Scheinprobleme, die erst durch den philosophischen Sprachgebrauch entstehen. Platons Ideenphilosophie ist aber nicht das Resultat sprachlich induzierter Verwirrung, sondern Bedingung der M¨ oglichkeit sinnvollen Sprechens u ¨ber die Welt. Das zeigt sich in der erw¨ ahnten Verwandtschaft zwischen Ideenannahme im Phaidon und dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch bei Aristoteles – dessen G¨ ultigkeit unter Sprachphilosophen unstrittig ist. Weil Mensch und Nicht-Mensch nicht dasselbe sind, kann das Wort Mensch“ in seiner ” normalsprachlichen Verwendung etwas Bestimmtes bedeuten. Ideenphilosophie begr¨ undet, wieso Normalsprache funktionieren kann. Als solche Begr¨ undung kann sie nicht normalsprachlich verfahren.
2.2 Die Unver¨anderlichkeit der Ideen Das Bestimmt-Sein der Idee erkl¨ art das Sein im emphatischen Sinne noch nicht ganz. Das Sein der Idee als Bestimmtheit steht nicht nur im Gegensatz zur Unbestimmtheit, die Idee ist auch im Gegensatz zu dem, was nicht ist, sondern wird (Politeia 479a2f.). Die Idee ist. Was das bedeutet, ist schon deshalb nicht leicht zu verstehen, weil nicht klar ist, welche Alternative zum Sein der Idee damit abgewehrt werden soll. Instanzen entstehen und vergehen, bestehende Instanzen m¨ ogen sich ver¨ andern; von den
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Instanzen legt Sokrates im Phaidon sogar nahe, dass sie sich zu anderer ” Zeit anders und niemals auf dieselbe Weise“ ( 78c6f., vgl. 78d2 und e4f.) verhalten. Dieser Gedanke wird f¨ ur die Ideen geleugnet, f¨ ur sie gilt nicht, dass sie sich zu anderer Zeit anders und niemals auf dieselbe Weise verhalten, sie nehmen den Umschlag“ ” ( 78d4) nicht auf, und zwar niemals auch nur irgendeinen. Dass Sokrates die Ideen als unver¨ anderlich konzipiert, ist deutlich, aber er f¨ uhrt im Phaidon nicht aus, was mit der Ver¨ anderlichkeit der Ideen auf dem Spiel st¨ unde. Hinweise darauf finden sich in den Dialogen Theaitetos (182a-d) und Kratylos (439d3-11): Im Theaitetos untersuchen die Gespr¨ achspartner, was diejenigen eigentlich meinen, die behaupten, dass alles bewegt ist“ ” ( 181c2). Zur Untersuchung dieser Lehre nimmt Sokrates zwei Unterscheidungen vor. Erstens unterscheidet er (181d6) zwei ) und OrtsbeweArten der Bewegung, n¨ amlich Ver¨ anderung ( gung ( ); zweitens unterscheidet Sokrates eine so-bestimmte Sache ( 182a8) und ihre Bestimmtheit ( 182a9). Wenn alles bewegt ist, dann kann diese Bewegung sich nicht auf eine der beiden Bewegungsarten beschr¨ anken, weil es sonst etwas g¨ abe, was beharren w¨ urde (182d1). Auf dieser Grundlage fragt Sokrates nun nach der Bestimmtheit eines weißen Dinges: Die Bestimmtheit eines weißen Dinges, die Weiß” 16 182d3), ist sie ver¨ heit“ ( anderlich oder beharrt sie? Wenn die Bestimmtheit ver¨ anderlich ist, dann kann sie nicht l¨ anger als etwas Be” stimmtes“ ( 182d4, cf. S. 16) angesprochen werden. Theodoros bemerkt, dass diese Folgerung nicht nur f¨ ur die Weißheit“, sondern auch f¨ ur al” le anderen Bestimmtheiten gelten w¨ urde, dass also dem Redenden alle Bestimmtheit unter der Hand entweichen“ ( 182d7) w¨ urde. ” Damit ist die Lehre, dass alles bewegt ist“, ad absurdum gef¨ uhrt: Damit ” in der Sprache – so m¨ ussen wir folgern – u ¨berhaupt etwas Bestimmtes bezeichnet werden kann, m¨ ussen die Bestimmtheiten unver¨ anderlich sein. Auch im Kontext der Kratylos-Stelle (439d3-11) geht es darum, ob alles im Fluss“ ist. Sokrates f¨ uhrt zun¨ achst die Unterscheidung zwischen ” sch¨ onen Dingen, z. B. einem sch¨ onen Gesicht, und dem Sch¨ onen selbst ein. Kratylos gesteht zu, dass das Sch¨ one selbst immer so ist, wie es ist. Welche Bedeutung auch immer man den Zustimmungsfloskeln der Gespr¨ achspartner von Sokrates zugestehen mag, die Floskeln sind in sinnvoller Weise abgestuft. Kratylos best¨ atigt, dass das Sch¨ one selbst notwendig“ (439d7) ” 16
¨ Die Ubersetzung von als weiße Farbe“ verdeckt die Differenzierung, auf die ” Sokrates zielt. Unter weiße Farbe“ k¨ onnte man n¨ amlich eine dickfl¨ ussige Substanz ” verstehen, der die Beschaffenheit zukommt, weiß zu sein. Sokrates meint aber keine Substanz, der eine Bestimmtheit zukommt, sondern die Bestimmtheit selbst. Zu der ¨ als whiteness“ vgl. Liddell und Scott (1996). richtigen Ubersetzung von ”
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immer so ist, wie es ist. Die gleiche Notwendigkeit gesteht Kratylos dem n¨ achsten Schritt zu: W¨ are es nun wohl m¨ oglich, wenn es [das Sch¨ one ” selbst 17 ] uns immer unter der Hand verschw¨ ande, mit Wahrheit dar¨ uber auszusagen, zuerst nur, dass es jenes ist, und dann, dass es so und so beschaffen ist? Oder m¨ usste es nicht notwendig, indem wir noch reden, gleich ein anderes werden und uns entschl¨ upfen und gar nicht mehr so beschaffen sein?“ 18 Das Sch¨ one selbst ist die Bestimmtheit des Sch¨ onen, die es uns u ones und H¨ assliches zu unterscheiden. ¨berhaupt erlaubt, Sch¨ Eine sch¨ one Sache mag mit der Zeit h¨ asslich werden, ein ¨ asthetisches Urteil u oglicherweise korrigiert werden. Die ¨ber die Sache muss dann m¨ in der Zweiten Fahrt vorgenommene Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem erlaubt, trotz der Ver¨ anderung der Sache an der Identit¨ at der Bestimmtheit festzuhalten. Anders verhielte es sich, wenn die Bestimmtheit selbst den Umschlag, die , aufn¨ ahme. Damit st¨ unde nicht mehr nur die Richtigkeit eines einzelnen Urteils auf dem Spiel: Wenn die Bestimmtheit des Sch¨ onen selbst umschl¨ uge und die Bestimmtheit des Sch¨ onen nicht mehr die Bestimmtheit des Sch¨ onen, sondern des H¨ asslichen w¨ are, dann st¨ unde mit der Unver¨ anderlichkeit der Bestimmtheiten die M¨ oglichkeit bestimmter Unterscheidungen u ¨berhaupt auf dem Spiel. 19 An dieser Stelle steht zurecht jene vielzitierte Formel aus dem Parmenides (135c1f.): Wenn jemand eine identische, bleibende Idee f¨ ur ” ein jedes, das es gibt, nicht zulassen will“, dann wird er die M¨ oglichkeit, ” u unftig zu untersuchen, v¨ ollig vernichten.“ 20 ¨berhaupt noch vern¨ 17
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Als Subjekt zu 439d9 ist das Sch¨ one selbst zu erg¨ anzen, nicht die sch¨ onen Dinge. Andernfalls st¨ unde erstens die Einf¨ uhrung der Unterscheidung zwischen Idee 439d5 und Instanz zusammenhanglos im Text, zweitens greift Sokrates d10 und d11 wieder auf. Vgl. Brentlinger (1972, S. 133ff., mit insb. 136), Schmitt (1973, S. 156 Anm. 4) und Gonzalez (1998a, S. 86f. und S. 309f. Anm. 50). ¨ Kratylos 439d8-11 in Schleiermachers Ubersetzung. Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um die Verschiebung von Wortbedeutungen, die mit Verschiebungen der Wortverwendung verbunden sein m¨ ogen. Im Sprechen werden immer schon Bestimmtheiten unterschieden. Welche Bestimmtheiten dabei unterschieden werden, mag der Ver¨ anderung unterworfen sein, insbesondere wenn sich die Bedeutung einzelner Worte verschiebt. Damit geht einher, dass unsere Auffassung der Bestimmtheiten variiert. Hier geht es aber um etwas anderes: Nicht um unsere sprachliche oder sonstige Auffassung von Bestimmtheiten, sondern um die Bestimmtheiten selbst. Weder die Ver¨ anderlichkeit ihrer Instanzen noch die unserer Erkenntnis affiziert die Ideen. ¨ Ubersetzung aus Zekl (1972, S. 33).
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2.3 Die Denkbarkeit der Ideen Bestimmtheiten sind nicht sichtbar, sondern denkbar. 21 Sichtbar sind allein die Instanzen. In dieser Unterscheidung steht die optische Wahrnehmung stellvertretend f¨ ur die sinnliche Wahrnehmung u ¨berhaupt (vgl. Phaidon 65d6f.). Schwierigkeiten bereitet die Unterscheidung zwischen wahrnehmbaren Instanzen und denkbaren Bestimmtheiten, insofern in dem Zusammenspiel von Wahrnehmungsverm¨ ogen und Denkverm¨ ogen nicht ganz klar ist, wo hier die Grenze zu ziehen ist. So heißt es im Kontext des bereits erw¨ ahnten Fingerbeispiels in der Politeia (523aff.), dass einiges durch die Wahrnehmung hinreichend unterschieden wird ( 523b2), und als Beispiel nennt Sokrates die Wahrnehmung eines Fingers. Anderes wird durch die Wahrnehmung nicht hinreichend unterschieden, weil die Wahrnehmung dieses ebensosehr als dessen Gegenteil zeigt (523c2f.), als Beispiel nennt Sokrates Gr¨ oße und Kleinheit, d. h. was in einer Wahrnehmung groß erscheint, zeigt sich in einer anderen Wahrnehmung als klein. Insofern Sokrates von der Wahrnehmung eines Fingers spricht, hat Wahrnehmung hier einen viel weiteren Sinn als bei der Wahrnehmung des Warmen, Harten, Leichten oder S¨ ußen (Theaitetos 184e4, vgl. die eigent¨ umliche Wahrnehmung“ in Aristoteles’ ” De anima II 6, 418a1ff.). Zu einer solchen Wahrnehmung hat das Denkverm¨ ogen noch keinen Beitrag geleistet. Die Wahrnehmung von etwas als Finger beansprucht dagegen bereits das Denkverm¨ ogen, denn die Identifizierung des Wahrgenommenen als eines bestimmten Gegenstandes und dessen Subsumtion unter einen Begriff sind keine Akte sinnlicher Wahrnehmung mehr. Welche Rolle spielen Wahrnehmung und Erfahrung bei der Erkenntnis denkbarer Ideen? Die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Denken ist f¨ ur Sokrates zun¨ achst eine Frage des Erkenntnishabitus’, ob n¨ amlich der Erkennende sich bei der Angabe einer Bestimmtheit an den wahrnehmbaren Instanzen orientiert – so verf¨ ahrt z. B. Hippias im Hippias Maior (287eff.) –, oder ob er versucht, die Bestimmtheit selbst im Denken zu erfassen. Der an der Wahrnehmung orientierte Erkenntnishabitus zeichnet sich durch die Verwechslung von Bestimmtheit und Bestimmtem aus. Wenn aber Bestimmtheiten f¨ ur sich selbst nicht sinnlich wahrnehmbar sind, welche Rolle spielt die Wahrnehmung dann u ur die ¨berhaupt f¨ Erkenntnis der Ideen? Im Phaidon (65b1-3) fragt Sokrates, ob Wahrnehmungen 22 irgendwelche Wahrheit enthalten“, oder ob sie, wie nach ” Meinung einiger ungenannter Dichter, weder genau noch sicher“ (Phai” 21 22
Z. B. Phaidon 65d6-7, 79a, Politeia 507b10ff., 524c13, Timaios 28a1f., 52a. Es ist im Griechischen oft unklar, ob Wahrnehmungssinne oder ihre Sinneswahrnehmungen gemeint sind, vgl. dazu Gallop (1975, S. 91).
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don 65b4f., vgl. Politeia 523b5f.) sind. Diese Disjunktion enth¨ alt nicht unbedingt einen Gegensatz, denn auch wenn die Sinne mitunter t¨ auschen und stets ungenau sind, enthalten unsere Wahrnehmungen in der Regel richtige Informationen. Aber richtige Informationen sind nicht die von Sokrates gesuchte Wahrheit, es ist vielmehr Zeichen einer unphilosophischen Einstellung, richtige Informationen f¨ ur Wahrheiten zu halten. Selbst wenn man sich mit richtigen Informationen begn¨ ugt, sind die Sinne keine zuverl¨ assige Erkenntnisquelle. Sokrates stellt fest (65b8f.), dass die Seele vom K¨ orper get¨ auscht wird, wann immer sie mit dem K¨ orper“ ( ” ) zu erkennen versucht. Wor¨ uber wird die Seele get¨ auscht? Das Problem k¨ onnte darin bestehen, dass wir etwas nur von ferne sehen (vgl. Politeia 523b5); was wir von ferne sehen, das sehen wir nur undeutlich, und es k¨ onnte deshalb passieren, dass wir eine große aber weit entfernte Sache f¨ ur klein halten oder dass wir die Sache u ur ¨berhaupt f¨ etwas anderes halten als sie ist. Die wahrscheinlichere Interpretation der T¨ auschung ist aber, dass die Seele sich bei der Wahrheitssuche mit sinnlichen Informationen zufrieden gibt und nicht nach der Erkenntnis der Idee strebt. Welche Alternative zur Erkenntnis mit dem K¨ orper“ hat die ” Seele? Die zweite Erkenntnisquelle, auf die Sokrates sich beruft, ist das Denken (vgl. 65c1, c2 bzw. das in diesem Kontext synonym verwendete Wortfeld von 65e6, e7, e9). Beruft Sokrates sich also auf ein Denken, das g¨ anzlich ohne Sinneswahrnehmungen oder Erfahrung auskommt? Weil die Sinneswahrnehmungen problematisch sind, zieht Sokrates folgende Konsequenzen: Wenn u ¨berhaupt, wird der Seele das Seiende dann nicht im Denken offenbar? (65c1-2, vgl. 66e6-7). Am besten denkt sie aber, wenn sie nicht durch Wahrnehmungen (Geh¨ or, Gesicht, Lust, Schmerz) gest¨ ort wird (65c2-4). Wer sich anschickt, jegliches am meisten und genauesten zu denken, der d¨ urfte der Erkenntnis am n¨ achsten kommen (65e2-3, vgl. 67a2-3). Und dieses kann am reinsten tun, wer am meisten mit dem Denken zu jedem geht, zum Denken weder den Gesichtssinn noch irgendeine andere Wahrnehmung hinzuzieht, sondern versucht, indem er das reine Denken selbst gebraucht, jedem von dem Seienden nachzujagen, so weit wie m¨ oglich von Augen und Ohren getrennt, und vom ganzen K¨ orasst, per, der die Seele nur verwirrt und sie die Wahrheit nicht erlangen l¨ solange sie in Gemeinschaft mit ihm ist (65e5-a6). Und schließlich: Solange die Seele noch inkarniert ist, wird sie das Wahre nie befriedigend erreichen k¨ onnen (66b5-7, vgl. 66e3). In dieser Passage ist tats¨ achlich von einem Gebrauch reinen Denkens (vgl. 66a1) die Rede, das keine Sinneswahrnehmungen hinzuzieht (vgl.
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65e7-8). 23 Auff¨ allig sind aber die vielen Superlative. Ein Superlativ kann mitunter eine schw¨ achere Aussage machen als ein einfacher Positiv: Die gesuchte Sache so weit wie m¨ oglich von Augen und Ohren getrennt, am reinsten und am meisten mit dem Denken zu erfassen, heißt nicht, sie rein und ausschließlich mit dem Denken zu erfassen, d. h. ohne irgendeinen Beitrag eines anderen Erkenntnisverm¨ ogens. Es ist also keineswegs eindeutig, dass Sokrates sich hier auf ein Denken beruft, dass g¨ anzlich ohne Sinneswahrnehmung und Erfahrungen auskommt. Die Hervorhebung reinen Denkens und die scheinbare Abwertung der Wahrnehmung l¨ asst sich auch dahingehend interpretieren, dass es Sokrates in der Rede von den wahren Philosophen um die Umorientierung von einer unphilosophischen hin zu einer philosophischen Einstellung geht. Zu dieser Umorientierung geh¨ ort nicht nur die L¨ osung aus der Leibverfallenheit hin zu der Sorge um die Seele; auch gibt der philosophisch eingestellte Mensch sich nicht damit zufrieden, die wechselnde Erscheinung der Dinge wahrzunehmen. Vielmehr bem¨ uht er sich, deren unver¨ anderliche Bestimmtheiten zu denken. Die Formulierung im Phaidon betont den Unterschied zwischen der gew¨ ohnlichen und der philosophischen Einstellung, um u andnis f¨ ur die Notwendigkeit der ¨berhaupt erst ein Verst¨ Umorientierung zu wecken. Das ¨ andert aber nichts daran, dass auch das philosophische Erkenntnisbem¨ uhen von der Wahrnehmung der ver¨ anderlichen Dinge ausgeht, aber es u ¨berschreitet die sich wandelnde Erscheinung auf die unver¨ anderliche Bestimmtheit hin. In diesem Sinne beginnt auch der Aufstieg zur Idee des Sch¨ onen im Symposion bei den sch¨ onen ” Leibern“ ( 210a6), die nicht nur wahrgenommen, sondern auch begehrt werden. Die Philosophie beginnt also nicht bei den f¨ ur sich selbst seienden Ideen, sondern bei der sinnlichen Wahrnehmung. Die unphilosophische und die philosophische Einstellung unterscheiden sich nicht durch ihren Ausgangspunkt, sondern dadurch, dass der unphilosophisch eingestellte Mensch nicht u onen, die ¨ber die Wahrnehmung des Sch¨ damit verbundene Lust und Begierde und die Befriedigung des Begehrens hinaus geht. Dagegen sucht der Philosoph die Sch¨ onheit auch in den Seelen, Reden, Gesetzen und Erkenntnissen, um schließlich die Bestimmtheit des Sch¨ onen selbst, die eigentliche Ursache seines Begehrens und den Zielpunkt seines Strebens zu erkennen. 23
Nach Ebert (2004, S. 139, vgl. 141 und 151) handelt es sich hier nicht um Platons Lehrmeinungen, sondern um die der Pythagoreer. Quarch (1998, S. 92) h¨ alt die Rede der wahren Philosophen zumindest f¨ ur interpretationsbed¨ urftig und z¨ ogert, sie f¨ ur vox ¨ originalis von Platons zu halten. Dieser Hinweis gilt allerdings f¨ ur alle Außerungen Platonischer Dialogfiguren.
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Einsicht in die Ideen rein vor aller Erfahrung w¨ urde bedeuten, dass nicht nur das Wesen des Sch¨ onen, sondern auch das Wesen der Liege (Politeia 597b), des Menschen oder Ochsen (Philebos 15a) ohne alle Bekanntschaft mit Liegen, Menschen oder Ochsen einsehbar w¨ are. Nach der Darstellung der Ideenerkenntnis im Siebten Brief (342a-344d) bedarf es nicht nur der Benennung und der Erkl¨ arung der Sache, sondern auch der wahrnehmbaren Instanzen ( 342b2). 24 Wenig sp¨ ater heißt es: Mit M¨ uhe nur, wenn jedes von ihnen am anderen gerieben wird – Benen” nungen, Erkl¨ arungen, Anblicke und Wahrnehmungen ( 344b5) – [. . . ], leuchten Einsicht und Verst¨ andnis u ¨ber den Gegenstand [die Idee] auf, wenn man sich anspannt, soweit es in menschlichem Verm¨ ogen steht“ 25 (344b4-c1). Falls der Brief echt ist 26 , handelt es sich hierbei um eine unmissverst¨ andliche Best¨ atigung daf¨ ur, dass Platon bei der Ideenerkenntnis nicht an rein a priori m¨ ogliche Einsichten denkt. Wenn die Wahrnehmung der Instanzen Voraussetzung der ¨ Erfassung der Idee im Denken ist, dann sind Platons kritische Außerungen zur Sinneswahrnehmung dahingehend zu verstehen, dass sie lediglich vor einem irref¨ uhrenden Gebrauch derselben warnen. Schließlich: Ein wichtiger Hinweis darauf, dass Platon die Sinneswahrnehmung durchaus nicht geringsch¨ atzt, findet sich im Timaios: Die Sehkraft, f¨ uhrt Timaios aus, ist f¨ ur uns von gr¨ oßtem Nutzen“ (47a2), weil uns die Betrachtung des ” Kosmos zur Kosmologie und zur Philosophie gebracht hat, letztere aber das gr¨ oßte Gut“ (47b1) ist. Timaios spricht damit aus, was eigentlich ” selbstverst¨ andlich sein sollte: Ohne einen wahrnehmenden Zugang zur Welt g¨ abe es keine philosophische Reflexion derselben. Insofern die Ideen Bestimmtheiten der Ordnung der Welt sind, g¨ abe es auch keine Einsicht in diese Ordnungstrukturen. Die Bedeutung der Wahrnehmung f¨ ur Ideenerkenntnis ¨ andert nichts daran, dass Bestimmtheiten selbst f¨ ur sich selbst nur im Denken erfasst werden k¨ onnen. Unklar ist lediglich, um was f¨ ur einen Denkakt es sich dabei handelt. Um bei der Darstellung des Siebten Briefes zu bleiben: [A]us h¨ aufiger gemeinsamer Bem¨ uhung um die Sache selbst und aus ” dem gemeinsamen Leben entsteht es [Ideenerkenntnis] pl¨ otzlich ( , vgl. Symposion 210e4) – wie ein Feuer, das von einem u ¨bergesprungenen Funken entfacht wurde – in der Seele und n¨ ahrt sich dann schon aus sich heraus weiter“ 27 (341c6-d2). Graeser weist darauf hin, dass diese Beschreibung unterschiedlich verstanden werden kann: (i) Sie kann harmloser Na” tur sein. In diesem Fall ging es um solche Situationen, die gemeint sind, 24 25 26 27
Vgl. dazu Kapitel 6.3. ¨ Ubersetzung aus Eigler (1990, Bd. 5, S. 421). Vgl. dazu Kapitel 6.1. ¨ Ubersetzung aus Eigler (1990, Bd. 5, S. 413).
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wenn es heißt, bei jemandem sei der Groschen gefallen oder es gehe ihm ein Licht auf. (ii) Sie kann dramatischer Natur sein. In diesem Fall w¨ are auf eine Intuition besonderer Art verwiesen, auf ein Wahrheitsereignis angespielt oder gar an eine mystische Vision gedacht“. 28 F¨ ur die Erkl¨ arung der Denkbarkeit der Ideen reicht die harmlose“ Interpretation (i). Eine ” Voraussetzung der Ideenerkenntnis ist der der Sache, als Beispiel nennt der Siebte Brief die Definition des Kreises: Das, was [. . . ] von sei” nen ¨ außersten Punkten zur Mitte u ¨berall gleich entfernt ist“ 29 (342b7f.). Voraussetzung der Ideenerkenntnis ist das Verstehen einer Definition der Bestimmtheit. Bei diesem Verstehen mag ein Schaubild hilfreich sein, das eine Kreislinie zeigt, die von einem eingezeichneten Mittelpunkt u ¨berall mehr oder weniger gleich weit entfernt ist. Das Schaubild zeigt nur einen Kreis, der einen bestimmten Radius hat und noch dazu niemals vollkommen rund ist. Wer die Definition des Kreises versteht, der denkt dabei nicht an einen besonderen Kreis, z. B. den Kreis auf dem Schaubild, sondern an dasjenige, was Kreis-Sein u ¨berhaupt ist. Dieses Was-Sein des Kreises kann man nicht sehen, die Bestimmtheit des Kreises ist allein im Denken zug¨ anglich.
28 29
Graeser (1989, S. 8). ¨ Ubersetzung aus Eigler (1990, Bd. 5, S. 417).
3 Die Charakterisierung der Instanzen 3.1 Instanzen zwischen Sein und Nicht-Sein Wenn Sein als Bestimmt-Sein und Nicht-Sein als das Nichts im Sinne g¨ anzlicher Unbestimmtheit zu verstehen ist, wie ist dann dasjenige zu denken, was zwischen Sein und Nicht-Sein steht (Politeia 477a6f.)? Es handelt sich dabei um die Instanzen der Ideen, die vielen sch¨ onen Dinge im Gegensatz zu der Idee des Sch¨ onen (479a). Angesichts der von Timaios vorgenommenen Unterscheidung zwischen Idee, Instanz und dem Aufnehmenden, das f¨ ur sich selbst frei ist von allen Bestimmtheiten, bietet sich eine verlockende Interpretation der Politeia-Stelle an: Die Instanz steht zwischen Sein und Nicht-Sein, Idee und Aufnehmendem, weil sie bestimmt ¨ ist durch die Idee und im Aufnehmenden erscheint. Ahnlich verlockend ist es, von Aristoteles her das unbestimmte Nicht-Sein als erste Materie ( ) zu interpretieren, so dass die Zwischenstellung der Instanzen als Abk¨ unftigkeit von einem Form- und einem Materieprinzip verstanden werden k¨ onnte. Allein, diese Interpretationsversuche entsprechen nicht der Erkl¨ arung, die Sokrates f¨ ur die Zwischenstellung der Instanzen gibt. Die Instanzen erscheinen ( 479a7, vgl. 479b4) danach als Gegens¨ atzliches: Die sch¨ onen Dinge k¨ onnen auch h¨ asslich erscheinen, das Gerechte auch ungerecht, das Heilige unheilig, das Doppelte als die H¨ alfte und ebenso beim Großen und Kleinen, Leichten und Schweren (479ab). Sokrates f¨ uhrt die Gegens¨ atzlichkeit der Instanzen an dieser Stelle nicht aus, die Interpretation ist auf den Vergleich mit anderen Dialogen angewiesen. In diesem Zusammenhang weist Vlastos auf die Abgrenzung von Idee und Instanzen Symposion 211af. hin. 1 Die Idee des Sch¨ onen ist immer ” seiend“ im Gegensatz zu demjenigen, was entsteht und vergeht“, w¨ achst ” ” und schwindet“, in einer Hinsicht sch¨ on ist, in anderer h¨ asslich“, biswei” ” len sch¨ on und bisweilen nicht sch¨ on“, im Vergleich mit einer Sache das ” Sch¨ one, im Vergleich mit einer anderen das H¨ assliche“, hier sch¨ on, dort ” h¨ asslich“ und f¨ ur einige [Betrachter] sch¨ on, f¨ ur andere h¨ asslich“. Diese ” Gegens¨ atze kommen nicht der Bestimmtheit des Sch¨ onen zu, wohl aber 1
Vlastos (1965, S. 10), vgl. Brentlinger (1972, S. 121ff.).
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Die Charakterisierung der Instanzen
den erscheinenden Instanzen, von denen Sokrates an dieser Stelle Ge” sicht, H¨ ande und was sonst noch einen Leib hat“, aber auch Rede“ und ” Erkenntnis“ aufz¨ ahlt. Die Idee ist selbst f¨ ur sich selbst“ und bei sich ” ” ” selbst“, eingestaltig und immer seiend“, w¨ ahrend die sch¨ onen Instanzen ” an ihr teilhaben. Das Entstehen und Vergehen der an ihr teilhabenden Instanzen affiziert die Idee nicht. Sokrates formuliert diese Unterscheidung von Idee und Instanz f¨ ur die Idee des Sch¨ onen und was an ihr teilhat, aber soweit diese Charakterisierung das Idee- bzw. das Instanz-Sein betrifft, gilt sie auch f¨ ur alle anderen Ideen und Instanzen. Sokrates z¨ ahlt die gegens¨ atzlichen Bestimmungen auf, um sie der Idee abzusprechen. Was Sokrates der Idee abspricht, charakterisiert umgekehrt positiv, was nicht Idee, sondern Instanz der Idee ist. Das gilt auch f¨ ur diejenigen Pr¨ adikate, die er der Idee nicht ex negativo, sondern direkt zuschreibt. Wenn die Idee eingestaltig“ ( 211b2, vgl. 211e4) ist, ” dann sind die Instanzen im Umkehrschluss vielgestaltig“ (vgl. , ” Phaidon 80b3). Das griechische Wort ist der Wortbildung nach mit , einem der beiden Termini f¨ ur Bestimmtheit“ verwandt, die ” Eingestaltigkeit der Idee besteht darin, dass sie eine Bestimmtheit ist. Die Instanz ist nicht eine Bestimmtheit, sondern hat die Bestimmtheit, und sie hat davon nicht nur eine, sondern viele. Die Vielgestaltigkeit der Instanzen, die darin besteht, dass sie viele Bestimmtheiten haben, liegt ihren gegens¨ atzlichen Erscheinungen zugrunde. Entstehen und Vergehen und jede zeitliche Ver¨ anderung einer Sache ist zun¨ achst einmal ein Wechsel der Bestimmtheit. Die Sache – sofern dabei von einer Sache gesprochen werden kann – ist nacheinander von verschiedenen Bestimmtheiten bestimmt. Ver¨ anderung ist die Vielgestaltigkeit einer Sache im zeitlichen Nacheinander. Entsprechendes gilt f¨ ur die u atzlichen Be¨brigen gegens¨ stimmungen der Instanzen: Was eine Bestimmtheit in einer Hinsicht hat und diese Bestimmtheit in anderer Hinsicht nicht hat, muss zuerst einmal so vielgestaltig, so vielf¨ altig bestimmt sein, dass sich verschiedene Hinsichten unterscheiden lassen. Prominentes Beispiel f¨ ur die Unterscheidung von Hinsichten im Symposion ist die Darstellung von Sokrates, der dem Leib nach ziemlich h¨ asslich anzuschauen ist (215b), der Seele nach aber voll von G¨ otterbildern (216c-217a, 222a) und – das impliziert die Darstellung seiner Tugend – selbst ein G¨ otterbild ist. Die Aufz¨ ahlung der verschiedenen Hinsichten, in denen Instanzen gegens¨ atzliche Bestimmtheiten zukommen k¨ onnen, erl¨ autern die Seinsm¨ oglichkeiten von Instanzen u ¨berhaupt. Die verschiedenen Hinsichten sind verwandt mit den Kategorien bei Aristoteles: Im Entstehen und Vergehen sind Instanzen zeitlich beschr¨ ankt, innerhalb dieser Beschr¨ ankung lassen sich Zust¨ ande der Instanz zu verschiedenen Zeiten unterscheiden. Insofern sie wachsen und schwinden, haben sie einen Ort und sind ausgedehnt, so
Instanzen zwischen Sein und Nicht-Sein
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dass verschiedene Stellen einer Instanz betrachtet werden k¨ onnen. Ferner stehen die Instanzen in Relationen zueinander, die es erlauben, verschiedene Instanzen miteinander zu vergleichen. So kann z. B. eine Sache sch¨ oner als eine andere und weniger sch¨ on als eine dritte sein (vgl. Hippias Maior 288c-289d). Die Relationen sind nicht auf qualitative Verh¨ altnisse beschr¨ ankt, eine quantitative Relation liegt z. B. vor, wenn Simmias gr¨ oßer ist als Sokrates und kleiner als Phaidon (vgl. Phaidon 102b). Zu den Relationen geh¨ ort schließlich auch die Relation zum Betrachter. Dabei ist weniger an subjektive Geschmacksurteile zu denken als an standpunktbedingte Verzerrungen der Perspektive: Betrachtet man eine monumentale Statue, die den wahren Proportionen eines Menschen nachgebildet ist, von einem Standpunkt unmittelbar vor ihrem Sockel, dann hat der Betrachter scheinbar u uße vor sich (vgl. Sophistes 235d¨berdimensionierte F¨ 236a). Die Platonischen Kategorien“ unterscheiden verschiedene Modi, in ” denen Instanzen bestimmt sind. Gem¨ aß jeder Kategorie“ unterscheidet ” obige Aufz¨ ahlung von Gegens¨ atzen verschiedene Hinsichten: Sokrates ist nicht sch¨ on und h¨ asslich, mithin ein widerspr¨ uchliches Unding, sondern er ist sch¨ on in Hinsicht auf die Tugend seiner Seele, h¨ asslich in Hinsicht auf seinen Leib. Instanzen haben gegens¨ atzliche Bestimmtheiten, aber sie verstoßen deswegen nicht gegen den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch (Politeia 436bf.). Was bedeutet dieses Ergebnis f¨ ur die Stellung der Instanzen zwischen Sein und Nicht-Sein in der Politeia? Die Argumentation der Symposion-Stelle zielt auf die Abgrenzung von Idee und Instanz. Die Idee ist eingestaltig, w¨ ahrend Instanzen in mehreren Hinsichten verschiedene und sogar gegens¨ atzliche Bestimmungen haben. Instanz und Idee sind nicht miteinander identisch, andererseits ist die Instanz aber auch nicht von der Idee getrennt, sondern durch Teilhabe mit der Idee verbunden. Die Stellung der Instanzen zwischen“ Sein und Nicht-Sein dr¨ uckt ein Verh¨ altnis ” der Instanzen zu Sein und Nicht-Sein aus. Das Verh¨ altnis zum Sein ist offensichtlich, es besteht darin, an der Idee teilzuhaben. Worin besteht das Verh¨ altnis der Instanzen zum Nicht-Sein? Die Instanzen sind nicht unbestimmt, sondern im Gegenteil auf mannigfaltige Weise bestimmt; insofern sich die Instanz ver¨ andert, ist sie immer wieder anders bestimmt. Die N¨ ahe“ zum Nicht-Sein kann auch nicht als ein Mangel an Exakt” heit 2 in der Bestimmung der Instanzen zu verstehen sein, vergleichbar der Ungenauigkeit physikalischer Messungen, denn eines der Beispiele f¨ ur die Gegens¨ atzlichkeit der Instanzen in der Politeia handelt von einem Doppelten, das zugleich eine H¨ alfte ist. Vier Maßeinheiten sind doppelt so viel wie zwei und halb so viel wie acht Maßeinheiten. Kein Mangel an Exaktheit des Gemessenen oder der Maßeinheit kann daf¨ ur verantwortlich 2
So versteht es z. B. Patzig (1970, S. 116f.) mit Bezug auf Phaidon 74c.
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Die Charakterisierung der Instanzen
sein, dass zwei Maßeinheiten (die H¨ alfte von vier) zugleich acht Maßeinheiten (das Doppelte von vier) sind. 3 Die richtige Erkl¨ arung scheint darin zu liegen, dass eine Instanz viele Bestimmtheiten hat. F¨ ur eine Instanz mit den Bestimmtheiten F und G (F = G) gilt: Die Instanz ist F und nicht-F, n¨ amlich G; insofern sie die Bestimmtheit F hat, ist die Instanz F, insofern dieselbe Instanz auch die Bestimmtheit G hat, ist die Instanz nicht-F. 4 Hinzu kommen mag ferner, dass Bestimmtheit mit Einfachheit verbunden ist. Sein ist zu verstehen als Bestimmt-Sein; die einfache Einheit der Idee, die eine Bestimmtheit ist, ist damit auch im h¨ ochsten Maße bestimmt. Demgegen¨ uber ist eine Instanz lediglich eine geeinte Vielheit von Bestimmungen, eine Vielheit, deren Einheit im Prozess des Werdens fortw¨ ahrend gef¨ ahrdet ist.
3.2 Das Werden der Instanzen Von den beiden Formen von Seiendem verhalten sich die Ideen immer ” gem¨ aß demselben und auf dieselbe Weise“ ( , Phaidon 78c5, vgl. 78d2, d5f. u. ¨ o.), w¨ ahrend sich Instanzen zu anderer ” Zeit anders und niemals gem¨ aß demselben“ ( , Phaidon 78c6f., vgl. 78d2 und e4f. u. o ¨.) verhalten. Ausgangs¨ punkt unserer Uberlegungen zur Ver¨ anderung ist die Bestimmung: sich ” zu anderer Zeit anders verhalten“. Der zeitliche Aspekt ist zun¨ achst unproblematisch, denn Ver¨ anderung besteht nicht darin, dass verschiedene Zust¨ ande zugleich bestehen, wobei dann die Gefahr des Widerspruchs droht, sondern die verschiedenen Zust¨ ande bestehen im zeitlichen Nacheinander. Problematisch ist die zweite Bestimmung von Ver¨ anderung, n¨ amlich sich auf andere Weise“ oder anders“ zu verhalten. Dabei lassen ” ” sich drei F¨ alle unterscheiden: 1. Anders“ kann zu verstehen sein als in ” ” jeder Hinsicht anders“, d. h. das Sp¨ atere ist in jeder Hinsicht anders als das Fr¨ uhere. 2. Anders“ ist zu verstehen als in mindestens einer (aber nicht ” ” jeder) Hinsicht anders“, d. h. das Sp¨ atere ist in mindestens einer Hinsicht 3 4
Darauf weist Schmitt (1973, S. 157-159) hin. Vgl. Graeser (1991, S. 380). Diese Art von Nicht-Sein ist verwandt aber nicht identisch mit dem im Sophistes entwickelten Konzept von Nicht-Sein als Andersheit: Was etwas ist, ist anderes nicht. In diesem Sinne kann man auch von einer Idee sagen, dass sie ist und nicht ist; sie ist sie selbst und anderes ist sie nicht. Ein Gegenstand mit den Bestimmtheiten F und G ist F ; insofern er F ist, ist er nicht G. Aber das NichtG-Sein dieses Gegenstandes l¨ asst sich nicht unqualifiziert als ein Anders-als-G-Sein verstehen, weil der Gegenstand auch G ist: Das F -Sein des Gegenstandes ist anders als das G-Sein; insofern der Gegenstand F ist, ist er anders als G, aber nur insofern. Bei dem Nicht-Sein als Anders-Sein im Sophistes werden verschiedene Entit¨ aten gegeneinander abgegrenzt, w¨ ahrend es im Falle welthafter Gegenst¨ ande um verschiedene Bestimmtheiten des einen Gegenstandes geht.
Das Werden der Instanzen
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anders als das Fr¨ uhere, aber in mindestens einer Hinsicht ist das Sp¨ atere auch nicht anders als das Fr¨ uhere. 3. In beiden F¨ allen ist ausgeschlossen, dass das Sp¨ atere in keiner Weise anders ist als das Fr¨ uhere. Wenn das Sp¨ atere in keiner Weise anders ist als das Fr¨ uhere, ist es vollkommen mit diesem identisch, es verh¨ alt sich auf dieselbe Weise oder als ein Identi” sches“ ( ). Insofern alles in Relation zu allem steht, impliziert jede beliebige Ver¨ anderung, dass auch alles andere durch seine Relation zu dem Ver¨ anderten, selbst irgendwie anders wird. Dass das Sp¨ atere in keiner Weise anders ist als das Fr¨ uhere entspricht dem Grenzbegriff universeller Erstarrung. Im ersten Fall wird die Andersheit des Sp¨ ateren ohne jegliche Identit¨ at mit dem Fr¨ uheren gedacht, was in jeder Hinsicht anders ist, ist mit dem anderen in keiner Weise identisch. In dem dritten Fall wird die Identit¨ at von Fr¨ uherem und Sp¨ aterem ohne jede zeitliche Andersheit gedacht. Streng genommen lassen sich damit ein Fr¨ uheres und ein Sp¨ ateres u ¨berhaupt nicht mehr unterscheiden. Im zweiten Fall liegen in dem Verh¨ altnis von Fr¨ uherem und Sp¨ aterem Identit¨ at und Andersheit in Verbindung miteinander vor. In welchem Sinne ist das anders“ der Phaidon-Stelle zu verstehen? ” Im Zusammenhang mit dieser und ¨ ahnlichen Textstellen ist in der Kommentarliteratur mitunter davon die Rede, Platon konzipiere das Werden der Instanzen als herakliteischen Fluss“. Die folgende Beschreibung einer ” Version des herakliteischen Flusses“ soll allerdings nicht implizieren, dass ” irgendein Kommentator diese f¨ ur Platons Lehrmeinung halten w¨ urde. 5 5
F¨ ur verschiedene Interpretationen des herakliteischen Flusses“ bei Platon siehe Sil” verman (2002, S. 246), Silverman selbst behauptet: the doctrine of flux amounts to ” the thesis that there is no property which a Platonic particular cannot lose“ (Silverman, 2002, S. 19, vgl. 80-89). Diese Interpretation ist allerdings h¨ ochst fragw¨ urdig, falls Silverman damit meint, dass (ein Einzelding aus) Schnee die Eigenschaft der K¨ alte verlieren und trotzdem Schnee bleiben k¨ onne. Im Zusammenhang mit dem heraklitei” schen Fluss“ ist die Textstelle Timaios 49d5-e4 vielfach diskutiert worden. Der Satz kann auf zwei Weisen konstruiert werden, n¨ amlich nach dem Schema was X ist, nicht ” ,Y ‘, sondern ,Z ‘ zu nennen“ oder nicht Y, sondern Z, ,X ‘ zu nennen“, vgl. Cornford ” (1937, S. 179), Owen (1968, S. 323 Anm. 3), Cherniss (1954, S. 116, 128-130), Gulley (1960, S. 53f.), Lee (1967, S. 4, 20), Mills (1968, S. 153ff.), Schmitt (1973, S. 107-122), Gill (1987, S. 94f.), Graeser (1989, S. 20 Anm. 27), Hunt (2002, S. 160) und Parry (2002, S. 295). Nach der ersten Alternative (Cornford, Owen, Gulley, Gill, Hunt, Parry) gibt es eine richtige (als so-beschaffenes“) und eine falsche Bezeichnung f¨ ur Instanzen (als ” dieses“), die zweite Alternative (Cherniss, Lee, Mills, Graeser) scheint bestimmende ” Bezeichnung von Instanzen ganz auszuschließen und f¨ ur Bezeichnungen wie Feuer“ ” ). einen anderen Gegenstand zu fordern, n¨ amlich das So-Beschaffene“ ( ” Die sprachlichen Verk¨ urzungen der Formulierung scheinen eine endg¨ ultige Entscheidung u ¨ber die richtige Interpretation nicht zuzulassen. Die plausibelste Auslegung hat Schmitt vorgelegt, die wichtigsten Eckpunkte dieser Interpretation seien kurz darge, stellt: Schmitt (1973, S. 111-113) macht es sehr unwahrscheinlich, dass nach der zweiten Interpretation Gegenstand von Bezeichnungen wie Feuer“, sich gar ” nicht auf sinnliche Ph¨ anomene bezieht. Der sachliche Unterschied zwischen beiden In-
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Die Charakterisierung der Instanzen
Dem Begriff des herakliteischen Flusses“ liegt die Formel alles fließt“ ” ” zugrunde. Eine Interpretation des herakliteischen Flusses“ – die Hera” klit gewiss nicht gerecht wird – legt die Formel alles fließt“ dahingehend ” aus, dass das Sp¨ atere in jeder Hinsicht anders ist als das Fr¨ uhere und in keiner Weise mit diesem identisch, denn in jeder Hinsicht, in der das Sp¨ atere mit dem Fr¨ uheren identisch sein k¨ onnte, ist das Fr¨ uhere in Veranderung, so dass das Sp¨ atere mit dem Fr¨ uheren auch in dieser Hinsicht ¨ nicht identisch sein kann. 6 Betrachten wir z. B. die Liege, auf der Sokrates sitzt, w¨ ahrend er mit Simmias und Kebes das im Phaidon berichtete Gespr¨ ach f¨ uhrt (vgl. Phaidon 61c9f.): Diese Liege hat sich durch den Gebrauch, den Sokrates von ihr macht, im Laufe des berichteten Gespr¨ achs gewiss ver¨ andert. In der hier beschriebenen Interpretation des heraklitei” schen Flusses“ h¨ atte sich diese Liege zwar im Lauf des Tages irgendwie ver¨ andert, w¨ are aber am Abend, als Sokrates sich zum Sterben auf ihr niederlegt, ebensogut eine Liege wie am Morgen, denn sie w¨ are in eben dieser Hinsicht am Morgen und am Abend identisch eine Liege. Im radikalen Fluss w¨ are sie aber schon in dem Moment, in dem Sokrates sich morgens aufrichtet, in jeder Hinsicht anders als die Liege, auf der er zuvor geruht hatte. Was immer daraus im Moment des Aufrichtens geworden ist, um eine Liege kann es sich nicht mehr handeln. Desgleichen w¨ are sie kein M¨ obelst¨ uck mehr, insbesondere kein Sitzm¨ obel, und falls sie aus Holz war, dann ist das Holz der Liege l¨ angst kein Holz mehr, als Sokrates seine Besucher begr¨ ußt. Der Gedanke l¨ asst sich leicht auf die Spitze treiben, dass Sokrates wegen dieser Ver¨ anderung seiner Liege nicht allzu
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terpretationen ist damit bereits wesentlich geringer. Die Behauptung ist ” Feuer“ im Sinne der zweiten Interpretation impliziert dann, dass das wahrgenommene Feuer nur so-beschaffenes Feuer ist, d. h. die zweite Interpretation impliziert die erste. ¨ Timaios’ Problem ist: Wegen des Ubergangs der Einzeldinge und sogar der Elemente ineinander stellt sich die Frage, ob das, was wir Feuer nennen, nicht ebensogut als Wasser anzusprechen w¨ are. Aufgrund welcher ontologischen Verfassung kann das Einzelne erkannt und mit einem Allgemeinbegriff angeredet als eine mit sich identische werden? Die Antwort ist: Indem wir es als so-beschaffenen Teil des Aufnehmenden ( sc. ) ansprechen, vgl. Schmitt (1973, S. 113f.). Das Aufnehmende ist mit sich selbst identisch, erscheint aber als Verschiedenes, weil es von Verschiedenem bestimmt ist. Eine Paraphrase von 49d5f. w¨ are dann: Das Aufnehmende, das wir zu anderer Zeit anders werden sehen, nicht dieses ist Feuer“ zu nennen, sondern ” der einzelne so (n¨ amlich als Feuer) beschaffene Teil des Aufnehmenden, vgl. Schmitt (1973, S. 110, 115). Mit Hinblick auf den herakliteischen Fluss“ weist Schmitt (1973, ” anzusprechen ist, S. 117) darauf hin, dass Timaios das Einzelne, das als (49d7), als etwas charakterisiert, das mit sich identisch bleibt, vgl. (49e6f.), (49e4-6). Theodoros spricht im Theaitetos (182c8) von sich vollkommen bewegen“ ( ” ). Um vollkommene Bewegung“ handelt es sich, nicht weil es um eine Be” wegung in oder zu h¨ ochster Vollkommenheit ginge, sondern weil darin nichts beharrt und die Sache ganz und gar, d. h. in jeder Hinsicht, bewegt ist.
Das Werden der Instanzen
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große Unannehmlichkeiten ertragen m¨ usste, denn auch er selbst w¨ are im n¨ achsten Moment in keiner Weise mehr, was er eben noch war: schlafend, in Liegeposition, ¨ außerlich h¨ asslich, ein Philosoph, ein Mensch und nicht zuletzt zum Tode verurteilt. Im radikalen Fluss l¨ asst sich nichts, das es in irgendeinem Moment geben mag, mit etwas, das es in einem anderen Moment gegeben haben mag, in Verbindung bringen. Die Welt im so verstandenen herakliteischen Fluss“ ist mit sich selbst vollkommen ” inkonsistent. G¨ abe es in einer solchen Welt ein erkennendes Wesen, w¨ urde seine Erfahrung in einem Moment in keinem Zusammenhang mit seinen Erfahrungen im n¨ achsten Moment stehen. Es geht hier zwar nicht um Astronomie, aber in Hinsicht auf jenes von Simplikios Platon zugeschriebene Motiv, dass die Ph¨ anomene zu retten“ ” seien 7 , gilt auch hier: Wenn Ver¨ anderung im Sinne des radikalen Flusses zu verstehen ist, dann sind die Ph¨ anomene“, die erscheinende Vielheit ” weltlicher Dinge, unrettbar verloren. Platons Konzeption von Instanzen und Ideen liegt nicht der Impetus zugrunde, die Welt ver¨ anderlicher Ph¨ anomene hinter sich zu lassen und statt dessen eine Nebenwelt unver¨ anderlicher Ideen zu postulieren, in welchem Falle die Teilhabe der Instanzen an den Ideen u ussig w¨ are. Der Impetus besteht vielmehr darin zu ¨berfl¨ erkl¨ aren, wie erstens Ver¨ anderung, Entstehen und Vergehen u ¨berhaupt m¨ oglich sind und wie zweitens gut und sch¨ on sein kann, was schließlich dem Verfall anheim gegeben ist. Das ist der Sinn jener Bemerkungen, mit denen Timaios seine wahrscheinliche Rede“ (Timaios 29d1) einlei” tet: Wenn ein Werkmeister etwas Gewordenes als Vorbild f¨ ur sein Werk verwendet, dann erzeugt er kein Sch¨ ones Werk. Wenn er aber dasjenige als Vorbild verwendet, was sich immer auf dieselbe Weise verh¨ alt, dann wird dieses Werk notwendig sch¨ on vollendet (Timaios 28af.). Der Demiurg, der mythische Werkmeister der Welt, formt den Kosmos nach dem Vorbild eines ewigen Lebewesens (d. i. die Ideen 8 ), und er formt den Kosmos als einen bewegten, lebendigen Organismus. In einem Organismus laufen die verschiedenen Bewegungen nicht gleichg¨ ultig gegeneinander ab, sondern setzen einander voraus und konstituieren erst im Zusammenspiel die Einheit des Lebewesens. Es ist unm¨ oglich, einen radikal gedachten he” rakliteischen Fluss“, in dem der Zustand der Welt im n¨ achsten Moment in keinem Zusammenhang mit dem vorherigen steht und die Erfahrungen von dieser Welt in keinen konsistenten Zusammenhang gebracht werden k¨ onnen, mit der harmonischen Einheit der Bewegungen eines lebendigen Organismus zu verbinden. ¨ Ziehen wir diese Uberlegungen f¨ ur die Auslegung des im Phaidon heran, dann scheidet die Interpretation von als in jeder Hin” 7 8
Vgl. dazu Anmerkung 21 auf Seite 258. Zu dieser Interpretation vgl. De Vogel (1970b, S. 199) und De Vogel (1970c, S. 228).
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Die Charakterisierung der Instanzen
sicht anders“ aus. Das Verh¨ altnis zwischen Sp¨ aterem und Fr¨ uherem ist demnach durch eine Verbindung von Identit¨ at und Andersheit ausgezeichnet. Die Identit¨ at zwischen Fr¨ uherem und Sp¨ aterem ist eine bestimmte Identit¨ at. Die Andersheit zwischen Fr¨ uherem und Sp¨ aterem bezeichnet einen Unterschied, aber auch dieser Unterschied ist ein bestimmter Unterschied. Damit u anderung die Rede sein kann, muss ¨berhaupt von Ver¨ das Werdende bestimmt sein. Es muss darin bestimmt sein, wie es jetzt ist und wie es sp¨ ater werden wird bzw. wie es fr¨ uher war und wie es sp¨ ater geworden ist. Das Werdende ist etwas Bestimmtes, das zu anderer Zeit anders ist. Was anders ist, ist anders im Verh¨ altnis zu einem anderen (vgl. Sophistes 255d1). Im Verh¨ altnis wozu ist das Werdende anders? Die Antwort auf diese Frage kann nur darin bestehen, dass das Werdende zu anderer Zeit anders ist als es selbst. Das Werdende wird anders werden als es selbst jetzt ist bzw. das Werdende war anders als es selbst jetzt geworden ist. In diesem Sinne steht das Werdende zu sich im Verh¨ altnis der Andersheit, ohne deswegen nicht es selbst zu sein. Anders als es ” selbst“ verbindet genau die beiden Momente Andersheit und Identit¨ at: Das Werdende ist es selbst und anders. ¨ Dass diese Uberlegung kein fremdes Gedankengut, das mit Platon nichts zu tun hat, in den Text hineinliest, l¨ asst sich an der Diskussion der Zeitlichkeit des seienden Einen in der zweiten Hypothesis des Parmenides (151e-157b einschließlich des Korollars) zeigen. 9 Das seiende Eine hat an der Zeit teil. Im Fortgang der Hypothesis entwickelt Parmenides, dass das seiende Eine sowohl ¨ alter als auch j¨ unger als es selbst und die Anderen ist und wird und dass das seiende Eine weder ¨ alter noch j¨ unger als es selbst und die Anderen ist und wird (kombinatorisch sechzehn F¨ alle). F¨ ur den gegenw¨ artigen Gedanken sind vor allem die ersten beiden F¨ alle interessant: Das seiende Eine wird ¨ alter und j¨ unger als es selbst (152ab, vgl. 141a-d und Timaios 38a3). Das seiende Eine hat an der fortschreitenden Zeit teil und wird folglich ¨ alter als es selbst ( ¨ 152a5). Alter werden kann etwas nur in Verh¨ altnis zu etwas, n¨ amlich im Verh¨ altnis zu sich selbst. Betrachten wir das Werdende in einem bestimmten Zeitpunkt: Der Zustand des Werdenden zu diesem Zeitpunkt bestimmt, was es selbst ist. Im n¨ achsten Moment wird das Werdende alter, ¨ alter als es selbst zu jenem Zeitpunkt. In diesem Gedanken wird ¨ der eine Zeitpunkt bzw. das Selbst des Werdenden zu diesem Zeitpunkt 9
Die Interpretation der Hypothesen des Parmenides ist insgesamt umstritten, vgl. Halfwassen (1992, S. 267-288). Die Hypothesen sind ebensowenig ein Traktat mit Platons Lehrmeinungen wie die anderen Dialoge. F¨ ur den gegenw¨ artigen Zweck reicht es, der Einsch¨ atzung der Dialogfigur Parmenides zu folgen (135c), dass die Hypothesen eine ¨ unerl¨ assliche Ubung f¨ ur denjenigen sind, der Ideen denken will. Auch die scheinbar abstrusen Gedankeng¨ ange sind dabei hilfreich, sei es in dem Sinne, dass sie m¨ ogliche Aporien durchdenken.
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als Bezugspunkt festgehalten; im Verh¨ altnis zu dem festen Bezugspunkt wird das Werdende ¨ alter als es selbst. Im n¨ achsten Gedankenschritt h¨ alt Parmenides den Bezugspunkt fest, aber jetzt stellt er sich nicht mehr auf diesen Bezugspunkt und betrachtet, was im n¨ achsten Moment wird, sondern er stellt sich zu dem Jetzt-Punkt der fortschreitenden Gegenwart und betrachtet von dort aus den Bezugspunkt: Der verlassene Bezugspunkt r¨ uckt in die Vergangenheit, das Werdende zu jenem Bezugszeitpunkt wird j¨ unger als es selbst jetzt in der Gegenwart. Schließlich fasst Parmenides beide Gedanken und beide Standpunkte zusammen und stellt fest: Das seiende Eine wird ¨ alter als es selbst im Verh¨ altnis zu sich selbst als einem j¨ unger Werdenden; es wird in diesem Sinne sowohl ¨ alter als auch j¨ unger als es selbst. Instanzen verhalten sich nicht nur zu anderer Zeit anders, sie nehmen auch den Umschlag“ ( , Phaidon 78d4) auf. Was es mit die” sem Umschlag auf sich hat, f¨ uhrt Sokrates im Phaidon nicht weiter aus. Aber auch in dieser Hinsicht ist der Parmenides lehrreich. Im Korollar zur zweiten Hypothesis geht Parmenides auf das Umschlagen ein (156c-157b). Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch gilt f¨ ur das Werdende: Das Eine, wenn es ist, hat am Sein teil, wenn es nicht ist, hat es nicht am Sein teil, aber wenn es gerade am Sein teilhat, dann hat es nicht zugleich nicht am Sein teil und umgekehrt (155e). Die Arten des Werdens, um die es dabei geht, umfassen Entstehen und Vergehen ebenso wie qualitative Ver¨ anderung, Relationsver¨ anderung und Ortsbewegung (156af.), d. h. das Folgende gilt f¨ ur alle Arten des Werdens. Parmenides benutzt als Beispiel zun¨ achst das Umschlagen von Bewegung zu Stillstand und von Stillstand zu Bewegung (156c). Die Frage ist nun: Wann schl¨ agt es um? Solange es stillsteht, schl¨ agt es nicht um in Bewegung, solange es sich bewegt, schl¨ agt es nicht um in Stillstand. Der Umschlag kann u ¨berhaupt nicht in der Zeit stattfinden, denn in dieser Zeit m¨ usste es sich weder bewegen noch stillstehen (ebensowenig kann es sich zugleich bewegen und stillstehen). Dasjenige, in dem der Umschlag stattfindet, bestimmt Parmenides 10 156d). Das Pl¨ otzlich“ ist , w¨ ortals das Pl¨ otzlich“ ( ” ” lich nicht-¨ ortlich, d. h. es hat keinen Ort in der Zeit. Weil der Umschlag nicht in der Zeit stattfindet, wird der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch nicht verletzt. Parmenides gebraucht als Beispiel den Umschlag zwischen Bewegung und Stillstand. In diesem Beispiel ist der Umschlag zwar besonders deutlich, tats¨ achlich findet sich der Umschlag aber in jeglichem Werden. Werden wird analysiert als Teilergreifen an Bestimmtheiten bzw. als Ablassen von Bestimmtheiten (156a). Teilergreifen und Ablas10
Vgl. dazu Beierwaltes (1966/1967, S. 273-275), das Pl¨ otzlich“ ist zu unterscheiden von ” dem Jetzt als Anfangs- und Endpunkt von Prozessphasen bei Aristoteles, vgl. Physik IV 11.
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sen machen das Werden nicht diskontinuierlich, Werden besteht nicht aus diskreten, ver¨ anderungsfreien Zustandsphasen, von denen die eine durch Teilhabe an der Bestimmtheit, die andere durch Nicht-Teilhabe charakterisiert ist, und beide Zustandsphasen durch das Pl¨ otzlich“ verbunden ” w¨ urden. Das Pl¨ otzlich“ verbindet auch nicht zwei Jetzt-Punkte mitein” ander, denn zwischen zwei Jetzt-Punkten liegt immer eine Zeitspanne. Vielmehr ist die Ver¨ anderung kontinuierlich in der Zeit, d. h. das Werdende macht einerseits keine diskontinuierlichen Spr¨ unge, andererseits ist es in jedem Moment im Begriff, anders zu werden. Der Umschlag findet in jedem Moment“ statt, aber damit die S¨ atze vom zu vermeidenden ” Widerspruch (das Werdende bewegt sich und steht still) und vom ausgeschlossenen Dritten (weder bewegt sich das Werdende, noch steht es still) nicht verletzt werden, muss der Moment“ des Umschlags das außerzeitli” che Pl¨ otzlich“ sein. Die Konzeption des außerzeitlichen Pl¨ otzlich“ ist der ” ” Versuch, die Paradoxie kontinuierlichen Werdens begreiflich zu machen. Diese Paradoxie umgeht bloß, wer von einer kontinuierlichen Ver¨ anderungsphase zwischen zwei Jetzt-Punkten spricht, ohne auf den Umschlag in jedem Moment der Ver¨ anderung einzugehen. Wie ist die Identit¨ at des Anders-Werdenden zu verstehen? Aristoteles l¨ ost dieses Problem mittels der Unterscheidung von Wesen und Akzidenz, wobei – grob gesprochen – das Wesen die durchg¨ angige Identit¨ at ausmacht und die Akzidentien wechseln. Diese Angabe ist nicht genau, weil Aristoteles dabei nicht die momentane, sondern die volle Entfaltung des Wesens als Wesen betrachtet: Wesen des Kindes ist seine volle Entfaltung als erwachsener Mensch. Ans¨ atze zu der Unterscheidung von Wesen und Akzidenz finden sich auch bei Platon 11 , aber Kriterien zur Unterscheidung von Wesensbestimmtheiten und Akzidentien formuliert erst Aristoteles. Gemessen an dem bisher entwickelten Gedankengang entspr¨ ache der Verweis auf die Unterscheidung von Wesen und Akzidenz einem deus ex machina. Die Identit¨ at des Anders-Werdenden l¨ asst sich auch nicht auf das Aufnehmende zur¨ uckf¨ uhren, in dem“ das Werdende wird, denn das ” Aufnehmende ist f¨ ur sich selbst frei von Bestimmtheit (Timaios 50bff.). 12 Vielmehr ist das Werden der Instanzen ein bestimmtes Werden, Identit¨ at und Andersheit sind dabei so verbunden, dass sich einige Bestimmtheiten 11
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Z. B. die Unterscheidung zwischen Simmias-Sein und dem Groß-Sein des Simmias im Phaidon (102c1-2, vgl. dazu Seite 23 und Hackforth (1955, S. 155)) oder das oben erw¨ ahnte Umschlagen des seienden Einen von Bewegung in Stillstand und umgekehrt (Parmenides 156c): Parmenides unterscheidet deutlich zwischen dem, was die Um156c6), und den Umschl¨ agen selbst. Beachtenswert in dieschl¨ age erleidet“ ( ” sem Zusammenhang ist auch die Betrachtung des Menschen als einer Einheit, der viele Bestimmtheiten zukommen (Sophistes 251af.); eine Betrachtung, die nach Phi) geworden ist. lebos 14d4 bereits Allgemeingut“ ( ” Vgl. zu dem Aufnehmenden Kapitel 3.4.
Das Werden der Instanzen
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der Instanz durchg¨ angig erhalten, w¨ ahrend andere Bestimmtheiten verloren gehen und neue hinzukommen. Das Verh¨ altnis der Bestimmtheiten zueinander, der durchg¨ angigen und derjenigen, von denen die Instanz abl¨ asst und an denen sie neu teilergreift, ist nicht willk¨ urlich: Die Bestimmtheit des Werdenden bestimmt auch die M¨ oglichkeiten seines Anders-Werdens. Wenn Sokrates hier und jetzt auf seiner Liege im Gef¨ angnis von Athen sitzt, kann er sehr wohl im n¨ achsten Moment aufstehen und einen anderen Ort in seiner Zelle einnehmen, aber er kann im n¨ achsten Moment nicht schon in Megara oder B¨ ootien sein; als Mensch kann Sokrates in seiner Zelle umhergehen, aber kann dort nicht hin und her fliegen usw. Die M¨ oglichkeiten der Ver¨ anderung m¨ ogen vielf¨ altig sein, aber es sind immer bestimmte M¨ oglichkeiten, deren Verwirklichung die Kontinuit¨ at nicht verletzt. Die Bestimmtheit des Werdenden bestimmt auch die M¨ oglichkeiten seines Anders-Werdens, und das bestimmte Anders-Werden wahrt durch die Kontinuit¨ at der Ver¨ anderung die Identit¨ at des Werdenden. Identit¨ at und Alterit¨ at sind beim Werdenden nicht voneinander zu trennen, sondern dialektisch miteinander verbunden. Ergebnis bisher: Das Werdende schl¨ agt um und wird anders als es selbst, ohne dass der Umschlag die Kontinuit¨ at seines Selbst-Seins unterbr¨ ache. Die Identit¨ at des Werdenden beruht auf dessen Bestimmtheit, wobei nicht nur die gegenw¨ artige Bestimmtheit zu ber¨ ucksichtigen ist, sondern auch die vergangene, aus der die gegenw¨ artige hervorgegangen ist, und m¨ ogliche zuk¨ unftige Bestimmtheiten, die dem Werdenden durch seine gegenw¨ artige Bestimmtheit offen stehen. In jedem Fall ist das Werden der Instanz ein bestimmtes Werden – analog zu der Konzeption von Sein als Bestimmt-Sein. Das Werdende ist immer ein bestimmtes Werdendes, das sich in bestimmter Weise ver¨ andert. Die Bestimmtheiten, gegenw¨ artige, vergangene und zuk¨ unftige, kommen dem Werdenden von den Ideen her zu. Die Ideen sind die F¨ ulle der Bestimmtheiten, die die Instanzen u onnen. In diesem Sinne ist auch die Bemerkung ¨berhaupt annehmen k¨ zu verstehen, dass das Werdende (die Instanz als Abbild der Idee) sich ” irgendwie ans Sein klammert“ ( , Timaios 52c4f.). Die Ideen sind die F¨ ulle der Seinsm¨ oglichkeiten“ 13 f¨ ur das Werde” Sein der Instanzen. Die Ideen sind Seinsm¨ oglichkeiten nicht in dem Sinne, dass Instanzen die M¨ oglichkeit h¨ atten, Ideen zu werden, sondern in dem Sinne, dass Instanzen an Ideen teilhaben und damit Seinsm¨ oglichkeiten 13
F¨ ur die Konzeption der Ideen als Seinsm¨ oglichkeiten vgl. Dorter (1982, S. 125). Als Seinsm¨ oglichkeiten versteht die Platonischen Ideen vor allem Whitehead (1987, Zweiter Teil, Kapitel I, 1-3, S. 91ff.). Ein wichtiger Unterschied zwischen den Ideenkonzeptionen von Platon und Whitehead besteht allerdings darin, dass die Ideen bei Platon die eigentliche Wirklichkeit sind und der Welt nicht bed¨ urfen, w¨ ahrend sie bei Whitehead zeitlose Gegenst¨ ande (eternal objects) f¨ ur das Werden der wirklichen Einzelwesen (actual entities) sind.
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Die Charakterisierung der Instanzen
in ihrem Werde-Sein verwirklichen k¨ onnen. Auch in der Betrachtung der Ideen als Seinsm¨ oglichkeiten gilt, dass das Werden der Instanzen die Ideen in keiner Weise affiziert (siehe Symposion 211b2-5).
3.3 Die Sch¨onheit der Instanzen Wie kann das Werdende, das zeitlich beschr¨ ankt ist und schließlich dem Verfall anheim gegeben ist, sch¨ on sein? Viele Kommentatoren unterstellen Platon, den Bereich des Werdens insgesamt wegen seiner Ver¨ anderlichkeit gering zu sch¨ atzen. Anlass daf¨ ur ist die Rede von Defizienz und Bed¨ urftigkeit der Instanzen an Textstellen wie Phaidon 78c-79a. Diese Kommentatoren scheinen aber einen wichtigen Aspekt in Platons Konzeption des Werdens zu u alt¨bersehen: Zur Charakterisierung des Verh¨ nisses zwischen Idee und Instanz spricht Platon oft von dem Verh¨ altnis zwischen Vorbild und Abbild, prominentestes Beispiel daf¨ ur d¨ urfte das H¨ ohlengleichnis der Politeia sein; im Timaios ist vielfach von der Idee als Paradigma die Rede. 14 Die Redeweise von Vorbild und Abbild ist dem Sachgebiet nachahmender K¨ unste entlehnt (vgl. insb. Politeia 472d, ¨ 484cd, 500c-501c). In der nachahmenden Kunst charakterisiert Ahnlichkeit das Verh¨ altnis zwischen Vorbild und Abbild. Von dort her scheinen auch Idee und Instanz einander a ¨hnlich zu sein, was zu den Aporien des Dritten Menschen“ f¨ uhren kann. 15 Nach der in dieser Arbeit vorgeleg” ten Interpretation ist das Verh¨ altnis von Idee und Instanz dasjenige von Bestimmtheit und Bestimmtem, beides ist kategorial voneinander verschieden; wenn man den kategorialen Unterschied nicht aus den Augen ¨ verliert, mag Ahnlichkeit“ eine geeignete Metapher f¨ ur dieses Verh¨ altnis ” sein, allerdings kann a hnlich“ dann nicht mehr als partiell gleich und ¨ ” ” partiell verschieden“ ausgelegt werden, denn was kategorial verschieden ist, kann nicht miteinander verglichen werden. Aporien wie der Dritte ” Mensch“, die aus der Vergleichbarkeit von Idee und Instanz hervorgehen, sind nach der vorliegenden Interpretation obsolet. Platon hat die Gefahr dieser Aporien einerseits erkannt und im Parmenides als Missverst¨ andnis ausger¨ aumt, dennoch verwendet er andererseits den Anspielungsraum nachahmender Kunst weiterhin: Der Demiurg formt die Welt nach dem Vorbild der unver¨ anderlichen Ideen. Die so geordnete Welt ist sch¨ on. Im Nacheinander der mythischen Erz¨ ahlung formt der Demiurg den Kosmos als ein bewegtes Lebewesen nach dem Vorbild eines ewigen Lebewesens. Obwohl der Kosmos bewegt ist, gibt es darin zun¨ achst keine Zeit. 14 15
Siehe Timaios 28a8, 29b4f., 39e7, 48e5f., 49a1. Vgl. dazu Kapitel 5.5 und 5.7.
Die Sch¨ onheit der Instanzen
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Bemerkenswert ist nun die Begr¨ undung f¨ ur die Einf¨ uhrung der Zeit Timaios 37cf.: Zeit als Abbild der Ewigkeit soll das All dem Seienden noch ” ahnlicher“ ( 37c8) machen! Entscheidend ist nun die Fra¨ ge, warum die Einf¨ uhrung der Zeit den Kosmos den außerzeitlich ewigen Ideen noch ¨ ahnlicher“ macht? Der Demiurg formt die Zeit als ein beweg” ” liches Abbild“ ( 37d5f.) der Ewigkeit. 16 Worin besteht das tertium comparationis dieses Abbild-Verh¨ altnisses? Zeit erlaubt die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, davon sind Vergangenheit und Zukunft von der Ewigkeit ausgeschlossen, lediglich die Gegenwart komme ihr zu (37e). Aber auch die zeitliche Gegenwart und die ewige Gegenwart unterscheiden sich offenbar darin, dass die zeitliche Gegenwart einmal in der Zukunft lag und bald der Vergangenheit angeh¨ oren wird, beides kann f¨ ur die Gegenwart der Ewigkeit nicht gelten. Es b¨ ote sich ferner an, das Abbild-Verh¨ altnis zwischen Ewigkeit und Zeit irgendwie in Analogie zu dem Abbild-Verh¨ altnis zwischen Idee und Instanz zu interpretieren. Aber es ist nicht leicht zu sehen, inwiefern das Verh¨ altnis zwischen Ewigkeit und Zeit wie dasjenige zwischen Bestimmtheit und Bestimmtem sein k¨ onnte. Timaios versteht den Kosmos als zeitlich bewegtes Lebewesen, das insgesamt Abbild eines ewigen Lebewesens sein soll. Zeit und Ewigkeit k¨ onnten demnach hinsichtlich eines Zusammenhangs mit der Lebendigkeit 17 vergleichbar sein, aber die Konzeption eines ewigen Lebewesens“ ist an sich schon nicht leicht verst¨ andlich. Vor der ” Kl¨ arung dieser Fragen l¨ asst sich zumindest so viel sagen, dass die Zeit die Erscheinung verschiedener Instanzen nacheinander erm¨ oglicht; Seinsbestimmtheiten, die zu einem Zeitpunkt nicht in einer Instanz verwirklicht waren, k¨ onnen das auf diese Weise immer noch zu einem sp¨ ateren Zeitpunkt werden. Die Zeit ist demnach ein Abbild der Ewigkeit, weil in der Zeit und in der Ewigkeit Seinsbestimmtheiten gegenw¨ artig sind: In der Zeit sind sie nacheinander gegenw¨ artig, in der Ewigkeit sind sie in zeitfreier Gleichzeitigkeit gegenw¨ artig. Im Nacheinander des Werdens kann ¨ die Uberf¨ ulle der Seinsm¨ oglichkeiten der Ideen sukzessive realisiert werden – ohne dabei die Seinsm¨ oglichkeiten jemals zu ersch¨ opfen. Die Zeit macht den Kosmos dem zun¨ achst Außerzeitlichen dadurch ¨ ahnlicher, dass sich durch sie eine F¨ ulle von Seinsm¨ oglichkeiten verwirktlichen kann. Die zeitliche Ver¨ anderung des Kosmos ist nach diesem Gedankengang nicht als ein Mangel zu betrachten; der Kosmos insgesamt ist sch¨ on. Wie 16
17
Dabei schreitet die Zeit nicht nur irgendwie voran, sondern nach Zahl“ ( ” 37d7); Zahlhaftigkeit ist der Inbegriff von messbarer Ordnung, das Voranschreiten der Zeit l¨ asst sich durch das Z¨ ahlen zyklischer Prozesse messen. Die zyklischen Prozesse, an die Timaios denkt, sind Tage, Monate und Jahre. Heute benutzen wir zur Messung der Zeit die Schwingungen von Z¨ asium-Atomen; sie erlauben durch den k¨ urzeren Zyklus genauere Zeitmessungen, ein prinzipieller Unterschied besteht aber nicht. So Plotin Enn. III 7: Ewigkeit ist Leben des Geistes, Zeit ist das Leben der Seele.
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Die Charakterisierung der Instanzen
verh¨ alt es sich bei den zeitlich beschr¨ ankten und ver¨ anderlichen Einzelwesen, bringt Platon ihnen Geringsch¨ atzung entgegen? Platons Tonfall, z. B. Phaidon 78c-79a, scheint eindeutig zu sein, aber der Tonfall k¨ onnte auch dadurch motiviert sein, dass die Bedeutung der Ideen hervorgehoben werden, nicht aber Geringsch¨ atzung gegen¨ uber ver¨ anderlichen Instanzen ausgedr¨ uckt werden soll. Die differenzierte Betrachtung ergibt jedenfalls ein anderes Bild: Im Phaidon berichtet Sokrates von seinen Erwartungen an Anaxagoras, insbesondere an die von Anaxagoras postulierte ordnende Vernunft, dass sie n¨ amlich jedes Einzelwesen so stellt, wie es sich am bes” ten befinden d¨ urfte“ (97c4f.). Anaxagoras hat diese Erwartung in seinem Buch entt¨ auscht. Es ist aber schon beobachtet worden, dass Platon im Timaios versucht, dieser Erwartung gerecht zu werden und zu erkl¨ aren, warum es f¨ ur jedes Einzelwesen am besten ist, so zu sein, wie es ist. 18 Timaios tritt hier als Sprecher auf, weil er der Natur des Weltalls kundig ” ist“ ( 27a4f.), womit Platon das Folgende als eine Antwort auf die so genannte Naturphilosophie, die , in deren Tradition auch Anaxagoras steht, ank¨ undigt. Daran ¨ andert auch die Tatsache nichts, dass Timaios den folgenden Bericht als einen wahrscheinlichen Mythos“ ( 29d1) kennzeichnet, im ” Gegenteil, denn im Phaidon (99c) r¨ uckt Sokrates die Naturphilosophie ebenfalls in die N¨ ahe des Mythos, wenn er den Naturphilosophen unterstellt, sie meinten mit ihren Ursachenangaben einen st¨ arkeren und ” unsterblicheren Atlas“ gefunden zu haben, w¨ ahrend sie dem Guten und ” N¨ otigen“ ( 99c6) keinerlei Verm¨ ogen zubilligen. Der Gott, d. i. der Demiurg, wollte, dass alles gut und nach M¨ og” lichkeit nichts schlecht sei“ (Timaios 30a1f.): Zu diesem Zweck f¨ uhrte er das Sichtbare, das in ordnungsloser Bewegung war, aus der Unordnung zur Ordnung (30a4f.). Die mythische Figur des Demiurgen bet¨ atigt sich nicht als Sch¨ opfer, der eine creatio ex nihilo vollbringt, sondern als kosmischer Ordner in einem ordnungsfreien Chaos. Der geordnete Zustand ist besser als der ordnungsfreie. Bei seiner ordnenden T¨ atigkeit blickt der Demiurg auf die unver¨ anderlich seienden Ideen (29a). Die Ideen sind nach dieser Betrachtung nicht bloß beliebige Bestimmtheiten, sondern Strukturen sch¨ oner Ordnung. Die Teilhabe an der Idee bestimmt das Bestimmte nicht nur irgendwie, sondern in seiner Bestimmtheit ist das Teilhabende wohlgeordnet. Dabei ist zu beachten, dass es dem Demiurgen nicht nur um dingliche Ordnung oder sogar starre Fixierung alles Bewegten geht, sondern dass diese Ordnung die geordneten Bewegungen mit einschließt; Paradebeispiel geordneter Bewegung sind die Uml¨ aufe der Himmelsk¨ orper. Es ist eine bestimmte Ordnung, die f¨ ur das Einzelwesen jeweils am besten ist: Sokrates spricht im Gorgias (503e-504a) zwar nicht u ¨ber kos18
Z. B. Gallop (1975, S. 174f.).
Die Sch¨ onheit der Instanzen
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mische Handwerker, aber u ohnliche, weltliche (503d8): ¨ber gew¨ Maler, Baumeister und Schiffbauer, die ihrem Werk eine bestimmte Ge” stalt“ ( 503e2) geben, indem sie jede Komponente an eine Stelle“ ” ( 503e5) stellen. 19 Sie zwingen das Verschiedene, sich mit dem Verschiedenen angemessen zu f¨ ugen; die Ordnung ergibt sich nicht schon dadurch, dass sich Gleiches zu Gleichem“ gesellt, wobei eine ordnende ” Kraft, die Zwang aus¨ ubt, u ussig w¨ are. In dem Begriff klingt ¨berfl¨ zudem die milit¨ arische Konnotation der geordneten Schlachtreihe mit, in der jedes Glied seine Stelle einnimmt. Das Werkst¨ uck, in dem jede Komponente seine Stelle einnimmt, ist ein , d. h. dass es nicht nur irgendeine Anordnung hat, sondern dass diese Ordnung sch¨ on ist: eine Wohlordnung. In der Wohlordnung des Werkst¨ ucks liegt dessen Vollkommenheit. Dieser Gedanke tr¨ agt auch die Erkl¨ arung des menschlichen Organismus im Timaios (44d-47e, 70dff.) einschließlich der Krankheiten (81e), die Timaios als eine naturwidrige“ ( 82a2) St¨ orung der ” Wohlordnung erkl¨ art. Im Philebos erkl¨ art Sokrates, dass jegliches Werden wegen eines Seins, ” jedes wegen eines anderen, geschehe, dass das gesamte Werden aber um des gesamten Seins willen geschehe“ ( 54c2-4); im Kontext der vier Gattungen (Grenze, Unbegrenztes, Mischung aus Grenze und Unbegrenztem und Ursache der Mischung) spricht Sokrates vom Werden zum Sein“ ( ” 26d9, vgl. 27b8 und Phaidon 75af.). Sein ist auch hier zu verstehen als Bestimmt-Sein, es geht deshalb nicht so sehr um Entstehung im Sinne eines Anfangs der Existenz, sondern darum, etwas Bestimmtes zu werden: Im Kontext der vier Gattungen nennt Sokrates die Bestimmtheit Grenze“ ” ( ). Dass jegliches Werden wegen eines Seins geschehe, bedeutet f¨ ur das Werden jedes Einzelwesens, dass sein Werden auf die Entfaltung seiner Bestimmtheit ausgerichtet ist. Die darin enthaltene Teleologie ist nicht so zu verstehen, dass die Idee transzendenter Zweck“ seines Werdens ist, ” sondern die Verwirklichung der Bestimmtheit der Idee in der Instanz ist Ziel ihres Werdens. In der intensiven Auspr¨ agung der Bestimmtheit ist die Instanz wohlgeordnet. Verwirklicht die Instanz ihre Bestimmtheit, dann befindet sie sich so, wie es f¨ ur sie am besten ist. Die Idee ist in diesem Sin19
Es ist an dieser Stelle unerheblich, ob Sokrates den Begriff hier schon in einem hier bereits die f¨ ur die Ideenlehre terminologischen Sinn verwendet, d. h. ob transzendente“ Idee meint. Nach der hier entwickelten Interpretation kommt es darauf ” insbesondere deshalb nicht an, weil der entscheidende Schritt zur Einf¨ uhrung der Ideen die Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem ist, die Unver¨ anderlichkeit der Bestimmtheiten ist ein Korollar dieser Unterscheidung. Da Sokrates im Gorgias der Verwechslung von Bestimmtheit und Bestimmtem unverd¨ achtig ist, braucht man keine Z¨ asur zwischen der Gorgias-Stelle und der Zweiten Fahrt im Phaidon anzusetzen.
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Die Charakterisierung der Instanzen
ne das f¨ ur die Instanz Gute. Damit ist auch verst¨ andlich, warum Sokrates behauptet, das Sein, wegen dessen jedesmal das Werdende wird, st¨ unde in der Ordnung des Guten“(54c10). 20 Die Frage, wie etwas Werdendes, ” das schließlich dem Verfall anheim gegeben ist, sch¨ on sein kann, ist dahingehend zu beantworten, dass ihm die Sch¨ onheit zukommt, insofern es die Bestimmtheit der Idee verwirklicht. 21
3.4 Die Mitursache des Werdens In seiner Erkl¨ arung des Kosmos unterscheidet Timaios Ursachen und Mitursachen (Timaios 46c7-e2): All dieses [die materielle Seite des Sehvorgangs] nun geh¨ ort zu den Mitursachen, deren sich der Gott bei der Herstellung der Form des Bestm¨ oglichen als Hilfsmittel bedient. Von den meisten wird jedoch angenommen, daß es nicht Mitursachen ( ), sondern Ursachen ( ) von allem seien, indem sie k¨ uhlen und w¨ armen, verfestigen und verfl¨ uchtigen und all derartiges bewirken. Aber diese Dinge k¨ onnen weder irgendein Denkverm¨ ogen noch eine Vernunft f¨ ur irgendeine Aufgabe an sich haben; wir m¨ ussen vielmehr sagen, daß dasjenige, dem es allein unter dem Seienden zukommt, Vernunft ( ) zu erwerben, die Seele ist. Sie jedoch ist etwas Unsichtbares, w¨ ahrend Feuer, Wasser, Erde und Luft alles sichtbare K¨ orper sind. Wer aber Vernunft und Erkenntnis liebt, der muß notwendig zuerst die Ursachen verfolgen, die zur verst¨ andigen Natur geh¨ oren; an zweiter Stelle aber [. . . ] die, welche zu denen geh¨ oren, die, von anderen in Bewegung gesetzt, aus Notwendigkeit wieder anderes in Bewegung setzen [. . . ]. 22
Die Vertreter der kritisierten Lehre verwechseln Ursachen und Mitursachen, indem sie dasjenige f¨ ur Ursachen halten, was nach Timaios’ Ansicht bloß Mitursachen sind. Eine exakte Erkl¨ arung dessen, was Mitursachen sind, findet sich im Phaidon 23 , wo Sokrates ausf¨ uhrt, dass bei einem ” jeden Ding eines die Ursache ist, und etwas anderes jenes, ohne welches die Ursache nicht Ursache sein k¨ onnte“ ( 20
21 22 23
Die Frage, ob Platon damit eine scharfe Trennung zwischen Werden und Sein aufgehoben hat (Frede, 1997, S. 311-313, vgl. S. 306 Anm. 129), scheint mir von einer falsch als Trennung verstandenen Unterscheidung zwischen Idee und Instanz, Bestimmtheit und Bestimmtem auszugehen. Vom Anfang der Ideenlehre an sind Instanz und Idee u ¨ber Teilhabe verbunden. Die Instanz ist bestimmt, insofern sie an der Bestimmtheit der Idee teilhat. Das Werden zum Sein meint nicht, dass die werdende Instanz zur Idee wird, sondern dass sie die Bestimmtheit der Idee auspr¨ agt. Der Gedankengang gilt insbesondere f¨ ur die Bestimmtheit des Menschen und die Arete als sch¨ one Ordnung der Seele, vgl. dazu z. B. Gorgias 504b-505b und Kr¨ amer (1959). ¨ Ubersetzung aus Eigler (1990, Bd. 7, S. 81). Der Begriff der Mitursache f¨ allt dort allerdings nicht. Aristoteles verbindet die Formit dem Begriff des in Metaphysik Δ 5, 1015a20f. mulierung
Die Mitursache des Werdens
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99b2-4). Die Verwechslung von Ursache und Mitursache vergleicht Sokrates damit, dass jemand als Ursache daf¨ ur, dass Sokrates im Gef¨ angnis sitzt und nicht nach Megara oder B¨ ootien geflohen ist, dessen Sehnen und Knochen angibt (98c-99a). Wenn Sokrates nach Megara oder B¨ ootien geflohen w¨ are, welche Ursache w¨ urde der Einredner f¨ ur Sokrates’ Aufenthalt im Exil angeben? Er w¨ urde wohl Sehnen und Knochen nennen. Sehnen und Knochen w¨ aren demnach Ursache f¨ ur beides, sowohl f¨ ur Sokrates’ Aufenthalt im Gef¨ angnis als auch f¨ ur seine Rettung ins Exil. Damit k¨ onnen Sehnen und Knochen aber nicht die eigentliche Ursache daf¨ ur sein, dass Sokrates in Athen geblieben ist. Sehnen und Knochen sind lediglich Bedingung daf¨ ur, dass Sokrates im Gef¨ angnis sitzt, Ursache ist seine Meinung“ ( ), ” von dem, was besser ist, n¨ amlich die vom Staat angeordnete Strafe zu b¨ ußen (99a2-4). Ursache der Handlung ist also eine seelische Einsicht, n¨ amlich die Subsumtion einer bestimmten Handlung unter den Begriff des Guten. 24 Aufgrund dieser Einsicht verbleiben Sokrates’ Sehnen und Knochen in Athen. 25 Die Unterscheidung von Ursache und Mitursache im Phaidon ist nicht auf den Bereich menschlichen Handelns beschr¨ ankt, vielmehr dient das Handlungsbeispiel dort als Analogie f¨ ur entsprechende Erkl¨ arungsweisen im Bereich der Kosmologie. Dieser Zusammenhang erlaubt die Verbindung mit der zitierten Timaios-Stelle. Die meisten“, von ” denen Timaios sich abgrenzt, halten dasjenige f¨ ur Ursachen, was lediglich Bedingung daf¨ ur ist, dass die Ursache wirken kann. Sehorgan, Sehstrahl“ ” etc. sind Bedingungen f¨ ur das Sehen, Ursache ist aber allein das Sehverm¨ ogen der Seele. Inwiefern ist eine Erkl¨ arung der kosmischen Ordnung mangelhaft, die nur die Mitursache ber¨ ucksichtigt? Timaios spricht den Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft den Rang von Ursachen ab und stuft sie als Mitursachen f¨ ur die Bildung der K¨ orper ein. Wenn aber die Mitursache 24 25
Zu der Interpretation der Meinung“ als Subsumtion von Einzelnem unter einen All” gemeinbegriff vgl. Kapitel 7.1 und 8.1. Hier dr¨ angt sich ein Vergleich mit modernen Positionen auf: Als Ursache einer Handlung verweist Walter (1999, S. 294) auf das neuronale Netz des Gehirns. In diesem Sinne k¨ onnte der vorgestellte Einredner im Phaidon sagen: Ursache daf¨ ur, dass Sokrates im Gef¨ angnis ausharrt, ist sein Gehirn. Das neuronale Netz w¨ are aber nicht weniger Ursache der Flucht aus Athen. Walter k¨ onnte dem sokratischen Einwand zustimmen, ohne widerlegt zu werden. Denn nach seiner Ansicht ist nicht einfach das Gehirn Ursache, sondern ein bestimmter Prozess im neuronalen Netz; Ursache der Flucht w¨ are zwar ebenfalls das Gehirn, aber ein anderer Prozess in seinem neuronalen Netzwerk. Der Vergleich zeigt, inwiefern Walters Ursachenangabe derjenigen des vorgestellten Einredners im Phaidon u arung ¨berlegen ist. Problematisch an der Erkl¨ von Walter bleibt jedoch, dass danach nicht Einsicht, sondern ein materieller Prozess Ursache der Handlung ist. Im Sinne Platons verwechselt auch er damit Ursache und Mitursache.
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Die Charakterisierung der Instanzen
analysiert werden soll, dann reicht es nach Timaios noch nicht, bei der Suche bis auf die Elemente zur¨ uckzugehen: Feuer, Wasser, Erde und Luft sind nicht als einfache Grundbestandteile des Alls anzusetzen; in der Analogie dieser Passage sind sie den Buchstaben“ ( , Timaios 48b8) ” keinesfalls und den Silben“ kaum angemessen zu vergleichen. Timaios’ ” Kritik besteht darin, dass Feuer, Wasser, Erde und Luft nichts Einfaches, sondern f¨ ur sich schon komplex sind. In seiner Analyse der Elemente f¨ uhrt er sie auf die Elementardreiecke zur¨ uck (53cff.). Aber auch die Elementardreiecke k¨ onnen nicht erste Mitursache und frei von dem sein, was f¨ ur Timaios schon zu den eigentlichen Ursachen z¨ ahlt. Die Elementardreiecke sind n¨ amlich bestimmt; die Rede von Elementardreiecken beansprucht bereits Form und Zahl, die aber Werk des Gottes sind (53d4f.). Wenn nur die Mitursache ber¨ ucksichtigt werden soll, dann bleibt nur eine Pr¨ age” masse“ ( 50c2), die f¨ ur sich selbst vollkommen frei ist von aller Formung (50d7-e6). Die Mitursache ist das Aufnehmende“ ( ” 49a6), in dem“ ( 49e7 u. ¨ o.) sich die Bestimmtheiten zu Instanzen ” vereinzeln. Die Instanzen haben demnach zweierlei Prinzipien, von denen das eine Ursache, das andere Mitursache ist. Ursache ist die Bestimmtheit, Mitursache das Aufnehmende. Damit bestimmte Instanzen m¨ oglich sind, m¨ ussen Ursache und Mitursache zusammenwirken. Losgel¨ ost von jedem Beitrag der eigentlichen Ursache leistet die Mitursache zur Erkl¨ arung kosmischer Ordnung: gar nichts. Was selbst frei von jeglichen Ordnungsbestimmungen ist, kann nicht als Erkl¨ arung irgendeiner Ordnung herangezogen werden. Wenn Timaios ausf¨ uhrt, dass das Werk des Demiurgen darin besteht, dasjenige, was keine Ruhe hielt, sondern in unmelodischer 26 und ” ordnungsloser Bewegung war“ ( 30a3f.), aus der Unordnung zur Ordnung zu f¨ uhren, dann kann es sich bei der ordnungslosen Bewegung nicht um ein in seiner Ordnung schwer durchschaubares Gewusel“ von Elementen handeln, ” sondern es handelt sich u ¨berhaupt nicht um Bewegung von irgendwie bestimmten Dingen. Es kann sich insbesondere nicht um Bewegung im gel¨ aufigen Sinne von Ortsbewegung oder Ver¨ anderung handeln; Bewegung“ ” ist hier vielmehr Grenzbegriff g¨ anzlicher Ordnungslosigkeit. F¨ ur einen Betrachter w¨ are beim Anblick dieser Bewegung“ nichts zu sehen: Es liegt ” darin keine eidetische Bestimmung vor, die sich unterscheiden ließe. Entsprechend finden sich in der kosmischen Worfschaufel 27 (52ef.) auch nicht Weizen und Spreu“ bzw. Leichtes und Schweres“ (53a1f.) vermischt mit” ” einander, weil der Unterschied zwischen Leichtem und Schwerem bereits 26 27
Das Wort bezeichnet eine falsche Note in der Musik. Vgl. dazu Cornford (1937, S. 200f.).
Die Mitursache des Werdens
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Bestimmtheit voraussetzt. Weizen und Spreu sind im Gegensatz zur kosmischen Mitursache auch vor ihrer Entmischung schon bestimmt. 28 28
Von der ersten Mitursache des Kosmos spricht Timaios als Notwendigkeit“ ( ), ” vgl. zur Notwendigkeit Brisson (1994, S. 467-478) und Cornford (1937, S. 162-177); Notwendigkeit“ heißt die erste Mitursache, weil sie notwendige Bedingung f¨ ur die ” Vereinzelung der Ideen im Kosmos ist. Dass die Notwendigkeit f¨ ur sich frei von aller Bestimmtheit ist, wird in der Kommentarliteratur bestritten: Den Nomoi entnehmen wir die Lehre, dass die Seele, definiert als die Bewegung, der das Verm¨ ogen ” zukommt, selbst sich selbst zu bewegen“ ( , Nomoi 896a1f.), Ursache aller Bewegung ist (Nomoi 896b1). Timaios dagegen scheint der Notwendigkeit unabh¨ angig von aller Seele Bewegung zuzuschreiben. Zwischen Nomoi und Timaios besteht also ein Widerspruch, der einer Erkl¨ arung bedarf. Cornford (1937, S. 176) versucht, den Widerspruch dadurch aufzul¨ osen, dass er die Bewegung der Notwendigkeit auf ein irrationales Element der Weltseele zur¨ uckf¨ uhrt. F¨ ur eine Kritik an Cornfords Vorschlag siehe Parry (2003, S. 270). Parry (2002, 2003) versucht gar nicht, den Widerspruch aufzul¨ osen; er erkennt vielmehr in der Notwendigkeit und ihrer Bewegung eine alternative Kosmogonie“ (vgl. dazu insbesondere Parry (2002, ” S. 300)), die ohne die Annahme einer Weltseele auskommt – und daher attraktiv zu sein scheint. Parry u ¨bersieht dabei, dass die alternative Kosmogonie“ die Probleme ” nicht l¨ osen kann, um die es Platon sowohl im Timaios als auch im zehnten Buch der Nomoi geht. Die Grundfrage ist: Wie ist die kosmische Ordnung zu erkl¨ aren? Platons Antwort verweist auf die Ideen als Ordnungsbestimmtheiten und auf eine vern¨ unftige Weltseele, die die Ideen denken und im welthaften Werden hervorbringen kann. Dieser Erkl¨ arungsleistung von Platons Kosmologie hat Parrys alternative Kosmogonie“ ” nichts entgegenzusetzen. Parry muss einfach voraussetzen, dass das Notwendige schon irgendwie bestimmt ist. Ferner, wenn Parrys Interpretation richtig und die Mitursache schon von sich her bestimmt w¨ are, dann w¨ are sie qua Bestimmtheit erkennbar und ihre Bestimmtheit denkbar; das Bastard-Denken“ (Timaios 52b3), mit dem wir sie ” erfassen, w¨ are u ussig. Damit bleibt aber die Frage, wie im Gedankengang der ¨berfl¨ vorliegenden Arbeit die irrationale Bewegung der Notwendigkeit zu erkl¨ aren ist. Von der Einleitung (17a-29d) abgesehen besteht der Timaios aus drei Teilen, der erste entfaltet die Werke der Vernunft (29d-47e), der zweite die Werke der Notwendigkeit (47e-69a), der dritte das Zusammenwirken von Vernunft und Notwendigkeit (69a-92c). Aber Timaios h¨ alt diese Aufteilung in Werke der Vernunft und Werke der Notwendigkeit nicht durch. Er spricht schon im Rahmen der Werke der Vernunft von Weltk¨ orper, Sternenk¨ orpern und menschlichen K¨ orpern, was systematisch aber vor der Einf¨ uhrung der Mitursache unzul¨ assig ist; aber auch in der Darstellung der Werke der Notwendigkeit beansprucht er fortw¨ ahrend, was die Notwendigkeit allein nicht leistet, denn die dort diskutierten Elemente sind schon bestimmte, d. h. durch Teilhabe an Ideen geformte Elemente. Die Aufteilung in Werke der Vernunft und Werke der Notwendigkeit ist also keine strikte Trennung, sondern im ersten Teil steht lediglich der Beitrag der Vernunft, im zweiten Teil der der Notwendigkeit im Vordergrund. Die Vernunft ist der ¨ Notwendigkeit gegen¨ uber nicht allm¨ achtig, sondern muss Uberzeugungsarbeit leisten. Irgendein Aspekt der Notwendigkeit scheint sich der Bestimmung durch die Vernunft zu widersetzen. Wie ist dieser Aspekt zu erkl¨ aren? Die von aller Form freie Pr¨ agemasse kann sich der Formung in keiner Weise widersetzen, aber sobald sie zu Elementen und komplexeren Strukturen geformt ist, ist sie f¨ ur weitere Formung nur noch bedingt geeignet. Wenn die irrationale Bewegung der Notwendigkeit radikal irrational sein soll, dann ist es keine Bewegung und keine Bewegung von einem bestimmten Etwas. Die Alternative ist, dass die Bewegung so irrational nicht ist, sondern dass durchaus ein rational, d. h. durch die Vernunft bestimmtes Etwas vorliegt, das aber irrational bewegt zu sein scheint, weil es sich durch seine Bestimmtheit f¨ ur weitere Bestimmung durch die Vernunft nur bedingt eignet.
4 Die Verflechtung der Ideen im Sophistes ¨ Gegenstand unserer bisherigen Uberlegungen waren die Grundlagen der Ideenlehre. Es ging dabei um die Notwendigkeit der Ideenannahme, die vorl¨ aufige Charakterisierung der Ideen und ihre Bedeutung f¨ ur das Werden der Instanzen. Im Folgenden geht es darum, einen bestimmten Aspekt der Ideen n¨ aher zu betrachten: Die Verflechtung der Ideen. Einen Ansatz zu dieser Verflechtung haben wir bereits bei den feineren“ ( , ” Phaidon 105c2) Hypothesen im Phaidon gesehen. 1 Die feineren Hypothesen leisten einen Beitrag zur Definition der Bestimmtheit, die in der urspr¨ unglichen Hypothese zugrundegelegt wurde. Auf diese Weise wird ein Verh¨ altnis zwischen zwei Bestimmtheiten angegeben. Bestimmtheiten, die in einem solchen Verh¨ altnis zueinander stehen, sind miteinander verflochten“. Damit stellt sich die Frage: Wie ist es u oglich, ¨berhaupt m¨ ” dass Bestimmtheiten miteinander verflochten sind? Platon beantwortet diese Frage, indem er die gr¨ oßten Gattungen“ angibt, die den Bereich ” der Ideen insgesamt strukturieren, und die Verflechtung am Beispiel der gr¨ oßten Gattungen entwickelt. Bevor wir uns dieser L¨ osung zuwenden, ist es n¨ utzlich zu u berlegen, was mit der Verflechtung der Bestimmtheiten ¨ auf dem Spiel steht: Welches Problem soll die Verflechtung der Bestimmtheiten l¨ osen?
4.1 Das Problem der vielfachen Benennung Der Fremde aus Elea er¨ offnet die Diskussion mit der Aufforderung anzugeben, auf welche Weise wir mit vielen Namen ( ) jeweils dieselbe Sache ansprechen (Sophistes 251a5f.). Als Beispiel f¨ ur diese Praxis verweist der Fremde auf den Menschen: Wir sprechen von einem Menschen, indem wir ihm viele Namen geben ( 251a8), wenn wir ihm Farbe, Gestalt, Gr¨ oße, Schlechtigkeit und Tugend zusprechen; die Alternative besteht darin, von ihm lediglich zu sagen, dass er ein Mensch ist. Indem wir etwas nennen, setzen“ ( 251b3) wir es als eines ” und sagen von ihm vieles und mit vielerlei Namen. Worin liegt hierbei 1
Vgl. dazu Kapitel 1.2.
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Die Verflechtung der Ideen im Sophistes
das Problem? Drei M¨ oglichkeiten, wie das Problem zu verstehen ist, sind denkbar: 1) Indem wir eine Sache benennen, setzen wir sie als eine Einheit; wenn wir dieselbe Sache mit einem anderen Namen benennen, setzen wir die Sache ebenfalls als eine Einheit. Da wir die Sache in beiden F¨ allen als Einheit gesetzt haben, scheint u ¨berhaupt kein Problem vorzuliegen. Nen¨ nen bedeutet nach dieser Uberlegung als-Einheit-setzen“. Jeder Akt der ” Benennung besteht demnach in nichts anderem als darin, die benannte Sache als eine Einheit zu setzen. Die Benennung einer Sache als Mensch“ ” ist dann identisch damit, die Sache gut“ zu nennen, denn in beiden F¨ allen ” wird die Sache lediglich als eine Einheit gesetzt. Diese Interpretation erkl¨ art aber weder den Akt des Benennens noch das Problem der vielfachen Benennung. 2) Indem wir eine Sache benennen, setzen wir sie als eines; da wir sie aber mit vielen verschiedenen Namen benennen, scheint die Sache nicht eines, sondern vieles zu sein. Wenn die Sache vieles ist in dem Sinne wie Sokrates, Simmias, Kebes und die u angnis ¨brigen in Sokrates’ Gef¨ anwesenden Personen viele sind, dann bezeichnen die vielen Namen vielleicht gar nicht dieselbe Sache, denn die Namen Sokrates“ und Simmias“ ” ” bezeichnen ebenfalls verschiedene Personen. Auch diese Interpretation ist kaum angemessen, denn es geht dem Fremden darum, dass die vielen Namen dieselbe Sache“ ( 251a6) bezeichnen. 3) Das Nennen ist kein ” bloßes als-Einheit-setzen“, weil es einen Unterschied macht, ob wir eine ” Sache Mensch“ oder ob wir sie gut“ nennen: Im ersten Fall setzen wir die ” ” Sache als einen Menschen, im zweiten Fall setzen wir die Sache als etwas Gutes. Dass wir die Sache als Mensch setzen, macht einen Unterschied, wir setzen die Sache damit n¨ amlich nicht als Nicht-Mensch. Analog gilt, dass es einen Unterschied macht, wenn wir eine Sache als etwas Gutes setzen. Nach dieser Interpretation ist der Akt des Benennens so zu verstehen, dass die benannte Sache durch das Nennen als etwas bestimmt wird. Das Problem, das der Fremde intendiert, k¨ onnte in diesem Fall darin bestehen, dass dieselbe Sache in den verschiedenen Akten der Benennung jeweils als etwas anderes bestimmt wird. Falls die bestimmende Benennung so aufzufassen ist, dass die benannte Sache nur das ist, als was wir sie durch die Benennung setzten, dann f¨ uhrt die Benennung mit verschiedenen Namen zu Widerspr¨ uchen. Was genau und nur Mensch ist, kann nicht genau und nur gut sein, weil das Mensch-Sein nicht identisch ist mit dem Gut-Sein. Nach dieser Interpretation besteht das Problem nicht darin, dass wir eine Sache (in jeder Benennung) als Einheit und (durch die vielen Benennungen) als Vielheit setzten, sondern dass wir dieselbe Sache jeweils als etwas anderes setzen (251a5f.). 4) Indem wir eine Sache benennen, setzen wir sie als Einheit; da wir sie aber mit vielen verschiedenen Namen benennen, scheint die Sache eine Vielheit von Bestimmtheiten zu haben. Wie kann eine Sache, die eine Einheit ist, viele Bestimmtheiten haben? Diese
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Interpretation r¨ uckt den Fremden in die N¨ ahe von Aristoteles, der dieses Problem bekanntlich so l¨ ost, dass er das Einzelwesen (erste Kategorie) als eine Einheit auffasst, der gem¨ aß den neun folgenden Kategorien viele Bestimmtheiten zukommen. Lehrreich f¨ ur das Verst¨ andnis des Nennens sind insbesondere scheiternde Akte des Benennens, denn an ihnen zeigen sich ex negativo die Voraussetzungen gelingender Benennung. Ein Fall scheiternder Benennung im Sophistes ist der Versuch, das Nicht-Seiende ( 237c2) bzw. das auf keinerlei Weise Seiende ( 237b7) zu nen2 237b8). Ein wesentliches Ergebnis der Diskussion des nen ( Nicht-Seienden besteht darin, dass das Nicht-Seiende undenkbar, unsag” bar, unnennbar und unerkl¨ arbar“ ( 238c11) ist. Es hat sich bereits in der Diskussion von Politeia 477a 3 gezeigt, dass das Nicht-Seiende, das auf diese Weise unerkennbar ist, nicht als etwas Nicht-Existierendes zu verstehen ist, sondern als Grenzfall desjenigen, was in keiner Weise bestimmt ist. Ein Indiz daf¨ ur, dass auch das Sein an dieser Stelle als Bestimmt-Sein zu verstehen ist, ¨ bietet die Ubereinkunft zwischen dem Fremden und dem Mathematiker Theaitetos: Die Zahl aber setzen wir doch als Inbegriff des Seienden?“ 4 ” ( 238a10). Seiend oder sogar Inbegriff des Seienden ist Zahl nicht deshalb, weil die Zahlen irgendwo existieren, sondern weil sie Inbegriff von Bestimmtheit sind. Der Name bezeichnet nichts Seiendes (237c7). Ein Name zeigt“ ” ( 237c4) auf etwas, aber im Falle des ist unklar, worauf ¨ der Name zeigt. Zumindest zeigt er auf nichts Seiendes. Obige Uberlegung legt Zur¨ uckhaltung gegen¨ uber derjenigen Interpretation nahe, wonach es dem Fremden hier darauf ankommt, dass der Name nicht auf etwas Existierendes zeigen kann. Diese Zur¨ uckhaltung best¨ atigt der n¨ achste Gedankenschritt: Wenn er nichts Seiendes bezeichnet, dann d¨ urfe man diesen Namen auch nicht dem Etwas“ ( 237c10) beilegen, denn das Wort ” etwas“ wird stets von einem Seienden gesagt (237d1f.). Ein Etwas zeich” net sich dadurch aus, dass es bestimmt ist. Dass jedes Seiende zugleich ein Etwas ist, bedeutet, dass Sein stets mit Bestimmtheit verbunden ist. Diese Bestimmtheit des Seienden bestimmt der Fremde im n¨ achsten Schritt dahingehend, dass das bestimmte Etwas zahlhaft bestimmt ist: Jedes ist eines (237d7). Eines ist das Etwas offenbar, insofern es bestimmt ist; die 2
3 4
Hier synonym zu gebraucht, vgl. dazu die Angaben zum Stichwort bei Liddell und Scott (1996). Dennoch ist es kein Zufall, dass Platon in diesem Zusammenhang statt gebraucht: Weil nichts nennt, a ¨ußert derjenige, der kann zwar auch nennen“ es ausspricht, einen bloßen Laut, vgl. 237e. ” bedeuten, seiner Grundbedeutung nach bezeichnet es aber das bloße T¨ onen. Vgl. dazu Kapitel 2.1. ¨ Ubersetzung aus Wiehl (1985, S. 69).
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Bestimmtheit, die es von allem anderen unterscheidet, konstituiert seine Einheit. Alles Seiende ist bestimmt, unabh¨ angig von allen weiteren Bestimmungen kommt ihm zumindest die zahlhafte Bestimmung als Einheit zu. Warum misslingt bei dem Namen der Akt der Benennung? Als Name intendiert auch das etwas, aber es intendiert gerade nichts Seiendes, mithin auch nichts irgendwie – und sei es noch so rudiment¨ ar – Bestimmtes. Weil der Name nicht auf irgendetwas Bestimmtes zeigt und auf anders Bestimmtes nicht zeigt, deshalb zeigt der Name u ¨berhaupt nicht. 5 ¨ Aus diesen Uberlegungen folgt, dass in jedem gelingenden Akt des Benennens der Name auf etwas Bestimmtes zeigt. Das Nennen unterscheidet die intendierte Sache von dem, was nicht die intendierte Sache ist. 6 Damit im Akt des Benennens das Intendierte vom Nicht-Intendierten unterschieden werden kann, muss beides von sich her bereits unterscheidbar und das heißt bestimmt sein. Im Nennen wird das Intendierte unterschieden und als Einheit gesetzt (251b3); die Setzung einer solchen Einheit ist weitgehend willk¨ urlich: Das Intendierte muss vom Nicht-Intendierten irgendwie unterscheidbar sein; sobald diese Voraussetzung erf¨ ullt ist, kann das Intendierte – qua Benennung – als Einheit gesetzt werden. Die Bestimmtheit des Seienden selbst ist dabei unabh¨ angig davon, welchen Unterschied wir in der Benennung setzen. 7 Im Nennen setzen wir einen Unterschied, das bedeutet aber f¨ ur unser Ausgangsproblem der vielen Namen f¨ ur dieselbe Sache: Wenn wir dieselbe Sache jeweils mit verschiedenen Namen bezeichnen, dann bestimmen wir sie jeweils anders. Wenn wir z. B. in Richtung auf Theaitetos die Namen Mensch“, weiß“, groß“, tapfer“ (vgl. 251a9f.) ” ” ” ” gebrauchen, dann bestimmen wir dieses Etwas als Mensch, als weiß, als groß, als tapfer. Die Einredner (251b6) machen gegen diese Vielfalt an Be5
6 7
Es scheint so, als w¨ urde der Name doch auf etwas zeigen, n¨ amlich auf dasjenige, was frei ist von aller Bestimmtheit. Frei von aller Bestimmtheit“ bezeichnet ” aber nicht selbst eine Bestimmtheit; wenn wir von allem absehen, was irgendwie bestimmt ist, bleibt nicht ein Etwas u ¨brig, dass dadurch bestimmt ist, dass es frei von aller Bestimmtheit ist. Denkbar ist dasjenige, was frei von aller Bestimmtheit ist, nur im Ausgang von dem, was Bestimmtheit hat, also gleichsam auf dem R¨ ucken der Bestimmtheit. Zu dem Gedanken, dass der Name die Sache bereits unterscheidet, vgl. Kratylos 388b7c1. Die Unabh¨ angigkeit der Bestimmtheit des Seienden von unserer Unterscheidungsleistung er¨ offnet die M¨ oglichkeit, das Seiende mehr oder weniger angemessen zu unterscheiden. Ein Beispiel f¨ ur eine unangemessene Unterscheidung ist die Unterscheidung der Menschen in Barbaren und Nicht-Barbaren, vgl. Politikos 262a-263a. Barbaren sind urspr¨ unglich diejenigen, die gar nicht oder nur gebrochen Griechisch sprechen. Anhand dieses Kriteriums lassen sich die Menschen unterscheiden, aber diese Unter. Die scheidung ist der Bestimmtheit der Sache unangemessen, sie trifft kein Bedeutung solcher Unterscheidungen zeigt sich, wenn es um die Unterscheidung zwischen Menschen und Nicht-Menschen geht.
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nennungen geltend, dass ein Mensch lediglich Mensch“ und etwas Gutes ” lediglich gut“ genannt werden d¨ urfe, nicht aber ein Mensch gut“. ” ” Der Fremde er¨ ortert dieses Problem, indem er es in einen neuen Zusammenhang stellt. Demnach geht es darum, welche von drei Alternativen zutrifft: 1) Keine Bestimmtheit ist mit irgendeiner anderen Bestimmtheit 251d4f.), sondern sie sind unvermischt“ ( verkn¨ upft“ ( ” ” 251d5) und unverm¨ ogend aneinander teilzuhaben“ ( ” 251d6). Diese Position liegt der Einrede zugrunde, dass ein Mensch lediglich Mensch“ nicht aber gut“ genannt werden ” ” d¨ urfte, denn die Bestimmtheiten Mensch“ und gut“ seien voneinander ” ” verschieden und d¨ urften in keiner Weise miteinander verkn¨ upft werden. Eine solche Verkn¨ upfung l¨ age aber vor, wenn dasjenige, das wir Mensch“ ” nennen, auch gut“ zu nennen w¨ are. Der Fremde widerlegt diese Alter” native, indem er an verschiedenen philosophischen Positionen (z. B. das All ist in Bewegung, das Eine steht still; die einen verkn¨ upfen das Sein mit Bewegung, die anderen mit Stillstand 252a) zeigt, dass keine dieser Positionen formuliert werden k¨ onnte, ohne dass in der Rede Bestimmtheiten miteinander verkn¨ upft werden (252c); selbst die Lehre, dass die Bestimmtheiten nicht miteinander verkn¨ upft werden k¨ onnen, l¨ asst sich nicht formulieren, wenn diese Lehre richtig ist. Die Formulierung dieser Position widerlegt ihren Inhalt. 2) Alle [Bestimmtheiten] k¨ onnen in Bezug ” auf dasselbe verbunden werden“ ( 251d7) und sind verm¨ ogend miteinander in Gemeinschaft zu treten“ ( ” 251d8). Nach dieser Position k¨ onnte dieselbe Sache unterschiedslos mit allen Namen richtig benannt werden; die genannten Bestimmtheiten treten dabei s¨ amtlich in Gemeinschaft miteinander. Der Fremde widerlegt diese Position mit dem Hinweis, dass dann auch die Bewegung zum Stillstand k¨ ame und der Stillstand bewegt w¨ urde (252d), d. h. dasjenige, dem die Bestimmtheit der Bewegung zukommt und das daher bewegt“ zu nennen ist, h¨ atte zugleich die Bestimmtheit nicht bewegt ” zu sein, ebenso w¨ are dasjenige bewegt, dem die Bestimmtheit des Stillstands zukommt und das daher ruhend“ zu nennen ist. Diese Widerle” gung zielt darauf, dass die unterschiedslose Gemeinschaft aller Bestimmtheiten miteinander deren Bestimmtheit aufhebt. 3) Die dritte Alternative bleibt durch Ausschluss der beiden anderen Alternativen u ¨brig (252e): Die Bestimmtheiten stehen in bestimmten Relationen zueinander, einige mischen sich“ ( 252e2), andere nicht. Bei der Charakteri” sierung dieser Relationen ist Vorsicht allerdings schon deshalb geboten, weil erstens die Diskussion auf zwei Ebenen stattfindet (Bestimmtheiten u ) und zweitens die Terminologie variiert. 8 ¨berhaupt vs. 8
Platon verwendet daf¨ ur die Wortfelder von (255b1 u. o ¨.), (256b9, vgl. 251d5, 252e2, 253b10, 253c2 und 254e4), u. ¨ o.),
(250b11
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Die Verflechtung der Ideen im Sophistes
4.2 Die Dialektik als Wissenschaft von den Relationen der Bestimmtheiten Der Fremde vergleicht die Bestimmtheiten mit Buchstaben: Einige Buchstaben passen zueinander, andere nicht, d. h. bestimmte Buchstaben lassen sich in bestimmten Anordnungen zu W¨ ortern zusammenf¨ ugen, diese Buchstaben passen zueinander, andere Buchstabentupel bilden keine W¨ orter, diese Buchstaben passen nicht zueinander. 9 Unter den Buchstaben hebt der Fremde die Vokale hervor. Die Hervorhebung der Vokale ist bemerkenswert, denn sie fungieren erstens als Band“ ( 253a5) ” zwischen den Buchstaben, zweitens gehen sie durch alle hindurch“ ( ” 253a5) und drittens sind sie Bedingung daf¨ ur, dass die anderen Buchstaben u onnen“ ( ¨berhaupt miteinander in Gemeinschaft treten k¨ ” 253a8, vgl. 253a6). Auch unter den Bestimmtheiten gibt es einige, die als Band“ fungieren, die durch alle“ ( ” ” 253c1, vgl. dagegen 253d5f.) hindurchgehen, damit ” diese sich u ogen“ ( ¨berhaupt zu mischen verm¨ 253c2). Wenn die Bestimmtheiten teils miteinander in Gemeinschaft treten, teils nicht, einige nur mit wenigen Bestimmtheiten, andere mit vielen, wieder andere aber mit allen (vgl. 254b10), dann sind letztere die gr¨ oßten Gattungen“ ( 254c3f., vgl. ” 254d4). Die gr¨ oßten Gattungen sind diejenigen, die mit allen anderen Bestimmtheiten in Gemeinschaft treten. Nach 253c1 sind sie gerade diejenigen, die n¨ otig sind, damit die Bestimmtheiten sich u ¨berhaupt miteinander mischen k¨ onnen (253c2). Wie die Vokale das Band“ f¨ ur die ” Buchstaben sind, so sind die gr¨ oßten Bestimmtheiten das Band“ f¨ ur die ” u ¨brigen Bestimmtheiten.
9
(251d6, 256b6), (252c5), (252d7), (253b12), (253c1) und (259e5f.). Zurecht kritisiert Ackrill Cornford daf¨ ur, die Metapher der Mischung als den einen sicheren Hinweis f¨ ur die Interpretation zu verwenden, vgl. Ackrill (1978, S. 221) und Cornford (1935, S. 271). Szaif (1998, S. 419) versteht die schwankende Terminologie als einen Mangel und verweist auf das Faktum ” des fehlenden logischen Vokabulars bei Platon, das die pr¨ azisere Eingrenzung der in Frage stehenden Beziehungen (und zwar wohl auch f¨ ur Platon selbst) verhindert“. Platon mangelnde Pr¨ azision oder eine Unsicherheit in der Sache zu unterstellen, ist lediglich ultima ratio f¨ ur die Interpretation; dagegen scheint es sinnvoller anzunehmen, dass Platon die Fixierung auf einen einzigen terminus technicus vermeidet, weil es um vielf¨ altige Verh¨ altnisse zwischen den Bestimmtheiten geht. Auch hier gilt, dass die Vielheit m¨ oglicher und unm¨ oglicher Kombinationen von Buchstaben zu W¨ ortern einschließlich der subtilen griechischen Lautgesetze uns vorsichtig machen sollte, die Verh¨ altnisse der Bestimmtheiten untereinander als ein einfaches Schema, z. B. von Art und Gattung, vorzustellen. Andererseits handelt es sich bei dem Buchstabenvergleich um einen Vergleich: Bestimmtheiten sind keine Buchstaben und es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die Verflechtung der Bestimmtheiten nach dem Modell von Buchstabentupeln zu denken ist.
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In Anlehnung an Formulierungen wie (254d4) ist es u oßten Bestimmtheiten (Sein, Ruhe, Bewegung, Sel¨blich, von den gr¨ bigkeit und Verschiedenheit) als den gr¨ oßten Gattungen“ zu sprechen. ” Gegen diese Sprechweise ist nichts einzuwenden, wenn man zuvor ein Missverst¨ andnis ausr¨ aumt: Der Fremde gibt in unserer Textstelle drei Bestimmungen f¨ ur das dialektische Wissen bzw. die Philosophie. Nach der ersten Bestimmung der Dialektik (253b9-c3) ist sie das Wissen davon, a1 ) welche der Gattungen mit welchen anderen zusammenstimmen und welche nicht (253b12f.), b1 ) ob es durch alle hindurch zusammenhaltende Bestimmungen gibt, so dass diese sich zu mischen verm¨ ogen, und c1 ) ob andere Bestimmungen durch alle hindurch“ ( ) Ursache der Un” terscheidung sind (253c1-3). Nach der zweiten Bestimmung der Dialektik (253d1-3) ist ihr Gegenstand a2 ) die Unterscheidung nach Gattungen“ ” ( 253d1), sowie b2 ) weder dieselbe Bestimmtheit“ ” ( ) f¨ ur verschieden noch c2 ) eine verschiedene f¨ ur dieselbe zu halten (253d1-3). Nach der dritten Bestimmung der Dialektik (253d5-e2) ist sie das Verm¨ ogen vierfach zu unterscheiden, n¨ amlich a3 ) eine Bestimmt” heit ( ) durch viele ( ), einzeln voneinander Unterschiedene hindurch nach jeder Richtung ausgestreckt“ (253d5f.), b3 ) viele vonein” ander verschiedene [Bestimmtheiten], die von einer [Bestimmtheit] von außen umfasst sind“ (253d7f.), c3 ) eine [Bestimmtheit] durch viele hin” durch in eine zusammengekn¨ upft“ (253d8f.), d3 ) viele in jeder Richtung ” unterschiedene [Bestimmtheiten]“ (253d9). Dabei stellen b3 ) und c3 ) denselben Sachverhalt dar, b3 ) aus der Perspektive der Bestimmtheiten, die von einer Bestimmtheit umfasst werden, c3 ) aus der Perspektive der umfassenden Bestimmtheit; a3 ) und c3 ) unterscheiden sich darin, wie sich die vielen Bestimmtheiten zu der einen durchgehenden Idee verhalten: im Falle von a3 ) sind die vielen Bestimmtheiten gesondert“ ( ) von” einander, obwohl eine Bestimmtheit durch sie hindurchgeht; der Aspekt der Sonderung fehlt in c3 ); a3 ) und d3 ) sind parallel, insofern jeweils der Aspekt der Sonderung der vielen Bestimmtheiten betont wird, aber im Gegensatz zu a3 ) ist in d3 ) nicht eine Bestimmtheit durch die vielen gesonderten Bestimmtheiten ausgestreckt. In der ersten Bestimmung der Dialektik spricht der Fremde in a1 ) von Gattungen“ ( ), worauf sich sowohl (253c1) als ” auch (253c3) beziehen. Auch in den F¨ allen b1 ) und c1 ) geht es also um Gattungen“. Diese Gattungen sollen aber durch alle ( ” bzw. ) Bestimmtheiten hindurch gehen, damit diese sich mischen bzw. unterscheiden k¨ onnen. Weil diese Gattungen zugleich verschieden und koextensiv sind, kann es sich nicht um verschiedene Gattungen in einem Gattung-Spezies-Schema handeln. Anders ist das bei der einen in der dritten Bestimmung der Dialektik: Sie geht durch viele“ ( ) ”
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bzw. durch viele ganze“ ( ) hindurch, die in ihr verbun” den sind und die sie von außen umfasst. Nach dieser Formulierung ist es zumindest m¨ oglich, die dritte Bestimmung der Dialektik im Sinne eines Gattung-Spezies-Schemas zu interpretieren. 10 Entscheidend ist aber, dass es sich bei den gr¨ oßten Gattungen“ nicht um Gattungen im Sinne eines ” Gattung-Spezies-Schemas handelt. Um die gr¨ oßten Gattungen handelt es sich, erstens weil sie durch alle hindurchgehen, also die umfangsgr¨ oßten Gattungen sind, zweitens weil sie Mischung und Unterschiedenheit der Bestimmtheiten erm¨ oglichen, also hervorragende“ Bestimmtheiten ” sind. 11 Insgesamt gilt, dass die Verh¨ altnisse der Bestimmtheiten zueinander der Gegenstand der Dialektik sind. In den drei Bestimmungen der Dialektik werden jeweils andere Verh¨ altnisse zwischen Bestimmtheiten in den Blick genommen, im ersten Fall das Zusammenstimmen bzw. NichtZusammenstimmen der Bestimmtheiten, im zweiten Fall ihre Identit¨ at und Verschiedenheit, im dritten Fall das Umfassen bzw. Umfasst-Werden vieler Bestimmtheiten durch eine Bestimmtheit. Alle drei Bestimmungen von Dialektik sind verschieden, ohne einander deswegen zu widersprechen. Beachtenswert ist allerdings, dass in allen drei F¨ allen die Bestimmtheiten richtig zu unterscheiden sind. Dialektik ist die Wissenschaft, wie die Bestimmtheiten zu unterscheiden“ ( 253d1) sind, bzw. sie ” ist das Verm¨ ogen, die Bestimmtheiten unterscheidend wahrzunehmen“ ” ( 253d7). Dieser Befund ist wenig u ¨berraschend, da Platon das Erkennen insgesamt als Unterscheiden versteht. 12 Zu beachten ist aber, dass die Dialektik nicht nur die Wissenschaft von der richtigen Unterscheidung der Bestimmtheiten ist, sondern auch die Voraussetzungen ihrer selbst reflektiert: Wie ist es u oglich, Bestimmtheiten ¨berhaupt m¨ richtig zu unterscheiden? Bestimmtheiten treten in Gemeinschaft miteinander und unterscheiden sich. Aufgabe der Dialektik ist es, Bestimmtheiten anzugeben, die durch alle anderen Bestimmtheiten hindurchgehen, so dass diese sich einerseits unterscheiden, andererseits aber in Gemein¨ schaft miteinander treten k¨ onnen (253c1-3). Diese Uberlegungen erlauben es, die folgende Diskussion der gr¨ oßten Gattungen einzuordnen: Einerseits werden die gr¨ oßten Gattungen voneinander unterschieden und in ihrem Verh¨ altnis zueinander bestimmt, zugleich ist die Dialektik der gr¨ oßten Gattungen Voraussetzung daf¨ ur, dass sie selbst und alle Bestimmtheiten u altnisse zueinander treten k¨ onnen. ¨berhaupt in bestimmte Verh¨ 10 11 12
Insgesamt sind die drei Bestimmungen der Dialektik umstritten, vgl. dazu Marten (1975, S. 41-52), Wiehl (1985, S. 196 Anm. 98) und Kolb (1997, S. 132-139). Vgl. Marten (1975, S. 43) und Cornford (1935, S. 276). Vgl. dazu die Ausf¨ uhrungen auf Seite 34.
Die Bedeutungsverschiebung der Schl¨ usselbegriffe
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4.3 Die Bedeutungsverschiebung der Schl¨ usselbegriffe F¨ ur die Diskussion der gr¨ oßten Gattungen trifft der Fremde eine Auswahl, damit die Gespr¨ achspartner nicht durch deren Vielzahl verwirrt werden (254c2f.). Von diesen Gattungen ist zweierlei anzugeben, n¨ amlich erstens was jede einzelne f¨ ur sich ist, zweitens wie es sich mit deren Verm¨ o” gen zur Gemeinschaft miteinander verh¨ alt“ ( 254c5). Der Fremde entnimmt drei der f¨ unf Gattungen dem bisherigen Gespr¨ achsverlauf: Das Seiende selbst, Ruhe und Bewegung“ ( ” 254d4f.) waren die gr¨ oßten der zuvor durchgegangenen Gattungen. Da der Fremde diese Gattungen dem bisherigen Gedankengang entnimmt, liegt es nahe, diesen bei der Bestimmung dessen, was jede einzelne der Gattungen f¨ ur sich ist, zu ber¨ ucksichtigen. Dieses Verfahren bietet sich auch deshalb an, weil die Gespr¨ achspartner im Folgenden zwar die Verschiedenheit der Gattungen voneinander behandeln, das Was der einzelnen Gattungen dar¨ uber hinaus aber nicht thematisieren. Andererseits ist die Bestimmung der Gattungen aus dem bisherigen Gedankengang problematisch, weil die Fragestellung sich im Laufe des Gespr¨ achs verschiebt und damit auch die Bedeutung von , und changiert. 13 Im Folgenden werden wir diese Bedeutungsverschiebungen so weit nachvollziehen, wie es f¨ ur die Bestimmung der gr¨ oßten Gattungen n¨ otig ist. Die Bedeutungsverschiebungen sind an den Schl¨ usselbegriffen des Gedankengangs greifbar: Die gr¨ oßten Gattungen sollen auf ihr Verm¨ ogen“ ” ( ) zur Gemeinschaft“ ( ) miteinander hin untersucht wer” den. Die tritt im Rahmen der Gigantomachie als Terminus in der Auseinandersetzung mit den erdgeborenen Giganten, den Materia” listen“ auf. Die Erdgeborenen umklammern Felsen und Eichen mit ihren H¨ anden und halten K¨ orper und Sein ( ) f¨ ur dasselbe (246b1); den gebesserten Materialisten bietet der Fremde eine andere Bestimmung an, n¨ amlich dass das Seiende ( ) nichts anderes als sei (247e4), genauer: die , auf ein anderes, was es auch sei, einzuwirken 14 oder ” auch nur das Kleinste von dem Geringsten zu erleiden“ ( 13
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Auf Bedeutungsverschiebungen hat vor allem Peck (1952, S. 43) aufmerksam gemacht. Sie sind Ausgangspunkt f¨ ur die Entwicklung seiner These, dass es sich bei den nicht um Platonische Ideen handelt; er bestreitet insbesondere jeden Zusammenhang mit der Bestimmung der genuin philosophischen Dialektik Sophistes 253df. (Peck, 1952, S. 56). Statt dessen h¨ alt er die Diskussion der gr¨ oßten Gattungen f¨ ur eine Argumentation ad hominem, die in der Terminologie der Sophisten deren Fehler aufdeckt (Peck, 1952, S. 45, 49, 51); entsprechend nennt er die gr¨ oßten Gattungen the ” “ (Peck, 1952, S. 52). F¨ ur eine ausf¨ uhrliche Kritik der Interpretation von sophist’s Peck siehe Lacey (1959, S. 44-50). etwas, was es auch sei, anders/zu einem anderen zu Alternative Lesart: Die machen, vgl. Wiehl (1985, S. 101).
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247e1f.). 15 Die Bestimmung des Seienden als , verstanden als Verm¨ ogen k¨ orperlicher Wesen, auf andere K¨ orper einzuwirken, sollte den Materialisten naheliegen. Entsprechend lehnen die Ideenfreunde die Bestimmung des Seienden als Verm¨ ogen zu tun und zu leiden ab, weil es zwar dem Werdenden zukomme, nicht aber dem Sein ( 248c8). Bei der der Gattungen, miteinander in Gemeinschaft zu treten, geht es offenbar um etwas anderes als die von K¨ orpern, auf andere K¨ orper einzuwirken bzw. solche Einwirkungen von anderen K¨ orpern zu erleiden. Die klingt als philosophischer Terminus in der Auseinandersetzung mit den Ideenfreunden an, denn nach ihrer Auskunft haben wir durch die Wahrnehmung Gemeinschaft“ ( 248a10, vgl. b2) mit ” dem Werden und durch Denken mit dem wahren Sein. Das bewegte Werden und das unver¨ anderliche Sein bilden ¨ außerste Gegens¨ atze zueinander (250a7). Wenn sowohl dem Bewegten als auch dem Unver¨ anderlichen Sein zugestanden wird, dann tritt das Sein mit Bewegung und Stillstand in 250b11), nicht aber Bewegung mit Stillstand. In Gemeinschaft ( diesem Gedankengang ist bereits das Verm¨ ogen der gr¨ oßten Gattungen zur Gemeinschaft miteinander vorgezeichnet, aber das ist offenbar etwas anderes als die erkennende Teilnahme der Wahrnehmung am Werdenden bzw. des Denkens am Unver¨ anderlichen. Die verwirrendste Bedeutungsverschiebung, an der sich alle Kommentatoren in der einen oder anderen Weise abarbeiten, betrifft den Terminus der Bewegung ( ) selbst: Bewegung kommt nach Ansicht der Ideenfreunde dem Bereich des Werdenden zu. In einer Reihe von Suggestivfragen (248e-249d) legt der Fremde nahe, dass auch dem voll” kommen Seienden“ ( 248e8f.) zukomme, bei dem vollkommen Seienden denken Platon-Leser aber zuerst an die unver¨ anderlichen Ideen. 16 Abgesehen von der ¨ außerst umstrittenen 17 Textpassage 248e-249d nimmt der Fremde die auch unter die gr¨ oßten Gattungen auf. Wenn die gr¨ oßten Gattungen tats¨ achlich durch alle Bestimmtheiten hindurchgehen, was die Formulierung (253c1) besagt, dann konzipiert der Fremde die Ideen vielleicht auch von diesem Gedankengang her als ver¨ anderlich? Da die Unver¨ anderlichkeit der Ideen grundlegend 15
16 17
Die Pointe, den Materialisten diese Bestimmung des Seienden anzubieten, liegt darin, 246b4) sind, gegen dass die Materialisten durchaus furchtbare Leute“ ( ” die sich die Ideenfreunde vorsichtig von oben her aus dem Unsichtbaren verteidigen“ ” (246b7), d. h. es ist besser, den Erdgeborenen nicht in die H¨ ande zu geraten, denn sie , furchtbar“ auf einen Einredner einzuwirken. haben die ” Vgl. Politeia 477a3, De Vogel (1970a) und De Vogel (1970b, S. 196f.). Vgl. dazu die Diskussion der Kommentarliteratur in Pester (1971, S. 21-116) und Lentz (1997, S. 91-96).
Die Bedeutungsverschiebung der Schl¨ usselbegriffe
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f¨ ur die Ideenlehre ist, steht mit der der Ideen kein beil¨ aufiges Detail, sondern das Zentrum Platonischer Philosophie zur Disposition: Die werdenden Dinge sind ver¨ anderlich. Erkenntnis von ver¨ anderlichen Dingen ist m¨ oglich, weil deren Bestimmtheiten unver¨ anderlich sind. Eine Bestimmtheit kann einem Ding zu einem Zeitpunkt zukommen und zu einem anderen Zeitpunkt nicht mehr zukommen, aber die Bestimmtheit selbst hat sich dabei nicht ver¨ andert. Wenn die Bestimmtheiten selbst ver¨ anderlich sind, dann ist eine Bestimmtheit zu einer Zeit anders als zu einer anderen Zeit, die Bestimmtheit wird anders als sie selbst, sie wird eine andere Bestimmtheit, die verschieden ist von der ersten. Die Bestimmtheit der Bestimmtheit l¨ ost sich auf, so dass das unterscheidende Erkennen nicht mehr auf sie zur¨ uckkommen kann und ebenfalls hinf¨ allig ist. 18 18
Angesichts der drohenden Ver¨ anderlichkeit der Ideen haben die Kommentatoren ganz unterschiedliche Interpretationen entwickelt, wobei sich verschiedene Strategien anist zwar als eine zeitliche Bewegung zu verstehen, aber es sind nicht bieten: 1. die Ideen, denen diese Bewegtheit zukommt, sondern die Seele oder der Kosmos. F¨ ur die Vertreter dieser Interpretation vgl. Pester (1971, S. 28f. Anm. 1), der eine umfassende Literaturliste angibt; in neuerer Zeit vertreten diese Interpretation z. B. Prior ist als zeitliche Bewegung (1985, S. 133ff.) und Silverman (2002, S. 158). 2. Die zu verstehen, aber sie betrifft die Ideen nur in einer bestimmten Hinsicht, n¨ amlich insofern die Ideen erkannt werden, w¨ ahrend sie an sich unver¨ anderlich sind. Diese Interpretation vertritt z. B. McPherran (1986, S. 244f.), f¨ ur weitere Vertreter dieser Interpretation vgl. Pester (1971, S. 21f. Anm. 1). In einem gewissen Sinne vertritt diese Position auch Pester selbst, der zweierlei Usiai“ (Pester, 1971, S. 147) annimmt, ” n¨ amlich die unver¨ anderlichen Ideen einerseits und die in der Seele gedachten Ideen andererseits, vgl. Pester (1971, S. 132f., 137). Gegen diese Interpretation ist einzuwenden, dass es nicht leicht zu erkl¨ aren ist, wieso das vollkommen Seiende ( 248e8f.), dessen Bewegung zu erkl¨ aren ist, die in der Seele gedachten Ideen sind, kommt den Ideen zu, ist aber nicht nicht aber die f¨ ur sich seienden. 3. Die als zeitliche Bewegung zu verstehen. Diese Interpretation vertreten De Vogel (1970b, S. 194-209), Lauermann (1985, S. 32-34, 56f.), Lentz (1997, S. 101) und Kolb (1997, S. 118): De Vogel (1970b, S. 197) versteht die Bewegung als Denkakt, in dem die Ideen in bestimmter Weise miteinander verbunden werden. Lauermann (1985, S. 32) verweist auf Parmenides 146a: Stand ist das fortw¨ ahrende Sein im Selben, und Bewegung im ” a4) ist das fortw¨ ahrende Sein im Verschiedenen“. Das Gegensatz dazu ( im Selben Sein“ ist als das Sich-Befinden innerhalb derselben umfassenden Gren” ze zu verstehen. Die Umgrenzung kann mit Philebos 23c und 24af. sowohl r¨ aumlich als auch definitorisch verstanden werden. Ruhen ist das Bleiben innerhalb der eigenen Umgrenzung, diese Umgrenzung bedingt aber f¨ ur das Sein ein Sich-Befinden im fortw¨ ahrend Verschiedenen, also Bewegung, vgl. Lauermann (1985, S. 34). Bewegung der Ideen l¨ asst sich damit interpretieren als In-Beziehung-zu-Verschiedenem-Stehen, d. h. die Bewegung einer Idee besteht darin, dass sie in Relation zu all den anderen von ihr selbst verschiedenen Ideen steht. Als Bestimmtheiten stehen die Ideen zueinander zumindest in der Relation der Verschiedenheit. Die Relation außerzeitlicher Bestimmtheiten ist selbst außerzeitlich. Bewegung der Ideen hat nach dieser Interpretation nichts mit Ver¨ anderung der Ideen zu tun. Dieser Interpretationsansatz ist vielversprechend, hat aber den Nachteil, dass er sich nicht immanent aus dem Sophistes entwickeln l¨ asst. Es ist insbesondere nicht leicht abzusehen, wie die Bedeu-
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Die Verflechtung der Ideen im Sophistes
4.4 Die Bestimmung der Bewegung“ ” Die Materialisten bestimmen K¨ orper und Seiendes als dasselbe ( 246b1), sein“ verstehen sie als k¨ orperlich” ” sein“, was keinen K¨ orper hat, lassen sie auch nicht als seiend gelten. Sie ziehen alles vom Himmel und aus dem Unsichtbaren zur Erde herab“ ( ” 246a7f.), d. h. in Anspielung auf den u ¨berhimmlischen Ort“ (Phaidros 247c3), an dem sich die ” Ideen in mythischer Sprechweise befinden, dass die Materialisten die unk¨ orperlichen und unsichtbaren Ideen nicht gelten lassen und das Sch¨ one bzw. alle anderen Ideen f¨ ur ein sch¨ ones bzw. so beschaffenes Ding halten. In der Auseinandersetzung mit ihrer Position versucht der Fremde ihnen das Zugest¨ andnis abzuringen, dass irgendetwas von dem Seienden, und sei es noch so gering, unk¨ orperlich ist (247d1). Sie gestehen den sterblichen Lebewesen, dem beseelten Leib und der Seele Sein zu (246e), halten tungsverschiebung f¨ ur Bewegung“ zu vermitteln ist, von k¨ orperlicher Bewegung in ” der Auseinandersetzung mit den Materialisten u ¨ber Erkenntnisbewegung im Kontext der Ideenfreunde zur Relation der Ideen bei den gr¨ oßten Gattungen. Lentz versucht, als Relationiertheit der Ideen aus dem Sophistes selbst die Interpretation der zu entwickeln, aber dieser Versuch st¨ utzt sich auf eine d¨ unne Textgrundlage: Plato ” defines being as power, and power is defined as the capacity to affect or to be affected (247d9-e4). Here is at least the suggestion that the concept of power is introduced to show that individual forms are not isolated from each other”(Lentz, 1997, S. 97f.). Der Fremde wendet sich an dieser Stelle an Materialisten, die von außerzeitlichen Ideen nichts wissen wollen; es ist nicht leicht zu sehen, wie diese Textstelle speziell auf die und unterschiedlich: Relationiertheit der Ideen zielen soll. Kolb beurteilt Einerseits interpretiert er Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit als gleichurspr¨ ungli” urtige Artbegriffe“ che Prinzipien“, wohingegen Platon Ruhe und Bewegung als ebenb¨ ” bloß zu illustrativen Zwecken“ verwendet, um an ihnen die konstitutive Funktion der ” ” Prinzipien paradigmatisch aufzuweisen“ (Kolb, 1997, S. 149); andererseits stehe außer Zweifel, daß sie im Sophistes ihrer physikalisch-ontischen Grundbedeutung entklei” det und mit gnoseologisch-reflexivem Bedeutungsgehalt aufgeladen werden. Sie werden als konstitutive Momente verstanden, die dem Verstehen und Erkennen der Ideen zugrundeliegen“ (Kolb, 1997, S. 118). Dabei bedeute der Begriff der Ruhe das Moment der Identit¨ at einer jeden Idee, das an die Subjektsfunktion im Urteil gebunden ist, w¨ ahrend der Begriff der Bewegung die mannigfache Bestimmbarkeit einer jeden Idee anzeigt, die an die Pr¨ adikatsfunktion im Urteil gebunden ist, vgl. Kolb (1997, S. 118, vgl. S. 160 Anm. 27). Diese Interpretation schl¨ agt eine Br¨ ucke zu der Diskussion des Urteils im Sophistes (insb. 261cff.), andererseits sind Zweifel an der Urteilsf¨ ormigkeit“ ” der Verflechtung der Ideen angebracht. Was heißt hier Urteil“? Soweit ich sehe, meint ” Kolb die einzelnen, empirisch vorkommenden, sprachlichen Urteile. Platon beurteilt Sprache als Medium der Vermittlung von Ideenerkenntnis aber ¨ außerst kritisch. Im wie im Sophistes als Zusammensetzung aus Siebten Brief interpretiert er den Siebter Brief 342b6f., Subjekt und Pr¨ adikat ( vgl. 343b5), aber die Pr¨ adikate scheinen die Bestimmtheit einer Idee nicht geeignet an(343a1). zugeben. Platon spricht in diesem Zusammenhang von der Schw¨ ache der Ein solcher Einwand steht selbstverst¨ andlich unter dem Vorbehalt der Echtheit des Briefes, vgl. dazu aber Kapitel 6.1.
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die Seele aber f¨ ur etwas K¨ orperliches (247b8). Die entscheidende Frage ist nun aber, ob sie die Seele teils f¨ ur gerecht und teils f¨ ur ungerecht, teils f¨ ur vern¨ unftig und teils f¨ ur unvern¨ unftig halten, und ob die Seele durch die Anwesenheit ( 247a5) der Gerechtigkeit gerecht ist und das Gegenteil, d. i. ungerecht, durch die Anwesenheit des Entgegengesetzten; denn was verm¨ ogend ist, einem beizustehen und fernzubleiben ( 247a8f.), dem m¨ usse doch Sein zugestanden werden. Von dem Verm¨ ogen der Gerechtigkeit zu Anwesenheit und Abwesenheit her schl¨ agt der Fremde den gebesserten Materialisten eine neue Bestimmung des Seienden vor: Das Seiende ( ) ist nichts anderes als Verm¨ ogen ( ), n¨ amlich das Verm¨ ogen, auf ein anderes, ” was es auch sei, einzuwirken oder auch nur das Kleinste von dem Geringsten zu erleiden“ ( 247e1f.). Bei dieser Bestimmung des Seienden ist wegen der Argumentation ad hominem noch mitzuh¨ oren, dass es dabei um die Einwirkungen von K¨ orpern aufeinander geht, eigentlich meint der Fremde aber etwas anderes: und , oben u ¨bersetzt durch einwirken“ und erleiden“ ” ” meinen nicht die Wechselwirkungen zwischen K¨ orpern. Gerechtigkeit ist kein Ding, das auf eine materielle Seele einwirkt“ und sie dadurch ge” recht macht. Unabh¨ angig davon, ob man den Materialisten darin folgt, die Seele f¨ ur etwas K¨ orperliches zu halten, kann die Gerechtigkeit ihr als ein und derselben Sache zukommen oder nicht. Entscheidend ist, dass es einen Unterschied macht, ob die Seele gerecht oder ungerecht ist. Um den Unterschied zu betonen, formuliert der Fremde, dass die Seele durch die Anwesenheit der Gerechtigkeit gerecht und durch Besitz und An” wesenheit des Entgegengesetzten das Entgegengesetzte wird“ ( [sc. ] [sc. ] 247a6). Dass es einen Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gibt, k¨ onnen die Materialisten schwerlich abstreiten – sie haben ihn sp¨ atestens dann anerkannt, wenn sie wegen einer Ungerechtigkeit vor Gericht als Kl¨ ager auftreten. 19 Wenn dieselbe Seele gerecht oder ungerecht sein kann, dann kann sie mit dem Gerecht-Sein und dem Ungerecht-Sein nicht identisch sein. Das bedeutet aber, dass Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit als Bestimmtheiten von der durch sie bestimmten Sache verschieden sind. Es ist zweifelhaft, ob die Materialisten akzeptieren, dass Gerechtigkeit als Bestimmtheit von ihren Instanzen zu unterscheiden ist, aber der Vergleich mit der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Hippi19
Das ist u ur ¨berhaupt der Grund, warum Platon die Gerechtigkeit oft paradigmatisch f¨ die Bestimmtheiten nennt. Vor Gericht wird ein Unterschied zwischen gerecht und ungerecht ¨ offentlich beansprucht und sozusagen amtlich festgestellt.
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as u onen 20 zeigt, wie stark die Position des ¨ber die Bestimmung des Sch¨ Fremden gegen die Materialisten ist: Ein Unterschied zwischen gerecht und ungerecht l¨ asst sich kaum bestreiten; falls sie aber – gem¨ aß ihrer materialistischen Einstellung – zur Bestimmung dessen, was gerecht ist, auf ein gerechtes Ding“ oder eine Substanz zeigen, die das, woran sie ist, ge” recht macht (analog zu dem Gold in Hippias Maior 289e3), dann geraten sie in dieselben Aporien wie Hippias. Wie ist es zu verstehen, dass der Fremde einer Bestimmtheit, der Gerechtigkeit, das Verm¨ ogen zugesteht? Das wird an fr¨ uherer Stelle im Sophistes selbst definiert: Wo immer jemand, was zuvor nicht war, hernach zu einem Seienden macht“ ( ), sagen ” wir, dass der Machende hervorbringt“ ( ), das Ge” ” machte aber hervorgebracht wird“ ( 219b4-6, vgl. Symposion 205b7f.). Wenn davon die Rede ist, dass etwas zu einem Seienden gemacht werde, dann klingt darin in der christlichen Tradition der g¨ ottliche Sch¨ opfungsakt an. Genau diese Assoziation ist aber fernzuhalten: Die Hervorbringung ist nicht so zu verstehen, dass durch sie ein Gegenstand geschaffen w¨ urde. Picht verweist darauf, dass die Kunst der Bereich ist, in dem die Wortbedeutung von ihren Sitz hat: Man ” kann zum Beispiel von einem Bildhauer sagen . Das bedeutet aber nicht, daß der sch¨ opferische Wille des K¨ unstlers den Gott hervorbringt, und es w¨ are absurd zu behaupten, daß der Bildhauer den Apollon bewirkt. Gemeint ist etwas ganz anderes. Gemeint ist, daß er das Wesen des Apollon zur Darstellung bringt und ins Licht stellt.“ 21 Das ist als ein Zur-Erscheinung-Bringen“ zu verstehen. ” In Platons Dialogen finden sich zahlreiche Beispiele f¨ ur diese Verwendung von : Der Fremde aus Elea charakterisiert im Sophistes (233dff.) den Sophisten als einen K¨ unstler, der alle Dinge“ ( ” 233d10, vgl. 234b6) hervorbringt. Was unter allen Din” gen“ zu verstehen ist, konkretisiert der Fremde durch eine Aufz¨ ahlung, die Lebewesen, B¨ aume und G¨ otter einschließt. Die Hervorbringung dieser Dinge bezeichnet der Fremde mit dem Wort (233d9, e8, 234a5, b6). Die Werke des Sophisten sind aber nicht derart, dass er Lebewesen, B¨ aume und G¨ otter schaffen w¨ urde. Statt dessen ahmt der Sophist diese Dinge in gesprochenen Bildern“ ( 234c6) nach. Das Bild ” einer Sache ist vor allem eines nicht: die Sache selbst. Wenn der Fremde die Nachahmung in Bildern als Hervorbringung der nachgeahmten Dinge bezeichnet, dann l¨ asst sich diese Hervorbringung keinesfalls in Anlehnung 20 21
Siehe Kapitel 1.1. Picht (1985, S. 364), f¨ ur das Beispiel der Apollon-Statue vgl. (Dreizehnter Brief 361a1f.). Zu der Abgrenzung vom christlichen Sch¨ opfungsakt siehe Picht (1985, S. 363-367) und Picht (1992a, S. 330, 392).
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an den Sch¨ opfungsakt verstehen. Die Nachahmung in Bildern ist nicht die Schaffung eines Dinges, aber sie bringt es sehr wohl zur Erscheinung. als Zur-Erscheinung-Bringen“ interpretiert, dann Wenn man das ” macht es Sinn, von der Nachahmung in Bildern als einer Hervorbringung der Sache zu sprechen. Was in einem Bild zur Erscheinung gebracht wird, ist das Wesen der Sache. 22 Die Bilder des Sophisten zeichnen sich freilich dadurch aus, dass sie nicht das wahre Wesen der Sache zur Erscheinung bringen, sondern nur das scheinbare. 23 W¨ ahrend Platon im Sophistes den Sophisten als K¨ unstler charakterisiert, stellt er umgekehrt in der Politeia den K¨ unstler als einen Sophisten dar (Politeia 596d1). Wie der Sophist zeichnet sich der K¨ unstler dadurch aus, dass er alles“ hervorbringt, n¨ amlich Ger¨ ate, Pflanzen, Lebewesen, ” G¨ otter, Erde, Himmel und Hades (596c7-12). Auch hier bezeichnet Platon die Hervorbringung dieser Dinge mit dem Wortfeld von (596c5, c8, c9, d4, d6, e1). Als Beispiel solcher Hervorbringung verweist Platon auf einen Mann, der einfach einen Spiegel umhertr¨ agt und damit die Sonne und die u ur die Spiegel¨brigen Dinge hervorbringt“ (596d9-e3). Gerade f¨ ” bilder gilt jedoch, dass sie die gespiegelte Sache zwar t¨ auschend genau zur Erscheinung bringen, aber sie bringen nicht die Sache selbst hervor. Zu beachten ist ferner eine Textstelle aus dem Timaios (28c3), wo der Demiurg als , Hervorbringer“, bezeichnet wird. Der Demiurg bringt ” die Instanzen wirklich hervor, die von weltlichen K¨ unstlern oder Sophisten bloß nachgeahmt werden. Aber auch hier ist es irref¨ uhrend, das als Sch¨ opfungsakt des christlichen Gottes zu verstehen. Denn der Demiurg ist gerade kein Sch¨ opfer, der eine creatio ex nihilo vollbringt, sondern er ist ein K¨ unstler, der durch die Formung des vorliegenden Materials die Ideen in ihren Instanzen zur Erscheinung bringt. Eine deutliche und philosophiegeschichtlich vielleicht die bedeutendste Belegstelle findet sich bei Aristoteles, wenn er die wirkende Vernunft“, ” den einf¨ uhrt: [E]s gibt eine Vernunft von solcher Art, daß ” sie alles (Intelligible) wird, und eine von solcher, daß sie alles (Intelligible) wirkt/macht [ ], als eine Haltung, wie das Licht; denn in gewisser Weise macht [ ] auch das Licht die Farben, die in M¨ oglichkeit sind, zu Farben in Wirklichkeit.“ 24 Das Licht bringt die Farben nicht in einem sch¨ opferischen Akt hervor, sondern es bringt die Farben zur Erscheinung. 22 23
24
Von Bildern, die das Wesen der Sache zur Erscheinung bringen, spricht Platon Politeia 472d6-9 und 484c10f. Vgl. Sophistes 235d7ff. und 265a-266e, wo verschiedene Arten der Hervorbringung voneinander unterschieden werden. Die sophistische Kunst erweist sich dort als menschliche Hervorbringung von Scheinbildern. ¨ Aristoteles De anima III 5, 430a14-17, in der Ubersetzung von W. Theiler zitiert nach Seidl (1995, S. 173). Einsch¨ ube in ( ) entsprechen der Quelle, Einsch¨ ube in [ ] sind vom Verfasser.
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In der Dunkelheit sind die Farben unsichtbar und ununterscheidbar, in Aristotelischer Terminologie sind sie damit bloß Farben der M¨ oglichkeit nach; das Licht macht die Farben sichtbar und unterscheidbar, wodurch sie Farben in Wirklichkeit sind. 25 Aristoteles hat das Licht-Motiv von Platon u ¨bernommen, der es an vielen Stellen verwendet, insbesondere aber zur Charakterisierung der Wirkung der Idee des Guten in der Politeia (508): Die Idee des Guten verh¨ alt sich zum Denkverm¨ ogen ( ) und zum Gedachten ( ) wie die Sonne zum Sehverm¨ ogen ( ) und dem Gesehenen ( ). Das Licht macht“ ( 508a5), dass unser Sehverm¨ ogen sieht und dass ” das Sichtbare gesehen wird. Wie das Licht sich zum Sehverm¨ ogen bzw. die Idee des Guten zum Denkverm¨ ogen verh¨ alt, l¨ asst sich aus diesen knappen Andeutungen nicht genau entnehmen, es gen¨ ugt f¨ ur unsere Zwecke die Interpretation, dass es dem Sehverm¨ ogen ohne Licht an sichtbaren Farben mangelt, erst wenn das Licht die Farben zur Erscheinung bringt, k¨ onnen sie vom Sehverm¨ ogen wahrgenommen und unterschieden werden. Bei einem farbigen Gegenstand l¨ asst das Licht dessen Farbbestimmtheit hervortreten; ohne Licht ist der Gegenstand farblich unbestimmt und ununterscheidbar. Was im zur Erscheinung gebracht wird, ist also die unterscheidbare Bestimmtheit einer Sache. Dieser Gedanke erschließt noch eine andere bedeutende Textstelle in der Politeia: Offenbar ist, dass dasselbe nicht zu gleicher Zeit Entge” gengesetztes tun oder leiden ( ) wird, wenigstens nicht in derselben Hinsicht und in Beziehung auf eines und dasselbe“ (436b8f.). Die identische Sache 26 , von der Platons Formulierung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch handelt, geh¨ ort dem Bereich des Werdens an. Sonderbar ist die Formulierung, dass jenes Identische nicht Entgegengesetztes tut oder leidet. Aristoteles spricht in seiner klassischen Formulierung (Metaphysik Γ 3, 1005b19f.) von zukommen und nicht zukommen“ ” ( ). Einem Einzelding kann dieselbe Bestimmtheit nicht zugleich und in derselben Hinsicht zukommen und nicht zukommen, d. h. das Einzelding kann nicht zugleich so und nicht so bestimmt sein. Es kann nicht zugleich so und anders sein. In Aristoteles’ Formulierung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch geht es also um die Bestimmtheiten eines Einzeldinges im Allgemeinen. In Platons Formulierung scheint dagegen speziell davon die Rede zu sein, was die identische Sache tut und leidet. Platons Formulierung wird dadurch nicht falsch, etwas Identisches kann nicht zugleich Entgegengesetztes tun oder leiden. 25 26
Siehe dazu Picht (1992a, S. 391f.). Zu der von Prauss aufgestellten These, dass Platon im Gegensatz zu Aristoteles das Einheitlich-Identische preisgebe und die Einzeldinge als bloße Aggregate von Bestimmtheiten verstehe, siehe die Kritik auf Seite 23.
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Im Vergleich mit Aristoteles ist lediglich die Beschr¨ ankung auf tun“ und ” leiden“ sonderbar, so als w¨ urde der Satz nicht f¨ ur alle Bestimmtheiten ” einer Sache gelten. Versteht man dagegen auch hier im Sinne von eine Bestimmtheit zur Erscheinung bringen“, dann besagt dieser Teil des ” Satzes, dass eine identische Sache nicht zugleich und in derselben Hinsicht entgegengesetzte Bestimmtheiten zur Erscheinung bringen k¨ onne. Die Situation ist hier allerdings etwas anders als bei dem Licht, das die Farben einer Sache zur Erscheinung bringt, insofern das Licht die Farbbestimmtheit von etwas anderem, n¨ amlich der farbigen Sache, hervortreten l¨ asst. Hier dagegen geht es um dasjenige, was die Sache selbst zur Erscheinung bringt: ihre Bestimmtheiten. Nachdem wir die Bedeutung von gekl¨ art haben, bleibt die Frage nach der Bedeutung von . Es bietet sich an, als Passiv zu zu verstehen. Dass eine Sache eine Bestimmtheit zur Erscheinung bringt, bedeutet ins Passiv gewendet, dass eine Bestimmtheit in der Sache zur Erscheinung gebracht wird. Die Sache wird durch die Bestimmtheit bestimmt, sie erleidet gleichsam eine Bestimmung. Dieser Teil der Formulierung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch bedeutet dann: Dieselbe Sache kann nicht zugleich und in derselben Hinsicht durch entgegengesetzte Bestimmtheiten bestimmt werden. In dem Sinne von bestimmt werden“ verwendet Platon das Wortfeld von auch ” im Sophistes: Im Rahmen der Kritik der u ¨berlieferten Meinungen u ¨ber das Seiende, diskutieren die Gespr¨ achspartner die Lehre von Parmenides: ¨ [A]hnlich von u onst gerundeten Kugel gleich von der Mitte ¨berall her der sch¨ heraus sich verbreitend; denn gr¨ oßer nach hierhin, kleiner nach dorthin sein, das darf es sich nimmer verg¨ onnen [. . . ]. 27
Das so beschaffene Seiende habe eine Mitte und ¨ außerste Grenzen, damit aber auch Teile (244e6f.). Diesem Geteilten kommt in Beziehung auf die Gesamtheit seiner Teile die Einheit zu. Das Erleiden des Einen zu haben“ ” ( 245a1f.) bedeutet, durch Einheit bestimmt zu werden. Der gleiche Gedanke wird noch an drei weiteren Stellen ausgedr¨ uckt, n¨ amlich ( das Seiende, das die Bestimmt” heit des Einen hat“ 245b4), ( wenn ” n¨ amlich das Seiende erleidet, irgendwie eines zu sein“ 245b8f.) und ( weil [das Seiende] die Bestimmt” heit von jenem erleidet“ 245c1f.). Diese Textstellen zeigen, dass nicht nur eine Bestimmung erleiden“, durch eine Bestimmung bestimmt ” ” 27
¨ Sophistes 244e, Diels und Kranz (1956, Nr. 28, B 8, 43-45), Ubersetzung aus Eigler (1990, Bd. 6, S. 319).
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werden“ bedeuten kann, sondern dass auch u ¨berhaupt eine Bestimmung bezeichnen kann, die einer Sache zukommt. 28 Was bedeutet dieses Ergebnis f¨ ur die Bestimmung des Seienden, von dem es heißt, dass es nichts anderes sei als das Verm¨ ogen zu wirken oder zu leiden? Der Gedankengang (246e-247b) vom sterblichen Lebewesen u ¨ber den beseelten Leib und die Seele zur Gerechtigkeit und den u ¨brigen Tugenden soll die Materialisten dahin bringen, neben den K¨ orpern auch noch etwas Unk¨ orperliches als seiend anzuerkennen. Das vom Fremden vorgeschlagene Seinskriterium soll demnach f¨ ur beides, f¨ ur das K¨ orperliche und das Unk¨ orperliche gelten. Die k¨ orperlichen Instanzen werden durch Bestimmtheiten bestimmt ( ) und bringen sie zur Erscheinung ( ). Werdendes, das durch Bestimmtheiten bestimmt wird und diese zur Erscheinung bringt, gen¨ ugt dem neuen Seinskriterium. Umgekehrt ergibt die Gegenprobe, dass ein k¨ orperliches Ding, das durch keinerlei Bestimmtheit bestimmt wird und damit auch keine Bestimmtheit zur Erscheinung bringt, auch nicht als Seiendes anzuerkennen ist. Eine solche Sache“ ist selbstverst¨ andlich auch kein K¨ orper, denn eine bestimmte Fes” tigkeit, so dass die Sache“ tastbar w¨ are, eine bestimmte Farbe, so dass ” sie sichtbar w¨ are, oder eine bestimmte Ausdehnung, so dass sie einen Ort einnimmt und messbar w¨ are, kommt dieser Sache“ nicht zu. Wie ” verh¨ alt es sich schließlich mit dem und der Bestimmtheiten? Instanzen bringen Bestimmtheiten zur Erscheinung; Ideen bringen in diesem Sinne nichts zur Erscheinung, vielmehr sind sie die zur Erscheinung gebrachten Bestimmtheiten. Im Horizont der gebesserten Materialisten kann das Hervorbringen der Ideen nur darin bestehen, dass sie die Instanzen bestimmen. Die Bestimmtheiten machen ihre Instanzen u ¨berhaupt erst zu dem, was diese zur Erscheinung bringen. Das der Idee und das der Instanz bezeichnen denselben Sachverhalt einmal aus der Perspektive der Idee und einmal aus der Perspektive der Instanz. In der Terminologie der Ideenlehre bringen , d. h. Anwesenheit der Idee in der Instanz, und , d. h. Teilhabe der Instanz an der Idee, denselben Perspektivwechsel zum Ausdruck. Wie ist die zu verstehen? Warum lautet das Seinskriterium nicht einfach: Seiend ist, was bestimmt bzw. bestimmt wird; oder resultativ formuliert: Seiend ist, was bestimmt hat bzw. bestimmt wurde? In der 28
Als nomina rei actae zu und verwendet Platon und synonym auch (248b6, 248d5). Weil und die zur Erscheizu nung gebrachten und rezipierten Bestimmtheiten bezeichnen, kann der Autor des Siebten Briefes die Aufz¨ ahlung der Ideen mit (342d7f.) schließen: Das zuvor Ausgef¨ uhrte, dass Benennung, Erkl¨ arung, Instanz und Vorwissen notwendige Voraussetzungen von Ideenerkenntnis sind, gilt f¨ ur die aufgez¨ ahlten und u ur alle Bestimmtheiten. Entgegen einer verbreiteten Interpre¨berhaupt f¨ tation springt der Autor nicht von Ideen zu den Ergebnissen von Handlungen.
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ist mit dem Aspekt des K¨ onnens auch der der Andersheit oder der Ver¨ anderung verbunden. Durch die Bet¨ atigung der wird dasjenige, worauf sie sich richtet, ver¨ andert und zu etwas anderem als es vorher war. Die ist notwendige Voraussetzung der Ver¨ anderung, die der Sache bereits zukommt, bevor die Ver¨ anderung stattfindet: Die ist noch nicht wirklich, die betreffende Sache ist noch nicht anders geworden als zuvor. Die Pointe der liegt darin, dass der Fremde das Seinskriterium in der Auseinandersetzung mit den Materialisten artikuliert. Die Materialisten halten ausschließlich k¨ orperliche Gegenst¨ ande f¨ ur seiend, ihr Seinskriterium ist die materielle Festigkeit der seienden Sache. Mit den k¨ orperlichen Gegenst¨ anden erkennen die Materialisten auch deren Bewegung und Ver¨ anderung an. Wenn es aber erstens keine Vergibt, zweitens die vor der Ver¨ anderung anderung ohne ¨ noch nicht wirklich ist, dann gibt es auch nichts, was der Materialist mit bezeichnen k¨ onnte. Die der seinen H¨ anden greifen und als jene Ver¨ anderung vorausgehende n¨ otigt den Materialisten etwas als seiend anzuerkennen, was er mit seinen H¨ anden nicht greifen kann. Die Ver¨ anderung, die der Fremde dabei intendiert, ist das Hervorbringen der Seinsbestimmtheiten in ihren Instanzen. Die Instanz hat die M¨ oglichkeit, eine noch unverwirklichte Seinsbestimmtheit in sich zur Erscheinung zu bringen; durch das Verwirklichen der Seinsbestimmtheit unterscheidet sie sich von sich selbst im Zustand der bloßen M¨ oglichkeit und qua Bestimmtheit von allen anders bestimmten Instanzen. 29 29
Das erkl¨ art die Formulierung des Fremden: 247e3f. Das Wort bereitet Kommentatoren Schwiescheint nur zu wiederholen, was mit schon gesagt ist, dass es rigkeiten. n¨ amlich um eine Definition des Seienden geht. In diesem Sinne u ¨bersetzen Schleiermacher und andere: Ich setzte n¨ amlich als Erkl¨ arung fest, um das Seiende zu bestimmen, ” daß es nichts anderes ist als Verm¨ ogen, Kraft“ (Eigler, 1990, Bd. 6, S. 329). Cornford kommentiert: I think the sentence ought to mean that the mark of real things (not ” the real things themselves) is nothing but power. This sense could be obtained if we could translate: ‘I am proposing a mark to distinguish real things-that there is nothing else but power (to serve as such a mark)’ or ‘that it (the mark) is nothing but power.’ But neither rendering seems defensible“ (Cornford, 1935, S. 234 Anm. 1). , Robinson f¨ ugt hinter ein, vgl. Duke u. a. (1995, S. 436). Ast streicht ist der u Mit Hilfe unserer Interpretation der ¨berlieferte Text auch ohne Konjekhandelt es sich um das Verm¨ ogen, durch Bestimmtheit turen sinnvoll. Bei der zu unterscheiden. Die Ideen unterscheiden als Bestimmtheiten bestimmte Dinge; die bestimmten Instanzen unterscheiden sich selbst von anderen bestimmten Instanzen. Ideen und Instanzen unterscheiden“ dabei in je unterschiedlicher Weise. Weil aber das ” Seiende nichts anderes ist als das Verm¨ ogen, einen Unterschied zu machen, deshalb als einheitliches Kriterium des Seienden, d. h. f¨ ur kann der Fremde das Ideen und Instanzen, angeben. Der Fremde spricht damit die f¨ ur Platon grundlegen¨ de Uberzeugung aus, dass Sein“ stets als Bestimmt-Sein“ zu verstehen ist. Natalia ” ” ¨ Pedrique danke ich f¨ ur folgende Ubersetzung von Sophistes 247e3f.: Ich setze, dass ” das Seiende eine Grenze bestimmt, weil es nichts anderes ist als Verm¨ ogen/Kraft.“
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Wie stehen die Ideenfreunde zum Seinskriterium? Die Ideenfreunde gestehen zwar die Angemessenheit der Seinsbestimmung f¨ ur die werdenden Dinge zu (248c7f.), in Hinsicht auf das unver¨ anderliche Sein streiten sie aber ab, dass ihm auch nur irgendeine zukomme (248c9). Nun behaupten die Ideenfreunde – nach Paraphrase des Fremden – dass wir mit dem K¨ orper durch Wahrnehmung am Werden teilnehmen ( 248a10f.), durch Denken aber mit der Seele am wahrhaften Sein (248a11). Aber dieses Teilnehmen, ist das nicht jenes bereits Besprochene: Ein Leiden oder eine Einwirkung, aus irgendeinem Verm¨ ogen in ” dem, was miteinander zusammentrifft, entstehend“ ( 248b6f.)? Ist das Erkennen nicht ein Tun und das Erkannt-Werden ein Leiden oder beides (248d4f.)? 30 Die Argumentationsstrategie des Fremden besteht darin, auch f¨ ur den Bereich des wahrhaft Seienden die nachzuweisen, indem er sie den Ideen als Erkenntnisobjekten zuschreibt. Bemerkenswert ist, dass der Fremde das Seinskriterium den Ideenfreunden durchaus in dem Sinn vorschl¨ agt, in dem es zuvor mit den Materialisten verhandelt wurde (vgl. 248b3f.): Die im Erkennen und insbesondere im Erkennen der Ideen involvierte scheint der Fremde durchaus mit der den Materialisten vorgeschlagenen zu identifizieren. Das Verst¨ andnis von und als mechanischem Wirken und Leiden von K¨ orpern im Kontext der Materialisten f¨ uhrt dazu, das Denken der unk¨ orperlichen Ideen als einen quasi-physischen Kontakt“ ” zu verstehen. Im Kontext der Materialisten ist die Bestimmung des Seienden als als Bestimmen der Idee und als BestimmtWerden der Instanz zu verstehen, die dadurch die Bestimmtheit zur Erscheinung bringt und sich von anderen bestimmten Instanzen unterscheidet. Aus dieser Interpretation l¨ asst sich erkl¨ aren, warum Erkennen und Erkannt-Werden eine voraussetzen: Erkennen ist als identifizierendes Unterscheiden zu verstehen; Erkenntnis der Ideen besteht darin, ihre Bestimmtheit zu unterscheiden, d. h. die Bestimmtheit zu identifizieren und sie von anderen Bestimmtheiten zu unterscheiden. Das seelische Denkverm¨ ogen ( 248a11) bringt die Idee im Denken zur Erscheinung, oder – um die Lichtmetaphorik aufzunehmen – 30
Zu der Frage, wie sich Bewegen und Bewegt-Werden auf erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt verteilen, siehe die Diskussion bei Pester (1971, S. 36-41). Als Beispiele daf¨ ur, welche Schwierigkeiten die Textstelle Kommentatoren bereitet, sei eine Erw¨ agung von Frede angef¨ uhrt, dass n¨ amlich Denken einen quasi-physischen Kontakt mit ” dem Gedachten voraussetzt“ (Frede, 1967, S. 47) und der Vorschlag von Lauermann (1985, S. 36): Die relative Gegenbewegung des Stehenden zum Bewegten w¨ are eine ” Verstehenshilfe, um das im ,Sophistes‘ 248d passiv bewegte Erkanntwerden der Idee sinnvoll zu erschließen“.
Die Bestimmung der Bewegung“ ”
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der Geist erhellt die Bestimmtheit, er stellt sie in (geistiges) Licht, aber das heißt nichts anderes als dass er sie identifiziert und von anderen Beist auch im Falle der Erkenntnis stimmtheiten unterscheidet. Das das Hervorbringen einer Bestimmtheit, aber jetzt wird diese Bestimmtheit nicht mehr in einer Instanz realisiert, sondern das Denkverm¨ ogen bringt die Bestimmtheit selbst f¨ ur sich selbst als gedachte hervor. Die denkbare Bestimmtheit wird ihrerseits im Denken von den anderen Bestimmtheiten unterschieden. Die gedachte Bestimmtheit ist das Ergebnis der Unterscheidungsleistung und kann in diesem Sinne mit den nomina rei actae als oder (248b6) bezeichnet werden. Das des Denkens ist: ein . 31 Was hat all das mit zu tun? Von demjenigen, was erkannt wird gilt, insofern es erkannt wird: (248e4), durch das Erleiden wird es bewegt. Das Erkannte leidet etwas, insofern es bestimmt wird. Das gilt entsprechend der Auseinandersetzung mit den Ideenfreunendlichen Denkens. Das wird bestimmt, den zun¨ achst f¨ ur das indem es als es selbst und in Differenzierung von anderen Bestimmtheiten gedacht wird. Der unmittelbar n¨ achste Gedanke des Fremden ist aber, dass die dem vollkommen Seienden ( 248e8f.), d. h. den selbst f¨ ur sich selbst seienden Ideen, zukommt. Wenn der Gedankengang konsistent ist, dann muss ein Zusammenhang bestehen zwischen dem und der des vollkommen Seienden. Das bezeichnet den passiven Aspekt bestimmt werden“, dem ” mit dem der aktive Aspekt im Sinne von bestimmen“ oder zur ” ” Erscheinung bringen“ gegen¨ uber steht. Dem entspricht dann ein “, also bewegen durch das Hervor” und zur Erscheinung Bringen. Dass die (248e7) des vollkommen 31
Dieser Gedankengang wirft die Frage auf, wie sich die von einem zeitlich erkennenden Wesen gedachte Bestimmtheit zu der außerzeitlichen Idee verh¨ alt. Pester spricht in diesem Zusammenhang von zweierlei Usiai“ (Pester, 1971, S. 147). Eine gewisse Berech” tigung dieser Redeweise scheint darin zu liegen, dass die selbst f¨ ur sich selbst seiende mindestens dadurch verschieden ist, dass der vollkommenen Idee von unserem Differenzierung der Idee im endlichen Denken immer nur das endlich differenzierte entspricht. Andererseits ist zu beachten, dass auch das endliche Denken diese Bestimmtheit, die Idee erfasst und dass es die denkbare Idee denkt. Die Idee selbst endlichen Denkens lassen sich nicht wie zwei gleichartige Gegenst¨ ande und das unterscheiden, deren einer hier und in r¨ aumlicher Trennung davon der andere dort ist: Die Idee ist an keinem Ort im Raum. Auch hinsichtlich der Materie als principium frei sind von Materie; insindividuationis von Gegenst¨ anden gilt, dass Idee und des Steines ist kein Stein in der Seele. Noch nicht entschieden ist, besondere das und letzterer ob in dem Verh¨ altnis von Seele und Idee ausschließlich ersterer das zukommt. Sicher ist, dass Ideen nicht von der Seele und ihren Denkakdas ten abh¨ angig sind; zu u ¨berlegen ist, inwiefern die Seele von den Ideen affiziert wird (evtl. bewegen Ideen wie ein Geliebtes“, vgl. Diotimas Ausf¨ uhrungen im Symposion) ” und das Erkennen als aktiv oder passiv zu bestimmen ist.
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Seienden aktiv zu verstehen ist und nicht passiv als ein Bewegt-Werden, zeigen die aktiven Verbformen und (249a1), die sich auf die zu (248e7) parallelen Akkusative (248e7f.) beziehen. Das vollkommen Seiende wird also nicht durch etwas anderes bewegt, sondern es ist selbst das Bewegende. Beachtet man ferner, dass Seele“ das sich selbst Bewegende ist (vgl. Phaidros 245c-e, ” Nomoi 895cff.), dann liegt es nahe, auch die Bewegung des vollkommen Seienden dahingehend zu verstehen, dass es nicht ein ¨ außeres Objekt, sondern sich selbst bewegt. Dasjenige, was sich selbst bewegt, ist zugleich das Bewegende und das Bewegte. Das Bewegen der Ideen ist im Sinne eines zu verstehen, das Bewegt-Werden im Sinne des . Ideen sind Bestimmtheiten. Was die Idee hervorbringt, ist ihre eigene Bestimmtheit, sie bringt sich positiv hervor als das, was sie ist. Sie unterscheidet sich von allen anderen Bestimmtheiten und bringt damit ihre eigene Bestimmtheit zur Erscheinung. Da die Idee selbst frei von Materie ist, ist darunter nicht zu verstehen, dass sie sich in einer Instanz zur Erscheinung bringt. Inso, also etwas Denkbares ist, kann sie sich selbst fern die Idee ein allenfalls geistig zur Erscheinung bringen; das heißt aber nichts anderes, als dass sich die denkbare Bestimmtheit von allen anderen denkbaren Bestimmtheiten unterscheidet und damit u ¨berhaupt erst eine Bestimmtheit ist. Dem auf der einen Seite entspricht ein auf der anderen: Indem eine Idee sich selbst von allen anderen Bestimmtheiten unterscheidet und jene anderen Bestimmtheiten von sich ausgrenzt, werden auch jene anderen Bestimmtheiten bestimmt. Denn jene anderen Bestimmtheiten sind nicht diese eine, jene werden von dieser ausgegrenzt und dadurch als nicht diese erste Bestimmtheit“ bestimmt. Die Bestimmung al” ler anderen Bestimmtheiten als nicht diese erste Bestimmtheit“ ist noch ” weit davon entfernt eine vollkommene Bestimmung der vielen anderen Bestimmtheiten zu sein. Aber nicht nur diese erste Idee unterscheidet sich von allen anderen, dasselbe gilt auch von allen anderen Ideen. Indem sich alle anderen Bestimmtheiten von einer Bestimmtheit unterscheiden und diese Bestimmtheit dadurch von sich selbst abgrenzen, erf¨ ahrt diese Bestimmtheit eine vollkommene negative Bestimmung. Die Ausgrenzung dieser einen Bestimmtheit durch alle anderen Bestimmtheiten gibt alles das an, was die erste Bestimmtheit nicht ist. Eine Idee bringt sich selbst zur Erscheinung und ist dadurch positiv bestimmt als das, was sie selbst ist; zugleich unterscheidet sie sich von allen anderen Bestimmtheiten und ist dadurch negativ bestimmt als das, was sie nicht ist. Die als gr¨ oßte Gattung ist das Sich-zu-ideeller-Erscheinung-Bringen der Idee. Da sich alle Ideen in diesem Sinne zur Erscheinung bringen, bestimmt die alle Ideen. Sie ist die durch alle“ ( , vgl. Kapitel 4.2) ”
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durchgehende Bestimmtheit der Ideen, sich als Bestimmtheit zur Erscheinung zu bringen. Das Sich-zur-Erscheinung-Bringen ist ideell in Abgrenzung von der materiellen Erscheinung in den Instanzen.
4.5 Die Funktion der gr¨oßten Gattungen Die gr¨ oßten Gattungen bilden eine Auswahl, an der das Verm¨ ogen der Gattungen zu wechselseitiger Gemeinschaft studiert werden soll (254c5). Sein, Ruhe und Bewegung w¨ ahlt der Fremde wegen ihrer Bedeutung f¨ ur den bisherigen Gespr¨ achsverlauf aus, Selbigkeit und Verschiedenheit entspringen der Betrachtung der ersten drei Gattungen: Jede ist verschieden von den anderen, selbst f¨ ur sich selbst aber dieselbe (254d14f.). Im folgenden Gespr¨ achsverlauf geht es einerseits darum, die f¨ unf Gattungen voneinander zu differenzieren und sicherzustellen, dass nicht zwei von ihnen miteinander identisch sind 32 , andererseits darum, wie die gr¨ oßten Gattungen wechselseitig aneinander teilhaben. Die Pointe ist dabei, dass die gr¨ oßten Gattungen, an denen die wechselseitige Gemeinschaft von Bestimmtheiten vorgef¨ uhrt wird, nicht beliebige Beispiele f¨ ur das Verh¨ altnis von Bestimmtheiten untereinander sind, sondern die M¨ oglichkeit zu solchen 32
Die Argumentation zur Differenzierung der Gattungen ist problematisch, das gilt insund (255b11-c1). Durch Teilhabe am besondere f¨ ur die Unterscheidung von ist jede Gattung identisch mit sich selbst, durch Teilhabe am ist sie seiend. und haben beide am teil. Der Fremde unternimmt nun folgende reund eines und dasselbe sind, dann m¨ ussen ductio ad absurdum: Wenn und – wegen ihrer Teilhabe am – miteinander identisch sein. Richtig m¨ usste und sind wegen ihrer Teilhabe am jeweils idendie Konklusion lauten: tisch mit sich selbst, worin freilich keine Absurdit¨ at liegt. Dass die Argumentation des ¨ Fremden auf der Aquivokation von identisch mit sich selbst“ und identisch miteinan” ” der“ beruht, ist vielfach beobachtet worden, siehe z. B. Silverman (2002, S. 164). Es ist unwahrscheinlich, dass Platon hier ein logischer Fehler unterlaufen ist, zweifelhaft ist auch Silvermans Erkl¨ arung: Plato is not particularly interested in precise argumenta” tion or careful wording“ (Silverman, 2002, S. 164), denn die sprachliche Konstruktion dieses und vergleichbarer Fehlschl¨ usse ist kunstvoll; der offenkundige Fehlschluss im Dialog zwischen dem Fremden und Theaitetos hat in dem Verh¨ altnis von Text und Leser eine andere Funktion: Der Leser wird in einen Dialog mit dem Text verwickelt. Zu dem Hintergrund dieses Interpretationsansatzes siehe Roloff (1975, S. 18ff.). Im Sinne des zweiten Dialoges zwischen Text und Leser hier ein Vorschlag zur Differenzierung und : Wenn Sein als Bestimmt-Sein zu verstehen ist, Bestimmtheiten von einer Sache aber teils selbst f¨ ur sich selbst, teils in Beziehung auf anderes zukommen und dadurch differenzieren, dass etwas verschie(255c12f.), dann lassen sich den immer nur in Beziehung auf anderes ist (255d). Analog zu dieser Unterscheidung und gilt, dass und verschieden sind, weil das Bestimmt-Sein von einer Sache teils selbst f¨ ur sich selbst, teils in Beziehung auf anderes zukommt, identisch ist eine Sache aber nur mit sich selbst, denn andernfalls k¨ onnte es etwas geben, dass identisch w¨ are mit etwas von ihm Verschiedenem.
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Verh¨ altnissen u unden. Die gr¨ oßten Gattungen sind ei¨berhaupt erst begr¨ ne Antwort auf die Frage, ob es bestimmte Gattungen gibt, die durch alle Gattungen hindurch diese zusammenhalten, und andere Gattungen, die durch alle hindurch Ursache von deren Trennung sind (253c1-3). Die Darstellung der gr¨ oßten Gattungen zielt also zun¨ achst nicht auf die inhaltliche Verflechtung der Bestimmtheiten, die ihnen zukommt, insofern sie diese Bestimmtheiten sind. Vielmehr betrifft sie die Verflechtung der Bestimmtheiten u ¨berhaupt. Es geht also nicht um die Verflechtung z. B. der Bestimmtheit des Menschen mit der Gerechtigkeit, sondern um die Verflechtung, die das Bestimmtheit-Sein der Bestimmtheiten betrifft. 33 Jede Idee ist von allen anderen Ideen verschieden: Die Verschiedenheit ist verantwortlich daf¨ ur, dass es u ¨berhaupt eine Mehrzahl von Bestimmtheiten geben kann. Ohne Verschiedenheit zwischen den Bestimmtheiten k¨ onnte es nur eine Bestimmtheit geben, aber eine Bestimmtheit, die keinen Unterschied zu einer anderen Bestimmtheit macht, ist keine Bestimmtheit. Denn diese einzige Bestimmtheit k¨ onnte keine Instanz zu einer so und nicht anders bestimmten Instanz machen, weil es keine andere Bestimmtheit neben ihr g¨ abe, im Unterschied zu der sie die Instanz bestimmen k¨ onnte. Eine solche Bestimmtheit w¨ are auch nicht erkennbar, denn die Erkenntnis von etwas setzt voraus, dass es sich von anderem unterscheiden l¨ asst. Man k¨ onnte von dieser Bestimmtheit auch keinen angeben, sofern ein etwas Bestimmtes im Unterschied zu anderem behauptet. Schließlich k¨ onnte man diese Bestimmtheit auch nicht Benennen, sofern ein Name nur dann nennt, wenn er auf etwas zeigt und auf etwas anderes nicht zeigt. Im Sinne der Bestimmung der Dialektik (253bc) ist die Verschiedenheit Ursache der Trennung“ ( ” 253c3) der Gattungen. Trennung“ ist hier allerdings nicht im Sinne ” eines relationslosen Nebeneinanders zu verstehen, denn zwei verschiedene Bestimmtheiten stehen mindestens soweit in Relation zueinander, dass die eine die andere negativ bestimmt, die eine zeigt durch ihre Verschiedenheit an, was die andere nicht ist. Jede Idee ist mit sich selbst identisch: Was bedeutet das Mit-sich” selbst-identisch-Sein“? Aus der Unterscheidung zwischen Ideen und Instanzen kennen wir die in Variationen wiederkehrende Formulierung, dass sich die Ideen immer gem¨ aß demselben und auf dieselbe Weise verhalten“ ” ( 248a12, vgl. etwa Phaidon 78cff.), w¨ ahrend die werdenden Instanzen zu anderer Zeit anders“ ( ” 33
Die Unterscheidung dieser beiden Hinsichten l¨ ost den Widerspruch zwischen Gegens¨ atzlichkeit und Unvermischtheit von Bewegung und Ruhe einerseits (250a7f., 252d, 254d7, 255e11f.) und der Teilhabe von Bewegung an Ruhe andererseits (256b6f.): Die Bestimmtheit zeitlicher Bewegung, das Anders-Werden, ist Gegensatz zur Ruhe, dem Nicht-anders-Werden; die Bestimmtheit der Bewegung ist selbst nicht der Ver¨ anderung unterworfen, qua Bestimmtheit hat sie an der Ruhe teil.
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248a12f.) sind. Durch ihr Werden sind die Instanzen ver¨ anderlich, das heißt, dass sie zu anderer Zeit je anders sind als sie selbst zuvor waren. In der Unterscheidung zwischen Idee und Instanz zielt die Selbigkeit der Idee auf deren Unver¨ anderlichkeit. Die gr¨ oßten Gattungen zielen nicht auf die Unterscheidung zwischen Ideen und Instanzen, sondern auf das Verh¨ altnis und die Unterscheidung der Ideen untereinander. Im Modell der gr¨ oßten Gattungen ist f¨ ur die Unver¨ anderlichkeit der Ideen eine eigene . Die Selbigkeit erh¨ alt hierbei eine andere Gattung vorgesehen, die Funktion, die erst durch die Ausf¨ uhrung der Verschiedenheit der Ideen in den Blick ger¨ at: Eine Bestimmtheit ist verschieden von allen anderen Bestimmtheiten, aber sie ist nicht bloß verschieden von allen anderen, sondern sie ist auch mit sich selbst identisch. Eine Idee ist verschieden von allen anderen Ideen, sie ist nicht jene anderen Ideen und wird durch die Verschiedenheit von jenen negativ bestimmt. Die Selbigkeit einer Idee mit sich selbst schließt aus, dass ihre Bestimmtheit lediglich negativ als Andersheit von anderem, die selbst wiederum nur anders als andere sind, zu verstehen ist; in einem Geflecht aus bloß Anderem ließe sich von keiner einzigen Bestimmtheit angeben, was sie selbst ist, sondern allenfalls, was sie nicht ist. Aber nicht einmal das ließe sich angeben, da die Anderen ja auch nur negativ bestimmt sind. Selbst die formale Aufstellung: B1 ist verschieden von B2 , B2 ist verschieden von B3 usw. scheitert, da im Index Selbigkeit beansprucht wird. B ist verschieden von . . .“ l¨ asst sich ” nicht formulieren ohne Beanspruchung der B eigenen Bestimmtheit. Die Pointe der Selbigkeit besteht darin, dass die Bestimmtheiten, wenn sie allein durch Andersheit gepr¨ agt w¨ aren, verschwinden w¨ urden. Die mit sich selbst identische Idee ist positiv bestimmt als das, was sie selbst ist. Von einer durch Selbigkeit und Andersheit gepr¨ agten Bestimmtheit kann man deshalb nicht nur angeben, wovon sie verschieden ist, sondern auch, was sie ist. Selbigkeit und Verschiedenheit der Ideen stehen in einem Wechselverh¨ altnis: Insofern eine Bestimmtheit sie selbst ist, muss sie von allen anderen Bestimmtheiten verschieden sein. Insofern eine Bestimmtheit von allen anderen verschieden ist, muss sie selbst etwas sein, n¨ amlich etwas mit sich selbst Identisches. Aufgrund dieses Wechselverh¨ altnisses von Selbigkeit und Verschiedenheit sind Ideen weder bloß selbig noch bloß verschieden, sondern selbig-verschieden. Bis hierhin sind die Bestimmtheiten zwar selbig-verschieden, aber sie sind bloß selbig-verschieden: An sich selbst sind die Bestimmtheiten auf (vorl¨ aufig) unspezifische Weise selbstidentisch; ihr Verh¨ altnis zu allen anderen Bestimmtheiten ist durch eine (vorl¨ aufig) noch unspezifische Verschiedenheit charakterisiert. Bloße Selbstidentit¨ at und bloße Verschiedenheit kommen allen Bestimmtheiten gleichermaßen zu. Bestimmtheiten, von denen jede bloß selbig-verschieden
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ist, unterscheiden sich gar nicht voneinander. Wenn sich die Bestimmtheiten aber nicht voneinander unterscheiden, dann handelt es sich auch nicht mehr um Bestimmtheiten. Die Beschreibung der Verflechtung der Bestimmtheiten als bloß selbig-verschiedener f¨ uhrt zur Aufl¨ osung der Bestimmtheiten, weil sie von dem abstahiert, was diese Bestimmtheiten jeweils bestimmen. Die Beschreibung hat noch nicht ber¨ ucksichtigt, worum es uns in der Verflechtung der Bestimmtheiten eigentlich geht: die besonderen Verh¨ altnisse der Bestimmtheiten untereinander, z. B. wie sich die Bestimmtheit des Menschen zu der der Gerechtigkeit verh¨ alt. In diese Stelle f¨ ugt sich das oben erarbeitete Verst¨ andnis der ein: Die entfaltet sich in Wirken und Leiden, in und . Die ist zu verstehen als das zur Erscheinung Bringen eines Wesens; eine Bestimmtheit bringt ihr eigenes Wesen zur Erscheinung, indem sie sie selbst ist. Indem die Bestimmtheit ihr eigenes Wesen hervorbringt, ist sie zugleich sie selbst und von allen anderen Bestimmtheiten verschieden. In dieser grundlegenden Weise wird eine Bestimmtheit zun¨ achst durch die gr¨ oßten Gattungen Selbigkeit und Verschiedenheit bestimmt; dieses dieBestimmt-Werden durch Selbigkeit und Verschiedenheit ist ein ser Bestimmtheit. Aber sie ist jetzt nicht mehr bloß selbig-verschieden, sondern durch die Hervorbringung ihres eigenen Wesens ist sie in bestimmter Weise von allen anderen Bestimmtheiten verschieden. Mit der als dem sich selbst positiv Bestimmen einer Idee geht ein aller anderen Ideen einher. Sie werden negativ bestimmt erstens allgemein als nicht dasjenige, was sich in der einer Idee zur Erscheinung bringt, zweitens speziell durch das besondere Verh¨ altnis der jeweiligen Bestimmtheiten: Die Bestimmtheiten des Menschen und der Gerechtigkeit sind jeweils selbig mit sich selbst und verschieden voneinander. Die Bestimmtheit des Menschen ist nicht die der Gerechtigkeit – andernfalls ließe sich das Mensch-Sein und das Gerecht-Sein nicht unterscheiden; das w¨ urde aber ausschließen, dass es ungerechte Menschen gibt. Dennoch sind die Bestimmtheiten des Menschen und die der Gerechtigkeit nicht bloß verschieden, denn das Gerecht-Sein ist ein besonderes Verm¨ ogen des Menschen – Steine sind weder gerecht noch ungerecht. Die Gerechtigkeit ist eine , eine Tugend des Menschen, d. h. das Mensch-Sein ist auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit ausgerichtet. Das Mensch-Sein wird durch das, was Gerechtigkeit ist, n¨ aher bestimmt; auch dieses BestimmtWerden der Idee des Menschen ist ein . Welche Rolle spielt hierbei die Gattung des Seins? 34 Sein war nach dem bisherigen Gedankengang zu verstehen als Bestimmt-Sein. Die Dia34
Einige Kommentatoren bringen die Gattung des Seins mit dem . . . ist“ der Existenz ” in Zusammenhang, vgl. dazu etwa Cornford (1935, S. 296), Ackrill (1978, S. 222) und die Kritik von Frede (1967, S. 40-59). Den Interpretationsansatz, wonach es Platon in
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lektik der gr¨ oßten Gattungen entfaltet, was in dem Verst¨ andnis von Sein als Bestimmt-Sein impliziert ist: Das Bestimmte ist mit sich selbst identisch und von allem anders Bestimmten verschieden. Das Bestimmte ist aber nicht bloß selbig-verschieden, sondern es bringt seine spezifische Bezust¨ anstimmtheit zur Erscheinung; f¨ ur dieses Moment ist die dig. 35 Dass diese Bewegung nicht im Sinne der Ver¨ anderung verstanden werden kann, garantiert das Moment der Ruhe. Sein ist niemals ohne Selbigkeit, Verschiedenheit, Ruhe und Bewegung. Das Bestimmt-Sein steht nicht in irgendeinem Sinne h¨ oher als Selbigkeit, Verschiedenheit, Ruhe oder Bewegung; es verh¨ alt sich zu den u ¨brigen Gattungen insbesondere nicht wie ein Genus zu seinen Spezies. Andererseits sind auch Selbigkeit, Verschiedenheit, Ruhe und Bewegung im Sinne der Hervorbringung der eigenen Bestimmtheit nicht ohne Sein zu denken; die selbigverschiedene Bestimmtheit, die unver¨ anderlich ihre Bestimmtheit zur Erscheinung bringt, ist auch. Alle f¨ unf Gattungen haben wechselseitig aneinander teil, keine kann ohne die anderen gedacht werden. In diesem Sinne handelt es sich um gleichurspr¨ ungliche Prinzipien. 36
4.6 Die Bedeutung der Ideenverflechtung f¨ ur die Instanzen Der Fremde hat die Verflechtung der Ideen am Beispiel der gr¨ oßten Gattungen vorgef¨ uhrt. Die gr¨ oßten Gattungen dienen nicht nur als u ¨berschaubares Beispiel f¨ ur die Verflechtung von Bestimmtheiten, sie haben vor allem die Funktion, die M¨ oglichkeit der Verflechtung von Bestimmtheiten zu begr¨ unden. Die Notwendigkeit einer Begr¨ undung der Verflechtung der Bestimmtheiten hatte sich aus dem Problem der vielfachen Benennung derselben Sache ergeben (251ab, vgl. Kapitel 4.1): Die Einredner hatten
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erster Linie um das logische Verhalten von Begriffen gehe, kritisiert Silverman (2002, S. 136-181, insb. 142-146, 167, 170). Silverman schreibt dieses Moment dem Sein selbst zu: Plato, I submit, conceives of ” Being as this generic property, i. e., essencing. Each Form, when it partakes of Being, is essenced and, once essenced, can be said to be-full stop if you like-can be said to be different from everything else-which in the case of Forms means every other essenced thing-and can be said to be the same as itself“ (Silverman, 2002, S. 180). Die darin verwendeten zeitlichen Begriffe seien wegen des Stillstands der Ideen nicht im Sinne eines zeitlichen Unterschieds zu verstehen; die Bewegung der Ideen interpretiert Silverman (2002, S. 158) als das Erkannt-Werden der Ideen. Gadamer (1987, S. 70) kritisiert Platon daf¨ ur, dass er kosmologische Begriffe“ wie ” Bewegung und Ruhe und Reflexionsbegriffe“ wie Verschiedenheit und Selbigkeit auf ” ” eigent¨ umliche Weise verschmolzen“ habe. Mit der hier vorgelegten Interpretation eru ¨brigt sich diese Kritik: Kosmologische Begriffe in einem engen Sinne – den Gadamer meint – sind Ruhe und Bewegung nur f¨ ur die Materialisten. Der Fremde macht dagegen alle vier Begriffe zu Bestimmungen der Ideen.
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die Benennung eines Menschen als “gut“ abgelehnt und lediglich die Benennung eines Menschen als Mensch“ und von etwas Gutem als gut“ ” ” zugelassen. Der Fremde hat die Grundlage dieses Problems in der Frage verortet, ob die Bestimmtheiten sich u ¨berhaupt nicht, unterschiedslos oder in bestimmter Weise verbinden. Die Position der Einredner beruht demnach darauf, dass die Bestimmtheiten sich in keiner Weise miteinander verbinden w¨ urden. Was die Bestimmtheit des Mensch-Seins hat, k¨ onne nicht zugleich die Bestimmtheit des Guten haben; ein Mensch sei genau und nur Mensch, etwas Gutes sei genau und nur gut. Die Instanz einer Bestimmtheit k¨ onne nicht zugleich Instanz einer anderen Bestimmtheit sein; eine Instanz sei immer nur die Instanz genau einer Bestimmtheit. Warum antwortet der Fremde auf diese Einrede mit einer Er¨ orterung der Verflechtung der f¨ ur sich selbst seienden Ideen? Der Vereinzelung der Bestimmtheiten in den Instanzen entspricht das relationslose Nebeneinander der Ideen. Ein solches meint der Fremde, wenn er fragt, ob die 249a1f.), n¨ amlich Ideen nicht heilig und ehrw¨ urdig“ ( ” relationslos wie G¨ otterstatuen nebeneinander st¨ unden. Die Statuen stehen in der ganz ¨ außerlichen Relation des r¨ aumlichen Nebeneinanders; der Mangel besteht darin, dass zwar jede Statue das Wesen des Gottes zur Erscheinung bringt, das Verh¨ altnis der G¨ otter zueinander aber nicht dargestellt wird. Wie den G¨ otterstatuen geht es auch den vereinzelten Ideen: Die Idee des Menschen – vereinzelt gedacht – h¨ atte nichts mit Farben, Gestalt, Gr¨ oße, Schlechtigkeit und Tugend (255a) zu tun. Entsprechend w¨ are eine Instanz dieser Idee genau und nur ein Mensch, ohne Gestalt h¨ atte er keinen K¨ orper mit einer bestimmten Farbe und einer gewissen Gr¨ oße, insbesondere h¨ atte er auch keinen wohlgebildeten oder verdorbenen Charakter. Die vereinzelte Idee des Menschen w¨ are nicht nur eine schlechte Abstraktion, die von der K¨ orperlichkeit und Beseeltheit und allen damit verbundenen Verm¨ ogen des Menschen absehen w¨ urde; die vereinzelte Idee des Menschen h¨ atte mit dem Mensch-Sein gar nichts mehr zu tun, sie w¨ are inhaltsleer, weil sich nichts angeben ließe, worin das Mensch-Sein best¨ unde. Anders verh¨ alt es sich mit der intensiv gedachten Idee des Menschen: Sie ist in bestimmter Weise mit allen anderen Bestimmtheiten verflochten. Zur Bestimmtheit des Menschen geh¨ ort seine K¨ orperlichkeit, die Idee des Menschen steht deshalb zu den Ideen bestimmter Materieformen, z. B. von Fleisch und Knochen, in einem anderen Verh¨ altnis als etwa die Dreiheit oder die Zahl u ur das Verh¨ altnis zu anderen ¨berhaupt. Das gleiche gilt f¨ mit K¨ orperlichkeit verbundenen Bestimmungen wie Gestalt und Farbe. Es geht aber nicht nur darum, dass die Bestimmtheit des Menschen anders als die Dreiheit mit Gestalthaftigkeit und Farbigkeit verflochten ist; der Mensch hat auch eine bestimmte Gestalt und bestimmte Farben, w¨ ahrend
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er andere Gestalten und andere Farben nicht annimmt. Die bestimmte Relation zu Gestalt und Farbigkeit er¨ offnet verschiedene M¨ oglichkeiten des Mensch-Seins, w¨ ahrend andere M¨ oglichkeiten ausgeschlossen sind. Der Mensch ist aber nicht nur ein k¨ orperliches Wesen mit Gestalt, Farbe und Gr¨ oße, sondern auch beseelt. Durch seinen Gesichtssinn kann der Mensch Farben sehen; auf diese Weise steht das Mensch-Sein noch in ganz anderem Verh¨ altnis zu Farbe als etwa die Bestimmtheit von Lebewesen, die nicht u ugen. Auch hier er¨ offnet die ¨ber optische Wahrnehmung verf¨ Bestimmtheit des Mensch-Seins dem einzelnen Menschen gewisse M¨ oglichkeiten, w¨ ahrend ihm andere M¨ oglichkeiten verschlossen sind, z. B. das Sehen im infraroten Spektralbereich. Von besonderer Bedeutung f¨ ur das Mensch-Sein ist das Denken, welches ihm erlaubt, Farben und Formen nicht nur wahrzunehmen, sondern auch einen Begriff davon zu bilden. Das begreifende Denken alles Wahrgenommenen liegt den empirischen Wissenschaften zugrunde. Der denkende Mensch kann auf sein eigenes Handeln reflektieren; Orientierungspunkte des reflektierten Lebensvollzugs sind die so genannten Tugendideen. Das Mensch-Sein steht in einem bestimmten Verh¨ altnis zu Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. Die Tugendideen bestimmen die Vollkommenheit des Mensch-Seins. Schließlich kann der Mensch auch auf sich selbst reflektieren, Philosophie betreiben und Ideen denken. Dieser knappe Aufriss von Verh¨ altnissen, in denen die Idee des Menschen mit anderen Ideen steht, zeigt, dass wegen der Verflechtung der Bestimmtheiten ein Mensch niemals einfach Mensch ist, sondern auch Farbe, Gestalt, Tugenden etc. hat. Weil die Bestimmtheiten selbst f¨ ur sich selbst nicht voneinander isoliert, sondern in bestimmten Verh¨ altnissen zueinander stehen, sind auch die instantiierten Bestimmtheiten nicht isoliert, obgleich sie in der Person alle vereinzelt sind. Einige Bestimmtheiten treten in ihren Instanzen immer gemeinsam auf, z. B. das MenschSein und die K¨ orperlichkeit, andere Bestimmtheiten m¨ ogen der Anlage nach zwar immer miteinander verbunden sein, ohne aber in allen F¨ allen zur Auspr¨ agung zu kommen, z. B. das Mensch-Sein und das Gut-Sein. Je nach Auspr¨ agung kann aber ein Mensch auf verschiedene Weise benannt werden, jeder Mensch kann Mensch“ genannt werden, einige Menschen ” k¨ onnen auch gut“ genannt werden. Der knappe Aufriss von Ideenver” h¨ altnissen deutet aber auch deren Vielfalt an. So erkl¨ art sich auch die Mannigfaltigkeit der von Platon daf¨ ur gebrauchten Ausdr¨ ucke: Teilhabe, Gemeinschaft, Mischung, Ber¨ uhren, Zukommen, Zusammenklingen, Aufnehmen und Verflechtung. 37 Diese Redeweise ist nicht Platons bekannter Vermeidung terminologischer Fixierung geschuldet, sondern selbst – terminologischer – Ausdruck einer F¨ ulle m¨ oglicher Ideenverh¨ altnisse. So 37
Vgl. dazu Anmerkung 8 auf Seite 71.
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Die Verflechtung der Ideen im Sophistes
ber¨ uhrt die Bestimmtheit des Menschen die Ungerechtigkeit, Unbesonnenheit und Schlechtigkeit, aber zusammenklingen tut sie mit ihnen nicht. 38 38
Ein Beispiel f¨ ur die Verflechtung von Bestimmtheiten ist die Idee des Lebewesens im Timaios. Der Demiurg ordnet den Kosmos als ein beseeltes Lebewesen nach dem Vor31b2), eines ewigen Lebewesens bild eines vollkommenen Lebewesens ( 37d2, d3f.) bzw. eines denkbaren Lebewesens ( 39e1f., 92c8). ( Die Pr¨ adikate weisen das Vorbild des Kosmos als Idee aus. Der Demiurg formt nicht nur den Kosmos nach dem Vorbild des vollkommenen Lebewesens, sondern er bev¨ olkert denselben auch mit den Formen von Lebewesen, die die Vernunft in dem vollkommenen Lebewesen vorhanden sieht (vgl. 39e8f.). Es handelt sich dabei um vier Arten von Lebewesen: ein Geschlecht himmlischer G¨ otter (gemeint sind die Sterne) sowie jeweils Lebewesen, die sich auf dem Land, in der Luft und im Wasser bewegen (40a). Bemerkenswert an dieser Schilderung ist die darin enthaltene Konzeption von Ideen in der Idee. Cornford (1937, S. 40) spricht in diesem Zusammenhang von einer Gattungsidee: The generic ” Form must be conceived, not as a bare abstraction obtained by leaving out all the specific differences determining the subordinate species, but as a whole, richer in content than any of the parts it contains and embraces.“ Die Bestimmtheit des vollkommenen Lebewesens enth¨ alt in sich die Bestimmtheiten besonderer Lebewesen. W¨ ahrend sich ein abstrakter Begriff dadurch auszeichnet, das allen Gemeinsame unter Vernachl¨ assigung der Unterschiede zu erfassen, gilt f¨ ur die Idee, dass sie das Allgemeine und das Besondere, d. i. das Allgemeine in seiner Besonderung, enth¨ alt. In diesem Sinne ist die Gattungsbestimmtheit reicher als die Bestimmung des Besonderen. Die Bestimmung des Besonderen ist unterschieden von anderen Besonderungen und in diesem Sinne eine Kontraktion der Gattungsbestimmtheit. Diese Struktur der Bestimmtheiten begr¨ undet f¨ ur die bestimmten Instanzen nicht nur deren Bestimmtheit u ¨berhaupt, deren Verschiedenheit von allen anderen Arten von Instanzen, sondern auch deren Verwandtschaft mit den u ¨brigen Arten einer Gattung. Cornford (1937, S. 41) legt Wert darauf, dass wir nicht befugt sind, die Gattungsidee des vollkommenen Lebewesens mit dem ganzen System der Ideen oder der Idee des Guten zu identifizieren, oder anzunehmen, sie schließe auch Ideen von Nicht-Lebewesen, z. B. die Ideen der vier Elemente (51bff.), mit ein. Falls das vollkommene Lebewesen“ als bloße Gattungsidee interpretiert wer” den muss, ist dieser Hinweis zweifellos berechtigt, denn die Bestimmtheit etwa des Wassers ist keine Besonderung der Bestimmtheit des Lebewesens. Timaios’ Bericht zielt aber darauf, den Kosmos als ein sichtbares Lebewesen darzustellen, das Abbild eines denkbaren Lebewesens ist (92c). Insofern er den Kosmos als Lebewesen konzipiert, ist die Bestimmtheit des vollkommenen Lebewesens Vorbild der Formung durch den Demiurgen. Insofern in dem Kosmos aber auch Wasser vorkommt, geformt nach der Idee des Wassers, ist auch die Bestimmtheit des Wassers Vorbild. Wenn also das vollkommene Lebewesen als Vorbild bei der Formung des Kosmos nicht nur eine Idee neben anderen ist, sondern das eine Vorbild schlechthin, dann muss darin etwa auch die Idee des Wassers eingeschlossen sein. Cornfords Interpretation des vollkommenen Lebewesens als Idee der Gattung Lebewesen ist dann zu eng. Cornford (1937, S. 40) wehrt sich dagegen, das vollkommene Lebewesen selbst als Lebewesen zu verstehen: It ” [die Gattungsidee des vollkommenen Lebewesens] is an eternal and unchanging object of thought, not itself a living creature, any more than the Form of Man is a man.“ Der kategoriale Unterschied zwischen Bestimmtheit und Bestimmtem schließt Verwechslungen dieser Art aus: Das Mensch-Sein ist nicht qua Mensch-Sein ein Mensch, die Bestimmtheit vollkommenes Lebewesen“ ist nicht als diese Bestimmtheit selbst ein ” Lebewesen. Wenn aber das vollkommene Lebewesen mit der Gesamtheit der Ideen zu identifizieren ist und die Ideen im oben ausgef¨ uhrten Sinne bewegt sind (vgl. Kapitel 4.4), dann ist es nicht mehr so abwegig, die Gesamtheit der Ideen als vollkomme”
Die Bedeutung der Ideenverflechtung f¨ ur die Instanzen
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Die Verflechtung der Bestimmtheiten hat aber noch einen anderen Aspekt f¨ ur die Konzeption der Instanzen, der hier wenigstens angedeutet werden soll: Wenn die Bestimmtheiten in isolierter Vereinzelung und die Instanzen nur Instanzen genau einer Bestimmtheit w¨ aren, was w¨ urde das f¨ ur das Werden der Instanzen bedeuten? Wenn ein Mensch genau und nur Mensch w¨ are, wie k¨ onnte dann die Ver¨ anderung dieses Menschen gedacht werden? Wenn etwas nur eine einzige Bestimmtheit h¨ atte und diese Bestimmtheit durch Ver¨ anderung verl¨ ore, dann ließe sich u ¨ber den ver¨ anderten Menschen nur feststellen, dass der Mensch ein Nicht-Mensch geworden sei. Seine eine Bestimmtheit, das Mensch-Sein, h¨ atte er verloren und w¨ are jetzt kein Mensch mehr. Werden w¨ are damit das Umschlagen einer Bestimmtheit in ihr Gegenteil oder in eine andere Bestimmtheit; da es sich aber um die einzige Bestimmtheit der ver¨ anderlichen Sache handelte, h¨ atte sie keinerlei andere Bestimmtheiten, die eine Kontinuit¨ at der ver¨ anderlichen Sache erkennen ließen. Wegen der Verflechtung der Bestimmtheiten sind Instanzen vielfach bestimmt, wobei ihnen die verschiedenen Bestimmtheiten in jeweils anderer Hinsicht zukommen. Weil die Instanzen zahlreiche Bestimmtheiten haben, k¨ onnen sich einige Bestimmtheiten ver¨ andern, w¨ ahrend andere Bestimmtheiten durchg¨ angig erhalten bleiben. Die vielfache Bestimmung der Instanzen geht auf die Verflechtung der selbst f¨ ur sich selbst seienden Ideen zur¨ uck, die sich als Voraussetzung daf¨ ur erweist, dass es Kontinuit¨ at in der Ver¨ anderung geben kann. Aristotelisch liegt eine der Ver¨ anderung ihrer hinzukommenden Bestimmtheiten zugrunde; die eine bleibt in der Ver¨ anderung ihrer Akzidentien durchg¨ angig erhalten. Eine solche Konzeption beruht bereits auf der Verflechtung der Bestimmtheiten und der damit verbundenen vielfachen Bestimmtheit der Instanzen. Charakteristisch f¨ ur die Aristotelische Unterscheidung zwischen und Akzidentien ist das Hervorheben einer ersten Bestimmtheit, des Wesens der Sache.
nes Lebewesen“ zu bezeichnen. Zu der hier vorgelegten Interpretation vgl. De Vogel (1970b, S. 199) und De Vogel (1970c, S. 228).
5 Die Abwehr von Missverst¨andnissen: Parmenides 5.1 Zum Status der Kritik an der Ideenlehre im Parmenides Die Gespr¨ achspartner entwickeln in diesem Abschnitt Aporien (133a8) einer Ideenlehre. Nach einer verbreiteten Interpretation handelt es sich dabei um eine Selbstkritik Platons, die sich gegen die Formulierung der Ideenlehre in den mittleren Dialogen richtet. 1 Eine Reihe von Argumenten spricht gegen diese Interpretation: Im Parmenides tritt Sokrates als junger Mann von ca. zwanzig Jahren auf, w¨ ahrend er in den mittleren Dialogen ein reifer bzw. alter Mann ist. Wenn die Selbstkritik-These zutr¨ afe, dann h¨ atte der reife Sokrates nichts aus den Aporien gelernt, in die er schon als junger Mann geraten ist. Im Laufe des Gespr¨ achs ersetzt Sokrates gewisse nicht zu Ende durchdachte Ideen- und Teilhabekonzeptionen durch andere, jenen widersprechende Vorschl¨ age. Nach der Selbstkritik-These habe Platon die kritisierten Positionen in den mittleren Dialogen selbst vertreten. Weil diese Positionen aber offensichtlich nicht miteinander vereinbar sind, m¨ usste Platon in den mittleren Dialogen mehrere, einander widersprechende Konzeptionen vertreten haben. Platon h¨ atte die Ideen einmal als Gedanken in der Seele, dann als Gegenstand der materiellen Wirklichkeit konzipiert; Teilhabe h¨ atte Platon einmal als das In-Sich-Haben eines dinglichen Teiles der Idee in der In¨ stanz, dann aber als bloße Ahnlichkeitsbeziehung zwischen Idee und Instanz verstanden. Ferner beharrt die Dialogfigur Parmenides nach dem Durchgang der Aporien darauf, dass ohne die Ideen die M¨ oglichkeit zum , dem auf die Erkenntnis der Wahrheit ausgerichteten Durchsprechen der Sache, v¨ ollig vernichtet w¨ urde (135c2). Der Abschnitt des Gespr¨ achs schließt nicht etwa mit einer Aufforderung zur Abkehr von der Ideenlehre, sondern mit der Aufforderung, zun¨ achst, d. h. vor der weiteren Ausarbeitung der Ideenlehre, die Dialektik im Sinne des folgenden Gespr¨ achsabschnitts zu u a¨ben (135cf.). Schließlich finden sich z. B. im sp¨ 1
Varianten dieser Interpretation vertreten z. B. Raeder (1905, S. 308, 317), Cornford (1939, S. 69-99), Ross (1951, S. 86), Vlastos (1968, S. 255), Cresswell (1975, S. 163, 170), Guthrie (1978, S. 51) und Prior (1985, S. 84); eine Kritik der Selbstkritik-These findet sich bei Peck (1952/1953).
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Die Abwehr von Missverst¨ andnissen: Parmenides
ten Dialog Timaios 2 (z. B. 27dff.) und im Siebten Brief (z. B. 342c3f.) Textstellen, in denen weiterhin unver¨ anderlich seiende Ideen von ver¨ anderlichen Dingen unterschieden werden, wobei die ver¨ anderlichen Dinge an den Ideen teilhaben. 3 In der Kommentarliteratur wurde auch der Versuch unternommen, andere antike Denker auszumachen, denen die im Parmenides kritisierten Positionen zuzuordnen w¨ aren. Das gilt insbesondere f¨ ur diejenige Ideenund Teilhabekonzeption, wonach Ideen Dinge sind und Teilhabe dahingehend zu verstehen ist, dass die teil-habende Instanz einen dinglichen angig davon, ob es gelingt, Teil der Idee in sich hat (130e-131e). 4 Unabh¨ die im Parmenides kritisierten Ideen- und Teilhabekonzeptionen anderen Denkern zuzuschreiben, so weist dieser Interpretationsansatz doch in die richtige Richtung: Es geht Platon hier nicht um eine Selbstkritik oder Selbstkorrektur, sondern um die Abwehr m¨ oglicher Missverst¨ andnisse der Ideenlehre. 5 Der reife Sokrates fungiert als philosophischer Repr¨ asentant Platons in den mittleren Dialogen, in denen die Ideenlehre eingef¨ uhrt wird. Wenn die fiktive dramatische Datierung des Gespr¨ achs nicht zu vernachl¨ assigen ist 6 , dann pr¨ asentiert der reife Sokrates das Ergebnis der ¨ Uberlegungen, die er bereits als junger Mann angestellt hat; zu diesen ¨ Uberlegungen geh¨ ort das Durchdenken der Aporien, in die ihn die Dialogfigur Parmenides f¨ uhrt. Der reife Sokrates ist dazu in der Lage, die Probleme zu l¨ osen, die ihm im Parmenides vorgelegt werden – andernfalls h¨ atte er die Ideenlehre aufgegeben. 7 Unter der Voraussetzung, dass es im ersten Teil des Parmenides um die Abwehr von Missverst¨ andnissen 2
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Owens Argumentation f¨ ur eine chronologisch fr¨ uhere Einordnung des Timaios hat sich nicht durchgesetzt, vgl. dazu Owen (1968) und die Zusammenstellung von Diskussionsbeitr¨ agen in Guthrie (1978, S. 243 Anm. 2). Ledger (1989, S. 197, vgl. 200-202) kommt in seiner stilmessenden Analyse zu dem Ergebnis: There is no evidence at all, ” pace Owen, to suggest that the Timaeus can be anything other than a late dialogue“. Insbesondere Peck (1952/1953, S. 34) betont gegen die Selbstkritik-These, dass Platon weder die Ideenlehre noch die angeblich kritisierte Ausdrucksweise je aufgegeben zu haben scheint. Unter Verweis auf Aristoteles’ Metaphysik A 991a13-18 und seine Argumentation in k¨ onnte diese Position auf Eudoxos von Knidos zur¨ uckgehen; diese Ansicht diskutieren jedenfalls Cornford (1939, S. 86f.) und Kutschera (1995, S. 25-28). Als eine Zur¨ uckweisung von Missdeutungen der Ideenlehre interpretieren diese Passage z. B. Natorp (1921, S. 224) und Gerson (1981, S. 26). Die Bedeutung des fiktiven Datums eines Platonischen Dialogs f¨ ur dessen Interpretation betont Wieland (1999, S. 88f., 112), im Falle des Parmenides hat darauf auch Zuckert (1998, S. 876, s. a. 905) hingewiesen. Hierbei ist zu beachten, dass der Phaidon gem¨ aß der fiktiven dramatischen Chronologie buchst¨ ablich Sokrates’ letztes Wort zur Ideenlehre enth¨ alt. Von dem schwankenden Sinn des jungen Sokrates, der immer wieder andere Vorschl¨ age zum Verst¨ andnis seiner Ideenlehre macht, gibt es im Phaidon keine Spur mehr: Sokrates ist dort im Gegenteil dazu in der Lage, souver¨ an auf die Einw¨ ande seiner Gespr¨ achspartner einzugehen; anders als der junge Sokrates kann er von der Ideenlehre Rechenschaft ablegen.
Sokrates’ Einf¨ uhrung der Ideen im Parmenides
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geht, erkl¨ art sich auch das ambivalente Verhalten 8 der Dialogfigur Parmenides. Einerseits bringt Parmenides Sokrates’ Bem¨ uhen um die Ideenlehre Wohlwollen entgegen (130a) und h¨ alt die Ideen f¨ ur eine notwendige Voraussetzung des (135c2); andererseits erhebt er Einw¨ ande gegen die von Sokrates vorgetragene Ideenlehre. Parmenides’ Einw¨ ande richten sich nicht gegen die Ideenlehre, sondern sollen zeigen, wie die Ideen und die Teilhabe der Instanzen an den Ideen nicht gedacht werden k¨ onnen. Herauszufinden, worin jeweils der Fehler des jungen Sokrates liegt, der es Parmenides erlaubt, ihn in Aporie zu f¨ uhren, ist Aufgabe des Lesers. 9 Dass die von Parmenides vorgebrachte Kritik die wohlverstandene Ideenlehre Platons nicht trifft, wird sich in den folgenden Ausf¨ uhrungen zeigen.
5.2 Sokrates’ Einf¨ uhrung der Ideen im Parmenides Gem¨ aß der Wiedergabe seiner Lehre im Parmenides hat Zenon in seiner Schrift zu zeigen versucht: Wenn das Seiende vieles ist, dann m¨ usste es ” ahnlich und un¨ ahnlich sein, das ist aber unm¨ oglich“ ( ¨ 127e1-3). Die Annahme, dass das Seiende vieles ist, f¨ uhrt demnach in einen Widerspruch. Wie Zenon den Widerspruch konstruiert hat, referiert Sokrates nicht; wir erhalten auch keine n¨ aheren Angaben dar¨ uber, was Zenon unter versteht. 10 F¨ ur das Verst¨ andnis von Sokrates’ Aufl¨ osung des Zenonschen Widerspruchs kommt es allerdings auch weniger darauf an, was der historische Zenon mit gemeint hat, sondern vielmehr auf Sokrates’ Verst¨ andnis dieses Ausdrucks. Sokrates interpretiert Zenons als die konkreten sichtbaren Gegenst¨ ande. Entsprechend zielt seine Widerlegung von Zenons Position auf den Nachweis, dass konkrete Gegenst¨ ande durchaus ¨ ahnlich und un¨ ahnlich sein k¨ onnen. 8 9
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Darauf weist besonders Miller (1986, S. 43) hin. Siehe dazu Miller (1986, S. 43f.). Demnach beobachtet Raeder (1905, S. 308) zwar richtig, dass wir nirgends in Platons Dialogen eine Widerlegung der im Parmenides formulierten Kritik vorfinden, aber er schließt daraus f¨ alschlich, dass Platon die Kritik deshalb als v¨ ollig berechtigt anerkannt habe. F¨ ur die Konstruktion des Widerspruchs b¨ ote sich der Vergleich mit anderen Fragmen¨ ten Zenons an, insbesondere DK 29 B 3. Da es um Ahnlichkeit und Un¨ ahnlichkeit geht, w¨ are auch Parmenides 147c-148c beachtenswert. Im Hintergrund steht der Geist (DK 28 B 8, 22). Die danke des historischen Parmenides, dass das Seiende Beantwortung der Frage, ob Platon der Lehre des historischen Zenon gerecht wird, m¨ usste also bei der Interpretation des Gedichts von Parmenides beginnen. Cornford (1939, S. 72, vgl. 53-62) weist darauf hin, dass das Seiende, von dem Zenon spricht, nicht einfach konkrete sichtbare Gegenst¨ ande sind.
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Der junge Sokrates f¨ uhrt die Ideen mit einer Formulierung ein, die sich im Wesentlichen nicht von jener in der Zweiten Fahrt im Phaidon unterscheidet; er fragt Zenon: Glaubst du nicht, dass die Bestimmtheit ” ¨ der Ahnlichkeit selbst f¨ ur sich selbst etwas ist?“ ( 128e6-129a1). Im Phaidon formuliert Sokrates: Ich lege zugrunde, dass das Sch¨ one selbst f¨ ur sich selbst etwas ” ist“ ( 100b5). 11 Es geht dem reifen Sokrates im Phaidon nicht darum, die Existenz von irgendetwas zugrunde zu legen; entsprechend fragt der junge Sokrates Zenon nicht, ob ¨ er an die Existenz der Idee der Ahnlichkeit glaubt. Die Betonung liegt in beiden F¨ allen nicht auf dem , das dann im Sinne der Existenz zu verstehen w¨ are, sondern auf dem W¨ ortchen , das im Sinne von etwas ” Bestimmtes“ zu verstehen ist. Sokrates legt im Phaidon zugrunde, dass Sch¨ onheit etwas Bestimmtes ist und es daher einen Unterschied gibt zwischen sch¨ on“ und nicht-sch¨ on“. Im Parmenides fragt Sokrates Zenon, ” ¨” ¨ ob er Ahnlichkeit f¨ ur etwas Bestimmtes bzw. die Idee der Ahnlichkeit f¨ ur ¨ eine Bestimmtheit h¨ alt. Eine Bestimmtheit ist die Ahnlichkeit, wenn sie unterscheidbar ist von allen anderen Bestimmtheiten; insbesondere muss sie aber von ihrem Gegenteil, der Un¨ ahnlichkeit unterscheidbar sein. Des¨ halb fragt der junge Sokrates nicht nur nach der Ahnlichkeit, sondern zugleich auch nach der Un¨ ahnlichkeit: [Glaubst du nicht, dass] dem so ” ¨ Beschaffenen [d. h. der Ahnlichkeit] wieder etwas anderes [d. h. etwas anders Bestimmtes] entgegengesetzt ist, n¨ amlich was die Un¨ ahnlichkeit ist?“ ( 129a1f.). Sowohl im Phaidon als auch im Parmenides geht es aber nicht nur dar¨ um, dass Sch¨ onheit und Ahnlichkeit Bestimmtheiten sind, die von anderen Bestimmtheiten zu unterscheiden sind; es geht nicht nur darum, dass es ¨ sich bei Sch¨ onheit und Ahnlichkeit um ein handelt. In beiden F¨ allen soll die Bestimmtheit auch selbst f¨ ur sich selbst“ ( ) sein. Der ” junge Sokrates im Parmenides formuliert seine Ideenannahme zwar beinahe w¨ ortlich wie der reife im Phaidon, aber es gelingt dem jungen nicht, die eigenen Worte zu erkl¨ aren und Rechenschaft von seiner Ideenannahme abzulegen. Die Aporien, in die Parmenides ihn f¨ uhrt, spielen verschiedene M¨ oglichkeiten durch, wie die Idee, ihr Selbst-f¨ ur-sich-selbst-Sein und die Teilhabe der Instanzen nicht zu verstehen sind. Wenn die Unterscheidung von Idee und Instanz bzw. Bestimmtheit und Bestimmtem Zenons Widerspruch l¨ osen soll, dann entspringt dieser Widerspruch – so wie Sokrates ihn im Parmenides interpretiert – der Nicht-Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem. Wenn etwas Seiendes ¨ ahnlich ist, Bestimmtes und Bestimmtheit aber nicht unterschieden werden, dann ist einerseits die ¨ ahnliche Sache nur ¨ ahnlich, 11
Vgl. dazu Kapitel 1.2.
Sokrates’ Einf¨ uhrung der Ideen im Parmenides
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¨ andererseits ist Ahnlichkeit nichts anderes als genau dieser konkrete Gegenstand. Wenn Zenon aus der Voraussetzung der Vielheit des Seienden herleitet, dass es ¨ ahnlich und un¨ ahnlich ist, dann bedeutet das: Dasjenige, was nur ¨ ahnlich ist, ist zugleich nur un¨ ahnlich, woraus mit der Nicht¨ Unterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem folgt, dass Ahnlichkeit und Un¨ ahnlichkeit ein und dasselbe sind. Das ist aber – wie Zenon feststellt – unm¨ oglich. Sobald Sokrates Bestimmtheit und bestimmte Sache unterscheidet und damit vielfache Bestimmung derselben Sache erm¨ oglicht, kann die Sache verschiedene Bestimmtheiten haben, sie kann zugleich so und anders bestimmt sein, wobei derselben Sache die verschiedenen Bestimmtheiten jeweils in verschiedener Hinsicht bzw. zu einem anderen Zeitpunkt zukommen. Damit l¨ asst sich widerspruchsfrei u ¨ber dieselbe Sache sagen, dass sie ¨ ahnlich und un¨ ahnlich ist. W¨ ahrend der junge Sokrates Zenons Problem damit f¨ ur gel¨ ost h¨ alt, wirft er ein anderes Problem auf: Dass etwas an den entgegengesetzten ¨ Bestimmtheiten von Ahnlichkeit und Un¨ ahnlichkeit teilhat und damit zugleich ¨ ahnlich und un¨ ahnlich ist, h¨ alt Sokrates nicht f¨ ur erstaunlich“ ” ( 129b1); ein Wunder“ ( 129b2) dagegen w¨ are es, wenn ”¨ jemand zeigte, dass das Ahnliche selbst un¨ ahnlich oder das Un¨ ahnliche ahnlich ist. Man kann das von Sokrates damit aufgeworfene Problem ¨ auf zwei Weisen verstehen: Ein Wunder, n¨ amlich im Sinne dessen, was nicht sein kann, w¨ are der Nachweis, dass eine Bestimmtheit zugleich die ¨ ihr entgegengesetzte Bestimmtheit ist. Wenn n¨ amlich die Ahnlichkeit die Un¨ ahnlichkeit, die Einheit die Vielheit und jede Bestimmtheit zugleich eine andere Bestimmtheit ist, dann l¨ ost sich das unterscheidende Denken u alt es sich dagegen, wenn es darum geht, ¨berhaupt auf. Anders verh¨ ¨ ob die Bestimmtheit der Ahnlichkeit und so auch die anderen Bestimmtheiten ¨ ahnlich oder un¨ ahnlich sind, eine Einheit oder eine Vielheit sind. Die Dialektik der gr¨ oßten Gattungen im Sophistes hat gezeigt, dass jede Bestimmtheit qua Bestimmtheit mit sich selbst identisch und von anderen Bestimmtheiten verschieden ist. Dass die Selbigkeit und alle anderen Bestimmtheiten jeweils mit sich selbst identisch und von allen anderen Bestimmtheiten verschieden ist, bedeutet zwar nicht schon, dass auch die ¨ ¨ Ahnlichkeit ahnlich und un¨ ahnlich ist – m¨ oglicherweise ist Ahnlichkeit im ¨ Gegensatz zur Selbigkeit keine auf Bestimmtheiten anwendbare Kategorie –, aber das Problem erscheint von der Dialektik der gr¨ oßten Gattungen her in einem anderen Licht.
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5.3 Parmenides 130b-130d: Wovon gibt es Ideen? In der Auseinandersetzung mit Zenon hat Sokrates bereits Ideen von ¨ Ahnlichkeit und Un¨ ahnlichkeit, Vielheit und Einheit, Ruhe und Bewegung und allem dergleichen“ (129d8-e2) angenommen; zu den nicht einzeln auf” gez¨ ahlten Ideen dieser Gruppe k¨ onnten die u oßten Gattungen des ¨brigen gr¨ Sophistes z¨ ahlen, also Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit, ferner solche Bestimmtheiten wie Gleichheit und Ungleichheit (vgl. Phaidon 74a10), Teil und Ganzes, geometrische Formen (vgl. Philebos 62a, Siebter Brief 342c9, d3) und die u ¨brigen Zahlbestimmungen (vgl. Phaidon 103e-104b), eventuell auch ¨ alter“ und j¨ unger“ als Bestimmungen der Zeitlichkeit. 12 ” ” Parmenides befragt nun Sokrates dar¨ uber, wovon u ¨berhaupt Ideen anzunehmen sind. Bei der ersten Gruppe von Ideen, nach denen Parmenides Sokrates fragt, handelt es sich um die Ideen des Gerechten, Sch¨ onen und Guten und alle dergleichen“ (130b7-9); bei den u ¨brigen Ideen, die in diese ” Gruppe geh¨ oren, d¨ urfte es sich um die so genannten Tugendideen handeln, n¨ amlich Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit, und Fr¨ ommigkeit. Vertreter dieser Ideengruppe werden in den Dialogen h¨ aufig stellvertretend f¨ ur die Ideen insgesamt genannt. Bei diesen Bestimmtheiten hat Sokrates keine Bedenken, von Ideen zu sprechen. Das Gerechte, Gute, Sch¨ one und die Tugendideen sind Bestimmtheiten von der Bestheit“ ( ) einer Sache; ” dabei ist zu beachten, dass es zwar Ideen vom Gerechten, Guten, Sch¨ onen etc. gibt, nicht aber vom Ungerechten, B¨ osen oder H¨ asslichen (vgl. dazu Theaitetos 176a5f.). 13 Als n¨ achstes fragt Parmenides nach den Ideen von Mensch 14 , Feuer und Wasser (130c1-3). Zu dieser Ideengruppe d¨ urften die Ideen der u ¨brigen Lebewesen (vgl. Philebos 15a4f., Timaios 40a1f., Siebter Brief 342d6f.) und der u ¨brigen Elemente Erde und Luft (vgl. Timaios 51b8ff.) geh¨ oren. Bei diesen Ideen ist Sokrates bereits im Zweifel, ohne den Grund seines Zweifels anzugeben. An dritter Stelle fragt Parmenides nach l¨ acherlichen“ ( ) Gegenst¨ anden wie Haar, Kot und Schmutz, ” ob auch von diesen Ideen anzunehmen sind (130c7-9). Diese Gruppe von Gegenst¨ anden ist durch ihre ¨ außerste W¨ urdelosigkeit ( ) gekennzeichnet. Hier ist der junge Sokrates nicht nur im Zweifel, sondern 12
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Bei dieser ersten Gruppe von Bestimmtheiten w¨ urde es sich dann im Wesentlichen um diejenigen Kategorien handeln, unter denen das Eine in den ersten beiden Hypothesen im zweiten Teil des Parmenides diskutiert wird. Theaitetos 176e3f. nennt Sokrates ein Paradigma des Ung¨ ottlichen“ ( ” ); Demos (1968, S. 142) spricht in diesem Zusammenhang von anti” forms“. Sokrates kontrastiert im Kontext der Stelle das gute Leben mit dem schlechten; seine Beschreibung des schlechten Lebens dient dabei als Paradigma“. Sokrates ” spricht also u ¨ber mehr oder weniger gelingende Instantiierungen des Mensch-Seins, nicht u ber eine Platonische Idee. ¨ Vgl. Theaitetos 174b4.
Parmenides 130b-130d: Wovon gibt es Ideen?
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lehnt hierf¨ ur die Annahme von Ideen entschieden ab. Seine Ablehnung speist sich aus der Furcht, in einem Abgrund von Geschw¨ atz zu versinken. Allerdings beunruhigt ihn die Frage, ob nicht f¨ ur alle Dinge dasselbe gelte (130d3-9). Parmenides erwidert Sokrates’ Zweifel mit dem Hinweis, dass Sokrates noch jung sei und die Philosophie noch nicht so Besitz von ihm ergriffen habe, wie sie das noch tun werde, und dass Sokrates noch zu sehr auf die Meinungen der Menschen R¨ ucksicht nehme (130e1-4). 15 Entscheidend f¨ ur die Interpretation ist, dass Parmenides Sokrates tadelt, weil er f¨ ur bestimmte Dinge keine Ideen annimmt. Die von Platon intendierte Ideenlehre ist zumindest frei von denjenigen Beschr¨ ankungen des Ideenbereichs, die der junge Sokrates erw¨ agt. Andererseits macht der Dialog u ankung des Ideenbereichs hinaus kei¨ber den Tadel der Beschr¨ ne positive Aussage dar¨ uber, wovon Ideen anzunehmen sind. Betrachtet man die in diesem Abschnitt genannten Ideen, dann handelt es sich neben derjenigen des Siebten Briefes (342d) um eine der umfassendsten Ideenlisten in Platons Texten; u ¨blicherweise werden als Beispiele lediglich drei oder vier Ideen genannt und die Aufz¨ ahlung mit einer Floskel wie und ” von allem, was wir bezeichnen als dies selbst, was es ist“ ( Phaidon 75d1f.) beendet. Die Verallgemeinerung, die in dem (Phaidon 75d1) liegt, 15
Platon nennt an verschiedenen Stellen weitere Ideen, die in obiger Liste noch nicht ber¨ ucksichtigt sind: Ideen von Artefakten wie Tisch, Bett und Weberlade (Politeia 596b3-4, Kratylos 389b5, Siebter Brief 342d5), die Bestimmtheiten von Farbe (Kratylos 423e3, Theaitetos 182d3, Siebter Brief 342d4) und Stimme (Kratylos 423e3), von Gesundheit und St¨ arke (Phaidon 65d8), von Gegens¨ atzen wie Gr¨ oße und Kleinheit, Dicke und D¨ unnheit, Weichheit und H¨ arte (Politeia 523e), W¨ arme und K¨ alte (Phaidon 103dff.), Ideen von Herrschaft und Knechtschaft (Parmenides 133e), von Wissen und Wahrheit (Parmenides 134a), die Idee des Namens (Kratylos 390a5f.) und die Idee der Geschwindigkeit (Laches 192a1). Hinsichtlich der Ideen von Artefakten ist zu beachten, dass Aristoteles dergleichen in Abrede stellt, aber ohne Platon namentlich als Vertreter dieser Ansicht zu erw¨ ahnen, siehe Metaphysik B 4, 999b17-20; H 3, 1043b18-21; K 2, 1060b27f.; vgl. B 1, 995b34-36. Metaphysik Λ 3, 1070a18f. scheint Aristoteles Platon daf¨ ur zu loben, Ideen nur von nat¨ urlichen Dingen anzunehmen. Bei genauerem Hinsehen ist das aber nicht der Fall: Aristoteles hat zuvor ausgef¨ uhrt, dass 1070a14) dem Einzelding gebe; es im Falle von Artefakten keine Idee neben ( wenn es u ¨berhaupt Ideen (sc. neben den Einzeldingen) gebe, dann habe Platon nicht schlecht gesagt, dass es Ideen (sc. neben den Einzeldingen) f¨ ur alle nat¨ urlichen Dinge gibt (1070a18f.). Hierbei kann durchaus gemeint sein, dass – nach Aristoteles – Platon mit Sicherheit falsch liegt bei seiner Annahme von Ideen f¨ ur Artefakte; das impliziert aber, dass Platon Ideen f¨ ur Artefakte angenommen hat. Zu dieser Argumentation siehe Bluck (1947, S. 125). Zumindest w¨ urde sich Aristoteles nach dieser Interpretation nicht selbst widersprechen, denn Metaphysik A 6, 987b8-10 schreibt er namentlich Platon die Annahme von Ideen f¨ ur alles Wahrnehmbare zu – mithin auch f¨ ur Artefakte; ferner impliziert Aristoteles 988a3-4 die Annahme von Ideen von Artefakten f¨ ur die Platoniker. Zur Sache vgl. Cherniss (1962, S. 241-245).
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ist nicht als eine unbestimmte Ausweitung auf andere F¨ alle zu verstehen, vielmehr gilt: F¨ ur jegliche Bestimmtheit ist eine Idee anzunehmen. 16
5.4 Parmenides 130e-131e: Idee als Segeltuch“ ” Parmenides greift Sokrates’ Vorschlag der Ideenannahme auf, wonach die Ideen Bestimmtheiten sind, die Instanzen durch die Ideen bestimmt und nach den Ideen, an denen sie teilhaben, benannt werden (130e5-131a3). Der Zusammenhang zwischen dem Bestimmt-Werden der Instanz durch die Idee und dem Benannt-Werden nach der Idee besteht darin, dass die Benennung nicht als ein bloßes Zeigen und der Name bloß als Zeiger zu verstehen ist, sondern der Name bezeichnet die benannte Sache als etwas Bestimmtes, durch die Benennung wird das Benannte bereits bestimmt. Die Benennung einer sch¨ onen Sache als sch¨ on“ erfasst diese als etwas ” Bestimmtes, n¨ amlich als eine durch die Bestimmtheit des Sch¨ onen bestimmte Sache. Wenn das Nennen die Bestimmtheit einer Sache erfasst, die Bestimmtheit der Sache aber von der Idee her zukommt, dann ist es nur konsequent, dass die Instanz nach ihrer Idee benannt wird. Soweit ist gegen Parmenides’ Aufnahme der Ideenlehre nichts einzuwenden. Dann aber fragt Parmenides Sokrates, ob eine Instanz an der ganzen Idee teilnehme oder nur an einem Teil von ihr oder ob es noch eine andere M¨ oglichkeit gebe (131a5-7). Sokrates sieht keine andere M¨ oglichkeit und gesteht Parmenides damit zu, dass eine Instanz entweder an der ganzen Idee teilhat oder nur an einem Teil der Idee. Dieses Zugest¨ andnis ist der Ausgangspunkt f¨ ur die erste Aporie, aber durchaus nicht der entscheidende Fehler, den Sokrates in diesem Gedankengang macht. 17 Denn im n¨ achsten Schritt fragt Parmenides seinen Gespr¨ achspartner, ob nun die ganze Idee, die eine ist, in jeder ihrer Instanzen ist ( 131a9f.). Mit der 16
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F¨ ur Kommentarliteratur zu der Frage des Umfangs des Ideenbereichs siehe Graeser (1991, S. 382 Anm. 42) und Gonzalez (2002, S. 67 Anm. 18-22), zur Sache vergleiche ferner Angehrn (2000, S. 239-249). Eine besondere Rolle in diesem Zusammenhang spielt die Formel des Einen u ¨ber den Vielen“ (Politeia 596a6, Parmenides 132a2f., ” vgl. auch Aristoteles Metaphysik A 9, 990b13), wonach jeweils eine Idee anzunehmen ist u al¨ber den vielen bestimmten Dingen. Problematisch ist diese Formel in allen F¨ len, in denen es nur eine oder gar keine Instanz zu einer Bestimmtheit gibt, weil in diesen F¨ allen mangels der Vielen“ keine Idee anzunehmen w¨ are. Die Bestimmthei” ten sind aber Bestimmtheiten unabh¨ angig von ihrer Realisierung in Instanzen; die Bestimmtheiten sind Seinsm¨ oglichkeiten unabh¨ angig von der welthaften Wirklichkeit ihrer Instanzen. Bei den Vielen“ geht es also um die vielen m¨ oglichen Instanzen, nicht ” um die wirklichen. Peck (1952/1953, S. 35) h¨ alt genau dieses Zugest¨ andnis f¨ ur Sokrates’ entscheidenden Fehler; Platon, so Peck (1952/1953, S. 34), h¨ atte dieses Zugest¨ andnis verweigert.
Parmenides 130e-131e: Idee als Segeltuch“ ”
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Formulierung des In-Seins der Idee in der Instanz nimmt Platon eine Redeweise aus dem Phaidon wieder auf, wo Sokrates von der Gr¨ oße in uns“ ” ( , Phaidon 102d7) spricht. Parmenides versteht das In-Sein der Idee in der Instanz r¨ aumlich, als ob die Idee ein ausgedehnter Gegenstand w¨ are, der in einem anderen ausgedehnten Gegenstand enthalten ist. An genau dieser Stelle h¨ atte Sokrates widersprechen m¨ ussen, denn weder ist eine Bestimmtheit ein r¨ aumlich ausgedehnter Gegenstand, noch ist Teilhabe als das Sein eines Gegenstandes, der Idee, in einem anderen Gegenstand, der Instanz, zu verstehen. Parmenides dagegen macht die Idee zu einem materiellen Ding. 18 Denn wenn die ganze Idee zugleich in ( 131b2) den vielen r¨ aumlich voneinander getrennten ( 131b1) Instanzen ist, dann w¨ are die Idee auf diese Weise von sich selbst getrennt ( 131b2). Das Ideen-Ding w¨ urde in abgetrennte Teile zerlegt oder es w¨ are als Ganzes zugleich an verschiedenen Orten. Sokrates versucht mit einer guten Intuition, das Konzept der Teilhabe durch die Analogie zu retten, ein Tag k¨ onne als ein und derselbe zugleich an vielen Orten sein (131b3-6). Parmenides greift diesen Gedanken auf, f¨ uhrt ihn aber erneut in die Aporie, indem er eine Analogie zur Analogie anf¨ uhrt: Er vergleicht den Tag mit einem Segeltuch, das zugleich u ¨ber viele Menschen ausgespannt wird. Das Segeltuch ist aber nicht als Ganzes u ¨ber jedem einzelnen Menschen ausgespannt, sondern jeweils nur ein Teil. Entsprechend der Segeltuch-Metapher k¨ onne also die Idee nicht als ganze in den verschiedenen Instanzen sein. Parmenides schl¨ agt deshalb vor, nicht die ganze Idee, sondern nur ein Teil von ihr sei in ihren Instanzen (131c5-7). Ausgehend von dieser Annahme wird die zweite Aporie in drei Varianten entwickelt: 1) Wenn die großen Dinge durch einen Teil der Idee des Großen groß w¨ aren, der Teil der Idee des Großen aber kleiner w¨ are als die ganze Idee, dann w¨ are ein großes Ding groß durch etwas, das kleiner ist als das Große selbst. 2) Wenn ein gleichgroßes Ding gleichgroß w¨ are durch einen Teil der Idee des Gleichgroßen, der Teil der Idee des Gleichgroßen aber kleiner w¨ are als die ganze Idee, dann w¨ are ein gleichgroßes Ding gleichgroß durch etwas, das kleiner ist als das Gleichgroße selbst. 3) Wenn ein kleines Ding klein w¨ are durch einen Teil der Idee des Kleinen, der Teil der Idee des Kleinen aber kleiner w¨ are als die ganze Idee, dann w¨ are die ganze Idee des Kleinen gr¨ oßer als ihr Teil, und ein Ding, dem dieser Teil der Kleinheit zugesetzt w¨ urde, w¨ urde durch diese Zuga18
Miller (1986, S. 49). Vgl. Cornford (1939, S. 85-87) und Kutschera (1995, S. 25-28), die – wie in Anmerkung 4 auf Seite 100 bereits erw¨ ahnt – diese Ansicht auf Eudoxos zur¨ uckf¨ uhren. Eine Parallelstelle f¨ ur dieses dingliche Ideen- und Teilhabeverst¨ andnis ist Hippias Maior 289e, wo Hippias behauptet, das Sch¨ one sei nichts anderes als Gold 289e5), erscheine dadurch als und alles, zu dem das Gold hinzukomme ( sch¨ on. Parmenides behandelt die Idee wie einen Klumpen Gold, der entweder ganz oder teilweise in den goldenen Dingen ist.
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be kleiner statt gr¨ oßer. Alle drei Varianten der Aporie beruhen darauf, dass die Ideen der Gr¨ oße, des Gleichgroßen und des Kleinen selbst als ein großes, gleichgroßes und kleines Ding verstanden werden. Teilhabe wird aufgefasst als w¨ urde dem Ideen-Ding ein dinglicher Teil weggenommen, der der Instanz hinzugef¨ ugt wird. Die Aporien eines dinglichen Ideen- und Teilhabeverst¨ andnisses zielen darauf, dass Ideen und Teilhabe so nicht gedacht werden d¨ urfen. 19 Die bisher entwickelten Aporien entspringen folgerichtig aus der Verdinglichung der Idee. Eine entwickelte Ideenlehre muss die Verdinglichung der Idee vermeiden. Wie ist nun die Frage, ob die Instanzen an einem Teil oder an der ganzen Idee teilhaben, zu beantworten? Die Antwort auf diese Frage h¨ angt davon ab, was denn Teil“ einer Bestimmtheit sein soll: ” Angenommen eine Bestimmtheit ließe sich durch eine Definition angeben. Die Definition einer Bestimmtheit rekurriert notwendig auf andere Bestimmtheiten, so rekurriert eine Definition nach dem Schema von genus proximum et differentia specifica auf eine Gattungsbestimmtheit und einen bestimmten Unterschied. Die Definition des Kreises als dasjenige, was von seinen ¨ außersten Punkten zur Mitte u ¨berall gleichweit entfernt ist (Siebter Brief 342b7f.), rekurriert auf die Bestimmtheiten des Punk¨ tes, der Mitte und der Aquidistanz. Sind die Bestimmtheiten, auf die eine Definition notwendig zur¨ uckgreift, Teile“ der definierten Bestimmtheit? ” Wenn es sich um Teile handelte, dann k¨ onnte zumindest keine Rede davon sein, dass der eine Teil ausschließlich in der einen und der andere Teil ausschließlich in einer anderen Instanz enthalten w¨ are. Denn bei verschiedenen Instanzen der Bestimmtheit Kreis ist nicht die Bestimmtheit der ¨ Mitte ausschließlich an dem einen Kreis, w¨ ahrend sich die Aquidistanz nur an einem anderen findet. Von Teilen“ einer Bestimmtheit k¨ onnte aber auch noch in anderem ” Sinne die Rede sein: Eine Bestimmtheit ist eine Einheit, die in ihren In19
Diese Interpretation teilen z. B. Gerson (1981, S. 20) und Wieland (1999, S. 115-122). Allerdings sieht Wieland (1999, S. 115) in jeglicher Thematisierung von Ideen bereits den ersten Schritt zu ihrer Verdinglichung, das gelte insbesondere bereits f¨ ur die Unterscheidung eines Pr¨ adikats von dem, wovon dieses Pr¨ adikat ausgesagt werden soll. Der Interpretation der Aporien als einer Warnung vor Verdinglichung steht die verbreitete Ansicht gegen¨ uber, dass die Idee des Großen durchaus ein (großes) Ding ist. In diesem Sinne behauptet etwa Kutschera: Man kann aber die Ideen Platons nicht ” einfach als Attribute ansehen, denn f¨ ur ihn waren sie auch Gegenst¨ ande, Universalien und zugleich Individuen“, wobei Kutschera auf Aristoteles verweist, der das als Grundfehler der Ideenlehre angesehen habe, vgl. Kutschera (1995, S. 31, vgl. 35). Im Hinblick auf alle Interpretationen, die Bestimmtheiten als Dinge ausgeben, gilt: Es ist u onnen. Dar¨ uber scheint ¨berhaupt nicht einzusehen, wie Bestimmtheiten Dinge sein k¨ unter Kommentatoren auch weitgehend Einigkeit zu bestehen. Umso mehr Vorsicht ist geboten, bevor man Platon diese Lehre zuschreibt. Die Interpretation der Aporien des ersten Teiles des Parmenides als eine Abwehr von Missverst¨ andnissen vermeidet es, Platon diese unsinnige Ansicht zu unterstellen.
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stanzen auf verschiedene Weisen realisiert wird. Die eine Bestimmtheit des Kreises wird von Kreisen mit jeweils anderem Durchmesser unterschiedlich realisiert. Nun k¨ onnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Gr¨ oße der verschiedenen Kreise mit ihrer Bestimmung als Kreis nichts zu tun habe, die Kreisheit“ der verschiedenen Kreise sei mithin dieselbe und ” werde nicht auf jeweils unterschiedliche Weise realisiert. Die Bestimmtheit des Kreises w¨ are dann losgel¨ ost von der Gr¨ oße der verschiedenen Kreise, sie w¨ are in diesem Sinne abstrakt. Ein anderes Beispiel zeigt den Nachteil einer solchen Ideenkonzeption: Die Bestimmtheit des Menschen wird von verschiedenen Menschen jeweils unterschiedlich verwirklicht. Menschen haben eine Gestalt, ein Geschlecht, sie gr¨ unden Familien, bet¨ atigen sich politisch, k¨ unstlerisch oder philosophisch. Auch hier k¨ onnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass all diese spezifischen Ausformungen mit der Bestimmtheit des Mensch-Seins nichts zu tun h¨ atten. Das Mensch-Sein w¨ are dann losgel¨ ost von der famili¨ aren, beruflichen, k¨ unstlerischen oder intellektuellen Bet¨ atigung. Eine solche Bestimmtheit des Mensch-Seins w¨ are zwar allgemein, aber sie w¨ are abstrakt und losgel¨ ost von demjenigen, worin das Mensch-Sein erst zu seiner intensiven Auspr¨ agung kommt. Wenn aber das Mensch-Sein eines Menschen nicht gleichg¨ ultig ist gegen¨ uber der spezifischen Art und Weise, wie dieser Mensch seine M¨ oglichkeiten entfaltet und sein Mensch-Sein individuell verwirklicht, dann ist auch die Bestimmtheit des Menschen nicht losgel¨ ost von den besonderen Ausformungen, in denen das Mensch-Sein durch die einzelnen Menschen realisiert werden kann. Die Bestimmtheit des Menschen ist nicht abstrakt und leer, sondern sie ist die F¨ ulle aller m¨ oglichen besonderen Ausformungen des Mensch-Seins. Weil die M¨ oglichkeiten des Mensch-Seins weder durch obige Aufz¨ ahlung noch durch die zahlreichen Ausformungen des Mensch-Seins der bisherigen oder zuk¨ unftigen Menschen ersch¨ opft wer¨ den, ist die Idee des Menschen die Uberf¨ ulle 20 aller Seinsm¨ oglichkeiten des Menschen. Dabei ist zu beachten, dass den verschiedenen Menschen das Mensch-Sein in gleicher Weise zukommt: Wer blonde Haare und blaue Augen hat, ist weder mehr noch weniger Mensch als der Dunkelhaarige mit braunen Augen. Es gibt auch nicht eine Idee f¨ ur politische Menschen und eine andere f¨ ur Privatleute, so dass beide Menschen Exemplare un¨ terschiedlicher Arten w¨ aren. Die Idee ist nicht nur Uberf¨ ulle aller Seinsm¨ oglichkeiten des Menschen, sie ist zugleich auch eine Einheit. Die Idee 20
¨ Von der Uberf¨ ulle“ ( ) sprechen Plotin: Enneade V.2.1 und Proklos: Die ” Elemente der Theologie, Prop. 131 und 152, vgl. Dodds (1963, S. 116f. und 134f.). ¨ Beiden geht es um ein Prinzip, das aufgrund seiner Uberf¨ ulle Prinzipiiertes aus sich ¨ entl¨ asst. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der Uberf¨ ulle in einem schlichteren Sinn verwendet: Er bezeichnet hier nicht den Sachverhalt, dass die Ideen die Welt aus sich entlassen, sondern die Unersch¨ opflichkeit der f¨ ur das Werden bereitgestellten Seinsm¨ oglichkeiten.
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des Menschen zerf¨ allt nicht in viele Ideen; die eine Bestimmtheit des Menschen zerf¨ allt nicht in viele besondere Seinsm¨ oglichkeiten. ¨ Wenn man die Idee als einheitliche Uberf¨ ulle aller Seinsm¨ oglichkeiten denkt, sind dann die verschiedenen Seinsm¨ oglichkeiten Teile“ der einen ” Bestimmtheit des Menschen? Ist ein Teil dieser Idee in dem einen Menschen und ein anderer Teil in einem anderen, wenn verschiedene Menschen doch jeweils verschiedene M¨ oglichkeiten des Mensch-Seins realisieren? Die Terminologie von Ganzem und Teil ist irref¨ uhrend, die besonderen Ausformungen sind nicht Teile der Idee: Man kann die besonderen Ausformungen nicht aus der einen Idee herausl¨ osen und isolieren. Eine besondere Ausformung, z. B. die k¨ unstlerische Bet¨ atigung, ist von dem Mensch-Sein nicht zu l¨ osen; der K¨ unstler kann sich nicht k¨ unstlerisch bet¨ atigen, ohne dabei zugleich sein Mensch-Sein zu verwirklichen. Andererseits ist die Bestimmtheit des Menschen auch nicht ein Ganzes aus Teilen, gleichsam zusammengesetzt aus den besonderen Ausformungen des Mensch-Seins: Der einzelne Mensch kann auch ohne k¨ unstlerische Bet¨ atigung voll und ganz Mensch sein; ein Mensch, der eine besondere Seinsm¨ oglichkeit des Mensch-Seins verwirklicht, ist nicht nur teilweise Mensch, weil er andere besondere Seinsm¨ oglichkeiten nicht verwirklicht. Wenn man die Redeweise von Ganzem und Teil und dem In-derInstanz-enthalten-Sein der Idee nicht als Verdinglichung ganz verwerfen will, dann ist sie dialektisch zu verstehen: Die Idee bestimmt ihre Instanz, sie ist zugleich ganz und teilweise“ in der Instanz; der einzelne Mensch ” ist ganz Mensch, indem er eine besondere Seinsm¨ oglichkeit des MenschSeins verwirklicht; ein einzelner Mensch ist im emphatischen Sinne ganz Mensch, indem er einen Teil“ der Idee, d. h. eine besondere Seinsm¨ oglich” keit, intensiv auspr¨ agt. Andererseits ist die Idee weder ganz noch teilweise ¨ in der Instanz, denn die einheitliche Uberf¨ ulle aller Seinsm¨ oglichkeiten ist dem zeitlichen Werden, dem ihre Instanzen unterliegen, enthoben. Insofern die Idee dem Bereich des Seins, die Instanz dem Bereich des Werdens zugeh¨ ort, kann die seiende Idee weder ganz noch teilweise in der Instanz sein; insofern aber die Instanz durch die Idee bestimmt ist, kann die Idee unm¨ oglich nicht in der Instanz sein. Die Idee selbst ist einerseits ¨ ein Ganzes aus Teilen, denn wenn der Uberf¨ ulle aller Seinsm¨ oglichkeiten ¨ eine Seinsm¨ oglichkeit fehlte, w¨ are sie nicht mehr die ganze Uberf¨ ulle aller Seinsm¨ oglichkeiten. Andererseits ist die Idee kein Ganzes aus Teilen, weil sich kein Teil von dem Ganzen isolieren l¨ asst; das Ganze ist immer schon in jedem Teil, denn in der besonderen Seinsm¨ oglichkeit verwirklicht sich das ganze Mensch-Sein.
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5.5 Parmenides 131e-132b: der Dritte Mensch“ (1) ” Diese und die 132c-133a entwickelte Aporie werden in Anlehnung an den Aristotelischen Sprachgebrauch mit dem Stichwort des Dritten Men” schen“ bezeichnet. 21 Die erste Aporie geht von der der Ideenannahme zugrunde liegenden Einsicht aus, dass sich in allen Instanzen eine und dieselbe Form zeigt (132a2f.), die der Grund daf¨ ur ist, dass den Instanzen die entsprechende Bestimmtheit zukommt. Betrachtet man die großen Dinge und die Gr¨ oße selbst, zeigt sich in ihnen nicht ebenfalls eine und dieselbe Form, die den großen Dingen und der ersten Idee der Gr¨ oße auf Grund einer zweiten Idee der Gr¨ oße zukommt und so weiter ad infinitum? 22 Die Aporie beruht auf der Annahme, dass der Idee die Bestimmtheit, die sie ihren Instanzen vermittelt, auch selbst zukommt: Die Idee der Gr¨ oße ist selber groß. So w¨ are die Gr¨ oße selber groß durch die Teilnahme“ an sich ” selbst oder an einer weiteren Idee des Großen. Einige Textstellen scheinen so etwas wie Selbstpr¨ adikation der Ideen durchaus nahezulegen; so ist etwa nach Protagoras 330c-e die Gerechtigkeit gerecht und die Fr¨ ommigkeit fromm, nach Phaidon 74d ist die Gleichheit gleich, nach Symposion 210e-211b das Sch¨ one sch¨ on und nach Sophistes 254d die Selbigkeit selbig, vgl. auch Sophistes 258c1-3; ferner k¨ onnte man alle Textstellen, an denen von der Idee als einem , z. B. Timaios 48e5f., die Rede ist, dahingehend interpretieren, dass die Idee als Instanz ihrer selbst zu verstehen ist, dass also z. B. die Idee des Wassers selbst w¨ assrig ist. Man kann die scheinbar selbstpr¨ adikativen Formulierungen allerdings auch anders verstehen: Das Sch¨ one ist sch¨ on nicht wie ein sch¨ ones Ding, sondern es ist diejenige Bestimmtheit, die alles 21
22
Metaphysik A 9, 990b17; Z 13, 1039a2; K 1, 1059b8. Vgl. auch Sophistische Widerle(Hayduck, 1891, 83.34-84.7, 84.21gungen 178b36ff. und die Diskussion in 85.12), u ¨bersetzt bei Graeser (1998, S. 135f.). Relevante Parallelstellen bei Platon sind Politeia 597c und Timaios 31af. Eine Zusammenstellung der ¨ außerst umfangreichen Kommentarliteratur findet sich in Welton (2002, S. 26f., Anm. 40-47, siehe auch S. 6). Richtungweisend f¨ ur die neuere Forschung war Vlastos (1968). In erster Version wurde sein Beitrag bereits 1954 ver¨ offentlicht. Im Anschluss an Vlastos kreist die Diskussion vor allem um die Formulierung der f¨ ur einen g¨ ultigen Schluss zu erg¨ anzenden Pr¨ amissen. Nach Vlastos – und darin sind ihm mit Variationen viele Kommentatoren gefolgt – handelt es sich dabei um die Self-Predicaton Assumption“ und die Nonidentity Assumption“. Die Self” ” ” Predication Assumption“ lautet: Any Form can be predicated of itself. Largeness is ” itself large. F -ness is itself F“ (Vlastos, 1968, S. 236); die Nonidentity Assumption“ ” lautet in ihrer ersten Formulierung: If anything has a certain character, it cannot be ” identical with the Form in virtue of which we apprehend that character. If x is F, x cannot be identical with F -ness“ (Vlastos, 1968, S. 237). Auf dieser Grundlage ist die Frage, ob es in Platons Ideenlehre zu Regressen von der Art des Dritten Menschen“ ” kommt, zu behandeln als die Frage, ob Platon die Self-Predication Assumption“ und ” die Nonidentity Assumption“ teilt. ”
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Sch¨ one erst zu etwas Sch¨ onem macht; das Sch¨ one ist sch¨ on in dem Sinne, dass es dasjenige ist, was das Sch¨ on-Sein u ¨berhaupt ist. Die Aussage das ” Sch¨ one ist sch¨ on“ ist nach dieser Interpretation nicht bloß als Tautologie im Sinne von das Sch¨ one ist das Sch¨ one“ zu verstehen, sondern dahinge” hend, dass es die Bestimmtheit des Sch¨ onen ist, die ein sch¨ ones Ding erst zu etwas Sch¨ onem macht; das eigentlich Sch¨ one an einem sch¨ onen Ding ist nicht die Gestalt oder die Farbe, sondern die Bestimmtheit des Sch¨ onen. Die scheinbar selbstpr¨ adikativen Aussagen weisen also nicht die Idee des Sch¨ onen als ein sch¨ ones Ding aus, sondern sie weisen umgekehrt darauf hin, dass es die Bestimmtheit ist, die die Instanz zu etwas Bestimmtem macht. Genau an der Stelle, wo Sokrates diesen Gedanken paradigmatisch formuliert, in der Zweiten Fahrt im Phaidon (100b5), f¨ uhrt er wenige Zeilen sp¨ ater (100c4-6) aus, dass alles Sch¨ one außer dem Sch¨ onen selbst durch die Teilhabe an der Idee des Sch¨ onen sch¨ on sei, und dasselbe gelte ur alle anderen Ideen. 23 auch f¨ In der Politeia unterscheidet Sokrates drei Bettgestelle“ (597c), n¨ am” lich das von einem K¨ unstler gemalte Bettgestell, das vom Handwerker angefertigte Bettgestell und die Idee des Bettgestells, die Gott gemacht habe; Gott hat aber nicht mehrere, sondern nur eine Idee des Bettgestells gemacht. Als Begr¨ undung erw¨ agt Sokrates, dass Gott es so wollte oder dabei einer Notwendigkeit gefolgt sei. Die Bedeutung dieser Textstelle, der ironische Ton und insbesondere der Verweis auf Gott als denjenigen, der die Ideen hervorbringt, ist unter Kommentatoren umstritten 24 , deutlich ist aber die Ablehnung mehrerer Ideen f¨ ur dieselbe Sache. Die Textstelle ist ein Hinweis darauf, dass Platon Ideenregresse – finit oder infinit – ablehnt. Wichtiger ist aber die Frage: Welcher Notwendigkeit k¨ onnte der Gott gefolgt sein, als er nur eine Idee des Bettgestells hervorbrachte? Als Bestimmtheiten sind zwei Ideen entweder identisch oder verschieden. Im ersten Fall handelt es sich nicht um zwei Ideen, sondern nur um eine einzige, denn zwei identische Bestimmtheiten lassen sich nicht wie zwei gleichartige Gegenst¨ ande, z. B. durch ihren unterschiedlichen Ort, unterscheiden. Im zweiten Fall handelt es sich zwar um zwei distinkte Ideen, aber weil es zwei verschiedene Bestimmtheiten sind, k¨ onnen sie nicht Ideen von derselben Sache sein. Von hier aus stellt sich die Frage, wie sich die Ideen eines vermeintlichen Regresses zueinander verhalten: Der einzelne Mensch (der erste Mensch“) wird bestimmt durch die Idee ” des Menschen (der zweite Mensch“), beide werden angeblich bestimmt ” 23
24
Auf diese Textstelle weist Kutschera (1995, S. 32) hin. Streng genommen sagt Sokrates an dieser Stelle allerdings nur, dass die Idee des Sch¨ onen nicht durch Teilhabe an sich selbst sch¨ on ist; er l¨ asst offen, ob die Idee des Sch¨ onen vielleicht ohne irgendwelche Teilhabe oder – analog zum Dritten Menschen“ – durch Teilhabe an einer weiteren ” Idee des Sch¨ onen sch¨ on ist. Vgl. dazu Griswold (1981) und Welton (2002, S. 25 Anm. 39).
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durch eine weitere Idee (der dritte Mensch“). Die Idee des Menschen und ” der vermeintliche dritte Mensch“ sind entweder identisch, dann liegt kein ” Regress vor, oder sie sind verschieden. Wenn beide verschieden sind, w¨ urde der einzelne Mensch (der erste Mensch“) zugleich und in derselben ” Hinsicht von zwei verschiedenen Ideen bestimmt, er w¨ are zugleich dieses und etwas anderes – das aber ist unm¨ oglich. Abgesehen von den genannten ambivalenten Formulierungen gibt es keine philosophische Begr¨ undung f¨ ur die Annahme, dass die Idee des Sch¨ onen selbst ein sch¨ ones Ding ist. Ein Verst¨ andnis von Selbstpr¨ adikation, das die Bestimmtheit zu einem bestimmten Ding in der werdenden Welt macht, ist seit den Fr¨ uhdialogen obsolet. Da die Idee des Sch¨ onen kein Ding ist, kann sie auch kein sch¨ ones Ding sein, mithin hat sie nicht an einer Idee der Sch¨ onheit teil. Ebenso gilt f¨ ur die Idee des Menschen, dass sie kein Mensch und f¨ ur die Idee des Roten, dass sie nicht rot ist. 25 Es gibt aber einige Ideen, die selbstpr¨ adikativ zu sein scheinen, ohne deswegen dem Bereich der werdenden Welt anzugeh¨ oren. Prominente Beispiele f¨ ur solche Bestimmtheiten sind die gr¨ oßten Gattungen von Selbigkeit und Verschiedenheit: Bestimmtheiten sind durch die Teilhabe an der Selbigkeit mit sich identisch und durch Teilhabe an der Verschiedenheit von allen anderen Bestimmtheiten verschieden. Die Selbigkeit ist identisch mit sich selbst, die Verschiedenheit ist verschieden von allen anderen Bestimmtheiten, hat also die Selbigkeit an der Selbigkeit und die Verschiedenheit an der Verschiedenheit teil? Selbst wenn das der Fall ist, f¨ uhrt das nicht zu einem infiniten Regress von Selbigkeiten und Verschiedenheiten; es f¨ uhrt nicht nur nicht zu einem infiniten Regress, sondern zu u ¨berhaupt keinem. Damit Regress zustande kommt, bedarf es nicht nur der Selbstpr¨ adikation, sondern auch der Nonidentity Assumption“: Die Selbigkeit ist iden” tisch mit sich selbst. Erst wenn der Selbigkeit ihre Selbigkeit durch die Teilhabe an einer anderen Idee der Selbigkeit zuk¨ ame, w¨ urde u ¨berhaupt ein Regress entstehen. Der Regress ließe sich also dadurch verhindern, 25
Erst als ein welthafter Tr¨ ager seiner eigenen Bestimmtheit w¨ urde die Idee mit ihrer Instanz dahingehend vergleichbar, dass nach einer gemeinsamen weiteren Bestimmtheit gefragt werden kann. Sayre erw¨ agt noch eine andere Interpretation f¨ ur die Vergleichbarkeit von Idee und Instanz. An der Formulierung der Aporie des Dritten Menschen“ ” hebt er hervor, dass die Seele u ¨ber alles, d. i. die Idee und die Instanzen, in gleicher 132a5f.): In effect, the upshot of reWeise blickt ( ” garding the Form with the ‘eye of the mind’ is to make it an object of appearance like the original n objects“ (Sayre, 1996, S. 81). Als gedachte Objekte scheinen Instanzen und Idee vergleichbar zu sein. An der Formulierung der Aporie im Parmenides vorbei geht aber Sayres Begr¨ undung der zus¨ atzlichen Idee (des dritten Menschen“): Als ” Objekt im Denken k¨ onne die urspr¨ ungliche Idee die Instanzen nicht l¨ anger bestimmen ( it is no longer capable of providing determination“), so dass eine zus¨ atzliche Idee ” notwendig wird.
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dass die Selbigkeit durch Teilhabe an sich selbst selbig ist. 26 Teilhabe ” an sich selbst“ ist aber ein Unbegriff: Einerseits w¨ are die Selbigkeit, was sie ist, und sie w¨ are es an sich; andererseits w¨ are sie nicht, was sie ist, um es dann durch Teilhabe an sich selbst doch zu sein. Anstatt aber bei der Selbigkeit der Selbigkeit mit sich selbst und bei der Verschiedenheit der Verschiedenheit von allen anderen Ideen an Selbstpr¨ adikation zu denken, scheint f¨ ur diese Bestimmtheiten zu gelten, dass das Verschiedene schon als Verschiedenheit ohne Teilhabe an sich selbst verschieden ist und ebenso dass die Selbigkeit selbig ist, nicht weil sie an sich selbst teilhat, sondern insofern sie die Selbigkeit ist. Entsprechend gilt auch f¨ ur die Ideen des Guten, Sch¨ onen, Gerechten und Frommen, dass die Idee des Guten ohne Teilhabe an anderem von sich her, d. h. insofern sie das Gute ist, schon gut ist; die Idee des Sch¨ onen ist sch¨ on, insofern sie das Sch¨ one ist etc. Der Aporie des Dritten Menschen“ liegt das Ideenverst¨ andnis zugrun” de, dass die Bestimmtheit selbst ein bestimmtes Ding, die Idee eine Instanz ihrer selbst ist. Entsprechend ist aus der Aporie die Lehre zu ziehen, dass es sich bei dieser Ideenkonzeption um ein Missverst¨ andnis handelt. H¨ alt man dagegen den kategorialen Unterschied zwischen Idee und Instanz fest, dann handelt es sich bei n Instanzen und der einen Idee nicht um eine Menge von n + 1 kommensurablen Objekten, die in gleicher Weise Instanzen einer zus¨ atzlichen Bestimmtheit sind. 27
5.6 Parmenides 132b-132c: Idee als Gedachtes“ ” Zur Vermeidung der Aporie des Dritten Menschen“ schl¨ agt Sokrates vor, ” die Idee als die eine sich in allen Instanzen zeigende Form sei lediglich 26
27
Im Gegensatz zu der Self-Predication Assumption“ gibt es auf die Nonidentity As” ” sumption“ in Platons Texten keine – auch keine ambivalenten – Hinweise. Siehe dazu Sayre (1996, S. 80 und S. 320 Anm. 52). Gerson bestreitet diese Interpretation und versucht zu zeigen, dass es plausibel ist, Idee und Instanzen zu einer Menge kommensurabler Objekte zusammenzufassen. Sein Argument besteht darin, dass in Idee und Instanz eine identische qualitative unity“ ” sei, vgl. (Gerson, 1981, S. 21). Die qualitative unity“ ist the ‘one over many’ that ” ” makes intelligible each and every instance“ (Gerson, 1981, S. 19). Die Einheit u ¨ber den vielen Einheiten ist die eine Bestimmtheit, die alle Instanzen zu so-bestimmten Dingen macht. Gerson macht die Einheit u ¨ber den vielen Instanzen zu einer Einheit 132a3, 6) ausgedr¨ uckten kategorialen Ununter vielen. Er hebt den in dem u ¨ber“ ( ” terschied wieder auf. Um Gersons Terminologie aufzunehmen: Die qualitative unity“ ” ist in den Instanzen, aber die qualitative unity“ ist nicht in der Idee, sondern sie ist ” die Idee.
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132b4f.). 28 Denn etwas Gedachtes in den Seelen“ ( ” als etwas Gedachtes w¨ are die Idee keine dingliche Instanz ihrer selbst, außerdem w¨ are sie nur eine, so dass es zu keinem Regress kommt. Sokrates’ Vorschlag w¨ urde also sowohl die Einheit als auch die Immaterialit¨ at der Idee bewahren. Gegen die Konzeption der Idee als entwickelt Parmenides seinen Einwand in zwei Schritten: Erstens k¨ onne ein Gedanke nicht ein Gedanke von Nichts“ ( 132b8f.), sondern ” nur von etwas“ ( 132b11) sein und zwar von etwas Seiendem. Dieses ” Seiende ist aber die eine u 132c3, 7) allen Instanzen sich zeigen¨ber“ ( ” de Form, die immer ist“ ( 132c6f.). Der Gegensatz von Nichts und ” etwas Seiendem ist auch hier nicht als Gegensatz zwischen Existierendem und Nicht-Existierendem zu verstehen 29 ; Nicht-Existierendes kann bekanntlich sehr wohl gedacht werden, sei es nun ein gefl¨ ugeltes Pferd“ ” oder der gegenw¨ artige K¨ onig Frankreichs“. Nicht-Existierendes kann ge” dacht werden, wenn man von dieser Sache, die gegenw¨ artig an keinem Ort auf der Welt anzutreffen ist, wenigstens eine Bestimmtheit angeben kann. Das Nichts ist auch hier als dasjenige zu verstehen, das frei von aller Bestimmtheit ist. Ihm gegen¨ uber steht die Bestimmtheit, das Etwas oder die seiende Idee. Nun ist es nicht so, dass wir fortw¨ ahrend und ausschließlich selbst f¨ ur sich selbst seiende Ideen d¨ achten, meistens denken wir eher an andere Dinge. Aber darauf kommt es in Parmenides’ Einwand auch gar nicht an. Gegenstand unseres Denkens ist stets etwas Bestimmtes, das wir denkend von anderen m¨ oglichen Gegenst¨ anden unseres Denkens unterscheiden. Parmenides’ Einwand zielt darauf, dass jegliches Denken die Bestimmtheiten beansprucht. Im zweiten Schritt erw¨ agt Parmenides die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, wenn man die Bestimmtheiten als Gedanken in der Seele konzipiert. Wenn die Instanzen an den Ideen teilhaben, m¨ ussten dann nicht die Instanzen aus Gedanken bestehen“ ( ” 132c10f.)? Soweit scheint Parmenides’ Einwand klar zu sein, dass n¨ amlich die Konzeption der Bestimmtheiten als Gedanken dazu f¨ uhrt, dass die Instanzen aus Gedanken bestehen. Eine Konsequenz, die Parmenides allerdings nicht ausspricht, k¨ onnte darin bestehen, dass damit die Existenz einer gegenst¨ andlichen Welt außerhalb des menschlichen Denkens geleugnet wird, denn Sokrates hat ausdr¨ ucklich von Gedanken in den Seelen gesprochen. Problematisch ist allerdings, dass Parmenides die Instanzen aus Gedanken bestehen lassen m¨ ochte, als ob es sich um H¨ auser aus Steinen handelte. Instanzen werden nicht aus Bestimmtheiten zusammengesetzt, sie werden lediglich durch Bestimmtheiten bestimmt. 28 29
Das Gedachte ist von dem Denkakt vgl. Allen (1980, S. 30f.). So versteht ihn z. B. Sayre (1996, S. 84).
zu unterscheiden. Zu dem Wort
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Parmenides entwickelt seine reductio ad absurdum noch weiter und formuliert zwei M¨ oglichkeiten: Wenn die Instanzen an den Ideen teilhaben, m¨ ussten die Instanzen dann nicht aus Gedanken bestehen, so dass al” les denkt“ ( 132c11); oder die Instanzen bestehen zwar aus ” Gedanken, aber sie werden nicht gedacht“ ( 132c11)? 30 Parmenides fragt danach, inwiefern die Gedanken, aus denen die Instanzen bestehen, gedacht werden. Wenn sie gedacht werden und die Gedanken in den Instanzen sind, dann scheinen alle Instanzen zu denken ( 132c11 bezieht sich wohl auf die Gesamtheit der Instanzen). Wenn die Gedanken nicht gedacht werden, dann bestehen die Instanzen aus ungedachten Gedanken – womit sie hinf¨ allig sein d¨ urften. Das in dieser Aporie abgewendete Missverst¨ andnis besteht darin, die Ideen prim¨ ar als Gedanken in der Seele zu konzipieren. Die Idee ist die allen Instanzen ( 132c3, 7) gemeinsame Bestimmtheit, aber sie ist nicht mit einem Allgemeinbegriff zu verwechseln. Der Allgemeinbegriff hat seinen Ort in der erkennenden Seele und wird von dieser bei der Betrachtung von Instanzen gebildet. In scholastischer Terminologie handelt es sich bei dem Allgemeinbegriff um das universale post rem. 31 Die selbst f¨ ur sich selbst seiende Idee ist zwar eine denkbare Bestimmtheit ( , z. B. Politeia 509d oder Timaios 48e6), weshalb sie in menschlichem Denken u ¨berhaupt erfasst werden kann, aber sie ist vom menschlichen Denken nicht abh¨ angig: Sie ist nur auch gedacht. W¨ aren die Platonischen Ideen von einem endlichen Denken abh¨ angig, dann k¨ onnte es so-bestimmte Instanzen nur geben, wenn irgendein endliches Denken zuf¨ allig gerade diese Bestimmtheit denkt. 32 W¨ ahrend die letzten beiden Aporien daraus entsprangen, dass Parmenides den Ideen die Seinsweise ihrer Instanzen zuschrieb und aus Bestimmtheiten bestimmte Dinge machte, geht er in dieser Aporie umgekehrt vor: Er u ¨bernimmt Sokrates’ Konzeption der Ideen als Gedanken; indem aber die Instanzen aus Gedanken“ bestehen ” 30
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Nach einer verbreiteten Lesart, z. B. Zekl (1972, S. 23) und Cornford (1939, S. 92), ist durch ohne Denken“ bzw. [thoughts which] do not think“ wiederzugeben. Die ” ” Alternative zwischen den beiden von Parmenides formulierten M¨ oglichkeiten w¨ urde also darin bestehen, dass die Instanzen im ersten Falle denken und im zweiten Falle (132c11), scheint ohne Denken sind. Diese Lesart beruht auf dem Gegensatz zu zu entsprechen. Richtig u aber keinem m¨ oglichen Wortsinn von ¨bersetzt die Textstelle Sayre (1996, S. 10): or else [despite] being thoughts they are unthought?“ ” (die Einf¨ ugung von [despite] nimmt Sayre vor). In derselben Terminologie ist die immanente Idee das universale in re und die außerzeitliche Idee das universale ante rem. Vgl. dazu Thiel (2004, S. 50ff.) Einige Kommentatoren behaupten im Zusammenhang mit der hier verhandelten Aporie, dass Platonische Ideen nicht die Gedanken eines menschlichen oder g¨ ottlichen Geistes sind, so Cornford (1939, S. 92) oder Ross (1951, S. 88). Die Aporie wendet sich aber ausdr¨ ucklich nur gegen die Konzeption der Ideen als Gedanken in der Seele (132b6); das Verh¨ altnis der Ideen zu einem g¨ ottlichen Geist steht nicht zur Diskussion.
Parmenides 132c-133a: der Dritte Mensch“ (2) ”
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sollen, macht er die Instanzen selbst zu Gedanken und l¨ asst ihnen damit die vermeintliche Seinsweise der Ideen zukommen.
5.7 Parmenides 132c-133a: der Dritte Mensch“ (2) ” Als Reaktion auf die vorangegangene Aporie macht Sokrates einen neuen Vorschlag zur Bestimmung von Ideen und Teilhabe: Die Ideen seien 132d2), Vorbilder in der Wirklichkeit“ ( ” w¨ ahrend die Teilhabe der Instanzen an den Ideen als Ver¨ ahnlichung (vgl. 132d4) zu verstehen sei. 33 Im Gegensatz zu Sokrates’ letztem Vorschlag sollen die Ideen jetzt nicht mehr in der Seele sein, sondern in der . Der Ausdruck kann bei Platon sowohl auf den Ideenbereich als auch auf die erscheinende Welt hinweisen. Den verschiedenen Bedeutungen von entsprechen verschiedene Interpretationsm¨ oglichkeiten dessen, was meint. Wenn bei an die erscheinende Welt zu denken ist, dann handelt es sich bei den Vorbildern um Gegenst¨ ande in dieser Welt. Wenn terminologisch zu verstehen ist und auf den Ideenbereich hinweist, dann kann es sich bei den Musterbildern nicht um weltliche Gegenst¨ ande handeln. Die Ambivalenz in Sokrates’ Ausdrucksweise scheint durchaus beabsichtigt zu sein, denn je nachdem, wie man die Termini auslegt, sagt Sokrates im einen Fall etwas Richtiges, im anderen etwas Falsches. Die Vorz¨ uge der neuen Konzeption bestehen darin, dass erstens mit der Singularit¨ at des Musterbildes auch die Singularit¨ at der Idee garantiert zu sein scheint, zweitens bietet die Konzeption der Teilhabe als Ver¨ ahnlichung eine Alternative zur Aufspaltung der Idee in materielle Teile und zum physischen Enthalten-Sein der Idee in der Instanz. Dennoch bewahrt dieser Vorschlag Sokrates nicht vor einer weiteren Aporie: Parmenides legt ¨ die Ahnlichkeit zwischen Vorbild und Abbild als eine symmetrische Relation aus, denn wenn die Instanz der Idee ¨ ahnlich ist, dann muss doch auch ¨ die Idee der Instanz ¨ ahnlich sein. Indem er die Ahnlichkeit zwischen Idee und Instanz symmetrisch auslegt, hebt er den kategorialen Unterschied an die erscheinende zwischen beiden auf; Parmenides denkt bei 33
Einige Kommentatoren sehen in diesem Vorschlag ein Referat der Ideenlehre der mittleren Dialoge, z. B. Sayre (1996, S. 86). Parallelstellen f¨ ur die Verwendung von sind Euthyphron 6e6, Politeia 484c, 500e3, Theaitetos 176e3, Timaios 28a8, 29b3f., 39e7, 48e5f. und 49a1, vgl. auch 52a und 92c. Parallelstellen f¨ ur das ¨ verstandene Teilhabeverst¨ andnis sind Phaidon 74e3, Politeia 510bals Ahnlichkeit“ ” 511a, Phaidros 250b, Timaios 29bc, 39e, 49a1, 50cd, 51a3, 52c2, 92c8 und Siebter Brief 342a-c; diese Textstellen variieren die Wortfelder von und . Die zahlreichen Timaios-Stellen machen die These unplausibel, Sokrates gebe hier besonders die Ideenlehre der mittleren Dialoge wieder.
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Die Abwehr von Missverst¨ andnissen: Parmenides
Welt und versteht das als ein Ding in dieser Welt. Damit zwei Relata einander ¨ ahnlich sein k¨ onnen, m¨ ussen beide an einer und derselben Idee teilhaben; diese Idee, an der Vorbild und Abbild teilhaben, w¨ are dann die eigentliche Idee“ ( 132e4). Da die zus¨ atzliche Idee ” ¨ wiederum ein Vorbild ist, das in symmetrischer Ahnlichkeitsbeziehung zu der urspr¨ unglichen Idee und ihrer Instanz steht, so m¨ ussen alle drei an einer zus¨ atzlichen Idee teilhaben usw. ad infinitum (132e6-133a3). Parmenides interpretiert Sokrates’ ambivalente Redeweise von den , als seien damit Gegenst¨ ande in der erscheinenden Welt gemeint. Ein ist dann lediglich ein Beispiel, vielleicht ein besonders sch¨ ones oder deutliches Beispiel f¨ ur Gegenst¨ ande seiner Art. In diesem Sinne sind etwa der L¨ owe im Zoo oder der in S`evres verwahrte Urmeter . Wenn von der Idee als einem gesprochen wird, ist das jedoch anders zu verstehen: Eine Instanz ist Paradigma ihrer Bestimmtheit, weil sie diese besonders deutlich zur Erscheinung bringt; sie ist paradigmatisch, weil sich an ihr das Paradigma besonders gut erkennen l¨ asst. In diesem Sinne ist das Paradigma nicht die einzelne Instanz, sondern die an der einzelnen Instanz erkennbare Regel; und die Instanz kann als Paradigma gelten, weil sie der Regel beispielhaft gen¨ ugt. Der gleiche Doppelsinn findet sich auch am Begriff des Maßes: Einerseits ist der Urmeter das Maß f¨ ur die L¨ ange von einem Meter; aber er ist dies andererseits nur deshalb, weil er die Bestimmtheit ein Meter“ in” stantiiert. Deshalb spricht Platon von der Idee an einigen Stellen wie von 34 einem Maß. Wenn Platon von der Idee als Paradigma, Grenze oder Maß spricht, dann ist damit nicht die paradigmatische Instanz, das begrenzte und gemessene Ding gemeint, sondern deren Bestimmtheit. Wenn man so versteht, dann meint auch die , in der dieses Paradigma ist, nicht die erscheinende Welt, sondern die Gesamtheit der Ideen. Eine Instanz ist Abbild einer Idee und dieser ¨ ahnlich“ im Sinne des Ver” h¨ altnisses von Bestimmtheit und Bestimmtem; von einer symmetrischen Relation kann dabei keine Rede sein. 34
Das ist z. B. Philebos 26d9f. der Fall: das Werden zum Sein aus den mit der Grenze ” herausgearbeiteten Maßen“ ( ). Die Begrenzung ( ) entspricht in dem Schema des Exkurses (Philebos 23c-27d) der Idee, auch wenn diese Interpretation nicht unumstritten ist, vgl. Frede (1997, S. 190-193, 202-211). Durch die Begrenzung erhalten die Dinge die ihnen eigenen Maße; erst wenn sie Grenze und Maß haben, sind sie u ¨berhaupt bestimmtes Seiendes. Die Verwandtschaft von Maß und Idee im Platonischen Denken zeigt sich darin, dass Platon in den Nomoi (716c4) Gott, d. i. die Ideen, als Maß aller Dinge bezeichnet, vgl. dazu Kapitel 9.6 und 9.7. Dieses Maß, von dem Platon in den Nomoi spricht, ist aber kein gemessenes Maß mehr, wie das in S`evres, sondern messendes, d. h. bestimmendes Maß.
Parmenides 133a-134e: die Trennung“ ”
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5.8 Parmenides 133a-134e: die Trennung“ ” Nach Parmenides’ Auskunft handelt es sich hierbei um die gr¨ oßte Schwierigkeit (133b4). Ausgangspunkt der Aporie ist das Selbst-f¨ ur-sich-selbstSein der Ideen. Sokrates hatte die Ideen als Bestimmtheiten selbst f¨ ur ” sich selbst“ ( 128e6f.) eingef¨ uhrt, Parmenides legt diese Formulierung als Ausdruck der vollst¨ andigen Trennung der Ideen von der erscheinenden Welt aus. Die Konsequenz dieser Trennung besteht darin, dass die Ideen von uns u onnen (133b5). ¨berhaupt nicht erkannt werden k¨ Der Gedankengang l¨ asst sich in drei Schritte einteilen: 1) Wenn die Ideen selbst f¨ ur sich selbst sind, dann ist keine der Ideen in uns“ ( ” 133c6f.). Die Formulierung in uns“ ist nicht im engen Sinne zu verste” hen, es geht nicht darum, ob die Ideen in Sokrates und Parmenides sind; uns“ steht vielmehr stellvertretend f¨ ur die gesamte erscheinende Welt. ” Die Formulierung nimmt das In-Sein der Idee in der Instanz aus dem 131a9) – wobei es in der Segeltuch-Argument wieder auf (vgl. gegenw¨ artigen Aporie anders als in jener nicht um das r¨ aumliche In-Sein geht. Parmenides reformuliert das wenige Zeilen sp¨ ater als dasje” nige, was bei uns ist“ ( 133d1, vgl. 133d3, 134a10, a11). Dass die Ideen nicht bei uns sind, soll hier bedeuten, dass die Instanzen nicht an den Ideen teilhaben. 2) Die selbst f¨ ur sich selbst seienden Ideen sind das, was sie sind, ” 133c9f.), nicht in Beziehung aufeinander“ ( 133d1) ist. in Beziehung auf dasjenige, was bei uns“ ( ” Parmenides erl¨ autert das am Beispiel von Herr und Knecht: Ein wirklicher Herr, d. i. ein Herr in der erscheinenden Welt, ist Herr eines wirklichen Knechts, aber er ist niemals Herr des Knechts an sich, d. i. der Idee des Knechts; ebenso ist ein wirklicher Knecht der Knecht eines wirklichen Herrn und nicht der Idee des Herrn: [E]in Mensch ist dieses bei” des [d. i. Herr bzw. Knecht] von einem Menschen“ (die kursiven Worte geben hier und in den folgenden F¨ allen einen Genitiv wieder: ) (133e2f.), die Herrschaft selbst ” ist, was sie ist, von der Knechtschaft selbst“ ( 133e3f.), und die Knechtschaft [ist] ebenso die ” Knechtschaft selbst von der Herrschaft selbst“ ( 133e4f.). In allen drei F¨ allen verbindet der Genitiv ein Nomen mit einem anderen. Er dr¨ uckt aus, dass die bezeichneten Sachen in einem gewissen Verh¨ altnis zueinander stehen. Die wiederkehrende Formulierung legt dabei eine fragw¨ urdige Analogie nahe: Der menschliche Herr knechtet seinen Diener, und der menschliche Knecht dient seinem Herrn. Zwischen Herr und Knecht besteht eine Relation, n¨ amlich ein Beherrschungs- und Dienstverh¨ altnis. Zwischen den Ideen von
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Die Abwehr von Missverst¨ andnissen: Parmenides
Herrschaft und Knechtschaft besteht ebenfalls eine Relation, aber es gibt zwei M¨ oglichkeiten daf¨ ur, welche Relation Parmenides im Sinn hat. Im Rahmen der Verflechtung der Ideen stehen auch die Bestimmtheiten von Herrschaft und Knechtschaft in einem spezifischen Verh¨ altnis zueinander, n¨ amlich einem Verh¨ altnis von Bestimmtheiten. Wenn Parmenides diese Relation im Sinn hat, dann ist dagegen sachlich nichts einzuwenden – nur handelt es sich dabei nicht um ein Beherrschungs- und Dienstverh¨ altnis, so dass die Relation der Bestimmtheiten nicht analog ist zu der zwischen Herr und Knecht. Es k¨ onnte aber auch sein, dass Parmenides die Ideen von Herrschaft und Knechtschaft wieder verdinglicht und sie f¨ ur perfekte Instanzen von Herr (nicht Herrschaft) und Knecht (nicht Knechtschaft) h¨ alt. Weil er damit die Ideen zu Instanzen machte, w¨ aren die Relationen den beiden Ideen einerseits und den beiden urspr¨ unglichen Instanzen andererseits durchaus analog. 35 3) Folglich d¨ urfte auch das Wissen selbst, was [wirklich] Wissen ist, ” Wissen von jenem selbst sein, was [wirklich] Wahrheit ist“ ( 134a4f.); und jedes einzelne Wissen d¨ urfte jedesmal ein Wissen von dem Seienden, das wirklich ist, sein (134a7f.). Das Wissen bei uns d¨ urfte aber von der Wahrheit bei uns sein, und jedes einzelne Wissen bei uns d¨ urfte jeweils Wissen von dem bei uns Seienden sein (134a10-b1). Von den Ideen gilt aber, dass wir sie weder haben, noch dass sie in der Lage sind, bei uns zu sein (134b3f.), womit Parmenides die Trennung zwischen den Ideen und der erscheinenden Welt aus dem ersten Argumentationsschritt wieder aufnimmt. Bisher hat Parmenides das Verh¨ altnis zwischen dem Wissen und dem Wissensgegenstand durch einen Genitiv ausgedr¨ uckt, jetzt reformuliert er den Gedanken und hebt die Ambivalenz der bisherigen Ausdrucksweise durch eine eindeutige Formulierung auf: Die Gattungen selbst, was jede ist, werden erkannt ” von der Idee des Wissens selbst“ ( 134b6f.). 36 Die 35
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In der Kommentarliteratur sind beide Interpretationen vertreten worden, zu der ersten tendiert Kutschera (1995, S. 41), indem er bestreitet, dass die Ideen von Herrschaft und Knechtschaft hier selbstpr¨ adikativ gedacht werden; die zweite Interpretation vertritt Cornford (1939, S. 98). Es bedarf keiner Entscheidung zugunsten einer der beiden Interpretationen, denn Platon spielt auch hier mit der Doppeldeutigkeit der Formulierung. Yi und Bae (1998, S. 273) bestreiten, dass die Zeilen 134b6f. den Gedanken aus 134a4f. reformulieren. Ihre Begr¨ undung besteht darin, dass in 134a4f. jenes selbst, was die ” Wahrheit ist“ und in 134b6f. die Gattungen selbst, was jede ist“ Wissensgegenstand ” sind. Das Argument beruht auf einer u ahrend die ¨beraus subtilen Unterscheidung: W¨ ” Gattungen selbst, was jede ist“ unzweideutig die Gesamtheit der Ideen bezeichnet, ist die Bedeutung von jenes selbst, was die Wahrheit ist“ nicht eindeutig. Yi und ” Bae (1998, S. 282 Anm. 9) verstehen darunter die Idee der Wahrheit im Gegensatz
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Idee des Wissens haben wir nicht“ ( 134b9), womit Parme” nides die gew¨ unschte Konklusion erreicht, dass keine der Ideen von uns erkannt wird (134b11f.); f¨ ur uns sind die Ideen unerkennbar“ ( ” 134b14). Parmenides gibt dem Gedankengang noch die Wendung, dass das Ideenwissen nur Gott zugeschrieben werden k¨ onne, der daf¨ ur kein Wissen von den weltlichen Angelegenheiten habe (134cf.). Parmenides schließt den Gedanken mit einer Version des Dreischritts von Gorgias 37 : Es gibt die Ideen nicht; wenn es sie gibt, sind sie f¨ ur uns Menschen unerkennbar; wenn es sie gibt und wenn sie erkennbar sind, verdient am meisten Bewunderung derjenige, der dieses Wissen kommunikabel macht (135af.). Die Argumentation f¨ ur die Unerkennbarkeit der Ideen beginnt mit einer Trennung zwischen den Ideen und der erscheinenden Welt, die darin besteht, die Teilhabe der Instanzen an den Ideen zu leugnen. 38 Die Leugnung der Teilhabe ist wesentliche Voraussetzung der Argumentation, denn sobald wir selbst und die Instanzen in der erscheinenden Welt durch Ideen bestimmt werden, l¨ asst es sich kaum bestreiten, dass wir mit der erkennenden Unterscheidung von Instanzen ideelle Bestimmtheiten unterschieden haben. Der zweite Argumentationsschritt soll die Trennung am Beispiel von Herr und Knecht plausibel machen, indem er das Augenmerk auf die Relationen der Ideen einerseits und die der Instanzen andererseits lenkt, die Teilhaberelation zwischen Ideen und Instanzen aber unter den Tisch fallen l¨ asst – hier kommt der erste Schritt zum Tragen. Der dritte Argumentationsschritt spezifiziert das Ergebnis des zweiten f¨ ur die Erkenntnisbeziehung: Da Ideen und erscheinende Welt relationslos nebeneinander stehen, kann es Erkenntnisbeziehungen nur innerhalb des Ideenbereichs einerseits und innerhalb der erscheinenden Welt andererseits geben. Erkenntnisbeziehungen zwischen Menschen und Ideen sind damit ausgeschlossen.
37 38
zu der Gesamtheit der Ideen. Die Interpretation von Yi und Bae u ¨berzeugt aus zwei Gr¨ unden nicht: Erstens kann der Ausdruck jenes selbst, was die Wahrheit ist“ ohne ” weiteres die Gesamtheit der Ideen meinen, vgl. dazu Szaif (1998, S. 91ff.). Zweitens kann zwar die Formulierung des Verh¨ altnisses von Ideen mit dem Genitiv im Sinne der Verflechtung der Ideen als bloße Relation von Bestimmtheiten ausgelegt werden; aber die Aussage, dass die Ideen von der Idee des Wissens erkannt werden (134b6f.), kann nicht in diesem Sinne ausgelegt werden. Die deutliche Formulierung der Zeilen 134b6f. steht in der Interpretation von Yi und Bae zusammenhanglos im Text und darf nicht zur Kl¨ arung der mehrdeutigen Formulierung mit dem Genitiv herangezogen werden. Buchheim (1989, Fragment 3, Nr. 1 bzw. 65; S. 41 bzw. 55). Die meisten Kommentatoren teilen die Interpretation, dass es Parmenides um die vollst¨ andige Trennung von Ideen und Welt geht, z. B. Cornford (1939, S. 95), Gerson (1981, S. 25), Miller (1986, S. 63), Kutschera (1995, S. 40) und Sayre (1996, S. 88). Bestritten wird diese Interpretation von Yi und Bae (1998, S. 273).
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In der Zusammenschau der Aporien wird deutlich, dass sie ex negativo die Grundz¨ uge der von Platon intendierten Ideenlehre enthalten. Alle Aporien weisen dabei auf einen richtigen Aspekt, der aber sogleich ins Unsinnige gewendet wird. Als erstes wird das Problem der Vereinzelung bzw. Verflechtung der Ideen als Gegenstand weiterer philosophischer Untersuchung (das Staunen des Sokrates!) eingef¨ uhrt (129b-e). Die Frage, ob auch Haare, Kot und Schmutz Instanzen von Ideen sind (130c), f¨ uhrt darauf, dass f¨ ur jegliche Bestimmtheit eine Idee anzunehmen ist. Die Aporien zur Teilhabe an der ganzen Idee bzw. an einem Teil der Idee (131a-e) verweisen erstens darauf, dass die Idee als Einheit zu denken ist, zweitens darf Teilhabe nicht als dingliches In-der-Instanz-Sein der Idee und die Idee u ¨berhaupt nicht als Ding konzipiert werden. Die erste zum Ideen-Regress f¨ uhrende Aporie (131a1-b2) betont den Aspekt der Idee als Einheit einer Vielheit von Instanzen und ber¨ uhrt die Gefahr der Selbstpr¨ adikation. In den drei folgenden Aporien wird die Idee der Reihe nach erst als Gedanke in der Seele (132b4f.), dann als Weltding in der (132d2) und schließlich als relationslos transzendente Entit¨ at (133bff.) konzipiert. Der in den Aporien enthaltene richtige Aspekt zeigt sich, sobald angegeben wird, in welcher Hinsicht die Idee in der , in der Seele und in einem zu beiden transzendenten Bereich ist: Die in einer Instanz verwirklichte ; als in jeglicher Erkenntnis unterschieSeinsm¨ oglichkeit ist in der dene Seinsbestimmtheit ist die Idee in der erkennenden Seele; an sich ist die Idee dem zeitlichen Werden und Erkennen enthoben. Alle Aporien des Textabschnittes (131a-134e) zielen letztlich darauf, dass die Ideen von den Instanzen unterschieden werden m¨ ussen (die Ideen sind keine weltlichen Instanzen, die Instanzen keine Ideen), es dabei aber zu keinem zwischen Ideen und Instanzen kommen darf.
6 Die Erkenntnis der Ideen: Siebter Brief 6.1 Zur Echtheit des Briefes Die meisten Kommentatoren scheinen den Siebten Brief heute als ein Werk Platons zu akzeptieren. Weil aber die Diskussion um seine Echtheit in den beiden vergangenen Jahrhunderten u ¨beraus kontrovers gef¨ uhrt wurde, bedarf seine Verwendung als Quelle f¨ ur die Rekonstruktion von Platons Philosophie einer Rechtfertigung. 1 Die Echtheitsdebatte hat verschiedene Argumentationsebenen: 1. Zeitnahe Verweise auf den Siebten Brief ; 2. der Vergleich der Darstellung historischer Ereignisse im Brief mit denen antiker Historiker; 3. Vergleich der politischen und philosophischen Aussagen des Briefes mit denen der Platonischen Dialoge; 4. innere Konsistenz der Darstellung philosophischer Lehren oder historischer Ereignisse im Brief; 5. Vergleich zwischen dem Sprachstil des Briefes und ¨ dem der Dialoge; 6. sonstige Uberlegungen zur Plausibilit¨ at einer F¨ alschung, z. B. ob wir eine historische Person ausmachen k¨ onnen, die als F¨ alscher in Frage kommt, ob ein F¨ alscher die ausgedr¨ uckten Emotionen so vollkommen zu modulieren und u ange ¨berhaupt ein Werk von solcher L¨ und Detailreichtum verfassen k¨ onnte. Zeitgen¨ ossische oder zeitnahe Verweise auf den Brief fehlen. 2 Diogenes Laertios berichtet, dass eine der Trilogien des Aristophanes von Byzanz aus Kriton, Phaidon und Briefen“ bestand. 3 Damit wissen wir, dass ” zum Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts Briefe unter Platons Namen u aheren Angaben ¨berliefert waren, Diogenes macht aber keine n¨ dar¨ uber, um was f¨ ur Briefe es sich dabei gehandelt hat. Einen einigermaßen sicheren Hinweis auf unsere heutige Sammlung erhalten wir erst mit Thrasyllos’ Kanon im ersten nachchristlichen Jahrhundert, denn hier nennt Diogenes die Anzahl und die Adressaten der Briefe. 4 Speziell f¨ ur den Siebten Brief verdanken wir die ¨ altesten gesicherten Hinweise Cicero, der daraus zitiert und Platon f¨ ur den Autor h¨ alt, aber auch Cicero ist kein 1 2 3 4
Darstellungen dieser Debatte finden sich z. B. bei Harward (1932, S. 59-96), Morrow (1962, S. 3ff.) und Sayre (1995, S. xviiiff.). F¨ ur antike Verweise auf den Brief siehe Bluck (1947, S. 175) und Morrow (1962, S. 5). J¨ urß (1998, III, 62). J¨ urß (1998, III, 61).
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Die Erkenntnis der Ideen: Siebter Brief
unfehlbarer Garant f¨ ur die Echtheit des Briefes. 5 Morrow macht dar¨ uber hinaus wahrscheinlich, dass der Geschichtsschreiber Timaios von Tauromenion den Brief als Quelle verwendet hat, woraus wir entnehmen k¨ onnen, dass der Brief sp¨ atestens 267 v. Chr. in Athen existiert hat und von einem der sorgf¨ altigsten antiken Historiker als vertrauensw¨ urdige Quelle angesehen wurde. 6 Der Vergleich der Darstellung der historischen Ereignisse im Brief mit denen der antiken Historiker stellt uns vor das Problem, dass uns die Schriften der zeitgen¨ ossischen oder nahen Historiker nicht u ur die sp¨ ateren Geschichtsschreiber zeigt Mor¨berliefert sind. 7 F¨ row, dass ihre Darstellungen von dem Bericht des Siebten Briefes zwar in einigen Punkten abweichen, dass diese Abweichungen die Echtheit des Briefes aber zumindest nicht widerlegen. 8 Viele Kommentatoren halten den Brief f¨ ur unecht, weil er den politischen und philosophischen Lehren der Dialoge widerspreche. Der Vergleich der politischen und philosophischen Ideen des Briefes mit denen der Dialoge h¨ angt aber wesentlich von der Lesart der Dialoge ab. Argumen¨ tationen dieser Art verlieren deshalb an Uberzeugungskraft, sobald man die zugrunde liegende Interpretation der betreffenden Dialogstellen nicht teilt. 9 Ein Beispiel illustriert die Problematik dieser Argumentationweise: Der Autor des Briefes fordert zum Gewaltverzicht auf und propagiert die Gesetzesherrschaft (331d, 334c, 336e-337d, 351c). Dagegen vertrete der Autor des Politikos (293d) eine andere Ansicht, die Gulley als ruthless ” reformism“ bezeichnet: Provided that power is backed by knowledge the ” statesman is justified in using force, whether to reform the character of the citizens, to banish them, or to execute them.“ 10 Gulley folgert: Thus on ” this question of the legitimacy of the use of force the thought of the Epistles is totally inconsistent with the reformist thought of the dialogues.“ 11 Selbst wenn man die Vergleichsstelle im Politikos isoliert betrachtet, sind die Vollmachten des Herrschers dort ausdr¨ ucklich an die Anwendung von Erkenntnis und Gerechtigkeit gebunden (vgl. ¨ , Politikos 293d8f.). Diese Außerungen sind vor dem Hintergrund zu verstehen, dass es das Beste ist, wenn nicht die Gesetze ” Macht haben, sondern ein mit Einsicht k¨ oniglicher Mann“ ( 5 6 7 8 9
10 11
Tusc. Disp. V, 35, 100; De Fin. II, 28, 92. Morrow (1962, S. 37f.). Morrow (1962, S. 22f.). Morrow (1962, S. 41ff.). Diese Bewertung des Befundes wird allerdings nicht von allen Kommentatoren geteilt, siehe dazu Gulley (1972, S. 108-110). Zahlreiche Argumente dieser Art verwendet Edelstein (1966) in seiner Monographie gegen die Echtheit des Briefes; zur Kritik siehe die Buchbesprechung von Solmsen (1969). Gulley (1972, S. 116). Gulley (1972, S. 119).
Zur Echtheit des Briefes
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294a7f.). Denn das Gesetz ist nicht imstande, zugleich das f¨ ur alle Beste und Gerechteste zu umfassen (294a10-b1). Das Gesetz ist eine allgemeine Regel, unter die die einzelnen Anwendungsf¨ alle subsumiert werden m¨ ussen; das ist problematisch, weil die allgemeine Regel unver¨ anderlich und ungelehrig“ ( 294c1) dasteht, w¨ ahrend die Menschen und ih” re Handlungen immer wieder anders sind (294b2f.). 12 Die Stellung eines Herrschers u ahigkeit gebunden, in je¨ber dem Gesetz ist also an seine F¨ dem einzelnen Falle das Beste und Gerechteste genau“ ( 294b1) ” zu erfassen. Es ist mindestens zweifelhaft, ob Platon diese F¨ ahigkeit irgendeinem menschlichen Staatsmann zutraut. Wenn Platon als Autor des Siebten Briefes weder dem j¨ ungeren Dionysios noch den Freunden Dions eine Stellung u ¨ber den Gesetzen zubilligt, dann sicherlich, weil es sich bei ihnen nicht in obigem Sinne um mit Einsicht k¨ onigliche M¨ anner“ handelt. ” Umgekehrt beruht selbstverst¨ andlich auch die Ansicht, der Brief sei echt und in seinen politischen und philosophischen Aussagen mit den Dialogen vereinbar, auf einer besonderen Interpretation dieser Aussagen. 13 Der Vergleich politischer und philosophischer Aussagen im Brief mit denen der Dialoge Platons ist noch in einer anderen Hinsicht problematisch: Argumentationen dieser Art lassen sich in beide Richtungen wenden. 14 ¨ Weil ein F¨ alscher sorgf¨ altig auf die Ubereinstimmung mit den echten Schriften achten w¨ urde, k¨ onnen gewisse Abweichungen von den Dialogen als Argument f¨ ur die Echtheit des Briefes gewertet werden; so argumentiert etwa Morrow hinsichtlich der Nennung von und im Siebten Brief (342c4f.): A forger would have stuck more ” closely to the letter of the Platonic doctrine.“ 15 W¨ ortliche Abh¨ angigkeit von den echten Schriften kann auf eine F¨ alschung hinweisen. Die Darstellung der historischen Ereignisse im Brief ist in sich schl¨ ussig. Lediglich unter Verwendung anderer und sehr viel sp¨ aterer historischer Quellen hat Ryle versucht, eine Inkonsistenz zu konstruieren. 16 Andere Inkonsistenzen haben Kommentatoren innerhalb des so genannten philosophischen Exkurses (342a-344d) gesehen: Der Autor des Briefes unterscheidet beim Kreis Name, Erkl¨ arung, Abbild, Erkenntnis ( 342c4) und die Natur des Kreises selbst; und er f¨ uhrt weiter aus, dass der Erkenntnis ( 342e2) des F¨ unften, d. i. der Natur des Kreises, nicht teilhaftig wird, wer u ugt. M¨ uller kom¨ber die ersten vier nicht verf¨ mentiert: In sachliche Schwierigkeiten f¨ uhrt es, daß man die Erkenntnis ” 12 13 14 15 16
Vgl. hierzu J¨ ager (1967, S. 155f.) und Wieland (1999, S. 27-35). F¨ ur eine solche Interpretation siehe Gonzalez (1998a, insb. S. 245-247). Zur Kritik dieser Argumentationsfigur vgl. Eggers Lan (1994, S. 163f.). Morrow (1962, S. 73). Ryle (1966, S. 55-57).
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( ) die doch die vierte Stufe darstellt, nur durch die vier Stufen erreicht. Was soll es heißen, daß sie Voraussetzung ihrer selbst ist?“ 17 Zun¨ achst sind solche Bedeutungsverschiebungen bei Platon nicht ungew¨ ohnlich, im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden sie bereits im Zusammenhang mit den gr¨ oßten Gattungen im Sophistes diskutiert (Kapitel 4.3). Die Schwierigkeit im Siebten Brief l¨ asst sich leicht dadurch l¨ osen, dass in beiden F¨ allen nicht im gleichen Sinne von die Rede sein d¨ urfte. Im ersten Falle k¨ onnte es sich z. B. um die Kenntnis von Name, Erkl¨ arung und Abbild bzw. die dadurch vermittelte Sachkenntnis handeln, was die Formulierung (342c4f.) ohnehin nahelegt. Im einen Fall w¨ urde es sich also um die Kenntnis der Hilfsmittel handeln, im anderen Fall um die Erkenntnis der Idee. 18 Die Untersuchung des Siebten Briefes mit stilmessenden Methoden hat zu unterschiedlichen Ergebnissen gef¨ uhrt. Levison u. a. sowie Michaelson u. a. haben den Brief aufgrund eines stilometrischen Vergleiches mit der ¨ Apologie f¨ ur unecht erkl¨ art. 19 Aber die Uberzeugungskraft dieser Untersuchungen leidet nicht nur darunter, dass die Apologie einem anderen literarischen Genre angeh¨ ort, sondern auch vierzig Jahre fr¨ uher verfasst worden sein d¨ urfte als der Brief. Wenn es u ¨berhaupt Sinn macht, den Brief stilistisch mit den Dialogen zu vergleichen, dann bieten sich daf¨ ur die in ihrer Echtheit durch Aristoteles bezeugten Nomoi an. 20 Ledger h¨ alt den Brief wegen seiner stilistischen N¨ ahe zu den Nomoi dann auch f¨ ur ¨ echt. 21 Weitere Uberlegungen zur Echtheit des Briefes betreffen die Angemessenheit der in dem Brief ausgedr¨ uckten Gef¨ uhle: Der Autor trauert u ¨ber den Tod Dions, er ist frustriert, weil sich seine Hoffnungen in Bezug auf die Regierung von Sizilien nicht erf¨ ullt haben, und er ist w¨ utend bei dem Gedanken, Dionysios k¨ onnte eine philosophische Abhandlung verfasst haben. 22 Die angemessene Modulierung dieser Gef¨ uhle im Brief ist durchaus ein Argument f¨ ur seine Echtheit. Schließlich muss derjenige, der eine F¨ alschung plausibel machen will, m¨ oglichst eine historische Person ausmachen, die als F¨ alscher in Frage kommt. Bisherige Versuche in dieser Richtung waren wenig erfolgreich. 23 17 18 19 20 21 22 23
M¨ uller (1986, S. 149). Fritz (1966, S. 124) versucht, M¨ ullers Schwierigkeit dadurch zu l¨ osen, dass er ein ” st¨ arkeres oder schw¨ acheres Gerichtetsein auf die Idee“ unterscheidet. Levison u. a. (1968, S. 320), Michaelson und Morton (1973). Eine Kritik an der Methode von Levison u. a. (1968) formuliert Deane (1973). Vgl. Aristoteles Politik 1271b1-2. Ledger (1989, S. 148-151, 168). Zu beachten ist allerdings, dass Ledger ganz andere Stilelemente untersucht als Levison u. a. (1968). Vgl. Sayre (1995, S. xx ) und Morrow (1962, S. 57f.). Levison u. a. (1968, S. 321) erw¨ agen Speusipp, Ryle (1966, S. 82-84) h¨ alt Helikon aus Kyzikos (vgl. Dreizehnter Brief 360c3) f¨ ur einen m¨ oglichen Autor. Tarrant (1983,
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Zusammenfassend ist festzustellen, dass bisher noch keine Argumente vorgelegt worden sind, die die Echtheit des Briefes ernsthaft in Frage stellen. Ein Urteil prima facie, das sich allein darauf gr¨ undet, dass viele antike Briefe unecht sind, u ¨berzeugt im Falle des Siebten Briefes nicht. Hier kommt seine L¨ ange und der Reichtum an historischen und philosoat der phischen Details zum Tragen. 24 Entscheidend ist aber die Qualit¨ philosophischen Aussagen des Exkurses: Der Verfasser des Briefes verdichtet hier Grundgedanken der Platonischen Philosophie. F¨ ur alle philosophischen Aussagen finden sich in den Dialogen Parallelstellen, der Zusammenhang der Gedanken des Exkurses ist aber ohne Vorbild. Die fraglichen Parallelstellen sind nicht derart, dass der Verfasser des Briefes den Gedanken einfach u atte; mitunter ist dasjenige, was der ¨bernommen h¨ Brief ausdr¨ ucklich ausspricht, an den entsprechenden Dialogstellen lediglich intendiert oder bildet den sachlichen Hintergrund. 25 Voraussetzung daf¨ ur ist ein so genaues Verst¨ andnis dieser Texte, wie es nur dem Autor selbst zuzutrauen ist. Der Verfasser des Briefes bedient sich einer Sprache, die zwar voller Ankl¨ ange an die Dialoge ist, dabei die Formulierungen aber so souver¨ an variiert, dass von einer f¨ ur F¨ alschungen typischen Abh¨ angigkeit von den Dialogen keine Rede sein kann. 26 Die Sachlage scheint es zu erlauben, Platon als Autor des Siebten Briefes zu identifizieren. 27
6.2 Zum Kontext des philosophischen Exkurses: Siebter Brief 341a-342a Der philosophische Exkurs ist keine Abhandlung, in der Platon seine Lehren endlich einmal frei von Mythos, Ironie und dialogischer Brechung wie
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S. 90), der den philosophischen Exkurs f¨ ur einen sp¨ ateren Einschub in einen ansonsten echten Brief h¨ alt, erw¨ agt Thrasyllos als Autor des Exkurses. Angesichts der Qualit¨ at des Briefes ist es abwegig, ihn f¨ ur eine Stil¨ ubung eines Rhetoriksch¨ ulers zu halten. Eine solche Erkl¨ arung kritisiert z. B. Harward (1932, S. 63). im Brief mit der ArgumenVergleiche dazu etwa die Aussagen zur Schw¨ ache der tationsweise der Sophisten im Euthydemos, siehe dazu auch Gonzalez (1998a, S. 245). Ein Beispiel f¨ ur eine solche ungeschickte Abh¨ angigkeit ist Zweiter Brief 314c2-5; der Verfasser benutzt offenbar den Siebten Brief 341c als Vorlage. Der Siebte Brief wird in der vorliegenden Arbeit trotz seiner umstrittenen Echtheit als Quelle verwendet, weil im philosophischen Exkurs wichtige Gedanken auf wenig Text verdichtet sind. Diese Gedanken ließen sich auch aus zweifellos echten Dialogen entwickeln. Durch das allf¨ allige Nacherz¨ ahlen von Dialogen w¨ are der Aufwand an Kommentartext aber um ein Vielfaches h¨ oher, w¨ ahrend der Gedankengang weitaus un¨ ubersichtlicher w¨ are. Die folgenden Kapitel tragen der umstrittenen Echtheit des Briefes insofern Rechnung, als Parallelstellen in den Dialogen ausf¨ uhrlicher diskutiert werden als in den vorangegangenen Kapiteln. Die philosophisch relevanten Ergebnisse sollten – unabh¨ angig von der Echtheit des Briefes – sachlich richtig sein.
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in einem systematischen Traktat darstellt. Der Exkurs erscheint in einem Brief, der Teil eines Dialoges mit den Anh¨ angern Dions in Sizilien ist. Diese hatten Platon nach dem Tod Dions im Jahr 354 v. Chr. um Rat gefragt. Die eigentlichen Ratschl¨ age nehmen relativ wenig Raum ein (334c-337d). Der Text nimmt u ¨ber weite Strecken vielmehr den Charakter eines offenen Briefes an, den Platon zur Rechtfertigung seiner eigenen Verwicklung in die politischen Vorg¨ ange in Syrakus m¨ oglicherweise nicht ¨ zuletzt f¨ ur die Offentlichkeit in Athen abgefasst hat. Die Adressaten des ¨ Briefes sind also in jedem Fall philosophische Laien, die aber Außerungen u ort haben d¨ urften, die der Autor richtig stellen m¨ ochte. ¨ber Platon geh¨ Dabei geht es um ein Buch, das der Tyrann Dionysios II. angeblich u ¨ber ¨ die Philosophie Platons verfasst hat. Uber dieses Buch weiß der Verfasser des Briefes zwar nichts Genaues, aber der philosophische Exkurs dient dem Zweck, sich gegen dieses Buch und ¨ ahnliche Versuche der Darstellung Platonischer Philosophie durch dritte zu verwahren. Platon beschreibt in dem Brief die Probe, der er Dionysios unterzogen hat, um dessen Eignung und Ergriffenheit f¨ ur die Philosophie zu testen (340bff.). Die Probe besteht darin, dem Gepr¨ uften die Schwierigkeit der Sache und die damit verbundene M¨ uhe auseinanderzusetzen. Ungeeignete Studenten scheuen die M¨ uhe und geben an, von der Sache schon genug geh¨ ort zu haben. Das war auch bei Dionysios der Fall. Mit Dionysios ist es nur zu einem einzigen philosophischen Gespr¨ ach gekommen, bei dem Platon aber nicht alles“ mit dem Tyrannen durchgegangen ist und dieser ” auch gar nicht mehr zu erfahren w¨ unschte (341a8f., 345a1f.). 28 Dennoch hat Dionysios angeblich ein Buch geschrieben, woraufhin Platon feststellt, dass es von ihm u uht ( ¨ber dasjenige, worum er sich ernstlich bem¨ 28
Diese Tatsache ist wichtig f¨ ur die Diskussion um Platons ungeschriebene Lehre. Ihre Vertreter nehmen an, dass Platon in dem philosophischen Exkurs und in der Schlusspassage des Phaidros ein Verdikt gegen die schriftliche Niederlegung der ersten Prinzipien, des Einen und der unbestimmten Zweiheit, die von den u ¨brigen Ideen unterschieden werden, ausspricht. Demnach best¨ unde der Fehler von Dionysios darin, ein Buch u ¨ber die ersten Prinzipien abgefasst zu haben. Wenn die ersten Prinzipien aber einer sachbedingten Geheimhaltung unterlagen (Szlez´ ak, 1985, S. 402f.), dann ist es wenig plausibel anzunehmen, dass Platon anl¨ asslich eines ersten Treffens gleich u ¨ber die h¨ ochsten und wichtigsten Lehrgegenst¨ ande mit Dionysios gesprochen hat, vgl. dazu Szlez´ ak (1985, S. 397), Szlez´ ak (1993, S. 154) und Reale (1993, S. 99). Gegen die These der Geheimhaltung spricht die Bemerkung, dass u ¨ber diese Dinge nur jemand schreiben w¨ urde, der sie gering sch¨ atzt, dem st¨ unden aber viele Zeugen“ (345b6) entgegen; ” der Kreis der Eingeweihten kann demnach so klein nicht gewesen sein.
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341c2, vgl. 344c1f., c6f.) weder eine Schrift ( 341c5) gebe noch jemals geben werde:
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denn es l¨ asst sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lerngegenst¨ ande ( 341c6).
Einige Kommentatoren verstehen diesen Satz im Sinne von dasjenige, ” worum ich mich ernsthaft bem¨ uhe, l¨ asst sich nicht in der selben Weise 30 sagen wie andere Lehren“ , das heiße aber nicht, dass sie sich u ¨berhaupt nicht artikulieren ließen. Gegen diese Interpretation erhebt sich der Einwand, dass der Wortlaut auf etwas g¨ anzlich Unsagbares hinweist, denn hat den Charakter ausschließlicher Verneinung, der in ” (auch nicht auf irgendeine Weise) immer zu liegen scheint.“ 31 Auf den ersten Blick scheint es, als st¨ unden sich hier zwei unvereinbare Interpretationen gegen¨ uber: Die einen sehen in der Leugnung der Sagbarkeit der betreffenden Lerngegenst¨ ande eine bloß relative Verneinung, die anderen eine absolute. Dabei sind beide Positionen m¨ oglicherweise gar nicht so weit voneinander entfernt, wie es auf den ersten Blick scheint. Auch Vertreter einer bloß relativen Verneinung gestehen zu, dass es f¨ ur Platon etwas gibt, das sich der ad¨ aquaten Wiedergabe“ in der Rede prinzipiell entzieht. 32 ” 29
30
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Szlez´ ak (1985, Anhang II, S. 376-385) ist gegen Harward (1932, S. 218), Crombie (1969, S. 18), Guthrie (1978, S. 411) und andere zuzustimmen, dass die willk¨ urliche Annahme, , ungerechtfertigt ist. Allerdings ber¨ ucksichtigt SzleDialoge seien keine z´ ak den Hinweis von Isnardi Parente (1969, S. 418) nicht hinreichend, dass bei Platon oft Gesetzesschriften oder Regelwerke meine. In dieser Hinsicht ist Szlez´ aks bei Platon aufschlussreich, siehe SzZusammenstellung der Textstellen zu lez´ ak (1985, S. 382f.). Obwohl diese Konnotation auch in 341c5 mitschwingen mag, dass sich also dasjenige, womit Platon sich ernsthaft besch¨ aftigt, insbesondere nicht in der Art von Regelwerken darlegen l¨ asst, greift die Interpretation zu kurz, wonach seien. Die entscheidenden Fragen sind: einfach Platons Dialoge keine Um welche Art von Wissen geht es Platon? Und inwiefern k¨ onnen die Dialoge dieses Wissen kommunizieren bzw. nicht kommunizieren? So z. B. Kr¨ amer (1959, S. 401), Gaiser (1980, S. 30 Anm. 31) und Ferber (1991, S. 35). Ferber weist darauf hin, dass die betreffenden Lerngegenst¨ ande nicht in der Weise unsagbar seien wie das f¨ ur das Eine bei Plotin gilt (vgl. Enneade VI.9.4,11-12). Vertreter der ungeschriebenen Lehre neigen zu dieser Interpretation, weil Platon nach ihrer Ansicht dasjenige, worum er sich ernstlich bem¨ uht, durchaus gesagt hat, z. B. in seiner ¨ Vorlesung Uber das Gute, siehe dazu Kr¨ amer (1964, S. 154), Gaiser (1980, S. 20f.) und Reale (1993, S. 204). Gundert (1968, S. 92), ebenso Gonzalez (1998a, S. 248 und 379 Anm. 9). So gesteht Szlez´ ak zu, dass es f¨ ur Platon etwas gibt, das sich der ad¨ aquaten Wieprinzipiell entzieht; das sei dem philosophischen Exkurs klar genug dergabe im zu entnehmen. Szlez´ ak bezweifelt aber, dass Platons Verdikt gerade dies und sonst nichts meine, denn dies sei schon dadurch ausgeschlossen, dass Platon an die Vernunft, die Ehrfurcht und die Beherrschung des falschen Ehrgeizes desjenigen appelliere, der Kenntnis der fraglichen Lehren hat. Derjenige, an den sich dieser Appell richtet, m¨ usse eine Wahl haben. Beim prinzipiell nicht Aussagbaren h¨ atten wir nicht die Wahl, es doch auszusagen, siehe Szlez´ ak (1985, S. 398). Szlez´ ak erl¨ autert hier leider nicht,
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Platon appelliert an potenzielle Autoren, und ein solcher Appell ist nur dann sinnvoll, wenn die betreffenden Personen die Wahl zwischen mehreren M¨ oglichkeiten haben. Die Alternative, vor der potenzielle Autoren stehen, ist aber nicht zwangsl¨ aufig diejenige zwischen einer ad¨ aquaten ” Wiedergabe“ und g¨ anzlicher Zur¨ uckhaltung, es kann sich dabei auch um eine Wahl zwischen g¨ anzlicher Zur¨ uckhaltung und nicht ad¨ aquater Wiedergabe handeln. Auch Kommentatoren, die die Leugnung der Sagbarkeit im Sinne einer absoluten Verneinung verstehen, sind nicht der Ansicht, dass man u ande reden ¨berhaupt nicht u ¨ber die betreffenden Lerngegenst¨ k¨ onne 33 , sondern nicht ad¨ aquat. Das Verdikt schließt nach dieser Interpretation die M¨ oglichkeit einer ad¨ aquaten Wiedergabe der betreffenden Lerngegenst¨ ande aus. Letztendlich l¨ asst sich die Frage der Sagbarkeit erst nach der Interpretation des philosophischen Exkurses beantworten, aber ¨ schon durch diese einfache Uberlegung ist der Unterschied zwischen beiden Positionen nicht mehr un¨ uberbr¨ uckbar. 34 Es ist damit allerdings noch nicht gekl¨ art, was unter einer ad¨ aquaten ” Wiedergabe“ der betreffenden Lerngegenst¨ ande zu verstehen ist. Hierzu ist eine Doppeldeutigkeit im Begriff der Sagbarkeit“ zu beachten: Sagbar” keit kann aus der Sicht des Wissenden etwas anderes bedeuten als aus der Sicht des Unwissenden. F¨ ur einen Wissenden ist sein Wissen sagbar, wenn es einen sprachlichen Ausdruck gibt, den die Wissenden verstehen und f¨ ur eine ad¨ aquate Wiedergabe ihres Wissens halten. Aus der Sicht des Nichtwissenden ist das Wissen sagbar, wenn es einen sprachlichen Ausdruck gibt, dessen Rezeption das entsprechende Wissen vermittelt, d. h. dass der Rezipient durch die Aufnahme des sprachlichen Ausdrucks u ¨ber das entsprechende Wissen verf¨ ugt. 35 Es ist offensichtlich, dass Sagbarkeit im
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35
worum es sich bei demjenigen, das prinzipiell nicht aussagbar ist, handelt und inwiefern dieses sich von der Ideen- bzw. Prinzipienlehre unterscheidet. In einer neueren Schrift deutet Szlez´ ak an, dass es sich bei dem prinzipiell Unsagbaren um einen innerseelischen Vorgang, n¨ amlich den Vorgang des pl¨ otzlichen Sicheinstellens von Einsicht“ ” (Szlez´ ak, 2002, S. 195) handelt. Vgl. dazu Thurnher (1975, S. 97). Kr¨ amer (1964, S. 144) formuliert: Die Sache selbst ist also sagbar und vermittelbar, ” soweit sie in die Medien eingeht, unsagbar, soweit diese wesentlich dahinter zur¨ uckbleiben“ (Hervorhebungen vom Verfasser). Ein Unterschied zwischen beiden Positionen besteht jetzt allenfalls noch darin, wie weit die Sache selbst in die Medien eingeht“ ” bzw. nicht eingeht. ¨ Ahnlich interpretieren die Nichtsagbarkeit dessen, worum Platon sich ernsthaft bem¨ uht, z. B. Thurnher (1975, S. 97) und Sayre (1995, S. 11), vgl. auch Sayre (1988, S. 95) und Sayre (1993, S. 173). Es besteht allerdings ein feiner Unterschied zwischen der hier erwogenen Interpretation der Nicht-Sagbarkeit im Sinne der Nicht-Kommunikabilit¨ at und der von Sayre vertretenen Position. Sayre f¨ uhrt aus: language generally, both ” written and spoken, is inadequate for the expression of philosophic understanding“ (Sayre, 1995, S. 11), und an anderer Stelle: the culmination of philosophy is a state ” of the psyche, which can be fostered by language but never formulated discursively“
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ersten Sinne die Sagbarkeit im zweiten Sinne nicht impliziert, d. h. dass ein sprachlicher Ausdruck, den die Wissenden f¨ ur ad¨ aquat halten, den Unwissenden dennoch keine Wissensvermittlung leistet. Dass diese Unterscheidung zwischen beiden Arten der Sagbarkeit Platon nicht fremd ist, zeigt eine Textstelle aus dem zw¨ olften Buch der Nomoi. Es geht hier auf den letzten Seiten um die Einrichtung der n¨ achtlichen Versammlung, genauer geht es um das Wissen derjenigen, die sich f¨ ur die Mitgliedschaft ¨ in diesem Rat qualifizieren. Uber dieses Wissen sagt der Athener (Nomoi 968e3-5): So w¨ are es zwar nicht richtig, wenn man alles, was hierher ” geh¨ ort, als ,nicht sagbar‘ bezeichnen wollte, wohl aber, wenn man es als ,nicht vorher sagbar‘ bezeichnet; denn auch wenn es vorher gesagt w¨ urde, k¨ onnte es nichts von dem klarmachen, was damit gemeint ist.“ 36 In dem Wortspiel von nicht sagbar“ ( ) und nicht vorher sagbar“ ” ” ( ) geht es darum, dass es m¨ ußig w¨ are, mit m¨ oglichen Kandidaten oder anderen Leuten u ¨ber das betreffende Wissen zu sprechen, denn bevor sie u ugen, verstehen sie das Gemeinte nicht. ¨ber dieses Wissen verf¨ Der Athener zielt also auf den Unterschied zwischen den Wissenden und den Nicht-Wissenden. Dass die betreffenden Lehren nicht sind, bedeutet, dass die Wissenden sich in ihrem Diskurs dar¨ uber verst¨ andigen k¨ onnen, f¨ ur sie ist das betreffende Wissen durchaus sagbar. Anders verh¨ alt es sich mit Gespr¨ achspartnern, die u ugen, ¨ber das Wissen nicht verf¨ ihnen gegen¨ uber ist es nicht sagbar. Es ist im Siebten Brief nicht von vornherein auszumachen, ob Platon die Sagbarkeit im zweiten Sinne oder im ersten und zweiten Sinne f¨ ur problematisch h¨ alt. Der Siebte Brief macht keine besonderen Angaben u ¨ber einen Diskurs der Wissenden und die dabei auftretenden Schwierigkeiten; allerdings weisen die Ausf¨ uhrungen u an¨ber die Defizienz der Verst¨ digungsmittel im philosophischen Exkurs (insb. 342e4 und 343c1) darauf hin, dass jede Art von Diskurs, mithin auch der Diskurs der Wissenden, problematisch ist. Andere Textstellen weisen spezifisch auf Schwierigkeiten der Vermittlung dieses Wissens hin (341c7, 343e-344b). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch im Parmenides (135ab) die Beschreibung der Schwierigkeiten desjenigen, der von den Ideen h¨ ort: Er behauptet entweder, dass es so etwas u ¨berhaupt nicht gibt, oder, wenn es sie gibt, dass sie f¨ ur Menschen nicht erkennbar sind, oder, wenn es sie gibt und wenn sie f¨ ur Menschen erkennbar sind, dass dieses Wissen nicht kommuni-
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(Sayre, 1988, S. 109). Sayre scheint demnach die Nicht-Sagbarkeit nicht als Unsagbarkeit einer Lehre, sondern als Unsagbarkeit eines seelischen Zustandes zu verstehen, vgl. Szlez´ ak (2002, S. 195). Es ist durchaus m¨ oglich, dass dasjenige, worum Platon sich ernstlich bem¨ uht, ein seelischer Zustand bei seinen Sch¨ ulern bzw. Lesern ist, n¨ amlich der Zustand der Einsicht. Zweifelhaft ist aber, ob man von einem seelischen Zustand sinnvoll behaupten kann, er sei sagbar bzw. unsagbar. ¨ Ubersetzung aus Eigler (1990, Bd. 8/2, S. 509).
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kabel ist; wer das entsprechende Wissen herausfindet und in der Lage ist, es andere hinreichend“ ( 135b2, vgl. Siebter Brief 341d5) zu leh” ren, der verdient die gr¨ oßte Bewunderung (vgl. 135b1). Worin auch immer die Schwierigkeit bestehen mag, diese Dinge selbst herauszufinden, ein besonderes Problem besteht offenbar darin, sie einem Lernenden zu kommunizieren. 37 Problematisch ist die Sagbarkeit dessen, worum Platon sich ernst” lich bem¨ uht“ ( 341c2, vgl. 344c1 und 344c6f.). 38 Der Ernst erscheint bei Platon als Motiv bereits in der schriftkritischen 37
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In der Kommentarliteratur wurde das Problem der Sagbarkeit auch mit anderen Textstellen bei Platon in Zusammenhang gebracht: Graeser (1989, S. 35) verweist auf Theaitetos 201e1-202b1. Es geht an dieser Stelle um die Bestimmung der Erkenntnis als mit Logos verbundender wahrer Meinung. Sokrates unterscheidet hier erste ¨ Elemente von allem Ubrigen, das aus den ersten Elementen zusammengesetzt ist. Von den ersten Elementen gelte, dass man sie lediglich nennen, ihnen im Logos aber nichts 201e3f.). Im Logos werden anderes zuschreiben k¨ onne (vgl. Begriffe miteinander verkn¨ upft, wobei einem Begriff ein von ihm verschiedener Begriff hinzugef¨ ugt wird (202a6), d. h. im Logos wird von etwas etwas anderes ausgesagt. Wenn es m¨ oglich w¨ are, einen Logos von den ersten Elementen selbst anzugeben, dann m¨ usste der Logos sie ohne alle anderen Begriffe erkl¨ aren (202a7f.). Weil das unm¨ oglich ist, seien die ersten Elemente unsagbar und unerkennbar“ ( ” 202b6), lediglich das [aus ihnen] Zusammengesetzte sei erkennbar und sagbar“ ( ” 202b7). Einen anderen Vorschlag zur Erkl¨ arung der enthalSagbarkeit macht Harward (1932, S. 212): Er verweist auf Politeia 546c1, te hier eine Anspielung auf den spezifisch mathematischen Sinn der Kommensurabilit¨ at von L¨ angen (vgl. Euklid Elemente X, Def. 3). Zwei L¨ angen sind kommensurabel, wenn es eine Maßeinheit gibt, so dass beide ganzzahlige Vielfache der Maßeinheit sind. Z. B. sind die Seite und die Diagonale eines Quadrats in diesem Sinne inkommensurabel, d. h. es gibt keine Maßeinheit, von der sowohl die Seite als auch die Diagonale ¨ eines Quadrats ganzzahlige Vielfache sind. Unklar ist allerdings die Ubertragung mathematischer Kommensurabilit¨ at auf das Verh¨ altnis von sprachlichem Ausdruck zu dem durch den Ausdruck Bezeichneten. Kommentatoren, nach deren Ansicht Platon eine ungeschriebene Lehre vertritt, interim Gegensatz zu der in den Dialogen enthaltenen Ideenlehpretieren Platons re als die den m¨ undlichen Vortr¨ agen vorbehaltene Theorie der Prinzipien“ (Szlez´ ak, ” 1985, S. 399), vgl. Kr¨ amer (1964, S. 147f.) und Reale (1993, S. 104). Die Schwierigkeit dieser Interpretation besteht darin, dass Platon in seiner Begr¨ undung der Unsagbarim philosophischen Exkurs ausdr¨ ucklich u keit der ¨ber Ideen spricht. Ferber hat das bemerkt und kommentiert: Die Ideen- und Prinzipienlehre scheinen n¨ amlich ” im Siebten Brief nicht voneinander getrennt werden zu k¨ onnen“ (Ferber, 1991, S. 39). Wenn der Siebte Brief aber tats¨ achlich die Begr¨ undung daf¨ ur enthalten sollte, dass die Ideenlehre zwar schriftlich in den Dialogen dargelegt werden k¨ onne, die Theorie ” der Prinzipien“ aber der m¨ undlichen Lehrt¨ atigkeit vorbehalten werden m¨ usse, dann d¨ urfte sich die Begr¨ undung der Unsagbarkeit u ¨berhaupt nicht auf die Ideen beziehen. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Unsagbarkeit bezieht sich ausdr¨ ucklich auf die Ideen, und wenn es in dieser Passage u ¨berhaupt um die Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit geht, dann enth¨ alt der philosophische Exkurs zumindest keine Begr¨ undung daf¨ ur, warum die Prinzipien im Gegensatz zu den Ideen nur Gegenstand m¨ undlicher Lehrvortr¨ age sein k¨ onnen. Einige Kommentatoren verweisen und : Platon bem¨ uhe sich zwar ferner auf den Unterschied zwischen
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Passage im Phaidros (276bff.); die ernsthafte Bet¨ atigung besteht hier in einem Ackerbau, der der landwirtschaftlichen gem¨ aß ist (Phaidros 276b6f.), bzw. in einem Unterricht, der der dialektischen entspricht (276e5f.) und zu wahrhafter Erkenntnis des Gerechten, Guten und Sch¨ onen f¨ uhrt. Diese Einsicht macht so gl¨ ucklich, wie es einem Menschen nur m¨ oglich ist (277a3f.). Umgekehrt stellt Sokrates in der Politeia fest, dass man sich um eine Dichtkunst nicht ernsthaft bem¨ uhen d¨ urfe“ ( ” 608a6f.), die die Wahrheit nicht erfasst. Diese Dichtkunst ist bei der Ausbildung der Tugend und f¨ ur das Erreichen der Gl¨ uckseligkeit hinderlich (606d). Im Timaios unterscheidet Platon zwei Arten von Ursachen: die notwendige und die g¨ ottliche (Timaios 68e6f.). Die notwendige suchen wir um der g¨ ottlichen willen (69a2f.), denn ohne die notwendige ist es nicht m¨ oglich, die g¨ ottliche allein zu verstehen“ ( 69a4), d. h. die ” notwendige m¨ ussen wir erkennen, damit wir die g¨ ottliche von der notwendigen unterscheiden und f¨ ur sich bestimmen k¨ onnen. Die g¨ ottliche Ursache suchen wir in allen Dingen um des gl¨ uckseligen Lebens willen (69a1), um sie bem¨ uhen wir uns ernstlich“ ( 69a4). Timaios ” kn¨ upft hier an eine fr¨ uhere Unterscheidung zwischen Ursachen und Mitursachen ( 46c7, d1, e7) an, wobei zu den Mitursachen die ganze k¨ orperliche Einrichtung des menschlichen Organismus (44d-46c) und die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft (46d6f.) – stellvertretend f¨ ur die aus den Elementen zusammengesetzte sichtbare Materie – geh¨ oren. 39 Die notwendigen Ursachen bewirken frei von Vernunft jeweils das regel” los Zuf¨ allige“ (46e5f.), einmal in Bewegung gesetzt setzen diese Ursachen aus Notwendigkeit wieder anderes in Bewegung (46e1f.). Den Mitursachen gegen¨ uber stehen die eigentlichen Ursachen, die zur verst¨ andigen ” 46d8f.). Natur geh¨ orenden Ursachen“ ( Diese sind mit Vernunft Urheber der sch¨ onen und guten Dinge“ ( ” 46e4f.). Von Natur ist hier die Rede nicht etwa als Gegensatz zur , sondern als dem Wesen der Sache. 40 Die eigentlichen Ursachen geh¨ oren zur verst¨ andigen Natur“ in dem Sin” ne, dass sie Ursache daf¨ ur sind, dass das Wesen der verursachten Dinge verstehbar ist. Allein aufgrund ihrer Materialit¨ at sind die Dinge regellos“ ” ( 46e6) und mangels regelhafter Bestimmtheit auch unverstehbar. Das Verh¨ altnis der beiden Ursachen ist in der Sprache des Mythos dasjeni¨ ge der Beherrschung mittels Uberzeugung (vgl. 48a2, vgl. 56c6). Wenn Timaios die Mitursache notwendige ”
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um die fraglichen Lehren, aber er behaupte nicht, sie zu wissen, siehe Gonzalez (1998a, S. 379 Anm. 8) und Ferber (1991, S. 34). Vgl. zu der Mitursache Kapitel 3.4. und vgl. Anmerkung 64 auf Seite 143. Zu dem Gegensatz von
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Ursache“ nennt, dann ist hier also nicht von Notwendigkeit im modernen Sinne eines unverbr¨ uchlichen Naturgesetzes die Rede, sondern als Gegenbegriff zur Intelligibilit¨ at. Warum nennt Timaios die g¨ ottlichen Ursachen g¨ ottlich“? Der Gott ist in der Sprache des kosmologischen Mythos der ” Demiurg, dessen Aufgabe darin besteht, das Ungeordnete zu einem Kosmos zu ordnen (30a-d, 53ab), wobei er stets auf das sich gleich Verhal” 28a6f., vgl. 29a4-8). tende hinblickt“ ( Der Demiurg ordnet den Kosmos, indem er allen Dingen die Bestimmtheit der Ideen verleiht. In diesem Sinne erlaubt es die mythische Redeweise von den Ideen als g¨ ottlichen Ursachen“ zu sprechen. Dasjenige, worum ” 69a4), ist also die Erkenntnis wir uns ernstlich bem¨ uhen“ ( ” der Ideen (vgl. 90b7ff.). In den Nomoi findet sich das Motiv des Ernstes an mehreren pr¨ agnanten Stellen. In der Passage, die das menschliche Leben als ein Spiel und den Menschen als Spielzeug Gottes bestimmt (Nomoi 803c-804c1), heißt es, dass seiner Natur nach der Gott alles seligen Ernstes w¨ urdig ist“ ” 803c3f.), w¨ ahrend ( der Mensch lediglich eines gewissen Ernstes w¨ urdig ist“ ( ” 804c1). Es ist an dieser Stelle nicht klar, was mit Gott“ eigentlich ” gemeint ist 41 , die Frage l¨ asst sich nur durch Betrachtung des zehnten Buches der Nomoi entscheiden. 42 Das Motiv des Ernstes greift der Athener hier auf: Die Gottesleugner glauben den Mythen nicht, die ihnen von fr¨ uhster Kindheit an teils im Scherz, teils im Ernst“ ( ” 887d4f., vgl. Symposion 197e7) von Ammen und M¨ uttern erz¨ ahlt wurden; und sie sahen, wie sich ihre Eltern in tiefstem Ernst um ” sich selbst und jene ernsthaft bem¨ uhtem“ ( 887d8f.) im Gebet. Bei den G¨ ottern, von denen an dieser Stelle die Rede ist, handelt es ¨ sich um die anthropomorphen G¨ otter der Uberlieferung. Die Gespr¨ achspartner in den Nomoi sch¨ atzen die traditionellen Gottheiten nicht gering, aber dennoch geht es Platon in der Theologie des zehnten Buches nicht um die G¨ otter der Tradition, sondern um die Vernunft ( ), die auch 43 897b2)” oder f¨ ur G¨ otter mit Recht eine Gottheit“ ist ( um die vern¨ unftige Seele (897b9, 899a7-10). Zum Beweis, dass es solche Gottheiten gibt, werden sie mit allem Ernst“ ( 893b3) ” zu Hilfe gerufen. Es ist noch nicht klar, wie das Verh¨ altnis zwischen jener Vernunft bzw. der vern¨ unftigen Seele und den Ideen zu bestimmen ist. Klar ist aber, dass sie in einem gewissen Verh¨ altnis zueinander ste41 42 43
G¨ orgemanns (1960, S. 103) denkt unter Verweis auf Timaios 69a2-5 an Seinserkenntnis. Vgl. zum Folgenden auch die ausf¨ uhrliche Interpretation in Kapitel 10. Zur Textgestalt vgl. Eigler (1990, Bd. 8/2, S. 301 Anm. 35) und Steiner (1992a, S. 162).
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hen. Dies zeigt die Funktion der vern¨ unftigen Seele: Sie sorgt daf¨ ur, dass die kosmische Bewegung nicht wahnsinnig und regellos“ ( ” 897d1, vgl. Timaios 30a4, 46e6 u. ¨ o.) ist, die gleiche Aufgabe erf¨ ullt der auf die Ideen blickende Demiurg im Timaios. Deutlicher ist der Bezug zwischen dem Motiv des Ernstes und den Ideen im zw¨ olften Buch der Nomoi : Bei allen Dingen, die ernster Besch¨ aftigung wert sind“ ” ( 966b4, vgl. 966c2), gilt, dass diejenigen, die wirkliche W¨ achter der Gesetze sind, auch wirkliches Wissen u ¨ber deren Wahrheit haben m¨ ussen und dies in Worten darlegen und in ihren Taten befolgen, indem sie die sch¨ onen und die nicht-sch¨ onen Handlungen nach ihrem Wesen unterscheiden (966b4-8); sie m¨ ussen sich ferner auf die Einheit von Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Einsicht und auf deren Vielheit verstehen (965de). Was ernster Besch¨ aftigung wert ist und worauf sich die W¨ achter verstehen m¨ ussen, ist also auch hier die Ideenerkenntnis – mindestens soweit es die Tugendideen betrifft. Die Redeweise von demjenigen, worum Platon sich ernstlich bem¨ uht, ist durchaus parallel zu derjenigen der Dialoge. Die Dialogstellen legen nahe, dass es sich dabei um Ideenerkenntnis handelt. Dabei ist zweierlei zu beachten: Erstens findet sich die Verkn¨ upfung desjenigen, worum Platon sich ernstlich bem¨ uht, mit dem Problem der Kommunikabilit¨ at dieses Wissens nicht nur im Siebten Brief, sondern auch im Phaidros und in den Nomoi, wo es um die Sagbarkeit bzw. Vorhersagbarkeit desjenigen Wissens geht, um das die k¨ unftigen W¨ achter sich ernstlich bem¨ uhen m¨ ussen (Nomoi 965d-966c, 968e). Zweitens verbinden sowohl Sokrates (Phaidros 277a3f., Politeia 608a6ff.) als auch Timaios (Timaios 69a1) die Erkenntnis, um die wir uns ernstlich bem¨ uhen, mit dem gelingenden menschlichen Leben. Zu u ¨berlegen ist also, worin die lebenspraktische Bedeutung dieser Erkenntnis liegt und ob diese praktische Bedeutung der Ideenerkenntnis mit deren Kommunikabilit¨ at bzw. Nichtkommunikabilit¨ at zusammenh¨ angt. Dasjenige, worum Platon sich ernstlich bem¨ uht, ist nicht nur nicht sagbar wie andere Lerngegenst¨ ande, sondern aus h¨ aufiger gemeinsamer ” Bem¨ uhung ( ) um die Sache und aus dem Zusammenleben ( ) entsteht es pl¨ otzlich ( ) wie ein Licht, das von einem entspringenden Funken angez¨ undet wurde, in der Seele und n¨ ahrt sich dann schon aus sich selbst heraus weiter“ (Siebter Brief 341c6-d2). Auch f¨ ur die vielen Zusammenk¨ unfte gibt es eine Parallele in der bereits erw¨ ahnten Passage in den Nomoi, denn dort heißt es, dass es f¨ ur die Einrichtung der n¨ achtlichen Versammlung Belehrung mit vielen Zusam” menk¨ unften“ ( 968c6f.) br¨ auchte. Das ist wenigstens ein Indiz daf¨ ur, dass es hier wie dort um das gleiche Wissen
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geht. 44 Bei den vielen Zusammenk¨ unften denken zahlreiche Kommentatoren an so etwas wie philosophische Forschung im Dialog 45 , also Gespr¨ ache ¨ ahnlich denjenigen, die uns in schriftlicher Form mit den Platonischen Dialogen u ¨berliefert sind. Entsprechend fassen diese Kommentatoren den didaktischen Unterschied zwischen anderen Lehren und denjenigen, um die es Platon geht, so: Jene Lehren sind im m¨ undlichen Lehrvortrag oder in schriftlichen Abhandlungen zu vermitteln, w¨ ahrend es f¨ ur diese der Teilnahme an zahlreichen platonischen Dialogen bed¨ urfte. 46 Platons in Schriftform vorliegende Dialoge lassen sich damit als ein Kompromiss zwischen geschriebenen Texten und m¨ undlichen Diskussionen verstehen. 47 Bei dem als etwas Pl¨ otzliches (vgl. 344b7) qualifizierten Moment der Einsicht kann es sich um ein eher harmloses oder ein dramatisches Ereignis handeln. 48 Im ersten Falle ginge es um den Moment, von dem man alltagssprachlich sagen kann, ich hab’s!“, mir geht ein Licht auf!“ oder der ” ” ” Groschen ist gefallen“. 49 Im zweiten Falle ginge es um das seltene, geradezu gl¨ uckhafte Ereignis der philosophischen Existenz. 50 Die bedeutendste Parallelstelle in den Dialogen findet sich am H¨ ohepunkt der Diotima-Rede im Symposion. In Anspielung auf die Epoptie der eleusinischen Mysterien heißt es dort u otzlich wird ¨ber den in die Liebeskunst Eingeweihten: Pl¨ ” er etwas von Natur wunderbar Sch¨ ones erblicken“ ( , Symposion 210e4), worauf die bekannte Charakterisierung der Idee des Sch¨ onen folgt (211a). In der Politeia schl¨ agt Sokrates zur Erkenntnis der Gerechtigkeit vor, dasjenige, als was sie sich beim einzelnen Menschen einerseits und im Staat andererseits zeigt, aneinander zu reiben“ ( , Politeia 435a2, vgl. Siebter Brief 344b4), ” bis wir die Gerechtigkeit wie aus Feuersteinen herausblitzen machen“ ” ( 435a2f.). 51 In 44 45 46 47 48 49 50
51
Vgl. ferner Gorgias 461b1. Z. B. Isnardi Parente (1969, S. 418). Z. B. Tigerstedt (1977, S. 70). Zu beachten ist insbesondere, dass der Siebte Brief nach dieser Interpretation in Einklang mit der schriftkritischen Passage im Phaidros ist. Z. B. Fritz (1966, S. 138, 145). Graeser (1989, S. 8). In diesem Sinne interpretiert die Stelle z. B. M¨ uller (1986, S. 158). In diesem Sinne interpretiert die Stelle z. B. Beierwaltes (1966/1967, S. 275), vgl. auch Porphyr: Vita Plotini 23. Einige Kommentatoren bestreiten, dass es im Siebten Brief um so etwas wie den Moment mystischer Erleuchtung ginge, siehe dazu Stenzel (1957a, S. 168, vgl. 165), Fritz (1966, 121f.) und Thurnher (1975, S. 72ff.). Allerdings verstehen die Kommentatoren unter einer mystischen Erleuchtung“ jeweils etwas anderes: F¨ ur ” Thurnher handelt es sich im Siebten Brief nicht um ein mystisches Erlebnis, weil es geht; f¨ ur Stenzel w¨ are Platon ein Mystiker, im Brief nicht um die Erkenntnis des wenn er glaubte, dass die Idee sich losgel¨ ost von den vier Erkenntnismitteln, erfassen ließe. Auf diese Textstelle weist Guthrie (1978, S. 410) hin, Novotn´ y (1930, S. 218) weist ferner auf Gorgias 484b1 hin. Zur Gerechtigkeit in der Politeia vgl. Kapitel 8.3.
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beiden F¨ allen geht es bei dem pl¨ otzlichen Ereignis um die auf vorherige Erkenntnisbem¨ uhungen folgende Einsicht in die Idee. Das Pl¨ otzliche weist auf eine gewisse Unverf¨ ugbarkeit der Einsicht hin, um die der Lernende sich zwar bem¨ uhen, die er aber nicht erzwingen kann. Insofern scheint sich im Moment der Einsicht ein kognitiver Vorgang zu ereignen, der von den kognitiven Leistungen des Erkenntnisstrebens wesentlich verschieden ist. Dabei ist wohl an den Unterschied zwischen dem dianoetischen Durchdenken einer Sache und ihrer noetischen Erfassung zu denken. Insofern Platon das pl¨ otzliche Ereignis mit einem Funken bzw. Licht vergleicht, steht das Sonnengleichnis in der Politeia im Hintergrund: Das Licht der Sonne l¨ asst das Sichtbare hervortreten und macht es f¨ ur den Gesichtssinn unterscheidbar (508a); das geistige Licht“ leuchtet, wenn ein Erkennen” der die denkbaren Bestimmtheiten im Denken unterscheidet. Platons These lautet: Dasjenige, worum er sich ernstlich bem¨ uht, l¨ asst sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lerngegenst¨ ande. Der philosophische Exkurs soll die These begr¨ unden. Zu diesem Zweck versucht der philosophische Exkurs drei Fragen zu beantworten: Erstens um was f¨ ur Lerngegenst¨ ande es sich handelt – hierbei besteht das Kernproblem in der Interpretation der Unterscheidung zwischen dem Wie-Beschaffenen“ ( ” 342e4 bzw. 343c1) und dem Seienden“ oder Was“ ” ” ( 342e4, 343c1). Zweitens welche Erkenntnismittel uns zur Verf¨ ugung stehen und inwiefern diese Erkenntnismittel defizient sind und drittens welche Voraussetzungen derjenige mitbringen muss, der sich um die fragliche Erkenntnis bem¨ uht. Die folgende Diskussion dieser Fragen zielt auf die n¨ ahere Charakterisierung dessen, worum Platon sich ernstlich bem¨ uht: Ideenerkenntnis.
6.3 Die Erkenntnismittel: Siebter Brief 342a-342d F¨ ur die Erkenntnis von jedem Seienden gibt es drei Hilfsmittel, die f¨ ur die Erkenntnis notwendig (aber nicht hinreichend, vgl. 342a7 und 342e1und ). Das 3) sind: Name, Erkl¨ arung und Abbild ( Vierte ist die Erkenntnis ( ) selbst und als f¨ unftes nennt Platon dasjenige, was erkennbar und wahrhaft Seiend ist“ ( ” ), d. i. die Idee (342a7-b3). 52 Was damit jeweils gemeint 52
Die wichtigsten Parallelstellen sind Parmenides 142a3-6, 155d6-e1 und Nomoi 895d4f.. Die erste Hypothese des Parmenides kommt zu dem Schluss, dass es vom reinen Einen , keinen , keine , keine und keine gibt, das reine kein Eine kann mithin nicht genannt, gesagt, wahrgenommen, gemeint oder erkannt werden; die zweite Hypothese kommt zu dem Ergebnis, dass es vom seienden Einen sehr , , , und gibt. Weder das reine Eine noch das wohl
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ist, zeigt Platon am Beispiel des Kreises. Ein ist ein einzelnes Wort, das die Sache bezeichnet. Im Falle des Kreises handelt es sich dabei nicht nur um das Wort Kreis“, sondern auch um Benennungen im weiteren ” ) oder (kreisf¨ ormig) umlaufend“ ( Sinne, etwa rund“ ( ” ” ) (342b8-c1). Es kommen also nicht nur Hauptw¨ orter, sondern auch Eigenschaftsw¨ orter, die eine wichtige Bestimmtheit der Sache bezeichnen, als in Frage. Als Erkenntnismittel ist der Name ein Allgemeinbegriff, unter den die benannte Sache subsumiert wird. Unter ist jede Darstellung der Sache in der Form von S¨ atzen zu verstehen. Der wird aus mehreren W¨ ortern zusammengesetzt, genauer: , was gew¨ ohnlich u ¨bersetzt ¨ wird als aus Nomina und Verben zusammengesetzt“. Diese Ubersetzung ” wird durch eine Parallelstelle im Sophistes best¨ atigt, wonach das die T¨ atigkeit ( 262a3) und das die t¨ atige Sache bezeichnet. Ein kommt zustande, wenn man Nomen und Verb verbindet und von einer t¨ atigen Sache angibt, was sie tut, z. B. der Mensch lernt“; kein ” kommt zustande, wenn man ausschließlich Verben, z. B. geht“, l¨ auft“, ” ” schl¨ aft“, oder ausschließlich Nomina, z. B. L¨ owe“, Hirsch“, Hund“, an” ” ” ” einanderreiht (262bc). Mit Hilfe dieser Bestimmung l¨ asst sich die Aussage vom bloßen Namen und das Aussagen vom bloßen Nennen unterscheiden: Beim Nennen wird eine Sache als etwas benannt, in der Aussage wird von der genannten Sache gesagt, was sie tut oder ist. Bemerkenswert ist gleichwohl, dass es sich bei dem des Kreises im Siebten Brief nicht um einen im Sinne des Sophistes handelt, denn der des Kreises lautet: das von seinen ¨ außersten [sc. Punkten] zur Mitte u ¨berall gleich” weit Entfernte“ ( 342b7f.). Dieser enth¨ alt unter anderem zwar mehrere Nomina und ein Verb, aber er gibt trotzdem nicht von einer genannten Sache an, was sie tut oder ist. Allerdings ist dieser Unterschied auch nicht u ¨berzubewerk¨ onnte verk¨ urzt stehen f¨ ur: Ein Kreis ist ten, denn der genannte das von seinen ¨ außersten Punkten zu Mitte u ¨berall gleichweit Entfernte. Ferner ist zu beachten, dass der die oben aufgez¨ ahlten Benennungen des Kreises u ¨berhaupt nicht verwendet und dass darin auch keine Eigenschaften des Kreises genannt oder aufgez¨ ahlt werden. Keines der seiende Eine lassen sich mit einer Platonischen Idee identifizieren (von der Idee ha), entscheidend ist aber, dass uns bei dem unkennbaren reinen ben wir keine Einen auch die Erkenntnismittel des Siebten Briefes fehlen, w¨ ahrend das seiende Eine keine Ausnahme von der Regel des Briefes (342a7) bildet, dass uns die genannten Hilfsmittel f¨ ur die Erkenntnis von jeglichem Seienden zur Verf¨ ugung stehen. In den und , wobei aber umstritten ist, ob Nomoi unterscheidet Platon hier im Sinne der Platonischen Idee interpretiert werden darf, vgl. dazu Isnardi Parente (1964, S. 250f.). Weitere Vergleichsstellen sind Phaidros 245e4, Sophistes 218c1-5, 221b1, Politikos 267a5 und 271c1f.
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verwendeten Worte k¨ onnte einzeln als Benennung des Kreises fungieren. Aber der ganze Ausdruck ist durch den Artikel substantiviert und kann in einem Satz sowohl die Benennung ersetzen, als auch durch die Benennung ersetzt werden 53 , in diesem Sinne handelt es sich also um eine Nominaldefinition. Der bestimmt aber auch, was ein Kreis ist. Insofern jeder Kreis dem gen¨ ugt, handelt es sich um eine Realdefinition. 54 Mit bezeichnet Platon hier sowohl das gezeichnete und ausgewischte Bild als auch das gedrechselte und irgendwann wieder zerst¨ orte Ding. In den Dialogen werden und entsprechende Synonyme f¨ ur Nachbildungen unterschiedlichster Art gebraucht, etwa die Malerei eines K¨ unstlers, einen Schatten, das Spiegelbild oder sogar die gesprochenen ” Bilder“ ( , Sophistes 234c6) eines Sophisten. 55 Nicht nur Nachahmungen von Dingen k¨ onnen Bilder sein, sondern auch die Dinge selbst, insofern sie als Instanzen von Ideen deren Abbilder“ sind. 56 ” 53
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Der im Siebten Brief d¨ urfte also zu verstehen sein im Sinne von Nomoi 895e: gerade“ f¨ ur eine gerade Zahl und den eine Zahl, Es geht dort um das ” ” die sich in zwei gleiche Teile zerlegen l¨ asst“. Name und Definition bezeichnen dasselbe, auf die Frage nach der Definition k¨ onnen wir den Namen angeben, auf die Frage nach dem Namen k¨ onnen wir die Definition angeben. Die Austauschbarkeit von Name und Definition zeigt, dass Platon den Namen nicht als einen bloßen Designator versteht, der lediglich auf die Sache zeigt, ohne sie zu bestimmen; durch die Benennung wird die Sache bereits als dasjenige bestimmt, als was der Name sie bezeichnet. Dass dennoch ein entscheidender Unterschied zwischen der Benennung und der Aussage im Sinne von Sophistes 262c besteht, zeigt die Diskussion des falschen Satzes im Sophistes 262e-263d, vgl. 238c. Vgl. Graeser (1989, S. 28). Es ist darin allerdings weder der Prozess einer platonischen Dihairese im Sinne des Politikos oder Sophistes zu erkennen, noch handelt es sich um eine Definition durch genus proximum et differentia specifica. Der potentiale Optativ 342b8) deutet darauf hin, dass es sich bei dem angegebenen lediglich um ( handelt. darf deshalb nicht zu eng interpretiert werden, einen m¨ oglichen er kann die bestimmte Sache genau definieren oder im weiteren Sinne einfach von anderen bestimmten Sachen unterscheiden, vgl. Theaitetos 208d. Vgl. Politeia 509eff., 596d9 und z. B. Timaios 29af. Timaios konzipiert nicht nur den Kosmos insgesamt als Abbild des Außerzeitlichen, auch die Zeit ist ein Abbild, n¨ amlich ein nach Zahlen fortschreitendes Abbild der Ewigkeit“, vgl. Timaios 37d7f. ” des Siebten Briefes auch meist in der KommenIn diesem Sinne werden die tarliteratur verstanden, z. B. Howald (1923, S. 35), Guthrie (1978, S. 405) und Graeser (1989, S. 28). Im H¨ ohlengleichnis (Politeia 514a-517a) wird das Verh¨ altnis von Instanz und Idee durch das Verh¨ altnis von Schattenbildern an der H¨ ohlenwand zu den schattenwerfenden Gegenst¨ anden verbildlicht; der Handwerker bringt mit den von ihm hergestellten Gegenst¨ anden Nachahmungen von Ideen hervor (Politeia 596bff., vgl. Phaidros 250b, 250d6 und Timaios 48e-49a, 52a). Das Abbildungsverh¨ altnis von Idee und Instanz darf nicht vom Dinglichen her verstanden werden. Das vom Handwerker gefertigte Bett und das Bild, welches ein K¨ unstler davon malt, sind einander ¨ ahnlich. Diese Ahnlichkeit der Erscheinung kann es in dem Verh¨ altnis von Idee und ¨ Instanz nicht geben. Als Bestimmtheit ist die Idee von ihrer Instanz kategorial ver¨ schieden, die Ahnlichkeit“ zwischen Idee und Instanz (z. B. Timaios 52a5, vgl. auch ” ¨ Parmenides 132d) ist keine Ahnlichkeit in der Erscheinung, sondern metaphorischer
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Es braucht also nicht zu verwundern, wenn Platon im philosophischen Exkurs sowohl Dinge als auch Bilder im engeren Sinne als bezeichnet. Die weite Verwendung von in den Dialogen kann die Verwendung im Brief zwar erkl¨ aren, es gibt aber auch problematische Unterschiede: Im Brief sind die wahrnehmbaren Instanzen Erkenntnismittel. In der Politeia charakterisiert Sokrates die Dialektik gerade durch die Absehung vom Sinnlichen und damit auch von den Abbildern (Politeia 511c). 57 Der Unterschied zwischen beiden Bewertungen der Instanzen ist aber nicht un¨ uberbr¨ uckbar. Die Beschreibung der Verwendung der Erkenntnismittel im Brief, insbesondere das aneinander Reiben“ der Er” kenntnismittel (344b4), deutet darauf hin, dass Bilder und Instanzen zwar notwendige Erkenntnismittel sind, dass der Erkennende aber gerade nicht bei den bestimmten Instanzen stehen bleiben kann, sondern zum Erfassen der Bestimmtheit u achen ¨bergehen muss. Das Abarbeiten der Schw¨ der Erkenntnismittel erlaubt eine Vermittlung zur Politeia-Stelle. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Erkenntnis ( ) f¨ ur die Interpretation, weil Platon von ihr im Siebten Brief in mindestens zwei verschiedenen Bedeutungen spricht. Er f¨ uhrt sie als Erkenntnis der Idee ein (342a7) und verwendet auch sp¨ ater unmissverst¨ andlich in diesem Sinne (342e2); er nennt die Erkenntnis der Idee in der Aufz¨ ahlung der f¨ unf ausdr¨ ucklich das Vierte“ (342a8). Offenbar handelt es sich ” dabei um die zuvor durch die Lichtmetapher (341d1f.) charakterisierte Erkenntnis besonderer Art. Dann aber spricht Platon von Erkenntnis, Denken und wahrer Meinung von diesen“ ( 342c5). Die Kom” mentatoren sind sich nicht einig, worauf sich bezieht: Erstens k¨ onnte es sich auf (342a7) beziehen. 58 Gegenstand von Erkenntnis, Denken und wahrer Meinung w¨ are dann jedes von den Seienden“, ” aber auch dieser Ausdruck l¨ asst mindestens zwei Interpretationen zu, er k¨ onnte n¨ amlich jedes welthaft Seiende bezeichnen, d. h. jede Instanz 59 , oder, wenn hier terminologisch von Seiendem im Gegensatz zu Werden-
57 58 59
Ausdruck des Verh¨ altnisses von Bestimmtheit und Bestimmtem. Auch in dieser metaphorischen Sprechweise handelt es sich nicht um eine symmetrische Beziehung: Die Instanz ist der Idee ¨ ahnlich“, nicht aber die Idee der Instanz. Vgl. dazu Kapitel 5.7. ” Auf diese Diskrepanz zwischen Politeia und Siebtem Brief weist besonders Stenzel (1957b, S. 94) hin. Diese Interpretation schl¨ agt Howald (1923, S. 36) vor. dann in Anlehnung an In dem Ausdruck jedes von den Seienden“ w¨ are ” ) zu verTextstellen wie Philebos 27b8f. als gewordenes Seiendes“ ( ” stehen. Der Siebte Brief w¨ urde nach dieser Interpretation behaupten, dass es von Werdendem gibt. Dieser Sprachgebrauch st¨ unde im Gegensatz zu Textstellen wie f¨ ur das Seiende im Gegensatz zum Werdenden reserPoliteia 478a-e, wo die viert wird, aber er w¨ are im Einklang mit Philebos 61d10-e4, wo Sokrates zwei Arten unterscheidet: die auf das Werdende und die auf das immer Seiende der gerichtete.
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dem die Rede ist, jede Idee. Zweitens k¨ onnte sich auf die ersten drei Erkenntnismittel, also Name, Erkl¨ arung und Instanz beziehen. 60 Gegenstand von Erkenntnis, Denken und wahrer Meinung w¨ aren dann die drei Erkenntnismittel im engeren Sinne, also die Kenntnis des Namens, einer Erkl¨ arung und einer Instanz der Bestimmtheit; es k¨ onnte sich aber auch im weiteren Sinne um diejenige Sachkenntnis handeln, die den drei Erkenntnismitteln entspricht bzw. durch sie vermittelt wird. Wenn auf die drei Erkenntnismittel zu beziehen ist, dann ist im Brief nicht nur mehrdeutig, Platon w¨ urde auch innerhalb weniger Zeilen zwischen beiden Bedeutungen hin- und herspringen, ohne den Bedeutungsunterschied eigens zu thematisieren. Immerhin ließen sich beide Bedeutungen dadurch unterscheiden, dass Platon bei der Erkenntnis der Idee ausschließlich von spricht, w¨ ahrend die Erkenntnis der ersten drei in einer Reihe mit Denken und wahrer Meinung steht. Drittens auch auf die Ideen zu beziehen sein. Die Aufz¨ ahlung k¨ onnte best¨ unde dann aus Name, Erkl¨ arung, Instanz, Erkenntnis der Idee und Idee selbst. Auf den ersten Blick h¨ atte diese Interpretation den Vorteil, die Doppeldeutigkeit von zu vermeiden, ferner w¨ urde es anders als in der zweiten Variante, wonach auf die drei Erkenntnismittel zu beziehen ist, nicht zu jener eigent¨ umlichen Doppelung kommen, dass die Aufz¨ ahlung der Erkenntnismittel Name, Erkl¨ arung und Instanz fortgesetzt w¨ urde durch Kenntnis eines Namens, einer Erkl¨ arung und einer Instanz. Aber auch die dritte Variante l¨ ost das Problem der mehrdeutigen Verwendung von nicht, denn wenige Zeilen sp¨ ater stellt Platon fest: Wenn man von diesen die vier nicht irgendwie aufnimmt, wird man der Erkenntnis des f¨ unften niemals vollkommen teilhaftig werden (342e13). Die Erkenntnis des f¨ unften ist also nicht schon unter die ersten vier zu z¨ ahlen. Die beste Interpretation scheint sich trotz der genannten Probleme mit der zweiten Variante zu ergeben; in 342c5 nimmt dann in 342c3 wieder auf. Zur Vermeidung eines Widerspruchs sind dann zwei Arten von anzunehmen, wobei es sich bei der ersten um gew¨ ohnliche Sachkenntnis und solches Wissen handeln d¨ urfte, wie es sich durch die Nennung von Namen, das Geben von Erkl¨ arungen und die Betrachtung von Instanzen vermitteln l¨ asst, w¨ ahrend es sich bei der zweiten Art von Erkenntnis um jene durch die Lichtmetapher hervorgehobene Erkenntnis besonderer Art handelt. Damit ist allerdings noch nicht gekl¨ art, inwiefern sich die besondere Erkenntnis von der gew¨ ohnlichen unterscheidet und warum es sachlich u an¨berhaupt geboten ist, zweierlei zunehmen. Immerhin verf¨ ugt auch derjenige, der eine Sache richtig zu 60
In diesem Sinne interpretieren den Ausdruck Novotn´ y (1930, S. 221), Guthrie (1978, S. 406 Anm. 1) und Gonzalez (1998a, S. 249).
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benennen weiß, sie erkl¨ aren und Instanzen als Beispiele beibringen kann, offenbar u andnis der fraglichen Bestimmtheit: Im ¨ber ein gewisses Verst¨ Nennen bezeichnen wir die Instanz als etwas Bestimmtes, z. B. als Kreis, wir subsumieren die einzelne Instanz damit unter einen allgemeinen Begriff. Diese Bestimmung der einzelnen Instanz als Kreis ist aber noch unscharf, denn einerseits steht die Definition dessen, was Kreis“ bedeutet, ” noch aus, andererseits haben wir die Instanz mit allen ihren Bestimmtheiten unter einen einzigen Begriff subsumiert. Zum Beispiel k¨ onnte ein Kind unter Kreis“ eine in sich geschlossene Linie aus weißer Kreide“ ” ” verstehen. Das Kind versteht unter Kreis“ damit zwar schon etwas Be” stimmtes, n¨ amlich dieses und anderes nicht, aber dieser Allgemeinbegriff ist noch konfus“. 61 Ein Kreis ist zwar eine in sich geschlossene Linie, ” aber diese Bestimmung ist noch zu unbestimmt, weil auch ein Quadrat und zahllose andere geometrische Figuren in sich geschlossene Linien sind. Die weiße Kreide hingegen hat mit dem Kreis-Sein des Kreises nichts zu tun. Offenbar vermitteln Benennung und vorl¨ aufige Definition zwar ein gewisses Sachverst¨ andnis, das zudem Ausgangspunkt f¨ ur die genauere Bestimmung ist, aber die Unterscheidung des durch sie vermittelten Wissens avon der Ideenerkenntnis ist sachlich geboten. Weitere Hinweise zur Kl¨ rung dieser Fragen sind aus der n¨ aheren Betrachtung der Defizienz der Erkenntnismittel zu erwarten. Erkenntnis, Denken und wahre Meinung werden von der Idee und den u ¨brigen Erkenntnismitteln dadurch abgegrenzt, dass sie weder in Lauten noch in k¨ orperlichen Gestalten, sondern in den Seelen“ sind (342c6f.). ” Es gibt keinen Grund, Erkenntnis, Denken und wahre Meinung hier als Synonyme zu verstehen 62 , aber gerade wenn damit nicht zur besonderen Betonung eine Sache durch drei Begriffe bezeichnet werden soll, bleibt ihre Aufz¨ ahlung unvermittelt. Vom Denken heißt es, dass es aufgrund ¨ von Verwandtschaft und Ahnlichkeit der Idee am n¨ achsten sei (342d1, 61 62
Von einem konfusen“ Allgemeinen spricht in diesem Zusammenhang Schmitt (2000, ” S. 38-43), zur Sache vgl. auch Schmitt (2003, S. 56). Darauf weist Gonzalez (1998a, S. 380 Anm. 15) hin. F¨ ur eine m¨ ogliche Differenzieund im zweiten Sinne siehe Politeia 478a-479d, rung zwischen das Seiende, die dasjenige zwischen Sein und Nicht-Sein, wonach die nicht mit idend. i. die Instanzen, zum Gegenstand hat. Dass als mit tisch sein kann, zeigt Theaitetos 200e-201c. Die Erkl¨ arung der verbundener (Theaitetos 202c8f.) scheitert bei drei verschiedenen Ausle¨ sein kann, n¨ amlich stimmliche Außerung des Gedankens, gungen dessen, was Aufz¨ ahlung der Elemente und Angabe eines Unterscheidungsmerkmals (vgl. 206d9e2, 208b8f., 209d). In allen drei F¨ allen scheint bereits die wahre Meinung mit verbunden zu sein. F¨ ur eine Unterscheidung zwischen und siehe Timaios 51d3-e2: Ersteres beruht auf Belehrung, ist sicheres Wissen und mit wahverbunden, letzteres ist mit Wahrnehmung verbunden, verf¨ ugt u rem ¨ber keinen ¨ und beruht lediglich auf Uberredung.
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vgl. 344a3). Platon unterscheidet im Kontext physische Erkenntnismittel von psychischen (342c6f.). Wie auch immer die seelischen Leistungen zu differenzieren sind, Platon scheint hier sagen zu wollen, dass das Denken stellvertretend f¨ ur alle drei der Idee n¨ aher kommt als Benennung, Definition und Instanz. Dass die seelischen Erkenntnisakte der Idee n¨ aher kommen als Benennung und Definition, l¨ asst sich daraus erkl¨ aren, dass letztere hier als stimmliche, also materiell verwirklichte und sinnlich erfahrbare Ph¨ anomene verstanden werden (vgl. 342c6, Theaitetos 208c5 und Sophistes 263e3-8). Die Verwandtschaft zwischen seelischen Erkenntnisakten und selbst f¨ ur sich selbst seienden Ideen ist wenig u ¨berraschend, denn die Verwandtschaft zwischen Seele und Idee ist bei ¨ Platon ein Topos: Im Phaidon wird die Verwandtschaft und Ahnlichkeit (z. B. 79e2) zwischen Seele und Ideen ausgelegt durch deren Unzusammengesetztheit (78c), Unsichtbarkeit (79b) und das Verm¨ ogen der Seele, Ideen zu denken (79d, vgl. dazu Phaidros 249e5f.). Von diesen drei Hinsichten liegt der Behauptung ihrer Verwandtschaft im Brief die dritte zugrunde. Die denkende Seele erfasst die Ideen als das, was sie sind: denkbare Bestimmtheiten. Auch wenn die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen ein Topos ist, steht ihre Begr¨ undung noch aus. 63 Platon hat die Erkenntnismittel am Beispiel der Idee des Kreises erl¨ autert. Die Unterscheidung von Benennung, Definition, Instanz, Erkenntnis und Idee gilt aber nicht nur f¨ ur den Kreis, sondern auch f¨ ur alle anderen Bestimmtheiten. W¨ ahrend es f¨ ur Platon typisch ist, nur zwei oder drei ¨ ahnliche Bestimmtheiten ausdr¨ ucklich zu nennen und dann eine verallgemeinernde Formel anzuschließen, gibt er im Brief eine umfassende Liste an, die nicht zuletzt wegen der Verschiedenheit der aufgez¨ ahlten Bestimmtheiten Beachtung verdient. Neben geometrischen Figuren und Farbe nennt er die ethischen Bestimmtheiten des Guten, Sch¨ onen und Gerechten ebenso wie k¨ unstliche und nat¨ urliche K¨ orper 64 , die Elemente Feuer und Wasser, alle Lebewesen, Wesensarten in den Seelen und schließlich (342d3-e1). 65 Dieser Aus63 64
65
Siehe dazu Kapitel 10.7. bei Platon gew¨ ohnlich nicht Isnardi Parente (1964, S. 261) weist darauf hin, dass bezeichnet, sondern eher die , das Wesen oder die Idee der den Gegensatz zu Sache, z. B. Siebter Brief 342c8, 343a9 oder Phaidros 254b7. Der Gegensatz zwischen Natur und Kunst ist eher aristotelisch als platonisch, vgl. dazu Physik B 1, 192b819. Dass sich der Gegensatz zwischen Natur und Kunst aber auch bei Platon findet, zeigen z. B. Politeia 381b1 und 510a6. Vgl. ferner Nomoi 889aff., wo die vorsokratischsophistische Unterscheidung von Natur und Kunst aufgenommen wird (Mahieu, 1964, S. 26). F¨ ur eine ausf¨ uhrliche Diskussion dieser Ideenliste siehe Isnardi Parente (1964, S. 255269). Zum Umfang des Ideenbereichs siehe Kapitel 5.3.
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Die Erkenntnis der Ideen: Siebter Brief
druck kann sich ganz allgemein auf den Bereich der Praxis beziehen 66 , auf das Handeln und Leiden vern¨ unftiger Lebewesen, er kann aber auch eine viel umfassendere Bedeutung annehmen: Wenn das Werden um des Seins willen erfolgt (Philebos 54c4), d. h. wenn etwas in etwas anderem ) oder in etwas oder in sich selbst eine Bestimmtheit hervorbringt ( eine Bestimmtheit hervorgebracht wird ( ), dann ist f¨ ur jegliches Werden dieser Art eine Bestimmtheit anzunehmen. 67 Die Bedeutung des Ausdrucks muss also gar nicht auf den Bereich der menschlichen Praxis beschr¨ ankt werden. Alles welthaft Seiende ist einmal hervorgebracht geworden und kann daher als das Ergebnis einer verstanden werden, der Ausdruck schließt die Aufz¨ ahlung der Ideen also mit einer Verallgemeinerung auf die Ideen von allen m¨ oglichen Instanzen ab.
6.4 Die Defizienz der Erkenntnismittel: Siebter Brief 342e-343d Die Erkenntnismittel sind aus verschiedenen Gr¨ unden problematisch. Namen sind problematisch, weil die Benennung einer Sache mit einem Namen in keiner Weise zuverl¨ assig ist und nichts daran hindert, die Namen zu vertauschen und gerade“ zu nennen, was jetzt rund“ genannt wird ” ” (343a9-b4). Die Vertauschung von rund“ und gerade“ ist nur ein u ¨ber” ” deutliches Beispiel f¨ ur die Willk¨ urlichkeit der Wortzeichen. Im Kratylos scheitert der Versuch, eine zuverl¨ assige Relation zwischen dem Namen und der benannten Sache aufzuzeigen. Platon stellt sich im Siebten Brief damit auf die Seite seiner Dialogfigur Hermogenes, der die Richtigkeit der ¨ Benennung auf Ubereinkunft zur¨ uckf¨ uhrt (Kratylos 384d1, vgl. 435b46). 68 Aus dem gleichen Grund wie die Namen sind auch die S¨ atze problematisch, in denen die Namen verwendet werden (343b4-6). 69 Ein anderes 66
67 68 69
In diesem Sinne interpretiert die Stelle Isnardi Parente (1964, S. 265-269): Sobald bei ) ins Spiel kommt, einer Handlung oder Widerfahrnis ein Element der Ordnung ( erhalten sie damit eine intrinsische objektive Norm, die ihre Beziehung zu den Ideen etabliert, vgl. dazu Philebos 53d-54d. und in Kapitel 4.4. Vgl. dazu die Interpretation von Vgl. dazu Stenzel (1957b, S. 99) und Gonzalez (1998a, S. 257f.). Allinson (1998, S. 53) interpretiert diesen Zusammenhang anders: The reason that for ” Plato, a definition of a circle is not enough to account for knowledge of a circle is that for Plato, the words in a definition can change, so that one definition is not verbally or linguistically identical with another.“ Nach dieser Interpretation besteht das Problem darin, dass verschiedene Definitionen derselben Sache jeweils andere W¨ orter verwenden. Das Problem, auf das Platon uns aufmerksam macht, besteht aber nicht darin, dass verschiedene W¨ orter dieselbe Bedeutung haben oder dass verbal verschiedene Definitionen dieselbe Sache bestimmen, sondern darin, dass dasselbe Wort verschiedene Sachen bezeichnen kann.
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Problem besteht im Falle der Instanzen: Die gezeichnete oder gedrechselte Instanz eines Kreises ist voll von dem, was der Bestimmtheit des Kreises entgegengesetzt ist, sie ber¨ uhrt“ n¨ amlich u ahrend ¨berall das gerade, w¨ ” die Bestimmtheit des Kreises weder ein kleineres noch ein gr¨ oßeres St¨ uck ” der entgegengesetzten Natur in sich hat“ (343a5-9). Das Problem besteht nicht darin, dass eine Instanz nicht nur eine, sondern viele Bestimmtheiten hat, sondern dass ihr die fragliche Bestimmtheit nur bedingt zukommt. Die materielle Instanz eines Kreises ist nicht vollkommen rund und insofern defizient; deswegen ist aber nicht umgekehrt die Bestimmtheit des Kreises vollkommen rund. Auch f¨ ur die Bestimmtheit des Kreises gilt, dass sie keine Instanz ihrer selbst ist, sie ist weder vollkommen rund noch u ¨berhaupt ein Kreis. Platon deutet zahllose weitere Schwierigkeiten hinsichtlich der Erkenntnismittel an, die gr¨ oßte und gewissermaßen entscheidende liege aber in der Orientierung der Erkenntnismittel am Wie-Beschaffenen“ statt am ” Sein“ bzw. Was“ der Sache. Platon greift diese Unterscheidung im Text ” ” zweimal auf: (Außerdem versuchen diese [die vier Erkenntnismittel] nicht weniger das Wie u ¨ber ein jegliches zu verdeutlichen als das Sein von jeglichem, wegen der Schw¨ ache der Reden. 342e3-343a1);
(Zweierlei ist das Sein und das Wie-Beschaffene, nicht das Wie-Beschaffene, sondern das Was sucht die Seele zu erfahren. Doch was sie nicht sucht, h¨ alt jedes der vier der Seele entgegen, in Worten und gegenst¨ andlich. 343b8-343c3).
Beide Textstellen stimmen teils miteinander u ¨berein, teils unterscheiden sie sich: Das Sein einer Instanz ist ihre Bestimmtheit oder das Was dieser Sache, (342e4) meint also nichts anderes als (343c1). In beiden Textstellen unterscheidet Platon gleichermaßen das Was der Sache von dem Wie-Beschaffenen. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass die Erkenntnismittel im ersten Fall nicht weniger das Wie-Beschaffene als das Was aufdecken, d. h. sie verdeutlichen auch das Was der Sache, w¨ ahrend in der zweiten Version nur davon die Rede ist, dass sie der Seele das Nicht-Gesuchte darbieten, also das Wie-Beschaffene, nicht aber das Was der Sache. 70 Eine verbreitete Interpretation erkennt hier die Unterscheidung zwischen dem Wesen der Sache und ihren Eigenschaften. 71 Die Seele erstrebt 70 71
Diesen Unterschied hat zuerst Graeser (1989, S. 11) hervorgehoben. Vgl. Howald (1923, S. 36), Novotn´ y (1930, S. 224), Harward (1932, S. 215 Anm. 105), M¨ uller (1986, S. 151), Ross (1951, S. 140), Br¨ ocker (1963, S. 422), Isnardi Parente
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nach dieser Interpretation die Kenntnis des Wesens einer Sache, w¨ ahrend ihre Erkenntnismittel ihr vor allem Akzidentien der Sache darbieten. Tats¨ achlich hat jede Instanz zahlreiche akzidentielle Eigenschaften, die sie der erkennenden Seele darbietet, weniger klar ist aber, inwiefern das auch f¨ ur (1964, S. 281), Fritz (1966, S. 125), Gundert (1971, S. 9), Guthrie (1978, S. 408). Es wird dabei allerdings oft nicht klar, wie die Gegen¨ uberstellung von Wesen“ oder essence“ ” ” und Eigenschaften“ zu verstehen ist. Wesen“ k¨ onnte hier im Sinne der Platonischen ” ” Idee zu verstehen sein; die Idee ist eine Bestimmtheit ihrer Instanzen, z. B. die Idee des Sch¨ onen als Bestimmtheit einer sch¨ onen Statue. Wie ist dann die Gegen¨ uberstellung von Wesen und Eigenschaften zu verstehen? Ist die Sch¨ onheit das Wesen dieser Statue oder ihre Eigenschaft? Oder ist hier bei Wesen“ bloß an invariante Eigenschaften einer ” Sache zu denken, so dass es sich bei der Dichotomie um den Gegensatz zwischen invarianten und ver¨ anderlichen Eigenschaften der Sache handelt? Oder ist mit Wesen“ in ” gemeint – nicht das konkrete Einzeleinem spezifisch Aristotelischen Sinne die ding, sondern diejenige Bestimmtheit, die das konkrete Einzelding zu einem Ganzen macht, vgl. Metaphysik Δ 26, 1023b27-36 und dazu Picht (1985, S. 259); die Dichotomie und den hinzukommenden Eigenschaften w¨ are dann als Gegensatz zwischen der zur Kl¨ arung auszulegen. Das Heranziehen der Aristotelischen Konzeption der der Unterscheidung zwischen dem Was und dem Wie-Beschaffenen im Brief ist aber f¨ ur eine hinmindestens deshalb problematisch, weil Aristoteles den h¨ alt, w¨ ahrend die M¨ oglichkeit einer hinreichenden reichende Bestimmung der durch einen solchen im Siebten Brief geleugnet wird. Bestimmung des bzw. Auch wenn die genannten Kommentatoren zur Kl¨ arung des Sachverhaltes nicht direkt auf Aristoteles verweisen – Isnardi Parente (1964, S. 281) bestreitet einen Aristotelismus ausdr¨ ucklich –, die Sprechweise von Wesen“ oder essence“ und Akzidentien“ ” ” ” bringt den Anklang an die Aristotelische Konzeption unweigerlich mit sich. Einen anderen Vorschlag macht Gonzalez: The distinction here [im Siebten Brief ] [. . . ] must ” instead be understood as one between all of a thing’s properties, on the one hand, and the thing itself in its unity, on the other. The presupposition of this distinction is that what a thing is cannot be reduced to a multiplicity of properties or qualities.“ (Gonzalez, 1998a, S. 259), vgl. Gonzalez (1998b, S. 246). Gonzalez f¨ uhrt an anderer Stelle aus: By ,quality‘ here [im Siebten Brief ] appears to be meant any property ” that might be predicated of a thing. Accordingly, to say that logoi [. . . ] can express ) is to say that they can only predicate soonly how something is qualified ( mething of something else (x is y).“ (Gonzalez, 2002, S. 50). Das Was einer Sache entzieht sich demnach prinzipiell der Artikulation in S¨ atzen. Die St¨ arke dieses Vorschlags liegt darin, dass er die Sagbarkeit der Beschaffenheiten und die Unsagbarkeit des Was zu erkl¨ aren scheint. Problematisch ist der Vorschlag aber vor allem aus zwei Gr¨ unden: Wenn man alle Bestimmtheiten einer Sache propositional angeben kann, welche Bestimmtheit k¨ onnte dar¨ uber hinaus dasjenige sein, was die Sache ist? Wenn dasjenige, was die Sache ist, eine Bestimmtheit ist, dann kann die Antwort auf diese Frage nur lauten: keine. Das gilt auch dann, wenn das Wesen einer Sache nicht ein B¨ undel von Eigenschaften ist, vgl. Gonzalez (1998b, S. 248). Auch dem Vorschlag von Gonzalez liegt m¨ oglicherweise ein impliziter Aristotelismus zugrunde, denn die Ariist in der Tat keine Eigenschaft oder Qualit¨ at des Einzeldinges. Der stotelische zweite Grund besteht darin, dass die Interpretation von Gonzalez zwar die Defizienz erkl¨ aren kann, nicht aber die der . Wie k¨ onnte Platon von einer Sache der behaupten, dass sie dasjenige, was sie ist, nicht darbietet? Selbst wenn man Gonzalez zugesteht, dass sich das Was einer Sache im Gegensatz zu ihren Eigenschaften nicht propositional fassen l¨ asst: Eine Instanz ist dasjenige, was sie ist, sie bringt dieses Was zur Erscheinung und bietet es der erkennenden Seele dar.
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Benennung und Erkl¨ arung gilt. Die Benennungen einer Sache als Kreis“, ” rund“ oder (kreisf¨ ormig) umlaufend“ kann die Sache als etwas ausgeben, ” ” was ihr lediglich akzidentiell zukommt, z. B. wenn man diese Pr¨ adikate von einer M¨ unze aussagt. Das verh¨ alt sich anders, wenn man einen mathematischen Kreis als Kreis“ bezeichnet: Hier gibt die Benennung die Sache ” nicht als etwas aus, was ihr lediglich akzidentiell zukommt, denn es ist diesem Kreis wesentlich, ein Kreis zu sein. Erst die angef¨ uhrte Definition des Kreises als dasjenige, was von seinen ¨ außersten Punkten zur Mitte u ¨berall gleichweit entfernt ist, verweist auf keinerlei akzidentielle Eigenschaften; im Gegenteil scheint es sich vielmehr um eine angemessene Definition des Wesens des Kreises – Wesen im Sinne der Aristotelischen – zu handeln. Die Schwierigkeit philosophischer Erkenntnis im Siebten Brief kann zumindest nicht darin liegen, dass Definitionen ausschließlich oder vorwiegend nicht-wesentliche Eigenschaften aufdecken w¨ urden. In den Dialogen gibt es einige Ankl¨ ange an die Unterscheidung zwischen dem Was und dem Wie-Beschaffenen im Brief: Im Menon geht es darum, dass man zun¨ achst das Was einer Sache kennen muss, bevor man etwas u ¨ber ihre Wie-Beschaffenheit sagen kann (71b4, 86d-87b, vgl. 97a). Bevor man etwas u ¨ber die Lehrbarkeit der Tugend sagen kann, muss man wissen, was Tugend u autert wird die Unterscheidung mit ¨berhaupt ist. Erl¨ dem Beispiel, dass man Menon kennen m¨ usse, bevor man wissen k¨ onne, ob Menon sch¨ on, reich oder vornehm ist. Weil Sokrates nach einer Definition der Tugend fragt, glauben viele Kommentatoren, dass Platon – zumindest zur Zeit der Niederschrift des Menon – die Tugend f¨ ur definierbar gehalten habe. 72 Wenn das richtig ist, dann muss die Unterscheidung im Brief anders zu verstehen sein als die des Menon, denn im Brief l¨ asst sich das Was einer Sache gerade nicht hinreichend in einer Definition ausdr¨ ucken. 73 Wenn im Menon Lehrbarkeit und Wesen der Tugend unterschieden werden, so zielt diese Unterscheidung keinesfalls auf akzidentielle Eigenschaften. Die Lehrbarkeit bzw. Nicht-Lehrbarkeit der Tugend 72 73
So auch Graeser (1989, S. 21), dagegen argumentiert Gonzalez (1998a, S. 259), der die Briefstelle dann auch ausgehend vom Menon interpretiert. Ein ¨ ahnlicher Gedanke wird im Phaidros (237cff.) aufgegriffen. Dort gibt Sokrates eine methodische Anweisung, wie man richtig beratschlagt, dass man n¨ amlich zuerst wissen m¨ usse, wor¨ uber man ber¨ at. Viele bemerkten n¨ amlich gar nicht, dass sie das Wesen der Sache nicht kennen und deshalb notwendig das Ganze verfehlen. Sokrates ) der gen¨ ugt seiner methodischen Anweisung, indem er zun¨ achst das Wesen ( Sache bestimmt (238b9-c4) und dann seine erste Rede u alt. Die ironische ¨ber den Eros h¨ Pointe dieses Vorgehens besteht allerdings darin, dass Sokrates zwar ausgehend von der Wesensbestimmung des Eros eine angemessene Rede h¨ alt, in dieser Rede aber gegen den Daimon frevelt, weil er sein Wesen falsch bestimmt hat (242cff.). Ferner ist unklar, ob dem Wesen des Eros hier u ubergestellt ¨berhaupt Beschaffenheiten gegen¨ sind, denn Sokrates’ Rede handelt nicht direkt von dem Daimon Eros, sondern von den Verhaltensweisen der Liebenden.
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ist nicht eine Bestimmung, die zu dem, was Tugend ist, noch hinzukommt (im Sinne der ) oder nicht. Die Lehrbarkeit der Tugend ist mit dem, was Tugend ist, untrennbar verbunden. Auch das Beispiel, dass man Menon kennen m¨ usse, bevor man wissen k¨ onne, ob Menon sch¨ on, reich oder vornehm ist, muss nicht als Unterscheidung von Menons We” sen“ und seinen Akzidentien verstanden werden. Wenn Menons Wesen das Mensch-Sein ist, dann k¨ onnte es durchaus sein, dass Sch¨ onheit, Reichtum und Vornehmheit hinzukommende Bestimmtheiten sind, die mit der Art und Weise, wie Menon sein Mensch-Sein verwirklicht, wenig zu tun haben. Im Sinne der Rede der wahrhaften Philosophen im Phaidon k¨ onnte man aber auch fragen, ob Menon ein Liebhaber des Leibes, geld- und ehrs¨ uchtig und , Phaidon 68b9-c1) ist. Der ( Charakter eines Menschen ist entscheidend f¨ ur die Art und Weise, wie dieser Mensch sein Mensch-Sein verwirklicht. Wenn Menon einen solchen Charakter hat, dann ist keineswegs sicher, ob ihm Sch¨ onheit, Reichtum und Vornehmheit akzidentiell sind. Man muss Menon kennen, d. h. man muss die Art und Weise seiner Verwirklichung des Mensch-Seins kennen, um zu wissen, ob Sch¨ onheit, Reichtum und Vornehmheit bei ihm Symptome von Leibverfallenheit sind. Das w¨ urde zumindest erkl¨ aren, warum die Kenntnis der Wie-Beschaffenheit die Bekanntschaft mit Menon voraussetzt. Die Unterscheidung zwischen dem Wie-Beschaffenen und dem Sein l¨ asst sich nicht als Differenzierung von wesentlichen und akzidentiellen Eigenschaften interpretieren. Mehr Erfolg verspricht eine Interpretation, wonach es sich um die Unterscheidung zwischen Instanzen auf der einen Seite und Ideen auf der anderen Seite handelt. 74 Diese Differenzierung h¨ atte man von vornherein erwarten k¨ onnen, weil sie die f¨ ur Platon grundlegende Unterscheidung zwischen Werden und Sein bzw. zwischen Bestimmtem und Bestimmtheiten aufgreift, wobei das Erkenntnisstreben dem unver¨ anderlichen Sein gilt. Die Interpretation erh¨ alt einige Best¨ atigung aus dem Timaios (49dff.). 75 Timaios setzt sich dort mit dem Problem auseinander, dass die Elemente und alle werdenden Dinge u ¨berhaupt ineinander u ¨bergehen. Es stellt sich daher die Frage, ob dasjenige, was wir Feuer nennen, nicht ebensogut als Wasser anzusprechen w¨ are und ob Feuer und alles Werdende u ), das einige Best¨ andigkeit ¨berhaupt als dieses“ ( ” aufweist, anzureden ist, oder vielmehr als so-beschaffenes“ ( ). ” Als dieses“ im Sinne der Timaios-Stelle wird jedoch nur dasjenige be” zeichnet, in dem“ ( 49e7) das Werden sich vollzieht und das auch ” als Aufnehmendes ( 49a6) und Raumgebendes ( 52b1) bezeichnet wird. Die werdende Instanz ist eine Nachahmung ( 49a1) 74 75
Vgl. Graeser (1989, S. 24). Zur Textstelle vgl. Anmerkung 5 auf Seite 51.
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ihrer Idee, so dass die So-Beschaffenheit der Instanzen folgendermaßen zu interpretieren ist: Die Instanz ist so beschaffen wie die Idee, es handelt sich bei der Instanz um den so wie die Idee beschaffenen Teil des Aufnehmenden, d. i. derjenige Teil des Aufnehmenden, der durch die Idee bestimmt wird. Nach dieser Interpretation besteht die Defizienz der Erkenntnismittel im Siebten Brief darin, dass sie der Seele lediglich Instanzen von Ideen anstatt der Ideen selber pr¨ asentieren. Die Benennungen Kreis“, ” rund“ und (kreisf¨ ormig) umlaufend“ bezeichnen zun¨ achst Gegenst¨ and” ” liches. Die korrekte Benennung eines Gegenstandes mit einem dieser Namen deckt die bezeichnete Eigenart des Gegenstandes auf. Die Idee des Kreises ist selbst weder kreisf¨ ormig noch rund oder (kreisf¨ ormig) umlaufend und deshalb durch diese Namen unzureichend benannt. Den Unterschied zum gegenst¨ andlichen Kreis markiert Platon durch der Kreis ” selbst“ ( Siebter Brief 342c3) oder die Natur des Krei” 76 342c8f.), Adjektive werden ses selbst“ ( zus¨ atzlich zu dieser Kennzeichnung substantiviert. Wenn solche Kennzeichnungen eine kategoriale Verwechslung ausschließen, warum pr¨ asentiert die Benennung der Seele dann trotzdem mehr die Instanz als die Idee? Eine Sache kann ohne Bezug auf individuelle Besonderheiten definiert werden, und als Konsequenz der Unvollkommenheit von Instanzen gen¨ ugt m¨ oglicherweise keine einzige Instanz der Definition. Warum pr¨ asentiert die Definition dennoch mehr die Instanz als die Idee? Lediglich im Falle dinglicher Beispiele ist klar, warum sie der Seele eher die Instanz als die Idee darbieten: Sie sind selbst Instanzen der gesuchten Idee. Wenn die ersten drei Erkenntnismittel der Seele vorwiegend Instanzen darbieten, dann ist es klar, dass es sich bei dem durch sie vermittelten Wissen, dem Vierten, um die Kenntnis von Instanzen und nicht um eigentliche Ideenerkenntnis handelt. Der Kern des Problems ist Folgendes: Man kann u ¨ber eine Idee eine Vielzahl von richtigen Aussagen machen. Die Idee ist seiend, sie ist 76
Gonzalez (1998a, S. 249, vgl. S. 380 Anm. 16) versteht darunter the circle itself that ” exists in reality“. Der Ausdruck kann aber keinesfalls eine Instanz des Kreises bezeichnen: Platon hat zuvor Erkenntnis, Vernunft und wahre Meinung von den ersten drei Erkenntnismitteln dadurch abgegrenzt, dass sie in der Seele sind, im Gegensatz zu den stimmlich artikulierten Namen und Definitionen und den k¨ orperlichen Gestalten (342c3-6). Daraus sei offenbar, dass Erkenntnis, Vernunft und wahre Meinung sowohl von der Natur des Kreises als auch von den drei zuvor genannten Erkenntnismitteln verschieden sind (342c7f.). Wenn es sich bei der Natur des Kreises um eine in der materiellen Realit¨ at existierende Instanz des Kreises handelte, w¨ are sie eine der drei zuvor genannten Erkenntnismittel, Platon h¨ atte die seelischen Erkenntnisakte nicht eigens von ihr abgrenzen m¨ ussen. Wenn es sich dagegen um die Idee handelt, dann ist es sinnvoll die seelische Erkenntnis von der Idee abzugrenzen, denn der eigentliche Ort der Idee ist nicht die menschliche Seele.
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identisch mit sich selbst und verschieden von allen anderen Ideen. 77 Diese Aussagen betreffen das Idee-Sein der Idee, sie bestimmen die Idee, insofern sie eine Bestimmtheit ist. Grammatikalisch handelt es sich bei diesen Aussagen um gew¨ ohnliche Pr¨ adikationen, sie sagen etwas von etwas aus, allerdings ist dasjenige, wor¨ uber sie etwas aussagen, nicht ein Gegenstand in der Welt, sondern eine Bestimmtheit. In Schwierigkeiten ger¨ at man, sobald man u ¨ber den Gehalt einer einzelnen Idee sprechen ¨ m¨ ochte. Die Idee ist in Hinsicht auf ihre Instantiierungen die Uberf¨ ulle aller Seinsm¨ oglichkeiten, aber die eine Idee zerf¨ allt nicht in viele getrennte Seinsm¨ oglichkeiten, d. h. die eine Idee ist nicht viele Ideen. Die Idee ist vielmehr eingestaltig“ ( Symposion 211b2), die verschiedenen ” Seinsm¨ oglichkeiten bilden in der Idee eine ungeteilte Einheit. Innerhalb der Idee des Menschen ist nicht ein Teil der Idee die Bestimmtheit des blonden, ein anderer Teil die Bestimmtheit des dunkelhaarigen Menschen. Die Idee ist nicht nur die Einheit der verschiedenen Seinsm¨ oglichkeiten. Auch hinsichtlich der einzelnen Seinsm¨ oglichkeit bildet die Idee die Einheit dessen, was wir zur sprachlichen Artikulation in eine Vielheit auseinanderlegen m¨ ussen: Platons Sokrates verwirklicht auf intensive Weise eine M¨ oglichkeit des Mensch-Seins. In dieser einen Seinsm¨ oglichkeit ist nicht ein Teil das ideelle Bein, ein anderer der ideelle Arm; es ist auch nicht ein Teil dieser Seinsm¨ oglichkeit Sokrates’ K¨ orper, ein anderer seine Tugend. Wenn wir aber im philosophischen Gespr¨ ach versuchen, die Idee des Menschen zu bestimmen, dann m¨ ussen wir die eine Bestimmtheit des Menschen durch zahlreiche Abgrenzungen unterscheiden. Wir m¨ ussen die verschiedenen Seinsm¨ oglichkeiten hinsichtlich ihrer Verschiedenheit und ihrer Selbigkeit durchgehen und bei der einzelnen Seinsm¨ oglichkeit die Vielheit der Aspekte, in die sie sich auslegt, unterscheiden, in das richtige Verh¨ altnis zueinander setzen und in ihrer Einheit verstehen. Die Schwierigkeit dieses Unternehmens mag im Falle der Idee des Menschen besonders groß sein, prinzipiell verschieden ist sie aber auch bei der Idee des Kreises nicht: Bei ihr ist nicht ein Teil der Idee die Seinsm¨ oglichkeit eines Kreises mit dem Radius x, ein anderer Teil diejenige eines Kreises mit dem Radius y. Es ist auch nicht ein Teil der Idee der ideelle Mittelpunkt, ein anderer die Distanz der Kreislinie vom Mittelpunkt, ein dritter die umlaufende Kreislinie selbst. Aber eine Definition des Kreises lautet: das von seinen ¨ außersten Punkten zur Mitte u ¨berall gleichweit ” Entfernte“ ( 342b7f.). Um diese Definition des Kreises anzugeben, m¨ ussen notwendig ¨ verschiedene Aspekte (die Mitte, das Außerste, die Distanz, die Gleichheit) der einen Bestimmtheit angesprochen und in das richtige Verh¨ altnis zueinander gesetzt werden. Dabei ist zu beachten, dass die genannten 77
Vgl. Sophistes 256aff.
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Bestimmtheiten mit der Bestimmtheit des Kreises zwar – in der Terminologie des Sophistes (259e5f.) – verflochten sind, dass es sich dabei aber um ganz andere Bestimmtheiten handelt. Im kann man die Idee nur erfassen, indem man auf andere Bestimmtheiten zur¨ uckgreift als die zu bestimmende Idee selbst ist. 78 Der ist am Wie-Beschaffenen orientiert, weil er zur Formulierung der einen Bestimmtheit der Idee auf die vielen verschiedenen Aspekte zur¨ uckgreift, die die erkennende Seele an den untersuchten Instanzen unterschieden hat. Diese Aspekte sind tats¨ achlich Aspekte der Instanzen – jeder konkrete Kreis hat eine Mitte, außerste Punkte und einen bestimmten Radius –, aber diese Aspekte sind ¨ nicht im gleichen Sinne auch Aspekte der Idee, denn die Idee des Kreises hat keine Mitte, keine ¨ außersten Punkte und keinen Radius. Der Grund daf¨ ur ist, dass die Idee des Kreises kein Kreis ist. Worin besteht das Problem der Benennungen? Im Kratylos scheitert das Bem¨ uhen um die Erkenntnis der Bestimmtheit einer Sache aus der etymologischen Analyse der Benennung. Die Etymologie offenbart zwar in einigen F¨ allen wichtige Aspekte der Bestimmtheit der Sache, liefert aber keine eindeutige Unterscheidung der Sache. Immerhin zeigt der Gedankengang des Kratylos, dass Platon die Aufdeckung der Bestimmtheit durch die Benennung erwogen hat. F¨ ur die Benennungen rund“ und (kreisf¨ or” ” mig) umlaufend“ im Siebten Brief gilt, dass sie unabh¨ angig von aller Etymologie durchaus die Bestimmtheit des benannten Kreises aufdecken. Diese Benennungen heben unterscheidbare Aspekte der Sache hervor, aber diese Aspekte sind nicht auch Aspekte der Idee des Kreises. Denn die Idee des Kreises ist genauso wenig rund und kreisf¨ ormig umlaufend, wie sie die in der Definition genannte Mitte oder einen Radius hat. Damit ist allerdings noch nicht erkl¨ art, warum auch solche Benennungen, die in philosophischer Kunstsprache Ideen bezeichnen sollen, z. B. der Kreis selbst“, ” der Seele stets auch das Wie-Beschaffene darbieten. Immerhin sollte die Gefahr der Verwechslung zwischen Bestimmtheit und Bestimmtem durch die philosophische Sprechweise gebannt sein. Die Erkl¨ arung d¨ urfte darin liegen, dass auch die Entwicklung philosophischer Kunstsprache von der Alltagssprache ausgeht und ihre Terminologie unter Anlehnung an die gew¨ ohnliche Verwendung der W¨ orter entwickelt. Die Alltagssprache dient der Verst¨ andigung u and¨ber die gegenst¨ liche Welt, ihre W¨ orter sind zum Ausdruck derjenigen Unterscheidungen gepr¨ agt, die f¨ ur die Sprecher dieser Sprache relevant sind. In diesem Sinne mag f¨ ur einen Griechen im vierten vorchristlichen Jahrhundert die Unterscheidung zwischen Menschen, die seinem eigenen Kulturkreis angeh¨ oren und der griechischen Sprache kundig sind, und solchen, die als Angeh¨ orige eines anderen Kulturkreises nur gebrochen oder u ¨berhaupt kein 78
Vgl. Graeser (1989, S. 34).
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Griechisch sprechen, d. i. Barbaren, eine große Rolle gespielt haben. Die allt¨ agliche Bedeutung dieser Unterscheidung spiegelt sich in der gel¨ aufigen Dichotomie von Grieche“ und Barbar“ wider. In der philosophischen ” ” Reflexion besteht das Ziel aber nicht darin, die Dinge irgendwie zu unterscheiden, sondern diejenigen Unterscheidungen herauszuarbeiten, die der Sache angemessen sind. In diesem Sinne darf der Philosoph nicht so verfahren wie ein schlechter Koch, der die Tiere irgendwie und nicht an ihren Gelenken zerteilt (vgl. Phaidros 265e1-3). Wer also im Rahmen einer philosophischen Bestimmung des Menschen dessen Bestimmtheit differenziert in Griechen und Barbaren (vgl. Politikos 262a-263a), der mag dabei einer Unterscheidung folgen, die nach dem gew¨ ohnlichen Gebrauch des Wortes Mensch“ nahe liegt, aber er verf¨ ahrt dabei wie der schlechte ” Koch, der das Tier irgendwie und nicht an den Gelenken zerschneidet. Bei der Unterscheidung zwischen dem Was bzw. dem Sein und dem Wie-Beschaffenen handelt es sich nach der vorliegenden Interpretation um die Unterscheidung zwischen Idee und Instanz. Die beiden Belegstellen (342e3-343a1 und 343b8-343c3) im Brief stimmen hinsichtlich dieser Unterscheidung u ¨berein, beurteilen den Erkenntniswert der Hilfsmittel aber unterschiedlich. Gem¨ aß der ersten Belegstelle verdeutlichen die Erkenntnismittel beides, das Wie-Beschaffene aber nicht weniger als das Was der Sache, w¨ ahrend sie nach der zweiten Belegstelle der Seele das Nicht-Gesuchte, n¨ amlich das Wie-Beschaffene darbieten. Wenn man die zweite Formulierung so versteht, als st¨ unde dort: Nur das Nicht-Gesuchte bieten die Erkenntnismittel der Seele dar, dann widersprechen die beiden Passagen einander. Der Widerspruch l¨ asst sich vermeiden, wenn man gedanklich nicht ein nur“, sondern ein auch“ erg¨ anzt, so dass die Textstelle ” ” zu lesen ist im Sinne von: Nicht allein das gesuchte Was der Sache, sondern auch das Nicht-Gesuchte bieten die Erkenntnismittel der Seele dar. ur diese Angleichung der zweiten an die erste Passage spricht auch der F¨ philosophische Sachverhalt 79 : Ideen und Instanzen sind zwar kategorial verschieden voneinander, aber die Instanzen sind von den Ideen nicht zu trennen. Es handelt sich bei Ideen und Instanzen nicht um zwei getrennte Gegenstandsbereiche, die sich unabh¨ angig voneinander betrachten ließen. Eine Instanz ist u ¨berhaupt nur irgendetwas, wenn sie durch eine Idee bestimmt wird; es gibt kein Ding, das frei von Bestimmungen durch Ideen w¨ are, und wenn es ein solches Ding g¨ abe, dann w¨ are es nicht erkennbar, weil es keinerlei unterscheidbare Bestimmtheiten h¨ atte. Sobald wir Instanzen erkennend unterscheiden, haben wir es mit ihren Bestimmtheiten zu tun, den Ideen. Die Erkenntnismittel tendieren zwar zur Darbietung 79
Graeser (1989, S. 37) pl¨ adiert umgekehrt f¨ ur die Angleichung der ersten an die zweite Textstelle.
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der Instanzen, aber – unthematisch – pr¨ asentieren sie dabei immer auch die Bestimmtheit. Die vier Erkenntnismittel bieten der Seele das Nicht-Gesuchte in Worten und gegenst¨ andlich dar; das Gesagte und Gezeigte ist durch sinnli” che Wahrnehmungen leicht widerlegbar“ ( 343c4) und erf¨ ullt jeden Mann mit Ratlosigkeit und Ungewissheit (343c2-6). Die Kommentatoren sind sich nicht einig, ob es sich hierbei um wirkliche oder um scheinbare Widerlegbarkeit handelt. 80 Zun¨ achst ist festzustellen, dass hier nicht Namen, Instanzen und richtige Urteile widerlegbar“ sein sol” len. 81 Im strikten Sinne widerlegbar sind lediglich falsche Urteile. Insofern Benennungen, Erkl¨ arungen, Beispiele und das durch sie vermittelte Wissen der Seele das Wie-Beschaffene darbieten, geh¨ oren sie einem am Bereich der Instanzen orientierten Erkenntnishabitus an. Es geht also um die Widerlegbarkeit solcher Urteile, die einem an den Instanzen orientierten ur die WiderlegErkenntnishabitus entspringen. 82 Zahlreiche Beispiele f¨ barkeit solcher Urteile finden sich in Platons Dialogen: Hippias’ Versuche zur Bestimmung des Sch¨ onen im Hippias Maior entspringen einem solchen Erkenntnishabitus; seine Bestimmungen des Sch¨ onen als sch¨ ones ” M¨ adchen“ (Hippias Maior 287e4) oder Gold“ (289e3) lassen sich leicht ” durch den Hinweis auf die Wahrnehmung einer anderen sch¨ onen Sache widerlegen, z. B. das von Pheidias aus Elfenbein gefertigte Bildnis der Athene (290a-d). Platon behauptet nach dieser Interpretation nicht, dass alle richtigen Urteile durch die Wahrnehmung leicht widerlegbar w¨ aren, sondern dass die an den erscheinenden Instanzen orientierten Versuche zur Angabe von Bestimmtheiten leicht durch den Verweis auf andere wahrnehmbare Instanzen widerlegt werden k¨ onnen. Diese Widerlegung ist – wie im Hippias Maior gesehen – keine scheinbare, sondern eine wirkliche Widerlegung. Dass Hippias mit seinen Bestimmungsversuchen in Aporie ger¨ at, belegt die Aussage des Briefes. Einige Schwierigkeiten f¨ ur die Interpretation bereitet der nun folgende Abschnitt (343c6-d9). Platon skizziert hier zwei Situationen philosophischer Dialektik (343c6-d2, d2-d9). Die erste Situation ist dadurch charakterisiert, dass die Antwortenden nicht gew¨ ohnt sind, nach dem Wahren 80 81 82
Fritz (1966, S. 131f.) behauptet unter Verweis auf Theaitetos 157b gegen Br¨ ocker (1963, S. 423), dass es sich um scheinbare Widerlegbarkeit handle. Das moniert Br¨ ocker (1963, S. 423). Anders als Fritz (1966, S. 132) behauptet, geht es nicht um die scheinbare Widerlegbarkeit geometrischer S¨ atze durch die Wahrnehmungen, z. B. wenn der Tangentensatz, dass eine Tangente einen Kreis in genau einem Punkt ber¨ uhrt, durch den Hinweis auf eine gezeichnete Tangente, die den gezeichneten Kreis in mehr als einem Punkt ber¨ uhrt, scheinbar widerlegt wird. Bei demjenigen, was die vier defizienten Erkenntnismittel der Seele darbieten, handelt es sich nicht prim¨ ar um geometrische S¨ atze und andere zeitlos g¨ ultige Wahrheiten. Platon sch¨ atzt die Mathematik besonders, weil sie einen nicht an den Instanzen orientierten Erkenntnishabitus f¨ ordert.
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zu suchen. In dieser Gespr¨ achssituation gilt: Wir werden nicht l¨ acherlich ” voreinander, die Gefragten vor den Fragenden“ (343c8-d1). Von einer der beiden Parteien heißt es, sie sind in der Lage, die vier [Erkenntnismittel] ” durcheinander zu werfen und zu bestreiten“ ( 343d2). Es ist allerdings nicht klar, welche der beiden Parteien u ahigkeiten verf¨ ugt, ob es ¨ber diese elenktischen F¨ sich dabei um die Fragenden oder die Gefragten handelt. Wenn die Gefragten u ahigkeiten verf¨ ugen, dann k¨ onnte das eine ¨ber die elenktischen F¨ Erkl¨ arung daf¨ ur sein, dass sie nicht l¨ acherlich werden. Gegen diese Interpretation spricht, dass die in der ersten Gespr¨ achssituation Gefragten nicht gew¨ ohnt sind, nach dem Wahren zu suchen, d. h. sie pflegen jenen an den Instanzen orientierten Erkenntnishabitus, der jeden Mann“ ” – also auch den Streitk¨ unstler – mit Aporie und Unsicherheit erf¨ ullt“ ” (343c5f.). Die elenktischen F¨ ahigkeiten sch¨ utzen die Gefragten also nicht vor Aporie. Wenn die Fragenden u ahigkeiten verf¨ u¨ber die elenktischen F¨ gen, dann d¨ urften die Gefragten erst recht in Aporie geraten. Nach beiden Interpretationen stellt sich die Frage, warum die Gefragten nicht l¨ acherlich werden, obwohl sie in Aporie geraten. Eine Erkl¨ arung k¨ onnte darin liegen, dass nicht die Aporie an sich den in der Ausweglosigkeit Befangenen der L¨ acherlichkeit preisgibt, sondern in Aporie l¨ acherlich ist nur, wer zuvor einen entsprechenden Wissensanspruch erhoben hat. 83 Die zweite Gespr¨ achssituation ist komplizierter. Es sind dabei f¨ unf Parteien von Gespr¨ achsteilnehmern zu unterscheiden: Die erste Partei bestimmt das Thema: die Idee. Die zweite wird als (343d4) bezeichnet und ist grammatisch das Subjekt von und (343d4f.). Eine dritte Partei verf¨ ugt u achs (vgl. ¨ber die Kunst des Streitgespr¨ 343d4). Die vierte antwortet und f¨ uhrt diese Antworten in Rede oder Schrift aus. Als f¨ unfte Gruppe k¨ onnen dabei die Zuh¨ orer bisweilen den Eindruck gewinnen, der Antwortende verst¨ unde nichts von der untersuchten Sache. Diese Gespr¨ achssituation l¨ asst je nach Identifizierung der dritten Partei zwei verschiedene Interpretationen zu: 1) Die dritte Partei, die Streitk¨ unstler, k¨ onnten identisch sein mit der Antwort gebenden vierten. 84 Der ganze Satz ließe sich dann so paraphrasieren, dass die Streitk¨ unstler beherrscht, wer diese zwingt, gem¨ aß dem Wesen der untersuchten Sache zu antworten; den Zuh¨ orern ist dabei bisweilen nicht klar, dass nicht mangelndes Wissen des Antwortenden, sondern die Defizienz der Darstellungsmittel schuld daran ist, dass der Antwortende als unwissend erscheint. Wie ist die Beherrschung der Streitk¨ unstler 83 84
Darin liegt z. B. die L¨ acherlichkeit der Gespr¨ achspartner Protagoras 361a5 und Lysis 223b5, vgl. Philebos 48c. 343d4 mit als Grammatikalisch ist diese Lesart m¨ oglich, weil Genitivobjekt gelesen werden kann.
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zu verstehen? In den Dialogen gibt es einige Gespr¨ achssituationen, in denen Redner oder Sophisten gerade dadurch an der Entfaltung ihrer Kunst gehindert werden, dass sie von Sokrates zur Angabe des Was einer Sache gezwungen werden. Nach dem Was der Tugend gefragt, erweisen sich zum Beispiel Menons Definitionsversuche als unzureichend; Sokrates beherrscht“ Menon in dem Sinne, dass er dessen Wissensmangel in Fra” gen der Tugend aufdeckt, wodurch bei Menon allererst die Bereitschaft zu philosophischer Untersuchung geschaffen wird. Zwischen der im Brief skizzierten Gespr¨ achssituation und dem Gespr¨ ach von Sokrates und Menon besteht aber ein wichtiger Unterschied: Der Fragensteller erreicht, dass der Antwortende vielen Zuh¨ orern als unwissend erscheint ( 343d6), einige Zuh¨ orer w¨ ussten dabei nicht, dass nicht ein echter Wissensmangel des Befragten, sondern die Natur der Darstellungsmittel f¨ ur diesen Eindruck verantwortlich ist. Das weist auf echtes Wissen des Befragten hin, das wegen der Schw¨ ache der Hilfsmittel lediglich nicht zur Darstellung gebracht werden kann. Die von Sokrates in den so genannten Definitionsdialogen beherrschten“ Gespr¨ achspartner zeichnen sich dage” gen mehr durch Scheinwissen als durch echtes Wissen aus; die Aporie ist in diesen F¨ allen eine Reinigung von Scheinwissen. 2) Die Streitk¨ unstler k¨ onnen aber auch mit der zweiten Partei ( 343d4) identisch sein. In Paraphrase bedeutet der Satz dann: Wenn der Antwortende die Idee einer Sache darlegen soll, dann gewinnen die Streitk¨ unstler und erwecken bei den Zuh¨ orern den Eindruck, der Antwortende verst¨ unde nichts von der Sache; die Ursache davon liegt aber nicht in dem mangelnden Wissen des Antwortenden, sondern an der Defizienz der vier Darstellungsmittel. Jede Antwort auf die Frage nach dem Wesen einer Sache scheint mit den Mitteln eristischer Dialektik widerlegt werden zu k¨ onnen. Selbst ein Wissender, der u ¨ber Ideenerkenntnis verf¨ ugt, erscheint den Zuh¨ orern im Streitgespr¨ ach als unwissend: Das liege aber daran, dass die Zuh¨ orer bisweilen nicht w¨ ussten, dass hierbei nicht die Seele des Antwortenden, sondern die Natur der Darstellungsmittel gepr¨ uft werde – und die sei mangelhaft. Die Ursache f¨ ur das Scheitern der Darstellung der Idee im eristischen Gespr¨ ach d¨ urfte in der Mehrdeutigkeit der Worte und in der Unvollkommenheit der Beispiel-Instanzen liegen, beides bietet Ansatzpunkte f¨ ur sophistische Widerlegungen. 85 Der Gegensatz zwischen den beiden Gespr¨ achssituationen besteht vor allem darin, dass die Antwortenden im ersten Falle nicht gew¨ ohnt sind, nach dem Wahren zu suchen, w¨ ahrend sie im zweiten genau das tun: Sie versuchen, in ihren Antworten die Idee der Sache darzustellen. Im ersten Fall zeigt das Streitgespr¨ ach die Unwissenheit derjenigen, die nicht ge85
Illustriert wird dieser Umgang mit Worten im Euthydemos, vgl. Gonzalez (1998a, S. 258).
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w¨ ohnt sind, nach dem Wahren zu suchen. Anders verh¨ alt es sich dagegen im Streitgespr¨ ach, wenn die Gespr¨ achspartner der Idee gem¨ aß antworten: Mit eristischen Mitteln lassen sich deren Antworten zwar auf den Kopf ” stellen“ ( ), d. h. sie lassen sich entgegen der Intention des Sprechers auslegen, aber dadurch l¨ asst sich nicht die Seele, d. h. das Wissen in der Seele, der Antwortenden widerlegen. Die im Sinne der Idee Antworten¨ den lassen sich durch eristische Gespr¨ achsf¨ uhrung nicht von ihren Uberzeugungen abbringen. Die eristische Argumentationsweise deckt durchaus einen Mangel auf, aber nicht den Mangel an Wissen bei denjenigen, die gem¨ aß der Idee antworten, sondern die Defizienz der Darstellungsmittel. Lediglich bei den Zuh¨ orern, die das nicht wissen, kann der Eindruck entstehen, die Antwortenden verst¨ unden von der Sache nichts. 86 86
Es gibt in den Dialogen zahlreiche Textstellen, die die Sicherheit und Unwiderlegbarkeit der Rede von den Ideen betonen, siehe etwa Phaidon 100d8, e1, 101d1f., Timaios 29b7f., 49d4 und Politeia 534bc. Die Situation im Phaidon und im Timaios ist jeweils eine andere als im Brief. Die Sicherheit der Zugrundelegung der Bestimmtheit im Phaidon liegt darin, dass sich der Unterschied, den eine Bestimmtheit macht, nicht leicht leugnen l¨ asst; es geht im Phaidon aber nicht darum, die Bestimmtheit sprachlich zu artikulieren oder das entsprechende Wissen einem Gespr¨ achspartner zu vermitteln. Die Sicherheit der Rede von den Ideen im Timaios entspringt deren Unver¨ anderlichkeit; die Benennung oder Bestimmung ver¨ anderlicher Dinge wird unzutreffend, sobald das Ding gar nicht mehr dasjenige ist, als was wir es benannt und bestimmt haben. Bei der Bestimmung unver¨ anderlicher Ideen ist die Ver¨ anderlichkeit des ZuBestimmenden kein Problem. Die Politeia-Stelle widerspricht dem Brief zumindest nicht: Es geht um den Dialektiker, der Erkenntnis von der Idee des Guten hat. Er zu bestimmen, indem ist nicht nur imstande, die Idee des Guten durch einen er sie von allen anderen Bestimmtheiten unterscheidet, sondern wie im Gefecht, in” ) durchgeht, nicht gem¨ aß der Meinung, sondern dem er durch alle Pr¨ ufungen ( ), in allem diesem marschiert er bem¨ uht, dem Wesen gem¨ aß zu untersuchen ( ) hindurch“ (Politeia 534b8-c4). Der vom mit einer feststehenden Rede ( Guten ist keine formelhafte Definition, die ein hinreichendes Verst¨ andnis der Sache vermittelt. Wenn es eine solche Formulierung g¨ abe, dann m¨ usste Sokrates sich erstens Politeia 507a nicht mit der Zahlung des Zinses“ begn¨ ugen, sondern k¨ onnte die ” ganze Schuld“ begleichen und angeben, was das Gute ist, zweitens w¨ are die spezielle ” Erziehung der k¨ unftigen Herrscher, die in der Erkenntnis des Guten kulminiert, u ¨berdes Dialektikers gemeint ist, zeigt sich am fl¨ ussig. Was mit dem feststehenden ehesten an Sokrates’ Gespr¨ achsf¨ uhrung im Phaidon und in der Politeia: Sokrates widerlegt falsche Meinungen, geht die Einw¨ ande seiner Gespr¨ achspartner durch, bringt die Sache zur Darstellung – zumindest soweit seine eigenen F¨ ahigkeiten und die seiner Gespr¨ achspartner das zulassen – und artikuliert dabei eine feste und unumst¨ oßliche ¨ Uberzeugung. W¨ aren in der Politeia nicht Adeimantos und Glaukon und im Phaidon nicht Simmias und Kebes, sondern jeweils Euthydemos und Dionysodoros Sokrates’ Gespr¨ achspartner, dann k¨ onnten die Zuh¨ orer durchaus den Eindruck gewinnen, dass Sokrates von der Sache nichts versteht. In diesen Gespr¨ achen w¨ urde aber nicht Sokrates’ Seele und ihr Wissen gepr¨ uft und zur Darstellung gebracht, sondern die Defizienz der Darstellungsmittel.
Die philosophische Erkenntnis: Siebter Brief 343e-344b
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6.5 Die philosophische Erkenntnis: Siebter Brief 343e-344b Bei der philosophischen Erkenntnis im Siebten Brief handelt es sich um die Erkenntnis der Ideen. Platon hat bereits einige Bedingungen genannt, die daf¨ ur erf¨ ullt sein m¨ ussen. Erstens muss derjenige, der sich um die entsprechende Einsicht bem¨ uht, mit den Erkenntnismitteln vertraut sein und u andnis der Sache verf¨ ugen. Der ¨ber ein durch sie vermitteltes Vorverst¨ Lernprozess findet in philosophischen Gespr¨ achen statt, die die vielen ” Zusammenk¨ unfte“ (341c7) ausf¨ ullen. Der vorangehende Abschnitt zeigt, dass diese Gespr¨ ache nicht den Charakter eristischer Auseinandersetzungen annehmen, in denen es ausschließlich um den Sieg im Streitgespr¨ ach, nicht aber darum geht, wie sich die Sache wirklich verh¨ alt. In philosophischen Gespr¨ achen wird vielmehr in wohlwollenden Pr¨ ufungen gepr¨ uft“ ” ( 344b5f.), Fragen werden ohne Neid“ ” ( 344b6) gestellt und beantwortet. Die Kenntnis der Hilfsmittel und das gemeinsame Bem¨ uhen im Gespr¨ ach sind aber bei weitem noch nicht alle Voraussetzungen f¨ ur philosophische Einsicht, Platon nennt weitere notwendige Bedingungen: Mit M¨ uhe nur bringt ein wohl Veran” lagter“ als Gespr¨ achsf¨ uhrer die Erkenntnis in einem wohl veranlagten“ ” Gespr¨ achspartner hervor ( 343e2f.). Wenn aber die Haltung der Seele“ ( 343e4) hinsichtlich des Lernens ” und der Sitten wie bei den meisten verdorben ist, dann k¨ onnte auch ein so scharfsichtiger F¨ uhrer wie Lynkeus, der sagenhafte Lotse der Argonauten, den Lernenden nicht zur Erkenntnis leiten (342e3-344a2). 87 Mit einem Wort bedeute dies: Zur Erkenntnis kann nur gelangen, wer der Sache verwandt ( 344a3, a6, a7, 344a6) ist, Lernf¨ ahigkeit ( 344a3, a7) und ein gutes Ged¨ achtnis ( 344a4, a7) mitbringt. Der Lernende muss sein und u verf¨ ugen, n¨ amlich ¨ber die richtige und . Diese Eigenschaften erwerben die Menschen teils im Laufe ihres Lebensvollzugs, teils beruhen sie auf Veranlagung und m¨ ussen nicht erst erworben werden. Insofern sie erst durch einen entsprechenden Lebensvollzug erworben werden m¨ ussen, kommen sie nicht allen Menschen gleichermaßen zu; einige der auf Veranlagung beruhenden Verm¨ ogen kommen allen Menschen zu, bei anderen handelt es sich um besondere Begabungen. Die ist eine in langer Gew¨ ohnung ausgepr¨ agte 87
Bluck (1947, S. 131) und Fritz (1978, S. 223f.) ist gegen Gonzalez (1998a, S. 381 den wohl veranlagten Gespr¨ achspartner im Anm. 20) zuzustimmen, dass gemeinsamen Philosophieren meint und nicht etwa den Erkenntnisgegenstand: Erstens passt dann die Analogie mit Lynkeus, dessen Sehkraft wohl veranlagt ist; zweitens handelt es sich bei dem Erkenntnisgegenstand um die Idee, die sich zwar als (z. B. Politeia 476b6f., 501b2), aber kaum als bezeichnen l¨ asst.
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und daher erworbene Haltung der Seele. Diese Haltung bezieht sich teils auf die Lebensf¨ uhrung, teils auf das Lernen. Die richtige Haltung wird in der so genannten Philosophenprobe gepr¨ uft. Platon gebraucht sie nach Darstellung des Siebten Briefes (340b-341a), um den Tyrannen Dionysios auf seine Eignung f¨ ur die Philosophie zu pr¨ ufen. Sie besteht darin, dem Gepr¨ uften die Anforderungen und die damit verbundene M¨ uhe zu zeigen. Als geeignet erweist er sich, wenn die Schwierigkeit der Aufgabe ihn anspornt, alle seine Kr¨ afte darauf zu verwenden, und er seine t¨ agliche Lebensweise darauf ausrichtet, Lernf¨ ahigkeit, Ged¨ achtnis und vern¨ unftiges Denken zu f¨ ordern (340d4f.). Die richtige Lernhaltung besteht nicht nur darin, gewohnheitsm¨ aßig zu lernen, sondern vor allem in dem Drang zu lernen und in der Wissensbegierde. Den Eifer des Gepr¨ uften erkennt man an der Bereitschaft, die Lebensf¨ uhrung auf die Philosophie auszurichten und um der Konzentration willen auf Ausschweifungen und Zerstreuungen zu verzichten. Der Gepr¨ ufte erweist sich als ungeeignet f¨ ur die Philosophie, wenn er die Aufgabe f¨ ur zu schwierig und unm¨ oglich h¨ alt. Ihm mangelt es an Eifer zu Umstellung der Lebensweise und er bleibt bei seinen Gewohnheiten. Der Hinweis auf die philosophische Lebensweise ist vor dem Hintergrund der sizilianischen Sitten zu sehen, die f¨ ur ihre Ausschweifungen ber¨ uchtigt waren. 88 F¨ ur das Verh¨ altnis zwischen der Lebensweise und dem philosophischen Bem¨ uhen gibt es in den Dialogen zahlreiche Parallelstellen. 89 Im Kontext der Rede der wahren Philosophen im Phaidon fragt Sokrates, ob ein wahrer Philosoph sich ernstlich bem¨ uhe“ ( , ” Phaidon 64d3) um Bed¨ urfnisse wie Essen, Trinken und Geschlechtstrieb und ob er dergleichen in Ehren halte“ ( 64d7), ferner ob ” er Kleider, Schuhe etc. achtet“ oder verachtet“ ( 64d10). ” ” Ein wahrer Philosoph wende sich von den Besorgungen des Leibes ab und denen der Seele zu (64e2-5). Der wahre Philosoph liebt den Leib nicht und ist weder geld- noch ehrs¨ uchtig (er ist und nicht und 68b9-c1). 90 Das Problem der Leibverfallenheit besteht nicht nur darin, dass die Besorgungen des Leibes von dem Erkenntnisbem¨ uhen ablenken und dass der damit verbundene Bedarf an Geld Ursache von Kriegen, Unruhen und Schlachten ist (66c6). Das eigentliche Problem besteht vielmehr darin, dass der leibverfallene Mensch sich von seinen Begierden, Trieben und der sinnlichen Lust bestimmen 88 89 90
Vgl. dazu 326cf., 327b, 330cf., 331df., 332d, 334bf., 335b, 336cf., 339a, 339e. Siehe z. B. Politeia 503c. Diese Ausf¨ uhrungen sind in der Literatur als Leibfeindlichkeit verstanden worden und bildeten Anlass zu Spekulationen um eine asketische Phase im Leben Platons, vgl. dazu Frede (1999, S. 19, 25) und Hackforth (1955, S. 49). Der Leib wird in dieser Passage aber nicht als Feind verstanden, den es in irgendeiner Weise zu bek¨ ampfen gilt. Platon h¨ alt nicht die Leiblichkeit als solche f¨ ur unphilosophisch, sondern die Leibverfallenheit.
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l¨ asst. Warum ist das ein Problem? Es ist keineswegs offensichtlich, auf welche Weise ein Mensch an der Erkenntnis der Ideen dadurch gehindert wird, dass er sich in seinen Handlungen von Begierden, Trieben und sinnlicher Lust lenken l¨ asst: Warum sollte das seine Vernunft daran hindern, denkbare Bestimmtheiten denkend zu unterscheiden? Die Ausf¨ uhrung der Erkenntnisvoraussetzungen im Brief kommt zu folgender Konklusion: Wer die Erkenntnisvoraussetzungen nicht s¨ amtlich erf¨ ullt, der wird zweierlei niemals lernen, n¨ amlich erstens die Wahrheit der ” Tugend – soweit das m¨ oglich ist – und die der Schlechtigkeit“ ( 344a8-b1), zweitens das Falsche zu” gleich und das Wahre des ganzen Seins“ ( 344b2f.). 91 Die Wahrheit der Tugend und Schlechtigkeit k¨ onne man nur zugleich mit dem Falschen und Wahren des ganzen Seins lernen (344b1f.). Zun¨ achst ist zu bemerken, dass der erste Ausdruck nicht behauptet, dass es zwei große rivalisierende Potenzen in der Welt“ g¨ abe. 92 ” Die Tugend ist zugleich mit der Schlechtigkeit und das Wahre zugleich mit dem Falschen zu lernen, weil es sich in beiden F¨ allen um Bestimmtheiten handelt. Um die Tugend zu erkennen, muss man sie von der Schlechtigkeit unterscheiden k¨ onnen. Das Wahre des ganzen Seins ist die Gesamtheit der Ideen 93 , deren Erkenntnis in der vollkommenen Differenzierung aller Bestimmtheiten voneinander in ihrer jeweiligen Relation zueinander besteht. Wer das Wahre des ganzen Seins in dieser Weise erkennt, der kann es zugleich von falschen Differenzierungen von Bestimmtheiten und von falschen Relationsangaben unterscheiden. Die Wahrheit von Tugend und Schlechtigkeit ist zugleich mit dem Wahren des ganzen Seins zu erkennen, weil die Bestimmtheit der Tugend in vollkommener Differenzierung von allen anderen Bestimmtheiten zu erkennen ist. Der Zusammenhang zwischen der Wahrheit der Tugend und der Ideenerkenntnis hat aber noch einen anderen Aspekt: Aus Platons Dialogen ist bekannt, dass Tugend etwas mit Wissen zu tun hat. In der Politeia entfaltet Sokrates die eine Tugend in vier Tugenden, n¨ amlich Weisheit, 91
92 93
F¨ ur eine ausf¨ uhrliche Diskussion dieser Ausdr¨ ucke mit Parallelstellen siehe Isnardi Parente (1964, S. 273-278) und Isnardi Parente (1969, S. 422-428). Zu beachten ist ferner (344d6). Kr¨ amer (1964, S. 147f.) und Reale (1993, S. 104) der Ausdruck sehen darin einen Verweis auf die ersten Prinzipien der ungeschriebenen Lehre. Isnardi Parente (1969, S. 428f.) h¨ alt diese Interpretation f¨ ur nicht notwendig, der Ausdruck im Timaios (53d) k¨ onne sich auch auf die Idee des Guten in der Politeia, die und im Philebos beziehen. Nach der vorliegenden Interpretatioder auf on geht es in dem philosophischen Exkurs um Ideenerkenntnis. Es gibt keinen Grund, nicht die Ideen meinen sollte; das gleiche gilt auch warum Platon mit (341b2). f¨ ur Im Sinne rivalisierender Potenzen interpretiert den Ausdruck M¨ uller (1986, S. 154), er h¨ alt das Gesagte allerdings unter Verweis auf Theaitetos 176a f¨ ur v¨ ollig unplatonisch“. ” So interpretiert den Ausdruck auch M¨ uller (1986, S. 154).
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Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Weisheit besteht in einem bestimmten Wissen, einer (Politeia 428b), wohingegen Tapferkeit zwar etwas mit Wissen zu tun hat, aber nicht selbst ein Wissen ist – Sokrates bestimmt sie als ein Verm¨ ogen ( 429b9), etwas zu bewahren, bzw. u 429c5). Die Tugend ¨berhaupt als ein Bewahren ( insgesamt besteht wesentlich darin, dass sich der Mensch gerade nicht von den Begierden, sondern von der Vernunft bestimmen l¨ asst (441e4). Offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen Tugend und Wissen, ohne dass die Tugend einfach in einem bestimmten Wissen besteht. Die Erziehung der W¨ achter und der Herrscher kulminiert in der Erkenntnis der Ideen, um derentwillen die k¨ unftigen Herrscher Dialektik treiben; andererseits zielt die Erziehung angefangen von der Musik und Gymnastik im Kindesalter auf die Ausbildung ihrer Tugend. Demnach geht es bereits bei der Kindererziehung um die Ausbildung jener sittlichen Haltung der Seele, von der der Brief spricht. Sowohl im Brief als auch in der Politeia (vgl. 487a2-5) ist diese Haltung conditio sine qua non f¨ ur die Ideenerkenntnis. Um die Stelle im Brief zu verstehen, ist n¨ aher zu untersuchen, worin der Zusammenhang zwischen Tugend und Erkenntnis besteht. Neben der Tugend bedarf auch die Verwandtschaft mit der Sache“ ” (vgl. 344a3) n¨ aherer Betrachtung. Etymologisch ist von abgeleitet, was w¨ ortlich so viel wie mit” werden“ bedeutet; das Mit-Werdende“ hat den gleichen Ursprung wie ” die Sache. Das gilt insbesondere f¨ ur die Vorfahren, Nachkommen und Ge¨ schwister von Lebewesen, daher die Ubersetzung als Verwandtschaft“. ” Was soll es bedeuten, dass Platon als Voraussetzung f¨ ur Erkenntnis einen gemeinsamen Ursprung von Erkennendem und der erkannten Sache fordert? Im Phaidon spricht Sokrates davon, dass Seele und Ideen miteinander verwandt seien. Die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen im Phaidon liegt teils in der Natur der Seele und kommt allen Menschen gleichermaßen zu, teils ist sie erworben und kommt einigen Menschen eher zu als anderen. Sokrates f¨ uhrt die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen aus, um die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Die Ideen sind unzusammengesetzt (Phaidon 78c3), unsichtbar (79a4) und unver¨ anderlich (78d4 u. ¨ o.), im Gegensatz dazu sind Instanzen zusammengesetzt, sichtbar ahnlicher“ und ver¨ anderlich. In diesem Sinne ist der Leib den Instanzen ¨ ” und verwandter“ ( 79b2, 79b3). Die Seele da” gegen ist den Ideen verwandt“ ( 79d3, 84b2) bzw. ¨ ahnlicher ” ” und verwandter“ ( 79e2, vgl. 79e5), sie ist unsichtbar wie die Idee (79b8-10) und wenigstens beinahe“ unaufl¨ oslich ” (80b8f.); wann immer die Seele selbst f¨ ur sich selbst“ ( ” 79d1) betrachtet, dann geht sie zu dem Reinen“ ( 79d2), den ” Ideen; wann immer sie selbst f¨ ur sich selbst“ ( 79d4) ist ”
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und die Ideen erkennend ber¨ uhrt“ ( 79d6), dann ruht sie vom ” Umherirren und verh¨ alt sich auf diese Weise immer gem¨ aß demselben“ ” ( 79d5f.). Gem¨ aß demselben“ verhalten sich vor allem die sich selbst gleichen, ” unver¨ anderlichen Ideen (vgl. 78d5f.). Was soll es heißen, dass die Seele sich gem¨ aß demselben“ verh¨ alt? Da Seele stets etwas mit Bewegung zu ” tun hat, kann es hier kaum um Unver¨ anderlichkeit der Seele gehen. Was sich selbst nicht gleich ist, das ist anders als es selbst, wobei es sich um einen Widerspruch handelt. Wenn das Werdende anders als es selbst ist, dann wird dieser Widerspruch zeitlich vermittelt, d. h. das Werdende ist im n¨ achsten Moment anders als es eben noch war. Wenn die Seele nicht mit sich selbst gleich ist, dann ist sie mit sich selbst in Widerspruch. Es liegt nahe, an dieser Stelle an die Differenzierung der Seelenverm¨ ogen in der Politeia (436a-441b) zu denken. Die Seele ist sich selbst ungleich, wenn ihre verschiedenen Verm¨ ogen nicht in Einklang miteinander sind, entsprechend besteht die Gleichheit der Seele mit sich selbst in der Harmonie ihrer verschiedenen Verm¨ ogen. In obiger Formulierung (79d2), dass die selbst f¨ ur sich selbst seiende Seele zum Reinen geht, klingt ferner das in der Diotima-Rede im Symposion ausgef¨ uhrte Streben der Seele zu den Ideen an. Das Reine“ nimmt ein Motiv aus der Rede der wahren Philo” sophen und ihrem Kontext auf: Dem Nichtreinen“, heißt es dort, mag ” ” Reines zu ber¨ uhren nicht verg¨ onnt sein“ (67b1f.). Diese Ber¨ uhrung ist als 67c4) Ideenerkenntnis zu verstehen. Die erforderliche Reinigung ( besteht darin, die Seele m¨ oglichst vom Leib abzusondern, wobei diese Absonderung nichts anderes als die Ausbildung der Tugend ist (69b8-c2). 94 Die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen hat mehrere Aspekte: Erstens handelt es sich bei beiden nicht um Sichtbares; da Sichtbarkeit mit Materialit¨ at verbunden ist (z. B. Timaios 28b8-c1), kann die Seele kein materieller Gegenstand sein; zweitens besteht sie darin, dass die Seele Ideen erkennen kann, d. h. sie kann denkbare Bestimmtheiten denken. Mit Hilfe ihrer Sinnesorgane kann die Seele bestimmte Instanzen unterscheiden, z. B. kann sie mit dem Gesichtssinn Farben unterscheiden; aber die sinnliche Wahrnehmung bedarf eines Gegenstandes, der die Bestimmtheit instantiiert. In der sinnlichen Wahrnehmung wird die Bestimmtheit nicht f¨ ur sich selbst gedacht. Wenn Nichtreines Reines nicht Ber¨ uhren kann, dann ist die Seele immerhin so rein, dass sie – der M¨ oglichkeit nach – Ideen f¨ ur sich selbst erfassen kann. Soweit scheint die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen allen Menschen gleichermaßen zuzukommen. Drittens besteht die Verwandtschaft in einer Veranlagung zur Philoso94
Dass es sich bei dieser Absonderung um den Tod handeln soll, ist eine ironische Spitze gegen diejenigen, die das tugendhafte Leben f¨ ur den Tod halten (vgl. Phaidon 64c2-4, 65a3-6).
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phie, die der Seele von Natur aus zukommen kann, die aber durch ein der Philosophie feindliches Umfeld und durch ungeeignete Lebensf¨ uhrung korrumpierbar ist (vgl. Politeia 494e1). Viertens ist die Seele den Ideen durch einen tugendhaften Lebensvollzug verwandt (vgl. Politeia 487a5); dieser Lebensvollzug ist einerseits Voraussetzung f¨ ur Ideenerkenntnis, andererseits scheint Ideenerkenntnis auch Bedingung eines solchen Lebensvollzuges zu sein (vgl. Phaidon 69a8f., die der Weisheit Politeia 428c13-d4, 442c5-8, s. a. Laches 199c7). Bei der Verwandtschaft mit der Sache, von der im Siebten Brief die Rede ist, handelt es sich um die auf einer besonderen Veranlagung beruhende und in einem geeigneten Lebensvollzug ausgebildete Haltung, die deshalb auch nicht allen Menschen gleichermaßen zukommt. ¨ Die Verwandtschaft mit der Sache hat nach diesen Uberlegungen vor allem einen praktischen Aspekt. Was auch immer die einem Menschen je eigene Aufgabe ist, in der er seine Tugend zu verwirklichen strebt: Die mit Erkenntnis verbundene Verwirklichung der ethischen Bestimmtheiten betrifft das Mensch-Sein eines jeden Menschen. Das ist der Grund f¨ ur die vorrangige Behandlung der ethischen Ideen in Platons Dialogen und im Siebten Brief. Die Notwendigkeit der Verwandtschaft der eigenen Lebensf¨ uhrung mit den ethischen Ideen l¨ asst sich vorl¨ aufig 95 so verstehen: Wer einen ungerechten Charakter ausgepr¨ agt hat, dem wird auch die Einsicht in das Wesen der Gerechtigkeit fremd bleiben. Aber wie ist die Verwandtschaft mit der Sache im Falle der anderen Ideen zu erkl¨ aren? Wie verwandt muss man der Idee des Stuhles oder des Kreises sein, um ihrer Erkenntnis teilhaftig werden zu k¨ onnen? Bei den Ideen handelt es sich um Bestimmtheiten. Nach obiger Unterscheidung der verschiedenen Aspekte der Verwandtschaft muss der Erkennende im Sinne des zweiten Aspektes der Verwandtschaft mindestens in der Lage sein, Bestimmtheiten denkend zu unterscheiden. Diese Anforderung scheint zun¨ achst trivial zu sein. Ob sie das wirklich ist, zeigt sich erst in der Untersuchung der Voraussetzungen, die die erkennende Seele mitbringen muss, wenn sie unterscheidend t¨ atig werden soll. 96 Im Falle der Idee des Stuhles und der Ideen von Artefakten u ¨berhaupt ließe sich die geforderte Verwandtschaft auch noch anders interpretieren: Erst die Erfahrung mit dem Gebrauch der Sache, der praktische Umgang, das Ausprobieren etc. machen den Menschen mit der Sache vertraut und verwandt. Wer einen Stuhl weder benutzt noch seinen Gebrauch beobachtet hat, dem wird die Bestimmtheit des Stuhles fremd bleiben. Diese Interpretation l¨ asst sich auch aus den Dialogen best¨ atigen. Im Kontext 95 96
Zur weiteren Ausf¨ uhrung siehe Kapitel 8.3. Um diese Voraussetzungen geht es in der Wiedererinnerungslehre im Phaidon, vgl. dazu Kapitel 7.3.
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der Dichterkritik im zehnten Buch der Politeia unterscheidet Sokrates die gebrauchende, die herstellende und die nachbildende Kunst (Politeia 601b-602b). Der Gebrauchende ist der erfahrenste ( 601d8) und verf¨ ugt u 602a2). Der Gebrauchende kommuni¨ber Wissen ( ziert sein Wissen dem Hersteller, der dadurch immerhin richtige Meinung ( 602a5) hat. Dem Nachbildner mangelt der notwendige Umgang (602a6) mit dem Wissenden, weshalb er auch u ¨ber richtige Meinungen nicht verf¨ ugt; er bildet die Dinge nach, wie sie den Vielen und den Unwissenden erscheinen (602b1-4). 97 Der Verwandtschaft mit der Sache als Verwirklichung der Tugendbestimmtheit im eigenen Leben entspricht demnach bei anderen Bestimmtheiten der praktische Umgang mit den Instanzen und im Falle der Ideen von Artefakten der Gebrauch jener Artefakte. Der Lernende muss auch und sein, seine Anlagen m¨ ussen gut bzw. in die richtige Richtung entwickelt sein. Es handelt sich dabei lediglich um andere Worte f¨ ur dieselbe Sache, die auch bezeichnet. Dass der Lernende sein muss, ist eine Selbstverst¨ andlichkeit, die f¨ ur alles h¨ ohere Wissen gilt: Wer nicht gut im Lernen ist, wird sich diese Dinge kaum aneignen k¨ onnen (vgl. Politeia 486c3). Schließlich muss der Lernende auch noch sein. Auch auf die Wichtigkeit eines guten Ged¨ achtnisses weist Sokrates in der Politeia (486c7f.) hin, denn wer alles vergisst, der ist leer“ an Erkenntnis. ” Die Bedeutung eines guten Ged¨ achtnisses zeigt sich nicht zuletzt im dialektischen Gespr¨ ach; Sokrates zeichnet sich hier gegen¨ uber den meisten Gespr¨ achspartnern dadurch aus, dass er das fr¨ uher Gesagte von dem jetzt Gesagten unterscheiden und beides in das richtige Verh¨ altnis zueinander setzen kann (vgl. Phaidon 103ab). Die philosophische Erkenntnis bedarf vieler Zusammenk¨ unfte“ und ” des Zusammenlebens“ (341c7-d1). Die eigentliche Erkenntnisarbeit be” schreibt Platon mit zwei Metaphern, der Hindurchf¨ uhrung“ ( ” 343e1) hinauf und hinunter durch jedes der vier Erkenntnismittel und dem Aneinander-Reiben“ ( 344b4) der Erkennt” nismittel, indem sie in wohlwollenden Pr¨ ufungen gepr¨ uft“ ( ” 344b5f.) und dabei Fragen und Antworten ohne ¨ Ubelwollen gebraucht werden (344b5-6). Das Gemeinte l¨ asst sich aus den Dialogen leicht illustrieren: Die Untersuchung beginnt mit der Benennung 97
Diese Passage ist zentral f¨ ur Wielands Interpretation von Ideen als Orientierungspunkten eines Gebrauchswissens, vgl. Wieland (1999, Kap. 15 und S. 293ff.). Eine Schw¨ ache von Wielands ausgezeichneter Arbeit ist, dass die ontologische Funktion der Ideen als Seinsbestimmtheiten weitgehend unber¨ ucksichtigt bleibt. Eine Interpretation der als knowing how“ im Gegensatz zu knowing that“ versucht bereits Gould ” ” (1955, S. 3-30).
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der Sache. Verschiedene Benennungen sind darauf zu pr¨ ufen, ob es sich um Namen f¨ ur verschiedene oder f¨ ur dieselbe Sache handelt. In diesem Sinne fragt z. B. Sokrates im Protagoras (329c), ob Tugend“, Gerechtig” ” keit“, Besonnenheit“ und Fr¨ ommigkeit“ verschiedene Namen f¨ ur dieselbe ” ” Sache sind. Wenn die verschiedenen Namen jeweils etwas Bestimmtes bezeichnen (vgl. 330b8-c1), dann sind die jeweils benannten Sachen voneinander zu differenzieren, zu bestimmen und in das richtige Verh¨ altnis zueinander zu setzen (vgl. 329d-330b). Die Diskussion der richtigen Benennung f¨ uhrt zur Frage der Definition der Sache. Die Gespr¨ achspartner diskutieren Beispiele, d. h. Instanzen ( ) der gesuchten Bestimmtheit, um ausgehend von den Beispielen zu einer Definition der Bestimmtheit zu kommen; die Definitionsversuche werden wiederum an den Beispielen getestet (z. B. Hippias Maior 287eff.) und gegebenenfalls widerlegt. Bei diesen Widerlegungen handelt es sich um wohlwollende Widerlegungen. Das Wohlwollen zeigt sich darin, dass es nicht um den bloßen Sieg im Streitgespr¨ ach geht, sondern dass die Gespr¨ achspartner in der Problematisierung von Benennungen, Definitionsversuchen, Beispielen und vorl¨ aufigem Wissen stets an der Suche nach der Wahrheit orientiert bleiben. 98 In der Problematisierung der Erkenntnismittel werden diese aneinander gerieben“. Die Metapher des Reibens“ verwendet Platon in ” ” der Politeia (435a2) f¨ ur die Betrachtung der Bestimmung der Gerechtigkeit im Staat verglichen mit der Gerechtigkeit beim einzelnen Menschen: 98
Gonzalez (1998a, S. 265) weist darauf hin, dass es sich sowohl bei elenktischer als auch bei wohlwollender Widerlegung um Widerlegung handelt. Unverst¨ andlich ist allerdings, dass er keine wesentliche Differenz zwischen beiden Formen von Dialektik sieht. Der Unterschied ist offensichtlich, wenn man das Gespr¨ achsverhalten von Euthydemos und Dionysodoros im Euthydemos mit Sokrates im Menon (insb. 75c-e), Protagoras, Laches etc. vergleicht: Die Argumente, mit denen Sokrates seine Gespr¨ achspartner widerlegt, zielen auf einen richtigen Aspekt der Sache. Um nur ein Beispiel zu nennen: Laches behauptet, die Tapferkeit sei eine gewisse Beharrlichkeit der Seele“ ( ” , Laches 192b9). Wie gut dieser Definitionsversuch von Laches ist, zeigt der Vergleich mit Sokrates’ eigener Bestimmung der Tapferkeit als ein Bewah” , Politeia 429c5). In seiner Widerlegung von Laches’ Definition zielt ren“ ( Sokrates dementsprechend nicht darauf zu zeigen, dass Tapferkeit keine Beharrlichkeit w¨ are, sondern er weist vielmehr auf einen Wissensaspekt hin, der zur Tapferkeit nicht fehlen d¨ urfe. Nikias nimmt dieses Defizit auf und bestimmt die Tapferkeit als das Wissen von allem Guten und Schlechten“ ( ” 199c6f.). Hier behauptet Sokrates’ in seiner Widerlegung, dass dieses Wissen nicht nur die Tapferkeit, sondern bereits die ganze Tugend umfasse (199d). Diese Behauptung ist freilich nicht ganz richtig, denn dem Wissen von allem Guten und Schlechten fehlt zur Tugend z. B. die Beharrlichkeit der Seele. Entscheidend in Sokrates’ wohlwollenden Widerlegungen ist aber, dass darin jeweils ein richtiger Aspekt der Sache hervorgehoben wird. Der Laches illustriert auch, warum die Diskussionspartner frei von Neid sein sollten: Unwillig u ¨ber seine eigene Widerlegung neidet Laches dem Nikias seinen guten Gedanken, was schließlich zu seinem Ausscheiden aus dem gemeinsamen Gespr¨ ach f¨ uhrt (196c). Zur Rolle der Emotionen von Platons Dialogfiguren vgl. Blank (1993).
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Wenn die Gerechtigkeit beim einzelnen Menschen sich als etwas anderes als zuvor im Staat zeigt, dann wollen die Gespr¨ achspartner die Gerechtigkeit im Staat vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses erneut pr¨ ufen, d. h. der Unterschied zwischen beiden Bestimmungen ist in der erneuten Pr¨ ufung abzureiben“. Das Ziel ist eine f¨ ur alle Instanzen passende ” einheitliche Bestimmung der Gerechtigkeit. Das Erkenntnisbem¨ uhen beginnt mit der Benennung einer Instanz, wobei die Instanz insgesamt unter einen (noch unscharfen) Allgemeinbegriff subsumiert wird. Die Instanz ist damit nichts schlechthin Einzelnes mehr, sondern ein Fall von etwas Allgemeinem, vergleichbar anderen F¨ allen dieses Allgemeinen und im Unterschied zu F¨ allen anderer Allgemeinbestimmungen. Von vornherein wird dabei die Instanz als Einheit erfasst; in dieser Einheit mag sachlich zu Unterscheidendes noch undifferenziert verbunden sein (im Beispiel des Kreises etwa das Kreis-Sein und die weiße Kreide), aber die Einheit muss aus einzelnen Wahrnehmungen (zum Beispiel weißen und nicht-weißen Farbpunkten) nicht erst zusammengesetzt werden. 99 Der n¨ achste Schritt besteht in der n¨ aheren Bestimmung der Sache. Dazu reicht die Betrachtung einer einzigen Instanz und einer einzigen Benennung nicht aus. Im Vergleich mehrerer Instanzen zeigen sich Unterschiede, die von der durchg¨ angigen Identit¨ at der gesuchten Bestimmtheit zu unterscheiden sind. Die verschiedenen Benennungen weisen auf jeweils andere Bestimmtheiten der Instanzen. Die vorl¨ aufige Definition soll die durchg¨ angigen Bestimmtheiten identifizieren und andere Bestimmtheiten der vorliegenden Instanzen abgrenzen. Bei dem so gebildeten Begriff handelt es sich um einen abstrakten Allgemeinbegriff. Sowohl die durchg¨ angige Identit¨ at als auch die abgegrenzten Unterschiede sind n¨ aher zu betrachten: Handelt es sich bei der durchg¨ angigen Identit¨ at um eine einzige Bestimmtheit oder um mehrere? Wenn es sich um mehrere Bestimmtheiten handelt, in welchem Verh¨ altnis stehen diese Bestimmtheiten zueinander? Wie verhalten sich die abgegrenzten Unterschiede zu der durchg¨ angigen Identit¨ at? (Im Beispiel der Bestimmtheit des Kreises steht die jeweilige Farbe der betrachteten Kreise offenbar in einem anderen Verh¨ altnis zum Kreis-Sein als die verschiedenen Radien.) Wie verh¨ alt sich die gesuchte Bestimmtheit zu anderen Bestimmtheiten? (Wie verh¨ alt sich das Kreis-Sein zum Quadrat-Sein oder zum Guten?) Die Diskussion dieser Fragen f¨ uhrt zu einem immer reicheren und genaueren Verst¨ andnis der gesuchten Bestimmtheit. Die Erkenntnis beginnt nicht nur bei den sinnlich wahrnehmbaren Instanzen 100 , sondern die Praxis deckt auch deren Irrt¨ umer auf. Der Gast¨ Vgl. dazu die Uberlegungen zur Gegenstandserkenntnis in Kapitel 7.1 und Anmerkung 8 auf Seite 188. 100 Zur Rolle der Wahrnehmung bei der Ideenerkenntnis vgl. Kapitel 2.3. 99
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freund aus Elea bestimmt im Sophistes den Sophisten als einen Scheink¨ unstler, der gesprochene Scheinbilder“ ( 234c6) als ” Wahrheit ausgibt und dadurch als der weiseste Mann erscheint. Diejenigen, die dem Scheinbildner zugeh¨ ort haben, werden nach hinreichend langer Zeit und in vorr¨ uckendem Alter durch Leiden gezwungen, das ” wirklich Seiende zu ber¨ uhren“ ( 234d5f.). 101 Ihre fr¨ uheren Meinungen, die nicht auf Wahrheit, sondern auf den Scheinbildern des Sophisten beruhten, m¨ ussen sie umwerfen. Der Irrtum u ¨ber das wahre Wesen der Dinge zeigt sich durch schmerzhafte Erfahrungen in der Praxis. Ein Beispiel: Die Expedition nach Sizilien war Ausdruck der von Alkibiades betriebenen imperialen Politik und f¨ uhrte zu der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg. Die Athener haben sich dar¨ uber geirrt, dass in der maßlosen Erweiterung der Macht das Gute f¨ ur ihre Polis liegen w¨ urde. Nach Platons Darstellung des Alkibiades im Symposion (insb. 216a) bestand der Irrtum der Athener nicht zuletzt darin, Alkibiades f¨ ur einen t¨ uchtigen Politiker zu halten. Dessen wahres Wesen und vor allem, dass es ihm selbst noch an vielem mangelte, bevor er sich um die Angelegenheiten der Athener h¨ atte k¨ ummern d¨ urfen, zeigte sich dagegen im philosophischen Gespr¨ ach mit Sokrates. ur sich selbst seienden Bestimmtheiten sind denkbar und werden Die f¨ nicht anders als im Denken erkannt. Das heißt aber nicht, dass Wahrnehmung und Erfahrung f¨ ur die Erkenntnis der Bestimmtheiten keine Rolle spielen w¨ urden. Entsprechend geh¨ oren die Instanzen der Bestimmtheit zu den im Siebten Brief aufgez¨ ahlten Erkenntnismitteln. Wahrnehmung und Erfahrung m¨ ogen bei der Erkenntnis unterschiedlicher Bestimmtheiten jeweils eine andere Rolle spielen: Bei der Bestimmtheit des Kreises mag das Schaubild eines gezeichneten Kreises der bloßen Veranschaulichung dessen dienen, was die Definition exakt bestimmt; bei der Gerechtigkeit ist es offensichtlich, dass die Erkenntnis der Idee die Kenntnis zahlreicher Instanzen und eine F¨ ulle von Erfahrungen sowohl mit gerechten als auch mit ungerechten Handlungen, Charakteren und Staaten voraussetzt. Diese Erfahrungen und Kenntnisse bilden das Vorverst¨ andnis der Sache, sie sind Ausgangspunkt eines ersten Definitionsversuches und stellen das ufung der Bestimmung bereit. Dabei sind Faktoren zu Material zur Pr¨ ber¨ ucksichtigen, die so verschieden sind wie Seehandel und Gymnastik – der Seehandel beeinflusst die Sitten der B¨ urger (Nomoi 704d-705b), die 101 Die Ber¨ uhrung des Seienden ist die Erkenntnis dessen, wie es wirklich ist; zu dem Motiv, erst durch Leiden zur Erkenntnis zu kommen, siehe auch Symposion 222b47, wo Platon diese Weisheit Alkibiades in den Mund legt. Zur Interpretation der Symposion-Stelle und den Parallelstellen bei Homer und Hesiod vgl. Picht (1992b, S. 486-489).
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Gymnastik im Kindesalter dient der Bildung des Charakters (z. B. Politeia 410a-412b). Unsere Kenntnis der Rolle der verschiedenen Faktoren beruht wesentlich auf einer F¨ ulle von Erfahrungen bei uns selbst und anderen. Zur Beurteilung der verschiedenen Faktoren bedarf es nicht nur einer Psychologie (Politeia 436a-441b), sondern auch der Kenntnis von den Zusammenh¨ angen zwischen charakterlichen und politischen Verfallsformen (vgl. die B¨ ucher acht und neun der Politeia).
7 Die Wiedererinnerungslehre im Phaidon: 72e-77a Im vorangegangenen Kapitel ging es um die Erkenntnis der Ideen. Obwohl das Ziel darin besteht, die Ideen selbst f¨ ur sich selbst zu denken, beginnt die Erkenntnist¨ atigkeit bei den uns bekannten Instanzen. Soweit uns die Instanzen nur durch Wahrnehmung und Erfahrung bekannt sind, ist unsere Ideenerkenntnis auf Wahrnehmung und Erfahrung angewiesen. Bei der Wahrnehmung von Instanzen, ihrer Benennung und der Sachbestimmung in einer Definition haben wir Erkenntnisleistungen beansprucht, deren Erkl¨ arung aussteht. In diesen F¨ allen erkennt die Seele etwas als etwas. Im Folgenden werden wir die Leistung analysieren, die die Seele dabei erbringt. Wir haben im vorangegangenen Kapitel aber auch gesehen, dass die Seele f¨ ur die Ideenerkenntnis u ¨ber eine gewisse Disposition verf¨ ugen muss. Diese Disposition ist teils derart, dass sie allen Menschen gleichermaßen zukommt, teils handelt es sich um besondere Begabungen und erworbene F¨ ahigkeiten. Wir werden im Folgenden das vorgeburtliche ” Wissen“, das Platon im Rahmen der Wiedererinnerungslehre konzipiert, im Sinne einer allen Menschen gemeinsamen Disposition interpretieren. Es handelt sich dabei insbesondere um die – unthematische – Kenntnis der Kategorie der Gleichheit, die wir in jedem Akt des Vergleichens beanspruchen.
7.1 Die Wiedererinnerung als Subsumtion: Phaidon 73c1-74a1 Sokrates’ Darstellung der Wiedererinnerungslehre zerf¨ allt nach sachlicher Gliederung in die Abschnitte 73c1-74a1, 74a1-75d3 und 75d3-77a5. 1 Einleitend stellt Sokrates fest 2 , dass, wenn jemand etwas wiedererinnert, es 1 2
Unsere Interpretation des ersten Abschnitts folgt weitgehend Lee (2001, S. 123-133). Tats¨ achlich stellt Sokrates das nicht fest, sondern fragt Simmias, ob er mit ihm darin u ¨bereinstimme. Ebert (2004, S. 199-249) legt in seiner Interpretation großen Wert auf die genaue Differenzierung zwischen denjenigen Fragen an Simmias, die Sokrates so formuliert, dass dabei seine eigene Position deutlich wird, und denjenigen Fragen, die seine eigene Position nicht zu erkennen geben. Diese Differenzierung motiviert sich durch den Versuch, vermeintlich unhaltbare Positionen m¨ oglichst Simmias und nicht Sokrates bzw. Platon zuzuschreiben. Bei der Interpretation Platonischer Dialoge ist
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n¨ otig ist, dass er dieses vorher schon einmal wusste (73c2f.). Es handelt sich hierbei zun¨ achst nur um eine allgemeine Feststellung; die verschiedenen Arten von Vorwissen, um die es dabei jeweils geht, werden erst im Verlauf des Gespr¨ achs n¨ aher bestimmt. Sokrates konkretisiert zun¨ achst den Vorgang der Wiedererinnerung: Wenn jemand, sobald er irgend etwas Bestimmtes ( ) sieht oder h¨ ort oder mit einer anderen Wahrnehmung wahrnimmt, nicht nur jenes erkennt, sondern dabei auch noch ein anderes begreift ( ), dessen Erkenntnis ( ) nicht dieselbe ist wie die von jenem, sondern eine andere, sagen wir dann nicht mit Recht, dass er sich dessen wiedererinnert hat, wovon er so einen Begriff ( ) bekommen hat? 3 (73c6-d1)
Bei dem Gegenstand der Wahrnehmung handelt es sich um ein Einzelding. Unter Wahrnehmung ist nicht nur die physische Affektion der Wahrneh-
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die Differenzierung zwischen der Position des Gespr¨ achsteilnehmers, der eine Frage formuliert, und derjenigen Position, die durch die Art der Frage nahe gelegt wird, legitim und nicht zu vernachl¨ assigen. Das gilt insbesondere dann, wenn die in einer Frage nahe gelegte Position tats¨ achlich unhaltbar ist. Bei den Positionen, auf die es Ebert ankommt, scheint das aber gar nicht der Fall zu sein. Nach Ebert (2004, S. 221) macht ¨ Simmias zwei Fehler, n¨ amlich einmal die Ubernahme der These, die Aktualisierung ” unseres Wissens vom Gleichen selbst beim Wahrnehmen von gleichen Dingen entspreche dem Vergegenw¨ artigen eines Urbildes beim Wahrnehmen seines Abbildes. Zweitens der Fehlschluß auf die Konklusion, daß wir bereits vor dem Beginn des Gebrauchs unserer Wahrnehmung das Wissen vom Gleichen selbst erworben haben m¨ ussen.“ Das Problem des Urbild-Abbild-Modells sieht Ebert (2004, S. 226f.) darin, dass Urbild und Abbild in den Bereich desselben Sinnes geh¨ oren m¨ ussten; weil das Gleiche selbst und die gleichen Dinge diese Bedingung nicht erf¨ ullen, k¨ onne deren Relation kein Fall der Urbild-Abbild-Relation sein. Dieser Einwand w¨ are berechtigt, wenn die Sprechweise von der Idee als Urbild und der Instanz als Abbild w¨ ortlich zu verstehen w¨ are. Wenn man darauf beharrt, diese Sprechweise w¨ ortlich auszulegen, und das Verh¨ altnis von Idee und Instanz nicht als Urbild-Abbild-Relation interpretiert, dann bedarf es dringend einer Erkl¨ arung f¨ ur all die anderen Textstellen (z. B. Politeia 596aff. und Timaios 28a8, 29b3f., 48e5ff.), in denen das Verh¨ altnis von Idee und Instanz durch die Urbild-Abbild-Relation ausgedr¨ uckt wird. Weil unter Kommentatoren – Ebert (2004, S. 226f.) eingeschlossen – Einigkeit dar¨ uber zu herrschen scheint, dass die Idee Urbild nicht im Sinne eines welthaften Gegenstandes sein k¨ onne, scheint es gerechtfertigt, die Redeweise von Urbild und Abbild als Sprachbild zu interpretieren. Die vorliegende Arbeit legt dieses Sprachbild im Sinne des Verh¨ altnisses von Bestimmtheit und Bestimmtem aus. In Hinsicht auf den zweiten vermeintlichen Fehlschluss von Simmias bietet Ebert eine alternative Erkl¨ arung f¨ ur unsere Kenntnis des Gleichen selbst an. F¨ ur eine kritische Beurteilung dieser Erkl¨ arung siehe Fußnote 14 auf Seite 179. Die von Sokrates’ Fragen nahe gelegten und von Simmias u ¨bernommenen Positionen werden sich im Folgenden als philosophisch haltbar erweisen. Damit d¨ urfte der urspr¨ ungliche Anlass f¨ ur Eberts Differenzierung zwischen Sokrates’ Fragerichtung und seiner eigeatzlich ist darauf hinzuweisen, dass Simmias ausdr¨ ucklich nen Position entfallen. Zus¨ Sokrates’ Version der Wiedererinnerungslehre h¨ oren m¨ ochte (73bf.). Diese Einleitung macht es zumindest unwahrscheinlich, dass Sokrates im Folgenden nicht seine eigene Lehre vortr¨ agt, vgl. dazu auch 91e4, 92d5ff. ¨ Zu dieser Ubersetzung vgl. Lee (2001, S. 125).
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mungssinne durch ¨ außere Gegenst¨ ande zu verstehen, sondern auch das seelische Empfinden dieser Affektionen. Das mit der physischen Affektion verbundene seelische Empfinden beschr¨ ankt sich bei der Wahrnehmung im engeren Sinne zun¨ achst auf bloße Farbeindr¨ ucke, Toneindr¨ ucke usw.; von Wahrnehmung eines Gegenstandes kann auf dieser Analysestufe noch keine Rede sein. Bei der Gegenstandswahrnehmung synthetisieren wir seelische Empfindungen und identifizieren das Ergebnis als Wahrnehmung eines Gegenstandes, z. B. als Wahrnehmung einer Leier. Die Wahrnehmung im weiteren Sinne schließt die u ¨ber die bloße Empfindung hinausgehende seelische Leistung der Gegenstandswahrnehmung mit ein. 4 In den folgenden Beispielen (73d1-74a1) ist unter Wahrnehmung jeweils die Wahrnehmung im weiteren Sinne zu verstehen, Sokrates verweist hier unter anderem auf die Wahrnehmung einer Leier (73d3). In den Beispielen kommt die Wiedererinnerung erst dann ins Spiel, wenn die Seele die Wahrnehmung im weiteren Sinne bereits geleistet hat. Das bedeutet aber nicht, dass die seelische Wiedererinnerungsleistung systematisch erst nach der Wahrnehmung im weiteren Sinne zu verorten ist. Von Wiedererinnerung sprechen wir, sobald die Seele nicht nur das Wahrgenommene erkennt, sondern auch noch etwas davon Verschiedenes begreift. Es geht bei dem Vorgang der Wiedererinnerung um zwei verschiedene Erkenntnisakte, die sich dadurch unterscheiden lassen, dass im zweiten etwas anderes erkannt wird als im ersten. Auf den ersten Blick k¨ onnte es so scheinen, als ob Wiedererinnerung in der assoziativen Ver4
Zur Wahrnehmung bei Platon vgl. Kapitel 8.1 und B¨ uttner (2000, S. 66-88). In der Terminologie von Aristoteles’ De anima II 6 w¨ urde die Wahrnehmung im engeren , vgl. Theaitetos Sinne zur eigent¨ umlichen Wahrnehmung“ (Wahrnehmung der ” 184b8-185a2) geh¨ oren. Die Synthese eigent¨ umlicher Wahrnehmungen ist Vorausset, vgl. Menon 75b9-c1 zung der gemeinsamen Wahrnehmung“ (Wahrnehmung der ” und Timaios 63e8-64a1). Die Wahrnehmung im weiteren Sinne geh¨ ort f¨ ur Aristote), wobei les zur hinzukommenden Wahrnehmung“ (Wahrnehmung ” das Hinzukommende der Allgemeinbegriff ist, durch den wir das Wahrgenommene als einen bestimmten Gegenstand identifizieren, vgl. De anima II 6, 418a20f. und III 1, 425a24-27. Aristoteles’ Beispiel ist die Identifizierung des Weißen“ als Sohn von ” ” Diares“ bzw. Sohn von Kleon“. Bei der hinzukommenden Wahrnehmung“ verbindet ” ” man etwas Wahrnehmbares, z. B. die eigent¨ umliche Wahrnehmung weiß“ oder die ” gemeinsame Wahrnehmung groß“ mit etwas Nicht-Wahrnehmbarem, wobei letzteres ” ein denkbarer Begriff ist, z. B. Mensch“ oder Sohn von Diares“. Zu beachten ist aber, ” ” dass auch noch eine weitere Leistung als hinzukommende Wahrnehmung“ bezeichnet ” wird: Wenn wir etwas Gelbes sehen, es aufgrund seiner Farbe als Galle identifizieren und es folglich f¨ ur bitter halten (vgl. De anima III 1, 425a30-b2). Das Gelb ist eine eigent¨ umliche Wahrnehmung, zu der die Beurteilung des Gelben als Galle und als etwas Bitteres hinzukommt. Bei der hinzukommenden Wahrnehmung“ handelt es sich also ” in beiden F¨ allen nicht um Leistungen eines Wahrnehmungssinns, weshalb das hinzukommend Wahrgenommene auch das Sensorium nicht affiziert (vgl. De anima II 6, 418a23f.). Zur hinzukommenden Wahrnehmung“ bei Aristoteles vgl. Bernard (1988, ” S. 74-83).
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kn¨ upfung zweier Erkenntnisse best¨ unde: Jemand sieht eine Leier und assoziiert den Besitzer der Leier, er sieht den Simmias und assoziiert den Kebes, er sieht das Bild einer Leier und assoziiert den Besitzer, er sieht das Bild von Simmias und assoziiert den Kebes oder er sieht ein Bild von Simmias und assoziiert den Simmias. Da jeweils nur der Gegenstand des ersten Erkenntnisaktes aktuell erkannt wird, m¨ usse nach dieser Interpretation der zweite Erkenntnisgegenstand zu einer fr¨ uheren Zeit erkannt und jetzt bloß wieder erinnert werden. Das seelische Wiedererinnerungsverm¨ ogen w¨ are demnach nichts anderes als das Verm¨ ogen assoziativer Verkn¨ upfung verschiedener Erkenntnisse. 5 Wiedererinnerung ist zweifellos eine Leistung geistiger Verkn¨ upfung verschiedener Erkenntnisse, aber es handelt sich dabei nicht um assoziative Verkn¨ upfung. Assoziation besteht darin, anl¨ asslich eines Gedankens auch noch an etwas anderes zu denken, wobei das jeweils Gedachte unabh¨ angig von dem anderen Gedachten das ist, was es ist: Die Elemente der Verkn¨ upfung sind gegen¨ uber der Verkn¨ upfung gleichg¨ ultig. Jemand sieht eine Leier und denkt anl¨ asslich dieses Anblicks an den Besitzer der Leier, n¨ amlich Simmias; weder die Erkenntnis der Leier noch unsere Kenntnis von Simmias wird durch diese Assoziation modifiziert. Wiedererinnerung im Sinne der Assoziation h¨ atte keine erkenntniserweiternde Funktion – es sei denn, jemand hielte es f¨ ur eine Erweiterung seines Wissens, aktual an etwas zu denken, was er ohnehin weiß. Wenn jemand eine Leier sieht und daraufhin an ihren Besitzer Simmias denkt, dann hat er nicht einfach anl¨ asslich eines Anblicks auch noch an etwas anderes gedacht, sondern er hat bei diesem Anblick an den Besitzer der Leier gedacht, d. h. er hat die Leier nicht einfach als Leier, sondern als die Leier von Simmias erkannt. In diesem Sinne sind auch die u ¨brigen Beispiele zu interpretieren. 6 Es geht bei der Wiedererinnerung also nicht darum, dass die Seele etwas wahrnimmt und daneben auch noch an etwas von dem Wahrgenommenen Verschiedenes denkt, sondern die Seele erkennt etwas als etwas. Die Seele erkennt das Wahrgenommene nicht nur als dasjenige, als was sie es zun¨ achst wahrgenommen hat, sondern auch noch als etwas anderes. Sie nimmt zun¨ achst eine Leier wahr, erkennt dann 5
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Als Assoziation interpretiert die Wiedererinnerung zuletzt wieder Menkhaus (2003, S. 67f.). Ebert (2004, S. 205) h¨ alt Wiedererinnerung durch Assoziation f¨ ur einen Fall von Wiedererinnerung neben anderen, vgl. auch Gallop (1975, S. 118, 126). Im Einzelnen: Jemand denkt beim Anblick des Simmias an Kebes, weil Simmias der Freund von Kebes ist, d. h. er denkt an Simmias als Freund von Kebes. Wenn jemand beim Anblick des Bildes einer Leier an Simmias denkt, dann geht es darum, dass er die dargestellte Leier als Leier von Simmias erkennt. Wenn er beim Anblick eines Bildes von Simmias an Kebes denkt, dann geht es darum, dass er das Bild als Bild eines Freundes von Kebes erkennt. Wenn er schließlich beim Anblick eines Bildes von Simmias an Simmias selbst denkt, dann geht es darum, dass er das Bild nicht einfach als Bild oder als Bild eines Menschen, sondern als Bild von Simmias erkannt hat.
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aber die Leier nicht nur als Leier, sondern als die Leier von Simmias. Um etwas als etwas anderes erkennen zu k¨ onnen, muss die Seele von jenem anderen notwendig schon etwas wissen. Dadurch kommt die Vorg¨ angigkeit des wiedererinnerten Wissens ins Spiel. Aber bei der Erkenntnis von etwas als etwas werden also nicht einfach zwei einander gleichg¨ ultige Gedanken miteinander verkn¨ upft. Unsere Erkenntnis der Leier wird durch ihre Erkenntnis als Leier von Simmias modifiziert und erweitert. In den von Sokrates angef¨ uhrten Beispielen geht die Wiedererinnerung jeweils von etwas Wahrgenommenem aus, wobei es sich um Wahrnehmung im weiteren Sinne handelt. Die Grundstruktur der Wiedererinnerung ist aber das Erkennen von etwas als etwas anderes. Dieselbe Grundstruktur liegt auch dann vor, wenn die Seele eine Wahrnehmung im engeren Sinne begreift, d. h. wenn sie eine Mannigfaltigkeit von bloßen Farb-, Tonoder anderen Empfindungen als etwas Bestimmtes, z. B. als Leier, begreift. Um eine Mannigfaltigkeit von sinnlichen Empfindungen als Leier zu identifizieren, muss man u ¨ber das Wissen, was eine Leier ist, bereits verf¨ ugen. Erst durch das identifizierende Erkennen einer Mannigfaltigkeit sinnlicher Empfindungen als Leier kommt die Seele zu der Wahrnehmung von einem Einzelding. Das wahrgenommene Einzelding ist nicht nur eine Einheit, sondern eine bestimmte Einheit, deren Bestimmtheit die Seele begreift. Dagegen ist die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Empfindungen zwar unterschieden von m¨ oglichen anderen Empfindungen und insofern bestimmt, aber sie ist noch nicht in der Einheit ihrer begrifflichen Bestimmtheit erfasst. Sowohl bei der Wahrnehmung im weiteren Sinne, dem Begreifen einer Mannigfaltigkeit von sinnlichen Empfindungen als ein begrifflich bestimmter Gegenstand, als auch bei dem Begreifen eines wahrgenommenen Einzelnen als etwas anderes, subsumiert die Seele etwas Einzelnes unter einen Allgemeinbegriff. Bei der Identifizierung einer Mannigfaltigkeit von Empfindungen als Leier subsumiert die Seele diese Mannigfaltigkeit unter den Allgemeinbegriff der Leier. Sie nimmt eine einzelne Leier wahr, aber die Wahrnehmung des Einzeldinges als Leier macht dieses zu einem Fall von etwas Allgemeinem: Die Seele identifiziert das Einzelding als Instanz der Bestimmtheit Leier. Wenn die Seele das bereits als Leier identifizierte Einzelding als Leier von Simmias erkennt, subsumiert sie das Einzelding unter den Allgemeinbegriff Gegenst¨ ande, deren Eigent¨ umer ” Simmias ist“. Die Erkenntnis des Einzelnen erweitert sich zu der Erkenntnis des Einzelnen als Fall von etwas Allgemeinem; das Allgemeine wird als in diesem Einzelding vereinzeltes begriffen, als ein Allgemeines, von dem dieses Ding eine Vereinzelung ist. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Sokrates ausf¨ uhrt, dass wir alles aus den Wahrnehmungen Gewonnene auf das Sch¨ one, das Gute und jegliches Seiende dieser Art beziehen“ ”
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( 76e1). Das Sch¨ one und Gute stehen hier stellvertretend f¨ ur alle Bestimmtheiten. F¨ ur sich selbst sind die Ideen nichts Allgemeines, aber im Hinblick auf ihre Instanzen sind sie etwas allen Instanzen Gemeinsames, sie sind das in ihren Instanzen vereinzelte Allgemeine. In unserem Bem¨ uhen um die Erkenntnis der Ideen bilden wir uns – ausgehend von den Vereinzelungen und ausgerichtet auf die f¨ ur sich selbst seiende Idee – einen Allgemeinbegriff. Auf diesen Allgemeinbegriff beziehen wir das wahrgenommene Einzelne. Gegenstand der Wiedererinnerungslehre ist das Erkennen von etwas als etwas, diese Leistung l¨ asst sich insbesondere auslegen als die Subsumtion von etwas Einzelnem unter einen Allgemeinbegriff. Daf¨ ur spielt es zun¨ achst keine Rolle, wie spezifisch dieser Allgemeinbegriff ist: Vielleicht weiß der Erkennende gar nicht, was eine Leier ist, mithin kann er das Einzelding gar nicht als Leier identifizieren, er kann den Begriff der Leier nicht wiedererinnern, aber er kann das Einzelne immerhin als Musikinstrument oder wenigstens als Artefakt identifizieren. Diese Identifikation ist in jedem Fall Ausgangspunkt f¨ ur weitere Unterscheidungsleistungen zur genaueren Bestimmung der Sache. Die Herkunft und der Erwerb unserer Allgemeinbegriffe von der Leier etc. sind nicht Gegenstand der Wiedererinnerungslehre. Insbesondere behauptet Platon nicht den vorgeburtlichen Erwerb dieser Allgemeinbegriffe.
7.2 Das vorgeburtliche Ideenwissen: Phaidon 74a1-75d3 ¨ Die Diskussion der Ahnlichkeit bzw. Un¨ ahnlichkeit zwischen dem Erinnerten und demjenigen, was die Wiedererinnerung hervorgerufen hat, dient ¨ der Uberleitung zu dem nun folgenden Gedankenschritt. Zuerst f¨ uhrt Sokrates die Bestimmtheit des Gleichen ein, indem er fragt, ob das Gleiche etwas Bestimmtes“ ( 74a8, a10) sei. Dass es ihm nicht um gleiche Dinge, ” sondern um die Bestimmtheit des Gleichen geht, markiert Sokrates durch die Abgrenzung von gleichen H¨ olzern und Steinen. Von der Bestimmtheit des Gleichen haben wir Erkenntnis (74b2), die Frage ist aber, woher wir die Erkenntnis des Gleichen genommen haben (74b3). Die nun folgende Argumentation zielt darauf, dass wir diese Erkenntnis nicht von den wahrnehmbaren Instanzen der Gleichheit her genommen haben k¨ onnen. Zu diesem Zweck unternimmt Sokrates zun¨ achst eine Abgrenzung von Ideen und Instanzen. Eine Besonderheit dieser Passage (z. B. gegen¨ uber Symposion 211ab) besteht darin, dass den Instanzen hier ein gewisser Mangel oder Bed¨ urftigkeit ( 74d6, 74a5, vgl. 74e3, 75a2f., 75b1) zugeschrieben wird, und sie schlechter“ ( 75b7, vgl. 74e1) sind ” als die Idee. Die Argumentation vollzieht sich in vier Schritten: 1. Wir
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erkennen die Defizienz der Instanzen; 2. diese Erkenntnis setzt die Kenntnis desjenigen voraus, gegen¨ uber dem die Instanzen defizient sind, d. i. die Idee der Gleichheit; 3. wenn die Instanzen defizient sind, k¨ onnen wir die Kenntnis der Idee der Gleichheit nicht anhand ihrer Instanzen gewonnen haben; also ist 4. das Wissen von der Idee der Gleichheit vorgeburtlich und die Seele pr¨ aexistent. Die Argumentation wird an dem Beispiel einander gleichender H¨ olzer und Steine und deren Verh¨ altnis zur Idee der Gleichheit entwickelt (74a7-b8). Es ist zu beachten, dass nicht ein St¨ uck Holz oder ein Stein im Verh¨ altnis zur Idee des Holzes oder Steines in den Blick genommen wird, sondern die Bestimmung der Gleichheit, die dem einzelnen Holz oder Stein in Beziehung zu einem anderen Holz oder Stein zukommt. Bei der Idee der Gleichheit handelt es sich um eine Relationsbestimmung. Ihre Instanzen haben an ihr in Beziehung auf anderes teil. Trotzdem soll die Argumentation nicht nur f¨ ur weitere Relationsbestimmungen (75c6-7) gelten, sondern auch f¨ ur Sch¨ ones, Gutes, Gerechtes, Frommes und alles, was wir als dies selbst, was es ist“ ( 75d2) bezeichnen. Wie ” ist die Defizienz der Instanzen gegen¨ uber den Ideen zu verstehen? Noch immer am Beispiel der gleichen H¨ olzer und Steine fragt Sokrates: (74b6-8) Erscheinen dir nicht gleiche Steine oder H¨ olzer, ganz dieselben bleibend, bisweilen als gleich und dann wieder nicht? (74d4-6) [S]cheinen sie [H¨ olzer und andere gleiche Dinge] uns ebenso gleich zu sein wie das Gleiche selbst, oder fehlt etwas daran, daß sie so sind wie das Gleiche, oder nichts? 7
In der Literatur 8 werden drei M¨ oglichkeiten diskutiert, die Defizienz der Instanzen zu verstehen: (i) Die Defizienz ist ein Mangel an Exaktheit. Bei der Messung physischer Gegenst¨ ande kann man die Erfahrung machen, dass man nur hinreichend genau messen muss, um Unterschiede zwischen den vermessenen Gegenst¨ anden festzustellen. Instanzen, so der are vorSchluss, sind niemals exakt gleich. 9 Nach dieser Interpretation w¨ geburtliche Ideenkenntnis notwendige Voraussetzung des Defizienzurteils, 7 8 9
¨ Ubersetzung aus Eigler (1990, Bd. 3, S. 59). Gallop (1975, S. 126-129), Bostock (1986, S. 85-94). Diese Verst¨ andnism¨ oglichkeit hat Anlass zu der Interpretation gegeben, dass die Idee der Gleichheit sich dadurch auszeichnet, exakt gleich“ zu sein, dass die Idee der Gleich” heit vielleicht sogar aus zwei exakt gleichen Gegenst¨ anden besteht, was dann auch den 74b8 erkl¨ aren sollte. Zu den ¨ alteren Versuchen zur merkw¨ urdigen Plural Erkl¨ arung dieses Plurals siehe Dale (1987, S. 384-388). Quarch (1998, S. 161f, Anm. 27) als die verschiedenen Ideen (z. B. die Idee des Holzes) zu inhat vorgeschlagen, terpretieren, in deren Licht die verschiedenen H¨ olzer als gleich erscheinen k¨ onnen. das Erkenntnisprodukt der Wahrnehmung, Nach Lee (2001, S. 130) bezeichnet
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weil sich der Begriff exakter Gleichheit nicht aus der Betrachtung von nicht genau gleichen H¨ olzern etc. gewinnen lasse. Aber gerade weil wir oft nur grob messen, k¨ onnen leicht unterschiedliche Dinge gleich erscheinen, wir k¨ onnten also den Begriff exakter Gleichheit quasi irrt¨ umlich aus der Betrachtung geringf¨ ugig unterschiedlicher Dinge gewinnen. Gegen die Interpretation der Defizienz als eines Mangels an Exaktheit spricht ferner eine Parallelstelle: In der Politeia (479b3-4) erl¨ autert Sokrates die Defizienz der Instanzen durch den Hinweis, dass es kein Doppeltes gebe, das nicht ebensosehr auch ein Halbes sei. Der Grund daf¨ ur kann aber nicht in einem Mangel an Exaktheit bei der Messung liegen. Nichts, was nur mehr oder weniger ein Doppeltes von etwas ist, ist deshalb zugleich die H¨ alfte davon. 10 (ii) Die Defizienz der Instanzen kann in Anlehnung an Symposion 211a interpretiert werden: Die Defizienz k¨ onnte darin bestehen, dass die Instanzen nur in einer bestimmten Hinsicht gleich, in anderer Hinsicht aber ungleich sind (vgl. , Symposion 211a2f.). Zwei H¨ olzer k¨ onnten zwar gleicher L¨ ange, aber von verschiedener Holzart und insofern ungleich sein. Oder ein Holz gleicht zwar dem einen Vergleichsgegenstand, nicht aber einem anderen. Bei dieser Interpretation ger¨ at man ¨ allerdings bei der Ubertragung des Arguments auf nicht-vergleichende Bestimmungen wie der Sch¨ onheit in Schwierigkeiten. Zwei H¨ olzer k¨ onnten einander gleich erscheinen, verglichen mit zwei anderen H¨ olzern, die einander ¨ ahnlicher sind als die ersten, w¨ urden sie dann eher ungleich erscheinen (vgl. Hippias Maior 288c-289d und , Symposion 211a3f.). Man k¨ onnte auch auf einen temporalen Aspekt hinweisen (vgl. , Symposion 211a3). Zwei H¨ olzer k¨ onnten jetzt zwar gleich sein, durch unterschiedliche Behandlung bald aber wieder ungleich werden; tats¨ achlich scheint Sokrates 74b6-8 an einen temporalen Aspekt zu denken. Die Aspekte k¨ onnten auch in Hinsicht auf den Ort unterschieden werden (vgl. , Symposion 211a4f.). Zwei H¨ olzer w¨ aren dann an einer Stelle gleich, an einer anderen ungleich. Oder man bezieht sich auf unterschiedliche Betrachter, von denen einer Gleichheit und der andere Ungleichheit , Symposion 211a5). konstatiert (vgl. Gemeinsam ist diesen Varianten, dass sie zwar Unterschiede zwischen Instanzen und Ideen bezeichnen, aber sie erkl¨ aren nicht die Notwendigkeit
10
die die H¨ olzer als gleich“ erkennt, d. h. nicht gleiche H¨ olzer“, sondern das gleich“, ” ” ” das an den H¨ olzern erkannt wird. Sokrates geht es an dieser Stelle aber um die Abgrenzung von Ideen und Instanzen, nicht um die Abgrenzung der Erkenntnisprodukte der Wahrnehmung von den wahrgenommenen Instanzen. Die beste Auslegung von scheint mir immer noch die klassische Interpretation als Idee des Gleichen. Siehe dazu die Erkl¨ arung von Dale (1987). Vgl. zur Interpretation dieser Textstelle Schmitt (1973, S. 157).
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vorgeburtlichen Wissens. Ferner vergleichen sie implizit die Gleichheit der Instanz mit der Gleichheit“ der Idee: Die Idee w¨ are exakt und in jeder ” Hinsicht gleich, sie gliche nicht nur einem Vergleichsgegenstand, sondern allen, sie w¨ are zu jeder Zeit, an jedem Ort und f¨ ur jeden Betrachter gleich. In dieser Sprechweise liegt die Gefahr der Verdinglichung der Idee, der in Analogie zu sinnlichen Dingen Eigenschaften zuk¨ amen. Wenn der verdinglichten Idee die von ihr ideeierte Bestimmung zuk¨ ame, geriete man in den Regress des Dritten Menschen“ 11 und die Aporien der so genannten ” Selbstpr¨ adikation. Sokrates’ Formulierung des Vergleiches von Idee und Instanz (vgl. 74d5) leistet diesem Missverst¨ andnis Vorschub. (iii) Die Defizienz bezeichnet einen kategorialen Unterschied. Die Instanz ist nicht die Idee. Die Instanz ist durch die Idee bestimmt und hat insofern ihre Bestimmtheit, aber die Instanz ist nicht die Bestimmtheit. Diese Interpretation hat den Vorteil, die oben genannten Aporien des Dritten Menschen“ und der Selbstpr¨ adikation zu vermeiden, weil sie ” zwischen Bestimmtheit und Bestimmtem unterscheidet. Wenn es Sokrates um einen kategorialen Unterschied zwischen Idee und Instanz geht, dann ist die Instanz von der Idee verschieden, aber worin besteht ihr Mangel? Als kategorial von der Idee verschiedene kann die Instanz ohnehin nicht die Idee oder so wie die Idee sein. Andererseits bedarf die Instanz der Bestimmung durch die Idee, der vermeintliche Mangel ist demnach eher als Bed¨ urftigkeit zu verstehen. Wenn die Defizienz der Instanzen in dem kategorialen Unterschied zwischen Idee und Instanz besteht, worin liegt dann die Notwendigkeit vorgeburtlichen Wissens? Gleiche H¨ olzer erscheinen bisweilen als ungleich (74b7). Dieser Sachverhalt kann im Sinne aller unter (i) und (ii) vorgeschlagenen Interpretationsm¨ oglichkeiten ausgelegt werden. Doch ganz unabh¨ angig davon, ob es bei der Gleichheit und Ungleichheit der H¨ olzer um Exaktheit, verschiedene Hinsichten, Relationen, Zeiten, Orte oder Betrachter geht – in allen F¨ allen hat die Seele das Entscheidende immer schon geleistet, bevor sie in einer der genannten Weisen Gleichheit oder Ungleichheit konstatiert: den Akt des Vergleichens. Die Seele vergleicht die Ergebnisse verschiedener Messungen, sie vergleicht die H¨ olzer in verschiedenen Hinsichten, Relationen, zu verschiedenen Zeiten und sie vergleicht die Angaben verschiedener Betrachter. Im Vergleichen pr¨ uft die Seele das Verglichene auf Gleichheit hin. Dasjenige, woraufhin die Seele pr¨ uft, kann sie aus der Pr¨ ufung nicht erst gewonnen haben. Was Gleichheit ist, kann die Seele nicht durch den Vergleich irgendwelcher Dinge erst gelernt haben, denn die unthematische Kenntnis des vermeintlich Gelernten ist in der T¨ atigkeit des Lernens vorausgesetzt. Dass es sich dabei um ein Verm¨ ogen der Seele 11
Vgl. dazu Kapitel 5.5 und 5.7.
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a priori handelt, dr¨ uckt Platon dadurch aus, dass er es als vorgeburtliches Wissen beschreibt. Entscheidend f¨ ur die Argumentation ist demnach dieses: Zwei gleiche H¨ olzer sind durchaus Instanzen der Gleichheit, und wir erfassen die Gleichheit der H¨ olzer durch Abstraktion von ihren u ¨brigen Bestimmtheiten. Aber in der T¨ atigkeit des Abstrahierens wird das Verm¨ ogen, Verschiedenes zu vergleichen und auf Gleichheit hin zu pr¨ ufen, schon beansprucht und damit vorausgesetzt. 12 Die Idee der Gleichheit spielt f¨ ur unser Erkenntnisverm¨ ogen eine besondere Rolle, weil die Kenntnis der Gleichheit nicht nur dann beansprucht wird, wenn wir Instanzen daraufhin betrachten, ob ihnen die Bestimmtheit der Gleichheit zukommt, sondern in jeder Abstraktion: Um einen abstrakten Allgemeinbegriff zum Beispiel vom Kreis zu bilden, vergleichen wir verschiedene Instanzen der Bestimmtheit Kreis. Im Vergleich erweisen sich die verschiedenen Instanzen in einigen Hinsichten als gleich, in anderen als verschieden. Wir bilden den abstrakten Allgemeinbegriff des Kreises, indem wir ausgehend von unserem Vorverst¨ andnis des Kreis-Seins bestimmte Objekte als Grundlage unserer Begriffsbildung ausw¨ ahlen, miteinander vergleichen und von den vorliegenden Kreisen dasjenige ausscheiden, was nicht allen betrachteten Instanzen zukommt. 13 12
13
Entgegen der Behauptung von Locke (vgl. An Essay Concerning Human Understanding, 1. Buch, Kap. I 1 und 2. Buch, Kap. XI 9, XXVII 1), ist die erkennende Seele damit weder einem weißen Blatt Papier zu vergleichen, noch handelt es sich bei ihrem Begriff von Gleichheit um einen aus Abstraktion gewonnenen Begriff. Frede (2001, S. 247) nennt an inborn ability to extrapolate from – and to perfect im” perfect impressions“ als eine M¨ oglichkeit, unseren Besitz bestimmter Begriffe a priori zu begr¨ unden. Allerdings interpretiert sie die Wiedererinnerungslehre im Phaidon nicht im Sinne einer solchen angeborenen F¨ ahigkeit. Frede nennt diese F¨ ahigkeit lediglich als eine zu Platons Konzeption vorgeburtlicher Erkenntnis alternative Erkl¨ arung von Begriffen a priori. Frede (2001, S. 258) interpretiert die Wiedererinnerung folgendermaßen: Recollection is, then, Plato’s expression for cases where an encounter with ” obvious facts makes us draw inferences about non-obvious, non-empirical connections. But if that is so, why, then, does he call it recollection rather than the ability to abstract, to connect or to infer?“ Problematisch scheint Fredes Verst¨ andnis von obvious ” facts“ zu sein: Die Gleichheit zweier H¨ olzer mag eine offensichtliche Tatsache sein. Frede scheint die Antwort auf die Frage, wie es zu erkl¨ aren ist, dass die Gleichheit zweier gleicher H¨ olzer f¨ ur uns eine offensichtliche Tatsache ist, zu trivial zu sein, um ein so gewichtiges Philosophem wie die Wiedererinnerungslehre als Antwort zu verlangen. Frede sucht den systematischen Ort der Wiedererinnerung deshalb in vermeintlich h¨ oheren F¨ ahigkeiten. Der offensichtlichen Tatsache der Gleichheit zweier H¨ olzer liegt aber ein komplexer Erkenntnisvorgang zugrunde: Zun¨ achst bedarf es daf¨ ur der sinnlichen Wahrnehmung, dann ist das Wahrgenommene unter den Allgemeinbegriff des Holzes zu subsumieren. Als n¨ achstes bedarf es des Verm¨ ogens, zwei Wahrnehmungen miteinander u ¨berhaupt in Verbindung zu bringen, erst jetzt kann das Erkenntnisverm¨ ogen die beiden H¨ olzer auf Gleichheit pr¨ ufen (die Analyse dieser Schritte ist nicht im Sinne eines zeitlichen Nacheinanders zu verstehen). Trivial ist dieser Erkenntnisvorgang schon deshalb nicht, weil sowohl die Subsumtion des Wahrgenommenen unter
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Sokrates behauptet, der vorgeburtliche Wissenserwerb gelte nicht nur f¨ ur die Gleichheit, sondern auch f¨ ur das Gr¨ oßere und Kleinere und alles ” dergleichen“ (75c6f.). Das Gr¨ oßere und das Kleinere sind die beiden Weisen quantitativer Ungleichheit. Was in quantitativer Hinsicht nicht gleich ist, das muss ungleich und damit entweder gr¨ oßer oder kleiner sein. Eine Bestimmtheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie diese Bestimmtheit und nicht zugleich nicht diese Bestimmtheit ist. Die in jeder T¨ atigkeit des Vergleichens vorausgesetzte unthematische Kenntnis der Gleichheit impliziert eine ebenso unthematische Kenntnis der Ungleichheit. Wer verschiedene Dinge auf quantitative Gleichheit hin pr¨ uft, der pr¨ uft zugleich auf quantitative Ungleichheit. 14 Unsere Kenntnis des Gleichen ist untrennbar mit unserer Kenntnis des Gr¨ oßeren und Kleineren verbunden, beide Kenntnisse sind gleichurspr¨ unglich und k¨ onnen nicht erst aus der Abstraktion gewonnen werden. Etwas anders liegt der Gedankengang beim Guten und Sch¨ onen (75c9). Bei der vorg¨ angigen Kenntnis des Guten handelt es sich nicht um jenes diskursive Erkennen der Idee des Guten, um das wir uns im philosophischen Gespr¨ ach bem¨ uhen. Sokrates vergleicht die Idee des Guten in der Politeia (506b-509b) mit der Sonne: So wie die Sehkraft ( ) einer drit”
14
Allgemeinbegriffe als auch die T¨ atigkeit des Vergleichens auf Kenntnissen beruht, u ¨ber die wir vorher schon verf¨ ugen m¨ ussen. Es ist daher keineswegs unangemessen, diesen ¨ Erkenntnisvorgang unter der Uberschrift der Wiedererinnerung zu diskutieren. Ebert behauptet, dass wir den Begriff der Gleichheit durch Konjunktion zweier negierter Aussagen gewinnen: Zwei Gegenst¨ ande a und b sind hinsichtlich einer Eigenschaft ” f genau dann gleich, wenn es nicht der Fall ist, daß a mehr f hat als b und wenn es nicht der Fall ist, daß b mehr f hat als a (und beide nat¨ urlich die Eigenschaft f haben und diese Eigenschaft auch steigerbar ist).“ (Ebert, 2004, S. 229). Nach Eberts Analyse m¨ ussten wir zur Konstruktion des Begriffes der Gleichheit nicht nur u ¨ber die Begriffe von mehr“ und weniger“ verf¨ ugen, sondern auch u ¨ber eine einigermaßen ” ” entwickelte Sprache, die es uns zumindest erlaubt, etwas u ¨ber etwas auszusagen und verschiedene Aussagen miteinander zu verkn¨ upfen. Es ist aber zumindest zweifelhaft, ob die unthematische Kenntnis der Gleichheit darin nicht schon beansprucht wird: In Eberts Beispiel k¨ onnen wir u ¨ber a und b bereits gleichermaßen aussagen, dass es sich um Gegenst¨ ande handelt. Setzt unser Wissen von der Kommensurabilit¨ at von a und b nicht schon voraus, dass a und b in wenigstens einer Hinsicht gleich sind, n¨ amlich als Gegenst¨ ande, denen irgendwelche Eigenschaften zukommen? Wenn wir von Gleichheit u atten, w¨ aren dann nicht alle Gegenst¨ ande unserer ¨berhaupt keine Kenntnis h¨ Erkenntnis schlechthin vereinzelte? K¨ onnten wir verschiedene B¨ aume u ¨berhaupt als B¨ aume, d. h. als verschiedene Gegenst¨ ande mit einer gleichen Eigenschaft, dem BaumSein, erkennen? K¨ onnten wir u ugen? Dar¨ uber ¨ber Allgemeinbegriffe wie Baum“ verf¨ ” hinaus stellt sich die Frage, ob wir den Begriff der Gleichheit tats¨ achlich aus den Beussen. Das w¨ urde voraussetzen, dass griffen von mehr“ und weniger“ konstruieren m¨ ” ” es m¨ oglich ist, u ugen, nicht aber u ¨ber die Begriffe von mehr“ und weniger“ zu verf¨ ¨ber ” ” die Negation von mehr oder weniger“, n¨ amlich Gleichheit. Wenn mehr“ und weni” ” ” ger“ Bestimmtheiten sind, und wenn die Kenntnis einer Bestimmtheit die Kenntnis dessen impliziert, was diese Bestimmtheit nicht ist, dann m¨ ussen wir den Begriff der Gleichheit nicht erst aus den Begriffen von mehr“ und weniger“ konstruieren. ” ”
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ten Gattung“ ( 507e1) bedarf, um die sichtbare Farbe sehen zu k¨ onnen, n¨ amlich des Lichts, so bedarf das Denkverm¨ ogen ( 508c2) der Idee des Guten, um das Denkbare ( 508c3) denken zu k¨ onnen. So wie das Licht den Gesichtssinn und dasjenige, was das Verm¨ ogen hat, gesehen zu werden, mit einem Band zusammenbindet (507e7-508a2), so verbindet die Idee des Guten Denkverm¨ ogen und Denkbares, d. i. die Ideen (507b10-c1). Die Idee des Guten teilt dem Erkennbaren die Wahrheit mit und dem Erkennenden gibt sie dessen Verm¨ ogen zu unterscheiden, sie ist Ursache von Erkenntnis und Wahrheit (508e1-3). Weil die Bestimmtheiten Bestimmtheiten sind, weil sie mit sich selbst identisch, von allen anderen Bestimmtheiten verschieden sind und auf diese Weise in einer vollkommen differenzierten Relation zueinander stehen, deshalb sind sie f¨ ur das unterscheidende Denken erkennbar. Die Idee des Guten ist das Prinzip der Bestimmtheit der Ideen. Das Erkenntnisverm¨ ogen des Erkennenden besteht darin, Bestimmtheiten zu identifizieren, verschiedene Bestimmtheiten voneinander zu unterscheiden und die unterschiedenen Bestimmtheiten zueinander in Relation zu setzen. Die vorg¨ angige Kenntnis der Idee des Guten in der Wiedererinnerungslehre im Phaidon ist ein Verm¨ ogen, das in allen unseren Erkenntnisakten beansprucht wird, n¨ amlich das Verm¨ ogen, Bestimmtheiten in ihrer Bestimmtheit zu erfassen. Wie die Sonne das Band zwischen dem Sehverm¨ ogen und dem Sichtbaren ist, so ist die Idee des Guten das Band zwischen dem Denkverm¨ ogen und dem Denkbaren. Dieses Band begr¨ undet die Affinit¨ at zwischen Denkverm¨ ogen und Denkbarem. Die vorgeburtliche Kenntnis der Idee des Guten erkl¨ art die seelische Seite dieser Affinit¨ at. Die Wiedererinnerungslehre erl¨ autert die Verwandtschaft ( ) zwischen Seele und Idee: Beide werden auf die Idee des Guten als gemeinsamen Ursprung zur¨ uckgef¨ uhrt. Die vorg¨ angige Kenntnis des Sch¨ onen l¨ asst sich durch die von Sokrates wiedergegebene Rede der Diotima im Symposion erkl¨ aren. In dieser Rede geht es zun¨ achst nicht um das Sch¨ one selbst, sondern um unser Verh¨ altnis dazu. Dieses Verh¨ altnis erkl¨ art Diotima durch die mythische Genealogie des Eros. Eros wird danach beim Geburtsfest der Aphrodite gezeugt (Symposion 203c3f.). Aphrodite ist die G¨ ottin der Sch¨ onheit, ihre Geburt ist in Platons Mythos der Moment, in dem das Sch¨ one an sich, die Idee des Sch¨ onen in die Welt kommt. Der Eros ist der Gef¨ ahrte der Aphrodite, er begehrt das Sch¨ one und Gute (203d4f.), genauer: Eros ist das Begehren des Sch¨ onen und Guten (204b3-5). Dass Eros anl¨ asslich der Geburt der Aphrodite gezeugt und empfangen wird, bedeutet, dass gleichzeitig mit dem Sch¨ onen das Streben nach dem Sch¨ onen entsteht. Die Natur dieses Strebens erkl¨ art der Mythos aus den Eltern des Eros. Dem Streben liegt von Seiten der Mutter Penia der Mangel, die Armut und das Noch-nicht-Wissen zugrunde (203d1-4, 202d2f.). Von sei-
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ten des Vaters Poros findet es stets einen Weg, es u , ¨berwindet die die Ausweglosigkeit, es ist beharrlich, schlau und wohl auch verschlagen ¨ (203d4-8). Aus dem Mangel heraus nach dessen Uberwindung zu streben – das ist Philosophie (203d7, 204b1f). In der mythischen Genealogie des Eros betreibt Platon eigentlich Anthropologie, denn die Zwischenstellung des Eros bestimmt den Ort der Menschen in ihrem Verh¨ altnis zu den Ideen (205a5-7). Einerseits fehlt es den Menschen sowohl an Erkenntnis der Ideen als auch an der Verwirklichung ihrer Tugend, andererseits streben sie von ihrer Natur her nach beidem. Das Streben ist nicht auf tragische Weise von vornherein zum Scheitern verurteilt, sondern zumindest seiner Anlage nach ist der Mensch mit den Werkzeugen zum Erreichen seiner Erf¨ ullung ausgestattet. Die vorg¨ angige Kenntnis der Idee des Sch¨ onen in der Wiedererinnerungslehre des Phaidon ist nicht als philosophische Epoptie der Idee des Sch¨ onen zu interpretieren. Es handelt sich vielmehr um Platons Erkl¨ arung f¨ ur unser erotisches Verh¨ altnis zu den Ideen insgesamt und zu der Idee des Guten im Besonderen.
7.3 Die Formen des Ideenwissens: Phaidon 75d3-77a5 Die Lehre von dem vorgeburtlichen Wissen“, das wir im Moment der ” Geburt vergessen, l¨ asst Platon seinen Sokrates mit einem Augenzwinkern vortragen. Den Kontext bildet die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. Der Nachweis eines vorgeburtlichen Wissens w¨ urde zumindest die Pr¨ aexistenz der Seele beweisen. Simmias wendet ein, dass wir das fragliche Wissen doch auch zugleich mit der Geburt empfangen haben k¨ onnten (76c8f.). Diesen Einwand erwidert Sokrates mit der Frage, in welcher anderen Zeit wir das Wissen dann wieder verlieren (76d1f)? Wenn man schon auf dieser Ebene argumentiert, dann ließe sich mit Leichtigkeit darauf hinweisen, dass eine Geburt kein pl¨ otzliches Ereignis ohne zeitliche Ausdehnung ist und reichlich Zeit sowohl f¨ ur das Lernen als auch f¨ ur das Vergessen der Ideenerkenntnis bieten w¨ urde. Die Ironie in Sokrates’ Frage ist deutlich genug, es geht also nicht darum, was die Seele in einem zeitlichen Sinne vor der Geburt und vor aller Erfahrung gelernt hat. Wenn das so ist, dann ist auch die Redeweise von der Wiedererinnerung in einem metaphorischen Sinne zu verstehen: Platons Rede vom vorgeburtlichen ” Ideenwissen“ meint die in aller Erfahrung schon beanspruchten Erkenntnisvoraussetzungen. Diese Voraussetzungen kann die Seele nicht erst in ihrer Erkenntnist¨ atigkeit erworben haben. Das vorgeburtliche Ideenwis” sen“ erkl¨ art die grundlegende Affinit¨ at von Seele und Ideen. Diese Affinit¨ at ist Voraussetzung der M¨ oglichkeit von unterscheidender Erkenntnis von Bestimmtheiten u ¨berhaupt. Die Disposition zur erkennenden Unterschei-
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dung muss die Seele schon mitbringen, bevor sie erkennend t¨ atig werden kann. Diese F¨ ahigkeit setzen alle Arten von Erkenntnis voraus, von der einfachen sinnlichen Wahrnehmung u ¨ber das begriffliche Denken bis zu dem pl¨ otzlichen Moment des Ergreifens einer Bestimmtheit in ihrer einheitlichen F¨ ulle. Auf den ersten Blick erscheint der dritte Abschnitt der Wiedererinnerungspassage wie ein beil¨ aufiges Nachspiel des Vorangegangenen. Dieser Eindruck wird noch dadurch verst¨ arkt, dass zum Beweis der Unsterblichkeit der Seele nichts Substantielles mehr beigetragen wird. Statt dessen wird das Erreichte durch begriffliche Verschiebungen verwirrt und wieder in Frage gestellt. Ferner ¨ andert sich die Dialogstruktur: Simmias’ Gespr¨ achsbeitrag hat sich bisher auf Floskeln beschr¨ ankt, die Zustimmung zu dem von Sokrates Gefragten signalisieren. Erst im dritten Abschnitt der Passage finden sich gleich vier von dem vorherigen Muster abwei¨ chende Außerungen des Thebaners (76b1f, 76b7-9, 76c8f., 76e8-77a5). Der Nachweis eines der Erfahrung notwendig vorausgehenden Wissens ist bereits abgeschlossen. Das Gespr¨ ach hat sich der Frage nach der Pr¨ asenz dieses Wissens zugewendet, und Simmias hat durch seine Zustimmung bereits best¨ atigt, dass wir (i) das fragliche Wissen vor der Geburt besessen, (ii) bei der Geburt verloren und (iii) beim Gebrauch unserer Sinne wieder aufgenommen haben (75e1-4). Ferner sei dieser Prozess als wie” dererinnern“ ( 75e6) richtig benannt. Nun stellt Sokrates fest (76a3-7): Also, wie ich sage, eines von beiden: entweder sind wir dieses wissend geboren worden und wissen es unser Leben lang alle, oder die, von denen wir sagen, daß sie hernach erst lernen, erinnern sich dessen nur und das Lernen ist eine Erinnerung. 15
Die Disjunktion ist verwirrend, weil ihr erster Teil der bereits best¨ atigten Behauptung (ii), dass wir das fragliche Wissen bei der Geburt verloren haben, widerspricht. Simmias best¨ atigt die Richtigkeit der Disjunktion, aber die Frage, welche der beiden M¨ oglichkeiten zutreffe, kann Simmias dennoch nicht beantworten. Dieser Sachverhalt wirft einige Fragen auf: Warum l¨ asst Platon Sokrates ohne erkennbare Notwendigkeit eine Frage wieder er¨ offnen, nachdem sie bereits mit Zustimmung des Gespr¨ achspartners beantwortet war? Was m¨ ochte Platon dem Leser durch Simmias’ offenkundigen Selbstwiderspruch signalisieren? Außerdem scheint das in (ii) eingef¨ uhrte Vergessen des vorgeburtlichen Wissens weder die Kenntnis von Allgemeinbegriffen zu betreffen, die in der Erkenntnis von etwas als etwas vorausgesetzt wird (vgl. 73c1-74a1), noch die grundlegende Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen (vgl. 74a1-75d3). Das unter (i) 15
¨ Ubersetzung aus Eigler (1990, Bd. 3, S. 63ff.).
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angesprochene Wissen besteht in der Ideenhaftigkeit“ der Seele als einer ” notwendigen Voraussetzung des Erkennens ideenbestimmter Instanzen. Die Ideenhaftigkeit“ geh¨ ort zum Wesen der menschlichen Seele, ihr Ver” lust w¨ urde die Seele grundlegender F¨ ahigkeiten berauben. Statt dessen versteht Simmias die Frage, wann unsere Seelen Ideenkenntnis erhalten h¨ atten (76c3-4) so, als ginge es dabei um ein zeitliches Ereignis, von dem man gleichsam Datum und Uhrzeit angeben k¨ onnte. Um Simmias die Entscheidung zu erleichtern, welche der beiden M¨ oglichkeiten der Disjunktion er w¨ ahlen soll, fragt Sokrates: Kann ein wis” sender Mann von dem, was er weiß, Rechenschaft ablegen ( ) oder nicht?“ (76b4-5) Dazu sind nicht nur nicht alle Menschen in der Lage, sondern Simmias f¨ urchtet, dass schon morgen keiner mehr gefunden werden k¨ onne (76b8-10), denn dann wird Sokrates tot sein. Wenn Sokrates der einzige Mensch ist, der von unserer Ideenerkenntnis Rechenschaft ablegen kann, dann kommt Simmias diese Auszeichnung offensichtlich nicht zu. Aber kaum eine Seite sp¨ ater best¨ atigt er emphatisch: [I]ch habe gar ” nichts, was mir so klar w¨ are wie eben dieses, daß alles dergleichen wahrhaft in dem allerh¨ ochsten Sinne ist, das Sch¨ one und das Gute und was du sonst eben anf¨ uhrtest“ 16 (77a2-5). Wenn Simmias die Seinsart der Ideen tats¨ achlich verstanden h¨ atte, dann w¨ are er angesichts der Wahl, vor die ihn Sokrates gestellt hat, nicht ratlos gewesen. Simmias h¨ atte dann erkl¨ aren k¨ onnen, dass Sokrates unrecht hatte, als er von einem entwe” der . . . oder“ sprach, denn beide M¨ oglichkeiten der Disjunktion treffen zu, wenn man nur das jeweils Gemeinte richtig versteht. Das Wissen, mit dem wir geboren werden und das wir unser ganzes Leben lang nicht verlieren, haben wir im Sinne der Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen zu interpretieren. Es ist die Ideenhaftigkeit der Seele, die ihr das Erfassen der Bestimmtheiten in Denken und Sprechen u ¨berhaupt erst erm¨ oglicht. Die Erinnerung, von der Sokrates spricht, ist die Aktualisierung jener M¨ oglichkeit, d. h. das erkennende Erfassen von Bestimmtem bzw. von Bestimmtheiten. Dazu geh¨ ort sowohl die Wiedererinnerung der ” Gleichheit“ in allen Akten des Vergleichens als auch die Bestimmung einer wahrgenommenen Sache, d. i. Subsumtion eines wahrgenommenen Einzelnen unter einen Allgemeinbegriff. Im ersten Fall haben wir das Erinnerte nicht erst aus der Erfahrung gewonnen. Im zweiten Fall subsumieren wir unter einen Begriff, u ugen. ¨ber den wir nicht schon a priori verf¨ Simmias behauptet zwar, dass ihm nichts so klar w¨ are wie das Sein der Ideen, aber gleichzeitig ist er unf¨ ahig, Rechenschaft von ihnen abzulegen. Die Einf¨ uhrung des als Wissenskriterium soll darauf hinweisen, dass hier verschiedene Arten des Wissens zu unterscheiden sind. 16
¨ Ubersetzung aus Eigler (1990, Bd. 3, S. 67).
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Platon l¨ asst Sokrates diesen Gedanken nicht weiter ausf¨ uhren, die Reflexion darauf, inwiefern die bisher eingef¨ uhrten Arten des Wissens mit dem Verm¨ ogen, Rechenschaft abzulegen, verbunden sind, u asst Pla¨berl¨ ton dem Leser: Der gibt an, was die Sache ist. Das Verm¨ ogen, Rechenschaft abzulegen, zeichnet denjenigen aus, der u ¨ber philosophische Erkenntnis der Bestimmtheit verf¨ ugt. Nach Simmias Aussage handelt es sich dabei vor allem um Sokrates, den Platon als Paradigma eines Philosophen portr¨ atiert. Im bew¨ ahrt sich ein philosophischdiskursives Wissen, das sich thematisch auf die zu bestimmende Sache bezieht. Schon das Beispiel von Simmias, der zwar nicht das Paradigma eines Philosophen, aber immerhin philosophisch interessiert ist, zeigt, dass andere Arten des Wissens nicht mit dem Verm¨ ogen, Rechenschaft abzulegen, verbunden sind (vgl. Politeia 533c4). Simmias ist sicherlich dazu in der Lage, zwei H¨ olzer miteinander zu vergleichen und unter den Begriff der Gleichheit zu subsumieren. Die Unterscheidung zwischen Ideen und Instanzen ist ihm nach eigenem Bekunden bekannt, so dass er die Aufforderung, Rechenschaft von einer Bestimmtheit abzulegen, verstehen d¨ urfte. Trotzdem ist er nicht in der Lage, dieser Aufforderung nachzukommen. Simmias verf¨ ugt zwar nicht u ¨ber ein philosophisch-diskursives, wohl aber u andnis dessen, was Gleichheit sei. Bei ¨ber ein unthematisches Verst¨ dem vorgeburtlichen“ Wissen dessen, was Gleichheit sei, handelt es sich ” um dieses unthematische Wissen, nicht schon um diejenige Erkenntnis, die sich erst als Ergebnis erfolgreicher philosophischer Bem¨ uhung einstellt. Zu beachten ist allerdings, dass beide Arten des Wissens nicht unabh¨ angig voneinander sind: Wer von zwei H¨ olzern behauptet, sie seien gleich, kann sich der Frage, was Gleichheit denn u ¨berhaupt sei, nicht entziehen. So ergeht es Sokrates im Hippias Maior (286cf.), denn wer wie Sokrates einiges als sch¨ on lobt und anderes als h¨ asslich tadelt, der ger¨ at in Verlegenheit, wenn er nicht angeben kann, was unter sch¨ on“ bzw. h¨ asslich“ zu verste” ” hen sei. Die Aufforderung, Rechenschaft abzulegen, und die Einsicht in das eigene Unverm¨ ogen dazu, sind Anstoß zur philosophischen Reflexion. Sokrates’ Einf¨ uhrung des als Wissenskriterium am Ende der Wiedererinnerungs-Passage soll auf den Unterschied zwischen unthematischer Kenntnis und philosophischem Wissen aufmerksam machen.
8 Zum Zusammenhang zwischen Tugend und Wissen Gem¨ aß der Darstellung des Siebten Briefes (343ef.) 1 m¨ ussen einige Bedingungen erf¨ ullt sein, damit philosophische Erkenntnis gelingen kann. Hierzu geh¨ ort neben Lernf¨ ahigkeit und Ged¨ achtnis auch die Verwandtschaft mit der Sache. Im Falle der Tugendideen bekundet sich diese Verwandtschaft als tugendhafte Haltung der Seele. Platon kontrastiert diese mit einer anderen Haltung, in der sich der Mensch von seinen Begierden leiten l¨ asst. So stellt sich die Frage, inwiefern Begierden und die damit verbundenen L¨ uste ein Hindernis f¨ ur die philosophische Erkenntnis bilden. Ein Zusammenhang zwischen den Begierden und L¨ usten des Menschen einerseits und seiner wissenschaftlichen Leistung andererseits ist vom modernen Standpunkt zumindest nicht selbstverst¨ andlich. Wir tendieren dazu, beides f¨ ur unabh¨ angig voneinander zu halten und folgen damit der neuzeitlichen Seelenlehre, welche die Verm¨ ogen Begehren, F¨ uhlen und Denken unterscheidet und dabei als weitgehend unabh¨ angig voneinander t¨ atige Kr¨ afte konzipiert. 2 Die Platonische Seelenlehre hingegen beschreibt mit Begehren ( ), Eifer ( ) und Denken ( ) drei ineinander greifende Seelenkr¨ afte. 3 Aus ihrem Zusammenspiel erkl¨ art sich die eigent¨ umliche Verbindung zwischen philosophischer Erkenntnis und tugendhafter, d. h. nicht vom Begehren, sondern von der Vernunft gelenkter Lebensf¨ uhrung. Vor dem Hintergrund der Platonischen Seelenkonzeption sollen im Weiteren folgende Fragen beantwortet werden: Welche Rolle spielt die Lebenspraxis f¨ ur die philosophische Theorie? Da der Lebensvollzug nicht unabh¨ angig von der philosophischen Erkenntnis ist, l¨ asst sich diese Frage auch umdrehen: Welche Rolle spielt die philosophische Theorie f¨ ur die Lebenspraxis? Wie ist in der Platonischen Philosophie insgesamt das Verh¨ altnis von Theorie und Praxis zu bestimmen? Hierbei ist zu beachten, dass Platon nicht zwischen theoretischer und praktischer Philosophie als zwei Disziplinen einer Wissenschaft unterscheidet. Schon ¨ außerlich zeigt 1 2 3
Siehe Kapitel 6.5. F¨ ur eine Diskussion neuzeitlicher Lehren von verschiedenen Seelenverm¨ ogen siehe B¨ uttner (2000, S. 37-61). Platon vermeidet es weitgehend, von Seelenteilen“ zu sprechen, eine Ausnahme ist ” , Politeia 581a7.
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Zum Zusammenhang zwischen Tugend und Wissen
sich das an den Platonischen Schriften. Deren Schwerpunkt kann zwar mehr theoretischer oder mehr praktischer Natur sein, die Texte lassen sich jedoch nicht nur nicht in Schriften zur theoretischen bzw. praktischen Philosophie einteilen, vielmehr ist beides in der Regel miteinander verflochten. Diese Nicht-Unterscheidung ist auch nicht im Sinne eines noch nicht“ ” zu verstehen, d. h. so, als ob Platon eine von der Sache her gebotene Differenzierung noch u atte. Das Gegenteil ist der Fall: Platon kann ¨bersehen h¨ nachvollziehbare Gr¨ unde daf¨ ur angeben, eine Trennung zwischen Erkenntnis und Lebensvollzug nicht vorzunehmen. Diese Gr¨ unde sind wie gesagt in seiner Seelenkonzeption, genauer: in der Unterscheidung eines begehrenden, eines eifrigen und eines denkenden Seelenverm¨ ogens zu suchen. Weil diese drei Seelenverm¨ ogen wesentlich mit verschiedenen Formen von ¨ Erkenntnis verbunden sind, bedarf es zun¨ achst einiger Uberlegungen zu Platons Differenzierung von Wahrnehmen, Meinen und Wissen.
8.1 Wahrnehmen, Meinen und Wissen Im Kontext der Wiedererinnerungslehre im Phaidon haben wir Wahr” nehmung im engeren Sinne“ und Wahrnehmung im weiteren Sinne“ un” terschieden. 4 Wahrnehmung im engeren Sinne beschr¨ ankt sich auf die Empfindung wahrnehmbarer Qualit¨ aten. Wahrnehmung im weiteren Sinne schließt die Subsumtion einer Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungsempfindungen unter einen Allgemeinbegriff ein; erst wenn das Wahrgenommene begrifflich identifiziert ist, handelt es sich um Gegenstandswahrnehmung. Die Wahrnehmung im weiteren Sinne geh¨ ort zu denjenigen Erkenntnisleistungen, die Platon als Meinen“ ( ) bezeichnet. Ein Akt ” des Meinens liegt vor, sobald etwas Einzelnes unter einen Allgemeinbegriff subsumiert wird. Vom Meinen ist das Wissen“ ( ) zu unterschei” den: Als Wissen bezeichnet Platon die Ideenerkenntnis. Wenn wir die Idee als etwas Allgemeines auffassen, dann wird im Meinen ein Einzelding als Fall von etwas Allgemeinem, als Instanz einer Idee bestimmt, w¨ ahrend es beim Wissen um die Erkenntnis des Allgemeinen selbst geht. Im Folgenden werden wir die Unterscheidung zwischen Wahrnehmen, Meinen und Wissen ausf¨ uhren und auf die Kooperation der verschiedenen Erkenntnisverm¨ ogen hinweisen. Wahrnehmen, Meinen und Wissen beziehen sich nach Platon jeweils auf verschiedene Erkenntnisgegenst¨ ande. 5 Gegenstand der Wahrnehmung sind wahrnehmbare Qualit¨ aten wie Schwarz und Weiß, H¨ ohe oder Tiefe 4 5
Vgl. dazu Kapitel 7.1. Siehe dazu Schmitt (2003, S. 308f.).
Wahrnehmen, Meinen und Wissen
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eines Tons, W¨ arme, H¨ arte, Leichtigkeit oder die S¨ uße eines Geschmacks (Theaitetos 184b8f., e4). Die wahrnehmbaren Qualit¨ aten sind jeweils verschiedenen Wahrnehmungsverm¨ ogen eigent¨ umlich, d. h. was wir mittels des einen Verm¨ ogens wahrnehmen, z. B. die Farbe mit den Augen und den Ton mit den Ohren, k¨ onnen wir nicht zugleich mit einem anderen Verm¨ ogen wahrnehmen (Theaitetos 184e7-185a2, vgl. Charmides 168d3-e1). Wir nehmen mittels“ ( ) der k¨ orperlichen Sinnesorgane, aber durch“ ” ” ( , Theaitetos 184c6ff.) die Seele wahr. Die Seele braucht die Sinnesorgane dabei als Werkzeug ( , Theaitetos 184d4). In der Analyse des Philebos wird der Leib affiziert, er hat ein (Philebos 33d2, vgl. Theaitetos 186d2). Wenn diese Affektion der Seele verborgen bleibt, kommt es zu keiner Wahrnehmung ( , Philebos 34a1); wenn es aber zu einer gemeinsamen ( , Philebos 33d5 u. ¨ o.) Affektion von K¨ orper und Seele kommt, dann liegt Wahrnehmung vor. 6 Auf dieser Stufe der Analyse ist die Wahrnehmung eine rein sinnliche Empfindung einer wahrnehmbaren Qualit¨ at. Platon unterscheidet von dem Verm¨ ogen der Wahrnehmung durch die Seele mittels der Sinnesorgane im Theaitetos ein Verm¨ ogen, bei dem die Seele selbst mittels ihrer selbst“ ( , Theaitetos 185d9f., e6) ” betrachtet. Dieses Verm¨ ogen erkennt, was allen Einzelwahrnehmungen gemeinsam ist (vgl. bzw. 185c4 bzw. 185e1). 7 Dieses Gemeinsame kann nicht mit einem speziellen Wahrnehmungssinn betrachtet werden, handelt es sich bei ihm doch um Sein ¨ und Nichtsein, Identit¨ at und Verschiedenheit, Ahnlichkeit und Un¨ ahnlichkeit sowie um Anzahl. Sein und Nichtsein ( , Theaitetos 185c8, vgl. 185a9 und 186b6) einer Wahrnehmung bezeichnen das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen einer Wahrnehmungsempfindung. Eine solche Empfindung liegt niemals bloß vor oder nicht, sondern die Empfindung ist stets bestimmt. Die bestimmte Empfindung ist mit sich selbst identisch und von anderen Wahrnehmungseindr¨ ucken verschieden. Die Identifizierung und Unterscheidung leistet die Seele bei jeder Wahrnehmung, aber sie erbringt diese Leistung nicht mittels des affizierten Wahrnehmungsor6
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Zu der Frage, ob Wahrnehmung damit ein rein passives Erleiden sei, vgl. B¨ uttner (2000, S. 70 Anm. 194-197) und Lee (2001, S. 125 Anm. 12). Bei der Wahrnehmung ist der K¨ orper passiv, er erleidet eine Affektion, w¨ ahrend die Seele im Empfinden der wahrnehmbaren Qualit¨ at eine eigene Unterscheidungsleistung erbringt, vgl. dazu Schmitt (2003, S. 309-315). , um die es Platon hier geht, sind von den gemeinschaftlichen WahrnehmunDie gen, von denen Aristoteles De anima II 6 spricht, zu unterscheiden: Nach Aristoteles um wahrnehmbare Qualit¨ aten, die gleichwohl nicht eihandelt es sich bei den nem einzelnen Sinn eigent¨ umlich sind, sondern durch Synthesis jeweils eigent¨ umlicher Wahrnehmungen von verschiedenen Sinnen wahrgenommen werden k¨ onnen, z. B. kann Gestalt durch Synthesis sowohl von Farb- als auch von Tasteindr¨ ucken wahrgenommen werden.
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gans, sondern mittels ihrer selbst: Nicht Identit¨ at und Differenz affizieren das Sensorium, sondern eine bestimmte Schwingung der Luft affiziert das ¨ Ohr. Noch deutlicher ist das im Falle von Ahnlichkeit und Un¨ ahnlichkeit. Das Trommelfell wird von der schwingenden Luft in Schwingung versetzt, ¨ aber es vergleicht diese Schwingung nicht auf Ahnlichkeit oder Un¨ ahnlich¨ keit mit anderen Schwingungen. Ahnlich sind einander zwei Verschiedene, die eine identische Beschaffenheit haben (vgl. Parmenides 139e8f.). Die ¨ Feststellung der Ahnlichkeit beruht also auf einem Vergleich von Verschiedenen. Das schwingende Trommelfell schwingt aber genau so wie es jetzt gerade schwingt und hat nicht zugleich eine andere Schwingung; zum Vergleich verschiedener Schwingungen fehlt dem Trommelfell jede F¨ ahigkeit. Aus demselben Grund kann das Ohr die T¨ one auch nicht z¨ ahlen; selbst f¨ ur das Z¨ ahlen aufeinanderfolgender T¨ one br¨ auchte es bereits Ged¨ achtnis und die F¨ ahigkeit zur Synthesis verschiedener Ged¨ achtnisinhalte. Daraus ist zu ersehen, dass Identifikation und Unterscheidung der bestimmten Wahrnehmungsempfindung, deren Verkn¨ upfung, der Vergleich verschie¨ dener Empfindungen auf Ahnlichkeit und Un¨ ahnlichkeit sowie die Bestimmung der Anzahl solcher Empfindungen von der Seele selbst geleistet werden m¨ ussen. Das gleiche gilt auch f¨ ur die Erkenntnis von etwas als sch¨ on oder gut bzw. h¨ asslich oder schlecht (Theaitetos 186a9). Ein Beispiel f¨ ur etwas Sch¨ ones und Gutes findet sich in unserer Textstelle selbst: Theaitetos’ Zugest¨ andnis, dass die Seele die selbst mittels ihrer selbst“ be” trachtet (185d9f., e4). Sch¨ on und gut ist dieses Zugest¨ andnis, weil es wahr ist. Dass die Seele die Wahrheit einer Aussage nicht mittels einer Wahrnehmungsempfindung erkennt, ist offensichtlich. Im Symposion (210a-c) z¨ ahlt Sokrates verschiedene Instanzen des Sch¨ onen auf, n¨ amlich sch¨ one K¨ orper, sch¨ one Seelen, sch¨ one Gesetze und sch¨ one Erkenntnisse. Bei Erkenntnissen, Gesetzen und Seelen liegt es auf der Hand, dass wir ihre Sch¨ onheit nicht mittels einer Wahrnehmungsempfindung erkennen; allenfalls bei den sch¨ onen K¨ orpern k¨ onnte man daran zweifeln, immerhin affizieren K¨ orper unsere Wahrnehmungsorgane. Im engeren Sinne wahrnehmbar ist nicht der K¨ orper als K¨ orper, wahrnehmbar ist vielmehr der Druck oder die Farbe. Schon die Synthesis verschiedener Druck- und Farbwahrnehmungen zu einer Gestalt, was Aristoteles als gemeinschaft” liche Wahrnehmung“ bezeichnet, ist eine Eigenleistung der Seele. Das gilt umso mehr f¨ ur die Erkenntnis des K¨ orpers als ein K¨ orper, seine Unterscheidung von demjenigen, was nicht dieser K¨ orper ist, und vor allem f¨ ur seine begriffliche Bestimmung als K¨ orper“ oder menschlicher Leib“. 8 A ” ” 8
Es sei darauf hingewiesen, dass die Seele ihre Erkenntnis eines K¨ orpers nicht aus eigent¨ umlichen Wahrnehmungen zusammensetzt. Bei dem skizzierten Weg von den einzelnen Sinnesempfindungen bis zur begrifflichen Bestimmung handelt es sich nicht
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fortiori ist damit auch die Erkenntnis der Sch¨ onheit eines menschlichen Leibes, d. h. der Vollkommenheit seiner Ausformung, nichts im engeren Sinne Wahrnehmbares. Die Beurteilung der Vollkommenheit oder Defizienz setzt die Kenntnis dessen voraus, was ein Mensch ist, wie sein Leib beschaffen ist und welche Funktion sowohl das Ganze als auch die einzelnen Glieder und Organe erf¨ ullen. Dass es sich schon bei dieser Wesenserkenntnis um eine Leistung der Seele mittels ihrer selbst handelt, ist Sokrates’ n¨ achster Gedankenschritt. ), die mittels des K¨ orpers zur Wahrnehmungsempfindungen ( Seele gelangen, kommen Menschen und Tieren von Natur ( ) zu, sobald sie geboren sind (Theaitetos 186b11-c2). Sowohl Menschen als auch Tiere sind ihrer nat¨ urlichen Veranlagung nach dazu in der Lage, sinnlich affiziert zu werden und dabei bestimmte Wahrnehmungsempfindungen zu unterscheiden. Da sie u ogen urspr¨ unglich verf¨ ugen, han¨ber dieses Verm¨ delt es sich nicht um eine zu erlernende F¨ ahigkeit. Anders verh¨ alt es sich bei der Erkenntnis des Seins und des Nutzens (vgl. 186c3) einer Sache. Sie kommt denjenigen, denen sie zuteil wird, nur schwer, durch lange Besch¨ aftigung mit der Sache und durch Unterricht zu (186c3-5). Der Nutzen einer Sache ist im weitesten Sinne dasjenige, wozu ) oder ihre diese Sache gut ist, n¨ amlich das ihr eigent¨ umliche Werk ( Funktion. Wenn Sokrates von Sein und Nutzen“ einer Sache spricht, dann ” ist unter Sein“ die Wesensbestimmung des Einzeldings zu verstehen. 9 Die ” Funktion eines Messers ist das Schneiden, und von dieser Funktion her bestimmt sich die Beschaffenheit des Messers. Seiner Beschaffenheit nach mag das Messer silbrig-gl¨ anzend, l¨ anglich, hart und scharf sein; wenn unser Sensorium von dem Messer affiziert wird, dann haben wir nicht die Wahrnehmungsempfindung Messer“, sondern silbrig-gl¨ anzend, l¨ anglich, ” ” hart und scharf“. Die Synthesis dieser Empfindungen leistet die Seele. Dass es sich bei dem Wahrgenommenen um ein Messer handelt, erkennt die Seele mit Hilfe von Schl¨ ussen ( 186c3). 10 Die Identifikation des Messers beruht etwa auf folgendem Schluss: Ein Messer ist ein Schneidwerkzeug; damit etwas schneiden kann, ist es hart, l¨ anglich, scharf und aus (silbrig-gl¨ anzendem) Metall; der wahrgenommene Gegenstand ist hart, l¨ anglich, scharf und silbrig-gl¨ anzend, also handelt es sich um ein Messer. Die eigent¨ umliche Wahrnehmung ist irrtumsfrei und
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um eine Beschreibung zeitlich aufeinanderfolgender Prozesse, sondern um eine Analyse dessen, was unser Erkenntnisverm¨ ogen immer schon geleistet hat. Unsere Gegenstandserkenntnis beginnt f¨ ur Platon und Aristoteles mit einem unscharfen Allgemeinbegriff von der Sache und schreitet fort zu einer genaueren Bestimmung. Siehe dazu Pietsch (1992, S. 62-77) und Schmitt (2003, S. 315-324). F¨ ur die Sachbestimmung durch Unterscheidungen von ihrer Funktion her siehe Politeia 352d9-353e5, 477d1-5, 601d4-6 und Kratylos 389a6-b6. ¨ Zu den folgenden Uberlegungen siehe auch Schmitt (2003, S. 326).
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kommt auch unge¨ ubten Menschen und Tieren zu, der Schluss ist aber fehleranf¨ allig. Es k¨ onnte sich bei dem harten, l¨ anglichen, scharfen und silbrig-gl¨ anzenden Gegenstand n¨ amlich auch um eine Schere statt um ein Messer handeln. Eine Schere ist zwar auch ein Schneidwerkzeug, aber sie funktioniert anders und hat in der Regel auch einen anderen Nutzen: W¨ ahrend das Messer etwa Brot schneidet, ist die Schere eher zum Schneiden von Papier geeignet. 11 Die entsprechenden Wahrnehmungsempfindungen hat auch ein eben erst geborenes Kind; bis es aber ein Messer als Messer erkennen, von einer Schere unterscheiden und ihren jeweiligen Nutzen beurteilen kann, muss es sich mit diesen Gegenst¨ anden besch¨ aftigen, sie ausprobieren, ihren Gebrauch beobachten, diesen nachahmen und bedarf schließlich noch der Erkl¨ arung durch die Eltern. Erst wenn das Kind sein begriffliches Denken entwickelt hat und im Schließen ge¨ ubt ist, kann es einen Gegenstand als bestimmten Gegenstand erkennen und seine Funktion beurteilen. Diese Erkenntnisleistungen m¨ ussen nicht bewusst ablaufen und bed¨ urfen keiner Reflexion auf die zugrunde liegenden logischen Operationen. Der vermeintlich einfache Akt der Gegenstandswahrnehmung erweist sich in dieser Analyse als ein komplexes Zusammenwirken von Wahrnehmung, Ged¨ achtnis und Denken. Die Seele erbringt die notwendigen Unterscheidungsleistungen zum einen mittels ihrer Wahrnehmungsorgane, zum anderen aus sich selbst heraus. Bei dem wahrgenommenen Gegenstand handelt es sich um ein Einzelding, das von der Seele als etwas identifiziert und unter den entsprechenden Allgemeinbegriff, z. B. Messer, subsumiert wird. Bei der Gegenstandswahrnehmung im Sinne der Subsumtion eines Einzeldinges unter einen Allgemeinbegriff handelt es sich um eine Erkenntnisleistung, die Platon als meinen“ ( , Theaitetos 187a5-8, ” vgl. Philebos 38b-39a) bezeichnet. In Politeia 477d-480a bestimmt Platon das Verm¨ ogen des Meinens durch einen eigenen Objektbereich und unterscheidet es dadurch von dem Verm¨ ogen des Wissens. 12 11
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Platon stellt analog fest, dass man Weinreben auch mit dem Schnitzmesser ( ) ) abschneiden k¨ onne, am besten geeignet sei aber das oder dem Schneidmesser ( ), siehe Politeia 353a1-5, zu genau diesem Zweck gefertigte Winzermesser ( vgl. 333d3f.. ¨ Die Passage ist vielfach kommentiert worden. Einen guten Uberblick u ¨ber die Literatur bieten Graeser (1991) und Horn (1997, S. 293-8), zu beachten sind auch die Beitr¨ age von Szaif (1998, S. 186, 207f., 304, 308-315) und Schmitt (1973, S. 153-166). Ein Problem der gegenstandsbezogenen Differenzierung von Erkenntnisverm¨ ogen scheint darin zu bestehen, dass es demnach von den Gegenst¨ anden des Meinens nur Meinung, aber niemals Wissen, von den Gegenst¨ anden des Wissens dagegen nur Wissen, aber niemals Meinung geben k¨ onne. Dieses Problem hat zu verschiedenen Versuchen gef¨ uhrt, in der Passage eine nicht gegenstandsbezogene Differenzierung von Wissen und Meinung zu finden. Diese Versuche weist Horn (1997, S. 293-8) zur¨ uck. Es hat sich bereits gezeigt, dass Wahrnehmung und Meinung unterschiedliche Gegenst¨ ande
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Platon unterscheidet in dieser Passage das vollkommen Seiende und das auf keine Weise Seiende; das vollkommen Seiende ist auch vollkommen , Politeia 477a3), erkennbar (vgl. das auf keine Weise Seiende ganz und gar unerkennbar (vgl. 477a3f.). Bei dem vollkommen Seienden handelt es sich um die Ideen, die als vollkommen differenzierte Bestimmtheiten auch vollkommen unterscheidbar und das heißt erkennbar sind; das auf keine Weise Seiende ist vollkommen unbestimmt und daher auch ununterscheidbar und unerkennbar. 13 Meinung ist im Gegensatz zu Wissen fehlbar (477e7f.), sie ist dunkler“ als Wissen, heller“ als die Unkennt” ” nis (478c13f.) und steht in diesem Sinne zwischen ( 478d3) Wissen und Unkenntnis. Die Meinung steht zwischen Wissen und Unkenntnis, weil auch der Gegenstandsbereich der Meinung zwischen dem vollkommen Seienden als Gegenstand des Wissens und dem auf keine Weise Seienden als Gegenstand“ der Unkenntnis im Sinne des Unkennbaren liegt ” (478df., 479cf.). Bei dem Bereich zwischen Sein und Nicht-Sein handelt es sich um die Gesamtheit der Instanzen, die Sokrates dadurch n¨ aher charakterisiert, dass sie vielfach und (in verschiedenen Hinsichten) gegens¨ atzlich bestimmt sind. 14 Im Meinen wird etwas Einzelnes unter einen Allgemeinbegriff subsumiert. Ein Allgemeinbegriff ist der mehr oder weniger abstrakte Begriff einer Bestimmtheit, also einer Idee. So betrachtet gibt die Meinung von einem Einzelding an, welche Bestimmtheit ihm zukommt, d. h. an welcher Idee die Instanz teilhat. Wenn die Meinung zwischen Wissen und Unkenntnis steht, dann ist die N¨ ahe der Meinung zum Wissen dahingehend zu verstehen, dass sie die Ideenbestimmtheit zwar nicht selbst f¨ ur sich selbst, aber immerhin als die an Einzelnem vorkommende Bestimmtheit intendiert. Diese Betrachtungsweise dr¨ uckt allerdings eine philosophische Perspektive auf das Meinen aus, gew¨ ohnlich reflektiert der Meinende sein Meinen nicht als Angabe eines Teilhabeverh¨ altnisses. Das Meinen ist dann ein Erkenntnishabitus, der zwischen Idee und Instanz gerade nicht unterscheidet und an den wahrnehmbaren Instanzen orientiert ist (Politeia 476b4-8, 480a1-7). In diesem Sinne sind die Liebhaber der Meinungen ( 480a6) auch Liebhaber der T¨ one, Farben (
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haben, n¨ amlich die Wahrnehmung das Harte und Silbrig-Gl¨ anzende, die Meinung das Messer-Sein des Gegenstandes. Wahrnehmung und Meinung beziehen sich zwar auf denselben ¨ außeren Gegenstand: Dieser ¨ außere Gegenstand kann aber auf keine Weise ” zu einem inneren Gegenstand der Wahrnehmung oder des Denkens werden. Wir haben, wie Aristoteles betont, ja nicht den Stein in der Seele, wenn wir etwas von ihm wahrnehmen oder denken.“ (Schmitt, 2003, S. 309). Vgl. dazu Kapitel 2.1. Vgl. dazu Kapitel 3.1.
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476b4) etc. 15 Dem Erkenntnishabitus der Nichtunterscheidung von Bestimmtheit und Bestimmtem entspricht es, wenn Hippias das Sch¨ one als sch¨ ones M¨ adchen“ bestimmt (Hippias Maior 287ef.), wenn La” ches Tapferkeit definiert als in der Schlachtreihe standhaltend die Feinde ” abwehren und nicht fliehen“ (Laches 190e) oder wenn Kephalos impliziert, Gerechtigkeit sei das Zur¨ uckgeben, was einer von einem empfangen hat“ ” (Politeia 331c). In der Bestimmung dessen, was sch¨ on, tapfer oder gerecht ist, sind alle drei ganz an demjenigen orientiert, was als sch¨ on, tapfer oder gerecht erscheint; dass es sich dabei um eine Orientierung an der wahrnehmbaren Instanz handelt, war im Falle von Hippias besonders offenkundig. Dem doxastischen Erkenntnishabitus gegen¨ uber steht der epistemische. Dieser Erkenntnishabitus zeichnet den Philosophen aus (Politeia 475bff., 480a). Der Philosoph in Platons Sinne unterscheidet zwischen Bestimmtheit und Bestimmtem und strebt nach der Erkenntnis der Bestimmtheit selbst f¨ ur sich selbst. Auch der Philosoph muss bei der Erkenntnis der Ideen von deren Instanzen ausgehen 16 , aber er reflektiert die Instanz als einen Fall von der gesuchten Bestimmtheit, als eine m¨ ogliche Ausformung neben anderen m¨ oglichen Ausformungen. Weil die einzelnen Instanzen voneinander verschieden sind, liegt in ihnen die Bestimmtheit auch in jeweils anderer Ausformung vor. Gerade weil die verschiedenen Ausformungen voneinander abweichen, ist es n¨ otig, sich von der Orientierung an einzelnen Instanzen zu l¨ osen. W¨ ahrend der doxastische Erkenntnishabitus sich an einzelnen Ausformungen orientiert, sucht der epistemische nach demjenigen, was in allen Ausformungen das Identische ist, von dem her sich die Beschaffenheit sowohl der vorliegenden als auch anderer Instanzen erkl¨ art. Die eine Funktion aller Messer ist das Schneiden, von ihr her haben alle Messer einen Griff und eine Klinge, aber ein Messer, das diese Funktion als Stichwaffe aus¨ uben soll, ist anders ausgeformt als ein Messer, das zum Schneiden des Brotes vorgesehen ist; ersteres ist kurz und spitz und verf¨ ugt u ¨ber eine beidseitig scharfe Klinge, letzteres ist l¨ anger und nur auf einer Seite scharf. Wer sich bei der Erkenntnis der Idee des Messers an einer Stichwaffe orientiert, der wird dazu verleitet, mit der Spitzigkeit und der beidseitig gesch¨ arften Klinge Merkmale in seinen Begriff aufzunehmen, die zu speziell sind; sobald er auch einem Brotmesser das Messer-Sein zugesteht, widerspricht er seiner vorherigen Begriffsbestimmung und muss dieselbe modifizieren. Um noch ¨ ein Beispiel zu bem¨ uhen, das in den Kontext der folgenden Uberlegungen geh¨ ort: Sokrates bestimmt die Gerechtigkeit in der Politeia (433a9, 15 16
Vgl. dazu (Schmitt, 1973, S. 153), Schmitt (2003, S. 325) und Graeser (1991, S. 367, 369). Vgl. dazu Kapitel 6.3.
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vgl. 441d9) als das Seine tun“, aber das Seine“ ist in Hinsicht auf die ” ” Herrschaftsstruktur einer Stadt im Falle derjenigen, die ihrem Wesen nach als Herrscher geeignet sind, das Herrschen, im Falle aller anderen B¨ urger das Beherrscht-Werden. Die eine Bestimmtheit der Gerechtigkeit ist bei den verschiedenen Instanzen jeweils anders ausgeformt. Der Philosoph sucht die Bestimmtheit nicht, insofern sie in den Instanzen vorliegt, sondern selbst f¨ ur sich selbst.
8.2 Begehrendes, eifriges und denkendes Seelenverm¨ogen Platon unterscheidet in Politeia 437b-441c ein begehrendes ( ), ein eifriges ( ) und ein denkendes ( ) Seelenverm¨ ogen. 17 Er unterscheidet diese Seelenverm¨ ogen mit Hilfe des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch (439b, vgl. 436bc). Der Grundgedanke ist dabei, dass – ausgehend von dem Werk eines Verm¨ ogens – dasselbe Verm¨ ogen nicht zugleich ein bestimmtes Werk und das Gegenteil desselben vollbringen k¨ onne, wobei das Werk jeweils ein bestimmtes Wollen ist. Dasselbe Verm¨ ogen kann nicht zugleich dieses und das Gegenteil desselben wollen; falls in der Seele entgegengesetztes Wollen vorliegt, falls sie also dieses und das Gegenteil desselben will, dann muss es sich jeweils um das Wollen von zwei verschiedenen Seelenverm¨ ogen handeln. Jedes der drei Seelenverm¨ ogen besitzt mithin ein spezifisches Wollen, aber nicht nur das, es verf¨ ugt zudem auch u umliche Arten von F¨ uhlen ¨ber ihm eigent¨ und Erkennen. Alle drei Seelenverm¨ ogen sind nicht unabh¨ angig voneinander, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Insbesondere die unteren Seelenverm¨ ogen sind nicht g¨ anzlich irrational und daher kultivierbar. Aus diesem Grund greifen Wissen (als Kultivierungsinstrument) und Lebens17
¨ Die Ubersetzungen sind kaum mehr als ein Notbehelf; f¨ ur das Verst¨ andnis des Gemeinten ist es daher zutr¨ aglich, sich an die jeweilige Charakterisierung und nicht an ¨ den Wortsinn der Ubersetzung zu halten. Zwar sind die seelischen Ph¨ anomene, um die es Platon hier geht, auch dem modernen Leser nicht unbekannt, aber die von Platon vorgenommene Differenzierung ist uns so fremd, dass wir nicht einmal u ¨ber ¨ geeignete Ubersetzungen verf¨ ugen. Das gilt f¨ ur alle drei Seelenverm¨ ogen, besonders . Dass moderne Einteilundeutlich ist es bei dem eifrigen Seelenverm¨ ogen, dem gen von Seelenverm¨ ogen ungeeignet sind, um von ihnen her die Platonische Einteilung zu erkl¨ aren, zeigt B¨ uttner (2000, S. 18-64); zum Verst¨ andnis der Platonischen Einteilung hilfreich ist außerdem Graeser (1969, S. 13-26). Ferner ist zu beachten, dass die Analyse der Seelenverm¨ ogen im vierten Buch der Politeia nicht als Traktat De anima gelesen werden darf: Es handelt sich weder um den Versuch, einen Begriff der Seele anzugeben, noch erhebt die Differenzierung der Seelenverm¨ ogen irgendeinen Anspruch auf Vollst¨ andigkeit. Die Analyse erfolgt vielmehr in Hinsicht auf die Erkl¨ arung der menschlichen Tugend, insbesondere der Gerechtigkeit.
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vollzug ineinander: Das Wissen bestimmt den Lebensvollzug, und umgekehrt treibt ein geeigneter Lebensvollzug tiefere Einsicht voran. Betrachten wir zun¨ achst das begehrende Seelenverm¨ ogen: Platon subsumiert (437b9) die Begierde ( ) unter das Nach-etwas-Trachten ( 437c1) oder das Etwas-an sich-Ziehen ( 437c2). Es ist nicht zu vernachl¨ assigen, dass die Begierde nicht das Nach-etwasTrachten u ¨berhaupt, sondern eine spezifische Form desselben neben anderen Formen ist. Platon nennt als andere Formen das Wollen ( ) und das erw¨ agende Beschließen ( 437b8), die mit dem begehrenden Nach-etwas-Trachten nicht identisch sind, weil insbesondere im die dem Beschließen vorausgehende und der Begierde nicht vorausgehende Beratschlagung mitzuh¨ oren ist. Beispiele f¨ ur Begierden sind Hunger und Durst (437b7, d2-4), wobei Hunger die Begierde nach Speise und Durst die nach Getr¨ ank ist, in allen F¨ allen ist die Begierde aber ein Nach-etwas-Trachten, also ein intentionaler Akt. Intentionale Akte zeichnen sich dadurch aus, dass sie in Beziehung zu ihrem Intentum stehen; Platon verdeutlicht das durch zwei Analogien, n¨ amlich die der Relativa und die der Erkenntnis: So wie das Gr¨ oßere gr¨ oßer ist als etwas, n¨ amlich als das Kleinere (438b), und so wie die Erkenntnis Erkenntnis von etwas Bestimmtem ist (438c-e), so ist auch die Begierde Begierde nach etwas Bestimmtem (439a). Das Intentum bestimmt den intentionalen Akt, so dass sich die Begierde nach warmem Getr¨ ank von derjenigen nach kaltem Getr¨ ank differenzieren l¨ asst, aber in jedem Fall bleibt es Begierde nach Getr¨ ank, zu der die n¨ ahere Bestimmung lediglich hinzukommt (437d8-e9). Das begehrende Seelenverm¨ ogen treibt“ ( 439d1) und zieht ” ” durch Leiden und krankhafte Zust¨ ande“ ( 439d1f), es ist dasjenige, womit die Seele liebt, hungert, d¨ urs” tet und sich von den anderen Begierden erregen l¨ asst“ ( 439d6f.). Das Leiden, welches das begehrende Seelenverm¨ ogen bewegt, ist das Empfinden eines Mangels (vgl. Philebos 31dff., 34eff.). Die Begierden insgesamt begehren dasjenige, was uns mangelt (vgl. Symposion 200a). Von dem Begehren desjenigen, was uns mangelt, behauptet Sokrates, es sei oh” ne Denken“ ( 439d7). Die Interpretation des bedarf besonderer Sorgfalt, weil es Anlass zu folgenschweren Missverst¨ andnissen geben kann. Es k¨ onnte n¨ amlich so viel bedeuten wie ohne begriffliches ” Denken“, d. h. ohne jene Form des Denkens, mit der wir Bestimmtheiten f¨ ur sich selbst erfassen k¨ onnen. Dass die von Sokrates unter dem Oberbezusammengefassten k¨ orperlichen Begierden nicht griff des den Bestimmtheiten f¨ ur sich selbst gelten, ist ganz unproblematisch und sachlich richtig: Wer Durst versp¨ urt, der begehrt ein Getr¨ ank, um es zu trinken, und nicht die Idee des Getr¨ anks, um sie zu denken. Man k¨ onnte
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aber auch versucht sein, im Sinne von irrational“, d. h. ohne ” irgendeinen Anteil am rationalen Denken, zu verstehen. Das begehrende Seelenverm¨ ogen w¨ are dann das dem rationalen Denken schlechthin Andere, ein vom rationalen Denken getrenntes und ihm gegen¨ uber g¨ anzlich eigenst¨ andiges Verm¨ ogen; die Folge w¨ are, dass das begehrende Seelenverm¨ ogen der Beeinflussung durch die rationale Einsicht in dasjenige, was gut f¨ ur uns ist, auch g¨ anzlich entzogen w¨ are. 18 Damit stellt sich die Frage, inwiefern die verschiedenen Seelenverm¨ ogen kooperieren. Die Diskussion der Begierde in der Politeia beansprucht diese Kooperation – anders als der Philebos – nur implizit. 19 Im Philebos werden verschiedene Arten der Lust ( ) unterschieden; Lust und Schmerz werden zun¨ achst im Hinblick auf die der Natur des Lebewesens eigene Harmonie bestimmt: Schmerz (Philebos 31d5) und Unlust (31e6) begleiten die Aufl¨ osung dieser Harmonie, Lust entsteht bei ihrer Wiederherstellung (31d, vgl. 32b2f.). Hunger und Durst sind Beispiele f¨ ur solche Unlust bereitende Aufl¨ osung, wobei die F¨ ullung“ ( 31e8) mit ” Speise und Getr¨ ank die Harmonie wieder herstellt und Lust bereitet. Daneben gibt es aber noch eine Art der Lust, die der Seele selbst ohne den K¨ orper entsteht und zwar durch die Erwartung ( 32c5), denn noch bevor die eigentliche Lust eintritt, ist deren Erwartung be) und Vorunlust ( reits lustvoll (32c1f). Solche Vorlust ( 39d4) beansprucht eine seelische F¨ ahigkeit, die wir Einbildungskraft oder Vorstellungsverm¨ ogen nennen. 20 Sokrates entwickelt den Gedanken eines solchen Verm¨ ogens aus der Wahrnehmung und dem Ged¨ achtnis. Die Wahrnehmung wird beschrieben als eine gemeinschaftliche Affektion ( 33d2, 34a3) des K¨ orpers und der Seele (34a3-5). Bei diesen gemeinschaftlichen Affektionen handelt es sich noch nicht um Gegenstandswahrnehmung, sondern um eigent¨ umliche Sinnesempfindungen. 21 Gleichsam im Gespr¨ ach mit 18
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Es ist n¨ utzlich zu u ur das Verh¨ altnis von Theorie und Praxis bedeu¨berlegen, was das f¨ als Schau der Ideen im Platonischen Sinne ist eine Leistung des ten w¨ urde: Die denkenden Seelenverm¨ ogens. Die Praxis unseres Lebensvollzugs wird durch ein Zusammenwirken der verschiedenen Seelenverm¨ ogen bestimmt, nicht zuletzt aber durch unsere Begierden. Wenn das begehrende Seelenverm¨ ogen irrational im oben skizzierten Sinne ist, dann bleiben unsere Begierden dem theoretischen Denken prinzipiell unzug¨ anglich. Soweit unsere Begierden unsere Lebenspraxis bestimmen, w¨ are eine harmonische Einheit von Theorie und Praxis, von Denken und Lebensvollzug dann auch prinzipiell unerreichbar. Der folgende Gedankengang soll zeigen, dass eine solche Einheit vom Platonischen Standpunkt aus betrachtet nicht nur m¨ oglich ist, sondern des Menschen ist. auch Ziel der Verwirklichung der Zu der folgenden Beschreibung der Begierde im Philebos siehe B¨ uttner (2000, S. 65-96, insb. 95f.). , das Platon nicht im Sinne unseres Verst¨ andnisses eines Zum Wortfeld der Vorstellungsverm¨ ogens verwendet, siehe B¨ uttner (2000, S. 88f.). Vgl. dazu Kapitel 8.1.
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sich selbst (38c10) versucht die Seele, das Wahrgenommene als einen bestimmten Gegenstand zu identifizieren. Eine solche Erkenntnisleistung ist nicht mehr Wahrnehmung im engeren Sinne sondern bereits eine Mei), die in einem formuliert werden kann (38e3f.). Dabei nung ( trifft das Ged¨ achtnis mit den Wahrnehmungen zusammen“ ( ” 39a1), d. h. der erinnerte Begriff identifiziert das gegenw¨ artig Wahrgenommene, und schreibt in unsere Seelen dann Re” den ein“ ( 39a3). Die daraus entstehende Meinung ist wahr, wenn der Begriff das Wahrgenommene richtig identifiziert (vgl. 39a4f.). Die begriffenen Wahrnehmungsinhalte k¨ onnen im Ged¨ achtnis verwahrt und sp¨ ater unabh¨ angig von der dann gegenw¨ artigen Wahrnehmung wieder vorgestellt werden (39b9-c2). Ein solches Vorstellungsbild ( 39c1, c4) hat die Seele aber nicht nur von dem Gegenw¨ artigen und Vergangenen, sondern sie kann Vorstellungsbilder auch von Zuk¨ unftigem erzeugen (39c10f.). Der Begierde geht das Leer-Sein oder der Mangel voraus (vgl. 34e11), der mit Unlust verbunden ist und von der Seele wahrgenommen wird. Mittels des Ged¨ achtnisses erinnert sich die Seele an den dem Mangel entgegengesetzten Zustand des Angef¨ ullt-Seins, den der Trieb begehrt (35c1214). 22 Der Mangel ist ein bestimmter Mangel, dem die Begierde nach einer bestimmten F¨ ullung korrespondiert (35a3f.). Es entspringt nicht irgendeine Begierde aus irgendeinem Mangel, vielmehr erbringt das Lebewesen in der bestimmten Begierde bereits eine Unterscheidungsleistung, in der es dasjenige, was seinem Mangel Abhilfe leisten kann, von allem anderen differenziert. Diese Unterscheidungsleistung beansprucht das Ged¨ achtnis (35b6-c1), denn sie beruht auf der Erinnerung, dass der jetzt empfundene Mangel auch fr¨ uher schon empfunden und damals durch eine bestimmte F¨ ullung behoben wurde. Das Ged¨ achtnis wird also – Sokrates betont das nicht eigens – an mehreren Stellen beansprucht, n¨ amlich bei der Erinnerung an den dem Mangel entgegengesetzten Zustand (35c12-14), bei der Erinnerung an dasjenige, was den vormaligen Mangel behoben hat (35a1-c1), und bei der begrifflichen Identifikation der Sache (39a1), die den Mangel behoben hat. Der Mangel wird als Mangel an etwas Bestimmtem, z. B. Fl¨ ussigkeit, identifiziert. Wir erkennen dadurch, welche Sache dem Mangel Abhilfe schaffen w¨ urde, z. B. Wasser. Wenn wir diese Sache in unserem Wahrneh22
Das Begehren gilt nach dieser Analyse dem Zustand des Angef¨ ullt-Seins, w¨ ahrend in der Politeia (z. B. 437d6) davon die Rede ist, dass ein Getr¨ ank begehrt wird. Es handelt sich in der Politeia aber lediglich um eine verk¨ urzte Redeweise, denn auch dort heißt es etwas sp¨ ater, das begehrende Seelenverm¨ ogen zieht durch Leiden und ” 439d1f). Das Getr¨ ank krankhafte Zust¨ ande“ ( wird begehrt, damit es dem als Leiden empfundenen Mangel an Fl¨ ussigkeit Abhilfe schafft.
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mungsfeld erkennen, etwa ein mit Wasser gef¨ ulltes Glas vor uns, dann stellen wir uns vor, das Wasser zu trinken, wobei die Vorstellung des zuk¨ unftigen Ereignisses bereits mit Vorlust verbunden ist. Das Begehren richtet sich nun auf das Wasser. Wenn wir es schließlich trinken, dann ist das Ausgleichen des Fl¨ ussigkeitsmangels mit Lust verbunden. Das Begehrungsverm¨ ogen bedarf folglich der Kooperation mit den Verm¨ ogen der Wahrnehmung, des Meinens, der Erinnerung und der Vorstellung. Wenn wir im Meinen Einzelnes unter Allgemeinbegriffe subsumieren, diese Allgemeinbegriffe aber vom rationalen Denken gebildet werden, dann kann unser Begehren kein vom rationalen Denken g¨ anzlich unabh¨ angiges Verm¨ ogen sein. Ferner liegen dem Begehren auch einfache Schl¨ usse der folgenden Art zugrunde: Der urspr¨ ungliche Gleichgewichtszustand war ” angenehm. Was fr¨ uher angenehm war, wird auch in Zukunft angenehm sein. Der urspr¨ ungliche Zustand wird auch in Zukunft angenehm sein.“ 23 Das f¨ ur uns entscheidende Argument wider die prinzipielle Irrationalit¨ at des Begehrens liegt aber nicht in dem bloßen Faktum der mit dem Begehren verbundenen Kooperation verschiedener Seelenverm¨ ogen. Entscheidend ist etwas anderes: Unser Begehren entspringt einem bestimmten Mangel und richtet sich zur Behebung dieses Mangels auf eine bestimmte Sache. Wenn wir Durst haben, dann richtet sich unser Begehren auf die Fl¨ ussigkeitsaufnahme. Wir m¨ ochten Wasser trinken, aber unser Begehren richtet sich nicht einfach nur auf Wasser, sondern wir wollen gutes, also sauberes, frisches und wohlschmeckendes Wasser trinken; wenn wir Hunger haben, dann m¨ ochten wir auch nicht einfach nur Speisen zu uns nehmen, sondern wir m¨ ochten gutes Essen verzehren, das nahrhaft, bek¨ ommlich und wohlschmeckend ist. Unser Begehren richtet sich also nicht nur auf eine Sache, die funktional den Mangel behebt, sondern auf diejenige Sache, die wir f¨ ur gut halten (Politeia 438a1-6). Um ein gutes Getr¨ ank und eine gute Speise zu erkennen, bedarf es der Erfahrung, aber die entsprechende Beurteilung ist Sache des Meinens, das dabei auf unseren rational gebildeten Begriff des guten Getr¨ anks und der guten Speise zur¨ uckgreift. Das soll nicht heißen, dass wir von vornherein nur dasjenige sinnlich begehren, was wir rational f¨ ur gut halten, aber es zeigt, dass das begehrende Seelenverm¨ ogen vom denkenden nicht g¨ anzlich unabh¨ angig ist und wir mit demjenigen, was wir f¨ ur gut halten, zumindest einen Ort angeben k¨ onnen, an dem unser Begehren der Einsicht unseres Denkens prinzipiell zug¨ anglich sein k¨ onnte. Warum aber kommt es bisweilen vor, dass jemand Durst hat, dennoch nicht trinkt (Politeia 439c2f.)? Ausgehend von dieser Frage unterscheidet Sokrates das begehrende vom denkenden Seelenverm¨ ogen. Eine m¨ ogliche Antwort hat Sokrates bereits abgewehrt: Die intentionalen Akte werden 23
B¨ uttner (2000, S. 95).
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u asst sich der ¨ber die Intenta differenziert (437d-438e). In diesem Sinne l¨ Durst nach kaltem Getr¨ ank von dem Durst nach warmem unterscheiden. Der D¨ urstende trinkt dann m¨ oglicherweise deshalb nicht, weil er Durst auf etwas Warmes hat, aber nur gek¨ uhlte Getr¨ anke bereitstehen. Solche Erkl¨ arungen sind durch Sokrates’ Hinweis ausgeschlossen, dass der nicht n¨ aher qualifizierte Durst ein Verlangen nach nicht n¨ aher qualifiziertem Getr¨ ank ist (439a6f.). Wenn jemand d¨ urstet und trotzdem nicht trinkt, dann muss er also außer dem begehrenden noch ein anderes Seelenverm¨ ogen haben, das ihn zur¨ uckh¨ alt (439b4-7). Neben dem zu trinken Be” fehlenden“ ( ) ist in der Seele auch noch das Verhindernde“ ” ( 439c6), wobei – der Mensch d¨ urstet, trinkt aber nicht – offenbar letzteres das Befehlende beherrscht (439c7). In dem von Sokrates angef¨ uhrten Beispiel handelt es sich bei diesem Beherrschenden oder Verhindernden um das denkende Seelenverm¨ ogen ( 439d5). Es ist diejenige Kraft, mit der die Seele denkt ( 439d5), wozu zun¨ achst alle geistigen Operationen begrifflicher Bestimmung, Unterscheidung, Identifikation, Verkn¨ upfung, logisches Schließen, mathematisches Rechnen etc. geh¨ oren. Man k¨ onnte vermuten, dass damit eine interesselose Verstandest¨ atigkeit bezeichnet ist, aber die Tatsache, dass dieses Seelenverm¨ ogen ein anderes Seelenverm¨ ogen beherrscht und die Verwirklichung einer Begierde verhindert, weist in eine andere Richtung. Das begehrende Seelenverm¨ ogen verlangt, dass der Mensch trinkt, das denkende verlangt das Gegenteil davon: Offenbar ist auch das mit einem Streben verbunden. Anhand der Analyse weiterer innerer Konflikte, also des Ringens entgegengesetzter Strebungen um Vorherrschaft, grenzt Sokrates das eifrige Seelenverm¨ ogen sowohl vom begehrenden als auch vom denkenden ab. Er unterscheidet das eifrige Seelenverm¨ ogen von dem begehrenden, indem er die Geschichte von Leontios bedenkt, der die beim Scharfrichter liegenden Leichname einerseits zu sehen begehrte, andererseits aber auch nicht; als er seiner Begierde schließlich nachgegeben und die Leichen gesehen hatte, schimpfte er auf seine Begierden (439e6-440a5). Durch die Schilderung eines weiteren Falles hebt Sokrates die Differenz zwischen Eifer einerseits und Denken und Begierde andererseits heraus. Er beschreibt einen Menschen, der Unrecht zu leiden glaubt: Der gl¨ uht“ ( 440c7) n¨ am” ¨ lich, d. h. seine Affekte sind auf das Außerste erregt. Er ist unwillig und k¨ ampft zusammen mit dem, was ihm gerecht zu sein scheint, durchleidet Hunger, K¨ alte und dergleichen, er h¨ alt aus, siegt und l¨ asst nicht ab von seinem edlen Vorhaben, bis er es entweder durchgef¨ uhrt hat oder stirbt oder aber wie ein Hund von seinem Hirten von der bei ihm wohnenden Vernunft zur¨ uckgerufen und bes¨ anftigt wird (440c7-d3). In beiden F¨ allen erfolgt die Abgrenzung der Seelenverm¨ ogen u ¨ber einander entgegengesetz-
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te Bestrebungen und erlaubt die R¨ uckf¨ uhrung des jeweiligen Strebens auf verschiedene Verm¨ ogen. Im Falle von Leontios steht dem Verlangen des begehrenden Seelenverm¨ ogens der Unwille des eifrigen entgegen. Im Falle des erlittenen Unrechts wird das eifrige zugleich vom begehrenden und vom denkenden Verm¨ ogen abgegrenzt, denn um der Gerechtigkeit willen leidet er Hunger und K¨ alte, d. h. er handelt wider seine Begierden, und er tut das solange, bis die Vernunft ihn davon abh¨ alt, d. h. eifriges und vern¨ unftiges Streben k¨ onnen in unterschiedliche Richtungen gehen. Der ist charakterisiert als Eifer oder Affekt ( 440a7), wozu besonders Zorn und Wut geh¨ oren, entsprechend z¨ urnt ( 440c2) und schimpft ( 440b1f) er. Entscheidend ist der Anlass der Erregung des Affekts: Im Falle des Leontios ist es ein Gaffen, das als schlecht beurteilt wird, und entsprechend schimpft der Eifer die Begierden als ungl¨ ucklich“ ( 440a4); im zweiten Falle ist es eine ” vermeintliche Ungerechtigkeit, die jemandem widerfahren ist. In beiden F¨ allen liegt dem Affekt die Ansicht zugrunde, eine Handlung sei schlecht bzw. ungerecht. Die Handlung ist etwas Einzelnes, Schlechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit sind Bestimmtheiten, von denen wir einen Begriff haben, an dem wir uns bei der Beurteilung von Handlungen orientieren. Dem Affekt liegt also jeweils eine Subsumtion von Einzelnem unter einen Allgemeinbegriff, d. h. eine Meinung ( ), zugrunde. 24 Der Eifer richtet sich gegen dasjenige, was wir f¨ ur schlecht bzw. ungerecht halten, und zielt umgekehrt auf dasjenige, was uns gut und gerecht erscheint. Bildung und Kritik unseres Begriffs vom Guten und Gerechten ist Sache des Denkens. Das eifrige Seelenverm¨ ogen kann damit von dem denkenden nicht unabh¨ angig und in diesem Sinne irrational sein. Sokrates nennt das eifrige Seelenverm¨ ogen deshalb einen Verb¨ undeten“ ( 440b3) des denkenden, der diesem ” von Natur, d. h. sofern sein Wesen wohl entwickelt und nicht korrumpiert ist, beisteht (vgl. 441a3). Aus der Verbindung des eifrigen zum denkenden Seelenverm¨ ogen ist es auch zu verstehen, dass der Edlere“ ( 440c2), der Unrecht ” getan zu haben glaubt und daf¨ ur Hunger, K¨ alte und dergleichen leidet, wegen dieses Leidens nicht z¨ urnt (440c1-5). Edler“ in diesem Sinne ist, ” wer ein besseres Verst¨ andnis vom Guten und Gerechten hat und in seinen Affekten auch von dieser Einsicht bestimmt wird. Hunger und K¨ alte, die er aufgrund von eigenem Unrecht zu leiden hat, versteht er nicht seinerseits als Ungerechtigkeit, weshalb sein Eifer dadurch auch nicht erregt wird. Das eifrige Seelenverm¨ ogen steht dem denkenden zwar von Natur aus bei, aber nur, wenn es nicht durch schlechte Nahrung verdorben wor24
Graeser (1969, S. 9) macht in diesem Zusammenhang auf Phaidros 253d7 aufmerksam, wonach das gute Pferd des Seelengespanns Freund wahrer Meinung“ ( ” 253d7) ist.
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den ist (441a3f.). Die schlechte Nahrung mag in Erziehung, in politischen oder sozialen Umst¨ anden, in ungeeigneten Vorbildern, deren Affekt der besseren Einsicht der Vernunft nicht folgt, oder in einem Irrtum u ¨ber dasjenige liegen, was gut und gerecht ist. Aber ein Affekt, der durch schlechte Nahrung verdorben werden kann, der l¨ asst sich auch durch gute Nahrung kultivieren. 25 Wie eine solche Kultivierung aussehen kann, ist im Rahmen der Tugendlehre zu u ¨berlegen. Zu den thymetischen Affekten ist noch zu bemerken, dass auch sie mit einer ihnen spezifischen Lust verbunden sind. Sokrates f¨ uhrt im Philebos aus, dass Erwartungen falsche Vorl¨ uste ausl¨ osen k¨ onnen und betont, dass das nicht nur bei Begierden der Fall sein kann, sondern auch bei Furcht und Zorn und allem so beschaffenen“ ( ” 40e2f.). Wenn der mit falscher Vorlust verbunden sein kann, dann ist er a fortiori u ¨berhaupt mit Lust verbunden. 26 In dem Beispiel der Ungerechtigkeit, die jemandem widerfahren ist, w¨ urde die Erwartung der Wiederherstellung der Gerechtigkeit von Vorlust begleitet. Bei der Unterscheidung der Seelenverm¨ ogen hat sich gezeigt, dass dem nicht nur begriffliches Denken frei von allen Strebungen zukommt, sondern dass es selbst mit einem Streben verbunden ist. Im Verh¨ altnis zu den beiden anderen Seelenverm¨ ogen ging es in den angef¨ uhrten Beispielen vor allem darum, Begierde bzw. Eifer zur¨ uckzuhalten (439c9, 440d3). Das denkende Seelenverm¨ ogen wird in der Sorge, die es f¨ ur den gesamten Menschen tr¨ agt, dem Vergleich mit dem Hirten (440d3), der f¨ ur seine Herde Sorge tr¨ agt, gerecht. Bei dem Streben, das sich darin ¨ außert, die beiden anderen Seelenverm¨ ogen aufgrund h¨ oherer Einsicht in dasjenige, was f¨ ur den Menschen gut oder schlecht ist, zur¨ uckzuhalten, handelt es sich allerdings nicht um das dem denkenden Seelenverm¨ ogen seiner Natur nach eigent¨ umliche Streben. Das eigent¨ umliche Werk des denkenden Seelenverm¨ ogens besteht in der Erkenntnis, der entsprechend auch das eigent¨ umliche Streben gilt. Die k¨ orperlichen Begierden zielen auf wahrnehmbare Gegenst¨ ande, die uns in der einen oder anderen Weise physische Lust onnen. Die Identifikation eines wahrnehmbaren Gegenstandes bereiten k¨ 25
26
Schmitt (2003, S. 357-380, s. a. S. 344-349) interpretiert die Poetik des Aristoteles dahingehend, dass es bei der Wirkung der Trag¨ odie um die Kultivierung der Affekte, insbesondere von Furcht und Mitleid, gehe. Ein kultivierter Affekt ist nicht ein heftiger, sondern ein angemessener Affekt. Beim tragischen Helden besteht ein f¨ ur den Zuschauer durchschaubares Missverh¨ altnis zwischen dem scheinbar und dem wirklich Furchtbaren. Das f¨ uhrt dazu, dass der Zuschauer das wirklich Furchtbare f¨ ur den tragischen Helden f¨ urchtet und ihn bemitleidet, wenn es ihm widerf¨ ahrt. Der Zuschauer lernt dabei durch Ein¨ ubung – nicht durch abstrakte Lehrvortr¨ age –, auch f¨ ur sich selbst nicht als den jeweils richtigen Affekt zu empfinden. In diesem Sinne ist die Reinigung von den Affekten mit dem Ziel einer Affektlosigkeit zu verstehen, sondern als Kultivierung der einer Situation angemessenen Affekte. Siehe dazu B¨ uttner (2000, S. 98).
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ist Sache der Meinung. Dass es sich bei dem r¨ otlich-schillernden Getr¨ ank um Wein handelt, ist nicht Sache der Wahrnehmung, sondern des Meinens. Dennoch gilt die Begierde einem wahrnehmbaren Gegenstand. Eine ungerechte Handlung ist in einem gewissen Sinne ebenfalls wahrnehmbar, aber die Beurteilung des Wahrgenommenen als eine so und so bestimmte Handlung und insbesondere als Ungerechtigkeit ist wiederum Sache des Meinens. Beim Eifer gilt das Streben aber nicht einem wahrnehmbaren Gegenstand, sondern der Gerechtigkeit, genauer: Es gilt nicht der Erkenntnis der Gerechtigkeit, das ist Sache des denkenden Seelenverm¨ ogens, sondern der Wiederherstellung der Gerechtigkeit in einem konkreten Fall. Eine solche Instanz der Gerechtigkeit ist nicht ein wahrnehmbarer, gerechter Gegenstand. Das dem denkenden Seelenverm¨ ogen eigent¨ umliche Streben gilt weder wahrnehmbaren Gegenst¨ anden, noch den Instanzen des Guten oder Gerechten, sondern der Erkenntnis der Bestimmtheiten aher zu selbst f¨ ur sich selbst. 27 Im Rekurs auf das Symposion ist dies n¨ beschreiben. Die Genealogie des Eros im Symposion soll die erotische Grundstruktur menschlichen Daseins u aren. Das Streben gilt dabei je¨berhaupt erkl¨ weils dem Sch¨ onen, aber in unterschiedlichen Ausformungen: Zun¨ achst gilt es dem einen sch¨ onen Leib (Symposion 210a7f.), wobei dieses Streben bei dem begehrenden Seelenverm¨ ogen zu lokalisieren ist (Phaidros 254a, 254d, 255ef.). Dann gilt das Streben der Sch¨ onheit in allen Leibern, aber schon diese zweite Stufe beruht auf der Erkenntnis des denkenden Seelenverm¨ ogens (vgl. , Symposion 210b4), dass die Sch¨ onheit in allen Leibern eine und dieselbe ist. In ihrer n¨ achsten Ausformung gilt die Liebe der seelischen Sch¨ onheit. Wenn der Geliebte besser“ gemacht und ” zur Schau des Sch¨ onen in Bestrebungen und Gesetzen gebracht werden soll (210c2-4, 211c5f., vgl. Phaidros 252d-253a), gilt diese Form des Strebens der Verwirklichung der in einem einzelnen Menschen; insofern es diesem Streben um das Allgemeine im Einzelnen geht, k¨ onnte man dieses Streben wesentlich dem eifrigen Seelenverm¨ ogen zuordnen. Schließlich schaut“ ( 210d1) er das Sch¨ one der Erkenntnisse, bis er zuletzt ” die Idee des Sch¨ onen selbst erblickt“ ( 210d7). Die Charakterisie” rung der Idee des Sch¨ onen (210ef.) zeigt, dass es sich dabei nicht mehr um Instanzen des Sch¨ onen, um das Sch¨ one in seinen verschiedenartigen, aber vereinzelten Ausformungen, sondern um die eine Bestimmtheit selbst f¨ ur sich selbst handelt. Diese Art von Erkenntnisstreben ist dem denkenden Seelenverm¨ ogen eigent¨ umlich (vgl. Timaios 88b1f und Phaidros 248a2-5, allein der Wagenlenker schaut die Ideen) und findet ihre Erf¨ ullung auch 27
Zu dieser Verbindung der drei Erkenntnisweisen von Wahrnehmung, Meinen und Wissen mit den drei Seelenverm¨ ogen von Begierde, Eifer und Denken siehe Schmitt (2003, S. 298-306).
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allein im Denken. Platon benutzt die Formulierungen aus dem Sachgebiet optischer Wahrnehmung, weil der Sehsinn das sch¨ arfste aller Wahrnehmungsverm¨ ogen, also das am genauesten differenzierende ist (Phaidros 250d3f.), aber die optische Ausdrucksweise bleibt Metapher f¨ ur die Unterscheidung der Bestimmtheiten im Denken. Das Streben nach der Ideenerkenntnis ist dem denkenden Seelenverm¨ ogen eigent¨ umlich, aber vom Standpunkt dieser Einsicht aus zeigt sich, dass es jeweils die Anwesenheit der Bestimmtheit des Sch¨ onen in den sch¨ onen Instanzen war, der auch das Streben der anderen Seelenverm¨ ogen galt (vgl. Phaidros 250a6-b1, 250e2f., 254b7). Grund und Ziel allen Strebens ist letztlich die Idee des Sch¨ onen.
8.3 Die menschliche Tugend nach Politeia IV 427d-434c, 441c-442d Platon 28 versteht unter zun¨ achst allgemein die Tauglichkeit einer Sache zu einem spezifischen Werk (Politeia 352b-353e). 29 Das spezifische Werk ist dasjenige, was sich mit dieser Sache allein oder am besten be28
29
Die Beschr¨ ankung auf Politeia IV dient dazu, ein f¨ ur die Zwecke der vorliegenden Arbeit hinreichend differenziertes Verst¨ andnis dessen zu gewinnen, was Platon unter Tugend versteht, ohne die zahlreichen anderen Textstellen ber¨ ucksichtigen zu m¨ ussen, an denen Platon dieses Thema behandelt. Der Sache nach ist Platons Tugendkonzept weitgehend einheitlich. Gem¨ aß dem Grundsatz, es mit der Benennung nicht zu genau zu nehmen (z. B. Theaitetos 184c1f.), vermeidet Platon terminologische Fixierung. Entsprechend definiert etwa die Idiopragie im Charmides (161d5) die Besonnenheit und in der Politeia (433a9, 441d9) die Gerechtigkeit. Das bedeutet aber nicht, dass Platon zwischen der Abfassung beider Dialoge seine Tugendkonzeption ver¨ andert h¨ atte. Die Unterschiede erkl¨ aren sich durch das jeweils andere Erkenntnisinteresse. ¨ ist Tugend“. Unser Wort Tugend“ leitet sich Die gel¨ aufige Ubersetzung von ” ” von dem althochdeutschen Wort tugund“ her, was so viel wie Tauglichkeit, Kraft“ ” ” bedeutet. Wenn man in Tugend“ vor allem die Bedeutung des althochdeutschen tu” ¨ ” durchaus geeignet. Gel¨ aufiger ist gund“ h¨ ort, dann ist es als Ubersetzung von uns Tugend“ aber im Zusammenhang mit den christlichen Tugenden von Glaube, ” Liebe und Hoffnung (1. Kor. 13, 13) oder b¨ urgerlichen Tugenden wie Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Weder die christlichen noch die b¨ urgerlichen Konnotationen sind zur konzipiert. Im Folgenden werde ich Erkl¨ arung dessen geeignet, was Platon als ¨ als Ubersetzung mitunter das Kunstwort Bestheit“ verwenden, vgl. dazu Schadewaldt ” (1978, S. 75f.). Ein Vorzug von Bestheit“ oder Tauglichkeit“ gegen¨ uber Tugend“ als ” ” ” ¨ besteht darin, dass wir von der Bestheit“ oder TauglichUbersetzung von ” ” keit“ auch im Falle von Gegenst¨ anden sprechen k¨ onnen, z. B. von der Bestheit oder ” Tauglichkeit eines Messers“, nicht aber von der Tugend eines Messers“. Andererseits ” hat Tauglichkeit“ den Nachteil, zu eng an eine bestimmte Verrichtung gebunden zu ” sein, sie ist Tauglichkeit zu etwas. Um der sprachlichen Nat¨ urlichkeit willen werde ich das Kunstwort aber nur dann verwenden, wenn die Deutlichkeit des Gedankens es erfordert.
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werkstelligen l¨ asst (352e2f.). Im Falle der Augen ist es das Sehen, im Falle der Ohren das H¨ oren, denn Sehen k¨ onnen wir mit den Augen, nicht aber mit irgendeinem anderen Organ. Wenn eine Sache zu dem ihr spezifischen Werk besonders gut geeignet ist, dann kommt ihr die ihr eigent¨ umliche ¨ Tauglichkeit zu. Uber eine Tauglichkeit in diesem Sinne verf¨ ugt alles, was irgendein Werk verrichtet. Sie kann deshalb nicht nur Menschen, sondern auch anderen Lebewesen (z. B. einem Pferd 352d10), einzelnen Organen von Lebewesen (z. B. Augen und Ohren 352e5-7, 353b6, vgl. Laches 190af.) oder Artfakten (353a4, 601d8-10, Gorgias 503ef., Kratylos 389a68) zukommen. Um die Tauglichkeit einer Sache zu ermitteln, muss man also zun¨ achst ihr spezifisches Werk kennen. Bei Artefakten oder Organen von Lebewesen mag das spezifische Werk offenkundig sein. Der Handwerker hat bei der Herstellung von Artefakten deren spezifisches Werk bereits im Blick; derjenige, der im Gebrauch des Artefakts kundig ist, kann den Handwerker darin beraten, wie das Artefakt beschaffen sein muss, damit es zur Verrichtung des Werks besonders gut geeignet ist und ihm seine spezifische Tauglichkeit inh¨ ariert (Politeia 601de). Bei der Herstellung von Artefakten ist das spezifische Werk im Voraus bekannt. Das Werk der Organe richtet sich nach ihrem Beitrag zum Funktionieren des Organismus (vgl. Timaios 72d-86a). Wenn Platon u ¨ber die menschliche Tugend spricht, dann geht es dabei allerdings nur beil¨ aufig um Physiologie (beachte aber Timaios 87d1-3). Das dem Menschen spezifische Werk liegt offenbar nicht prim¨ ar in der physiologischen Funktionalit¨ at des Organismus. Die Schwierigkeit, im Falle des Menschen ein einzelnes spezifisches Werk anzugeben, liegt darin, dass Menschen viele verschiedene Werke vollbringen: Der Organismus insgesamt bildet ein Lebewesen, das sich bewegt, ern¨ ahrt, w¨ achst, fortpflanzt, der Mensch nimmt wahr, meint und weiß, er begehrt, ereifert sich und denkt, bet¨ atigt sich politisch oder k¨ unstlerisch, treibt Handwerk oder Wissenschaft (vgl. 353d). Einige dieser T¨ atigkeiten teilt der Mensch mit anderen Lebewesen, andere vollbringt er allein oder unter allen Lebewesen am besten. Das Verm¨ ogen, durch das er sich von anderen Lebewesen auf spezifische Weise unterscheidet, sei es, dass es allein dem Menschen zukommt, sei es, dass er es besonders weit entwickelt hat, ist das Denkverm¨ ogen. Das Denkverm¨ ogen ist Grundlage aller Bet¨ atigungen, durch die sich der Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet. Dennoch w¨ are es – nach Platons Tugendkonzeption – zu kurz gegriffen, das Denken zum spezifischen Werk des Menschen zu erkl¨ aren und denjenigen Menschen f¨ ur tugendhaft zu halten, der es im Denken am weitesten bringt. In der Politeia geht es nicht um die menschliche Tugend insgesamt, sondern um die Bestimmung der Gerechtigkeit. Im Kontext der oben be-
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sprochenen Textstelle geht es darum, dass die Gerechten nicht nur weiser und besser sind als die Ungerechten, sondern dass sie vor allem auch ver” m¨ ogender sind zu handeln“ ( 352b8). Um was f¨ ur eine Handlung es dabei auch immer gehen mag, den Gerechten kommt das Verm¨ ogen, diese Handlung auszuf¨ uhren und das Werk gelingen zu lassen, eher zu als den Ungerechten. Sokrates begr¨ undet das damit, dass die Ungerechten, wenn ihnen gemeinschaftlich miteinander ein Werk gelingt, nicht vollkommen ungerecht sein k¨ onnten, sondern etwas Gerechtigkeit in ihnen sein m¨ usse, n¨ amlich im Verh¨ altnis zueinander (352c). Wenn Athen Melos unterwirft, dann m¨ ogen die Athener ungerecht den Meliern gegen¨ uber handeln, im Verh¨ altnis untereinander m¨ ussen sie Gerechtigkeit walten lassen, weil sie andernfalls gemeinschaftlich miteinander gar nichts vollbringen k¨ onnten und B¨ urgerkrieg die Stadt l¨ ahmen w¨ urde. Die Ungerechten, die gemeinschaftlich miteinander ein Werk vollenden, k¨ onnen in diesem Sinne nur halbschlechte“ Leute ( 352c7) sein. Wenn ” die Athener vollkommen ungerecht w¨ aren, dann w¨ urde sie das nicht nur speziell daran hindern, die Melier zu unterwerfen, sondern sie w¨ aren auch nicht in der Lage irgendein Werk miteinander zu vollbringen. Nach die¨ ser Uberlegung ist die menschliche Tugend nicht als Tauglichkeit zu einer spezifischen Handlungsweise auf ein besonderes Werk festzulegen, sondern zun¨ achst als dasjenige zu verstehen, was den Menschen u ¨berhaupt dazu bef¨ ahigt, ein Werk zu vollbringen. Sokrates’ Methode zur Bestimmung der menschlichen Gerechtigkeit besteht darin, die Gerechtigkeit zun¨ achst an einem Gr¨ oßeren, der Stadt, zu betrachten, wo man sie deutlicher sehen k¨ onne, und erst danach an dem Kleineren zu pr¨ ufen, ob die Gerechtigkeit dort dasselbe ist (368de). Von der – in Gedanken – gegr¨ undeten Stadt stellt Sokrates fest, dass sie vollkommen gut“ ( 427e7) sei, d. h. ihr eignet die einer ” Stadt spezifische Tugend. Wenn der Stadt die Tugend zukommt, dann ist sie weise ( ), tapfer ( ), besonnen ( ) und gerecht ( 427e9f.); Sokrates entfaltet die Tugend insgesamt in die vier so genannten Kardinaltugenden. Die Gerechtigkeit soll nun dadurch zu finden sein, dass sie nach der Bestimmung der drei u ¨brigen Einzeltugenden als vierte u ¨brig bleibt (428a5-7). Weisheit 428b5) Weisheit kommt der Stadt zu, weil sie wohlberaten“ ( ” ist. Protagoras behauptet in Platons gleichnamigem Dialog (318e6), dass die Wohlberatenheit dasjenige Lehrst¨ uck ist, um das es im sophistischen Unterricht eigentlich geht. Die Wohlberatenheit bef¨ ahige, die eigenen An, Protagoras 318e6) gelegenheiten und die des Staates am besten“ ( ” zu verwalten, so dass der Sch¨ uler des Sophisten hinsichtlich der Staatsan-
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gelegenheiten der F¨ ahigste sein d¨ urfte zu handeln und dar¨ uber zu reden“ ” ( 319a2). Die Wohlberatenheit w¨ urde danach also zu etwas bef¨ ahigen: Sie ginge mit einem Verm¨ ogen einher, n¨ amlich dem Verm¨ ogen sowohl in privaten als auch in ¨ offentlichen Angelegenheiten das jeweils Beste in einer Rede darzulegen und zu tun. Sokrates identifiziert diese Wohlberatenheit sogleich als Staatskunst“ ( ” 319a4). Das im Protagoras dann folgende Gespr¨ ach dreht sich um die Frage, ob die Staatskunst lehrbar sei; die Antwort h¨ angt wesentlich damit zusammen, ob es sich bei der Staatskunst um ein Wissen handelt (361af.). Bejaht wird dies in der Politeia. Hier erkl¨ art Sokrates ohne Umschweife, dass die Wohlberatenheit ein bestimmtes Wissen“ ( , Po” liteia 428b7f.) sein m¨ usse, und begr¨ undet diese Behauptung damit, dass man doch wohl nicht durch Unwissenheit wohlberaten sei, sondern durch Wissen ( 428b8). Zwischen Behauptung und Begr¨ undung besteht indes ein wichtiger Unterschied: Sokrates behauptet, dass Wohlberatenheit in einem bestimmten Wissen bestehe; wer u ¨ber das fragliche Wissen verf¨ uge, der sei auch wohlberaten. Die Begr¨ undung hingegen macht das Wissen zu einem Mittel, durch das man Wohlberatenheit erlangt. Dieser Unterschied ist deshalb nicht zu vernachl¨ assigen, weil es bei der Wohlberatenheit um private oder ¨ offentliche Angelegenheiten, also um konkrete Handlungssituationen geht; wenn der Handelnde wohlberaten ist, dann trifft er in einem Einzelfall das Richtige. Gegenstand des Wissens sind aber – im Vorgriff auf Politeia V-VII – die Ideen. Die Behauptung, Wohlberatenheit sei ein bestimmtes Wissen, ist vor diesem Hintergrund also falsch; richtig ist aber, dass ein Handelnder durch sein Wissen, z. B. durch das Wissen davon, was Gerechtigkeit f¨ ur sich selbst ist, in einer Handlungssituation das Richtige treffen und gerecht handeln kann. In der konkreten Handlungssituation muss er das Einzelne unter die allgemeine Bestimmtheit subsumieren; systematisch gesehen ist Wohlberatenheit also ein Fall von Meinung ( ). In Politeia IV sind wir freilich noch nicht so weit, das fragliche Wissen genauer bestimmt zu haben. Darauf weist Sokrates auch sogleich durch eine Frage hin, wie sie f¨ ur Platons elenktische Dialoge typisch 30 ist: Ist die Stadt durch das Wissen der Baumeister oder anderer Techniten weise und wohlberaten? Der Technit ist im Zusammenhang mit der Tugend deshalb interessant, weil auch der Technit ein Werk hervorbringt. Er bringt aber nicht nur ein Werk hervor, sondern er verf¨ ugt auf seinem Fachgebiet auch u at dieses Werkes ¨ber ein Wissen, das ihm die Beurteilung der Qualit¨ 30
Sokrates vergleicht die Tugend mit der zum Beispiel Politeia 332d-333d, 341c342e, Apologie 22d, Charmides 165c, 170b-171c, 174c-e, Laches 195b-d, 198c-199a, Protagoras 319b-d, Gorgias 490b-491b, 503d-505b.
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erlaubt. Aufgrund seines technischen Wissens verf¨ ugt er u ¨ber einen allgemeinen Maßstab daf¨ ur, ob das Werk gut ist oder nicht. 31 Das Wissen der Weisheit besteht jedoch nicht darin zu wissen, was ein gut gebautes Haus ist oder wie man einen Acker richtig bestellt, um gute Fr¨ uchte daraus zu erzielen. Dieses Wissen bew¨ ahrt sich nicht dann, wenn die Stadt u ¨ber Haus- oder Ackerbau ber¨ at, sondern wenn sie u ¨ber sich selbst als ganze ber¨ at, auf welche Weise sie selbst sowohl mit sich selbst als auch mit den ” anderen St¨ adten umgehen soll“ ( 428d2-4). Eine Stadt ist wohlberaten und wahrhaft weise, wenn die Herrschenden u ugen. ¨ber dieses Wissen verf¨ Wie das technische Wissen, so ist auch das Tugendwissen ein Wissen davon, auf welche Weise etwas Bestimmtes m¨ oglichst gut ist. Das Tugendwissen richtet sich aber nicht auf einen technisch herzustellenden Gegenstand, sondern auf den Umgang der Stadt einerseits mit sich selbst ), andererseits mit anderen St¨ adten ( ). Sokrates ( f¨ uhrt diese Bestimmung nicht n¨ aher aus, doch ein Wissen von dem, was f¨ ur einen selbst gut ist, beruht auf einem Wissen davon, was es mit diesem Selbst auf sich hat. Das Wissen vom eigenen Wesen betrifft zun¨ achst, was eine Stadt u artigen Zustand, ¨berhaupt ist, dann betrifft es ihren gegenw¨ schließlich aber auch die ihr m¨ ogliche Vollkommenheit. Die von Sokrates entworfene Stadt zeichnet sich durch die Unterscheidung von Herrschern, Kriegern und B¨ urgern aus; zur Weisheit geh¨ ort das Wissen, was sowohl f¨ ur die Einheit aus allen dreien als auch f¨ ur jede einzelne dieser Gruppen am besten ist (vgl. 442c6-8). Die eine Seite der Bestimmung des Tugendwissens zielt also auf Selbsterkenntnis, wobei als Subjekt dieses Wissens nicht die Stadt“, sondern die herrschende Gruppe anzunehmen ist. Die ” andere Seite des Tugendwissens betrifft dasjenige, was gut ist im Verh¨ altnis zu anderen St¨ adten. Im ersten Buch der Politeia erw¨ agen Sokrates und Polemarchos, die Gerechtigkeit in der Gemeinschaft, d. h. in dem Verh¨ altnis der Individuen zueinander zu verorten (333a-d); im Gorgias stellt Sokrates fest, dass gerecht handeln d¨ urfte, wer das den Menschen ” Geb¨ uhrende tut“ ( , Gorgias 507a10f.). Diese Textstellen legen es nahe, in dem Wissen davon, was das Beste im Umgang mit den anderen St¨ adten ist, das zur Gerechtigkeit geh¨ orende Wissen zu erkennen. 31
Die Art dieses Wissens wird in den Dialogen – zumindest gemessen am verwendeten Vokabular – nicht ganz einheitlich beurteilt: Im Theaitetos (146d) u. ¨ o. wird dieses bezeichnet, im zehnten Buch der Politeia wird es dagegen zur Wissen als (601e7) bzw. zur (602a5) herabgestuft und die allein von f¨ ur den Gebrauchenden reserviert. Im Gorgias (465a, 500e6-501a3) wird die dadurch abgegrenzt, dass sie die ihres Gegenstandes betrachtet und der mit der F¨ ahigkeit verbunden ist, von dem Grund dessen, was sie tut, Rechenschaft abzulegen.
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So wie die Weisheit der Stadt dadurch zukommt, dass ein kleiner Teil von ihr, n¨ amlich die herrschende Gruppe, u ¨ber ein bestimmtes Wissen verf¨ ugt, so kommt die Weisheit auch dem einzelnen Menschen zu durch das Wissen eines kleinen Teiles, n¨ amlich seines denkenden Seelenverm¨ ogens (428e, 442c5). Weise ist der Mensch durch das Wissen davon, was sowohl dem einzelnen Seelenverm¨ ogen als auch der ganzen Seele zutr¨ ag” lich“ ( ) ist (442c6-8). Was aber ist dem begehrenden, eifrigen und denkenden Seelenverm¨ ogen zutr¨ aglich? Zun¨ achst ist es einem Verm¨ ogen zutr¨ aglich, wenn es als Verm¨ ogen entwickelt und nicht etwa krank oder verst¨ ummelt ist. Von daher k¨ onnte es so scheinen, als sei es einem Seelenverm¨ ogen zutr¨ aglich, besonders stark entwickelt zu sein, z. B. w¨ are das begehrende Seelenverm¨ ogen besonders stark entwickelt, wenn es m¨ oglichst viele und heftige Begierden hervorbr¨ achte. Das ist offenbar nicht, was Sokrates unter dem Zutr¨ aglichen versteht. Zutr¨ aglich ist dem begehrenden Seelenverm¨ ogen vielmehr, wenn es jeweils dasjenige begehrt, was begehrenswert ist, und wenn es dieses in der angemessenen Weise begehrt. Entsprechend ist auch dem eifrigen Seelenverm¨ ogen nicht der heftige Affekt zutr¨ aglich, sondern der dem Anlass ad¨ aquate. Das Wissen besteht also darin, die eigenen Seelenverm¨ ogen und das von ihnen jeweils Erstrebte richtig beurteilen zu k¨ onnen: Es geht um ein Wissen davon, was sinnlich begehrenswert ist, wor¨ uber es sich zu ereifern lohnt und in welche Richtung das Erkenntnisstreben gehen soll. Das f¨ ur jedes einzelne Seelenverm¨ ogen jeweils angemessene Streben vertr¨ agt sich auch mit den anderen Seelenverm¨ ogen. Nur durch harmonisches Zusammenspiel k¨ onnen die verschiedenen seelischen Kr¨ afte ein Ganzes bilden. Bei dem Wissen der menschlichen Weisheit handelt es sich also zun¨ achst um Selbsterkenntnis, hiervon ausgehend aber um das Wissen davon, was f¨ ur den Menschen gut oder schlecht ist (vgl. Laches 199c7). Weiteren Aufschluss u ¨ber das Tugendwissen erhalten wir im Phaidon. 32 , Dort grenzt Sokrates wahre Tugend gegen ein Scheinbild“ ( ” Phaidon 69b6f.) von Tugend ab. Um ein Scheinbild von Tugend handelt es sich, wenn jemand aus Furcht tapfer oder aus Z¨ ugellosigkeit besonnen ist. Scheinbare Tapferkeit liegt vor, wenn jemand etwas Furchtbares aus Angst ¨ vor einem noch gr¨ oßeren Ubel erduldet; scheinbar besonnen ist jemand, der um einer gr¨ oßeren Lust willen auf eine kleinere Lust verzichtet. 33 Im Sinne dieses Kalk¨ uls w¨ are Tapferkeit die Kunst, das scheinbar gerings¨ te Ubel herauszufinden und sich diesem zu stellen: Tapferkeit w¨ are eine Art geschickter Feigheit. Besonnenheit w¨ are entsprechend die Kunst der 32 33
W¨ ortlich handelt es sich um ein Schattenbild“. Bei dieser Art der Malerei werden ” Licht und Schatten so eingesetzt, dass der Schein von Dreidimensionalit¨ at entsteht. Ausf¨ uhrlich wird diese Form von abw¨ agendem Hedonismus Protagoras 351b-360e entfaltet.
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Lustmaximierung oder eine Art geschickter Z¨ ugellosigkeit – wird doch der in diesem Sinne Besonnene ganz und gar von seiner Begierde nach Lust beherrscht. Weil aber dieses Kalk¨ ul zur Maximierung von Lust und zur Minimierung von Furcht f¨ uhrt, scheint es eine gewisse Form menschlicher Bestheit zu bef¨ ordern, n¨ amlich diejenige, die Bestheit als ein Leben mit ¨ maximaler Lust und minimalen Ubeln versteht. In diesem Zusammenhang verwendet Sokrates eine Metapher (69a5c2): Er parallelisiert den Tausch von Lust gegen Lust, Schmerz gegen Schmerz, Furcht gegen Furcht mit dem von M¨ unzen (69a6-8). Nach der Auffassung unphilosophischer Menschen erh¨ alt man Tugend durch vorteilhaften Tausch der gr¨ oßeren Lust gegen die kleinere, wie eine gr¨ oßere M¨ unze gegen eine kleinere. Nach einer Vielzahl g¨ unstiger Tauschgesch¨ afte wird Tugend angeh¨ auft wie der Reichtum der Kaufleute. In der Metapher wird die gr¨ oßere Lust mit der kleineren bezahlt und die Vermeidung des ¨ schlimmeren Ubels mit dem Ertragen des kleineren erkauft. Diese Art von Tauschgesch¨ aft verurteilt Sokrates: Aber jenes ist die allein rechte M¨ unze ( 69a8), gegen die man alles dieses ( 69a9) vertauschen muss, die Einsicht ( 69a9); und wenn man alles ( 69b1) f¨ ur diese und mit dieser kauft und verkauft, ist es in Wahrheit Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, und insgesamt ist wahre Tugend mit Einsicht, mag nun Lust und Furcht und alles andere von dem so-beschaffenen dabei sein oder nicht; werden diese ohne Einsicht gegeneinander ( 69b6) getauscht, dann ist die so-beschaffene Tugend ein gewisses Scheinbild [. . . ]. (Phaidon 69a8-b7)
F¨ ur die Interpretation der Rolle des Tugendwissens ist diese Textstelle zweifellos wichtig, aber ihre Deutung bereitet den Kommentatoren erhebliche Schwierigkeiten: Erstens ist der grammatische Bezug von (69a9), (69b1) und (69b6) umstritten 34 , zweitens schwanken die Kommentatoren in der Bestimmung dessen, was Inhalt der
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M¨ oglich sind die Beziehung auf Lust, Schmerz und Furcht einerseits oder auf die Tugend (69a6) bzw. die aufgez¨ ahlten Einzeltugenden (69b2f.) andererseits. F¨ ur verschiedene Kombinationsm¨ oglichkeiten siehe Dorter (1982, S. 29) und Weiss (1987, S. 58-60).
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ist 35 , drittens ist unklar, wie die zur wahren Tugend geh¨ orenden Tausch-, Kauf- und Verkaufsgesch¨ afte zu verstehen sind. 36 Scheintugend besteht darin, Lust gegen Lust, Schmerz gegen Schmerz und Furcht gegen Furcht vermeintlich vorteilhaft zu tauschen. 37 Scheinbar tapfer bzw. besonnen lebt jemand nach diesem Kalk¨ ul, weil er etwas Furchtbares erduldet oder einer Begierde standh¨ alt; scheinbar tapfer bzw. besonnen ist er, weil er in beiden F¨ allen nicht aus besserer Einsicht ( ) heraus handelt. Aus Einsicht tapfer ist, wer erkennt, dass jenes Furchteinfl¨ oßende in Wahrheit nicht furchtbar ist, aufgrund dieser Einsicht das Gef¨ urchtete nicht l¨ anger f¨ urchtet und ihm standh¨ alt. 38 Aus Einsicht besonnen ist, wer erkennt, dass seine Begierde einer Sache gilt, die in Wahrheit nicht begehrenswert ist, und wegen dieser Einsicht seiner Begierde nicht nachgeht und die Sache vielleicht auch nicht l¨ anger begehrt. Wenn das richtig ist, dann vertauscht zwar auch der in Wahrheit Tugendhafte den Genuss einer Lust mit dem Verzicht darauf, aber er verzichtet auf diese Lust nicht deshalb, weil er eine andere Lust genießen m¨ ochte, sondern weil er das Begehrte als nicht wirklich begehrenswert erkennt. Der Tugendhafte tauscht auch das Ertragen eines Schmerzes mit dem eines anderen, aber er tut das nicht um der Vermeidung des anderen Schmerzes willen, sondern weil das Ertragen des ersten Schmerzes mit der als richtig erkannten Handlungsweise verbunden ist. Bei zwei gef¨ urchte¨ ¨ ten Ubeln stellt sich der Tugendhafte dem einen Ubel, aber er tut das nicht, weil bei dem anderen der Affekt der Furcht noch st¨ arker ist, son¨ dern weil er es als das wahrhaft geringere Ubel erkannt hat. In diesem 35
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F¨ ur unseren Gedankengang ist das die entscheidende Frage. Nach Bossi (2001, S. 203) braucht man die Einsicht, um entscheiden zu k¨ onnen, welche Einzeltugend in einer Handlungssituation zum Einsatz kommen m¨ usse. In der Interpretation von Weiss keine erkennbare Rolle; danach tauschen wir (1987, S. 59) spielt der Inhalt der Affekte gegeneinander, damit sie unseren Wissenserwerb nicht behindern; die Einsicht sei unser Ziel, und indem wir die Einsicht als Ziel betrachten, seien wir tugendhaft, vgl. Weiss (1987, S. 62). Nach Frede (1999, S. 29) handelt es sich um die Einsicht in die Nichtigkeit der gew¨ ohnlichen Welt. Ebert (2004, S. 149) bemerkt dazu lediglich, 69c1) sei. dass die Einsicht ein Reinigungsritus ( Was dabei erworben und womit bezahlt wird, h¨ angt von der Interpretation der Pronomina ab. Werden Affekte gegeneinander getauscht oder Affekte gegen Einsicht oder Einsicht gegen Tugend? Unklar ist dar¨ uber hinaus auch, wie die Einsicht Tauschoder Zahlungsmittel sein kann. Kann man die Einsicht, die unabh¨ angig von der Interpretation der Pronomina als rechte M¨ unze“ bezeichnet wird, in einem Tausch oder ” Kauf/Verkauf erwerben, so dass man nach der Transaktion u ugt, ¨ber mehr Einsicht verf¨ oder kann man sie weggeben, so das man hinterher weniger einsichtig ist? Offenbar ist das nicht der Fall. Zur Literatur vergleiche Dorter (1982, S. 28-31). (69b6) nicht auf die Tugenden, sondern auf Damit scheint klar zu sein, dass die Affekte zu beziehen ist. Vgl. Protagoras 360d4f., wo Sokrates die Tapferkeit als Weisheit bestimmt in dem, was furchtbar ist und was nicht, und Laches 194e11f., wo Nikias sie als Wissen bestimmt von dem, was furchtbar und was zu wagen ist im Krieg und in allem anderen.
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Sinne tauscht also auch der Tugendhafte Lust gegen Lust, Schmerz gegen Schmerz, Furcht gegen Furcht, aber nicht um der gr¨ oßeren Lust, des geringeren Schmerzes oder der kleineren Furcht willen, sondern aus Einsicht. 39 Der Tugendhafte handelt aus Vernunft, die ihm mit der Ideenerkenntnis ein Maß zur Beurteilung gibt. Der Lustmaximierer“ hingegen hat kein ” festes Maß, er tauscht gr¨ oßer gegen kleiner und mehr gegen weniger. 40 Vor diesem Hintergrund erhellt sich auch die Rede Kauf bzw. Verkauf (69a9-b5): Die Einsicht entscheidet, welche Lust, welchen Schmerz und welche Furcht man kauft“, d. h. welche Lust man begehrt, welche ” ¨ Unlust man ertr¨ agt und welches Ubel man f¨ urchtet; und sie entscheidet, welchen Affekt man verkauft“, d. h. welche Lust man nicht genießt, wel” ¨ chen Schmerz man vermeidet und welches Ubel man nicht l¨ anger f¨ urch41 tet. Wenn jemand dies aus Einsicht in dasjenige tut, was begehrenswert, schmerzhaft und furchtbar ist, dann handelt es sich bei seiner Haltung auch in Wahrheit um Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Bei dem Tausch“, Kauf“ oder Verkauf“ obiger Affekte findet weder ein ” ” ” Zugewinn noch ein Verlust von Einsicht statt; es geht bei den Transaktionen jeweils um den Tausch, das Haben und das Nicht-Haben von Affekten. Weil man f¨ ur diese Transaktionen aber u ugen ¨ber Einsicht verf¨ muss wie ein H¨ andler u ¨ber Geld, deshalb kann Sokrates metaphorisch sagen, die Einsicht sei die M¨ unze, mit der dabei jeweils zu bezahlen ist. Wenn Tapferkeit und Besonnenheit darin bestehen zu f¨ urchten, was wirklich zu f¨ urchten ist, und nur zu begehren, was wirklich begehrenswert ist, beides aber von der Einsicht in dasjenige abh¨ angt, was gut und begehrenswert bzw. schlecht und zu f¨ urchten ist, dann kann man metaphorisch sagen, Einsicht sei die M¨ unze, mit der man Tugend kauft“. 42 Beide Be” deutungsebenen der M¨ unz-Metapher schließen einander nicht aus: Wer Affekte mit Einsicht tauscht, kauft und verkauft, der kauft“ zugleich auch ” die Tugend. Dabei mag schließlich Lust und Furcht und alles andere von dem so-beschaffenen dabei sein oder nicht (69b4f.), gehandelt wird jeweils aus Einsicht, nicht um der Lust oder Furcht willen. Tugend bzw. Einsicht sind Reinigungen ( 69b9 bzw. 69c1) von den Affekten nicht deshalb, weil sie von jeglichen Affekten befreien, sondern weil sie zu gereinigten oder besser: kultivierten Affekten f¨ uhren. Das Tugendwissen hat sich bisher erwiesen als ein Wissen davon, was f¨ ur den Menschen hinsichtlich seiner einzelnen Verm¨ ogen und f¨ ur das Gan39 40
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Damit d¨ urfte (69a9) auf die Affekte zu beziehen sein. Den Mangel eines festen Maßes teilt der Lustmaximierer“ mit der Sophistik; in bei” den F¨ allen f¨ uhrt das dazu, dass sie nach dem vermeintlich Besseren“ (Komparativ) ” streben, nicht aber nach dem Guten“, vgl. dazu Protagoras 318a6-d5. ” (69b1) auf die Affekte. Also bezieht sich auch Diese zweite Bedeutungsebene der M¨ unz-Metapher f¨ uhrt Dorter (1982, S. 29) dazu, (69b1) auf die Tugenden zu beziehen.
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ze dieser Verm¨ ogen jeweils zutr¨ aglich ist. Das f¨ ur die einzelnen Seelenverm¨ ogen Zutr¨ agliche hat sich genauer gezeigt als ein Wissen davon, was in Wahrheit begehrenswert ist, wor¨ uber man sich ereifern soll, was zu f¨ urchten ist und was es zu erkennen gilt. Das f¨ ur den ganzen Menschen Zutr¨ agliche ist nicht ein davon verschiedenes Gut, das mit dem f¨ ur die einzelnen Seelenverm¨ ogen Zutr¨ aglichen in Konkurrenz stehen w¨ urde. Hier ist kein Interessenkonflikt angelegt. Was dem kultivierten Seelenverm¨ ogen dienlich ist, ist auch dem Menschen insgesamt zutr¨ aglich. Auf diesem Stand der Er¨ orterung sind zwei Fragen noch unbeantwortet: 1. Warum handelt es sich bei dem Tugendwissen um ein Wissen? Wenn ich mich frage, ob eine bestimmte Sache begehrenswert ist oder nicht, dann geht es dabei um die Subsumtion von etwas Einzelnem unter den Allgemeinbegriff dessen, was f¨ ur mich begehrenswert ist. Wenn mir die Subsumtion gelingt, dann bin ich in meiner Handlung wohlberaten. Im terminologischen Sinne handelt es sich dabei nicht um Wissen, sondern um Meinung. Ist damit richtige Meinung f¨ ur die tugendhafte Lebensf¨ uhrung nicht v¨ ollig hinreichend? Es ist also zu u ¨berlegen, warum Platon dennoch darauf beharrt, dass der Tugend nicht bloß richtige Meinung, sondern Wissen zugrunde liegt. 43 2. Was ist das dem Menschen Zutr¨ agliche? Platons Antwort auf diese Frage werden wir im Folgenden n¨ aher kommen. 44 Tapferkeit Durch eine bestimmte Gruppe, n¨ amlich die Herrscher, ist die Stadt insgesamt weise zu nennen. Ebenso ist die Stadt auch als ganze tapfer durch eine besondere Gruppe, n¨ amlich die der Krieger (429b8-c3): 43
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Man k¨ onnte einwenden, dass der Unterschied zwischen Meinung und Wissen in der Politeia erst im f¨ unften Buch entwickelt wird und daher in der Tugenddiskussion des vierten Buches nicht vorausgesetzt werden darf. Dieser Einwand ist aus zwei Gr¨ unden nicht stichhaltig: Erstens handelt die Politeia von der Bestimmung der Gerechtigkeit, um der Gerechtigkeit willen werden im vierten Buch auch die u ¨brigen Tugenden bestimmt. Die Exposition der Ideenlehre in den B¨ uchern V-VII dient der Explikation des besonderen Wissens, u onige verf¨ ugen m¨ ussen; innerhalb ¨ber das die Philosophenk¨ der Tugend der Philosophenk¨ onige ist dieses Wissen bei der Weisheit zu verorten. F¨ ur die Tugenddiskussion lernen wir aus den B¨ uchern V-VII, dass die Weisheit ein Ideenwissen ist. Zweitens ist Sokrates in der betreffenden Passage terminologisch exakt. In der Diskussion der Weisheit (428b-429a, vgl. 442c5-8) spricht er durchg¨ angig , w¨ ahrend er in der anschließenden Bestimmung der Tapferkeit (429avon (429c1, 429c7, 430b3) spricht. Dieser Befund macht es 430c) durchg¨ angig von und bei der zweiten Lekt¨ ure unwahrscheinlich, dass die Differenz von der Politeia an dieser Stelle nicht zu bedenken ist. Die umfassende Behandlung dieser Frage w¨ urde den Horizont der vorliegenden Arbeit ¨ sprengen und m¨ usste insbesondere Platons Uberlegungen im Philebos ber¨ ucksichtigen.
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Auch tapfer folglich ist die Stadt aufgrund eines Teiles ihrer selbst, weil sie in jenem [Teil] ein so-beschaffenes Verm¨ ogen ( ) hat, welches die Meinung u urchtende ( ) durch alles hin¨ber das zu F¨ durch ( ) rettet ( ), dass es [das zu F¨ urchtende] dieses ist und so-beschaffenes, was und wie-beschaffenes der Gesetzgeber in der Erziehung verk¨ undet hat.
In unserem eingangs 45 erarbeiteten Vorverst¨ andnis erwies sich die Tugend insgesamt als ein Verm¨ ogen, bestimmte Taten zu vollbringen. Jetzt zeigt sich speziell die Tapferkeit als ein Verm¨ ogen; ist hier nicht im Sinne einer bloßen M¨ oglichkeit, sondern als entwickeltes Verm¨ ogen zu verstehen, das denjenigen, der dar¨ uber verf¨ ugt, zu etwas bef¨ ahigt und ihm eine bestimmte Kraft gibt. Es handelt sich um das Verm¨ ogen, etwas zu retten oder zu bewahren. 46 Die Sache, die durch dieses Verm¨ ogen gerettet oder bewahrt werden soll, ist eine Meinung. Gegenstand dieser Meinung ist dasjenige, was zu f¨ urchten ist. Bei den Anfechtungen, angesichts derer diese Meinung aufrechterhalten werden muss, handelt es sich um Schmerzen, L¨ uste, Begierden und Furcht (429c9f.). Wenn Sokrates die Tapferkeit in der Diskussion der Tugend beim einzelnen Menschen wieder aufgreift (442b10-c3), dann u ¨bernimmt er die Bestimmung der Tapferkeit im Staate weitgehend. Die Modifikation zwischen der Tapferkeit des Staates und der des einzelnen Menschen besteht darin, dass die Tapferkeit zwar beiden aufgrund eines Teiles zukommt, aber im Staat handelt es sich dabei um die Klasse der Krieger, w¨ ahrend es im Falle des einzelnen Menschen das eifrige Seelenverm¨ ogen ( 442c1) ist. Der Eifer erregt sich vor allem dann, wenn ein Verstoß gegen dasjenige vorliegt, was seiner Meinung nach gerecht w¨ are. Weil der Eifer auf Meinungen beruht, ist es so wichtig, dass er die Kraft hat, an den jeweils richtigen Meinungen festzuhalten. Zwei Aspekte d¨ urfen dabei nicht u ¨bersehen werden: 1. Wenn der Eifer an seinen richtigen Meinungen festhalten k¨ onnen soll, dann muss er a fortiori u onnen, ¨berhaupt Meinungen haben k¨ d. h. der Eifer muss u ogen verf¨ u¨ber ein entsprechendes Erkenntnisverm¨ gen. 2. Wie ist es zu verstehen, dass die Begierden die richtigen Meinungen des Eifers anfechten? Die Begierden richten sich auf Wahrnehmbares. Das Begehren einer Sache ist aber mit der Meinung verbunden, dass die begehrte Sache auch begehrenswert ist. Begehrendes und eifriges Seelenverm¨ ogen haben ihr jeweils eigenes Streben und sind mit eigenen Meinungen verbunden. Im Falle eines Konfliktes zwischen beiden Seelenverm¨ ogen 45 46
Vgl. dazu S. 203. Vgl. Laches 192d11, wo die Tapferkeit als verst¨ andige Beharrlichkeit“ ( ” ) bestimmt wird, und Gorgias 507b7. In Protagoras 360d4f. bestimmt Sokrates die Tapferkeit anders, n¨ amlich als Weisheit hinsichtlich dessen, was furchtbar ist und was nicht.
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steht das Streben des einen Seelenverm¨ ogens gegen das des anderen, aber es handelt sich nicht um zweierlei Bestrebungen, die g¨ anzlich unabh¨ angig voneinander den Menschen in verschiedene Richtungen ziehen. Im Falle des Konfliktes steht nicht nur Streben gegen Streben, sondern auch Meinung gegen Meinung, aber mit den jeweiligen Meinungen gibt es eine Ebene, auf der beide Seelenverm¨ ogen gewissermaßen zusammenkommen: Der Streit der Meinungen kann nicht nur ausgetragen und entschieden werden, er ist u ¨ber den in einer Meinung investierten Allgemeinbegriff ¨ auch der vern¨ unftigen Uberlegung zug¨ anglich. Als Rettung oder Aufrechterhaltung ist die Tapferkeit eine feste Haltung; diese Haltung ist zwar auf einen Wissensinhalt bezogen, immerhin geht es um die Aufrechterhaltung einer Meinung, ohne aber selbst ein Wissensinhalt zu sein. Die Diskussion der Weisheit hat gezeigt, dass Tugend wesentlich mit Wissen zu tun hat, aber nach der Bestimmung der Tapferkeit kann die Tugend nicht schlechthin identisch sein mit einem Wissen. Wer u ugt, aber angesichts gewisser Affekte ¨ber das Tugendwissen verf¨ nicht die Kraft hat, an seiner richtigen Meinung u urchtende ¨ber das zu F¨ festzuhalten, der kann auch nicht als tugendhaft gelten. Das l¨ asst sich an den Charakteren des Phaidon illustrieren: Sokrates f¨ urchtet den Tod nicht, weil er die Seele f¨ ur unsterblich h¨ alt und der Meinung ist, dass es der Seele nach dem Tod gut ergehen werde, wenn man ein tugendhaftes Leben gelebt hat. 47 Sokrates l¨ asst sich in dieser Meinung weder durch den nahen Tod noch durch die Einw¨ ande von Simmias und Kebes ersch¨ uttern; immer wieder betont Phaidon in seinem Bericht, dass Sokrates gel¨ achelt habe und sich freute (Phaidon 62e7, 84d8, 86d5, 115c4); seinen ganzen Todestag u ¨ber verharrt er in ruhiger Gelassenheit (60a, 63de, 89a, 117bc). Die rationale und emotionale Best¨ andigkeit von Sokrates wird mit dem Schwanken seiner Gespr¨ achspartner und Zuh¨ orer kontrastiert; auf ratio¨ naler Ebene schwanken sie zwischen Uberzeugung und Zweifel (88cf.), emotional schwanken sie entsprechend zwischen Freude und Trauer (59a, 62a8, 64a10f., 117c-e). Sokrates’ L¨ acheln steht das Weinen der u ¨brigen Charaktere gegen¨ uber (59a8, 60a3, 117c6, 117e2). Wenn Sokrates’ Freunde von dessen Argumenten u aren und die Kraft h¨ atten, an ¨berzeugt w¨ ¨ dieser Uberzeugung festzuhalten, dann br¨ auchten sie nicht s¨ amtlich in Tr¨ anen auszubrechen; statt dessen bringt der Affekt der Trauer die im Laufe des Gespr¨ achs gefasste Zuversicht ins Wanken. 48 Die Darstellung 47 48
Dabei handelt es sich nicht um ein sicheres Wissen (61d, 85c3f.), sondern um eine Hoffnung (64a1, 67b, 114c10). Diese Wirkung wiederholt sich nicht nur bei Phaidons pythagoreischem Zuh¨ orer (88cf.), sondern auch beim Leser. Wenn Cicero schildert (De natura deorum III 82), Pontifex Cotta pflege bei der Lekt¨ ure von Sokrates’ Tod zu weinen, dann verh¨ alt sich der skeptische Pontifex auch nicht anders als die bei Sokrates’ Tod anwesenden Freunde. Die Reaktion des Skeptikers ist besonders interessant, weil er nicht nur wie Kebes
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der Dialogfiguren zeigt das Wechselverh¨ altnis, in dem Meinungen und Affekte zueinander stehen. Warum bestimmt Sokrates die Tapferkeit als Aufrechterhaltung einer Meinung? Die Tapferkeit muss sich in konkreten Handlungssituationen bew¨ ahren. In einer solchen Situation m¨ ussen Einzeldinge darauf gepr¨ uft werden, ob sie zu f¨ urchten sind oder nicht. Die entsprechende Beurteilung hat den Status einer Meinung ( , Politeia 429c1, 429c7, 430b3): Es ist die konkrete Bewertung von Einzeldingen, die den Anfechtungen von Schmerz, Lust, Begierde und Furcht unterliegt, nicht so sehr der Wissensinhalt im Sinne des reflektierten Allgemeinbegriffes des Guten oder Schlechten, des zu F¨ urchtenden oder Ungef¨ ahrlichen. Es ist die auf etwas Bestimmtes gerichtete Begierde, die die Meinung, dass jene Sache gar nicht begehrenswert ist, ins Wanken bringt. Umgekehrt ist es Sokrates’ feste Meinung, dadurch nichts zu gewinnen, die ihn in den letzten Minuten seines Lebens nicht noch ein wohlschmeckendes Mahl oder eine sch¨ one Frau begehren l¨ asst (Phaidon 116e). Wenn Sokrates in der Bestimmung der Tapferkeit von Meinung“ spricht, dann ist das also durchaus ” terminologisch zu verstehen. Im Folgenden m¨ ussen wir u ¨berlegen, auf welche Weise die richtigen Meinungen, an denen der Tapfere festh¨ alt, erworben werden. Wir erhalten zun¨ achst eine einfache Antwort auf diese Frage: Was zu f¨ urchten ist, verk¨ undet der Gesetzgeber. Es ist nicht so, dass der Gesetzgeber willk¨ urlich festlegen w¨ urde, was gut oder schlecht, was zu f¨ urchten ist oder nicht, sondern der Gesetzgeber verf¨ ugt u ¨ber entsprechendes Wissen und ist aus diesem Wissen heraus qualifiziert, sich eine Meinung u ¨ber das zu F¨ urchtende zu bilden und diese zu verk¨ unden. Dass die richtige Meinung verk¨ undet wird, reicht aber noch nicht aus, damit sie sich einpr¨ agt und an ihr festgehalten wird. Eingepr¨ agt werden diese Meinungen im Rahmen der Erziehung durch Musik, d. h. alle musischen K¨ unste einschließlich Philosophie (Politeia 411c6), und Gymnastik (430a1). 49 Die Gymnastik dient der Erziehung
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einer der Menschen ist, die am beharrlichsten sind darin, den Reden nicht zu vertrauen (77a8f.), sondern weil sein Misstrauen gegen¨ uber Argumenten philosophisches Programm ist. Von daher betrachtet liegt es nahe, dass der Skeptiker in seinen Meinungen und Affekten schwankt. Andererseits vertraut der Skeptiker Cotta blind auf die Tradition (De natura deorum I 61, III 5), aber auch dieses Vertrauen ist nicht derart, ¨ dass er Sokrates’ Zuversicht teilen k¨ onnte. Offenbar halten auch diese Uberzeugungen des Skeptikers dem Affekt der Trauer nicht stand. In der Skepsis fallen Theorie und Praxis – die Platonisch eine Einheit bilden – auseinander, weil die skeptische Theorie keine Praxis mehr begr¨ unden kann. In diesem Licht sind Sokrates’ Bemerkungen zur Kunst im zweiten und dritten Buch der Politeia zu verstehen. Moderne Leser neigen dazu, in Sokrates’ Empfehlungen vor allem Zensur durch die Staatsmacht zu sehen, beispielhaft daf¨ ur sei auf Popper (1966, S. 53) verwiesen.
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des Leibes, die Musik der der Seele (376e5). Dem liegt kein Substanzen¨ dualismus zugrunde. Die Gymnastik betrifft zwar die Ubung des K¨ orpers, zielt in ihrer erzieherischen Wirkung aber ebenfalls auf die Bildung der Seele (410b10-c6). Die Gymnastik f¨ ordert das eifrige Seelenverm¨ ogen ( 410d7) und macht tapfer, die Musik dagegen f¨ ordert die sch¨ one Ordnung (vgl. 410e3) der Seele. Beide Formen der Erziehung geh¨ oren zusammen, Gymnastik allein formt einen eifrigen Menschen, der aber ein Redefeind (411d8) ist und nicht durch Worte, sondern nur durch Gewalt zu u ¨berzeugen ist (411d9); andererseits macht eine ausschließlich musische Erziehung den Menschen weichlich, d. h. es mangelt ihm an der mit der Tapferkeit verbundenen Kraft zur Beharrlichkeit, wobei diese Beharrlichkeit sich nicht nur im bewaffneten Kampf, sondern auch in anderen Lebensbereichen, z. B. dem philosophischen Gespr¨ ach, bew¨ ahren muss (vgl. Laches 194a1-5). Falsche musische Erziehung f¨ uhrt zu der Bildung von Meinungen, die den w¨ unschenswerten entgegengesetzt sind (377b7f.), weshalb z. B. um der Tapferkeit der Krieger willen der Tod nicht als etwas zu F¨ urchtendes dargestellt werden d¨ urfe (386a6-c2). Der f¨ ur die Erziehung wichtige Aspekt der Kunst besteht darin, dass Platon ihre Hervorbringung und Rezeption insgesamt als Nachahmung versteht. Die Nachahmung macht den Charakter des Nachahmenden dem jeweils Nachgeahmten ¨ ahnlich (vgl. vor allem 395c8f.). Dieser Auffassung liegt die Erfahrung zugrunde, dass k¨ unstlerische Darstellungen die Seele nicht nur irgendwie affizieren, sondern ausdifferenzierte Affekte hervorrufen und dabei Lust- und Unlustgef¨ uhle erzeugen. Diese Wirkung er¨ offnet die M¨ oglichkeit, Affekte und Gef¨ uhle vom fr¨ uhkindlichen Alter an zu erziehen, lange bevor sich deren Vernunft durch argumentierende Rede beeinflussen l¨ asst (vgl. 402a2), und die entsprechenden Affekte durch lange Gew¨ ohnung einzu¨ uben. Das Ziel ist dabei nicht der starke Affekt und das intensive Gef¨ uhl, sondern es geht vielmehr darum, dass der einer Situation jeweils angemessene Affekt erregt wird und insgesamt dasjenige als lustvoll empfunden wird, was f¨ ur den Menschen gut und erstrebenswert ist, w¨ ahrend dessen Gegenteil mit Unlust verbunden ist. Die Erziehung der Lustgef¨ uhle hebt Platon in den Nomoi hervor. In der dortigen Psychologie haben die Menschen zwei einander entgegengesetzte und nicht mit eigener Einsicht ausgestattete Ratgeber, n¨ amlich Lust und Schmerz (Nomoi 644c6). Im Marionettengleichnis (644dff.) sind diese beiden Ratgeber Schn¨ ure, die auf entgegengesetzte Weise an uns ziehen. Lust und Schmerz sind einander in dem Sinne entgegengesetzt, dass die Lust uns anzieht, w¨ ahrend der Schmerz uns abst¨ oßt, d. h. die Lust zieht uns zu demjenigen, was Lust bereitet, der Schmerz l¨ asst uns meiden, was Schmerz bereitet. Dasjenige, wohin beide uns ziehen, ist einem dritten entgegengesetzt, n¨ amlich der Tugend: Das Streben nach Lust
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und die Vermeidung von Schmerz zieht uns zun¨ achst nicht zu derjenigen Haltung, die tugendhaft w¨ are (644e1-4, vgl. 733a9f.). Wer nach einer Maximierung der Lustgef¨ uhle und einer Minimierung der Unlust strebt, der ¨ richtet sich nicht nach dem, was er durch vern¨ unftige Uberlegung als jeweils gute Handlungsweise erkennen w¨ urde. Dem sucht die Erziehung der Lust- und Schmerzgef¨ uhle entgegenzuwirken, sie zielt darauf ab, dass lustwie schmerzvolle Empfindungen mit der Tugend u ¨bereinstimmen. Die musikalische Erziehung macht es sich dabei zunutze, dass die Wahrnehmung von Rhythmen und Harmonien Lust bereitet (654a2f.). Der P¨ adagoge w¨ ahlt Rhythmen und Harmonien aus, die Nachahmungen tugendhafter Charaktere sind (vgl. 655d5-7). So lernt das Kind die tugendhafte Haltung als lustvoll kennen und beginnt, ihr ¨ ahnlich zu werden (vgl. 656b4f., 802c7-d6). Aus Platonischer Sicht musisch erzogen ist also nicht derjenige, der das Sch¨ one in Gesang oder Tanz zwar auszudr¨ ucken vermag, sich ansonsten aber weder u one freut noch das Nicht-Sch¨ one ¨ber das Sch¨ verabscheut, sondern vielmehr derjenige, der sich vielleicht nicht so vollkommen auszudr¨ ucken weiß, daf¨ ur aber an den jeweils richtigen Stellen Lust und Schmerz empfindet (654c7-d2). Sobald die Heranwachsenden ihre Vernunft entwickelt haben und sie der Einsicht in das f¨ ur den Menschen Gute zug¨ anglich sind, steht das erzogene Streben nach Lust- und Schmerzgef¨ uhlen nicht mehr im Gegensatz zu demjenigen, was tugend¨ haft ist, sondern befindet sich mit ihm in Ubereinstimmung ( , 653b6, vgl. 782d-783a und Politeia 402a2-4). Wenn die Tapferkeit als Verm¨ ogen zur Aufrechterhaltung der richtigen Meinung u urchtende mit auf diese Weise erzogenen Gef¨ uhlen ¨ber das zu F¨ einhergeht und das Streben nach Lust und Schmerz den richtigen Meinungen nicht entgegensteht, dann sind – um eine von Sokrates gebrauchte Metapher (429d-430b) aufzugreifen – die Farben der Tugend waschecht. Der Charakter hat nicht nur oberfl¨ achlich eine tugendhafte F¨ arbung, die aber unter dem Einfluss von Affekten und Lustgef¨ uhlen verbleicht und gleichsam ausgewaschen wird. Echt ist die Tugend, die durch Affekte und Gef¨ uhle nicht angefochten wird oder vereinzelten Anfechtung zumindest widersteht. Besonnenheit Sokrates bestimmt die Besonnenheit des Staates als eine sch¨ one Ordnung ( 430e6). Was eine sch¨ one Ordnung ist, erl¨ autert Sokrates im Gorgias (503ef.) am Beispiel der Werke, die die Techniten hervorbringen. Das Werk ist insgesamt wohlgeordnet, wenn jeder Teil von den Arbeitern an der richtigen Stelle angebracht wird. Die einzelnen Teile haben eine jeweils eigene Funktion, aber auch das ganze Artefakt hat sein eigenes Werk. Im Falle des Hauses mag dieses Werk darin bestehen, dass es Menschen einen
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gesch¨ utzten Lebensraum bietet. Das Werk des Ganzen ist aber davon abh¨ angig, dass auch die einzelnen Teile ihre Funktion erf¨ ullen, dass also das Dach einen nach oben hin dichten Abschluss bildet und die Eingangst¨ ur den Zutritt erm¨ oglicht. Beim Artefakt und seinen Teilen unterscheiden wir das Werk des Ganzen und der einzelnen Teile; wenn alle Teile ihrer Funktion gerecht werden, dann liegt eine sch¨ one Ordnung vor und das Artefakt kann das ihm eigene Werk vollbringen. Entsprechend beruht die sch¨ one Ordnung des Staates darauf, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen jeweils ihr Werk vollbringen. Zur Bestimmung der Besonnenheit betrachtet Sokrates das Werk der einzelnen Teile allerdings in einer ganz bestimmten Hinsicht. Er erl¨ autert diese Hinsicht durch eine Sprechweise, dergegen¨ uber er eine gewisse Ablehnung zum Ausdruck bringt: Die Besonnen werden mitunter st¨ arker als ” sie selbst”( 430e7f.) genannt. Das Problem dieser Sprechweise liegt zun¨ achst darin, dass der als er selbst St¨ arkere“ zugleich auch ” schw¨ acher als er selbst sein m¨ usste, schw¨ acher als er selbst“ ist aber ge” rade der Unbesonnene zu nennen. Die Wurzel des Problems liegt offenbar in dem ungekl¨ arten Selbstverh¨ altnis, das in der reflexiven Formulierung zum Ausdruck gebracht wird. Was ist dieses Selbst“, als das der Be” sonnene st¨ arker ist? Wenn der Besonnene und das Selbst“ schlechthin ” identisch sind, dann ist der als er selbst St¨ arkere“ auch schw¨ acher als ” er selbst und umgekehrt; st¨ arker als er selbst“ ist dann kein Kriterium ” mehr, anhand dessen der Besonnene sich vom Unbesonnenen unterscheiden ließe. Wenn der Besonnene nicht dieses Selbst“ ist, wer ist er dann? ” Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Dreiteilung (und der Lehre von den drei Seelenverm¨ ogen) liegt es nahe, das Selbstverh¨ altnis nicht als Relation eines schlechthin Einfachen zu sich selbst zu verstehen, sondern als eine Relation der verschiedenen Teile einer komplexen Einheit zueinander. Diejenigen, die st¨ arker als er selbst“ als Kriterium der Besonnen” heit verstehen, unterscheiden mindestens zweierlei, n¨ amlich eines, dem es zukommt, st¨ arker zu sein, und ein anderes, dem das Schw¨ acher-Sein zukommt. Sokrates nennt ersteres das Bessere“, letzteres das Schlechtere“ ” ” (431a6). Die Besseren im Staat sind die von Vernunft und richtiger Meinung gef¨ uhrten, w¨ ahrend sich die Schlechteren nach ihren Begierden richten. In Hinsicht auf die gesellschaftliche Dreiteilung lassen sich die Philosophenk¨ onige, die so noch nicht genannt wurden (vgl. 473c11-e2), und das gemeine Volk leicht zuordnen; die Stellung der Krieger ist ambivalent, denn sie sind zwar nicht Unterworfene, lassen sich aber durch richtige Meinung ¨ f¨ uhren. Dieselbe Ambivalenz liegt auch bei der Ubertragung auf die drei Seelenverm¨ ogen des Menschen vor: Der Vernunft soll herrschen (442d1), das begehrende Seelenverm¨ ogen soll sich beherrschen lassen, aber auch
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hier folgt der kultivierte Eifer der richtigen Meinung. Diese Ambivalenz ist nicht u ahe ¨berraschend, sondern vielmehr Ausdruck der besonderen N¨ zwischen vern¨ unftigem und eifrigem Seelenverm¨ ogen. Die Besonnenheit ¨ ist nach diesen Uberlegungen nicht einfach eine Ordnung, sondern speziell eine richtige Herrschaftsordnung. Diejenige Gruppe bzw. dasjenige Verm¨ ogen soll herrschen, dem es aufgrund seiner Einsicht zukommt, diese Herrschaft auf richtige Weise auszu¨ uben. Die Begierden k¨ onnen zwar im Sinne dessen, was die Vernunft als gut erkennt, erzogen werden, aber per se kommt es ihnen nicht zu, das jeweils Richtige und f¨ ur den Menschen Gute beurteilen zu k¨ onnen. Damit ist auch verst¨ andlich, warum Sokrates z¨ ogert, den Besonnenen st¨ arker als er selbst“ zu nennen: Das ” Selbst“ ist nach dieser Formulierung das Schw¨ achere; als schw¨ acher hat” te sich aber das begehrende Seelenverm¨ ogen erwiesen, das schw¨ acher ist in dem Sinne, dass ihm seiner Natur nach das Beherrscht-Werden eigent¨ umlich ist. Wenn es einem der drei Seelenverm¨ ogen besonders zusteht, als das Selbst“ eines Menschen bezeichnet zu werden, dann ist das nicht ” das begehrende, sondern das denkende Seelenverm¨ ogen – gerade weil es dem denkenden Verm¨ ogen zukommt zu herrschen. 50 Besonnenheit besteht also in der sch¨ onen Ordnung, die dadurch zustande kommt, dass die verschiedenen Gruppen bzw. Verm¨ ogen gleichen Sinnes“ ( ” 432a7) dar¨ uber sind, wem es zukommt zu herrschen und wem beherrscht zu werden. Die verschiedenen Teile des Ganzen sind dann im Einklang“ ” ( 430e3, 432a8) miteinander. Anders als die Weisheit und die Tapferkeit kommt die Besonnenheit nicht einer besonderen gesellschaftlichen Gruppe bzw. einem besonderen Seelenverm¨ ogen zu; statt dessen betrifft sie das Verh¨ altnis der Teile einer komplexen Einheit zueinander. Gerechtigkeit Sowohl im Staat als auch beim einzelnen Menschen bestimmt Sokrates die 51 433a9, Gerechtigkeit als das Tun des Seinen“ ( ” vgl. 441d9). Weil Sokrates diese Bestimmung unvermittelt pr¨ asentiert, nennt er zwei heuristische Hinweise, die ihn dazu f¨ uhren, die Gerechtigkeit als Idiopragie zu bestimmen. Der eine Hinweis besteht darin, dass die Idiopragie f¨ ur das Gut–Sein der Stadt ¨ ahnlich wichtig ist wie die Einsicht der 50
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Alkibiades I 129b-131b nennt Sokrates f¨ ur das Selbst“ des Menschen drei Kandida” ten, n¨ amlich den Leib, die Seele und dasjenige, was aus beiden zusammen besteht ¨ 130a9). Uber die Annahme, dass es dem Selbst“ zukomme zu herr( ” schen, kommen die Gespr¨ achspartner zu dem Ergebnis, dass unter den drei Kandidaten nur die Seele das Selbst“ sein k¨ onne (130c1-3). ” Vgl. Charmides 161d5, wo dieselbe Formel zur Bestimmung der Besonnenheit verwendet wird. F¨ ur weitere Parallelstellen siehe Phaidros 247a5f. und die Angaben in Eigler (1990, Bd. 1, S. 652 Anm. 28).
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Herrscher, Aufrechterhaltung der richtigen Meinung von dem zu F¨ urchtenden bei den Kriegern und die gleiche Meinung“ ( 433c6) von ” Herrschenden und Beherrschten dar¨ uber, wer herrschen soll (433c4-d5). Die Wichtigkeit der Idiopragie liegt nicht so sehr darin, dass der Baumeister nicht auch Schuhe produziert (434a3-7), sondern vielmehr in der richtigen Aufgabenverteilung zwischen den drei gesellschaftlichen Gruppen (434a9-b8), insbesondere von Herrschen und Beherrscht-Werden. Dieser erste Hinweis soll zeigen, dass die Idiopragie wesentlicher Teil der Tugend ist, noch nicht, warum ausgerechnet sie die gesuchte Gerechtigkeit sein soll. Darauf geht der zweite Hinweis ein: Er nimmt das Vorverst¨ andnis von Gerechtigkeit auf, wonach der Ort, an dem Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit festgestellt wird, das Gericht ist; dort erf¨ ullen die Richter ihre Aufgabe, wenn sie darauf achten, dass keine Partei Fremdes erh¨ alt oder dessen beraubt wird, was ihr zusteht (433e3-9). Vom Haben geht Sokrates u ¨ber zum Tun (433e12f.); nicht nur Fremdes zu haben und des Seinigen beraubt zu werden ist ungerecht, sondern auch Fremdes zu tun und das ¨ Seinige nicht zu tun. Dieser Ubergang mag dadurch gerechtfertigt sein, dass vor Gericht vor allem die Taten beurteilt werden, deren Konsequenz die verschobenen Besitzverh¨ altnisse erst sind. Die eigentliche Methode zur Bestimmung der Gerechtigkeit besteht in einem Ausschlussverfahren. Ausgehend von der ganzen Tugend werden zun¨ achst Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit bestimmt, um schließlich die Gerechtigkeit als dasjenige vorzufinden, was zur gesamten Tugend noch fehlt (vgl. 368d-369a, 427ef., 432b). Diese Vorgehensweise ist aus mehreren Gr¨ unden problematisch, die wichtigsten d¨ urften folgende sein: Erstens ist nicht klar, ob eine Einzeltugend sich in dieser Weise bestimmen l¨ asst. Wenn man Mengenlehre betreibt, sich eine beliebige Menge T vornimmt und T vollst¨ andig in vier disjunkte Teilmengen Tw , Tt , Tb und Tg gliedert, dann gilt Tg = T \ (Tw ∪ Tt ∪ Tb ), d. h. Tg l¨ asst sich bestimmen als T ohne die Vereinigungsmenge aus Tw , Tt und Tb . Dass Gerechtigkeit sich als der Rest bestimmen l¨ asst, der u ¨brig bleibt, wenn man von der Bestimmtheit der Tugend die Bestimmtheiten von Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit abgrenzt, ist bestenfalls eine Hypothese. Ohne die Mengenlehre hier zu sehr strapazieren zu wollen: Die Menge T ist eine ), nicht im Sinne eines GanEinheit aus Vielen im Sinne eines Alls ( zen ( ), w¨ ahrend es sich bei der Tugend eher um ein Ganzes handeln d¨ urfte (vgl. Protagoras 329df.), ein Ganzes ist aber bekanntlich mehr als die Summe seiner Teile. Das zweite Problem besteht darin, dass Sokrates nicht von der Bestimmtheit der Tugend ausgeht. Eine begriffliche Bestimmung der Tugend insgesamt, d. h. dessen, was die Tugend einer Stadt ist, haben die Gespr¨ achspartner nicht geleistet. Statt dessen haben sie in Gedanken eine tugendhafte Stadt gegr¨ undet; dabei handelt es sich aber eher
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um die Beschreibung einer Instanz als um die Definition der Bestimmtheit. Diese Instanz mag eine besonders vollkommene Instanz sein, aber sie bleibt eine Instanz. Von der Bestimmtheit kann Sokrates andererseits aber nicht ausgehen, weil die Definition der ganzen Tugend auch deren Spezifizierungen in die Einzeltugenden angeben m¨ usste: Die Bestimmung der Tugend setzt die Kenntnis der Gerechtigkeit voraus. Da das Ganze der Tugend nicht als Bestimmtheit vorliegt, l¨ asst sich die Gerechtigkeit nicht einfach durch Ausschluss der u ¨brigen Teilbestimmungen ermitteln. Drittens k¨ onnte man fragen, ob es nicht noch andere Einzeltugenden gebe, so dass der Rest, der u ¨brig bleibt, wenn man von der ganzen Tugend Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit abgrenzt, nicht allein die Gerechtigkeit umfasst, sondern die Gerechtigkeit und zum Beispiel die Fr¨ ommigkeit. Solange jene Hypothese nicht n¨ aher begr¨ undet wird, hat auch diese Methode zur Bestimmung der Gerechtigkeit lediglich heuristischen Wert. Sokrates’ Methode mag nur heuristischen Wert haben, aber dieser Wert darf nicht untersch¨ atzt werden. Wenn n¨ amlich zur Tugend Einsicht, Beharrlichkeit im Aufrechterhalten richtiger Meinungen und die sch¨ one Ordnung des Ganzen geh¨ oren, was fehlt dann noch? Offenbar die Praxis. In einer Stadt mag es Herrscher geben, die das insgesamt und f¨ ur jeden Teil Gute erkennen, Krieger, die sich tapfer bew¨ ahren, und ein Volk, das sich bereitwillig regieren l¨ asst, aber was w¨ are das f¨ ur eine Stadt, wenn alle B¨ urger in Tatenlosigkeit verharrten? Zumindest w¨ are diese Stadt weit davon entfernt, ein besonders gelingendes Staatswesen zu sein. Die gleiche Absurdit¨ at l¨ asst sich auch f¨ ur den einzelnen Menschen entwickeln: Wenn er ein entwickeltes Erkenntnisverm¨ ogen hat, sich aber um Einsicht nicht bem¨ uht, wenn er die Kraft hat, richtige Meinungen aufrecht zu erhalten, diese Kraft aber nicht aufbringt, wenn seine Begierden das Richtige begehren k¨ onnten, es aber nicht tun, wenn also dieser Mensch seine Verm¨ ogen aumt er es nicht nur, das ihm eiin keiner Praxis verwirklicht, dann vers¨ gene Werk zu vollbringen, sondern er vollbringt gar nichts. Es kann keine Rede davon sein, dass dieser Mensch, der als Lebewesen bald hinf¨ allig w¨ are, irgendwie tugendhaft ist. Die als Idiopragie bestimmte Gerechtigkeit erg¨ anzt also in der Tat einen wesentlichen Aspekt der Tugend, n¨ amlich das Handeln ( ). Der Begriff des Handelns, um den es dabei geht, darf nicht zu eng ausgelegt werden; der Gegenbegriff zum Handeln ist hier nicht Denken oder Hervorbringen eines von der Handlung losgel¨ osten Gegenstandes ( ), sondern Unt¨ atigkeit. Die Idiopragie-Formel bestimmt das Handeln aber noch genauer. Gerecht ist nicht, wer u ¨berhaupt irgendetwas tut, sondern wer das Seinige vollbringt. Was mit dem Seinigen gemeint ist, hat Sokrates bereits angegeben: dasjenige, wozu seine Natur am passendsten gewachsen ist“ ( ” 433a6f.). Die Natur meint
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dabei zun¨ achst eine Veranlagung zu etwas; es geht aber nicht nur um eine bloße Veranlagung, sondern auch um deren Entwicklung und Entfaltung. Sofern es um die Gerechtigkeit im Staat geht, zielt Sokrates vor allem auf die Veranlagung der Herrscher zur Einsicht und zum Herrschen, der Krieger zur Tapferkeit und der u urger zum Beherrscht-Werden ¨brigen B¨ und zu den verschiedenen Berufen, denen sie nachgehen; es geht also jeweils um die Veranlagung zu der Erf¨ ullung der Rolle einer Gruppe im Staatsganzen. Die Analogie gilt auch hier f¨ ur die drei Seelenverm¨ ogen des einzelnen Menschen. Die Veranlagung der Vernunft besteht darin zu erkennen, n¨ amlich insbesondere das f¨ ur den Menschen Gute; wenn diese Anlage entfaltet ist, dann hat das von der Vernunft f¨ ur gut befundene Vorrang vor demjenigen, wonach die beiden anderen Seelenverm¨ ogen streben; in diesem Sinne herrscht die Vernunft. Seiner Veranlagung nach kommt es dem eifrigen Seelenverm¨ ogen zu, sich zu ereifern; wenn es als Verm¨ ogen entfaltet und kultiviert ist, dann orientiert sich dieses Verm¨ ogen an richtigen Meinungen und h¨ alt an diesen auch gegen alle Anfechtungen durch Begierden fest. Ihrer Veranlagung nach sollen die Begierden vor allem begehren; sofern sie entwickelt und erzogen sind, ordnen sie sich dem von der Vernunft als gut erkannten unter und begehren lediglich dasjenige, was auch begehrenswert ist. In der Bestimmung, dass Gerechtigkeit das Tun des Seinen ist, liegt also einerseits, dass niemand bzw. kein Verm¨ ogen etwas anderes als das Seine tut, und andererseits, dass jeder bzw. jedes Verm¨ ogen das Seine auch wirklich tut. F¨ ur die verschiedenen Seelenverm¨ ogen bedeutet das: Speise und Trank begehrt am besten nicht das eifrige oder das denkende Seelenverm¨ ogen, sondern das begehrende. Allein das begehrende Seelenverm¨ ogen empfindet den bestimmten Mangel an Nahrung oder Fl¨ ussigkeit und u ¨bersetzt ihn in das Verlangen nach derjenigen Sache, die diesen Mangel beseitigt. Solange das begehrende Seelenverm¨ ogen nicht krankhaft nach zuviel oder zuwenig oder falscher Nahrung verlangt, erf¨ ullt es seine spezifische Funktion besser als jedes andere Seelenverm¨ ogen - insbesondere auch besser als ein Verstand, der aus der Gesamtaktivit¨ at den Energieverbrauch des Lebewesens berechnet, N¨ ahrwerttabellen konsultiert und danach eine entsprechende Speisemenge bestimmt. F¨ ur ein leibliches Lebewesen sind Begierden notwendig und u ¨berlebenswichtig. In dem ihm eigenen Kompetenzbereich ist das Begehren f¨ ur den Menschen gut, sch¨ adlich ist es nur dann, wenn die Begierden sich anschicken, das Handeln eines Menschen auch dar¨ uber hinaus zu bestimmen. In einem solchen Falle bedarf es dessen, was Sokrates vielfach betont, dass dann die Vernunft herrschen und die Begierden beherrscht werden m¨ ussen. Dass jedes Seelenverm¨ ogen in seinem eigenen Kompetenzbereich gut ist, gilt nicht nur f¨ ur Begierde, Eifer und Denken, sondern auch f¨ ur die u ¨brigen
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Erkenntnisverm¨ ogen: Das Rot einer Verkehrsampel nimmt allein und am besten der Gesichtssinn wahr; dass es sich um das Rot einer Verkehrsampel handelt, ist nicht Sache des Gesichtssinns, sondern des meinenden Verstandes. Der Gesichtssinn mag bei dem Anblick des roten Lichts ¨ asthetischen Genuss empfinden; ohne die Kenntnis der Verkehrsregeln und die Interpretation des roten Lichts als Haltesignal, w¨ are der bloß ¨ asthetische Genuss der Farbe lebensgef¨ ahrlich. Wenn es andererseits um die Erfassung der Bestimmtheit des Kreises f¨ ur sich selbst geht, dann geh¨ ort das in den Kompetenzbereich des Denkens und nicht des Meinens, denn das Meinen ist an den Instanzen orientiert, die aber - zum Beispiel mit der roten Farbe - zahlreiche Merkmale enthalten, die mit dem Kreis-Sein des Kreises nichts zu tun haben. Nicht nur gesellschaftlichen Gruppen oder einzelnen Seelenverm¨ ogen kommt es zu, das jeweils Eigene zu tun, sondern auch Individuen. 52 Zu welcher der drei gesellschaftlichen Gruppen ein Individuum geh¨ ort, ist von seiner Natur ( ) abh¨ angig. Die Notwendigkeit zur Aufteilung der B¨ urger in die drei Gruppen von Herrschern, Kriegern und Erwerbst¨ atigen sowie die Differenzierung der Erwerbst¨ atigen in verschiedene Berufe ergibt sich erst dadurch, dass die Individuen einerseits in vielerlei Hinsicht bed¨ urftig sind und diese Bed¨ urfnisse allein aus eigener Kraft nicht befriedigen k¨ onnen, sie aber andererseits zur Aus¨ ubung der verschiedenen T¨ atigkeiten auch unterschiedlich begabt sind. Die einen sind ihrer Natur nach eher zur Aus¨ ubung eines Handwerks veranlagt (374b6-c2, 415c1f.), die anderen eignen sich zum Krieger (374e-376c), und dritte kommen aufgrund ihrer Begabung als Herrscher in Frage (535a9-b3). Dabei ist zu beachten, dass in diesem Zusammenhang zweierlei bezeichnet: Wenn Sokrates ausf¨ uhrt, die k¨ unftigen Herrscher m¨ ussten haben, was ” f¨ ur die Erziehung der Natur geeignet ist“ ( 535b2f.), d. h. ihre Natur m¨ usste derart sein, dass sie f¨ ur den zuvor von Sokrates beschriebenen Unterricht geeignet ist, dann bezeichnet eine Veranlagung, die einem Individuum bereits vor der entsprechenden Ausbildung zukommt, die es aber f¨ ur diese Ausbildung und die Aus¨ ubung der sp¨ ateren T¨ atigkeit pr¨ adestiniert. Wenn aber zweitens jeder Staatsb¨ urger die seiner gem¨ aße Praxis aus¨ uben soll, dann handelt es sich bei der nicht um die unausgebildete Veranlagung und ebenfalls nicht um ein einzelnes ausgebildetes Verm¨ ogen, das aber der u onlichkeit gegen¨ uber ¨ außerlich bleibt, sondern es geht um die ¨brigen Pers¨ gem¨ aß ihrer Veranlagung ausgebildete Pers¨ onlichkeit, die nicht nur ein einzelnes Verm¨ ogen, sondern ihren Charakter insgesamt entwickelt hat. Das Seine tut also nicht nur, wer einem ausgebildeten Verm¨ ogen gem¨ aß 52
Zum Begriff des Individuums bei Platon und Aristoteles siehe Schmitt (2003, S. 381426).
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eine berufliche T¨ atigkeit aus¨ ubt, sondern, wer dabei auch seine Pers¨ onlichkeit zur Entfaltung bringt. Sofern in einem Staatswesen den B¨ urgern diese Pers¨ onlichkeitsentfaltung gelingt, handelt es sich bei diesem Staatwesen im Sinne der Idiopragie-Formel um einen gerechten Staat. 53 Menschliche Tugend Tugend ist die Bestheit des Menschen oder das f¨ ur den Menschen Gute. Sokrates entfaltet die eine Tugend in vier Kardinaltugenden, die zwar auf verschiedene Aspekte des Mensch-Seins zielen, aber so miteinander verflochten sind, dass sie nicht unabh¨ angig voneinander auftreten. Die Verflechtung der Einzeltugenden ist nicht nur derart, dass keine von ihnen fehlen darf, damit der Mensch insgesamt tugendhaft ist, sondern sie impliziert dar¨ uber hinaus, dass bei Ermangelung einer der vier Tugenden auch die u onnen. Dieser Zusammen¨brigen nicht ausgebildet werden k¨ hang zwischen den Tugenden ist nicht offensichtlich, weil in der Stadt die Weisheit vor allem den Herrschern und die Tapferkeit den Kriegern zugeordnet wird; es k¨ onnte so scheinen, als w¨ urde den Herrschern Weisheit ohne Tapferkeit und den Kriegern Tapferkeit ohne Weisheit zukommen. Das ist aber nicht der Fall: Bei der Zuordnung dieser Tugenden zu einer Gruppe geht es nicht um die Tugend der Herrscher oder der Krieger, sondern um die Tugend des Staates, es steht also nicht die Tugend des Teiles, sondern die des Ganzen zur Diskussion. Die Stadt ist m¨ oglichst gut, wenn ihre Herrscher u ugen und ¨ber ein bestimmtes Wissen verf¨ die Krieger bestimmte Meinungen aufrechterhalten. F¨ ur die Tugend der Herrscher und Krieger reicht das Wissen bzw. das Verm¨ ogen zur Aufrechterhaltung bestimmter Meinungen nicht aus. Das gilt analog auch f¨ ur die Tugend des einzelnen Menschen, dessen denkendes Seelenverm¨ ogen u ugen und dessen eifriges Seelenverm¨ ogen ¨ber ein bestimmtes Wissen verf¨ richtige Meinungen aufrecht erhalten muss, damit der Mensch als Ganzer tugendhaft ist. Dass mit dem Mangel an einer Einzeltugend auch alle u ¨brigen Tugenden hinf¨ allig sind, zeigt die Gegenprobe. Wir f¨ uhren diese Gegenprobe am Beispiel fehlender Einsicht durch: Wem es an Einsicht in das f¨ ur ihn selbst und jedes seiner Seelenverm¨ ogen Gute mangelt, der ist auch nicht tapfer, besonnen oder gerecht. Wer das f¨ ur den Menschen Gute nicht kennt, dem wird es in immer anderen Handlungssituationen auch nicht gelingen, sich eine richtige Meinung dar¨ uber zu bilden, was in dieser Situation zu f¨ urchten ist und was nicht. Selbst wenn jemand u ¨ber eine richtige Meinung verf¨ ugt, dann unterliegt diese Meinung den Anfechtungen des begehrenden Seelenverm¨ ogens, das das Gute und Erstrebenswerte in einzelnen Si53
Vgl. dazu (Schmitt, 2003, S. 421f.).
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tuationen anders beurteilen d¨ urfte als das Denken. Das sichere Wissen davon, dass die Beurteilung des menschlich Guten im Zweifelsfall dem Denken zukommt, dient gleichsam als Schutzwall gegen dergleichen Anfechtungen. Weil der Mensch in seinem Streben Anfechtungen unterliegt, kann er sein Leben auch nicht ohne Einsicht gleichsam zuf¨ allig tugendhaft vollziehen. Wer ohne Einsicht handelt, der mag in einem Einzelfall zuf¨ allig die richtige Handlungsweise treffen, einen gefestigten Charakter kann er nicht entwickeln. Die Einsicht in das menschlich Gute liegt auch der richtigen Ordnung der verschiedenen Seelenverm¨ ogen und damit der Besonnenheit zugrunde; sie ist Ausgangspunkt der Kultivierung von Eifer und Begehren. Schließlich setzt auch die Gerechtigkeit im Sinne der Idiopragie ein Wissen von den allgemeinen Anlagen und Verm¨ ogen und eine richtige Meinung u agung im eigenen Selbst ¨ber deren individuelle Auspr¨ voraus. Warum betont Platon andersherum, dass seelische Ordnung und eine angemessene Lebenspraxis Bedingungen f¨ ur die philosophische Erkenntnis sind? Es lassen sich hierf¨ ur verschiedene Gr¨ unde anf¨ uhren, die aber den Kern des Problems nicht treffen, z. B. dass die Schwierigkeit der Sache so groß ist, dass es der Anspannung aller Kr¨ afte und der Ausrichtung aller Seelenverm¨ ogen auf das eine Ziel bed¨ urfe, um der Ideenerkenntnis teilhaftig zu werden; hierzu geh¨ ort der Hinweis, dass man f¨ ur die philosophische Erkenntnis ein gutes Ged¨ achtnis und Lernverm¨ ogen brauche und beides im Lebensvollzug u usse. Lernverm¨ ogen ¨ben und trainieren m¨ und Ged¨ achtnis zu trainieren, ist zweifellos f¨ orderlich, aber ein tugendhafter Lebensvollzug und die Auspr¨ agung des entsprechenden Charakters ist nicht deshalb so schwierig, weil die Er¨ orterung der verschiedenen Seelenverm¨ ogen und ihrer spezifischen Funktion intellektuell anspruchsvoll w¨ are; eine Analyse der Grundz¨ uge dieser Seelenverm¨ ogen formuliert Platon auf wenigen Seiten (Politeia 437b-441c). Die Schwierigkeit ist eine andere: Sie liegt darin, zu verstehen und diese Einsicht auch festzuhalten, dass die spezifische Funktion der einzelnen Seelenverm¨ ogen f¨ ur das jeweilige Seelenverm¨ ogen und den ganzen Menschen gut ist, nicht aber die Orientierung der gesamten Lebenspraxis an dem Streben des begehrenden Seelenverm¨ ogens. Dieser Einsicht wird nicht teilhaftig, wer die Bew¨ ahrung eines aus der Haltung der Tugend entspringenden Lebensvollzuges nicht aus eigener Erfahrung kennt. 54 Die Erfahrung dieses Lebensvollzuges ist ¨ nichts der eigenen Pers¨ onlichkeit Außerliches, man erf¨ ahrt ihn auch nicht wie eine Geschmackserfahrung, ein vor¨ ubergehendes Erlebnis oder das reproduzierbare Ergebnis einer empirischen Studie. Erfahrung“ ist hier ” 54
In Anlehnung an die Untersuchung von Wieland (1999, §13) ist festzuhalten, dass es sich bei der fraglichen Einsicht nicht um ein bivalentes, propositionales Wissen handelt.
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im Sinne von Lebenserfahrung“ zu verstehen, in die eine F¨ ulle von Ein” zelerfahrungen, deren Beurteilung und die daraus entspringende Praxis einfließen. Damit k¨ onnen wir eine Frage beantworten, die in Kapitel 6.5 offen geblieben ist. Nach Platons Darstellung im Siebten Brief ist die Verwandtschaft mit der Sache Bedingung philosophischer Erkenntnis. Im Falle der ethischen Ideen besteht diese Verwandtschaft darin, dass ein gerechter Lebensvollzug Bedingung der Erkenntnis der Idee der Gerechtigkeit ist, ein tapferer Lebensvollzug Bedingung der Erkenntnis der Idee der Tapferkeit usw. Diese Behauptung impliziert, dass – entgegen modernen Denkgewohnheiten – Lebensvollzug und Erkenntnisleistung nicht unabh¨ angig voneinander sind. Die Grundlage dieser Auffassung ist die Seelenlehre, in der auch diejenigen Seelenverm¨ ogen, die vom Denken verschieden sind, ¨ nicht getrennt davon konzipiert werden. Obige Uberlegungen legen nahe, dass die Abh¨ angigkeit der Seelenverm¨ ogen nicht einseitig ist. Es sind nicht ¨ nur epithymetisches und thymetisches Streben durch vern¨ unftige Uberlegungen beeinflussbar, sondern in die evaluativen Urteile des Denkverm¨ ogens gehen auch das epithymetische und thymetische Streben und die damit verbundene Lebenserfahrung mit ein. Falls es daf¨ ur eines Beispiels bedarf, sei auf Alkibiades verwiesen: Ihm hat es zweifellos an Intelligenz nicht gemangelt, aber von unb¨ andigem Ehrgeiz und Machtstreben f¨ ur sich selbst und f¨ ur Athen getrieben, verfolgte er eine Politik, die zur Niederlage Athens und zu seinem pers¨ onlichen Untergang gef¨ uhrt hat. Nach Platons Schilderung (Symposion 216af.) mangelt es ihm im Gespr¨ ach mit Sokrates nicht an intellektueller Einsicht darin, dass er selbst nicht reif ist, die Politik Athens zu bestimmen. Doch sein Ehrgeiz ist so stark, dass er seine Einsicht nicht festzuhalten vermag und vor Sokrates (und der durch ihn vermittelten Einsicht) flieht. Der Affekt des Ehrgeizes bestimmt Alkibiades in seinen evaluativen Urteilen: Alkibiades h¨ alt die Ehrbezeugungen der Athener f¨ ur das Gute und die Politik Athens f¨ ur die ihm eigene Praxis. Im Sinne der Dreiverm¨ ogenlehre herrscht bei Alkibiades nicht das ¨ denkende Seelenverm¨ ogen, sondern der Eifer. Die Uberlegung ging davon aus, dass Tugend insgesamt als Tauglichkeit zur Vollbringung eines bestimmten Werkes zu verstehen ist. Das Beispiel des Alkibiades zeigt, wie der Mangel an Tugend untauglich zur Vollbringung eines bestimmten Werkes macht. Menschen sind einerseits individuell verschieden, andererseits spricht Platon im Zusammenhang mit menschlicher Tugend von f¨ ur sich selbst seienden Tugendideen. Die Tugendideen sind unver¨ anderliche Bestimmtheiten von der Bestheit des Menschen. Diese Bestimmtheiten sind unabh¨ angig davon g¨ ultig, wer sich um ihre Erkenntnis und ihre Verwirklichung im eigenen Charakter bem¨ uht. So betrachtet handelt es sich bei den Tu-
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gendideen um einen allgemeinen Maßstab menschlicher Bestheit. Wie verh¨ alt sich die Individualit¨ at der einzelnen Menschen zu der Allgemeinheit des Maßstabes seiner Bestheit? Wenn das Maß f¨ ur alle Menschen dasselbe ist, muss dann die individuelle Besonderheit dem allgemeing¨ ultigen Maß der Bestheit gegen¨ uber nicht ¨ außerlich sein und – aristotelisch gesprochen – etwas bloß Hinzukommendes sein? Der allgemeinen Bestheit gegen¨ uber w¨ are die individuelle Auspr¨ agung dann ganz ¨ außerlich, die Individualit¨ at w¨ are im Hinblick auf die Tugend irrelevant. Dass das nicht der Fall sein kann, zeigt die Bestimmung der Gerechtigkeit als Tun des Seinen“. Diese ” Formel enth¨ alt zwar eine allgemeine Bestimmung, die ein f¨ ur alle Individuen gleichermaßen g¨ ultiges Maß zur Beurteilung ihrer Gerechtigkeit bereit stellt, aber in dem Tun des Seinen“ ist die individuelle Verschiedenheit ” ber¨ ucksichtigt. Die Individualit¨ at kommt in dieser Formel nicht nur irgendwie vor, sondern die Verwirklichung der individuellen M¨ oglichkeiten in der Praxis ist das Maß, an dem die Gerechtigkeit eines Individuums zu beurteilen ist. Die M¨ oglichkeiten der Individuen sind verschieden – abh¨ angig von Begabung, Erziehung, Ausbildung und all demjenigen, was im weitesten Sinne sonst noch zum sozialen Umfeld geh¨ ort. Die menschliche Bestheit ist kein abstrakter Maßstab, hinter dem alle diejenigen zur¨ uckbleiben m¨ ussen, die wenig begabt sind, keiner besonderen Erziehung und Ausbildung teilhaftig werden und deren Umfeld keine herausragenden Bet¨ atigungsfelder bietet. Das Seine“ tut, wer seine Anlagen im Rahmen der ” zur Verf¨ ugung stehenden M¨ oglichkeiten verwirklicht. Wenn man die Bestimmtheiten als immanente Ideen so konzipiert, dass ihr prim¨ arer Ort die Instanz ist, dann sind individuelle Variationen der Instanzen gegen¨ uber der Idee akzidentiell. Das Mensch-Sein von Sokrates ist dann dasselbe wie das von Alkibiades, die individuelle Art und Weise der Verwirklichung kommt zu ihrem Mensch-Sein bloß hinzu und ist ihm uber ¨ außerlich. Wenn man dagegen mit Platon die Ideen prim¨ ar als gegen¨ f¨ ur sich selbst seiende Bestimmtheiten konzipiert, kann die Individualit¨ at der Instanzen von der Idee her begr¨ undet werden: Die Bestimmtheit ist eine Seinsm¨ oglichkeit. Von ihren Instanzen her wissen wir aber, dass es verschiedene M¨ oglichkeiten der Verwirklichung dieser Bestimmtheit gibt. Einige dieser Variationen sind der Bestimmtheit gegen¨ uber ¨ außerlich, so hat es z. B. mit dem Kreis-Sein eines Kreises nichts zu tun, ob er in weißer oder in gelber Kreide gemalt wurde. Bei dem Radius der verschiedenen Kreise kann man schon daran zweifeln, ob er zu dem Kreis-Sein des Kreises ebenfalls bloß hinzukommt. Ein Kreis muss nicht aus gelber oder weißer Kreide sein, aber er muss einen Radius haben. Die Idee des Kreises ist eine Einheit, die sich in Instanzen verschiedener Gr¨ oße realisiert. Man kann diese Einheit als die F¨ ulle der verschiedenen M¨ oglichkeiten denken, in denen sich die Bestimmtheit des Kreis-Seins realisieren kann, ohne dass
Exkurs zur Einheit von Theorie und Praxis: Laches 187e-189a
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diese F¨ ulle deswegen in eine Vielheit von Bestimmtheiten zerf¨ allt und die Einheit der Idee des Kreises bloß die eines Aggregates wird. Weil die F¨ ulle der durch die Idee des Kreises bereit gestellten Seinsm¨ oglichkeiten durch ihre Instanzen nie ersch¨ opft wird, kann man dabei auch von der einen ¨ Uberf¨ ulle 55 von Seinsm¨ oglichkeiten sprechen. ¨ Analog kann man auch die Bestimmtheit des Menschen als Uberf¨ ulle aller Seinsm¨ oglichkeiten konzipieren, in denen das Mensch-Sein sich in intensiver Weise verwirklichen kann. Die Art und Weise der Verwirklichung des Mensch-Seins durch die Individuen ist gegen¨ uber ihrem Mensch-Sein nicht ¨ außerlich. Sowohl Sokrates als auch Solon verwirklichen ihr MenschSein in intensiver Weise, aber Solon tut das als Gesetzgeber, Sokrates als Philosoph. Die Philosophie ist gegen¨ uber dem Mensch-Sein des Sokrates aber nicht etwas bloß Hinzukommendes, sondern es ist die individuelle Art und Weise, in der Sokrates das allgemeine Mensch-Sein realisiert. Platon h¨ alt beide, sowohl Sokrates als auch Solon f¨ ur Menschen, die die Tugend in beispielhafter Weise verwirklicht haben, beide tun das Ihre und sind im Sinne der Idiopragie-Formel gerechte Menschen. Aber Solon tut das Seine, indem er die ihm u ¨bertragenen Vollmachten dazu nutzt, der Stadt Gesetze zu geben, die den inneren Frieden wieder herstellen und die Stadt damit wieder zu einem machen; Sokrates tut etwas ganz anderes als Solon, aber er tut trotzdem das Seine, indem er seine Zeitgenossen in philosophische Gespr¨ ache verwickelt. Beide sind gleichermaßen Menschen, deren individuelle Bestheit aber verschieden ist. Verglichen damit ist auch Alkibiades nicht weniger ein Mensch, aber im Gegensatz zu Solon und Sokrates gelingt es ihm nicht, das Seine zu tun und die ihm individuelle Bestheit zu verwirklichen. Insofern die intensiven Weisen der Realisierung der Bestimmtheit des Menschen gegen¨ uber nicht ¨ außerlich, sondern von eben dieser her begr¨ undet sind, kann man von der Idee auch ¨ als intensiver Uberf¨ ulle der Seinsm¨ oglichkeiten sprechen.
8.4 Exkurs zur Einheit von Theorie und Praxis im sokratischen Dialog: Laches 187e-189a ¨ Auf der Grundlage obiger Uberlegungen k¨ onnen wir die Funktion eines weiteren Aspektes Platonischer Philosophie einordnen, den wir bisher nicht eigens thematisiert haben: die Funktion des sokratischen Gespr¨ achs. Als Ausgangspunkt f¨ ur diese Einordnung bietet sich eine Textstelle an, die eine Charakterisierung dieser Praxis durch dritte enth¨ alt. Die Frage des sokratischen Gespr¨ achs geh¨ ort in den Kontext der Interpretation der 55
¨ Zum Begriff der Uberf¨ ulle“ vgl. Anmerkung 20 auf Seite 109. ”
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Dialogform insgesamt. Ihre umfassende Beurteilung w¨ urde den Horizont der vorliegenden Arbeit sprengen, aber auf einige Aspekte m¨ ussen wir dennoch kurz hinweisen: 1) Platon ist in seinen Dialogen auf eigent¨ umliche Weise abwesend; diese Abwesenheit ersch¨ opft sich nicht darin, dass Platons Schriften sich wie alle anderen Texte auch vom Autor l¨ osen und unabh¨ angig von ihm rezipiert werden k¨ onnen. Handelt es sich bei einem Text z. B. um einen Traktat, dann l¨ ost sich auch dieser Text vom Autor, aber er bringt trotzdem die Meinung seines Urhebers zum Ausdruck. F¨ ur Platons Dialoge gilt das nicht in gleicher Weise, denn Platon tritt in seinen Dialogen weder als Sprecher auf, noch ist einer der Gespr¨ achsteilnehmer sein Sprachrohr (einzige Ausnahme von dieser Regel k¨ onnte der Athener in den Nomoi sein 56 ) – das gilt insbesondere auch f¨ ur Sokrates. 57 56 57
Vgl. dazu Picht (1992b, S. 76). F¨ ur eine Kritik der Interpretation der Sokrates-Figur als Platons Sprachrohr siehe Wolfsdorf (1999) und Press (2000). Mehr oder weniger ausdr¨ ucklich arbeiten viele Kommentatoren auf der Grundlage der Hypothese, Sokrates, der Fremde aus Elea und Timaios fungierten als Platons Sprachrohr. Dieses Vorgehen bietet sich an, weil die genannten Dialogfiguren offenbar die besondere Sympathie des Autors zu genießen ¨ scheinen und ihre Außerungen in den jeweiligen Dialogen großes Gewicht haben. Als Rekonstruktionsprinzip von Platons Sicht der Dinge f¨ uhrt die Sprachrohr-Hypothese aber vor allem aus zwei Gr¨ unden zu Schwierigkeiten: Es ist von Kommentatoren oft beobachtet worden, dass die Ausf¨ uhrungen eines vermeintlichen Sprechers von Platon in einem Dialog nicht mit den Ausf¨ uhrungen desselben oder eines anderen vermeintlichen Sprechers in einem anderen Dialog konsistent zu sein scheinen. Ein Vertreter der Sprachrohr-Hypothese wird daraus schließen m¨ ussen, dass Platon in beiden Schriften jeweils unterschiedliche Meinungen vertreten habe. Noch gravierender sind die Schwierigkeiten, wenn der vermeintliche Sprecher Platons in einem einzigen Dialog begrifflich unexakt arbeitet, etwas Wichtiges ausl¨ asst, zweifelhafte Annahmen macht, ung¨ ultige Schl¨ usse zieht, unpassende Analogien anf¨ uhrt, falsche Zusammenfassungen macht oder unterschiedliche Ansichten vertritt. In diesen F¨ allen wird ein Vertreter der SprachrohrHypothese schließen m¨ ussen, dass Platon Fehler unterlaufen seien. Die SprachrohrHypothese beruht auf einem zu einfachen Verst¨ andnis der Dialogform. Auswahl und Charakterisierung der Gespr¨ achsteilnehmer dienen in den Dialogen zur Demonstration geistesgeschichtlicher Bedeutsamkeit. Zu einem besseren Verst¨ andnis der Dialogform kommt man durch die Interpretation der vermeintlichen Sprecher als Repr¨ asentanten von Platons philosophischer Position. Die Differenz zwischen einem Sprachrohr und einem philosophischen Repr¨ asentanten ist fein aber wichtig: Ein Sprachrohr gibt fremde Meinungen ungebrochen wieder und erlaubt den direkten R¨ uckschluss auf die repr¨ asentierten Ansichten. Ein philosophischer Repr¨ asentant denkt, spricht und handelt in einer gegebenen Situation so, wie ein in Platons Sinne wahrhaft philosophisch orientierter Mensch denken, sprechen und handeln w¨ urde. Insbesondere geht er mit ¨ seinem Wissen in jeder Gespr¨ achssituation angemessen um, d. h. seine Außerungen sind stets aus dem Kontext heraus zu verstehen, wozu nicht nur Ort, Zeit und Anlass des Gespr¨ achs, sondern auch Charakter und Stimmung der Gespr¨ achspartner geh¨ oren. Das dem Wissen angemessene Gespr¨ achsverhalten kann mitunter auch darin bestehen, die eigene Meinung zur¨ uckzuhalten, den Gespr¨ achspartner mit sophistischen Mitteln usse zu ziehen etc. Diese Praxis der Verstellung im in Aporie zu f¨ uhren, ung¨ ultige Schl¨ Gespr¨ ach kann unter dem Oberbegriff der Ironie zusammengefasst werden, vgl. dazu Roloff (1975, S. 18ff.).
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Platon steht zu seinen Dialogen vielmehr wie ein Dramatiker zu seinem ¨ Drama, er arrangiert die Charaktere, ihre Außerungen und Handlungen. 2) Wie in einem Drama l¨ asst Platon nicht nur einen, sondern mehrere Charaktere auftreten, und er l¨ asst sie nicht nur sprechen, sondern auch handeln. Bei einigen Dialogen wird das Gespr¨ ach zudem nicht direkt wiedergegeben, sondern von einem Gespr¨ achsteilnehmer oder einer dritten Person nacherz¨ ahlt. Durch diese literarische Technik ergeben sich verschiedene Ebenen, auf denen sich die Charaktere darstellen lassen: i) die ¨ Außerungen der Charaktere, ii) ihre Handlungen, iii) die Schilderung ei¨ ner Figur durch eine andere, iv) die Kommentierung von Außerungen und Handlungen durch einen Erz¨ ahler und v) die Wirkung des Berichts ¨ auf die Zuh¨ orer. Die verschiedenen Ebenen reflektieren einander, die Außerungen einer Figur erscheinen in einem anderen Licht, wenn man sie mit ihren Handlungen vergleicht; die Schilderung einer Figur durch eine andere bezieht das Verhalten der ersten Figur vor der dramatischen Sze¨ ne mit ein und interpretiert deren Außerungen und Verhalten w¨ ahrend der dramatischen Handlung; ebenfalls eine reflektierende Funktion erf¨ ullt die Interaktion von Erz¨ ahler und Zuh¨ orern, die das Geschehen aus ihrer eigenen Perspektive heraus reflektieren. Im Laches fehlt die zus¨ atzliche Ebene eines Erz¨ ahlers, der das Gespr¨ ach indirekt wiedergibt, aber durch Nikias’ Bericht (Laches 187e6188c3) u ¨ber seine Erfahrungen mit Sokrates erhalten wir eine indirekte ¨ Charakterisierung, aus deren Perspektive wir Sokrates’ Außerungen und 58 sein Verhalten beurteilen k¨ onnen und sollen. Nikias hat n¨ amlich ganz richtig erkannt, dass Sokrates in seiner Gespr¨ achsf¨ uhrung darauf zielt, den Gespr¨ achspartner von sich selbst Rechenschaft ablegen zu lassen (vgl. 187e10f.). Was Nikias unter dem Selbst“ ver” steht, erl¨ autert er sogleich. Das Selbst ist f¨ ur ihn die Weise, in der ein Mensch jetzt lebt und fr¨ uher gelebt hat (188a1f.). Resultat einer Befragung durch Sokrates ist nach Nikias, sich bewusst zu werden, in welchen F¨ allen man nicht sch¨ on gehandelt hat oder handelt, und sich vorzunehmen, sein k¨ unftiges Leben mit mehr Vorbedacht (vgl. 188b1) zu leben. Dass Sokrates nicht einfach die Handlungen seiner Gespr¨ achspartner pr¨ uft, sondern die diesen Handlungen zugrunde liegenden Meinungen, ob sie n¨ amlich mit einem Wissen verbunden sind oder nicht, 58
Von seiner literarischen Funktion her ist Nikias’ Bericht der Rede vergleichbar, die Alkibiades im Symposion auf Sokrates h¨ alt. Zu der unterschiedlichen Wirkung von Sokrates auf Nikias und Alkibiades und die daraus zu ziehenden R¨ uckschl¨ usse auf die beiden Politiker siehe Schmid (1992, S. 86-88). In seiner Interpretation von Nikias’ Beitrag beschr¨ ankt Schmid (1992, S. 86) sich allerdings zu sehr auf die Begrenztheit von Nikias’ Perspektive; die grundlegende Bedeutung dessen, was Nikias richtig erfasst, entgeht Schmid.
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das entgeht Nikias. 59 Andererseits ist es kein Zufall, dass Nikias der Zusammenhang von Wissen, richtiger Meinung und Handeln entgeht: Nikias konzipiert die Tapferkeit im Fortgang des Laches als ein Wissen, von dem er in der Befragung durch Sokrates allerdings keine Rechenschaft ablegen kann; der u ¨ber Nikias’ charakterliches und strategisches Versagen auf Sizilien informierte Leser 60 soll hier eine Verbindung erkennen. Die Art des Wissens, u ugt, f¨ uhrt offenbar nicht zu der Bildung ei¨ber das Nikias verf¨ nes gefestigten Charakters und leitet zu keiner erfolgreichen Praxis an. In Platons Charakterisierung ist Nikias ein Beispiel f¨ ur einen mit Scheinwissen eingef¨ arbten Menschen; dieses Scheinwissen zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er die sokratische Praxis zwar aus eigener Erfahrung schildern kann, er u anglichkeiten ¨ber die damit verbundene Einsicht in eigene Unzul¨ aber nur scheinbar verf¨ ugt. Um was f¨ ur einen geht es in dem von Sokrates geforderten ? Gegenstand dieses ist in Nikias’ Verst¨ andnis das fr¨ uhere und gegenw¨ artige Leben von Sokrates’ Gespr¨ achspartner. Nach Nikias’ Darstellung k¨ onnte man vermuten, dass es sich bei diesem um einen Lebenslauf oder eine autobiographische Erz¨ ahlung handelt. F¨ ur ein solches Verst¨ andnis der sokratischen Gespr¨ ache bieten die Dialoge Platons keine Belegstellen, insbesondere im Laches selbst fragt Sokrates seine Gespr¨ achspartner nicht nach deren Lebenslauf. Wenn Nikias Sokrates so versteht, dann hat er ihn offenbar falsch verstanden. Zu Nikias’ Scheinwissen w¨ urde es auf jeden Fall passen, dass er die formelhafte Bestimmung dessen, worum es geht, zwar richtig wiederholen, in ihrer Bedeutung aber nicht erkl¨ aren kann; im Fortgang des Dialoges wiederholt Nikias noch eine Formulierung von Sokrates formelhaft, dass n¨ amlich jeder von uns ” darin gut ist, worin er weise ist, worin er aber ungelernt ist, darin ist er schlecht“ (194d1f.). Nikias leitet daraus die Bestimmung der Tapferkeit als Wissen her (194e11f.), von der Rechenschaft abzulegen, er aber nicht in der Lage ist. Auch in der Charakterisierung der sokratischen Praxis kann Nikias die formelhafte Bestimmung ( ) richtig angeben, aber erkl¨ aren kann er sie nicht. Das Gemeinte erschließt sich gleichwohl aus der Befragung von Nikias und Laches im Fortgang des Dialoges: Nikias und Laches d¨ urfen zum Zeitpunkt des Gespr¨ achs 61 als erfolgreiche Feldherren gelten. 62 Als hervorra59 60 61 62
Darauf macht Schmid (1992, S. 86) aufmerksam. Vgl. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges VI 63, VII 48, 85f., Cron (1891, S. 4-9) und Schmid (1992, S. 6-11). Das Gespr¨ ach d¨ urfte 423 v. Chr. stattfinden, f¨ ur diese Datierung siehe Schmid (1992, S. 183 Anm. 1). Vgl. dazu Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges III 51, 91, IV 42f., 53f. f¨ ur Berichte von Nikias’ Erfolgen und III 86, 90, 103 f¨ ur entsprechende Berichte u ¨ber Laches.
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gende Pers¨ onlichkeiten des ¨ offentlichen Lebens werden sie von Lysimachos und Melesias zur Beratung u ohne herangezogen; ¨ber die Erziehung ihrer S¨ als Soldaten, die sich im Krieg ausgezeichnet haben, k¨ onnen sie in Fragen der Tapferkeit als kompetent gelten und aus einem solchermaßen begr¨ undeten Wissensanspruch heraus Sokrates Rede und Antwort stehen. Hierin zeigt sich ein f¨ ur viele Dialoge charakteristisches Muster: Er¨ ortert wird darin nicht direkt die Lebensf¨ uhrung, sondern eine Sachfrage, die aber mit der Lebensf¨ uhrung oder der beruflichen Praxis der Gespr¨ achspartner verbunden ist; oft pr¨ adestiniert der jeweilige Beruf den Gespr¨ achspartner dazu, in der besprochenen Sache mit Wissensanspruch aufzutreten und dar¨ uber Auskunft zu geben. So hat beispielsweise Euthyphron, Fachmann in Fragen der Fr¨ ommigkeit, im gleichnamigen Dialog seinen eigenen Vater wegen einer unfrommen Tat vor Gericht angeklagt und soll nun Rechenschaft dar¨ uber ablegen, was denn das Fromme ( ) sei; Protagoras tritt als Lehrer der Tugend auf und soll sich in dem nach ihm benannten Dialog u aren; analog dazu er¨ ortert So¨ber die Lehrbarkeit derselben erkl¨ krates die Tapferkeit im Laches mit hoch dekorierten Soldaten. Gemeinsam ist ihnen allen, dass es ihnen in der Befragung durch Sokrates nicht gelingt, ihren Wissensanspruch einzul¨ osen und in der Sache Auskunft zu erteilen. Bei dem von Sokrates erfragten handelt es sich also um die Erkl¨ arung einer Sache, der der Befragte aber nicht gleichg¨ ultig gegen¨ ubersteht, weil seine Meinung in der Sache die eigene Lebensf¨ uhrung bestimmt. Ein f¨ ur unsere Zwecke besonders hilfreiches Beispiel gibt Sokrates im Phaidon. Die Gespr¨ achssituation liegt hier anders als in den oben genannten Dialogen, denn im Phaidon fordert Sokrates nicht von seinen Gespr¨ achspartnern Rechenschaft, sondern er gibt sie selbst (Phaidon 63e8). Sokrates m¨ ochte begr¨ unden, warum ein Mann, der sein Leben wahrhaft ” in der Philosophie verbracht hat, getrost sein m¨ usse, wenn er im Begriff ist zu sterben, und guter Hoffnung, dort gr¨ oßte G¨ uter zu erlangen, wenn er gestorben ist“ (63e9-64a2). Sokrates h¨ alt wie in einem Gerichtsprozess eine Verteidigungsrede (63b2f., 69e3), nur h¨ alt er seine zweite Apologie nicht vor versammelten Athenern, sondern vor seinen philosophisch gesonnenen Freunden. Aufgabe einer Verteidigungsrede vor Gericht ist, die eigene Praxis als gerecht und gut zu erweisen. Auf den ersten Blick scheint Sokrates in seiner Verteidigungsrede aber gar nicht u ¨ber sich selbst zu reden, sondern statt dessen einen Begriff der philosophischen Tugend zu entwickeln, d. h. eine Erkl¨ arung dessen, worin seines Erachtens die Bestheit eines Philosophen besteht, n¨ amlich in der Absonderung der Seele vom Leib (67d7f., vgl. 64a4-6). Gegenstand des ist also ein Begriff des Guten, allerdings nicht des Guten insgesamt, sondern des f¨ ur einen Philosophen Guten. Dass seine eigene Praxis auch unter diesen Begriff des
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Guten subsumiert werden kann, dar¨ uber spricht Sokrates nicht, aber er zeigt es durch sein Verhalten an seinem Todestag. In seiner Verteidigung setzt Sokrates die Unsterblichkeit der Seele voraus; kritisch danach gefragt (69ef.), kann er auch davon Rechenschaft ablegen. Das Thema des folgenden Gespr¨ achs ist damit vorgegeben. Die Befragung des Sokrates ist kein im engeren Sinne sokratischer Dialog wie wir ihn im Euthyphron, Protagoras oder Laches finden, aber Simmias und Kebes erweisen sich in ihren Einw¨ anden durchaus als beharrlich. ¨ Der ist nach dieser Uberlegung eine Verteidigung, die ein spezifisch Gutes als Grund der eigenen Lebensf¨ uhrung angibt. Nun spricht Nikias nicht einfach davon, Sokrates bringe seine Gespr¨ achspartner dahin, einen anzugeben, sondern er spricht von einem , einer Erkl¨ arung u ahere Bestimmung u ¨ber sich selbst“. Die n¨ ¨ber ” ” sich selbst“ k¨ onnen wir zun¨ achst dahin gehend auslegen, dass es in der Erkl¨ arung um den Grund der eigenen Lebensf¨ uhrung geht. Aber diese Interpretation ist noch nicht genau genug, denn sie l¨ asst offen, worin das Eigene der eigenen Lebensf¨ uhrung besteht. Im Laches wird diese Frage nicht thematisiert, aber das Arrangement aus Sachfrage und Gespr¨ achsteilnehmern gibt uns einen Hinweis: Wir haben schon bemerkt, dass es kein Zufall ist, dass Sokrates die Tapferkeit in einem Gespr¨ ach mit Soldaten erl¨ autert. Der Grund daf¨ ur ist nicht nur, dass Soldaten, die sich im Krieg hervorgetan haben, kompetent sein sollten, in Fragen der Tapferkeit Auskunft zu erteilen, sondern die Tapferkeit ist – zumindest nach u ¨berlieferter Meinung, Platon modifiziert diese Ansicht – eine Tugend speziell des Soldaten, d. h. eine Art von Bestheit, die einen Menschen zur Vollbringung des spezifischen Werkes von Soldaten qualifiziert. Unter Ber¨ ucksichtigung der individuell verschiedenen Natur der Menschen, ist die Tapferkeit insbesondere die Tugend eines zum Soldaten veranlagten Menschen. Damit kommen wir zu dem zweiten Aspekt des RechenschaftAblegens u das Gute f¨ ur ein individuell ¨ber sich selbst: Wenn der veranlagtes Selbst“ angeben soll, dann bedarf es daf¨ ur der Selbsterkennt” nis. Dazu geh¨ ort die Erkenntnis der eigenen Veranlagung und das Wissen u ¨ber den Grad ihrer Verwirklichung. In vielen sokratischen Dialogen besteht die Selbsterkenntnis der Gespr¨ achspartner vor allem in der Einsicht, dass es ihnen nicht gelingt, von der Sache Rechenschaft abzulegen. Insofern die Sachfrage eng mit ihrer Praxis verbunden ist, m¨ ussen sie anerkennen, dass sie bei dem Versuch einer Begr¨ undung ihrer eigenen Praxis zun¨ achst gescheitert sind. Im Gegensatz dazu ist Sokrates im Phaidon in der Lage, einen Begriff des Guten anzugeben. Aber inwiefern gibt Sokrates im Phaidon auch Rechenschaft von sich selbst? Im Sinne der bereits erw¨ ahnten Passage Alkibiades
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I 129b-131b 63 ist das Selbst des Menschen seine Seele. F¨ ur diesen Gedanken brauchen wir allerdings nicht auf andere Dialoge zur¨ uckzugreifen, er findet sich auch im Phaidon selbst. Kurz vor der Hinrichtung fragt Kriton Sokrates: Auf welche Weise sollen wir dich bestatten?“ ( ” 115c2f.), woraufhin Sokrates ausf¨ uhrt, dass er nicht dasjenige sei, was sie nun bald tot sehen w¨ urden, n¨ amlich den zu bestattenden Leib. Wenn er den Schierlingsbecher getrunken habe, w¨ urde er nicht l¨ anger bei ihnen sein, sondern fortgehen. Sokrates spricht an dieser Stelle nicht ausdr¨ ucklich vom Selbst“, sondern vom Ich“ bzw. von Sokrates“ ” ” ” (115c6, c8, d1, e3f.), von dem der K¨ orper zu unterscheiden ist (115e2, e8), aber die Bedeutung ist dieselbe: Die Szene soll darauf aufmerksam machen, dass das Selbst des Menschen nicht der K¨ orper ist, der nach dem Tod als Leichnam zur¨ uckbleibt, sondern die Seele – ob sie nun, wie Sokrates behauptet, fortgeht oder nicht. 64 Wenn das Selbst des Menschen seine Seele ist, dann wird auch sofort klar, inwiefern es Sokrates im Phaidon um Selbsterkenntnis geht. Das an Sokrates’ zweite Apologie ankn¨ upfende Gespr¨ ach handelt von der Unsterblichkeit der Seele, vor allem aber handelt es von der Seele: In dem Gespr¨ ach u uhen sich Sokrates und seine Gespr¨ achs¨ber die Seele bem¨ partner um Selbsterkenntnis. Hier ist nicht der Ort, den Gedankengang des Phaidon nachzuzeichnen, aber die wichtigsten Aspekte sind folgende: Im Kreislaufargument geht es um die Pr¨ a- und Postexistenz der Seele (70d-72d); die -Passage (72e-77a) zielt darauf, dass die Seele ein Verm¨ ogen ( ), genauer ein Erkenntnisverm¨ ogen hat (vgl. 70b3f.); in dem Affinit¨ atsargument (78b-80d) geht es um die Verwandtschaft von Seele und Ideen; in der Behandlung von Simmias’ Einwand, die Seele sei eine Harmonie (85e-86e, 91c-94e), geht es um die Priorit¨ at der Seele gegen¨ uber dem K¨ orper. In der Zweiten Fahrt (99d-102a) entwickelt Sokrates die methodische Unterscheidung von Bestimmtem und Bestimmtheit 65 , der abschließende Gedankengang (102b-106e) soll auf dieser Grundlage die Bestimmtheit der Seele, die Ursprung der Bewegung von Lebewesen ist, angeben. Die Bestimmung des Begriffs der Seele und ihrer Verm¨ ogen betrifft alle Menschen gleichermaßen, der Gegenstand der Selbsterkenntnis ist dabei etwas Allgemeines. Die spezifische Weise seines Mensch-Seins 63 64
Siehe Anmerkung 50 auf Seite 218. Zu der Position, die Sokrates Kriton unterstellt, vgl. Homer: Ilias I 3-5:
65
, viele tapfere Seelen der Heroen sandte er [der Zorn Achills] in den Hades, ” sie selbst aber ließ er den Hunden als Beute und den V¨ ogeln als Fraß“. Die Seelen kommen in den Hades, sie selbst werden Beute der Tiere, das Selbst eines Menschen ist bei Homer offenbar nicht die Seele, sondern der K¨ orper. Zu Homers Seelenkonzeption siehe Uhde (1980). F¨ ur diese Interpretation der Textstelle siehe Kapitel 1.2.
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begr¨ undet Sokrates an einer fr¨ uheren Stelle (60ef.) durch einen wiederkehrenden Traum, der auf je verschiedene Weise dasselbe sagte: Sokrates, ” sprach er, mach und treibe Musik“ (60e6). Die vom Traum gebotene Musenkunst hat Sokrates als Philosophie interpretiert, die die gr¨ oßte Mu” senkunst“ (61a3) sei. 66 Der Traum gibt an, was f¨ ur Sokrates das Seine“ ” ist, n¨ amlich Philosophie zu treiben. 67 ¨ Gegenstand der Rechenschaft u ¨ber sich selbst ist nach diesen Uberlegungen ein individuelles Mensch-Sein und das diesem Mensch-Sein spezifisch Gute. Erst auf dieser Grundlage ist die Betrachtung dessen sinnvoll, was f¨ ur Nikias im Vordergrund stand, n¨ amlich auf welche Weise jemand ” sowohl jetzt lebt als auch wie er vorher sein Leben gelebt hat“ (Laches 188a1f.). Wer sich u ur ihn Gute Rechen¨ber sein Mensch-Sein und das f¨ schaft geben kann, der hat in dem Begriff des Guten einen Maßstab zur Beurteilung der eigenen Lebensf¨ uhrung. Die Lebensf¨ uhrung ist Ausdruck dessen, was wir f¨ ur gut halten. Im Sinne der Analyse der Seelenverm¨ ogen in der Politeia (vgl. Kapitel 8.2) ist jedes der drei Seelenverm¨ ogen mit einer eigenen Art des Strebens verbunden. Wir begehren epithymetisch wahrnehmbare Dinge, die uns gut bzw. sch¨ on erscheinen. Wir ereifern uns thymetisch u ¨ber etwas, wenn wir der Meinung sind, dass diese Sache schlecht oder ungerecht ist, und streben nach dem, was wir f¨ ur gut oder ogens schließgerecht halten. Das Erkenntnisstreben unseres Denkverm¨ lich ist Ausdruck dessen, was wir f¨ ur wissenswert halten. Dieses dreifache Streben bestimmt unseren Lebensvollzug. Das darin zum Ausdruck kommende Verst¨ andnis des Guten k¨ onnen wir an unserem Begriff davon, was wir als das f¨ ur uns Gute erkannt haben, beurteilen. Ergebnis dieser Pr¨ ufung ist m¨ oglicherweise, dass unser Streben nicht dem als gut und damit erstrebenswert erkannten entspricht und wir – wie Nikias formuliert – nicht sch¨ on gehandelt haben oder handeln“ (188a8). Zu dieser Einsicht ” m¨ ussen Sokrates’ Gespr¨ achspartner selbst kommen, er beschr¨ ankt sich darauf, Hebamme f¨ ur die Einsicht seiner Gespr¨ achspartner zu sein, dass sie von dem f¨ ur sie Guten kein begr¨ undetes Wissen haben, und Hinweise darauf zu geben, in welcher Richtung dieses Gute zu suchen ist. 66
67
Als T¨ ochter des Zeus und der Mnemosyne wissen die Musen was war, was ist, und was sein wird (vgl. Hesiod: Theogonie 38). Wenn ein Mensch weiß, was er mit eigenen Augen gesehen hat, dann unterliegt er mit seinem Wissen raum-zeitlichen Beschr¨ ankungen, weil er nicht sehen kann, was an einem anderen Ort bzw. zu anderer Zeit passiert. Die Musen besingen die G¨ otter, allen voran Zeus (vgl. Hesiod: Theogonie 11ff.), wobei ihr Wissen von den G¨ ottern raum-zeitlichen Beschr¨ ankungen nicht unterliegt. Sokrates bezeichnet die Philosophie als gr¨ oßte Musenkunst“, weil die Philosophie ein ” Wissen von G¨ ottern“ vermittelt, das u ankungen erhaben ¨ber raum-zeitliche Beschr¨ ” ist: die Ideenerkenntnis. Der Grund daf¨ ur ist, dass die Ideen sich weder an einem Ort im Raum befinden, noch der Zeit unterworfen sind. In der Apologie (23b, 28ef., 33c) f¨ uhrt er es auf die Anweisung des Orakels zur¨ uck.
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Laches macht im Folgenden den Zusammenhang zwischen unseren Reden und unseren Handlungen zu dem Kriterium der Unterscheidung zwischen solchen Reden, die er sch¨ atzt, und solchen, die er ablehnt: Wenn ich n¨ amlich u ¨ber die Tugend oder u ¨ber irgendeine Art der Weisheit einen Mann reden h¨ ore, der wirklich ein Mann ist und der Reden wert, welche er spricht, dann freue ich mich u ¨ber die Maßen, zugleich den Redenden und seine Reden betrachtend, wie beide zusammengeh¨ oren und stimmen; und ein solcher scheint mir eigentlich ein musischer Mann zu sein, im sch¨ onsten Einklang gestimmt, nicht die Leier oder sonst ein Werkzeug des Spiels, sondern wahrhaft zu leben, sein eigenes Leben zusammenklingend mit den Worten die Werke, echt dorisch, nicht jonisch, auch, glaube ich, nicht phrygisch oder lydisch, sondern nach jener einzigen echt hellenischen Tonart. 68 (Laches 188c6-d8)
Gegenstand der Reden, u ¨ber die Laches hier spricht, ist die Tugend, d. h. es geht hier um die Erkl¨ arung, die jemand davon gibt, was er f¨ ur das menschlich Gute h¨ alt. Sokrates beurteilt das Gute, das ein Gespr¨ achspartner angibt, danach, ob er es erkl¨ aren und in der Befragung konsistent Rechenschaft davon ablegen kann. Sokrates versteht dieses Gute als eine Bestimmtheit; wenn die Erkl¨ arungen des Gespr¨ achspartners widerspr¨ uchlich sind, er also zugleich dieses und nicht dieses behauptet, dann sagt er nicht etwas, d. h. es kann sich bei dem vermeintlich Guten um keine Bestimmtheit handeln – a fortiori handelt es sich dann auch nicht um die Bestimmtheit eines Gutes. Wenn es sich umgekehrt bei dem Angegebenen um eine Bestimmtheit handelt, dann sagt der Gespr¨ achspartner etwas Bestimmtes und widerspricht sich nicht. Sokrates u uft die Rede anhand ¨berpr¨ des formalen Kriteriums des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch. Dennoch handelt es sich beim sokratischen Gespr¨ ach niemals nur um eine formale Pr¨ ufung. Das w¨ are der Fall, wenn Sokrates das Gesagte allein darauf pr¨ ufte, ob damit etwas gesagt ist, d. h. ob eine Bestimmtheit angegeben wurde. Zielpunkt des sokratischen Fragens ist aber, ob es sich bei der angegebenen Bestimmtheit um die Bestimmtheit eines Guten handelt; da es f¨ ur diese Pr¨ ufung an einem dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch vergleichbaren Kriterium mangelt 69 , verwendet Sokrates als Pr¨ ufungskriterium andere Meinungen des Gespr¨ achspartners davon, was gut ist und was nicht. Formal handelt es sich also auch hier um eine Pr¨ ufung der Konsistenz von Meinungen. Laches beurteilt den angegebenen Tugendbegriff anhand der Handlungen des Redners. Anders als Sokrates geht es ihm nicht darum, eine Bestimmtheit zu erkennen, weshalb er die Meinungen des Redners auch nicht 68 69
Zitiert nach Eigler (1990, Bd. 1, S. 247ff.). Der Satz vom zu vermeideneden Widerspruch zeichnet sich dadurch aus, dass er sich nicht bestreiten l¨ asst, weil er – wie Aristoteles bemerkt – im Widerlegungsversuch vorausgesetzt wird. Vgl. dazu Metaphysik Γ 4, 1006a11ff.
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auf Konsistenz pr¨ uft. Platon schildert Laches als einen Mann der Praxis: Er pr¨ uft die Meinungen des Redners vom menschlich Guten darauf, ob sie mit einer tugendhaften Praxis verbunden sind. Wenn die ge¨ außerten Meinungen u ¨ber die Tugend richtig sind, wenn sie also die menschliche Bestheit richtig angeben, dann m¨ ussen sie auch zu einer tugendhaften ¨ Praxis f¨ uhren. Diese berechtigte Uberzeugung steht hinter dem von Laches angegebenen Kriterium. Aber Laches reflektiert diesen Zusammenhang nicht, weshalb er eine wichtige Unterscheidung nicht vornimmt. Mit ¨ Laches k¨ onnen wir zwar an der Uberzeugung festhalten, dass das Fehlen einer tugendhaften Praxis einen Ratgeber in Fragen der Tugend disqualifiziert. Aber Laches’ eigenes Beispiel zeigt, dass praktische Erfolge und eine bis dahin tugendhafte Praxis kein hinreichendes Kriterium sind, an dem man einen kompetenten Ratgeber erkennt: Platon l¨ asst Laches zu einem Zeitpunkt auftreten, zu dem er kurz vor dem Zenit seiner Karriere steht. Laches kann zu diesem Zeitpunkt durchaus auf eine milit¨ arisch erfolgreiche Praxis verweisen. Aufgrund dieser Erfolge ziehen ihn Lysimachos und Melesias als Ratgeber heran, und aufgrund dieser Erfolge h¨ alt Laches sich selbst f¨ ur einen kompetenten Ratgeber. Aber der Leser weiß mehr als die dramatis personae zum Zeitpunkt ihres Zusammentreffens, er ist nicht nur u uheren Erfolge informiert, sondern auch u ¨ber Laches’ fr¨ ¨ber sein strategisches Versagen in der Schlacht bei Mantineia 418 v. Chr., das ihn sein Leben kosten wird. 70 Laches war in dieser Schlacht einer der Feldherren. Die Truppen von Athen und ihren Verb¨ undeten hielten vor der Schlacht einen steilen H¨ ugel besetzt, der ihnen im Falle der Schlacht eine vorteilhafte Ausgangsposition gew¨ ahrt h¨ atte; weil aber die Truppen ungeduldig waren und auf eine baldige Schlacht dr¨ angten, haben die Feldherren diesen Vorteil aufgegeben, die Truppen von dem H¨ ugel herabsteigen lassen und sich den Spartanern und ihren Verb¨ undeten in der Ebene zur Schlacht gestellt. Sokrates spielt darauf im Laches (193a) an. Es geht an dieser Stelle um Laches’ Bestimmung der Tapferkeit als einer verst¨ andigen Beharrlichkeit“ ( ” 192d11f.). Sokrates fragt Laches, ob eher derjenige tapfer ist, der in der ¨ Erwartung von Hilftruppen, in Uberzahl, mit besseren Truppen und von einem g¨ unstigen Standort aus seinen Vorteil verst¨ andig berechnet und daher beharrlich k¨ ampft, oder ein Soldat aus dem gegen¨ uberstehenden Heer. Als erfahrener Feldherr weiß Laches um die Bedeutung eines strategischen Vorteils; gemeinsam mit den u uhrern h¨ atte er angesichts der ¨brigen Heerf¨ Ungeduld ihrer Truppen verst¨ andig darauf beharren m¨ ussen, die vorteilhafte Position nicht aufzugeben. Laches’ Verhalten bei Mantineia steht 70
Vgl. dazu Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges V 61, 65ff., 74, Cron (1891, S. 3f.) und Schmid (1992, S. 13f., 122f.).
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nicht im Einklang mit seinen Worten im Laches: Nach seinem eigenen Kriterium ist er zur Erkl¨ arung der Tapferkeit nicht kompetent. Die eigentliche Bedeutung der Laches in den Mund gelegten Forderung nach einem harmonischen Zusammenstimmen von Worten und Handlungen liegt aber nicht darin, ihn selbst als kompetenten Ratgeber zu disqualifizieren. Das ist eher ein Nebeneffekt, der um des Kontrastes willen n¨ utzlich ist. Laches benutzt sein Kriterium zun¨ achst zur Beurteilung von Sokrates, der ihm von fr¨ uher her als Soldat bekannt ist, denn nach der Niederlage bei Delion sind beide gemeinsam geflohen. Auf der Flucht zeichnete Sokrates sich durch besondere Tapferkeit aus (188e5-189a1). 71 Aufgrund dieser Erfahrung ist Laches gerne bereit, Sokrates als Ratgeber in Fragen der Tapferkeit zu akzeptieren. Sokrates wird durch Laches’ Verweis auf die Ereignisse bei Delion indirekt als tapfer charakterisiert. Sokrates’ Tapferkeit ist in dem Dialog u ¨ber die Tapferkeit aber nicht nur durch indirekte Schilderungen pr¨ asent, sie zeigt sich auch in seinem Verhalten: Als Laches und Sokrates mit ihrer Bestimmung der Tapferkeit in Aporie geraten, verweist Sokrates auf die von Laches geforderte Zusammenstimmung von Reden und Handlungen: In der Tat ( ) n¨ amlich, ” wie es scheint, m¨ ochte wohl einer sagen, dass wir an der Tapferkeit teilh¨ atten, in der Rede ( ) aber, wie ich glaube, wohl nicht, wenn er h¨ ort, wie wir uns jetzt unterhalten haben.“ (193e2-4). Die Tat, von der Sokrates spricht, ist die Flucht nach der Schlacht bei Delion, aber die Tat, f¨ ur die er Laches durch diesen Hinweis gewinnen m¨ ochte, ist eine andere: Sokrates verlangt von Laches, dass sie nun seiner Rede gehorchen, n¨ amlich der Rede, die zu beharren befiehlt“ (194a1). In seiner Rede hatte ” Laches die Tapferkeit als Beharrlichkeit bestimmt, jetzt fordert Sokrates diese Beharrlichkeit in der philosophischen Untersuchung von Laches ein. Aber die wechselseitige Spiegelung von Reden und Handlungen geht noch weiter: In seiner Antwort versichert Laches Sokrates seiner Beharrlichkeit (194a), tats¨ achlich wird er aus dem gemeinsamen Gespr¨ ach aber bald aussteigen (196c5). Laches kontrastiert damit Sokrates, der die Beharrlichkeit in der philosophischen Untersuchung nicht nur fordert, sondern diese Forderung in seinem Gespr¨ achsverhalten auch einl¨ ost. Platon hat Laches die Forderung nach dem Zusammenstimmen von Reden und Handlungen in den Mund gelegt, um die Erf¨ ullung dieser Forderung bei Sokrates hervorzuheben. Sokrates ist Platons Paradigma eines tugendhaften und philosophischen Menschen, bei ihm stimmen Worte und Handlungen stets in der sch¨ onsten Harmonie“ ( 188d3) ” zusammen. 72 Wenn wir die Lehre von den drei Seelenverm¨ ogen heran71 72
Vgl. dazu Laches 181b1-4 und Symposion 221af. Vgl. Politeia 554e5f., wo die wahre Tugend als Harmonie der Seele bestimmt wird, und Picht (1996b, S. 91).
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ziehen 73 , k¨ onnen wir auch erkennen, worin diese Harmonie gr¨ undet: Alle drei Seelenverm¨ ogen sind soweit kultiviert, dass sich ihr Streben auf den jeweils eigent¨ umlichen Bereich beschr¨ ankt. Sokrates ist nicht frei von epithymetischem Begehren, aber er l¨ asst sich von dieser Begierde nicht beherrschen. 74 Seine Affekte geraten nicht in ¨ außerster Erregung, Sokrates ist niemals außer sich vor Zorn, Wut, Furcht oder Freude, aber er ist deswegen nicht frei von Affekten: Auf der Flucht nach der Niederlage bei Delion l¨ asst er den Mut ebensowenig sinken wie angesichts einer Aporie im Gespr¨ ach. In der Politeia (440d2f.) vergleicht Sokrates die Affekte mit Hunden, die vom Hirten, der Vernunft, zur¨ uckgerufen werden; Parmenides vergleicht den Eifer des jungen Sokrates beim nachsetzen und verfolgen eines Gedankens in der philosophischen Untersuchung mit spartanischen Hunden (Parmenides 128c1). Der Vergleich bringt zum Ausdruck, dass Sokrates in seinem Eifer einerseits beharrlich ist und nicht nachl¨ asst, andererseits aber wie ein Hund die richtige F¨ ahrte nicht verliert. Auf die Spitze treibt Platon die Darstellung der Kultivierung seiner Affekte im Phaidon: W¨ ahrend alle seine Freunde angesichts dessen, was passieren wird, in ihrer Trauer nicht mehr an sich halten k¨ onnen und weinen, bewahrt Sokrates ruhige Gelassenheit (Phaidon 117d). Er u ¨bergeht die Mahnung, sich nicht zu unterhalten, damit er sich im Gespr¨ ach nicht zu sehr errege. Hintergrund dieser Mahnung ist, dass erregte Menschen mitunter mehr als eine Portion von dem Gift des Schierlings brauchen. Am Ende des Tages aber hat Sokrates sich in dem Gespr¨ ach u ¨ber die Unsterblichkeit der Seele, das insbesondere ein Gespr¨ ach u ¨ber die Unsterblichkeit seiner Seele ist, nicht so sehr erregt, dass er mehr als eine Portion br¨ auchte (63de, 117aff.). Weil seine Begierden und Affekte kultiviert sind, dr¨ angen sie ihn nicht unwiderstehlich zu Handlungen, die der als richtig erkannten Handlungweise nicht entsprechen. Entscheidend f¨ ur die Harmonie von Worten und Taten ist die Einsicht in das menschlich Gute und nach dieser Einsicht auch zu handeln (Symposion 219a8-b2). Das setzt aber voraus, dass das in der Rede als gut angegebene auch wirklich als das f¨ ur den Menschen Gute erkannt wird. uhen und die Bestimmung der Tugend. Dieser Einsicht gilt Sokrates’ Bem¨ Auch wenn die richtige Einsicht im Zentrum des tugendhaften Lebensvollzuges steht, ist diese Tugendkonzeption nicht intellektualistisch“ zu ” nennen. 75 Es ist zwar prim¨ ar das denkende Seelenverm¨ ogen, das sich um das fragliche Wissen bem¨ uht, aber die Art des Wissens, um die es im Falle des Tugendwissens geht, ist keine rein intellektuelle Erkenntnis. Um zu er73 74 75
Vgl. dazu Kapitel 8.2. Vgl. Charmides 154a-e, 155d, Phaidon 116e und Symposion 217a-219d, insb. 219b1f. Zu den Formen des Intellektualismus-Vorwurfs vgl. Segvic (2000, S. 2) und Gould (1955, S. 4-6).
Exkurs zur Einheit von Theorie und Praxis: Laches 187e-189a
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kennen, das eine intellektuell richtige Bestimmung des menschlich Guten, tats¨ achlich das f¨ ur den Menschen Gute angibt, bedarf es mehr als eines Eingest¨ andnisses im philosophischen Gespr¨ ach, dass eine vorgeschlagene Bestimmung der Tugend richtig ist. Sokrates geht dieselbe Sache deshalb immer wieder und unter verschiedenen Gesichtspunkten durch, Reichtum und Vielfalt der dabei angef¨ uhrten Beispiele zeigen, wieviel Lebenserfah¨ rung in solche Uberlegungen eingeht. Die dabei beanspruchte Lebenserfahrung betrifft nicht allein das denkende Seelenverm¨ ogen – Lebenserfahrung ist auch, aber nicht nur Denkerfahrung –, sondern die Gesamtheit menschlichen Strebens und Handelns sowie die Kenntnis und Bewertung der damit verbundenen Konsequenzen. Die Beachtung des Tugendwissens in Streben und Handeln obliegt allen drei Seelenverm¨ ogen. Platon konzipiert das im Falle des begehrenden und eifrigen Seelenverm¨ ogens aber nicht naiv so, als w¨ urde die intellektuelle Einsicht unmittelbar auch das Streben dieser beiden Seelenverm¨ ogen bestimmen. Nach Platons Ansicht handelt es sich zwar um drei verschiedenen Seelenverm¨ ogen, die aber nicht unabh¨ angig voneinander sind. Wenn die Vernunft Begehren und Eifer beeinflussen kann, dann er¨ offnet das zumindest die M¨ oglichkeit, sie mittelbar an dem als gut und erstrebenswert Erkannten zu orientieren. 76 ¨ Aus diesen Uberlegungen wird nun deutlich, warum nach Platon niemand freiwillig“ ( ) unrecht tut. 77 Das Streben ist mit der Meinung ” verbunden, das Erstrebte sei etwas Gutes. Wir unterscheiden die Sache dabei von dem, was wir f¨ ur schlecht halten. Erbracht werden solche Unterscheidungsleistungen nicht nur vom denkenden, sondern auch vom eifrigen und begehrenden Seelenverm¨ ogen. Eine solche Unterscheidungsleistung ist nicht unbedingt bewusst, meistens l¨ auft sie sogar unbewusst ab, aber sobald man die Unterscheidungsleistung bewusst macht und in einem Satz artikuliert, handelt es sich um eine Meinung im terminologischen Sinne der Subsumtion von Einzelnem unter einen Allgemeinbegriff. Wer nach etwas Schlechtem strebt, tut das in der irrt¨ umlichen Meinung, dieses Schlechte sei etwas Gutes. Hierbei ist zu beachten, dass sich beim Guten niemand mit dem Schein desselben begn¨ ugt (Politeia 505d9f.), 76
77
In diesem Sinne k¨ onnen wir auch Schleiermacher (1996, S. 116f.) zustimmen, wenn er in seiner Einleitung zum Laches feststellt: Denn was in seiner Unschuld Laches u ¨ber ” ¨ das Wesen der sittlichen Weisheit sagt als Harmonie der Seele und Ubereinstimmung des Wissens und Lebens, dies ist der rechte Schl¨ ussel zu der Platonischen Theorie der Tugend, und wie er es meinen k¨ onne, daß sie eine Erkenntnis sei oder ein Wissen.“ Platon spricht davon an zahlreichen Stellen: Apologie 25df., Protagoras 345df., 352bff., 357dff., Gorgias 466dff., 488a, 499ef., 509e, Menon 77bff., Symposion 205a, Politeia 336e, 382a, 412ef., 444af., 577d, 589c, Sophistes 228c, 230a, Philebos 22b, Timaios 86df., Nomoi 731c, 734b, 860dff. Hilfreich zum Verst¨ andnis dieser Lehre ist Segvic (2000); die Analysen von Meinung und Wissen in Kapitel 8.1 und der drei Seelenverm¨ ogen in Kapitel 8.2 scheinen mir allerdings ein vertieftes Verst¨ andnis der Voraussetzungen dieser Lehre zu erm¨ oglichen.
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Zum Zusammenhang zwischen Tugend und Wissen
d. h. wir verfolgen in unseren Handlungen dasjenige, was wir wirklich f¨ ur gut halten, nicht aber was wir in Wirklichkeit f¨ ur schlecht halten, anderen gegen¨ uber aber als gut erscheint. Unrecht tun ist also immer mit einer falschen Unterscheidungsleistung verbunden, die – als Urteil artikuliert – eine irrt¨ umliche Subsumtion dessen, wonach man strebt, unter den Begriff des Guten ist. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob der Fehler in der Subsumtion des Einzelnen unter den Allgemeinbegriff liegt, oder ob wir einen unzureichenden Allgemeinbegriff des Guten zugrunde gelegt haben. F¨ ur den menschlich kaum erreichbaren Grenzfall ist klar: Wer u ¨ber ¨ Wissen von der Bestimmtheit des Guten im Sinne der intensiven Uberf¨ ulle aller Seinsm¨ oglichkeiten verf¨ ugte, dem w¨ urde bei der Subsumtion von Einzelnem unter den Begriff des Guten schwerlich ein Fehler unterlaufen; wer in seinen Begierden und Affekten entsprechend kultiviert w¨ are, der begehrte oder ereiferte sich kaum f¨ ur eine Sache, die solche Erregung nicht wert w¨ are. 78 Das ¨ andert aber nichts daran, dass unser Handeln prinzipiell auf Unterscheidungsleistungen und Meinungen beruht, die irrtumsanf¨ allig sind. Die M¨ oglichkeit einer unrechten Handlung l¨ asst sich nicht ausschließen, aber sie entspringt nicht dem Streben nach etwas Schlechtem, sondern aus einem Irrtum. Dem scheinbaren Paradox, dass niemand freiwillig unrecht tue, liegt also ein besonderes Verst¨ andnis des Wollens“ ” zugrunde 79 : Es handelt sich dabei um das Streben einer Person, die u ¨ber ein intensives Verst¨ andnis der Bestimmtheit des Guten verf¨ ugt und deren Begierden und Affekte entsprechend kultiviert sind. Das Streben einer solchen Person ist in einem pr¨ agnanten Sinne mit richtigen Meinungen verbunden. Sokrates leugnet nicht, dass Menschen aufgrund falscher Meinung nach etwas streben, das nur vermeintlich gut ist, und deshalb unrecht tun; aber er leugnet sehr wohl, dass jemand u ag¨ber eine (im pr¨ nanten Sinne) richtige Meinung dar¨ uber verf¨ ugt, dass eine Sache nicht gut ist, sie in seiner Handlung aber dennoch erstrebt. Erst in der Auspr¨ agung der Tugend handelt der Mensch aus Einsicht und verwirklicht seine Freiheit. 80 Deshalb kann Sokrates feststellen: nicht freiwillig fehle ich, ” sondern aus meiner Unwissenheit“ ( , Gorgias 488a3f.). 78
79 80
Das ist der Grund, warum nach Platon ein Staat am besten von Philosophen beherrscht wird. Bei den Philosophen, an die Platon dabei denkt, handelt es sich genau um solche F¨ alle menschlicher Vollkommenheit. Segvic (2000, S. 9ff.) spricht in diesem Zusammenhang von Socratic wanting“. ” Nach dieser Konzeption der Freiheit des Einzelnen ist sie nicht ein quasi naturgegebenes Faktum, sondern Aufgabe. Frei ist ein Mensch danach in dem Maße, in dem er aus Charakter und Einsicht heraus handelt. Zu dieser Konzeption der Freiheit vgl. Picht (1996b, S. 89) und Schmitt (2003, S. 382).
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In der Tugend sind Wissen und Handeln untrennbar miteinander verbunden, ihre wechselseitige Abh¨ angigkeit ist Grund der Einheit von Theorie und Praxis in der Platonischen Philosophie. Bei dem fraglichen Wissen handelt es sich um Ideenerkenntnis und insbesondere um die Erkenntnis der Tugendideen. Platon erw¨ ahnt die Idee des Menschen nur an wenigen Stellen 81 , das bedeutet aber nicht, dass Platon auf die Bestimmtheit des Menschen nicht reflektiert h¨ atte oder das Mensch-Sein gar nicht f¨ ur eine Bestimmtheit halten w¨ urde. Es ist im Gegenteil so, dass die Diskussion der Tugendideen insgesamt als Versuch der Entfaltung der Bestimmtheit des Menschen zu verstehen ist. Die Erkenntnis der Tugendideen ist nach dieser ¨ Uberlegung nichts anderes als Selbsterkenntnis: Der Mensch erkennt sich darin als das, was er seinem Wesen nach ist. Mit dieser Erkenntnis ist die Einsicht verbunden, wie weit er hinter seinen M¨ oglichkeiten zur¨ uckbleibt. Die Einsicht in das menschlich Gute ist dem Menschen nicht ¨ außerlich, sie ist nichts zu seinem Mensch-Sein bloß Hinzukommendes. F¨ ur jegliche Erkenntnis gilt, dass sie den erkennenden Menschen ver¨ andert, aber f¨ ur das menschlich Gute gilt das in einem anderen Maße als zum Beispiel f¨ ur die Innenwinkelsumme im euklidischen Dreieck. Die Erkenntnis des menschlich Guten setzt einen gewissen Lebensvollzug voraus und wirkt auf ihn zur¨ uck. Den untrennbaren Zusammenhang von Wissen und Handeln haben wir nicht dadurch gewonnen, dass wir Wissen als dasjenige definiert haben, was zum moralischen Handeln bef¨ ahigt, so dass der Zusammenhang von Wissen und Handeln zu einer baren Tautologie“ 82 w¨ urde. Wir ” haben diesen Zusammenhang vielmehr dadurch gewonnen, dass wir Platon in seiner Analyse der Seelenverm¨ ogen gefolgt sind. Platons Begriff des menschlich Guten entspringt der Beurteilung des jeweils eigent¨ umlichen Werkes dieser Verm¨ ogen und der damit verbundenen M¨ oglichkeit ihres Zusammenspiels im Ganzen der Seele. Das Wissen, um dessen Vermittlung Platon sich bem¨ uht, ist derart, dass sich die Einsicht nicht erzwingen l¨ asst. Das gilt weniger f¨ ur die Zugrundelegung der Bestimmtheit im Phaidon (100b5f.), wohl aber f¨ ur die inhaltliche“ Angabe der Bestimmtheiten. Die Einsicht in das menschlich ” Gute kann nicht erzwungen werden. Das Wissen davon hat nicht den Cha¨ rakter zwingender Notwendigkeit, sondern den der Uberzeugung ( ). Die dialogische Form der Texte tr¨ agt der Art des zu kommunizierenden ¨ Wissens Rechnung. Platon inszeniert die Uberzeugungsarbeit in philo81 82
Vgl. dazu Kapitel 5.3. Patzig (1970, S. 125). Patzig behauptet in diesem Zusammenhang, dass wir“ Pla” ton nicht mehr folgen k¨ onnten in seiner Zuversicht, eine vertiefte Einsicht in die ” Wirklichkeit m¨ usse zugleich auch ein moralischer Aufstieg sein.“ Weil die Erkenntnis der Tugendideen im Platonischen Sinne eine vertiefte Einsicht in die Wirklichkeit ist, scheint es durchaus zweifelhaft, ob wir Patzig in dieser Einsch¨ atzung noch folgen k¨ onnen.
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Zum Zusammenhang zwischen Tugend und Wissen
sophischen Dramen. Die Personen eines Dramas sprechen nicht nur, sie handeln auch. Die Dialogteilnehmer ¨ außern sich auf zwei Ebenen, n¨ amlich in dem, was sie sagen, und in dem, was sie tun. Die dramatische Form ¨ erlaubt Platon, die Außerungen seiner Figuren in ihren Handlungen zu spiegeln und dem Leser dadurch etwas zu zeigen: die Verflechtung von ¨ Wissen und Handeln. Die Dialogfigur Sokrates artikuliert die Uberzeugung nicht nur, sondern zeigt sie auch; Worte und Taten sind bei Sokrates in sch¨ onster Harmonie“. Andere Dialogfiguren, z. B. Laches, verf¨ ugen ” nicht u ¨ber das fragliche Wissen. Ihre Worte und Taten treten auseinander, sie k¨ onnen keine Rechenschaft von ihrer eigenen Praxis ablegen und geraten bei dem Versuch in Widerspruch zu ihren eigenen Worten. Platon zeigt an diesen Figuren, zu welcher Praxis die Art ihres Wissen f¨ uhrt und welche Beschr¨ ankungen dem Wissenserwerb durch diese Praxis auferlegt sind.
9 Zur Platonischen Angleichung an Gott In den vorangegangenen Kapiteln haben wir die theoretische und die praktische Seite von Platons Philosophie betrachtet. Theorie und Praxis sind zwei Weisen seelischer Bet¨ atigung, wobei es im ersten Falle um die Erkenntnis der Ideen und im zweiten Falle um die Verwirklichung der Tugendideen im Lebensvollzug geht. Von dieser theoretisch-praktischen Bet¨ atigung spricht Platon als Angleichung an Gott“ ( ). Der ” Gott, um den es dabei geht, sind die Ideen, die im Denken erkannt und in der Praxis realisiert werden. Dass Platon von dieser seelischen T¨ atigkeit als einer Angleichung“ spricht, weist auf das Abbildverh¨ altnis zwischen ” Seele und Ideen hin. Im Folgenden werden wir die relevanten Textstellen einzeln betrachten.
9.1 Theaitetos 176af. Klassische Belegstelle f¨ ur die Angleichung an Gott ist Theaitetos 176af. 1 Im Kontext geht es um zwei verschiedene Lebensweisen: eine philosophische und eine unphilosophische. Wer dieser unphilosophischen Lebensweise nachgeht, der h¨ alt sich von Jugend an in den Gerichtsst¨ atten auf; seine Reden sind den Zw¨ angen eines Gerichtsverfahrens unterworfen, sie beziehen sich auf die Gegenpartei und gelten den Richtern. Er lernt dabei zwar, den Richtern durch Worte zu schmeicheln und sich durch Taten in ihre Gunst einzuschleichen, aber weil er das Gerechte und Wahre verletzt, nimmt er dabei Schaden an der Seele. F¨ ur philosophische Untersuchungen, wie ihnen die Gespr¨ achspartner im Theaitetos nachgehen, fehlt ihm die Muße; gleichwohl h¨ alt er sich, zum Mann geworden, f¨ ur weise (172c-173b). Wer dagegen einer philosophischen Lebensweise nachgeht, kennt von Jugend auf weder den Weg zum Markt, noch den zum 1
F¨ ur die ¨ altere Kommentarliteratur zur Platonischen Angleichung an Gott siehe Rutenber (1946, S. 8-10), seither sind vor allem Merki (1952, S. 1-7), Verdenius (1954, S. 256-271), Herter (1975), Passmore (1970, S. 12f., 39-45), Roloff (1970, S. 200-205), Belletti (1982), Sedley (1997), Sharafat (1998, S. 164-171), Sedley (1999), Annas (1999, S. 52-71), Sch¨ opsdau (2003, S. 204-212) und Armstrong (2004) zu beachten.
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Zur Platonischen Angleichung an Gott
¨ Gerichts- oder Ratsgeb¨ aude. Er bem¨ uht sich nicht um ¨ offentliche Amter und besucht auch keine Gelage mit Fl¨ otenspielerinnen; was die unphilosophischen Menschen f¨ ur wichtig halten, interessiert ihn nicht, statt dessen besch¨ aftigt er sich mit Geometrie und Astronomie. Er kann niemanden mit Schm¨ ahungen beschimpfen, weil er von niemandem etwas Schlechtes weiß. Selbst was sein Nachbar treibt, weiß er nicht; was aber der Mensch ist und was einer menschlichen Natur anders als allen anderen zu tun und zu leiden ziemt, das untersucht er (173c-174c). Im Anschluss an diese Gegen¨ uberstellung unterscheidet Sokrates zwei Bereiche, n¨ amlich den bei ” den G¨ ottern“ und den der sterblichen Natur“; w¨ ahrend das Schlechte in ” ersterem keinen Ort habe, k¨ onne es in letzterem nicht vernichtet werden, weil dort dem Guten notwendig immer etwas entgegengesetzt sei. Deshalb sei es n¨ otig, m¨ oglichst schnell von hierhin dorthin zu fliehen“ ( ” 176b1): Die Flucht ist die Angleichung an Gott soweit m¨ oglich“ ( ” 176b1f.). Die Angleichung besteht darin, gerecht und fromm mit Einsicht“ ( ” 176b2f.) zu werden. Die Konzeption der Angleichung an Gott wirft verschiedene Fragen auf: Ist sie so zu verstehen, dass sie gerade nicht in der Erf¨ ullung der menschlichen Natur besteht, sondern darin, etwas anderes zu werden als das, was der Mensch seinem Wesen nach ist? Ist das von Sokrates geschilderte philosophische Leben nicht inkonsistent mit der Darstellung der Sokrates-Figur an anderen Stellen und dem Ideal des philosophischen Lebens in der Politeia? 2 Wie ist die Flucht“ zu verstehen, handelt es ” sich um eine Flucht vor dem menschlichen Leben, von der Erde zum Himmel? 3 Sokrates spricht zweifellos von einer Flucht“, und der Kon” text zeigt, dass es sich um eine Flucht vor dem Bereich der sterblichen ” Natur“ hin zum Bereich bei den G¨ ottern“ handelt. Zweifelhaft ist aber, ” ob dabei tats¨ achlich an eine Weltflucht zu denken ist, an deren Ziel der Philosoph nicht mehr als leibliches Lebewesen auf der Erde weilt, sondern – wie Annas nahe legt – im Himmel. Wovor flieht der Philosoph? In Sokrates’ Schilderung kennt er weder den Weg zum Marktplatz, noch weiß 2 3
Diese beiden Fragen wirft Annas (1999, S. 52f., 56) auf. So versteht es zumindest Annas (1999, S. 59). Annas (1999, S. 60) spricht in diesem Zusammenhang von Platons unworldliness“ und verweist auf ¨ ahnliche Gedanken im ” Phaidon. Armstrong (2004, S. 172, 182) spricht von Platons otherworldliness“, auf” grund derer er Platon f¨ ur einen escapist“ h¨ alt. Belletti (1982, S. 940) interpretiert die ” Angleichung an Gott als fuga dal mondo sensibile ed approdo ad una vita ultrater” rena“. Leider f¨ uhrt keiner von ihnen aus, was unter jener anderen Welt zu verstehen ist, in die der fl¨ uchtende Philosoph sich rettet. Unklar bleibt ferner, ob die Flucht mit einem Ende der leiblichen Existenz verbunden ist. Im Phaidon (64a5f.) behauptet Sokrates zwar, ein Philosoph strebe nach nichts anderem, als zu sterben und tot zu sein, aber er bestimmt den Tod im Folgenden nicht als Ende der leiblichen Existenz, sondern als tugendhaftes Leben.
Theaitetos 176af.
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er, wo Gerichts- oder Ratsgeb¨ aude stehen. In den beiden letzten F¨ allen ist klar, dass es nicht um die Ortskenntnis des Philosophen geht, sondern darum, dass ihm die notorische Klagefreudigkeit der Athener fremd ist und er sich auch um die politischen Angelegenheiten der Stadt nicht k¨ ummert. Es bietet sich an, auch die Unkenntnis des Weges zur Agora nicht so zu verstehen, dass der Philosoph einem Ortsfremden den Weg dorthin nicht angeben k¨ onnte, sondern dass er sich vielmehr um die Art des ¨ offentlichen Lebens, die dort gepflegt wird, nicht k¨ ummert. Woran dabei zu denken ist, l¨ asst sich der Schilderung entnehmen: Wenn er seinen Nachbarn kaum kennt und u ¨ber niemanden etwas Schlechtes weiß, dann beteiligt er sich offenbar nicht an dem, was man gemeinhin als Gere” de“ bezeichnet. Dasjenige, wovor der Philosoph flieht, ist also nicht gleich das ganze irdische Leben, sondern lediglich das Gerede der Leute, ihre Gerichtsh¨ andel, ihre politischen Angelegenheiten und, darauf verweisen die Gelage mit Fl¨ otenspielerinnen, ihre leibbezogenen Lustbarkeiten. Mit dergleichen besch¨ aftigen sich weder der von Platon geschilderte Sokrates noch die Philosophenk¨ onige der Politeia. Die Philosophenk¨ onige sollen sich zwar um Politik k¨ ummern, aber sie k¨ onnen das nur unter den Bedingungen des in der Politeia geschilderten Idealstaates (Politeia 491aff., 497bf.), und selbst dann tun sie es eher widerwillig (Politeia 519c-521b). Wenn der Philosoph im Theaitetos in den Augen der Leute l¨ acherlich erscheint, weil er in deren Angelegenheiten ratlos ist, dann ist nicht zu vergessen, dass es zun¨ achst auch den Philosophen des H¨ ohlengleichnisses nicht besser geht, wenn sie in die H¨ ohle zur¨ uckkehren (vgl. Politeia 517a2). Der Philosoph flieht vor allen Besch¨ aftigungen, die mit einem tugendhaften Lebensvollzug nicht vereinbar sind. Damit ist zwar erkl¨ art, wovor der Philosoph flieht, aber noch nicht, worin die Flucht eigentlich besteht und wohin er sich rettet. Die Angleichung an Gott vollzieht sich dadurch, dass er gerecht und fromm mit ” Einsicht“ ist. Was darunter zu verstehen ist, hat obige Diskussion der Tugend und des Tugendwissens bereits gezeigt. Der Philosoph des Theaitetos pflegt – auch darin ist er sowohl Sokrates als auch den Philosophenk¨ onigen der Politeia ¨ ahnlich – aus Einsicht in das f¨ ur den Menschen Gute einen tugendhaften Lebensvollzug. Seine Einsicht entspringt daraus, dass er sich mit der Frage besch¨ aftigt, was der Mensch ist und was einer menschlichen Natur zu tun und zu leiden ziemt (Theaitetos 174b4f.). Nichts anderes tut Sokrates im vierten Buch der Politeia: Die Frage, was der Mensch ist, liegt der Analyse der drei Seelenverm¨ ogen in der Politeia (437b-441c) zugrunde. Dieser Analyse folgt die Darstellung der Tugend (441cff.), die eine Antwort auf die zweite Frage, was einer menschlichen Natur zu tun ziemt, geben soll. Die Einsicht, nach der der Philosoph im Theaitetos strebt, ist keine andere als in der Politeia, in beiden F¨ allen geht
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Zur Platonischen Angleichung an Gott
es um Ideenerkenntnis, insbesondere die der Tugendideen. Damit wird auch verst¨ andlich, um was f¨ ur G¨ otter es sich handelt, in deren Bereich der Philosoph flieht. Diese G¨ otter, bei denen die Schlechtigkeit keinen Sitz hat, sind nicht die G¨ otter der Mythologie, die untereinander Krieg f¨ uhren und auch sonst vielerlei Untaten begehen (Politeia 377c-378d), oder die sichtbaren Gestirne (vgl. Timaios 40a-d und Nomoi 886a2f., 886d7f.), sondern die Ideen. 4 Da es weder vom B¨ osen noch von irgendetwas anderem Schlechten eine Idee gibt, hat das Schlechte im Bereich der Ideen keinen Platz. Der Ort, an den der Philosoph sich fl¨ uchtet, ist der Bereich der Ideen. Von einem Ort“ kann dabei nur im Sinne des u ¨berhimmli” ” schen Ortes“ (Phaidros 247c3) die Rede sein, also im Sinne eines Ortes, der kein r¨ aumlicher Ort mehr ist. An diesen Ort gelangt man nicht durch k¨ orperliche Fortbewegung, sondern im Denken der Ideen. Die Angleichung an Gott ist nicht so zu verstehen, als ob es darum ginge, statt der Erf¨ ullung der eigenen Natur etwas anderes zu werden, als man selbst ist. Die Angleichung an Gott ist der mit Einsicht verbundene tugendhafte Lebensvollzug. In der Tugend soll der Mensch aber nicht zu etwas anderem werden, als er seiner Anlage nach ist. Die Tugend ist keine Selbstentfremdung. Der Mensch soll vielmehr seine Bestheit verwirklichen und dabei im eigentlichen Sinne er selbst werden. 5 In der Verwirklichung der Tugendideen und im Denken der Ideen wird der Mensch den Ideen ¨ ahnlich“. Die Ahnlichkeit besteht nicht deswegen, weil die Ideen ein ide¨ ” altypisch tugendhafter Mensch w¨ aren, dem die Instanz eines tugendhaften ¨ Menschen ¨ ahnlich w¨ urde. Es geht nicht um die Ahnlichkeit verschiedener ¨ Instanzen einer Bestimmtheit, sondern um jene asymmetrische Ahnlich” keit“, die zwischen Bestimmtheit und Bestimmtem besteht: Die Instanz ist der Idee ¨ ahnlich, nicht aber die Idee der Instanz. 6 Bestimmtheit und 4
5
6
Dieser Identifizierung der Gottheit, um die es in der Angleichung an Gott geht, mit den Ideen hat insbesondere Herter (1975, S. 256-8) widersprochen. Richtig ist Herters Hinweis auf das Fehlen eines zuverl¨ assigen Beleges f¨ ur die Identifikation von Gottheit und Ideen. Schlechthin lassen sich bei Platon Ideen und Gottheit auch nicht identifizieren, aber das G¨ ottliche, um das es in der Angleichung an Gott geht, sind Ideen – nicht die mythischen G¨ otter oder die Gestirne. Die Ablehnung der Identifikation von Gottheit und Ideen f¨ uhrt bei Herter (1975, S. 257) zu der Feststellung: Verwandtschaft mit ” den Ideen und Verwandtschaft mit der Gottheit sind zwei Motive, die parallel laufen, aber sich nicht schneiden.“ Die menschliche Verwandtschaft mit den Ideen zeigt sich in Erkenntnis und Tugend; wenn man beides von der Angleichung an Gott trennt, bleibt von dieser nichts mehr u ¨brig. ¨ Ahnlich interpretieren das Verh¨ altnis von Angleichung an Gott und Selbstwerdung auch Belletti (1982, S. 944) und Sharafat (1998, S. 170). Die Gegenposition vertritt mit Bezug auf die Nomoi Kullmann (1962, S. 282), der ausf¨ uhrt: Auch der Philosoph ” gibt sein Selbst auf, wenn er ,nachahmt‘. D. h. die Angleichung an das G¨ ottliche oder Gottes Besitzergreifen von ihm sind mit der Aufgabe des Individuellen, der eigenen Mannigfaltigkeit und Besonderheit, verbunden.“ Vgl. dazu Kapitel 5.7.
Symposion 207e-209e
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Bestimmtes bleiben kategorial verschieden, das gilt auch f¨ ur einen tugendhaften Menschen im Verh¨ altnis zu den Tugendbestimmtheiten. Insofern der Mensch eine Instanz von Ideen ist, bleibt der kategoriale Unterschied erhalten, aber insofern der Mensch die Ideen denkt, verh¨ alt sich das anders: Die Ideen sind f¨ ur sich selbst denkbare Bestimmtheiten, die sich in ihrer Verflechtung miteinander zu geistiger Erscheinung bringen. Wenn der Mensch die Ideen denkt, die verschiedenen Bestimmtheiten voneinander differenziert und zueinander ins Verh¨ altnis setzt, dann tut er, was auch die Ideen f¨ ur sich selbst tun. Einem Menschen mag solches Ideendenken nur in endlicher Weise gelingen, er wird nicht alle Bestimmtheiten in ihrer vollkommen differenzierten Verflechtung zugleich denken k¨ onnen, aber im menschlichen Denken der Ideen ist die kategoriale Differenz aufgehoben. Das Denken der Ideen und die Verwirklichung der eigenen Bestheit sind nicht zwei voneinander getrennte Verhaltensweisen, Theorie und Praxis bilden eine Einheit. Von dieser Einheit spricht Sokrates im Theaitetos als der Angleichung an den Gott.
9.2 Symposion 207e-209e Diesen Befund best¨ atigen auch die u ¨brigen Textstellen zur Angleichung an Gott. Im Symposion (207e-209e) geht es um das Streben nach Unsterblichkeit. In einem Zusammenhang mit der Angleichung an Gott steht dieser Gedanke, weil Unsterblichkeit in der griechischen Tradition die G¨ otter auszeichnet. 7 Dort heißt es, die sterbliche Natur sucht nach Verm¨ ogen, ” immer zu sein und unsterblich“ (207d1f., vgl. 208b6). Die sterbliche Natur umfasst nicht nur Menschen, sondern auch Tiere. Ein sterbliches Wesen erh¨ alt sich nicht schlechthin als dasselbe. Weil es Werden, Vergehen und Ver¨ anderung unterworfen ist, kann es seine Selbigkeit nur in Verbindung mit Andersheit erhalten. Das gilt f¨ ur das einzelne Individuum, das seine Identit¨ at von Kindheit an bis zum Greisenalter durch alle Ver¨ anderung hindurch bewahrt, und f¨ ur die Gattung, die sich in immer anderen Exemplaren erh¨ alt (207d). W¨ ahrend sich die Identit¨ at bei der sterblichen Natur immer nur darin erh¨ alt, zugleich anders als sie selbst zu werden, ist das G¨ ottliche immer dasselbe“ (208b1); seine Selbstidentit¨ at ist nicht ” dadurch gebrochen, auch anders als es selbst zu sein, sondern sie gilt schlechthin. Das Streben der sterblichen Natur nach Unsterblichkeit ¨ außert sich in der Zeugung, die zweierlei Formen annimmt: die Zeugung mit dem Leib und mit der Seele (208e2-6, 209a2f.). Bei der Zeugung ist drei7
Auf diesen Zusammenhang weist Sedley (1997, S. 327) hin; er u ¨bersieht allerdings, dass sich die Konzeption der Gott¨ ahnlichkeit im Symposion nicht auf den Aspekt der Unsterblichkeit beschr¨ ankt.
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Zur Platonischen Angleichung an Gott
erlei zu unterscheiden, n¨ amlich der Zeugende, dann das, worin gezeugt wird, und letztlich das Gezeugte. Im Falle der leiblichen Zeugung zeugt der Vater in der Mutter das Kind. In den Kindern erh¨ alt sich die Gattung und die Erinnerung an die Eltern. F¨ ur das einzelne Exemplar einer Gattung bleibt nur die Unsterblichkeit der Erinnerung und des Andenkens, in denen es gleichsam fortlebt. Dasjenige, worin gezeugt wird, ist im Falle der seelischen Zeugung die sch¨ one Seele (209b4-7). Die unsterb” licheren“ Kinder dieser Zeugung sind Reden u ¨ber die Tugend, Dichtung und Gesetzeswerke (209a4, 209b8, 209c7f., 209d). Diese Reden sind aber nicht Zweck an sich selbst, sondern die seelische Zeugung soll Weisheit und Tugend bei den Menschen hervorbringen (209a3, 209e2f.). Von einem solchermaßen zeugenden Menschen heißt es, er sei g¨ ott” lich“ ( 209b2). G¨ ottlich ist er nicht nur, weil sein Ruhm und Andenken die Zeit ein wenig u ¨berdauert und er darin gleichsam unsterblich ist. Diotimas Vortrag ist eine Einweihung in die Mysterien der Liebe, ihre Ausdrucksweise spielt mit Ankl¨ angen an die Eleusinischen Mysterien. 8 Bisher, d. h. bis Symposion 209e, hat Diotima Sokrates lediglich in die niederen Mysterien eingeweiht, zu denen die Schau der Sch¨ onheit in den Leibern, Seelen und Erkenntnissen geh¨ ort. Der Epoptie des Allerheiligsten entspricht bei Diotima die Schau der Idee des Sch¨ onen (210e). Die Stellung der G¨ ottin Demeter und ihrer Tochter Persephone in den Eleusinischen Mysterien nimmt in Diotimas philosophischen Mysterien die Idee des Sch¨ onen ein. 9 Wenn von einer Angleichung an Gott im Symposion die Rede ist, dann kann es sich bei dem Gott, dem diese Angleichung gilt, nur um die Idee des Sch¨ onen handeln. Was unter menschlicher Angleichung an die Idee des Sch¨ onen zu verstehen ist, stellt Platon in der Sokrates-Figur dar: Alkibiades schildert Sokrates durch den Vergleich mit dem Satyr Marsyas zwar als einen ¨ außerlich h¨ asslichen Menschen (215b46), aber inwendig habe Sokrates G¨ otterbilder“ ( 216e7), denen ” Alkibiades die Pr¨ adikate g¨ ottlich“ ( ), golden“ ( ), g¨ anzlich ” ” ” sch¨ on“ ( ) und erstaunlich“ ( ) beilegt. Alkibiades ver” r¨ at uns auch, worum es sich bei diesen inwendigen G¨ otterbildern handelt. Als dasjenige, was man sieht, wenn Sokrates sich auftut, nennt Alkibiades zun¨ achst seine Besonnenheit (216d7f.), schildert im Fortgang aber auch seine u ¨brige Tugend und stellt schließlich fest: Sokrates’ Reden sind die ” g¨ ottlichsten und enthalten in sich die gr¨ oßten G¨ otterbilder der Tugend“ ( 222a3f.). Die Angleichung an Gott besteht in der Verwirklichung der Tugend und in den Reden u ¨ber die Tugend; aufgrund der Platonischen Einheit von Theorie 8 9
Insbesondere Symposion 210a1, vgl. dazu Riedweg (1987, S. 2-29) und Morgan (1992, S. 233f.). Zu den Eleusinischen Mysterien siehe Burkert (1994, S. 76-80).
Symposion 207e-209e
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und Praxis sind Tugend und Reden u ¨ber die Tugend voneinander nicht zu trennen. Tugend wiederum ist im Sinne der Diotimarede nichts anderes als seelische Sch¨ onheit, Instantiierung der Idee des Sch¨ onen durch eine Seele. Alkibiades tritt erst auf, nachdem Sokrates seine Rede bereits beendet hat. Alkibiades weiß also nichts davon, wie Sokrates zuvor den Eros bestimmt hat, dass Eros die Liebe zum Sch¨ onen, genauer: das Verlangen nach Zeugung im Sch¨ onen ist, dass dabei leibliche und seelische Zeugung zu unterscheiden sind und die seelische Zeugung auf die Hervorbringung von Tugend und Reden u ¨ber die Tugend zielt, dass es ferner verschiedene Instantiierungen des Sch¨ onen gibt, deren Grund aber in der Idee des Sch¨ onen zu suchen ist, der mithin die erotische Liebe eigentlich gilt. Alkibiades weiß davon nichts, wohl aber der Leser, der in Alkibiades’ Schilderung von Sokrates wiedererkennt, was dieser zuvor in seiner Rede u uhrt hat. 10 Sokrates erweist sich damit als philo¨ber den Eros ausgef¨ sophischer Eros. Der Eros ist kein Gott, sondern ein Daimon, ein Wesen zwischen Menschen und Gott, Sterblichen und Unsterblichen (202d8e2). F¨ ur die Konzeption der Angleichung an Gott bedeutet das, dass der kategoriale Unterschied zwischen Mensch und Gott in der Angleichung nicht aufgehoben wird, der Gott mischt sich nicht mit dem Menschen“ ” (203a2), entsprechend macht auch die Angleichung an Gott keinen Gott aus dem Menschen, sondern ein Zwischenwesen: einen Menschen, der – wie Sokrates – erotisch nach Einsicht und Tugend strebt. Das erotische Streben vermittelt zwischen Gott und Menschen. In Diotimas philosophischen Mysterien der Liebe handelt es sich um die Vermittlung zwischen der Idee des Sch¨ onen und den Menschen, die dieser Idee in Erkenntnis und Tugend teilhaftig werden. Sch¨ onheit ist diejenige Bestimmtheit, die die Menschen erotisch anzieht; insofern es sich aber auch bei den u ¨brigen Bestimmtheiten um etwas Sch¨ ones handelt, gilt die erotische Anziehungskraft auch f¨ ur sie. Das Streben der Philosophie gilt nicht allein der Idee des Sch¨ onen, aber Sch¨ onheit ist der Grund des philosophischen Strebens. Der entscheidende Beitrag des Symposions zu unserem Verst¨ andnis der Angleichung an Gott liegt darin zu zeigen, dass die Angleichung an Gott Ursache ( 207c6, vgl. 207c1) des erotischen Strebens ist; Platon erkl¨ art diesen Zusammenhang dadurch, dass er das erotische Streben auf das Sch¨ one und damit auf die Idee des Sch¨ onen selbst zur¨ uckf¨ uhrt. 10
Zu dieser literarischen Technik vgl. die Interpretation der Rede von Alkibiades bei Picht (1992b, S. 372-489, insb. S. 430f.). Zu der Beziehung von Eros und Sokrates siehe Riedweg (1987, S. 14-17).
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9.3 Phaidros 252d-253c Im Phaidros entwickelt Sokrates in seiner zweiten Rede (243e-257b) den Mythos von der Auffahrt der G¨ otter. In diesem Mythos personifizieren die anthropomorphen G¨ otter die besonderen Arten des Mensch-Seins. 11 Sokrates schildert die Auffahrt der G¨ otter zur Schau der Ideen am u ¨berhimmlischen Ort als einen geordneten Zug, in dem jeder Gott seine Stelle einnimmt und das Seine tut (vgl. , Phaidros 247a5f.), wozu er auch willens und f¨ ahig ist. Die menschlichen Seelen versuchen, den G¨ ottern in diesem Zug zu folgen, und zwar die einen Zeus, andere aber anderen G¨ ottern (250b8), was ihnen je nach Konstitution der Seele allerdings nur mehr oder weniger gelingt. Aber nicht nur die vom Leib gel¨ oste Seele folgt im Mythos ihrem Gott, bei der inkarnierten Seele zeigt sich dieses Streben in der Liebe, wobei der Mensch jeweils nach Art seines Gottes liebt und diesen nachahmt (252d1-3), die philosophischen Naturen den Zeus 12 (vgl. 252e3), die kriegerischen eher den Ares (vgl. 252c6ff.). Die Liebenden machen sich selbst ihrem Gott nach M¨ oglichkeit ¨ ahnlich und bem¨ uhen sich auch, den Geliebten ihrem Gott so ahnlich wie m¨ oglich zu machen (252d7-e2, 253a7f., 253b8-c2). Um zu wis¨ sen, welcher Gott der eigene ist, bedarf es zun¨ achst der Selbsterkenntnis (252e8). Sokrates schildert die G¨ otter wie Menschen, aber vollkommener als diese: Die einzelnen G¨ otter wissen bereits, was das Ihre ist; die G¨ otter wissen das aber nicht nur, sondern sie sind zugleich willens und f¨ ahig, danach auch zu handeln, sie verf¨ ugen u (247a6f.) zu dem ¨ber die ihnen je eigenen Werk. Im Mythos besteht das spezifische Werk der G¨ otter darin, innerhalb der Ordnung der G¨ otter den ihnen zukommenden Platz einzunehmen. Weil jeder Gott seinen Platz kennt und ihn einnimmt, ist der Zug der G¨ otter insgesamt wohlgeordnet; m¨ uhelos gelingt ihnen die Auffahrt zum u ¨berhimmlischen Ort und zu der Schau der Ideen. Im Gegensatz zu den G¨ ottern stehen die Menschen, deren Zug durcheinander ger¨ at und die sich gegenseitig schaden, weil sie ihren Ort nicht kennen und unverm¨ ogend sind, das Ihre zu tun. Vor allem mangelt es den Menschen an Selbsterkenntnis. Die Selbsterkenntnis ist dabei so konzi11 12
Vgl. zu dieser Interpretation Sedley (1999, S. 315). Dass die philosophischen Naturen hier Zeus zugeordnet werden, ist Ausdruck der Wertsch¨ atzung des Philosophen Platon f¨ ur das philosophische Leben (vgl. 248d). Dass diese Zuordnung nicht dogmatisch ist, zeigt der Vergleich mit anderen Dialogen: Im Phaidon stellt Sokrates die Philosophie als eine vorz¨ ugliche Art der Musik dar, entsprechend erkl¨ art Sokrates sein Bem¨ uhen um die Philosophie dort durch im Traum von Apollon erhaltene Anweisungen (Phaidon 60ef.); in der Apologie folgt Sokrates ebenfalls Apollon, dort wird die Mitteilung des Gottes allerdings nicht nur auf Tr¨ aume, sondern vor allem auch auf sein Orakel in Delphi zur¨ uckgef¨ uhrt (Apologie 23b, 28ef., 33c5). F¨ ur den g¨ ottlichen Auftrag zur Hebamment¨ atigkeit vgl. Theaitetos 150c8.
Phaidros 252d-253c
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piert, dass nicht das Selbst sich in seiner gegenw¨ artigen Beschaffenheit bespiegelt, sondern dass es in der Selbsterkenntnis die Natur seines Gottes, d. h. sein eigenes wahres Wesen in seiner Vollkommenheit erkennt. 13 Der Gott personifiziert hier die vollkommene Auspr¨ agung eines Charakters. Im Vergleich mit dem Gott erkennt der Mensch seine eigene Endlichkeit, aber in der Natur seines Gottes erkennt er zugleich die Vollkommenheit, auf die hin er selbst ausgerichtet ist und in deren Auspr¨ agung er seine eigene Bestheit verwirklicht. Die Verschiedenheit der G¨ otter, zu deren Gefolge die Menschen geh¨ oren, erkl¨ art die charakterliche Verschiedenheit der Menschen. Bei aller Verschiedenheit des Charakters kommt es aber f¨ ur alle Menschen gleichermaßen darauf an, ihrem Gott zu folgen und in seinem Gefolge zu der ihnen m¨ oglichen Vollkommenheit zu gelangen. Zu dieser Vollkommenheit geh¨ oren Erziehung und Kultivierung der eigenen Seelenverm¨ ogen, die im mythischen Bild als Erziehung der Rosse des Seelenwagens durch den Wagenlenker dargestellt wird. Das erotische Streben wird durch die Wiedererinnerung an die vormals geschauten Ideen (249c, 250a5, u. ¨ o.) beim Anblick des Sch¨ onen geweckt (251b1f., 253e5f. u. ¨ o.); das erotische Streben verwirklicht sich zun¨ achst darin, sich selbst und den Geliebten dem Gott m¨ oglichst ¨ ahnlich zu machen, d. h. in der Auspr¨ agung der individuellen Vollkommenheit oder Tugend bei sich selbst und bei dem Geliebten. Im Mythos l¨ asst der Anblick des Sch¨ onen das Seelengefieder wachsen (246e1-3, 248b8-c2, 249cf., u. ¨ o.), das schließlich die Auffahrt zur Schau der Ideen erlaubt, wenn es nicht durch mangelnde Tugend besch¨ adigt wird (246e3f., 248a-c). Wie ist das Verh¨ altnis der anthropomorphen G¨ otter und der Ideen im mythischen Bild der Auffahrt der G¨ otter zur Schau der Ideen zu verstehen? Sokrates versteht auch im Phaidros die Ideen als etwas G¨ ottliches, z. B. wenn er von dem damals [d. i. bei der letzten Auffahrt zu ” den Ideen] geschauten Heiligen“ (250e4) spricht, bei dem es sich – stellvertretend f¨ ur die Ideen insgesamt – um die Ideen der Gerechtigkeit und Besonnenheit handelt (Phaidros 247d7, 250b2), oder wenn Sokrates erl¨ autert: Das G¨ ottliche ist [das] Sch¨ one, Weise, Gute und alles, was et” was So-Beschaffenes ist“ ( 246d8-e1); dasjenige, was wie das Sch¨ one, Weise und Gute beschaffen ist, meint nicht deren Instanzen, sondern die u ¨brigen Ideen. W¨ ahrend die Angleichung an Gott in den bisher betrachteten Textstellen als Erkenntnis der Ideen und Verwirklichung der Tugendideen zu verstehen war, spricht Sokrates im Phaidros davon, man m¨ usse einem der anthropomorphen G¨ otter m¨ oglichst ¨ ahnlich werden. Handelt es sich dabei um zwei verschiedene, miteinander konkurrierende Konzeptionen der Angleichung an Gott? Die anthropomorphen G¨ otter haben zwar ihre Na13
Zu dieser Interpretation der Selbsterkenntnis vgl. Griswold (1986, S. 122ff.).
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men und Attribute den G¨ ottern der Tradition entlehnt, sind mit diesen aber nicht einfach zu identifizieren. Im Phaidros bleibt ihnen lediglich die Funktion, verschiedene Auspr¨ agungen von Charakter, d. h. verschiedene intensive Arten des Mensch-Seins in ihrer Vollkommenheit zu personifizieren. Bei Platons Tugendideen handelt es sich um die n¨ ahere Bestimmung ¨ der Vollkommenheit des Mensch-Seins; als Uberf¨ ulle intensiver Seinsm¨ oglichkeiten bestimmen sie auch die verschiedenen Auspr¨ agungen menschlichen Charakters. Die anthropomorphen G¨ otter des Phaidros stehen mit den Ideen also nicht in Konkurrenz um den Titel der Gottheit. Die Angleichung an den anthropomorphen Gott besteht in der Auspr¨ agung der eigenen Tugend. Die Auffahrt zu den Ideen vollzieht der Mensch im Gefolge des eigenen Gottes, d. h. die Verwirklichung der Tugend ist auch im mythischen Bild Voraussetzung der Ideenerkenntnis.
9.4 Politeia 383c, 500cf., 613af. In der Politeia finden wir das Motiv der Angleichung an Gott in verschiedenen Zusammenh¨ angen. Im Kontext der Erziehung der k¨ unftigen W¨ achter und der richtigen Darstellung der G¨ otter der Tradition heißt es am Ende des zweiten Buches, die W¨ achter sollten g¨ ottlich“ ( , ” Politeia 383c4) werden. 14 Im sechsten Buch geht es nicht mehr um die Erziehung der k¨ unftigen Herrscher, sondern um die Rechtfertigung der Philosophenherrschaft und die Frage, was f¨ ur Philosophen die Philosophenk¨ onige sind. In diesem Zusammenhang heißt es, sie blickten nicht auf das Treiben der Menschen, sondern auf etwas Geordnetes und im” mer gem¨ aß demselben sich Verhaltendes“ ( 500c2f.), dieses ahmen sie nach und gleichen sich ihm ” m¨ oglichst an“ ( 500c5f.). Da Adeimantos dagegen keinen Einwand erhebt, schließt Sokrates: In” dem der Philosoph mit dem G¨ ottlichen und Wohlgeordneten umgeht, wird er [selbst] wohlgeordnet und g¨ ottlich, soweit es einem Menschen m¨ oglich ist“ ( 500c9-d1). Er bildet die gesehenen Tugendideen bei sich selbst und anderen 15 nach und bringt so Besonnenheit, 14
15
Armstrong (2004, S. 174) spricht von morally upright Olympians“, denen die W¨ achter ” a otter und der Angleichung an sie ¨hnlich werden sollten; eine Schilderung solcher G¨ findet sich in der besprochenen Phaidros-Passage. Armstrong (2004, insb. S. 171f., 176f.) unterstellt der Platonischen Angleichung an Gott eine Entwicklung: W¨ ahrend die Angleichung an Gott in Theaitetos, Phaidon, Politeia und Phaidros mit Weltflucht und Geringsch¨ atzung menschlicher Angelegenheiten verbunden sei, weiche diese Konzeption in den sp¨ aten Dialogen, namentlich Timaios, Philebos und Nomoi, einer Verbesserung der Welt. W¨ ahrend Armstrongs
Politeia 383c, 500cf., 613af.
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Gerechtigkeit und insgesamt Tugend bei den Menschen hervor (500d48). 16 Das Geordnete und sich immer gem¨ aß demselben Verhaltende, auf das die Philosophen blicken, und das G¨ ottliche und Wohlgeordnete, mit dem sie umgehen, sind die Ideen. In ihrer Gesamtheit bilden die Bestimmtheiten ein wohlgeordnetes Ganzes: einen Kosmos. Dieser Ideenkosmos ist das G¨ ottliche, von dem Sokrates spricht – exemplarisch greift er die Bestimmtheiten der Gerechtigkeit, Sch¨ onheit und Besonnenheit heraus (vgl. 501b1-3). Dass die Philosophen auf die Ideen blicken, ist Ausdruck eines auf Ideenerkenntnis ausgerichteten Erkenntnishabitus, dem ein an Instanzen orientierter Erkenntnishabitus gegen¨ ubersteht (vgl. 480a); aber das Blicken auf die Ideen weist auch voraus auf die eigentliche Schau der Ideen in den drei Gleichnissen (506b-517a) und die Vollendung der Ausbildung der k¨ unftigen Herrscher in der Dialektik (531dff.). Das Blicken auf die Ideen bezeichnet die theoretische Seite der Angleichung an Gott. Deren praktische Seite ist die Auspr¨ agung der Tugend sowohl bei sich selbst als auch im Staat. In der tugendhaften Seele erf¨ ullt jedes Seelenverm¨ ogen die ihm eigent¨ umliche Aufgabe, weshalb Sokrates davon sprechen kann, der Philosoph sei selbst wohlgeordnet“ ( 500c9, vgl. 430e6 und ” Kapitel 8.3). Die durch Verwirklichung der Tugendideen gepr¨ agte Seele ist selbst ein wohlgeordnetes Ganzes, ein Kosmos, und als solcher nicht nur speziell den Tugendideen, sondern dem Kosmos der Ideen insgesamt angeglichen. 17 Die dritte Stelle zur Angleichung an Gott in der Politeia geh¨ ort wiederum in einen anderen Zusammenhang. Im Rahmen der die gesamte ¨ Diskussion abschließenden Uberlegungen zur Gerechtigkeit stellt Sokra-
16
17
Interpretation von Phaidon, Phaidros und Theaitetos zumindest fragw¨ urdig ist, kann sie f¨ ur die Politeia keinesfalls gelten. Grundgedanke der dargelegten Verfassung ist, ¨ den Ubeln“ in den Staaten ein Ende zu bereiten (Politeia 473d5f.). Zu diesem Zweck ” konzipiert Platon Herrscher, die das Gute kennen und in den Staaten verwirklichen k¨ onnen. Wenn die Gegen¨ uberstellung von Weltflucht und Weltverbesserung zwei Platonische Positionen zur Angleichung an Gott charakterisieren w¨ urde, dann st¨ unde die Politeia jedenfalls auf der Seite der Weltverbesserung. Wie auch immer die genaue Chronologie der Dialoge sein mag, die gemeinhin angenommene Zuordnung der Politeia zu einer mittleren Schaffensperiode macht Armstrongs Entwicklungshypothese unwahrscheinlich. ) der Tugend, Sokrates nennt den Philosophen hier einen Handwerker“ ( ” an anderen Stellen vergleicht er die Hervorbringung nach dem Vorbild der Ideen mit der T¨ atigkeit eines K¨ unstlers, vgl. dazu 472d und 484cf. Zu beachten sind diese Textstellen vor allem, wenn es um Platons vielfach kritisierte Beurteilung der Kunst geht. Sie deuten die M¨ oglichkeit einer den Ideen gem¨ aßen Kunst an, die der Platonischen Kunstkritik gen¨ ugen w¨ urde. Merki (1952, S. 6) bewertet die Textstelle einseitig, wenn er die Angleichung an den Gott darin allein auf den Intellekt und seine erkenntnism¨ aßige Betrachtung“ zur¨ uck” f¨ uhrt.
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tes fest (613a7-b2): Denn nicht wird wohl der je von den G¨ ottern ver” nachl¨ assigt, der sich beeifern will, gerecht zu werden und, indem er die Tugend u oglich ist, Gott ¨ ahnlich zu werden ¨bt, soweit es dem Menschen m¨ ( )“. W¨ ahrend die Angleichung an Gott in den beiden zuvor betrachteten Passagen der Politeia (343c, 500cf.) den k¨ unftigen W¨ achtern bzw. den Philosophen vorbehalten schien, ist von einer solchen Einschr¨ ankung im zehnten Buch keine Rede. 18 Die Angleichung an Gott steht vielmehr all jenen offen, die sich um die Tugend bem¨ uhen. Die Tugend ist nicht n¨ aher spezifiziert, Sokrates spricht von Tugend u ¨berhaupt, nicht von irgendeiner Einzeltugend; gleichwohl geh¨ ort Sokrates’ Feststellung in einen Kontext, in dem es ausdr¨ ucklich um Gerechtigkeit und den Lohn der Gerechtigkeit f¨ ur die gerechten Menschen geht. Da eine Einzeltugend ohnehin nicht einzeln, d. h. ohne die u ¨brigen Einzeltugenden vorkommen kann, darf bei der Interpretation nicht zuviel Gewicht darauf gelegt werden, welche der Tugenden gerade genannt wird: Die Nennung einer Einzeltugend erfolgt oft stellvertretend f¨ ur alle Einzeltugenden und die Tugend insgesamt. Allerdings erw¨ ahnt Sokrates an dieser Stelle die Bedeutung der Ideenerkenntnis, die er in der zuvor besprochenen Passage noch hervorgehoben hatte, nicht eigens. Diese Tatsache mag damit zusammenh¨ angen, dass er im zehnten Buch allgemein u ¨ber Menschen und nicht speziell u ¨ber Philosophen spricht. Konzipiert Platon also doch eine erkenntnisunabh¨ angige Angleichung an Gott, die denjenigen Menschen offensteht, die sich um Philosophie nicht bem¨ uhen? Davon k¨ onnte nur dann die Rede sein, wenn er auch eine erkenntnisunabh¨ angige Tugend konzipieren w¨ urde, wenn also die Tugend, mit der im zehnten Buch die Angleichung an Gott verbunden ist, frei von Einsicht in das Wesen des Menschen und das f¨ ur den Menschen Gute konzipiert w¨ are. Das ist aber unwahrscheinlich, weil es im Kontext unserer Stelle um die Einsicht geht, dass Gerechtigkeit f¨ ur die Seele unter allen ¨ Umst¨ anden das Beste“ ( 612b3) ist. Die Außerung zur Anglei” chung an Gott durch Tugend steht also in einem Kontext, in dem sich die Gespr¨ achspartner um das zur Tugend geh¨ orende Wissen bem¨ uhen. Das Wissensstreben ist nicht auf Gespr¨ achspartner beschr¨ ankt: Ihrer wahren Natur nach (612a4, vgl. 611b10) kommt jeder Seele Liebe zur Weisheit“ ” 611e1) zu, weil sie verwandt ist dem G¨ ottlichen und Un( ” sterblichen und dem immer Seienden“ ( 611e2f., vgl. 490b2-6). Die Weisheit, die der Philosoph begehrt, ist die Erkenntnis der Ideen. Wenn Sokrates die Angleichung an Gott nicht auf Philosophen beschr¨ ankt und ihre theoretische Seite nicht eigens thematisiert, dann liegt das daran, dass ihrem Wesen 18
Auf diese Einschr¨ ankung insbesondere im sechsten Buch macht Merki (1952, S. 6) aufmerksam.
Timaios 90b-d
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gem¨ aß jede Seele nach Ideenerkenntnis strebt und den Ideen auch verwandt ist. Die Verwandtschaft der Seele mit den Ideen begr¨ undet das Streben der Seele nach deren Erkenntnis. 19 Von denjenigen, die sich um die Tugend bem¨ uhen, sagt Sokrates, dass sie von den G¨ ottern nicht vernachl¨ assigt w¨ urden (vgl. 613a8). Bei den G¨ ottern handelt es sich um die f¨ ur sich selbst seienden, unver¨ anderlichen Bestimmtheiten. Worin k¨ onnte deren F¨ ursorge f¨ ur die tugendhaften Menschen bestehen? Bei den Tugendbestimmungen handelt es sich um das f¨ ur den Menschen Gute. Diese Feststellung ist scheinbar trivial, aber in der Diskussion des Tugendwissens hat sich gezeigt, dass der Erwerb dieses Wissen nicht deshalb so schwierig ist, weil es sich um einen intellektuell anspruchsvollen Lerngegenstand handeln w¨ urde, sondern weil es schwierig ist, an dieser Einsicht auch gegen das Streben von Eifer und Begierden festzuhalten und letztere an dieser Einsicht auszurichten. Die F¨ ursorge der Tugendbestimmungen f¨ ur den Menschen liegt nicht darin, dass sie – vergleichbar den olympischen G¨ ottern bei Homer – in das Leben der Menschen eingreifen. Ihre F¨ ursorge besteht vielmehr darin, dass sie denjenigen Menschen, der die Tugendbestimmungen verwirklicht, m¨ oglichst gut machen. Belohnung f¨ ur die Tugend ist kein ¨ außerliches Gut wie Reichtum, Macht oder k¨ orperliche Sch¨ onheit, sondern die eigene Vollkommenheit. Dieser Lohn ist dem tugendhaften Menschen durch nichts zu nehmen, schaden kann er sich allein selbst, indem er die Sorge um die Seele vernachl¨ assigt und sich nicht l¨ anger um Tugend bem¨ uht (vgl. dazu Apologie 30b-d). Die Strafe f¨ ur denjenigen, der seine Tugend verfehlt, besteht darin, dass er selbst schlecht ist. Der B¨ ose bestraft sich mit seiner Schlechtigkeit selbst (vgl. Theaitetos 177a2f. und Nomoi 728b2-5) – die Gerechtigkeit herrscht auf diese Weise absolut, ohne dass es daf¨ ur eines Eingreifens von außen oder einer postmortalen Korrektur bed¨ urfte. 20
9.5 Timaios 90b-d Am Ende seines Berichts greift Timaios die Unterscheidung der drei Seelenverm¨ ogen auf (Timaios 89e); jedes von ihnen hat eine eigene Art der Bewegung, die durch Aus¨ ubung des Verm¨ ogens gest¨ arkt und durch sein Ruhen geschw¨ acht wird. Es ist darauf zu achten, dass die drei Bewegungen im richtigen Maß zueinander“ ( 90a2, ” vgl. 90c6f.) stehen. Timaios greift damit das in der Politeia ausgef¨ uhrte Tugendverst¨ andnis wieder auf, um auf dieser Grundlage die dem Den19 20
Zu der Verwandtschaft von Seele und Ideen siehe Kapitel 10.7. Zu diesem Verst¨ andnis von Gerechtigkeit und g¨ ottlicher F¨ ursorge vgl. Nomoi 905a-d, insb. 905d2 und Vonessen (2001, S. 279-281).
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ken angemessene Bewegung hervorzuheben und im Kontext seines kosmologischen Mythos zu verorten. Der Demiurg hat den Menschen das denkende Seelenverm¨ ogen als einen Daimon (90a4, c5) gegeben, der uns von der Erde zu unserer Verwandtschaft im Himmel“ ( ” 90a5f.) erhebt. Als Daimon kann Timaios das denkende Seelenverm¨ ogen bezeichnen, weil ihm eine Zwischenstellung zwischen Mensch und Gott, zwischen Sterblichem und Unsterblichem zukommt (vgl. Symposion 202d8-e2). Wenn jemand die Wahrheit ber¨ uhrt, denkt er unsterbliche und g¨ ottliche Gedanken und wird, soweit das der menschlichen Natur m¨ oglich ist, der Unsterblichkeit teilhaftig. Dazu bedarf es der Pflege der drei Seelenverm¨ ogen, die darin besteht, dass sie sich auf die ihnen jeweils angemessene Weise bewegen. Im Falle des denkenden Seelenverm¨ ogens besteht die angemessene Bewegung darin, den Gedanken und Uml¨ aufen des Alls zu folgen, denn: Die Gedanken und Uml¨ aufe des Alls ” sind dem G¨ ottlichen in uns verwandte Bewegungen“ ( 90c7-d1). Es ist n¨ otig, durch das Erlernen des Umlaufes und der Harmonie des Alls unsere verdorbenen Uml¨ aufe, d. i. unsere verdorbenen Denkbewegungen, zu korrigieren und: dem Betrachteten das Betrachtende seiner urspr¨ ung” lichen Natur gem¨ aß ¨ ahnlich zu machen, durch diese Ver¨ ahnlichung aber das Ziel des den Menschen von den G¨ ottern vorgesetzten besten Lebens zu erreichen“ ( 90d4-7). ¨ Die angestrebte Ahnlichkeit ist in dieser Passage eine Relation zwischen dem denkenden Seelenverm¨ ogen und den kosmischen Uml¨ aufen der Gestirne. Die Konzeption einer solchen Ver¨ ahnlichung ist zun¨ achst u ¨berraschend: Bei den Uml¨ aufen der Gestirne handelt es sich um r¨ aumliche Bewegungen von K¨ orpern, Denkbewegungen sind aber weder r¨ aumlich noch k¨ orperlich, Timaios scheint also u ahnlichung inkommensura¨ber die Ver¨ ¨ bler Bewegungsformen zu sprechen. Die Ahnlichkeitsrelation soll zwischen dem Subjekt und dem Objekt einer Betrachtung bestehen, es scheint sich dabei aber um ein sichtbares Objekt zu handeln, w¨ ahrend das betrachtende Seelenverm¨ ogen denkt. An einer Parallelstelle spricht Timaios davon, dass den Menschen das Sehverm¨ ogen verliehen wurde, damit wir ” die Uml¨ aufe der Vernunft ( ) am Himmel erblickten und sie f¨ ur die Umschw¨ unge unseres eigenen Denkens benutzten, welche jenen verwandt sind, als regellose den geregelten“ (47b6-c1). Die Himmelsbewegungen sind zwar sichtbar und den Menschen nur durch den Gesichtssinn begelenkte Bewegung. kannt, aber es handelt sich dabei um durch einen Aufgrund dieser Lenkung irren die Planeten nicht irrational umher, ihre Bewegung gehorcht vielmehr einer intelligiblen Regelm¨ aßigkeit (vgl. 38d-
Timaios 90b-d
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39d). Timaios’ Aufforderung zur Betrachtung der Himmelsbewegungen ist also als eine Aufforderung zu der Erkenntnis der sie beherrschenden Gesetze im Denken zu verstehen. Was hat Astronomie mit der Angleichung an den Gott zu tun? Timaios’ Projekt besteht darin, die kosmische Ordnung zu erkl¨ aren, warum also das All u ¨berhaupt ein Kosmos, ein geordnetes Ganzes ist. Auf einen Punkt gebracht ist seine Erkl¨ arung: Der Kosmos ist ein Abbild der Ideen (29a5f., 30cf., 31b1f., 37d2, 52a). Der Kosmos ist ein geordnetes, sich selbst gen¨ ugendes Ganzes, das in r¨ aumlicher Auseinanderordnung und in zeitlichem Nacheinander die Seinsm¨ oglichkeiten der Ideen verwirklicht. Der Kosmos entfaltet, was in der Gesamtheit der Ideen als in sich vollkommen differenzierte Einheit aller Seinsm¨ oglichkeiten gedacht ist. Der Kosmos kann ¨ nicht alle Seinsm¨ oglichkeiten zugleich verwirklichen und ihre Uberf¨ ulle im kosmischen Werden auch nicht nach und nach ersch¨ opfen, aber durch das zeitliche Werden verwirklicht er dennoch mehr Seinsm¨ oglichkeiten als in werdelosem Stillstand. Deshalb macht die Zeitlichkeit den Kosmos seinem Urbild, den zeitlosen Ideen, noch ¨ ahnlicher“ ( 37c8). Die ” Himmelsk¨ orper l¨ asst der Demiurg zur Abgrenzung und Bewahrung der ” Zahlenwerte der Zeit“ (38c6f.) entstehen. Die gleichf¨ ormigen Zyklen in der Bewegung der Himmelsk¨ orper bilden ein Maß der Zeit und machen damit die Zeit selbst und das zeitliche Werden messbar. Die Messung der zeitlichen Dauer von Prozessen leistet einen wichtigen Beitrag zu der Erfassung der Regelhaftigkeit dieser Prozesse. Timaios deutet dar¨ uber hinaus an, dass wir der Beobachtung kosmischer Zyklen u ¨berhaupt den Zahlbegriff verdanken (39b7). In der Politeia geh¨ ort die Astronomie zur h¨ oheren Ausbildung der k¨ unftigen Herrscher. Die Bedeutung der Astronomie liegt hier aber ausdr¨ ucklich weder darin, dass sie die Erfassung von Zahlverh¨ altnissen lehrt (Politeia 530a1), noch in der empirischen Beobachtung und Messung der sichtbaren Himmelsbewegungen (530a8-b5). Weil die zu beobachtende Bewegung der sichtbaren Himmelsk¨ orper nicht der f¨ ur die Vernunft erfassbaren Regel entspricht, f¨ uhrt die bloße Messung nicht zu der Erfassung der zugrunde liegenden Regelhaftigkeit, ihrer Wahrheit“ ( 530b4), ” im Denken. Der didaktische Wert der Astronomie besteht darin, dass sie von dem Hiesigen dorthin f¨ uhrt“ (529a2f.), d. h. ausgehend von den Er” scheinungen soll der Astronom die den Erscheinungen zugrunde liegenden Bestimmtheiten erfassen. In der Astronomie ist diese Aufgabe insbesondere deshalb so dr¨ angend, weil die Bewegung der Himmelsk¨ orper zwar mehr oder weniger kreisf¨ ormig verl¨ auft, diese Bewegung aber durch scheinbare R¨ uckl¨ aufe auf der Kreisbahn unterbrochen wird. So wie die Bewegung erscheint, ist sie ein regelloses und daher irrationales Umherir-
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ren. 21 Einem Versuch, die Regelhaftigkeit dieser Bewegungen zu erfassen und damit ihre Wahrheit“ zu denken, entspringt die Entwicklung der ” Epizykeltheorie. Der Nutzen der Astronomie beschr¨ ankt sich aber weder auf die Umwendung des Blicks von den Erscheinungen zu den Bestimmtheiten, noch dient das Studium der Astronomie bloß der Ausbildung von F¨ ahigkeiten, die sich in einem anderen Sachgebiet – insbesondere der Tugend – bew¨ ahren sollen. Vielmehr bildet die Astronomie in der Politeia (522b-531c) neben Arithmetik, Geometrie, Stereometrie und Harmonielehre die mathematische Ausbildung der k¨ unftigen Herrscher. In der mathematischen Ausbildung sind Einheit, Harmonie, Zusammenstimmung ( ) und Proportion zentrale Begriffe. Dieselben Begriffe sind aber auch in Platons Tugendkonzeption zentral: Zusammenstimmung, Harmonie und Proportion erzeugen und erhalten eine Einheit aus Mehreren; eine solche Einheit aus Mehreren bilden sowohl der Staat der Politeia als auch die tugendhafte Seele. 22 Wenn Timaios behauptet, die Himmelsbewegungen seien mit unseren Denkbewegungen verwandt, dann denkt er bei den Himmelsbewegungen nicht an jenes erscheinende Umherirren in vor- und r¨ uckl¨ aufigen Bewegungen, sondern an die der Erscheinung zugrunde liegende Bewegung, wobei es sich nach Timaios um Kreisbewegungen handelt (Timaios 34a2-5, 38dff., vgl. Nomoi 822a8, 898a3-b4). Die Verwandtschaft zwischen kreisf¨ ormigen Himmelsbewegungen und den Denkbewegungen der Vernunft besteht vor allem darin, dass beide Bewegungen in sich selbst zur¨ uckkehren. Die Kreisbewegung geht von einem Punkt aus, verl¨ asst diesen Punkt und schreitet fort zu immer wieder anderen Punkten; sie durchl¨ auft die immer wieder anderen Punkte der Kreisbahn, um nach einem Umlauf schließlich zu ihrem Ausgangspunkt zur¨ uckzukehren. Die Kreisbewegung zeichnet sich ferner dadurch aus, dass sie einfach ist (Epizyklen w¨ aren ihr gegen¨ uber eine zweite Bewegung), einen ruhenden Mittelpunkt hat und sich vollkommen gleichf¨ ormig vollzieht. Die Denkbewegung differenziert Bestimmtheiten voneinander, sie geht von einer identischen Bestimmtheit aus und grenzt sie von den anderen Bestimmtheiten ab; nach der Differenzierung von allen anderen Bestimmtheiten kehrt die Denkbewegung zu der ersten Bestimmtheit zur¨ uck. Eine solche Denkbewegung bleibt ganz bei sich selbst und h¨ alt ihren identischen Ausgangspunkt auch 21
22
Auf die R¨ uckf¨ uhrung von vermeintlich irrationalen Erscheinungen auf eine rational erfassbare Regel zielt das von Simplikios u ¨berlieferte Diktum von der Rettung der ” , Heiberg (1894, S. 492.31-493.5 mit R¨ uckbezug Ph¨ anomene“ ( auf 488.18-24)); vgl. dazu Zhmud (1998, S. 217f.). Auch wenn Platon nichts dergleichen gesagt hat, bleibt die Feststellung von Burnyeat (2000, S. 63) richtig, dass die Aufforderung zur Rettung der Ph¨ anomene in Platons Texten vorhanden ist. Zu diesem Verst¨ andnis des Zusammenhangs zwischen Mathematik und Tugend vgl. Burnyeat (2000, insb. S. 74-76).
Nomoi 716c
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in der fortschreitenden Differenzierung von anderem fest. Dem endlichen Denken eines Menschen wird solche vollkommene Differenzierung aller Bestimmtheiten voneinander nur n¨ aherungsweise gelingen. Das endliche Denken kann nicht bei der Betrachtung der Bestimmtheiten verweilen, weil leibliche Lebewesen um ihrer Selbsterhaltung willen die Bed¨ urfnisse des Leibes befriedigen m¨ ussen; diesen Erfordernissen folgend wendet sich das endliche Denken sprunghaft jetzt diesem und gleich jenem zu. Dennoch muss sich auch das endliche Denken nicht in seinen immer wieder anderen Denkinhalten verlieren, sondern kann auf sich selbst zur¨ uckkommend einen fr¨ uheren Gedanken wieder aufgreifen, ihn festhalten und die darin gedachte identische Bestimmtheit von anderen Bestimmtheiten differenzieren. Ein solches bei sich selbst bleibendes Denken hat Platon im Sinn, wenn er von der Ver¨ ahnlichung des Betrachtenden mit dem Betrachteten als dem den Menschen von den G¨ ottern vorgesetzten besten Leben spricht. Solche Kontemplation ist aber auch im Timaios nicht von der tugendhaften Praxis losgel¨ ost.
9.6 Nomoi 716c In den Nomoi greift der Athener das Motiv der Ver¨ ahnlichung mit Gott in der Ansprache an die Siedler auf: Dem Gott folgt“ die personifizierte Ge” rechtigkeit ( ), der wiederum die Menschen folgen“ m¨ ussen, wenn sie ” gl¨ uckselig sein wollen (Nomoi 716a). Das dem Gott Folgen besteht darin, maßvoll zu sein (716c2f.), denn: Der Gott d¨ urfte f¨ ur uns am ehesten das ” Maß aller Dinge sein“ (716c4f.). Wer maßvoll bzw. besonnen ist, der ist dem Gott a 716d2). Der Athener konzipiert die Ver¨ ahnli¨hnlich“ ( ” chung mit dem Gott hier als ein dem Gott Folgen (vgl. 716a2, a4, vgl. 716b8, c1). 23 Bei der Interpretation dieser Textstelle ist zu beachten, an welche Adressaten der Athener sich richtet: die Siedler. Die Gott¨ ahnlichkeit beschr¨ ankt sich demnach nicht auf die Gesetzesw¨ achter oder Philosophen. Dennoch macht es einen Unterschied, ob der Athener sich gedanklich an 23
Annas (1999, S. 56f.) bezweifelt, dass following God“ im Wesentlichen eine Variante zu ” becoming like God“ ist. Die Gr¨ unde f¨ ur ihren Zweifel bleiben allerdings undeutlich, sie ” verweist lediglich darauf, dass Tugend in dieser Passage auf ein bloßes Verhalten, noch dazu ein sehr traditionelles Verhalten, reduziert werde, dass Gott hier depressingly ” punitive“ konzipiert sei und die Angleichung an Gott keine unworldliness“ impliziere. ” Sch¨ opsdau (2003, S. 206) verweist zur Interpretation des dem Gott Folgens auf den , Phaidros 248a2), wo die Menschen demjenigen Gott Phaidros (vgl. folgen und nacheifern, der ihrem Charakter entspricht. Ihr Ziel besteht darin, dem Gott m¨ oglichst ¨ ahnlich zu werden, vgl. dazu Kapitel 9.3. Die Phaidros-Stelle best¨ atigt also, dass following God“ eine Variante zu becoming like God“ ist. ” ”
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die Siedler wendet oder ob Sokrates in der Politeia den Akzent auf Erziehung, Einsicht und Tugend der Philosophenk¨ onige legt; Sokrates wendet sich dort zwar nicht direkt an die Philosophenk¨ onige, aber die zentralen B¨ ucher der Politeia dienen der Darlegung dieser Herrschaftskonzeption. An die Philosophenk¨ onige kann Sokrates andere Anforderungen stellen als der Athener in den Nomoi an die Siedler. Deshalb u ¨berrascht es nicht, dass der Athener den Siedlern gegen¨ uber einen Tugendbegriff darlegt, der insbesondere im Hinblick auf das Tugendwissen gegen¨ uber dem der Politeia eingeschr¨ ankt ist. Statt des Tugendwissens, zu dem die Philosophenk¨ onige der Politeia, angefangen von der musischen Erziehung bis hin zur dialektischen Erkenntnis, gef¨ uhrt werden, reicht bei den Siedlern der ¨ Nomoi die Uberzeugung ( , vgl. 718b2). Die Siedler sollen u ¨berzeugt werden, dass es gut ist, der G¨ ottin Dike zu folgen, damit sie aus dieser ¨ Uberzeugung heraus den Gesetzen gehorchen. Worin besteht der Zusammenhang zwischen Gott und den Gesetzen? Was hat der Gehorsam gegen¨ uber den Gesetzen mit der Angleichung an Gott zu tun? Weiter unten im Text, im Rahmen der eigentlichen Gesetzgebung, bemerkt der Athener, dass der Dienst an den Gesetzen ein Dienst an den G¨ ottern sei (762e5). 24 Die Gesetze sind nicht mit dem Gott identisch. Das Ziel der Gesetze ist die Ausbildung der Tugend bei den Staatsb¨ urgern. Die Tugend ist das f¨ ur den Menschen Gute. Was das menschlich Gute ist, geben die Tugendideen an. Der Athener entwickelt gegen¨ uber den Siedlern die Ideenlehre nicht – ebensowenig wie gegen¨ uber seinen direkten Gespr¨ achspartnern Kleinias und Megillos. Dennoch orientiert sich der Athener an einer Tugendkonzeption, wie wir sie insbesondere aus der Politeia kennen. 25 Er entfaltet in den Gesetzen seine Tugendkonzeption ohne darauf hinzuweisen, dass er sich dabei an den f¨ ur sich selbst seienden Bestimmtheiten des f¨ ur den Menschen Guten, den Tugendideen, orientiert. Dennoch regeln die Gesetze ein den Tugendideen gem¨ aßes 24
25
Aufgrund dieser Bemerkung k¨ onnte man vermuten, die Gesetze selbst seien die G¨ otter, vgl. zu dieser Vermutung Eigler (1990, Bd. 8/1, S. 247 Anm. 30). Diese G¨ otter k¨ onnten aber nur die in den Nomoi dargelegten Gesetze sein. Diese Interpretation w¨ urde also auf die Deifizierung dessen hinauslaufen, was der Athener vom f¨ unften bis zum zw¨ olften Buch der Nomoi sprachlich artikuliert. Dagegen legt der Politikos (294a) nahe, dass die Herrschaft sprachlich artikulierter, allgemeiner und mithin auslegungsbed¨ urftiger Gesetze gegen¨ uber der Herrschaft einer Vernunft, die das in einer Situation Gute jeweils genau erfasst, nur die zweitbeste Herrschaftsform bildet, vgl. dazu die Interpretation der Politikos-Stelle in Kapitel 6.1 auf Seite 125. Zu Platons begr¨ undetem Misstrauen gegen¨ uber geschriebenen Gesetzen vgl. auch Siebter Brief 344c und Kapitel 6.4. Die kritische Bewertung sprachlich artikulierter, allgemeiner Gesetze schließt deren Erhebung zu G¨ ottern aus. Vgl. dazu Kapitel 8.3. Bei allen Unterschieden in der Formulierung ist der Grundgedanke derselbe: Der tugendhafte Lebensvollzug beruht auf der Einsicht der Vernunft in das f¨ ur den Menschen Gute (vgl. dazu Nomoi 688a7-b2 und Picht (1992b, S. 253ff.)), wozu es der entsprechenden Wohlordnung der verschiedenen Seelenverm¨ ogen bedarf.
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Staatswesen, wobei die Tugendideen das die sprachliche Artikulation der Gesetze beherrschende Prinzip sind. Der Athener f¨ uhrt zwar die Ideenlehre nicht ein, aber er benennt die Tugendideen gegen¨ uber den Siedlern mit dem der Tradition entnommenen Wort: Gott ( 716c4). Im ersten Satz der Nomoi er¨ offnet der Athener das Gespr¨ ach mit der Frage, ob in den Heimatst¨ adten seiner Gespr¨ achspartner ein Gott oder irgendein Mensch als Ursprung ( 624a2) der Gesetzgebung gilt. Die Kreter und Spartaner f¨ uhren ihre Gesetzgebung auf Zeus bzw. Apollon zur¨ uck. Auch der Staat der Nomoi hat einen Gott als Ursprung seiner Gesetzgebung, aber es handelt sich dabei nicht mehr um die G¨ otter der Mythologie, sondern um die Tugendideen. In Abgrenzung von Protagoras behauptet der Athener: Der Gott ” d¨ urfte f¨ ur uns am ehesten das Maß aller Dinge sein“ ( 716c4f.). Bei den Dingen“, von ” denen der Athener hier spricht, handelt es sich nicht einfach um Seiendes oder um Gegenst¨ ande, sondern um , also um Gegenst¨ ande, die der Mensch gebrauchen kann und deren Gebrauch f¨ ur ihn n¨ utzlich ist. 26 Auch das Maß, das der Athener im Sinn hat, ist nicht ein beliebiger Maßstab zur quantifizierenden Messung irgendeiner Gr¨ oße, sondern das rechte Maß“, anhand dessen wir beurteilen k¨ onnen, ob etwas gut ist. Der ” deus-mensura-Satz bedeutet also: Die Tugendideen sind das richtige Maß f¨ ur die N¨ utzlichkeit der Dinge. Oder anders formuliert ist die Bestimmtheit des menschlich Guten der Maßstab zur Beurteilung dessen, was f¨ ur den Menschen gut ist. 27 Ob etwas gut ist oder nicht, ist also danach zu beurteilen, inwiefern es der Verwirklichung der Tugendideen f¨ orderlich ist oder nicht. Wenn man im homo-mensura-Satz der Mensch ist das Maß ” aller Dinge“ unter Mensch“ die dem Menschen m¨ ogliche Vollkommenheit ” versteht, dann ist der Unterschied zwischen beiden S¨ atzen weniger groß, als es zun¨ achst scheinen mag. Die Bezeichnung der Ideen als Gott betont aber den kategorialen Unterschied zwischen den Bestimmtheiten des Mensch-Seins, die zeitlicher Ver¨ anderung nicht unterworfen sind, und den einzelnen Menschen in ihrem zeitlichen Lebensvollzug. ¨ In Ubereinstimmung mit den u ¨brigen Textstellen zur Angleichung an Gott konzipiert der Athener diese auch in den Nomoi als Verwirklichung der Tugendideen. Der Athener wendet sich an dieser Stelle jedoch ausdr¨ ucklich an die Siedler, entsprechend ist der zugrunde liegende Tugend26 27
Vgl. zu dieser Interpretation der Picht (1996a, S. 164f.). Der Gott des deus-mensura-Satzes sind die Ideen. Kratylos 385e-386e best¨ atigt diese Interpretation: Sokrates legt dort den homo-mensura-Satz aus. Nach dieser Auslegung wollte Protagoras sagen, dass die Dinge so sind, wie sie einem jeden erscheinen. Ge386e1, gen diese Lehre wendet Sokrates ein, dass die Dinge ihr eigenes Sein“ ( ” e4) haben. Das Sein kommt den Dingen aufgrund ihrer Teilhabe an den Ideen zu; entsprechend ist nicht der Mensch das Maß daf¨ ur, was etwas ist, sondern die Idee.
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begriff auf den Gehorsam gegen¨ uber den Gesetzen eingeschr¨ ankt. Allerdings sind die Gesetze auf die F¨ orderung der Tugend der B¨ urger ausge¨ richtet. Die erkenntnism¨ aßige Seite der Tugend ist auf die Uberzeugung von der Richtigkeit der Gesetze reduziert. Anders verh¨ alt sich das allerdings, wenn der Athener nicht u ¨ber die Siedler, sondern u ¨ber die Gesetzesw¨ achter spricht: Bei ihnen fordert der Athener, dass sie g¨ ottliche“ ( ” 966d1) M¨ anner sein m¨ ussten, die u ¨ber Einheit und Vielheit der Tugend dialektisch Rechenschaft ablegen k¨ onnen (965c-e), die u ¨ber ein Wissen von der Wahrheit der Gesetze“ verf¨ ugen, sie in Worten“ ( ) ausle” ” gen, in [ihren] Taten“ ( ) befolgen und die sch¨ onen und nicht ” sch¨ onen Handlungen ihrer Natur nach“ ( ) unterscheiden k¨ on” nen (966b6-8). Die Ausbildung der Gesetzesw¨ achter wird in den Nomoi – anders als die der Philosophenk¨ onige der Politeia – nicht ausgef¨ uhrt. Aber wie ihre Kollegen in der Politeia m¨ ussen auch die Gesetzesw¨ achter der Nomoi in Dialektik geschult sein, damit sie Rechenschaft davon ablegen k¨ onnen, inwiefern die Tugend eine Einheit ist und inwiefern sie sich in die vier Kardinaltugenden differenziert. Das Wissen von der Wahrheit der Gesetze setzt die Kenntnis der Prinzipien voraus, nach denen die Gesetze erlassen wurden; auch hier geht es um die Kenntnis der Tugendideen. Die Gesetze sind allgemeine Regeln zur Anwendung auf den Einzelfall, worin im Politikos ihre Defizienz gegen¨ uber einer Vernunft liegt, die das jeweils Gute genau erfasst. Die Auslegung der Gesetze durch die W¨ achter f¨ uhrt auch im Staat der Nomoi im Idealfall dazu, das Gute genau zu erfassen. Die F¨ ahigkeit zur Auslegung der Gesetze r¨ uckt die Gesetzesw¨ achter in die N¨ ahe der im Politikos angesprochenen Vernunft. Die Gesetzesw¨ achter sind dann in der Lage, die Sch¨ onheit von Handlungen ihrer Natur nach, d. h. am Maßstab der Idee des Sch¨ onen zu beurteilen. Schließlich sollen die Gesetzesw¨ achter aber nicht nur u ¨ber theoretische Kenntnis der Gesetze verf¨ ugen, sondern auch praktisch tugendhaft sein. Bei den Gesetzesw¨ achtern finden wir jene intensive Einheit von tugendhafter Praxis und theoretischem Tugendwissen, die in den u ¨brigen Dialogen die Angleichung an Gott kennzeichnet.
9.7 Zum Gottesbegriff der Angleichung an Gott“ ” Gott“ bzw. g¨ ottlich“ kann im Rahmen der Platonischen Philosophie ” ” vieles genannt werden: G¨ ottlich“ sind Menschen, die in intensiver Wei” se die eigene Tugend verwirklichen (z. B. Politeia 383c4), g¨ ottlich“ sind ” die Seelen (z. B. Nomoi 726a3, 728b1) und das denkende Seelenverm¨ ogen (z. B. Alkibiades 133c, Politeia 589d2, 589e4, 590d), insbesondere aber die mit Vernunft begabte Weltseele (z. B. Nomoi 899a9, 966e1). Da in
Zum Gottesbegriff der Angleichung an Gott“ ”
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der Weltseele die Vernunft das Herrschende ist (z. B. Nomoi 897b1-3 28 , Philebos 28c7f., 28d9f., 30d, vgl. dazu die Herrschaft der menschlichen Vernunft z. B. Politeia 442d1f. und Nomoi 875c7-d2), w¨ are diese Vernunft m¨ oglicher Kandidat f¨ ur das Pr¨ adikat Gott“. 29 G¨ ottlich“ sind – vielfach ” ” betont – die Ideen (z. B. Phaidon 80a, Politeia 611e2, Politikos 269d6, otter“ nennt Platon die mythischen G¨ otter (z. B. TiTimaios 37c6 30 ). G¨ ” maios 40dff., Nomoi 717af.) und die Himmelsk¨ orper (z. B. Timaios 39eff., Nomoi 886d), Gott“ heißen die Welt (z. B. Timaios 34b, 92c8) und der ” Weltbildner, der Demiurg (z. B. Timaios 30d3). Die vielfache Verwendung der Benennungen Gott“ bzw. g¨ ottlich“ scheint Ausdruck einer ” ” gewissen Beliebigkeit und terminologischen Unsch¨ arfe zu sein. 31 Selbst wenn Gott“ als pr¨ adikativer Begriff und nicht als Bezeichnung einer Sub” stanz zu verstehen ist, bleibt die Frage, ob dasjenige, dem der pr¨ adikative Begriff zugesprochen wird, in bloß homonymer Weise Gott“ bzw. g¨ ott” ” lich“ genannt wird, oder ob der Pr¨ adikation eine einheitliche Bestimmung zugrunde liegt. Eine andere Erkl¨ arung bietet sich an: Platon bezeichnet eine Sache als Gott“ bzw. g¨ ottlich“ aufgrund ihrer Beziehung zu den Ideen. Die ” ” Ideen selbst sind g¨ ottlich“, der Demiurg heißt Gott“, weil er nach dem ” ” Vorbild der Ideen die Seele und den Kosmos bildet, der Demiurg ist das wirkende Moment der Ideen und die Begr¨ undung daf¨ ur, dass nicht allein die Ideen sind, sondern auch die erscheinende Welt existiert. Die Vernunft ist g¨ ottlich“, weil sie Ideen zu denken vermag, die Seele, weil sie Prin” zip geordneter, d. h. ideenbestimmter Bewegung ist. Die Himmelsk¨ orper sind G¨ otter“, weil die kosmische Bewegung in ihrer Ordnung ein Bild ” der vollkommenen Ordnung der Ideen untereinander ist; die Welt insgesamt ist als wahrnehmbarer Gott“ (Timaios 92c8) Bild der denkbaren ” Ideen. Wenn schließlich die Seele g¨ ottlicher“ ist als der Leib (Phaidon ” 91c8), dann bedeutet das zweierlei: Erstens ist die Seele das den Leib beherrschende Prinzip, zweitens ist auch der Leib als Organismus, als ein geordnetes Ganzes und als Instanz von Ideen g¨ ottlich“. Die mythischen ” G¨ otter werden in verschiedenen Kontexten jeweils unterschiedlich aufgefasst: Im Timaios sind sie analog zum Demiurgen konzipiert, wie der Demiurg bet¨ atigen sie sich ordnend, aber die von ihnen geformten sterblichen Lebewesen sind weniger vollkommen als die unsterblichen Werke des Demiurgen (Timaios 41a-d, 42e8f.). Im zweiten Buch der Politeia 28 29
30 31
Zur Textgestalt der Stelle vgl. Steiner (1992a, S. 162). In diesem Sinne hat z. B. Menn (1995) eine Monographie zu der Frage Plato on God ” “ vorgelegt. Zu Platons Konzeption des g¨ ottlichen beachte J¨ ager (1967, as S. 106-143). Zu dieser Textstelle vgl. Verdenius (1954, S. 246). Verdenius (1954, S. 244) versucht, diesen Befund dadurch zu erkl¨ aren, dass Gott“ f¨ ur ” adikativer Begriff“ gewesen sei. die Griechen prim¨ ar ein pr¨ ”
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Zur Platonischen Angleichung an Gott
sind die G¨ otter der Tradition personifizierte Tugend, im Phaidros personifizieren sie sogar die unterschiedlichen Weisen intensiver Verwirklichung menschlicher Tugend. Platon benutzt dabei die anthropomorphen G¨ otter zur Darstellung der Tugendideen. Auch wenn es nicht m¨ oglich ist, f¨ ur die Gesamtheit der Textbefunde bei Platon einen einfachen Begriff von Gott anzugeben, im Kontext der Angleichung an Gott ist unter Gott“ die Gesamtheit der Ideen zu verste” hen. 32 Die Angleichung an Gott besteht in der Erkenntnis der Ideen und in der Verwirklichung der Tugendideen. Die beiden Aspekte, Erkenntnis der Ideen und Verwirklichung der Tugendideen, lassen sich unterscheiden, aber sie k¨ onnen nicht voneinander getrennt werden. Dabei nimmt die Angleichung zwei unterschiedliche Formen an: Die Erkenntnis der Ideen ist ein Akt des Denkens, die Verwirklichung der Tugendideen ist Sache der Praxis und des Lebensvollzuges. Im Falle der Verwirklichung der Tugend macht der Mensch sich selbst zu einer Instanz der Tugendideen; trotz der Angleichung bleibt ein kategorialer Unterschied, n¨ amlich derjenige zwischen Instanzen und Ideen. Im Falle der Erkenntnis der Ideen scheint dieser kategoriale Unterschied nicht zu bestehen: Die denkbaren Bestimmtheiten werden dabei nicht instantiiert, sondern gedacht als dasjenige, was sie selbst f¨ ur sich selbst sind. Zur n¨ aheren Bestimmung des Verh¨ altnisses zwischen denkbaren Bestimmtheiten und der denkenden Seele bedarf es achst einer begrifflichen Bestimmung dessen, was Seele ist. zun¨
32
Diese Ansicht teilt auch De Vogel (1970c, S. 220).
10 Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens 10.1 Welches Problem soll die Annahme von Seele l¨osen? F¨ ur das Verst¨ andnis von Platons Seelenlehre ist es n¨ otig, das philosophische Problem zu kl¨ aren, das die Annahme von Seele l¨ osen soll. 1 Daf¨ ur ist zun¨ achst nicht das einzelne Lebewesen, sondern der Kosmos insgesamt zu betrachten. Der Kosmos ist ein geordnetes Ganzes. Der geordnete Kosmos verharrt nicht in bewegungsloser Starre, sondern ist im Gegenteil vielf¨ altig bewegt. Bewegung ist ein Moment der Unordnung, denn die Bewegung ist ein Anders-Werden, das Bewegte verharrt nicht in Identit¨ at mit sich selbst, sondern es wird anders als es selbst war. Den Gedanken des Anders-Werdens kann man auf die Spitze treiben: Wenn man eine bewegte Sache betrachtet, dann wird diese Sache anders als sie selbst vor der Ver¨ anderung war. Gleichwohl h¨ alt sich in dieser Ver¨ anderung eine Selbigkeit durch, die uns die Identifikation der ver¨ anderten Sache mit der zuvor unver¨ anderten Sache erlaubt. In der Bewegung sind die beiden Momente von Selbigkeit und Andersheit miteinander verbunden. Der Grenzfall der Bewegungslosigkeit l¨ age vor, wenn die Sache ohne jede Andersheit ganz in Identit¨ at mit sich selbst verharrte. Wie verh¨ alt es sich mit dem anderen Grenzfall, wenn die Bewegung als Andersheit ohne jede Identit¨ at gedacht wird (vgl. Theaitetos 182c-183b, Nomoi 893b8 und 898b6-9)? In diesem Falle kann von einer bewegten Sache“ offenbar nicht mehr die Rede sein, ” weil keinerlei durchg¨ angige Identit¨ at vorliegt, die es uns erlauben w¨ urde, das im n¨ achsten Moment Vorliegende mit dem Vorherigen zu identifizieren. Was auch immer im n¨ achsten Moment existiert, es ist vollkommen anders als dasjenige, was in einem fr¨ uheren Moment existierte, und steht mit diesem in keinerlei Zusammenhang. Die ganz als Andersheit und ohne jede Identit¨ at gedachte Bewegung ist vollkommen diskontinuierlich; die Bewegung ist nicht mehr Bewegung eines identischen Etwas, sondern zerf¨ allt in zusammenhanglose Zust¨ ande. Von einem Kosmos kann hierbei keine Rede sein. In einer solchermaßen bewegten Welt k¨ onnte es kein Lebewesen geben, das einen fr¨ uheren Zustand der Welt mit einem sp¨ ateren Zustand vergleichen k¨ onnte. Denn das w¨ urde voraussetzen, dass zumin1
Vgl. zu dem Folgenden auch Kapitel 3.2.
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Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens
dest das Lebewesen irgendwie mit sich selbst identisch bliebe. Aber selbst wenn es ein solches Lebewesen g¨ abe, k¨ onnte es mangels irgendeines Zusammenhangs in der Bewegung darin auch keinerlei Ordnung ausmachen. Aus diesem Gedankengang ergibt sich die erste Frage: Im kontinuierlichen Werden sind Identit¨ at und Andersheit miteinander verflochten; wodurch ist die Verflechtung der beiden Momente zu kontinuierlichem Werden garantiert? Platon erl¨ autert das Problem einer rational erkennbaren Ordnung in der Bewegung nicht in der oben angedeuteten Radikalisierung. Das Beispiel ungeordneter Bewegung, das er vor Augen hat, sind umherirrende Planeten. Die Bewegung, um die es dabei geht, ist Ortsbewegung. Die bewegte Sache, der einzelne Planet, kann abgesehen von der Ortsbewegung als unver¨ anderlich gedacht werden, er bleibt in der Bewegung durchg¨ angig als ein identisches Etwas erhalten; die Kontinuit¨ at der Ortsbewegung bleibt gewahrt. Zu beachten ist allerdings, dass die Voraussetzung selbstidentischer Gegenst¨ ande f¨ ur Platon im Falle der Himmelsk¨ orper zwar zul¨ assig ist (Timaios 41a8-b2), dass anderen Gegenst¨ anden aber Ver¨ anderungen aller Art zukommen (vgl. dazu Theaitetos 181d6 und den Bewe¨ gungskatalog Nomoi 893b-894d), bis hin zum Ubergang der Elemente ineinander (Timaios 49bf., 54b7f.). Mit der Voraussetzung selbstidentischer Gegenst¨ ande liegt eine bereits in hohem Maße geordnete Struktur vor. Die Bewegung im dreidimensionalen Raum kann auf sechs m¨ ogliche Bewegungsrichtungen zur¨ uckgef¨ uhrt werden (vgl. Timaios 43b1f.), aus denen sich alle weiteren Bewegungsrichtungen gleichsam vektoriell zusammensetzen lassen. Auch im Falle der Ortsbewegung ist es n¨ utzlich, zun¨ achst zwei Grenzf¨ alle zu betrachten: Wenn ein Gegenstand in einer der sechs Richtungen gleichf¨ ormig bewegt ist, dann nimmt der bewegte Gegenstand zwar fortw¨ ahrend einen anderen Ort ein, aber die Bewegung selbst ist unandert und in diesem Sinne durch Identit¨ at gepr¨ agt. Die Bewegung ist ver¨ einfach und sie ist rational als gradlinige Bewegung erkennbar. 2 Der andere Grenzfall besteht darin, dass die Bewegung frei von Identit¨ at eine fortw¨ ahrend andere Richtung einnimmt. Bei gelegentlichem Richtungswechsel w¨ urde der bewegte Gegenstand eine Zick-Zack-Bahn“ beschrei” ben, die sich vern¨ unftig analysieren l¨ asst in gradlinige Abschnitte, die in bestimmten Winkeln zueinander stehen. Auf einer Kreisbahn wechselt der Gegenstand zwar ebenfalls fortw¨ ahrend seine Richtung, aber er tut das einer Regel gem¨ aß; die Regelm¨ aßigkeit des Richtungswechsels macht die Kreisbahn rational erkennbar. Wenn eine Bewegung weder durch ab2
Gleichwohl ist nicht die gradlinige, sondern die Kreisbewegung f¨ ur Platon die einfachste und am meisten mit sich selbst identische Ortsbewegung. Der Grund daf¨ ur ist, dass die gradlinige Bewegung ein Fortschreiten zu immer wieder anderen Orten ist, w¨ ahrend die Kreisbewegung in sich selbst zur¨ uckkehrt.
Welches Problem soll die Annahme von Seele l¨ osen?
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schnittsweise Gradlinigkeit noch durch regelm¨ aßige Richtungs¨ anderung, sondern durch g¨ anzliche Andersheit in jedem Moment gepr¨ agt ist, dann l¨ asst sich diese Bewegung rational nicht erfassen. Verglichen mit einer solchen Bewegung sind die erscheinenden Planetenbewegungen relativ einfach. Wir wissen, dass sich die Planeten auf Ellipsenbahnen um die Sonne bewegen; die scheinbaren Bewegungen der Planeten sind aber Projektionen der wahren Bahnen von der bewegten Erde aus betrachtet. Die scheinbaren Bewegungen sind dadurch kompliziert, weil in den mehr oder weniger kreisf¨ ormigen Bewegungen R¨ uckl¨ aufe auftreten. Solche Bewegungen stehen im Hintergrund, wenn Platon von Gegenst¨ anden sagt, sie bewegten sich wahnsinnig und ungeordnet“ ( ” , Nomoi 897d1) bzw. irrational und ohne Maß“ ” ( , Timaios 53a9, vgl. 43b1, 46e6 und 48a7). Im Falle von geordneter Bewegung lassen sich das Maß und die Anordnung der hat die Konnotation der milit¨ arischen Schlachtordnung) Elemente ( rational erfassen. Wenn eine rational erfassbare Ordnung fehlt, dann ist die Bewegung irrational, es scheint sich um die Bewegung eines Wahnsinnigen zu handeln. Trotz der scheinbar irrational umherirrenden Planeten gilt f¨ ur die welthafte Bewegung insgesamt, dass sie messbar und in ihrer Ordnung rational erfassbar ist. Das scheinbare Umherirren der Planeten ist gerade deshalb so auff¨ allig, weil es sich in die insgesamt wohlgeordnete Bewegung der Himmelsk¨ orper nicht f¨ ugt. Die Planetenbewegung widerlegt nicht die Annahme kosmischer Ordnung, sondern vor dem Hintergrund umfassender kosmischer Ordnung ist die rationale Erkl¨ arung der Planetenbewegung eine Aufgabe f¨ ur die Vernunft. Obwohl eine Erkl¨ arung der Planetenbewegung aussteht, gelten die Himmelsbewegungen als geordnet. Die daraus entspringende zweite Frage ist: Wie ist es zu erkl¨ aren, dass die kosmische Bewegung geordnet ist? Welthafte Bewegung ersch¨ opft sich nicht in der r¨ aumlichen Bewegung von Dingen, die abgesehen davon in unver¨ anderlicher Selbstidentit¨ at verharren: Dinge ver¨ andern sich. Auch in der Ver¨ anderung von Dingen sind die Momente von Identit¨ at und Andersheit miteinander verkn¨ upft. Sobald man beide Momente voneinander isoliert, ist die Ver¨ anderung aufgehoben, denn Identit¨ at allein schließt Ver¨ anderung aus, Andersheit allein schließt jede Identit¨ at einer sich ver¨ andernden Sache aus. Wie ist es angesichts der Ver¨ anderlichkeit der Dinge m¨ oglich, diese erkennend zu unterscheiden und sich sprachlich auf sie zu beziehen? Das Problem besteht darin, dass die unterschiedene und angesprochene Sache im n¨ achsten Moment eine andere ist als die zuvor gemeinte. Die L¨ osung dieses Problems bietet zun¨ achst die Unterscheidung von Bestimmtheiten und bestimmten Dingen. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung l¨ asst sich in Anlehnung an Timaios 50af. die Ver¨ anderung eines Goldklumpens folgendermaßen
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Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens
beschreiben: Der Goldklumpen mag zu einem Zeitpunkt t1 die Gestalt einer Kugel und zu einem sp¨ ateren Zeitpunkt t2 die eines W¨ urfels haben. Dem Klumpen kommen die Bestimmtheiten des Goldes, der Kugel und des W¨ urfels zu. Die Unterscheidung von Bestimmtheit und bestimmter Sache erlaubt uns, dem Klumpen zum Zeitpunkt t1 sowohl das Gold-Sein als auch das Kugel-Sein zuzuschreibend, ohne dass wir das Gold-Sein und das Kugel-Sein deswegen miteinander identifizieren m¨ ussten. Die Verschiedenheit der beiden Bestimmtheiten bleibt auch dann erhalten, wenn sie derselben Sache zukommen. Wir k¨ onnen zum Zeitpunkt t1 u ¨ber den Klumpen wahrheitsgem¨ aß sagen: das ist Gold“ und das ist eine Kugel“, ” ” und wir k¨ onnen dabei jeweils an der Identit¨ at des Gemeinten festhalten. Zwischen t1 und t2 formt der Goldschmied aus der Kugel einen W¨ urfel. Die Bestimmung des Gold-Seins kommt dem Goldklumpen durchg¨ angig zu, aber die Gestalt des Goldes hat sich ver¨ andert, es hat die Bestimmtheit der Kugel abgelegt und die des W¨ urfels angenommen. Die in der kontinuierlichen Bewegung durchg¨ angige Bestimmtheit des Goldes erlaubt die Identifizierung der Kugel mit dem W¨ urfel. Aber die Unterscheidung von Bestimmtheiten und bestimmter Sache erlaubt uns auch, an der Differenz zwischen Kugel-Sein und W¨ urfel-Sein festzuhalten. Die Bestimmtheiten werden durch die Ver¨ anderung ihrer Instanzen nicht affiziert. Weil KugelSein verschieden ist von W¨ urfel-Sein, k¨ onnen wir den goldenen W¨ urfel zum Zeitpunkt t2 von der goldenen Kugel, die zum Zeitpunkt t1 vorlag, unterscheiden. Zum Zeitpunkt t2 k¨ onnen wir nicht nur feststellen: das ist ” Gold“ und das ist ein W¨ urfel“, sondern auch dasselbe Gold, das eben ” ” eine Kugel war, hat jetzt die Gestalt eines W¨ urfels angenommen“. Ver¨ anderung ist stets bestimmte Ver¨ anderung. Eine ver¨ anderliche Sache ist sowohl in ihrer Identit¨ at mit sich selbst als auch in ihrer Verschiedenheit von sich selbst bestimmt. Eine bestimmte Sache ver¨ andert sich auch nur in bestimmter Weise, z. B. wird aus der goldenen Kugel ein goldener W¨ urfel, nicht aber eine silberne Kugel. Angesichts der Ordnung der Ver¨ anderung stellt sich die dritte Frage: Wie ist es zu erkl¨ aren, dass Ver¨ anderung geordnet ist? Wir haben diese Frage bereits soweit beantwortet, dass wir die Bestimmtheit der Ver¨ anderung auf die Bestimmtheit der ver¨ anderlichen Dinge zur¨ uckgef¨ uhrt haben. Die vierte Frage lautet also: Wie ist es zu erkl¨ aren, dass die Dinge bestimmt sind? Die Bestimmtheit der Dinge und die Ordnung ihrer Bewegung, sowohl der Ortsbewegung als auch der Ver¨ anderung, machen die Welt zu einem Kosmos. Die bisher differenzierten Fragen sind Ausdruck eines philosophischen Problems. Das Problem, das die Annahme von Seele l¨ osen soll, ist: Wie ist es zu erkl¨ aren, dass die Welt ein Kosmos ist? Die Seele, um die es dabei geht, nennt
Die Lehre der Atheisten: Nomoi 888d-892d
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Platon die Seele des Alls“ ( , Timaios 41d5), wof¨ ur in ” der Kommentarliteratur der Ausdruck Weltseele“ gebr¨ auchlich ist. 3 ” Bis hierhin haben wir in unserer Problemexposition die menschliche Seele noch nicht in Erw¨ agung gezogen. Auch im Falle der menschlichen Seele ist es n¨ utzlich, zun¨ achst das Problem zu kl¨ aren, zu dessen L¨ osung Seele anzunehmen ist. Die Problemstellung im Falle der Einzelseele ist mit der oben dargelegten Aufgabe der Weltseele verwandt, aber nicht identisch. Die Verwandtschaft besteht darin, dass es in beiden F¨ allen um geordnete Bewegung geht. Im Falle des Menschen lassen sich verschiedene Bewegungsarten unterscheiden: Der Mensch entsteht und vergeht. Der einmal entstandene Mensch w¨ achst und entfaltet sich, er nimmt ab und wird hinf¨ allig, bevor er schließlich vergeht (zum Entstehen, Vergehen, Wachsen und Abnehmen siehe Nomoi 893ef.). Es handelt sich hierbei um physiologische Prozesse, in denen ein hochgradig geordneter Organismus hervorgebracht wird. Die physiologischen Prozesse dienen der Aufrechterhaltung des Leibes. Der Leib ist notwendig, damit das Lebewesen sich im Raum bewegen kann (vgl. Timaios 44d9-e3). Der Leib bewegt sich im Raum, aber diese Bewegung ist nicht bloßer Prozess, der Leib bewegt sich nicht irgendwie, sondern planvoll (vgl. Phaidon 98c-99a). Zu der planvollen Bewegung, dem Handeln, geh¨ oren auch die Verrichtung von Werken, z. B. die Herstellung oder der Gebrauch von Artefakten, und die Verwirklichung der Tugend. Herstellung und Gebrauch von Artefakten setzen ein Verst¨ andnis dessen voraus, welchen Zweck das Artefakt erf¨ ullen soll (vgl. Politeia 596b6f., 601d8-602a2). Zur Verwirklichung der Tugend bedarf es der jeweils angemessenen Bewegung des begehrenden, des eifrigen und des denkenden Verm¨ ogens (vgl. Timaios 89e4-90a2). Voraussetzung f¨ ur die Kultivierung dieser Verm¨ ogen sind Selbsterkenntnis und ein Begriff davon, was f¨ ur die drei Verm¨ ogen und das so-beschaffene Selbst jeweils gut ist. Wenn der Mensch u ugen soll, bedarf es schlieߨber Erkenntnis verf¨ lich auch noch einer Bewegung, in der er sich die Erkenntnis aneignet; bei dieser Bewegung handelt es sich um das Lernen (vgl. Theaitetos 153b9f.). Aus diesem Gedankengang stellt sich die Frage: Wie sind die Bewegungen des Menschen, insbesondere Erkennen und Handeln m¨ oglich?
10.2 Die Lehre der Atheisten: Nomoi 888d-892d Bevor wir Platons Antwort auf diese Fragen nachgehen, ist diejenige Lehre zu betrachten, die Platon als Gegenposition zu seiner eigenen aufbaut. 3
Steiner (1992a, S. 157 Anm. 56) macht darauf aufmerksam, dass der mit Weltseele“ ” u von Platon nur an dieser einen Stelle ver¨bersetzbare Ausdruck . wendet wird. An anderen Stellen nennt Timaios die Seele des Kosmos schlicht
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Die Atheisten des zehnten Buches der Nomoi geben f¨ ur alle werdenden Dinge drei m¨ ogliche Ursachen an: Sie seien teils von Natur, teils durch ” Kunst, teils aus Zufall“ ( , Nomoi 888e5f.), wobei Natur und Zufall die gr¨ oßten und sch¨ onsten Dinge hervorbr¨ achten, Kunst dagegen nur die kleineren (889a4f.). 4 Bei der Kunst und dem durch sie Erzeugten handelt es sich um menschliche Fertigkeiten und die durch den Techniten hervorgebrachten Werke. Was dagegen unter und zu verstehen ist, f¨ uhrt der Athener nicht genauer aus, er erkl¨ art lediglich (889b1-c2): Feuer und Wasser und Erde und Luft sind alle, so sagen sie, von Natur und aus Zufall, aber keines davon durch Kunst; und die nach diesen entstandenen K¨ orper, etwa die der Erde, der Sonne, des Mondes und der Sterne seien durch diese vollst¨ andig unbeseelten Elemente geworden ( ); durch Zufall aber seien sie, gem¨ aß der einem jeden einzelnen zukommenden Kraft, bewegt worden und wie sie aufeinandertrafen, irgendwie zusammenpassend, Warmes mit Kaltem oder Trockenes mit Feuchtem und Weiches mit Hartem und so viel durch Mischung des Gegens¨ atzlichen dem Zufall gem¨ aß aus Notwendigkeit zusammengemischt worden sei. 5
Natur und Zufall sind Ursachen der Elemente. 6 Aus den Elementen – und in diesem Sinne sp¨ ater als die Elemente selbst – entstehen die K¨ orper. Der Athener hebt die Himmelsk¨ orper eigens hervor, weil es sich bei ihnen nach einer Ansicht um G¨ otter handelt (885e7-886a3), w¨ ahrend andere sie bloß f¨ ur Erde und Steine“ (886d9, 967c3) halten. ” Die Elemente sind vollst¨ andig unbeseelt“ 7 , aber sie bewegen sich ge” m¨ aß ihrer eigenen . Bei dieser k¨ onnte es sich um charakteristische Elementarbewegungen derart handeln, dass sich z. B. Feuer nach oben und Erde nach unten bewegt. Der Text gibt dazu aber keine n¨ aheren Anhaltspunkte. 8 Charakteristische Elementarbewegung dieser Art w¨ are in einem rudiment¨ aren Sinne geordnet, es k¨ onnte sich bei 4
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Die Atheisten lassen sich nicht mit einzelnen historischen Vorbildern identifizieren. Es handelt sich bei ihren Meinungen vielmehr um eine Mischung aus verschiedenen naturphilosophischen und sophistischen Lehren. F¨ ur eine Analyse dieser Quellen siehe Mahieu (1964). ¨ Ubersetzung von Steiner (1992a, S. 27ff.). und siehe Steiner (1992a, S. 115). Mahieu (1963, F¨ ur Parallelstellen zu S. 15, 17) identifiziert in der Lehre der Atheisten Natur und Zufall miteinander. Der Athener differenziert beide aber zumindest andeutungsweise: Wenn es um Bewegung und Verbindung der Elemente geht, ist vom Zufall, nicht aber von der Natur die Rede (889b5-c2); Natur“ nennt er dagegen die Elemente selbst (891c3) bzw. deren ” Entstehen (892c2). auf die Elemente oder auf Zu der Frage, ob Natur und Zufall zu beziehen ist, siehe Mahieu (1963, S. 10 Anm. 3). Zu dieser Vermutung vgl. Timaios 58b9f., 63b-e und Parry (2002, S. 291).
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den Bewegungen aus eigener aber auch um g¨ anzlich ungeordnetes Umherirren handeln. Gem¨ aß ihrer bewegen sich die Elemente mit Notwendigkeit“. Die Notwendigkeit, von der hier die Rede ist, hat ” nichts mit Naturgesetzen im modernen Sinne zu tun, bei denen es sich gerade um die rational erfassbaren, unver¨ anderlichen Strukturen der Natur handelt. Im Timaios werden die Werke der Vernunft von denen der Notwendigkeit und denen, die beide gemeinsam bewirken, unterschieden (Timaios 47e4f., 69a). Bei der Notwendigkeit handelt es sich um die f¨ ur die Vereinzelung der Ideen in Instanzen notwendige Mitursache eines aufnehmenden Prinzips. 9 Die notwendige Mitursache ist bestimmbar durch die Ideen, genauer: Die Notwendigkeit wird durch die Vernunft u ¨berzeugt ( 48a2, a4, 56c6) zur Formung durch die Ideen. F¨ ur sich ist die notwendige Mitursache frei von jeglicher Bestimmtheit, aber einmal geformt ist sie f¨ ur weitere Bestimmung durch die Vernunft nur bedingt geeignet (50d7-e6); aus diesem Grund kann es so scheinen, als w¨ urden sich die Werke der Notwendigkeit dem Wirken der Vernunft zu einem gewissen Grade widersetzen. Die Elemente sind zwar nicht unbestimmt, weil sie aber selbst unbeseelt und unvern¨ unftig sind, handelt Timaios sie unter den Werken der Notwendigkeit ab (53c-56c). Die notwendige Mitursache wird von anderem bewegt und gibt die Bewegung an anderes weiter, ohne die Einsicht der Vernunft bewirkt sie aber nur das regellos Zuf¨ allige“ ( ” 46e5f.) und gilt daher als umherirrende Ursache“ ( ” 48a7). Die Atheisten im zehnten Buch der Nomoi sind sicher keine Anh¨ anger von Timaios, aber der Timaios erkl¨ art, in welchem Sinne Platon die Atheisten von Notwendigkeit sprechen l¨ asst: Im Timaios ist die Vernunft Gegenbegriff der Notwendigkeit. Der Gegensatz von Vernunft und Notwendigkeit ist bei den Atheisten weniger prominent als bei Timaios. Aber er braucht in ihre Position nicht erst hineingelesen zu werden, denn Verursachung durch eine Vernunft (oder einen Gott) lehnen sie ausdr¨ ucklich ab (Nomoi 889c5f., vgl. 967a3-5). Die Vernunft ist Ursprung rational erfassbarer Ordnung und daher Inbegriff geordneter Bewegung in der Welt; demgegen¨ uber ist die Notwendigkeit Inbegriff dessen, was sich der Ordnung durch die Vernunft entzieht. Die Atheisten geben den Zufall als Ursache f¨ ur die Verbindung der Elemente zu K¨ orpern an, die Notwendigkeit erl¨ autert, was dabei unter Zufall zu verstehen ist: Das Zuf¨ allige ist kein Werk der Vernunft. Die Elemente m¨ ogen sich zu K¨ orpern verbinden, aber diese Verbindung ist frei von rational erfassbarer Ordnung und in diesem Sinne zuf¨ allig. Zu dieser Interpretation der Notwendigkeit als Gegenbegriff der Vernunft f¨ ugt es sich, dass die Atheisten die Elemente 9
Vgl. zur Notwendigkeit Brisson (1994, S. 467-478), die noch immer hilfreichen Ausf¨ uhrungen von Cornford (1937, S. 162-177) und Kapitel 3.4.
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als vollst¨ andig unbeseelt konzipieren, denn eine vern¨ unftige Seele k¨ onnte die Elemente auf vern¨ unftige Weise miteinander verbinden. In der Charakterisierung der Position der Atheisten ist die Ablehnung der Seele als Ursache der entscheidende Punkt. Die Unbeseeltheit ist vollst¨ andig“ ( ), d. h. die Formung der Elemente ist nicht die ” Leistung irgendeiner Seele, ihre Kraft zur Bewegung ist nicht auf eine eigene, selbstbewegte Seele zur¨ uckzuf¨ uhren und ihre Verbindung zu K¨ orpern ist nicht als Werk einer vern¨ unftigen Seele zu erkl¨ aren. Der Verweis auf Natur und Zufall als Ursachen zielt darauf, seelische Verursachung auszuschließen. Wie verh¨ alt es sich mit der dritten Ursache, der Kunst? Die Lehre der Atheisten hat einen naturphilosophischen und einen politischen Aspekt; die Kunst wird sowohl in der Naturphilosophie als auch in den ethisch-politischen Lehren beansprucht. In der Naturphilosophie werden aus Kunst nur die kleineren Werke hervorgebracht, und selbst bei diesen leistet die Kunst keine urspr¨ ungliche Verursachung. Denn der Technit u ¨bernimmt“ die Werke der Natur (889a6), d. h. er ist in der ” Aus¨ ubung seiner Kunst auf die durch Natur und Zufall hervorgebrachten K¨ orper angewiesen. Zuerst m¨ ussen die nat¨ urlichen K¨ orper vorliegen, die ater bearbeiten kann. Auch wenn die technische Verursader Technit sp¨ chung nachrangig ist, k¨ onnte das immerhin ein Ort sein, an dem seelische Verm¨ ogen beansprucht werden und eventuell der Seele eine verursachende Funktion zukommt. ¨ In den Uberlegungen zur Staatskunst besteht die Rolle der Kunst nicht darin, die Werke der Natur zu u ¨bernehmen und weiter zu bearbeiten. Das Werk der Kunst sind jetzt die Gesetze, die das Sch¨ one und Gerechte festlegen und denen die G¨ otter ihr Sein verdanken (889e4ff.). Im Falle des Sch¨ onen stehe die Festlegung der Gesetze im Gegensatz zu denen der Natur, das Gerechte werde allein durch die Gesetze festgelegt, von den Menschen aber fortw¨ ahrend ge¨ andert (889e6-890a1). Diese Lehre ließe erwarten, dass die Atheisten sich mit Aussagen dazu, was gerecht ist, zur¨ uckhalten; das ist gleichwohl nicht der Fall, sondern die Atheisten erkl¨ aren: das Gerechteste sei das, was einer mit Gewalt durchsetzt“ (890a3f.). ” Ob es auch die Atheisten selbst oder nur irgendwelche anderen Leute sind, die sich auf obige Bestimmung der Gerechtigkeit f¨ ur ein gem¨ aß der Na” tur richtiges Leben“ (890a7) berufen, bleibt allerdings offen. Entscheidend ist, dass die Festlegungen der Gesetze im Gegensatz zu denen der Natur stehen k¨ onnen. Die Frage ist auch hier: Was beanspruchen die Atheisten ¨ in der Verursachung aus Kunst? Uber welche seelischen Verm¨ ogen muss derjenige verf¨ ugen, der Gesetze u one und Gerechte erl¨ asst? ¨ber das Sch¨ Wie muss die Seele beschaffen sein, damit ihre Gesetze im Gegensatz zu den Festlegungen der Natur stehen k¨onnen? Muss die Verursachung aus Kunst daf¨ ur nicht eigenst¨ andig gegen¨ uber Natur und Zufall sein?
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Die Atheisten erkl¨ aren sich nicht genauer dar¨ uber, wie Verursachung aus Kunst in Gegensatz treten kann zu Natur und Zufall. Sie behaupten aber, dass neben den Himmelsk¨ orpern ferner auch alle Lebewesen und ” 889c4) auf dieselbe Weise herPflanzen“ ( vorgebracht werden, n¨ amlich durch Natur und Zufall. Die Atheisten gehen nicht soweit, den Lebewesen die Beseelung insgesamt abzusprechen. Sie behaupten aber, dass die Elemente als das Erste von allem zu betrach” ten seien“ ( 891c2f.), w¨ ahrend Seele erst ” sp¨ ater aus diesen“ ( 891c4) entstanden sei. Die Seele ist damit prinzipiell – d. h. ihren Prinzipien nach – von den K¨ orpern nicht verschieden. Sowohl Seele als auch K¨ orper bestehen aus unbeseelten Elementen, die sich zuf¨ allig miteinander verbinden. Wenn es richtig ist, dass die Natur Ursache des Daseins der Elemente und der Zufall Ursache f¨ ur Bewegung und Verbindung der Elemente ist, dann stellt sich zumindest die Frage, ob auch die Bewegungen der Lebewesen einschließlich solcher, die mit menschlicher Kunstfertigkeit verbunden sind, bloß zuf¨ allig sind? Die Atheisten halten nicht nur die Elemente f¨ ur das Erste und die Seele ihnen gegen¨ uber f¨ ur sp¨ ater, sondern mit der Seele halten sie auch die mit ihr verwandten“ ( 892a8) Verm¨ ogen und ” Werke, n¨ amlich Meinung, F¨ ursorge, Vernunft, Kunst und Gesetz f¨ ur sp¨ ater als die Elemente und den aus diesen Elementen gebildeten K¨ orper. Damit ist auch menschliche Kunstfertigkeit nichts anderes als zuf¨ allige Elementarbewegung. Wenn das so ist, dann stellt der Schreiner den Tisch nicht aus Einsicht in die Funktion dieses Artefakts her, sondern bloß zuf¨ allig. Damit ist zumindest fraglich, ob Kunst gegen¨ uber Natur und Zufall u andige Ursache sein kann. 10 ¨berhaupt eine dritte, eigenst¨ 10
Die Position der Atheisten ist f¨ ur moderne Leser deshalb so interessant, weil sie gewisse Parallelen zu einem weithin verbreiteten naturwissenschaftlichen Materialismus aufweist. Beispielhaft f¨ ur viele andere seien die Naturphilosophie von Kanitscheider (1996) und spezifisch zum Problem der Willensfreiheit Walter (1999) genannt. Bei aller Differenzierung zeichnet sich der naturwissenschaftliche Materialismus genau dadurch aus, was der Athener als Quelle der unvern¨ unftigen Meinungen der Atheisten identifiziert: Sie halten die materiellen Elemente f¨ ur das Erste und die Seele f¨ ur das den materiellen Elementen gegen¨ uber Sp¨ atere. Es w¨ are interessant, den Vergleich zwischen den Atheisten, die sich Platon im vierten vorchristlichen Jahrhundert als Gegenposition aufbaut, und dem naturwissenschaftlichen Materialismus genauer zu entwickeln. Hier sei wenigstens auf einige grunds¨ atzliche Punkte hingewiesen: 1. Kanitscheider (1996, S. 15) f¨ uhrt aus: Der Mensch wurde mit allen seinen spezifischen kognitiven ” und normativen Freiheitsgraden von der Natur hervorgebracht.“, und Walter (1999) betitelt seinen Beitrag als: Neurophilosophie der Willensfreiheit. Von libertarischen ” Illusionen zum Konzept nat¨ urlicher Autonomie“ (Hervorhebungen vom Verfasser). Wie die Atheisten verstehen Kanitscheider und Walter unter Natur“ zun¨ achst ge” formte Materie ( zun¨ achst“, weil die Natur gesetze noch hinzukommen), die als erste ” Ursache von allem verstanden wird. Die Angabe der Natur“ als erste Ursache wendet ” sich gegen eine urspr¨ ungliche Verursachung durch Seele, Vernunft oder Gott. 2. Die
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Im Phaidon (85eff.) vergleicht Simmias das Verh¨ altnis von K¨ orper und Seele mit dem von einer Leier und ihrer Stimmung ( ) und bringt damit die Lehre von der Seele als einer Stimmung auf. Die Stimmung besteht in dem richtigen Verh¨ altnis der Teile einer Leier zueinander. Der Vergleich mit der Leier ist f¨ ur uns deshalb interessant, weil im Falle der Leier die materiellen Teile das Erste, die Stimmung aber von den Teilen abh¨ angig und ihnen gegen¨ uber sp¨ ater ist (Phaidon 94c5f.). Der Analogie entsprechend w¨ are auch die Seele sp¨ ater als der K¨ orper. Bei allen Differenzen – in der Nachrangigkeit der Seele gegen¨ uber dem K¨ orper stimmen die von Simmias vorgetragene Lehre und die der Atheisten u ¨berein. In seiner Erwiderung (94bff.) gibt Sokrates Simmias zu bedenken, dass die als Stimmung verstandene Seele den K¨ orper nicht beherrschen und sich auch nicht gegen die mit dem K¨ orper verbundenen Begierden und Affekte wenden k¨ onnte. F¨ ur die Atheisten ist der K¨ orper eine Mischung der EleAtheisten f¨ uhren die Verbindung der Elemente auf Zufall“ und blinde Notwendig” ” keit“ zur¨ uck, Kanitscheider auf physikalische Naturgesetze. Ein Fortschritt von Zufall und blinder Notwendigkeit zu Naturgesetzen besteht darin, dass Naturgesetze rational einsehbar sind. Die Bildung geordneter Strukturen erkl¨ aren Naturgesetze besser als Zufall und blinde Notwendigkeit. 3. Mit der Seele sind auch die zur Seele geh¨ orenden Leistungen sp¨ ater als der K¨ orper. Eine seelische Leistung ist z. B. das Handeln aus vern¨ unftigen Gr¨ unden, das Walter (1999, S. 294) folgendermaßen erkl¨ art: Handeln ” aus Gr¨ unden bedeutet, daß bestimmte Hirnstrukturen kausal eine Handlung bewirken und diese Hirnzust¨ ande einen repr¨ asentationalen Gehalt haben, der in einer rationalen Erkl¨ arung der Handlung (der Begr¨ undung) eine wesentliche Rolle [einnimmt].“ Der K¨ orper, der gem¨ aß dem naturwissenschaftlichen Materialismus fr¨ uher ist als die Seele, ist ein neuronales Netz bzw. das Gehirn. Der Zustand im neuronalen Netz verursacht die Handlung mechanisch“. Dass der Zustand im neuronalen Netz mit Erleben und ” Denken verbunden ist und der Handlung eine Einsicht in das f¨ ur den Menschen Gute zugrunde liegt, spielt f¨ ur diese Begr¨ undung der Handlung eine untergeordnete Rolle. Kanitscheider (1996, S. 15) f¨ uhrt Leben, Bewußtsein und Erkenntnis“ auf Selbstorga” ” nisation“ zur¨ uck. Problematisch ist der Begriff der Selbstorganisation“: Naturgesetze ” m¨ ogen die Organisation der Materie erkl¨ aren, aber inwiefern handelt es sich dabei ), geordnete um Selbstorganisation? Hat die Materie ein eigenes Verm¨ ogen ( der Materie zu erkl¨ aStrukturen in sich selbst hervorzubringen? Wie w¨ are die ren? Organisiert sich die Materie selbst, oder wird die Materie durch die Naturgesetze organisiert? 4. Sowohl die modernen Materialisten als auch die Atheisten der Nomoi beanspruchen, dass die Materie bestimmt ist, n¨ amlich als Neuron, Molek¨ ul, Atom bzw. Feuer, Wasser, Erde, Luft. Platonisch handelt es sich bei der Bestimmtheit der Materie um Ideen. Welche Erkl¨ arung bieten die alten und neuen Materialisten f¨ ur die Bestimmtheit der Materie? Die alten Materialisten verweisen auf die Natur“, die ” neuen auf Naturgesetze“. 5. W¨ ahrend die Atheisten die Natur“ nicht weiter erkl¨ aren, ” ” fragt Kanitscheider (1996, S. 113-127) ausdr¨ ucklich nach der Herkunft der Naturgesetze. An diesem Punkt ist Kanitscheider Platons Atheisten voraus. Zur Erkl¨ arung der Naturgesetze wendet Kanitscheider (1996, S. 121f.) sich gegen die Zufallshypothese“ ” und die Planungshypothese“ (im Original kursiv) eines außerhalb der Welt befind” lichen kosmischen Ordners (d. i. Platonisch der Demiurg), sondern pl¨ adiert f¨ ur eine Hypothese der vielen Welten“ (im Original kursiv). Der Zweck der Hypothese der ” ” vielen Welten“ besteht allerdings vor allem darin, das Staunen u ¨ber die Feinabstim” mung“ der Naturgesetze zu mildern.
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mente, er ist aus Natur. Wenn die Verursachung aus Kunst auf die Seele zur¨ uckzuf¨ uhren ist, das aus Kunst Verursachte aber in Gegensatz zu dem aus Natur verursachten treten kann, dann muss die Seele in Gegensatz zu dem treten k¨ onnen, was aus Natur ist. Die Phaidon-Stelle zeigt, dass eine Seele, die ihrer Konzeption nach sp¨ ater ist als das K¨ orperliche, nicht in Gegensatz zu diesem treten kann. Welche Antwort k¨ onnten die Atheisten auf die in Kapitel 10.1 aufgeworfenen Fragen geben? Die Atheisten verf¨ ugen gem¨ aß ihrer eigenen Lehre u ur das Sein der ¨ber die Elemente, u ¨ber die Natur als Ursache f¨ Elemente und u ¨ber den Zufall als Ursache der Vermischung der Elemente zu K¨ orpern. Wie k¨ onnten sie damit die Bestimmtheit der Dinge erkl¨ aren? Zun¨ achst sind die Elemente selbst schon bestimmt. Die Atheisten setzen mit den Elementen etwas Bestimmtes voraus, ohne von dessen Bestimmtheit noch Rechenschaft abzulegen. Die Atheisten beanspruchen implizit, was Platon durch die Annahme von Ideen als Ursache und einer aufnehmenden Mitursache explizit erkl¨ art. Die Unterscheidung von Bestimmtem und Bestimmtheit ist den Atheisten fremd. Welche Erkl¨ arung k¨ onnen die Atheisten f¨ ur die Ordnung der Bewegung angeben? Weil nach ihrer Ansicht die Elementarbewegung zuf¨ allig ist und sie die Annahme eines ordnenden Bewegungsprinzips ablehnen, bleibt die Ordnung kosmischer Bewegung unerkl¨ arlich. Dass alle Elementarbewegung zuf¨ allig ist, schließt die Bildung geordneter Strukturen nicht aus, aber es gibt f¨ ur diese Ordnung keine Erkl¨ arung und es kann auf Grundlage der Lehre der Atheisten auch keine Erkl¨ arung daf¨ ur geben. Wie erkl¨ aren die Atheis¨ ten menschliches Erkennen und Handeln? Uber das Erkenntnisverm¨ ogen erkl¨ aren sie sich gar nicht, im Falle des Handelns beanspruchen sie die Kunst immerhin als gegen¨ uber Natur und Zufall nachgeordnete Ursache. Einerseits f¨ uhren die Atheisten die Gesetzgebung auf Kunst zur¨ uck und behaupten von den Gesetzen, sie st¨ unden im Widerspruch zu dem, was aus Natur und Zufall ist. Andererseits bleiben sie eine Erkl¨ arung schuldig, wie es u oglich sein soll, aus Kunst in einen Gegensatz zu Na¨berhaupt m¨ tur und Zufall zu treten. Weil die Kunst Natur und Zufall nachgeordnet ist, bleiben letztlich auch das k¨ unstlerische und gesetzgebende Schaffen bloß zuf¨ allig. Die Atheisten betrachten die Elemente als das Erste und die Seele als etwas, das sp¨ ater aus den Elementen entstanden ist (Nomoi 891c1891c7) der 4). Der Athener erkennt in dieser Lehre die Quelle“ ( ” unvern¨ unftigen Meinung“ nicht nur der Atheisten, sondern u ¨berhaupt ” aller, die sich mit den Untersuchungen u ¨ber die Natur“ ( ” 891c8f.) besch¨ aftigt haben. Gemeint ist die gesamte vorsokratische Naturphilosophie. Zur Erkl¨ arung dieser Beurteilung bedarf es einer Untersuchung dessen, was von allem Werden und Vergehen die erste Ur”
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sache“ ( 891e5f.) ist. Die folgende Untersuchung der Bewegungsarten und der Ursache von Bewegung soll genau dieses leisten: die erste Ursache von allem Werden und Vergehen anzugeben. Es gibt zu unserer Textstelle eine fast gleichlautende Parallelstelle. Im Phaidon lobt Sokrates Kebes f¨ ur seinen Einwand gegen die Unsterblichkeit der Seele: Denn wir m¨ ussen [nun] insgesamt die Ursache von Wer” den und Vergehen durchgehen.“ ( Phaidon 95e8f.). Bevor Sokrates seine eigene Lehre von den Ursachen entfaltet, geht er die Positionen der Na” turforschung“ ( , Phaidon 96a7) durch. Die Lehre der Atheisten in den Nomoi ist eine Mischung aus der Naturphilosophie von Vertretern dieser Art der Philosophie und den ethisch-politischen Lehren verschiedener Sophisten. 11 Letztere spielen im Phaidon keine Rolle, aber die dort referierten Positionen der Naturphilosophie haben eine ge¨ wisse Ahnlichkeit mit der Lehre der Atheisten: Beide Lehren nennen als Ursache, was f¨ ur Platon nicht den Status der Ursache, sondern lediglich der Mitursache beanspruchen kann. Der Vergleich zwischen den beiden Stellen aus Phaidon und Nomoi ist interessant nicht so sehr wegen der Positionen, gegen die Platon sich jeweils abgrenzt, sondern f¨ ur die jeweiligen Antworten auf die Frage nach der Ursache von Werden und Vergehen“: ” Auf den entscheidenden Punkt reduziert, nennt Sokrates im Phaidon die Ideen als Ursache, w¨ ahrend der Athener in den Nomoi die Seele anf¨ uhrt. Zu u altnis diese beiden Antworten zuein¨berlegen ist, in welchem Verh¨ ander stehen. Zuvor ist die Erwiderung des Atheners auf die Atheisten genauer zu betrachten.
10.3 Die Seele als Selbstbewegung: Nomoi 893b-896d Der Athener unterscheidet zehn Arten der Bewegung (Nomoi 893cff.), die ersten acht sind: Rotation um einen ruhenden Mittelpunkt, rollende oder gleitende Fortbewegung, Trennung und Verbindung, Wachsen und Abnehmen, Werden und Vergehen. 12 Der Athener untersucht die Arten der Bewegung nicht um der aufgez¨ ahlten acht Arten willen, sondern we11 12
Siehe dazu Anmerkung 4 auf Seite 270. Zu dieser Einteilung vgl. Steiner (1992a, S. 127-134) und Steiner (1992b, S. 131-133), f¨ ur andere Vorschl¨ age zur Z¨ ahlung siehe G¨ orgemanns (1960, S. 197 Anm. 3). Brisson (1998, S. 190) fasst Trennung und Verbindung, Wachsen und Abnehmen, Entstehen ) und Vergehen gem¨ aß Theaitetos 181d6 unter dem Begriff der Ver¨ anderung ( zusammen. F¨ ur Parallelstellen zur Bewegung bei Platon siehe Steiner (1992a, S. 138143).
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gen der beiden u ¨brigen. Als neunte Art nennt der Athener die Bewegung, ” die zwar anderes zu bewegen vermag, sich selbst [zu bewegen] aber unverm¨ ogend ist“ ( 894b8f.), und als zehnte die [Bewegung], die stets sowohl sich selbst als ” auch anderes [zu bewegen] vermag“ ( 894b9f). Die letzten beiden Punkte dieser Aufz¨ ahlung sind von den ersten acht logisch dadurch verschieden, dass es sich bei diesen um verschiedene Formen von Bewegung handelt, w¨ ahrend jene im Hinblick auf den Ursprung der Bewegung differenziert werden. In beiden F¨ allen handelt es sich um Bewegungen, die zwar an anderes weitergegeben werden k¨ onnen, aber im einen Falle liegt der Ursprung der Bewegung in etwas anderem, w¨ ahrend er im anderen Falle in der Bewegung selbst liegt; die eine Bewegung ist fremdbewegt, die andere selbstbewegt. Wie ist die Selbstbewegung zu verstehen? Zun¨ achst ist zu beachten, dass der Athener nicht von einem selbstbewegten Gegenstand, sondern von einer selbstbewegten Bewegung spricht. Das Verh¨ altnis zwischen einem Gegenstand und der ihm zukommenden Bewegung braucht der Athener deshalb nicht zu thematisieren. Es geht nicht darum, dass eine Bewegung einen Gegenstand oder ein Gegenstand sich selbst bewegt, sondern die Bewegung bewegt sich selbst. Zwischen Bewegung und Gegenstand besteht ein kategorialer Unterschied. Die Bewegung hat eine , das Verm¨ ogen zur Vollbringung eines Werkes, wobei es sich nicht um irgendein Werk handelt, sondern um das der Sache spezifische Werk: Selbstbewegung. Schließlich handelt es sich bei der Selbstbewegung um eine reflexive Struktur. Der Athener dr¨ uckt das durch das reflexive Personalpronomen sich selbst“ ( ) aus und er betont das Selbstverh¨ altnis durch Wieder” holung des Pronomens: die Bewegung, die das Verm¨ ogen hat, selbst sich ” selbst zu bewegen“ ( 896a1f., vgl. 895a3). Die Doppelung in der Formulierung selbst sich selbst“ stellt ” ein Bewegendes einem Bewegten gegen¨ uber. Das erste selbst“ bezeich” net das Bewegende, wobei es sich grammatisch und logisch um das Subjekt der Bewegung handelt; das zweite selbst“ bezeichnet das Objekt ” der Bewegung. Das bewegende Subjekt wird in der Gegen¨ uberstellung vom bewegten Objekt unterschieden. Subjekt und Objekt sind aber nicht nur voneinander verschieden, sondern auch miteinander identisch. Das Selbstverh¨ altnis ist eine Relation von zwei miteinander identischen Relata, aber indem sie sich zueinander verhalten, kommt ihnen das Verm¨ ogen zu, sich auch noch zu etwas anderem zu verhalten. Wenn die Relata bloß im Verh¨ altnis zu sich selbst st¨ unden, w¨ are die Selbstbewegung ein bloßes Drehen in sich selbst, von dem anderes nicht affiziert werden k¨ onnte. Aber die Selbstbewegung ist nicht darauf beschr¨ ankt, sich selbst zu bewegen, sie kann vielmehr sich selbst und anderes bewegen.
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Der Selbstbewegung kommt dem Entstehen ( ) und der Kraft ( 894d10) nach der erste Rang zu, der an neunter Stelle aufgez¨ ahlten Fremdbewegung kommt der zweite Rang zu. Wenn die Selbstbewegung eine andere Bewegung hervorruft und diese wiederum eine andere, dann bleibt die Selbstbewegung das erste Bewegende (894e7) und Ursprung ( 895a2) aller folgenden Bewegung. Warum legt Platon so großen Wert auf einen ersten Ursprung der Bewegung, warum gibt er sich nicht mit einem infiniten Regress von jeweils fremdbewegten Bewegungsursachen zufrieden? Was eine Sache ist, weiß man, wenn man den Ursprung angeben kann, von dem her die Sache ist. Ein sicheres Wissen von der Sache kann man entsprechend nur gewinnen, wenn man auch den ersten Ursprung der Sache angeben kann. Ein infiniter Regress von Ursachen schließt die Angabe eines ersten Ursprungs und damit auch eines sicheren Wissens von der Sache aus. Weil unsicheres Wissen u ¨berhaupt kein Wissen ist, setzt die M¨ oglichkeit des Wissens die Existenz eines ersten Ursprungs voraus. Wenn es u ¨berhaupt Bewegung gibt – so der Gedanke Platons –, dann kann der erste Ursprung dieser Bewegung nur die Selbstbewegung sein. 13 Wir k¨ onnen keine Notwendigkeit daf¨ ur angeben, dass es Bewegung gibt; weil es aber Bewegung gibt, muss notwendig Selbstbewegung ihr erster Ursprung sein. Der Athener erl¨ autert diesen Gedanken durch die hypothetische Annahme eines universellen Stillstands (895af.). Wenn dieser Stillstand wieder in Bewegung geraten soll, dann muss die erste Bewegung die Selbstbewegung sein, von der her dann auch alles andere bewegt ist. Die Pointe der Bewegungslehre ist der , den der Athener von der Seele angibt; er bestimmt Seele n¨ amlich als die Bewegung, der das ” Verm¨ ogen zukommt, selbst sich selbst zu bewegen“ ( 896a1f.). 14 Der Athener bestimmt die Seele als Be13
14
Mit seiner Konzeption eines unbewegten Bewegers (Metaphysik Λ 7) scheint Aristoteles Platon zu widersprechen. Der Widerspruch ist scheinbar, weil Aristoteles unter ¨ Bewegung etwas anderes versteht als Platon. F¨ ur Aristoteles ist Bewegung der Ubergang von M¨ oglichkeit zu Wirklichkeit (vgl. z. B. Physik III 1, 201a10f.). Unbewegt (Metaphysik Λ 7, 1073a4) ist der unbewegte Beweger, weil er reine Wirklichkeit ist (Metaphysik Λ 7, 1072b27). Die Wirklichkeit des unbewegten Bewegers ist das Denken des Denkens (Metaphysik Λ 9, 1074b34). Vom Denken sagt Platon aber, dass es sich um Bewegung handelt (z. B. Sophistes 249a1f. und Timaios 89e4-6). Aristote¨ lisch gesprochen ist Bewegung f¨ ur Platon nicht nur der Ubergang von M¨ oglichkeit zu Wirklichkeit, sondern auch die Wirklichkeit selbst. Zu Aristoteles’ Kritik an Platons Konzept der Selbstbewegung siehe Steiner (1992a, S. 143-146) und Steiner (1992b, S. 125 Anm. 82). Die wichtigste Parallelstelle zu dieser Bestimmung der Seele ist Phaidros 245c-e, vgl. ferner Phaidon 105b-106d und Timaios 37b5ff., 46d5-e2, 77b7-c4, 89a1f. Dass die Bestimmung der Seele als Selbstbewegung auch f¨ ur den Timaios gilt, zeigt Brisson (1994, S. 333-340). Zur Interpretation der Seele als Selbstbewegung und der Abwehr verschiedener Missverst¨ andnisse vgl. Mason (1998, insb. S. 26). Die vorliegende Arbeit
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wegung, nicht etwa als einen bewegten Gegenstand. 15 Wir haben bereits festgestellt, dass zwischen Bewegung und Gegenstand ein kategorialer Unterschied besteht. Bei Gegenst¨ anden k¨ onnen wir dreierlei unterscheiden: den werdenden Gegenstand, das aufnehmende Prinzip, in dem der Gegenstand wird, und die Idee als dasjenige, woher der Gegenstand seine Bestimmtheit hat (Timaios 49d1). Der kategoriale Unterschied zeigt sich darin, dass die Seele nicht in dieser Weise auf ein bestimmendes und ein aufnehmendes Prinzip zur¨ uckgef¨ uhrt werden kann. Die Ideen sind unveranderlich, dennoch ist von jenen dreien die Seele am ehesten den Ideen ¨ verwandt. Wir stellen diesen – scheinbar paradoxen – Zusammenhang an dieser Stelle lediglich fest, seine Begr¨ undung steht noch aus. Die Seele ist also erstens Bewegung, zweitens ist sie eine Bewegung, die sich selbst bewegt. Selbstbewegung hat sich als reflexive Struktur erwiesen, als eine Relation von zwei miteinander identischen Relata. Die Selbstbewegung ist demnach nicht so zu verstehen, dass ein Teil einen anderen Teil bewegt – was auch immer hierbei unter Teilen zu verstehen w¨ are. Wenn ein Teil einen anderen bewegt, kann keine Rede davon sein, dass die ganze Sache selbst sich selbst“ bewegt. Indem die Seele sich selbst bewegt, kommt ” ihr drittens das Verm¨ ogen zu, auch anderes zu bewegen. Was ist dieses andere? M¨ ogliche Kandidaten f¨ ur dieses andere sind andere Bewegungen, der durch die Seele belebte K¨ orper und irgendwelche Gegenst¨ ande. 16 Im Sinne der Unterscheidung der selbstbewegten und der fremdbewegten Bewegung, ist jenes andere zun¨ achst die fremdbewegte Bewegung. Die fremdbewegte Bewegung ist dann die Ver¨ anderung eines wahrhaft unbeseelten ” K¨ orpers“ ( 896b8f.). Die Vermittlung der Bewegung geht aus von der Selbstbewegung der Seele, die in ihrer Selbstbewegung noch eine andere Bewegung hervorruft, die ihrerseits zwar niemals sich selbst, wohl aber anderes bewegen kann. Diese Bewegung, die ihren Ursprung nicht in sich selbst hat, bewegt den unbeseelten K¨ orper. Damit ist die Seele Ursprung der Bewegung“ ( ”
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geht u ¨ber den Beitrag von Mason vor allem darin hinaus, Seele nicht bloß als Prinzip von Bewegung, sondern als Prinzip von geordneter Bewegung zu interpretieren. Diesen Aspekt hebt bereits Demos (1968, S. 137) hervor, allerdings folgert Demos (1968, S. 139) aus der Definition der Seele als Bewegung die Unbestimmtheit der Seele: its [der Seele] essence being that it is indeterminate“. Das Wesen der Seele ist, ” Bestimmtheit hervorzubringen; etwas Unbestimmtes kann nicht Bestimmtheit hervorbringendes Prinzip sein. Sofern bei etwas Unbestimmtem u ¨berhaupt von Wesen“ oder ” essence“ gesprochen werden kann, ist seinem Wesen nach unbestimmt nur das die ” Bestimmtheiten aufnehmende Mitprinzip (vgl. Timaios 50d-51a). Steiner (1992a, S. 152) macht darauf aufmerksam, dass das Verh¨ altnis zwischen der Selbstbewegung der Seele und der Bewegung ihres Leibes im Falle eines Dualismus von Leib und Seele problematisch w¨ are. Zur Frage eines leib-seelischen Dualismus bei Platon vgl. De Vogel (1986, S. 171-190).
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Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens
896b4) und zwar von aller Ver¨ anderung und Bewegung“ ( ” 896b1) angefangen bei der ersten Ent” stehung“ ( 896a6f.). Damit ist gegen die Atheisten der Beweis erbracht, dass die Seele fr¨ uher ist als der K¨ orper und dass sie diesen beherrscht (896c1-3).
10.4 Die Seele als vern¨ unftige Selbstbewegung: Nomoi 896d-898d Wir haben das Beweisziel gegen die Atheisten zwar erreicht, aber eine Antwort auf die in Kapitel 10.1 aufgeworfenen Fragen steht nach wie vor aus. Die Seele hat sich zwar als Ursprung aller Bewegung in der Welt gezeigt, aber das erkl¨ art noch nicht, warum die Bewegung geordnet und die Welt insgesamt ein ist. Die Seele ist zwar Prinzip der Bewegung, aber zu erkl¨ aren bleibt, wie sie Prinzip geordneter Bewegung sein kann. Zur Hervorhebung dieser Differenz nimmt der Athener hypothetisch 17 zwei Seelen an: eine wohlt¨ atige und eine, die das Gegenteil zu bewirken ” vermag“ ( 896e5f.). Die beiden Arten von Seele unterscheiden sich dadurch, dass die wohlt¨ atige immer die Vernunft hinzunimmt“ ( ” 897b1f.), w¨ ahrend die andere sich mit Unvernunft vereinigt“ ( ” 897b3). Zu entscheiden ist nun, welche von beiden Seelen Ursprung aller welthaften Bewegung ist. Wenn die welthafte Bewegung eine der Vernunft ¨ ahnliche Natur hat und in verwandter Weise fortschrei” tet“ ( 897c4-6), dann ist sie das Werk der vern¨ unftigen Seele. Wenn die Bewegung wahnsinnig ” und ungeordnet fortschreitet“ ( 897d1), dann herrscht die schlechte Seele. ¨ Um die Ahnlichkeit der welthaften Bewegung mit der Vernunft zu erweisen, bedient sich der Athener eines Bildes. Er rechtfertigt die Verwendung des Bildes damit, dass die direkte Betrachtung der Vernunft einem direkten Blick in die Sonne gleichk¨ ame (897d8f.). Das Motiv der Blendung 17
W¨ ortlich sagt der Athener wir setzen“ ( ) 896e5, vgl. 897b4. Dass es bei der ” Setzung einer b¨ osen Weltseele“ lediglich darum geht, ihre Annahme ad absurdum ” zu f¨ uhren, ist keineswegs u ¨bereinstimmende Meinung aller Kommentatoren, vgl. dazu Steiner (1992a, S. 157-161) und Szlez´ ak (2005, S. 78). Unabh¨ angig von der systemati¨ schen Uberlegung, dass Platon das Schlechte als Mangel an Gutem denkt, ihm aber kein selbst¨ andiges Sein zugesteht (z. B. Theaitetos 176a5f.), weist auch die Formulierung der Textstelle in eine andere Richtung: Der Athener sagt nicht, dass es zweierlei Arten von Seele gibt, sondern dass er sie setzt, um dann die Entscheidungsfrage zu stel897b7) Himmel und Erde beherrscht. Die wohlt¨ atige len welche von beiden“ ( ” Seele herrscht, von einer Mitherrschaft der anderen ist keine Rede.
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durch die Sonne verweist auf Phaidon 99d6f. und Politeia 515e8-516a2. In beiden F¨ allen verwendet Platon das Motiv der Blendung durch die Sonne, um die Schwierigkeit der Ideenerkenntnis zu charakterisieren. Die Sonne steht dabei f¨ ur die Ideen u ur die Idee des Guten ¨berhaupt oder speziell f¨ (vgl. Politeia 508aff.). Der Athener entwickelt die Ideenlehre im Gespr¨ ach mit den philosophischen Laien Kleinias und Megillos nicht 18 , aber der Hinweis auf die Blendung durch die Sonne ist deutlich genug: Um der ¨ Ahnlichkeit der welthaften Bewegung mit der Vernunft auf den Grund zu gehen, m¨ usste die Ideenlehre entfaltet werden; der Leser kann diese Ausf¨ uhrungen aus den u anzen. Das Bild f¨ ur die Ver¨brigen Dialogen erg¨ nunft ist die an einem Ort verharrende, um einen Mittelpunkt kreisende Rotationsbewegung. 19 Von beiden Bewegungen, Rotation und Denken, heißt es (Nomoi 898a8-b1), sie bewegten sich im selben Sinne“ ( ” ), d. h. in der selben Drehrichtung, auf dieselbe Weise“ ( ), ” d. h. nicht bald in der einen und bald in der anderen Richtung 20 , im ” Selben“ ( ), d. h. an derselben Stelle, um dasselbe“ ( ” ), d. h. um denselben Mittelpunkt herum, auf dasselbe hin“ ( ” 21 ), nach einem Gesetz“ ( ), d. h. alle Punkte be” wegen sich mit derselben Drehgeschwindigkeit, und in einer Ordnung“ ” ( ), d. h. die Verh¨ altnisse, in denen die drehenden Punkte zueinander stehen, ¨ andern sich nicht 22 . Bewegung zeichnet sich durch Andersheit aus, die bewegte Sache wird anders als sie zuvor war. Aber bei aller Andersheit ist die Rotationsbewegung vor allem durch Identit¨ at gepr¨ agt. Die umst¨ andliche Aufz¨ ahlung der verschiedenen Hinsichten dient genau dazu, die Selbstidentit¨ at der Rotationsbewegung hervorzuheben. Alles, was an der Rotationsbewegung identisch ist, kann im Denken festgehalten werden; die Rotation ist Paradigma einer rational erfassbaren Bewegung. Die Rationalit¨ at der Rotation macht sie zu einem geeigneten Bild f¨ ur die Denkbewegung der Vernunft. 18
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G¨ orgemanns (1960, S. 218-226) erkl¨ art, dass der Grund nicht in der Aufgabe der Ideenlehre, sondern in der Zielsetzung der Nomoi liegt. An anderer Stelle spricht G¨ orgemanns (1960, S. 199) aber auch von einer Verschiebung [. . . ] auf die Ausschaltung der ” Ideenlehre hin“; dieser Bewertung hat bereits Steiner (1992a, S. 155f.) widersprochen. ¨ Vgl. zur Interpretation der Ahnlichkeit zwischen Vernunft und Kreisbewegung Lauermann (1985, S. 95-103). Lauermann versucht, f¨ ur die im Folgenden aufgez¨ ahlten Eigenschaften der Kreisbewegung jeweils Analoga im Denken der Vernunft anzugeben. Vgl. dazu Politikos 269e7, im Hintergrund ist an die scheinbaren R¨ uckl¨ aufe der Planeten zu denken. Lauermann (1985, S. 99) erw¨ agt daf¨ ur zwei Interpretationsm¨ oglichkeiten, entweder geht es darum, dass bei der Kreisbewegung jeder Endpunkt zugleich Anfangspunkt ist, oder es ist daran zu denken, dass die Kreisbewegung ihre Richtung fortw¨ ahrend zum Mittelpunkt hin ¨ andert. Hierbei ist im Hintergrund an die Sterne der Sternbilder zu denken, die trotz der Bewegung des Sternbildes ihre relative Stellung zueinander nicht ¨ andern.
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Von der Rotationsbewegung hat der Athener zuvor gesagt, sie sei Quelle ” alles Erstaunlichen“ ( 893d2f.); wenn die Rotationsbewegung ein Bild f¨ ur die Denkbewegung der Vernunft ist, dann d¨ urfte der Bogen zum Staunen als Ursprung der Philosophie (Theaitetos 155d3) nicht zu weit sein. Der Rotation gegen¨ uber stellt der Athener eine Bewegung, die in jeder Hinsicht durch Andersheit gepr¨ agt ist (898b6-9). An dieser Bewegung ist nichts derart mit sich selbst identisch, dass es in seiner Regelhaftigkeit festgehalten und rational erfasst werden k¨ onnte. Eine solche Bewegung d¨ urfte jeder Art von Unvernunft verwandt sein“ ” ( 898b9). Es handelt sich dabei um die wahnsinnige und ungeordnete“ Bewegung, deren Ursprung die vernunft” lose Seele w¨ are. Welche Rolle spielt die Vernunft f¨ ur die Seele? Die T¨ atigkeit der Vernunft ( ) ist das Denken ( ), Gegenstand dieses Denkens ist das Denkbare ( ). 23 Das Denkbare sind die Ideen (z. B. Timaios 48e6), die Bestimmtheiten all dessen sind, was in welthaftem Werden u ¨berhaupt entstehen kann. Das Werden einer einzelnen Instanz und das Werden aller Instanzen insgesamt bilden eine durchg¨ angig bestimmte Ordnung; die Ordnungsprinzipien dieses Werdens sind die Ideen. Das Bewegungsprinzip des Werdens ist die Selbstbewegung, die Seele. Wenn die Selbstbewegung der Seele eine geordnete Bewegung sein soll, dann muss die Seele die Ordnungsprinzipien rezipieren k¨ onnen. Die Ideen sind denkbare Bestimmtheiten; wer auch immer diese Bestimmtheiten erkennen m¨ ochte, der muss sie denken. Genau daf¨ ur braucht die Seele die Vernunft: Die Vernunft denkt die Ideen 24 und erm¨ oglicht damit die erkennende Teilhabe der Seele an den Ideen. Die vern¨ unftige Selbstbewegung rezipiert die Ideen im Denken und realisiert die Bestimmtheiten im Werden. Damit gilt: Die Seele ist Prinzip des Werdens, die Ideen sind Prinzipien der Ordnung, die Vernunft denkt die Ideen und macht damit die vern¨ unftige Seele zum Prinzip geordneten Werdens. 25 Die vern¨ unftige Seele kann Prinzip geordneten Werdens sein, weil sie mittels ihrer Vernunft erkennend an den Ideen teilhat. Wenn es Ideen aber nur vom Guten gibt 26 , wie kann die Seele dann Ursache des Guten und ” 23 24
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Zum Begriff des und dem zugeh¨ origen Wortfeld vgl. J¨ ager (1967). J¨ ager (1967, S. 136) vermeidet es, die Ideen in diesem Zusammenhang beim Namen zu erfaßten Gegenst¨ ande[n] nennen, er spricht statt dessen lieber von den mit dem ” , die , die , wie sie im Phaidon, in der Politeia und im (also die Timaios genannt werden)“. Vgl. dazu J¨ ager (1967, S. 140): Hier [Nomoi 897b] wird ganz eindeutig klar, daß die ” das Prinzip der Bewegung, aber das Prinzip der Ordnung ist.“ Den Schluss, dass der Prinzip der Ordnung“ sein kann, weil er die Ideen denkt, u asst ¨berl¨ ” J¨ ager – nicht anders als Platon in den Nomoi – dem Leser. Vgl. dazu Kapitel 5.3.
Die Seele als vern¨ unftige Selbstbewegung: Nomoi 896d-898d
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Schlechten, des Sch¨ onen und H¨ asslichen, des Gerechten und Ungerechten und aller Gegens¨ atze“ (896d6-8) sein? Die Seele ist nicht Ursprung der Bestimmtheiten, d. h. sie ist nicht Ursprung der Ideen des Guten, Sch¨ onen und Gerechten, sondern sie ist Prinzip des Werdens der Instanzen des Guten, Sch¨ onen und Gerechten. Instanzen sind nicht Bestimmtheiten, sondern sie haben Bestimmtheiten. Die Instanzen haben nicht nur eine einzige Bestimmtheit, sondern viele. Ihre Bestimmtheiten kommen ihnen teils an sich, teils in Relation zu anderem zu. Was in der einen Hinsicht sch¨ on sein mag, kann in anderer Hinsicht h¨ asslich sein; z. B. ist Sokrates seiner Gestalt nach h¨ asslich, der Seele nach aber sch¨ on. Die Gestalt des Sokrates mag zwar h¨ asslich sein, aber offenbar ist sie kr¨ aftig genug, um aus ihm einen tapferen Hopliten zu machen. Sokrates’ K¨ orper mag f¨ ur die Teilnahme an einem Sch¨ onheitswettbewerb ungeeignet sein, f¨ ur die Belastungen des Kriegsdienstes ist er dagegen sehr wohl geeignet. Die Bestimmtheit der Instanzen bringt es mit sich, dass sie sich in der einen Hinsicht als gut und in anderer Hinsicht als schlecht erweisen. Die Bestimmtheit der Sache ist zun¨ achst etwas Gutes, aber als eine so bestimmte Sache hat sie zahlreiche und gegens¨ atzliche (nicht widerspr¨ uchliche) Eigenschaften. Weil die Bestimmtheit des Werdenden auf die Seele zur¨ uckgeht, erscheint die Seele als Ursache des Guten und Schlechten etc. In unserer gew¨ ohnlichen Einstellung nehmen wir die kosmische Ordnung als selbstverst¨ andlich hin. Es ist dagegen auch nichts einzuwenden, aber in der Philosophie – genauer: in der Metaphysik – geht es darum, den Ursprung von allem“ 27 anzugeben. Auf die Frage, warum die Welt ” ein ist, antwortet Platon durch Angabe eines Prinzips, n¨ amlich der vern¨ unftigen Selbstbewegung. Der Seele kommt dabei wesentlich eine Vermittlungsfunktion zu, n¨ amlich die Vermittlung zwischen den seienden Bestimmtheiten und dem welthaften Werden. 28 Die Angabe der Prinzipien ist gerade nicht als Flucht vor dem Werdenden in eine philosophische Hinterwelt zu verstehen; sie ist im Gegenteil Ausdruck dessen, was Simplikios mit dem Stichwort der Rettung der Ph¨ anomene“ 29 bezeichnet: ” Platon sch¨ atzt die werdende Welt nicht gering, sondern nimmt sie als Werden ernst und bem¨ uht sich um eine Erkl¨ arung daf¨ ur, wie geordnetes Werden u oglich ist. Platon setzt aber in dieser Frage das ¨berhaupt m¨ Werden nicht schon voraus, er macht die existierende Welt nicht zu einer Voraus-Setzung, sondern sucht nach einer Erkl¨ arung daf¨ ur, wie die Welt u undung erfolgt durch Angabe von Prinzi¨berhaupt sein kann. Die Begr¨ 27 28 29
Aristoteles Metaphysik A 3, 983b8; f¨ ur Parallelstellen bei Platon siehe z. B. Phaidon 96a8, 97c1, Timaios 48c3 und Nomoi 896d5-8. Die Vermittlungsfunktion der Seele betonen bereits Steiner (1992b, S. 107-176), Menn (1995, S. 34-42) und Szlez´ ak (2005, S. 79). Vgl. dazu Anmerkung 21 auf Seite 258.
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pien; bei diesen Prinzipien handelt es sich um die Ideen insgesamt. Das Prinzip der Welt kann nicht ein Teil oder Aspekt der werdenden Welt selbst sein. Die Teile oder Aspekte der Welt sollen begr¨ undet werden und k¨ onnen daher nicht schon als Grund angegeben werden. Deshalb erhalten die Prinzipien der Welt eine Stellung, die gew¨ ohnlich als transzendent“ ” bezeichnet wird. F¨ ur seine transzendenten“ Prinzipien ist Platon viel” fach getadelt worden, oft in Verbindung mit einem Lob f¨ ur Aristoteles, der die Prinzipien der Welt immanent“ konzipiere. Bei aller N¨ ahe von ” Platon und Aristoteles zielt diese Sprechweise auf einen Unterschied zwischen beiden. Wichtig ist aber, den Grund dieses Unterschiedes nicht zu u voraus und fragt nach ¨bersehen: Aristoteles setzt den fertigen dessen immanenten Prinzipien. Entsprechend braucht Aristoteles keinen g¨ ottlichen Demiurgen, der eine Weltseele bildet, die transzendente“ Ideen ” in immanentem Werden verwirklicht.
10.5 Das Denken der g¨ottlichen Vernunft Um geordnete Bewegung hervorbringen zu k¨ onnen, muss die Seele die ” Vernunft hinzunehmen“ ( , Nomoi 897b1f.). Von der Vernunft, die die Seele hinzunimmt, sagt der Athener, sie sei ein Gott ” 30 897b2); offenbar handelt mit Recht f¨ ur G¨ otter“ ( es sich dabei nicht um eine menschliche, sondern um eine g¨ ottliche Vernunft. Worum handelt es sich bei dieser g¨ ottlichen Vernunft? In welchem Verh¨ altnis steht sie zur Seele? Ist diese Vernunft gegen¨ uber der Seele selbst¨ andig oder nicht? Platon betont an verschiedenen Stellen, dass Vernunft nur in Verbindung mit einer Seele vorkommt, es handelt sich dabei um Textstellen aus Philebos, Timaios und Sophistes. 31 Im Philebos heißt es: Weisheit und Vernunft d¨ urften ohne Seele niemals entstehen.“ ( ” 30 31
Der Text ist umstritten, zu der hier angenommenen Textgestalt vgl. Steiner (1992a, S.162). F¨ ur die Selbst¨ andigkeit pl¨ adiert Perl (1998), der im Anschluss an De Vogel (1970b, S. 194-209) die g¨ ottliche Vernunft mit dem Demiurgen identifiziert; Perl (1998, S. 83) ), but rather is f¨ uhrt aus: the Demiurge is not a being who has a mind ( ” itself“. Menn (1995, S. 20) gesteht der Vernunft zwar selbst¨ andige Existenz mind, zu, aber er interpretiert sie nicht als mind“, sondern als virtue“; von der Tugend gilt ” ” laut Menn (1995, S. 19): Plato notoriously believes that the virtues exist themselves ” by themselves, independent of whether any human or divine soul ever participates in them.“ Die Verbindung zur Seele besteht laut Menn darin, dass die Vernunft als Tugend zwar selbst¨ andig existiere, die Tugend ohne Seele aber nirgendwo im Kosmos entstehen k¨ onne. Die Gegenposition, wonach die Vernunft nur in der Seele existiere, vertritt beispielhaft Cherniss (1962, App. XI, S. 606f.); dieser Interpretation folgen auch J¨ ager (1967, S. 121) und Frede (1997, S. 217). F¨ ur weitere Literatur siehe die Angaben bei Brisson (1994, S. 76-84).
Das Denken der g¨ ottlichen Vernunft
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Philebos 30c9). Im Timaios erw¨ agt der Demiurg, dass getrennt von Seele unm¨ oglich etwas ” an Vernunft teilhaben k¨ onne“ ( , Timaios 30b3f.), und weiter unten heißt es: Wir m¨ ussen ” sagen, dass dasjenige, dem es allein unter dem Seienden zukommt, Vernunft zu erwerben, die Seele ist“ ( , Timaios 46d5f.). Im Sophistes nehmen die Gespr¨ achspartner an, dass dem vollkommen Seienden“ ( ) Ver” nunft zukomme, und folgern daraus, dass es auch Leben und Seele habe (Sophistes 248e7-249a7). Wenn es im Philebos heißt, dass Weisheit und Vernunft ohne Seele niemals entstehen, dann handelt es sich bei Weisheit und Vernunft um etwas, das im zeitlichen Werden der Welt verwirklicht werden kann; von der Idee der Weisheit und einer zeitenthobenen Vernunft ist hier nicht die Rede. Wenn es aber um die Instantiierung von Weisheit und Vernunft im zeitlichen Werden geht, dann ist auch klar, warum das ohne Seele nicht m¨ oglich ist: Erstens ist Seele Prinzip aller zeitlichen Bewegung; im Hinblick auf die Seele als Prinzip aller Bewegung gibt es nichts, was g¨ anzlich ohne Seele im Werden verwirklicht werden k¨ onnte. Zweitens kann ein Stein weder weise noch vern¨ unftig sein. Der Kreis m¨ oglicher Instanzen von Weisheit und Vernunft beschr¨ ankt sich also auf beseelte Lebewesen. Die Textstelle aus dem Timaios geh¨ ort in den Kontext der Formung des Kosmos durch den Demiurgen; damit die von der Vernunft gedachten Bestimmtheiten im Werden verwirklicht werden k¨ onnen, bedarf es der Weltseele. Auch hier handelt es sich also nicht um eine Aussage u ¨ber die g¨ ottliche Vernunft f¨ ur sich selbst betrachtet, sondern um deren welthafte Verwirklichung. Sowohl die Philebos- als auch die Timaios-Stelle eignen sich nicht als Beleg f¨ ur die Unselbst¨ andigkeit der g¨ ottlichen Vernunft. Die Interpretation der Sophistes-Stelle ist aufw¨ andiger, aber wir k¨ on¨ nen dabei auf unsere Uberlegungen aus Kapitel 4.4 und 4.5 zur¨ uckkommen. Gegenstand der Untersuchung ist dort nicht die Seele oder die g¨ ott), woliche Vernunft, sondern das vollkommen Seiende“ ( ” bei es sich um die Gesamtheit der Ideen handelt. Es geht um die Frage, ob dem vollkommen Seienden“ Bewegung, Leben, Seele und Einsicht ” bzw. Vernunft zukommen. Die Gespr¨ achsteilnehmer folgern schrittweise: Wenn dem vollkommen Seienden“ Vernunft zukommt, dann auch Leben; ” wenn Leben, dann auch Seele; wenn Seele, dann auch Bewegung. Der Schl¨ ussel zum Verst¨ andnis der Passage ist die Interpretation der Bewegung. In welchem Sinne sind die Ideen bewegt? Aus dem Gedankengang des Sophistes heraus haben wir die Bewegung als interpretiert. Die ist als Zur-Erscheinung-Bringen einer Bestimmtheit zu verstehen. Die bewegte Idee differenziert sich von allen anderen Ideen und bringt
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Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens
ihre eigene Bestimmtheit zur Erscheinung; sie tritt hervor als diejenige Bestimmtheit, die sie ist. Die Ideen sind denkbare Bestimmtheiten; wenn diese sich zur Erscheinung bringen, dann handelt es sich um einen geistigen Vorgang, nicht um einen Prozess werdender Instanzen. Erkennen u ur Pla¨berhaupt ist f¨ ton eine Unterscheidungsleistung, was insbesondere auch f¨ ur das Denken gilt. Der eigent¨ umliche Gegenstand des Denkens sind die denkbaren Bestimmtheiten, die im Denken voneinander unterschieden werden. Wenn die Ideen sich voneinander unterscheiden zu einer vollkommen ausdifferenzierten Struktur denkbarer Bestimmtheiten, von denen jede sich von allen anderen unterscheidet, die anderen Ideen negativ, sich selbst positiv bestimmt, sich selbst in ihrer Bestimmtheit zur Erscheinung bringt und dabei in bestimmte Relation zu den u ¨brigen Ideen tritt, dann handelt es sich dabei um das genaueste und vollst¨ andigste Denken u ¨berhaupt. Genau ist dieses Denken, weil die einzelnen Bestimmtheiten darin nicht nur unscharf oder n¨ aherungsweise unterschieden werden; vollst¨ andig ist es, weil jede im Denken u ogliche Unterscheidung darin auch ¨berhaupt m¨ vollzogen wird. Die Bewegung des vollkommen Seienden“ ist als geisti” ges Sich-zur-Erscheinung-Bringen eine Denkbewegung. Von einem solchen Denken kann Platon mit Recht sagen, dass es sich um einen g¨ ottlichen handelt. Die Gespr¨ achspartner im Sophistes schreiben dem voll” kommen Seienden“ Vernunft, Leben, Seele und Bewegung zu; um was f¨ ur Bewegung es sich dabei handelt, haben wir gekl¨ art. Zur Erkl¨ arung der Vernunft des vollkommen Seienden“ brauchen wir keine Entit¨ at neben ” den Ideen zu postulieren, vielmehr ist die bewegte Seinsweise der Ideen selbst ein vollkommenes Vernunftdenken. Die vier Pr¨ adikate des vollkommen Seienden“ werden in der Reihen” folge von Vernunft, Leben, Seele und Bewegung auseinander abgeleitet, aber auch der umgekehrte Weg bereitet keine Schwierigkeiten: In der Bewegung sind die beiden Momente von Identit¨ at und Andersheit miteinander verkn¨ upft. Dem zeitlich Bewegten kommen sowohl Andersheit als auch eine durchg¨ angige Identit¨ at zu. Auch die Bewegung der Ideen ist durch die beiden Momente von Identit¨ at und Andersheit gepr¨ agt. Aber w¨ ahrend das zeitlich Bewegte anders als es selbst wird, gilt f¨ ur die Ideen, dass sie anders als anderes und identisch mit sich selbst werden. Die Bewegung bringt die Bestimmtheiten zur Erscheinung. Die Bewegung der Ideen wird nicht durch eine andere Bewegung bewegt, es handelt sich nicht um eine fremdbewegte, sondern um eine selbstbewegte Bewegung. Als Selbstbewegung gen¨ ugt die Bewegung der Ideen dem Begriff der Seele. Das Pr¨ adikat der Seele bringt zum Ausdruck, dass das vollkommen Seiende“ in der Be” wegung sich selbst zur Erscheinung bringt. Indem eine Idee sich selbst zur Erscheinung bringt bestimmt sie sich selbst positiv und die anderen Ideen
Das Denken der g¨ ottlichen Vernunft
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negativ, sie tritt dabei in bestimmte Relationen zu allen u ¨brigen Ideen. In dieser vollst¨ andig ausdifferenzierten Struktur ist die Bestimmung einer Idee untrennbar mit der Bestimmung der anderen Ideen verkn¨ upft. Das vollkommen Seiende“ bildet nicht nur eine artikulierte Einheit, sondern ” ein organisches Ganzes. 32 Die Selbstbewegung einer organisierten Einheit kann als Leben“ bezeichnet werden. Das Leben der Ideen ist die Be” wegung ihres Sich-selbst-zu-geistiger -Erscheinung-Bringens. Das ist aber nichts anderes als das Denken des . Die Selbstbewegung der Seele ist im intensivsten Sinne geordnet, ist sie doch die vollkommen ausdifferenzierte Struktur der Ordnungsbestimmungen selbst. Von dieser Seele w¨ are es nicht angemessen zu sagen, dass sie die Vernunft hinzunimmt“ ” ( , Nomoi 897b1f.), denn ihre Bewegung ist schon ganz vern¨ unftiges Denken. Es geht an dieser Stelle im Sophistes nicht um verschiedene Entit¨ aten, die gegeneinander selbst¨ andige Substanzen w¨ aren oder von denen die eine Substanz, die andere bloß Akzidenz an der Substanz w¨ are; es geht nicht darum, ob der etwas an der Seele ist. Wenn es u ¨berhaupt angemessen ist, von Vernunft“, Leben“, Seele“ und Bewegung“ hier als ” ” ” ” Pr¨ adikaten von etwas zu sprechen, dann handelt es sich um Pr¨ adikate des vollkommen Seienden“. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass ” der Fremde aus Elea die Pr¨ adikate des vollkommen Seienden“ nicht nur ” nominal, sondern auch verbal ausdr¨ uckt (Sophistes 249a1f.). Die Pr¨ adikate dr¨ ucken aus, was das vollkommen Seiende“ tut. Dabei bringen ” die verschiedenen Pr¨ adikate nur einen jeweils anderen Aspekt derselben Bestimmung zum Ausdruck: Das Gegenbild, von dem der Fremde aus Elea das vollkommen Seiende“ abgrenzt, sind heilige und ehrw¨ urdige“ ” ” (vgl. , Sophistes 249a1f.) G¨ otterstatuen, die in Stein gemeißelt werden; solche Statuen k¨ onnen – wenn sie gut gearbeitet sind – das Wesen des dargestellten Gottes durchaus zur (sinnlichen) Erscheinung bringen, aber ansonsten stehen sie vernunftlos“ ( , Sophis” tes 249a2) nebeneinander. Im Gegensatz dazu kommt dem vollkommen ” Seienden“ zu, dass es erstens Bewegung ist, in der es sich zu (geistiger) Erscheinung bringt, dass es zweitens Seele ist, d. h. es handelt sich um Selbstbewegung, dass es drittens organisches Leben ist und dass viertens dieses Leben ein vern¨ unftiges Denken ist. In diesem Denken stehen die Ideen nicht mehr wie G¨ otterstatuen nebeneinander, sondern bilden eine Einheit, in der sich jeder Teil mit jedem organisch verbindet; jeder Teil setzt den anderen voraus und wird selbst von dem anderen vorausgesetzt. Weil das vollkommen Seiende“ alles u ¨berhaupt Denkbare in vollkommen ” differenzierter Einheit denkt und der Seinsweise der Ideen entsprechend 32
Zu der Bestimmung des vollkommen Seienden“ als organische Einheit vgl. ” , Timaios 31b2 mit Anmerkung 38 auf Seite 96 und De Vogel (1970b, S. 198).
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Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens
unabh¨ angig von welthaftem Werden ist, spricht die vorliegende Arbeit von ihm als absolutes Denken“. 33 ”
10.6 Die Seele als Abbild der g¨ottlichen Vernunft Wodurch unterscheidet sich das vollkommen Seiende“ im Sophistes von ” der vern¨ unftigen Seele im zehnten Buch der Nomoi ? Das vollkommen ” Seiende“ ist als Gesamtheit der Ideen der Zeit nicht unterworfen; die Bewegung der Ideen ist keine zeitliche Ver¨ anderung. Die Ideen bewegen zwar sich selbst, aber diese Selbstbewegung ist nicht Anstoß einer anderen, welthaften Bewegung. Die Seele im zehnten Buch der Nomoi ist zwar ebenfalls Selbstbewegung und bringt als vern¨ unftige Seele auch Seinsbestimmtheiten zur Erscheinung, aber die Bewegung der Seele ist Prinzip zeitlicher Bewegung; als Selbstbewegung ist sie Anstoß einer fremdbewegten Bewegung, in der nacheinander immer wieder anderes hervorgebracht wird. Die Seele bringt nicht Bestimmtheiten zu geistiger, sondern bestimmte Instanzen zu sinnlicher Erscheinung. Die Seele ist nicht selbst die Vernunft, sondern sie nimmt die Vernunft hinzu. Die vern¨ unftige Selbstbewegung vermittelt zwischen Ordnungsprinzipien und geordnetem Werden, zwischen Ideen und deren Instanzen. 33
Platon intendiert ein solches Denken zwar und f¨ uhrt es im Sophistes auch ansatzweise aus, aber er benennt es nicht. Wenn es darum ginge, eine solche Benennung bei Platon Sophistes 248e8f. der beste Kandidat. Platons zu identifizieren, dann ist kommt dem nahe, aber vom ist Philebos 30cf., Timaios 30b5, Gebrauch von der Seele die Rede. Timaios spricht ferNomoi 897b1 und an anderen Stellen als , z. B. Timaios 47e4 und 48a1f. Wenn man ner von dem Demiurgen als einem den Demiurgen schlechthin mit den Ideen identifiziert, wie das z. B. Perl (1998, S. 81) tut, dann w¨ aren Benennungen des Demiurgen auch Benennungen f¨ ur die Gesamtheit der Ideen. Der Demiurg nimmt die Ideen als Vorbild f¨ ur die Formung der Welt, was impliziert, dass er die Ideen denken kann; außerdem teilt der Demiurg mit den Ideen die u ¨berzeitliche Seinsweise. Verbunden mit dem Unbehagen, eine demiurgische Figur neben den Ideen anzusetzen, handelt es sich dabei um gute Gr¨ unde f¨ ur die Identifikation des Demiurgen mit den Ideen. Andererseits formt der Demiurg in handwerklicher T¨ atigkeit die Welt, wobei er freilich verschiedene Aufgaben an andere G¨ otter delegiert (Timaios 41a-d). Wie die Ideen in solcher Weise t¨ atig werden k¨ onnten, ist nicht leicht zu erkl¨ aren; es ist deshalb besser, Demiurg und Ideen nicht einfach zu identifizieren. Der Demiurg bleibt eine mythische Figur, mit der Platon etwas artikuliert, wor¨ uber anders als mythisch zu sprechen unm¨ oglich ist. Systematisch gesehen ist die Neidlosigkeit des Demiurgen (Timaios 29e2) Platons Antwort auf die Frage, warum die Ideen die Welt sein lassen – eine Notwendigkeit daf¨ ur l¨ asst sich platonisch nicht angeben; notwendig ist nur die Umkehrung, dass es Ideen geben muss, wenn es eine nicht als Benennung f¨ ur die lebendig denkende Seinsweise Welt gibt. Zwar kann als Denken der Ideen (genitivus der Ideen interpretiert werden, aber trotzdem ist objectivus) zu verstehen.
Die Seele als Abbild der g¨ ottlichen Vernunft
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Der Timaios erkl¨ art die Zwischenstellung der Seele durch ihre Konstruktion. 34 Die mythische Konstruktion der Weltseele erfolgt in mehreren Schritten, deren erster die Herstellung einer Mischung von Kategorien ist (Timaios 35a1-a6): Aus dem Unteilbaren und immer nach demselben sich verhaltenden Sein und aus dem Teilbaren in Bezug auf die K¨ orper werdenden [sc. Sein] mischte er [der Demiurg] aus beiden in der Mitte eine dritte Art des Seins ( 35a3f.), und wiederum aus der Natur des Selben und aus der des Verschiedenen stellte er nach demselben Prinzip in der Mitte zwischen dem, was von ihnen teillos und teilbar in Bezug auf die K¨ orper ist, [sc. eine dritte Art des Seins] zusammen.
In diesem Satz geht es um drei Kategorien: die des Seins, des Selben und des Verschiedenen. In jeder der drei Kategorien werden wiederum Teilbares und Unteilbares unterschieden. Die aus diesen Unterscheidungen resultierenden sechs Kategorien werden nun in drei Mischungen miteinander vermischt: (i) die Mischung des teilbaren und des unteilbaren Seins, (ii) die Mischung des teilbaren und des unteilbaren Selben, (iii) die Mischung des teilbaren und des unteilbaren Verschiedenen. In zwei weiteren Mischungsvorg¨ angen werden die drei bisher gewonnenen Verbindungen miteinander gemischt (35a6-b1): Und dann nahm er diese drei und bildete alle in eine einzige Seinsform ( 35a7, d. i. die dritte Art des Seins, die Seele), die Natur des Verschiedenen, die schwer mischbar ist, zwang er in Harmonie mit dem Selben, [sc. sie alle] mischend mit dem Sein. 35
In diesen beiden Mischungen werden (iv) die Resultate der Mischungen (ii) und (iii) miteinander verbunden, d. h. das aus teilbarem und unteilbarem Selbem Gemischte wird mit dem aus teilbarem und unteilbarem Verschiedenem Gemischten verbunden. Schließlich wird (v) das Resultat der Mischung (iv) mit dem Resultat der Mischung (i), d. i. das aus teilbarem und unteilbarem Sein Gemischte, verbunden. Ergebnis ist eine einzige Verbindung aus allen sechs Kategorien. Diese Mischung ist im Mythos das Material“, aus dem die Seele ist. Dieses Material“ hat aber ” ” nichts mit Materie zu tun, es handelt sich dabei vielmehr um eine Auswahl kategorialer Bestimmungen. Die Auswahl von Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit wird vor dem Hintergrund der Lehre von den gr¨ oßten 34
35
Vgl. zur Konstruktion der Weltseele von Perger (1997, S. 88-101). Dass die Bestimmung der Seele als Selbstbewegung auch f¨ ur den Timaios gilt, zeigt Brisson (1994, S. 335f.). Der letzte Teilsatz ist wie folgt zu interpunktieren: Vgl. dazu Graeser (1969, S. 74).
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Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens
Gattungen im Sophistes verst¨ andlich. 36 Die gr¨ oßten Gattungen sind konstitutiv f¨ ur die Ideen; wenn Timaios diese Gattungen zum Material“ der ” Seele macht, dann bringt er damit eine Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen zum Ausdruck: Dieselben Gattungen sind sowohl f¨ ur die Ideen als auch f¨ ur die Seele konstitutiv. Was soll es bedeuten, dass Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit jeweils teillos“ und teilbar“ sind? Eine Idee ist kein aus Teilen zusammengesetz” ” tes Ganzes. Von einem Ganzen aus Teilen kann nur dann die Rede sein, wenn sich die Teile – wenigstens gedanklich – aus dem Ganzen herausl¨ osen ¨ lassen. Auch die Idee, konzipiert als intensive Uberf¨ ulle aller Seinsm¨ oglichkeiten, ist kein Ganzes aus Teilen, denn die besonderen Ausformungen lassen sich aus der einen Bestimmtheit nicht herausl¨ osen: So ist z. B. die Verwirklichung des Mensch-Seins als K¨ unstler eine besondere Ausformung des Mensch-Seins, aber die k¨ unstlerische Seinsweise ist vom Mensch-Sein nicht zu trennen; umgekehrt ist auch das Mensch-Sein nicht erst durch die Hinzuf¨ ugung des K¨ unstler-Seins ein Ganzes. Teillos sind Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit offenbar, weil sie demjenigen zukommen, was selbst teillos ist, n¨ amlich jeder einzelnen Idee. Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit sind im Ideenbereich aber auch noch in anderer Hinsicht unteilbar: Die Verflechtung der Ideen impliziert, dass keine Idee ohne ihr Verh¨ altnis zu allen anderen Ideen gedacht werden kann; umgekehrt gilt aber auch, dass die Gesamtheit der Ideen nicht zu denken ist, ohne zugleich jede einzelne Idee zu denken. Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit jeder einzelnen Idee sind demnach untrennbar mit Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit jeder anderen Idee verbunden. Insbesondere in der Verschiedenheit einer Idee ist die Verschiedenheit jeder anderen Idee impliziert. Wie sind Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit zu verstehen, insofern sie geteilt sind? Auch die geteilten“ Gattungen sind vor dem Hintergrund ” der Lehre von den gr¨ oßten Gattungen zu interpretieren. Im Timaios ist allerdings nicht einfach nur davon die Rede, dass sie jeweils geteilt ( ) sind, sondern sie sind geteilt in Hinsicht auf die K¨ orper“ (vgl. ” 35a2f. und 35a6). Teilbar und geteilt sind vor allem die K¨ orper, wobei die K¨ orper in der ontologischen Unterscheidung von Immerseiendem und Immerwerdendem f¨ ur das welthaft Seiende u ¨berhaupt stehen. Geteilt“ sind ” Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit, insofern sie demjenigen zukommen, was teilbar und geteilt ist, n¨ amlich den K¨ orpern. Inwiefern kommen die gr¨ oßten Gattungen den K¨ orpern zu? Der Sophistes f¨ uhrt lediglich die Bedeutung der gr¨ oßten Gattungen f¨ ur die Ideen aus, von deren Instanzen ist dabei keine Rede. Wenn die gr¨ oßten Gattungen die Seinsbestimmtheiten konstituieren, dann liegt es nahe, dass sie in irgendeiner Weise auch an 36
Zu dieser Interpretation vgl. Cornford (1937, S. 61-66).
Die Seele als Abbild der g¨ ottlichen Vernunft
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den durch die Ideen bestimmten Dingen vorkommen. Jeder K¨ orper ist in der Weise, in der das Sein K¨ orpern zukommt, n¨ amlich als werdendes, das an seienden Ideen teilhat. Das durch Teilhabe an einer Idee bestimmte Werdende ist dieses mit sich selbst identische Werdende, das zugleich von anderem Werdendem verschieden ist. Identit¨ at mit sich selbst und Verschiedenheit von anderem kommen Werdendem aber immer nur eingeschr¨ ankt und gleichsam teilweise zu: Das Werdende wird anders als es selbst war. Es ist dann nicht mehr identisch mit dem, was es vorher war; und das Werdende wird etwas von demjenigen, von dem es zuvor verschieden war, von dem es nach Vollendung des Werdens aber nicht mehr verschieden ist. Das Material“ der Seele wird aus den gr¨ oßten Gattungen im Bereich ” des Seins und im Bereich des Werdens gemischt. Die Seele selbst ist da), verschieden von durch eine dritte Art des Seins“ ( ” und zus¨ atzlich zu den beiden anderen Arten des Seins. Durch ihre Herkunft kommt der Seele eine Stellung zwischen Sein und Werden zu, in der sie die Vermittlung zwischen beidem leistet. Sie hat an Denken und ” Harmonie teil“ (Timaios 37a1), d. h. sie kann Bestimmtheiten denken und hat dadurch an der harmonischen Ordnung der Bestimmtheiten teil, und sie vermittelt den werdenden Instanzen die Harmonie der denkbaren Bestimmtheiten (37a6-b3). Ordnende Funktion kann die Seele nur deshalb u 34c6) u orper ist und ¨bernehmen, weil sie Herrin“ ( ¨ber den K¨ ” diesen beherrscht. In der kosmologischen Erz¨ ahlung dr¨ uckt Timaios dieses Herrschaftsverh¨ altnis dadurch aus, dass die Seele vor dem K¨ orper geformt wurde und deshalb fr¨ uher ist als jener (34b10-c5), wobei es aber weniger um die zeitliche Reihenfolge ihrer Entstehung geht – die Hervorbringung der Zeit durch den Demiurgen steht an dieser Stelle noch aus –, sondern um ontologische Priorit¨ at: Die Seele hat den Rang einer Ursache, die K¨ orper haben lediglich den von Mitursachen. Die Formung der Seele vor“ dem K¨ orper und ihre Stellung als Herrin“ haben in den Nomoi ” ” ihre Entsprechung darin, dass die Seele als Selbstbewegung dem Werden ) und der Kraft nach ( , Nomoi 894d10) die erste Bewegung ( ist. Der Demiurg mischt das Seelenmaterial“, teilt es in Proportionen, ” spaltet es und bildet daraus den Kreis des Selben und sechs Kreise des Verschiedenen (Timaios 35b-36d, 37a5). Die Bewegung der Seele ist die Kreisbewegung (37a6, vgl. 34a2f.); wann immer sie dabei etwas ber¨ uhrt, das zerstreubares Sein besitzt“ ( ), und etwas ” Unteilbares“ ( ), dann teilt sie etwas mit“ ( ), n¨ amlich wel” ” ” cher Gegenstand mit welchem selbig und von welchem er verschieden ist“ (37a6-8). Das zerstreute Sein“ ist das Sein des Werdenden, es ist teilbar ” und ermangelt der Einheit; das Unteilbare“ sind die Ideen, deren Be”
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Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens
stimmtheit die Seele dem Werdenden mitteilt“, wodurch es u ¨berhaupt ” erst mit sich selbst identisch und von anderem verschieden wird. In der Mitteilung“ verbinden sich zwei Seiten der Seele, n¨ amlich ihre Erkennt” nis und ihre Produktivit¨ at. Auf dem Kreislauf des Selben“ begegnen der ” Seele die Ideen, die entsprechende Bewegung erzeugt Vernunft und Wis” sen“ ( 37c2f.); auf dem Kreislauf des Verschiedenen“ ” begegnet der Seele das sinnlich Wahrnehmbare, wobei zuverl¨ assige und ” wahre Meinungen und Annahmen entstehen“ ( 37b8f.). Um Meinung handelt es sich, weil hier Instanzen auf ihre Ideen bezogen und Einzeldinge unter Allgemeinbegriffe subsumiert werden. Im Kreislauf des Selben denkt die Seele noetisch, im Kreislauf des Verschiedenen erkennt sie dianoetisch, indem sie das sinnlich Wahrnehmbare durchgeht und es in der ideellen Bestimmtheit erkennt, die sie selbst ihm allererst mitgeteilt hat. Wie in den Nomoi ist die Seele im Timaios Prinzip des Werdens. Was bedeutet die R¨ uckf¨ uhrung der Seele auf die Kategorien von Sein, Selbigkeit und Andersheit f¨ ur das von der Seele prinzipiierte Werden? In Kapitel 10.1 haben wir das Werden als eine Verflechtung der Momente von Selbigkeit und Andersheit erkl¨ art. Um die Bedeutung der Verflechtung beider Momente hervortreten zu lassen, haben wir sie gedanklich voneinander isoliert und die Folgen f¨ ur das Werden betrachtet, die sich ergeben w¨ urden, wenn es allein durch Selbigkeit oder allein durch Andersheit charakterisiert w¨ are. Die Beschr¨ ankung auf Selbigkeit w¨ urde Bewegung ausschließen, von Werden“ k¨ onnte dann keine Rede mehr sein. Ohne das ” Moment der Andersheit k¨ onnte die Seele nicht Prinzip von Ver¨ anderung sein. Reduzierte man dagegen das Werden auf Andersheit, dann w¨ are es radikal diskontinuierlich. Die werdenden Dinge“ k¨ onnten unter diesen Be” dingungen nicht anders als sie selbst“ werden, weil kein in der Andersheit ” durchg¨ angig erhaltenes Selbes vorl¨ age. Ohne das Moment der Selbigkeit k¨ onnte die Seele nicht Prinzip eines kontinuierlichen Werdens sein; ohne jegliche Kontinuit¨ at w¨ are dieses Werden zudem vollkommen irrational. Die Verflechtung der beiden Momente von Selbigkeit und Andersheit in der Seele ist Voraussetzung daf¨ ur, dass sie Prinzip kontinuierlicher und rational erfassbarer Bewegung ist. Um Bestimmtheiten zu denken, d. h. um sie identifizierend zu unterscheiden, muss das Denkende u ¨ber die Kategorien von Selbigkeit und Verschiedenheit schon verf¨ ugen. Dass die Seele u ¨ber diese Kategorien verf¨ ugt, erkl¨ art der Mythos dadurch, dass er sie zu dem Material“ macht, ” aus dem die Seele geformt wird. Es zeigt sich damit ein Zusammenhang zwischen der kategorialen Mischung des Seelenmaterials“ und ihrer Ver” n¨ unftigkeit. Der Athener in den Nomoi erkl¨ art die Vern¨ unftigkeit der Seele dadurch, dass sie die Vernunft hinzunimmt“ (Nomoi 897b1f.), Ti”
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maios erz¨ ahlt mythisch, wie die Seele dazu kommt, u ¨ber die Kategorien von Selbigkeit und Verschiedenheit zu verf¨ ugen; Timaios erkl¨ art damit eine Voraussetzung daf¨ ur, dass die Seele die Vernunft hinzunehmen“ und ” vern¨ unftig denken kann. Die Seele denkt die Bestimmtheiten aber nicht nur, sondern sie bringt die Bestimmtheiten auch in den Instanzen hervor. Die von der Seele hervorgebrachten Instanzen sind mit sich identisch und von anderen Instanzen verschieden. Aufgrund ihrer Bewegung sind die Instanzen aber nicht schlechthin mit sich identisch, vielmehr sind bewegte Instanzen mit sich selbst identisch und von sich selbst verschieden. Prinzip der Bewegung ist die Seele, die u ¨ber beide Kategorien, Selbigkeit und Verschiedenheit, verf¨ ugt. Selbigkeit und Verschiedenheit haben f¨ ur die Seele also eine doppelte Funktion: Sie sind Voraussetzung f¨ ur die Bestimmtheit der hervorgebrachten Instanzen und f¨ ur die Bewegung dieser Instanzen. Beide Funktionen sind nicht voneinander zu trennen, wenn die Seele Prinzip bestimmter Bewegung sein soll. Die von der Seele prinzipiierte Bewegung vollzieht sich in der Zeit. Platon bestimmt die Zeit als ein ver¨ anderliches Bild der Ewigkeit“ ( ” , Timaios 37d5f.), genauer: ein unabschließbar ” nach Zahl vorr¨ uckendes Bild der ineins bleibenden Ewigkeit“ ( 37d7f.). Die Ewigkeit ist die Seinsweise der Ideen, wobei Ewigkeit hier nicht im Sinne von al” le Zeit“ zu verstehen ist, sondern als Außerzeitlichkeit. Die Zeit ist ein Bild der Ewigkeit, weil sich in ihr entfaltet, was in der Ewigkeit ineins bleibt, d. h. in der Zeit entstehen und vergehen Instanzen von Ideen, die selbst der Zeitlichkeit nicht unterworfen sind. Die Instanzen realisieren nach und nach die durch die Ideen bereitgestellten Seinsm¨ oglichkeiten. Die Ideen sind eine notwendige Voraussetzung f¨ ur zeitliches Werden, in welchem sich nur dasjenige entfalten kann, was vorher ineins gewesen ist. Die Ideen werden durch die fortschreitende Realisierung ihrer Instanzen aber nicht affiziert – andernfalls w¨ urden die Ideen selbst zu Werdendem. ¨ Weil die Ideen Uberf¨ ulle 37 aller Seinsm¨ oglichkeiten sind, k¨ onnen die bereitgestellten Seinsm¨ oglichkeiten durch die Verwirklichung in den Instanzen nicht ersch¨ opft werden. Die Seinsm¨ oglichkeiten garantieren ein f¨ ur alle Zeit unabschließbares Werden von immer Neuem. Der Kosmos kann nicht alle Seinsm¨ oglichkeiten zugleich verwirklichen, aber durch das zeitliche Werden verwirklicht er dennoch mehr Seinsm¨ oglichkeiten als in werdelosem Stillstand. Deshalb macht die Zeitlichkeit den Kosmos seinem Urbild noch ¨ ahnlicher“ ( 37c8). Zeit ist hier prim¨ ar nicht unter ” dem Aspekt von Verg¨ anglichkeit und Tod aller welthaften Wesen gedacht, sondern als Chance zur Verwirklichung f¨ ur neues Werdendes. Erst auf der 37
¨ Vgl. zum Begriff der Uberf¨ ulle Anmerkung 20 auf Seite 109.
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Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens
Grundlage der Wesenbestimmung der Zeit als einem Abbild der Ewigkeit f¨ uhrt Timaios die Funktion der Gestirne als Zeitzeiger aus (38bff.). Ihre zyklischen Bewegungen bilden ein Maß f¨ ur Zeit, mit dem sich die Dauer von welthaften Prozessen messen und als Anzahl von Maßeinheiten abz¨ ahlen l¨ asst. Auf die Messbarkeit der Zeit zielt Timaios, wenn er von ihr als von einem nach Zahl vorr¨ uckenden Bild der Ewigkeit spricht. In welchem Verh¨ altnis stehen Weltseele und Zeit zueinander? Nachdem Timaios ausgef¨ uhrt hat, wie die Weltseele geformt und in den Weltk¨ orper eingeflochten ist, sagt er: sie begann g¨ ottlichen Anfang endlosen und ” vernunftbegabten Lebens f¨ ur alle Zeit“ ( 36e4f.). Die Seele beginnt“ ” ihr Leben mit der Verbindung von K¨ orper und Seele, und mit dem Leben der Seele beginnt“ auch die Zeit. F¨ ur alles, was in der Zeit wird, ist die ” Zeit eine Voraussetzung in dem Sinne, dass es die Zeit schon geben muss, damit es in der Zeit werden kann. Mit der Seele verh¨ alt es sich anders, sie ist nichts in der Zeit Gewordenes. Die Zeit ist nicht fr¨ uher als die Seele, sondern gleichzeitig mit ihr. Der g¨ ottliche Anfang“ des seelischen ” Lebens bezeichnet keinen Zeitpunkt, sondern den mythischen Sachverhalt der Verbindung von Seele und K¨ orper durch den Demiurgen. Das seelische Leben ist nicht in der Zeit, sondern es ist alle Zeit. Wir haben damit die Elemente versammelt, um den zentralen Gedanken der vorliegenden Arbeit zumindest f¨ ur die Weltseele zu formulieren: Die Seele ist Abbild eines absoluten Denkens. Von den ver¨ anderlichen Instanzen sind unver¨ anderliche Ideen zu unterscheiden. Bei den Ideen handelt es sich um denkbare Bestimmtheiten, die durch das Werden ihrer Instanzen zwar nicht affiziert werden, die aber Seinsm¨ oglichkeiten f¨ ur deren Werden zur Verf¨ ugung stellen. Die Ideen bilden miteinander eine organisierte Einheit, die durch die gr¨ oßten Gattungen“ strukturiert ” wird. Die organisierte Einheit der Ideen ist bewegt; die Bewegung der denkbaren Ideen ist eine Denkbewegung, in der alle Ideen in ihrer Differenzierung voneinander und ihrer Relation miteinander gedacht werden. Prinzip der welthaften Bewegung ist die vern¨ unftige Selbstbewegung. Die vern¨ unftige Selbstbewegung denkt die Ideen, bringt sie in den Instanzen hervor und organisiert damit die welthafte Bewegung zu einem Kosmos. Das Abbildungsverh¨ altnis zwischen Seele und Ideen besteht in einer Analogie, in einer Bestimmung, die das absolute Denken auszeichnet und in der Seele wiederkehrt. Diese Bestimmung besteht darin, dass sowohl im absoluten Denken als auch in der Seele Ideen hervorgebracht werden: Im absoluten Denken werden sie selbst f¨ ur sich selbst, in zeitenthobener Gleichzeitigkeit, ausdifferenziert und organisch geeint hervorgebracht; die seelische Selbstbewegung bringt die Ideen in Instanzen hervor, wobei die Seinsm¨ oglichkeiten nicht gleichzeitig, sondern im zeitlichen Nacheinander
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hervorgebracht werden. Auch im Kosmos sind die Bestimmtheiten ausdifferenziert und organisch geeint, aber die Ausdifferenzierung ist stets begrenzt.
10.7 Die menschliche Seele als Abbild der g¨ottlichen Vernunft W¨ ahrend wir gew¨ ohnlich von der Weltseele“ in Abgrenzung von der ” menschlichen Seele“ sprechen, nennt Platon beides mit demselben Wort ” ; er macht also in der Benennung keinen Unterschied zwischen Weltseele und menschlicher Seele. Was f¨ ur eine Seele unter zu verstehen ist, entnehmen wir dem Kontext. Nicht nur die Benennung ist die dieselbe, sondern auch die Definition. In den Nomoi (896a1f.) definiert der Athener Seele“ als die Bewegung, der das Verm¨ ogen zukommt, selbst sich ” ” selbst zu bewegen“, einen Unterschied zwischen menschlicher und kosmischer Seele thematisiert der Athener nicht. Im Kontext der Definition der Seele geht es um die Weltseele, aber das beweist nicht, dass die angegebene Wesensbestimmung allein der Weltseele zukommt; immerhin geht der Athener im weiteren Gespr¨ ach bedenkenlos von der Weltseele zu den Seelen von sterblichen Lebewesen u ¨ber (Nomoi 898d). Einen Anhaltspunkt daf¨ ur, dass die angegebene Definition nicht allein f¨ ur die Weltseele gilt, bietet die Parallelstelle im Phaidros, denn dort heißt es: Jede Seele ist un” sterblich. Denn das Selbstbewegte ist unsterblich“ ( , Phaidros 245c5f.). In Gedanken ist zu erg¨ anzen, dass jede Seele selbstbewegt ist. Damit ergibt sich der Schluss: Jede Seele ist selbstbewegt, das Selbstbewegte ist unsterblich, also ist jede Seele unsterblich. Wenn es im Phaidros heißt, dass jede Seele unsterblich ist, dann ist dabei vorausgesetzt, dass auch jede Seele selbstbewegt ist. Timaios dr¨ uckt Verwandtschaft und Unterschied zwischen Weltseele und den u ¨brigen Seelen dadurch aus, dass beide aus dem gleichen Seelenma” terial“ geformt werden, das Material der u ¨brigen Seelen ist lediglich nicht ebenso rein“ (w¨ ortlich: unvermischt“, ) wie das der Weltseele ” ” (Timaios 41d4ff.). 38 Wie kommt Platon dazu, den Menschen eine selbstbewegte Seele zuzuschreiben? Der Grund f¨ ur die Annahme der Weltseele ist in den Nomoi die Notwendigkeit eines ersten Prinzips der welthaften Bewegung; die Vernunft der Seele erkl¨ art zudem die Ordnung dieser Bewegung. Den Lebewesen wird Selbstbewegung zur Erkl¨ arung ihrer jeweiligen Verm¨ ogen zugestanden. Der Schluss geht von dem Werk eines Lebewesens auf 38
Timaios spricht sogar davon, es werde das bei der Formung der Weltseele u ¨brig gebliebene Material verwendet (Timaios 41d6f.), obwohl der Demiurg das Material ganz aufgebraucht hatte (36b6).
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Die Seele als Abbild eines absoluten Denkens
sein Verm¨ ogen (vgl. Politeia 477df.) und von seinem Verm¨ ogen auf eine entsprechende Seele zur Erkl¨ arung dieses Verm¨ ogens. Den Lebewesen wird Selbstbewegung zugestanden, weil sie sich aus eigener Kraft bewegen k¨ onnen. Die Tiere zeichnen sich unter den bewegten Dingen dadurch aus, dass sie sich in ihrer Selbstbewegung durch Unterscheidungsleistungen leiten lassen, wobei die handlungsleitende Erkenntnis nicht gleich auf der Ebene der Vernunft zu suchen ist, sondern bei der sinnlichen Wahrnehmung z. B. eines Beutetieres. Die vern¨ unftige Seele des Menschen soll insbesondere das Verm¨ ogen zur Vernunfterkenntnis und zur Bewegung aus Vernunftgr¨ unden erkl¨ aren. Der Mensch kann denken und handeln, weil er u ugt; in Denken und Handeln zeigt ¨ber eine vernunftbegabte Seele verf¨ sich vern¨ unftige Selbstbewegung. Das ist es, was im Phaidon 98c-99a zur Disposition steht: Wenn Sokrates aus der Einsicht im Gef¨ angnis ausharrt, dass es besser“ (Phaidon 98e2) ist, dann setzt das voraus, dass es u ¨ber” haupt m¨ oglich ist zu erkennen, was besser ist, und aus dieser Erkenntnis heraus entsprechend zu handeln. Sehnen und Knochen“ (Phaidon 99a1) ” oder Gehirn“ (Phaidon 96b4) erkl¨ aren dieses Verm¨ ogen jedenfalls nicht. ” Bei ihnen handelt es sich um Mitursachen, Ursache ist die vern¨ unftige Selbstbewegung. Wie verhalten sich die einzelnen seelischen Verm¨ ogen zu der Bestimmung der Seele als Selbstbewegung? Da Seele Bewegung ist, k¨ onnen auch ihre verschiedenen Bet¨ atigungen nichts anderes als Bewegung sein. Der Athener z¨ ahlt in den Nomoi (897a1-4) als seelische Bewegungen Wollen, Erw¨ agen, F¨ ursorgen, Beraten, richtiges und falsches Meinen, Sich-Freuen, Schmerz Leiden, Mutig-Sein, F¨ urchten, Hassen, Lieben und die mit die” sen verwandten Bewegungen“ auf; es handelt sich dabei um Formen der Selbstbewegung, die die zweiten“, d. i. die fremdbewegten Bewegungen, ” hervorrufen. Die fremdbewegten Bewegungen sind die des K¨ orpers, zu deoren. Durch diese zweiten“ Bewegunnen Wachsen, Abnehmen usw. geh¨ ” gen kann die Seele den K¨ orper zu k¨ orperlichen Bewegungen und damit zu Handlungen bestimmen. Auch bei den drei Seelenverm¨ ogen der Politeia (437bff.) – Denken, Eifer und Begierde – handelt es sich um Bewegungen. 39 Im Theaitetos (153b9f.) spricht Sokrates vom Lernen als Bewegung. Im Theaitetos heißt es auch, dass die Seele ihre Leistungen teils f¨ ur sich selbst, teils unter Verwendung des Leibes als Werkzeug“ ( ” ) vollbringt; so leistet die Seele die Wahrnehmung unter Verwendung der Sinnesorgane, w¨ ahrend sie die begriffliche Bestimmung f¨ ur sich selbst leistet (Theaitetos 184cff., vgl. Phaidon 65d7-e4 und 79cf.); aber auch f¨ ur die Wahrnehmung gilt, dass es sich um eine Leistung der Seele handelt. F¨ ur uns ist es wichtig festzuhalten, dass das Erleben insgesamt eine Leistung der Seele ist; das seelische Erleben ist nicht getrennt vom K¨ orper. 39
Vgl. dazu Timaios 89e4-90a2 und speziell f¨ ur das Denken Timaios 47b7-c4.
Die menschliche Seele als Abbild der g¨ ottlichen Vernunft
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Der K¨ orper ist zwar Mitursache f¨ ur das Erleben (Timaios 46c7), Ursache bleibt aber die Seele. Aufgrund eines Analogieschlusses haben wir die Weltseele als Abbild des absoluten Denkens charakterisiert; einen ¨ ahnlichen Analogieschluss k¨ onnen wir auch f¨ ur die menschliche Seele ziehen: Wie das absolute Denken bringt auch die menschliche Seele Seinsbestimmtheiten hervor. W¨ ahrend das absolute Denken die Seinsbestimmtheiten allein im Denken hervorbringt, gilt f¨ ur die menschliche Seele, dass sie die Hervorbringung in Denken und Handeln leistet. Im Handeln bringt die Seele Instanzen hervor; hierbei ist nicht nur an Artefakte zu denken, die ein Mensch ausgehend von der Kenntnis der Idee handwerklich hervorbringt (z. B. Politeia 596b6-9), sondern vor allem auch an die Tugend. Die tugendhafte Seele bringt sich selbst als Instanz der Tugendideen hervor; sie formt sich selbst als ein Fall von Weisheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Tapferkeit. Aber die menschliche Seele bringt die ideellen Bestimmtheiten nicht nur in Instanzen hervor, sondern auch selbst f¨ ur sich selbst. Die vern¨ unftige Seele kann Ideen selbst f¨ ur sich selbst denken; soweit ihr das gelingt, entspricht ihre Denkbewegung dabei der des absoluten Denkens. Ein Abbild des absoluten Denkens ist die Seele erstens in dem Sinne, dass sie Abbilder der Ideen hervorbringt, diese Hervorbringung aber auf einer kategorial anderen Ebene leistet als das absolute Denken. Zweitens kann sie die Ideen in deren eigener Seinsweise hervorbringen, n¨ amlich indem sie sie im Denken geistig zur Erscheinung bringt. Die geistige Hervorbringung der Ideen im Denken und die Instantiierung der Tugendideen in sich selbst sind nicht zwei voneinander zu trennende Bewegungsweisen der Seele; Theorie und Praxis bilden eine Einheit. Das Denken der Ideen und ihre Verwirklichung in der Tugend sind die beiden Aspekte der Angleichung an Gott. Als Gott der erwiesen sich die Ideen; vor dem Hintergrund der Seinsweise der Ideen als absolutes Denken zeigt sich jetzt: Die Seele ist nicht nur Abbild des absoluten Denkens, sondern sie kann sich ihrem Urbild auch angleichen. In der Angleichung an den Gott ver¨ ahnlicht sich das Abbild seinem Urbild. Dass die Seele ein Abbild des absoluten Denkens ist, erkl¨ art Platons Rede von der Verwandtschaft“ zwischen Seele und Ideen. 40 Im Phaidon ” (78b-79e) wird die Verwandtschaft zun¨ achst dadurch begr¨ undet, dass Seele und Ideen im Gegensatz zu K¨ orpern unsichtbar sind, dann aber vor allem dadurch, dass die Seele im Denken zu den Ideen strebt. Eine Parallelstelle dazu findet sich in der Politeia (611e1-3, vgl. 490b2-4), wo die Verwandtschaft mit dem G¨ ottlichen und Unsterblichen die Liebe der Seele zur Weisheit, die Philo-sophie, begr¨ undet. Sowohl die Stelle im Phaidon 40
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir das Motiv der Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen mehrfach ber¨ uhrt, vgl. dazu Kapitel 6.5, 7.2, 7.3 und 8.3.
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als auch die in der Politeia sprechen von einer Verwandtschaft, die allen menschlichen Seelen gleichermaßen zukommt. An anderen Stellen spricht Platon auch von einer Verwandtschaft, die nur bestimmten Seelen zukommt, was auf geeignete Veranlagung und die Entfaltung einer solchen Veranlagung zur¨ uckgeht. Eine solche besondere Verwandtschaft fordert Sokrates f¨ ur die k¨ unftigen Philosophenk¨ onige (Politeia 487a5). Der Siebte Brief spricht von der besonderen Verwandtschaft als einer Voraussetzung f¨ ur Ideenerkenntnis (Siebter Brief 344a, vgl. 342d1f.). Insofern es um die Erkenntnis der Tugendideen geht, besteht die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen darin, dass die Seele die Tugendideen instantiiert. Im Timaios und in den Nomoi geht es um eine Verwandtschaft zwischen dem Denken der Vernunft und den Himmelsbewegungen bzw. der kosmischen Bewegung u ¨berhaupt (Timaios 47b6-c1, 90a5f., 90c7-d1, Nomoi 897c36, 898b9). Kosmische Bewegung und Himmelsbewegungen sind nicht die Ideen, aber sie gehen auf eine vern¨ unftige Weltseele zur¨ uck, die kraft ihrer Vernunft die Ideen als Ordnungsbestimmungen erkennt und im kosmischen Werden verwirklicht. Wenn man bedenkt, dass Platon die Ideen als unver¨ anderlich, die Seele aber als Bewegung konzipiert, dann ist die Rede von der Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen zumindest erstaunlich; nicht mehr ganz so erstaunlich ist dieser Zusammenhang, wenn wir die der Ideen ber¨ ucksichtigen und die Gesamtheit der Ideen als ein absolutes Denken verstehen. Denn dann sind Seele und Ideen nicht wie etwas Bewegtes von Unbewegtem verschieden, sondern wie zeitlich Bewegtes von zeitenthoben Bewegtem. Verwandtschaft ( ) verbindet Vorfahren mit ihren Nachkommen bzw. Nachkommen derselben Vorfahren. Mit Blick auf die Funktion der Idee des Guten (vgl. Politeia 506b-509b) k¨ onnte die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen durch die Idee des Guten als gemeinsamer Ursprung begr¨ undet sein. Wenn die Seele Abbild des absoluten Denkens ist, dann k¨ onnen wir die Verwandtschaft auch als Abkunft des Bildes von seinem Urbild interpretieren. Beide M¨ oglichkeiten schließen einander nicht aus. Die Mischung des Seelenmaterials“ im Timaios ” aus den gr¨ oßten Gattungen des Ideenbereichs mag die zweite M¨ oglichkeit best¨ atigen. Das Gleiche gilt f¨ ur die R¨ uckf¨ uhrung seelischer F¨ ahigkeiten auf vorgeburtliche Ideenschau“ im Rahmen der Wiedererinnerungslehre ” in Phaidon und Phaidros (249c, e5f.). Die Verwandtschaft zwischen Seele und Ideen zeigt, dass das abbildhafte Verh¨ altnis der Seele zum absoluten Denken keine der Seele ¨ außerliche Koinzidenz ist; es handelt sich nicht ¨ allige Ahnlichkeit. Die Seele ist ihrer Natur nach ein Abbild um eine zuf¨ des absoluten Denkens.
Namensregister Ackrill, J. L. 72, 92 Alexander von Aphrodisias 111 Allen, R. E. 115 Allinson, Robert E. 144 Angehrn, Emil 106 Annas, Julia 243f., 259 Aristophanes von Byzanz 123 Aristoteles 8, 16f., 19-24, 32f., 37f., 41, 47f., 55f., 62, 69, 81-83, 100, 105f., 108, 126, 146, 171, 1879, 191, 200, 222, 235, 278, 283f. Armstrong, John M. 243f., 252 Bae, Eunshil 120f. Baumgarten, Hans-Ulrich 11, 23 Beierwaltes, Werner 55, 136 Belletti, Bruno 243f., 246 Bernard, Wolfgang 34, 171 Blank, David L. 14, 27, 164 Bluck, Richard S. 12, 14f., 105, 123, 157 Bossi, Beatriz 209 Bostock, David 11f., 14, 22, 29, 175 Brentlinger, John A. 33, 40, 47 Brisson, Luc 65, 271, 276, 278, 284, 289 Br¨ ocker, Walter 37, 145, 153 Buchheim, Thomas 32, 121 Burkert, Walter 248 Burnet, John 8 Burnyeat, M. F. 258 B¨ uttner, Stefan 171, 185, 187, 193, 195, 197, 200 Cherniss, Harold 51, 105, 284 Cicero 123, 213 Cornford, Francis M. 11, 22, 51, 64f., 72, 74, 85, 92, 96, 99-101, 107, 116, 120f. 271, 290 Cresswell, M. J. 99 Crombie, I. M. 129 Cron, Christian 230, 236 Dale, Annette T. 175f. Deane, Philip 126
Demos, Raphael 104, 279 Diels, Hermann 83 Diogenes Laertios 123 Diotima 7, 87, 136, 161, 180, 248f. Dodds, E. R. 109 Dorter, Kenneth 12-14, 208-210 Duke, E. A. 85 Ebert, Theodor 12f., 35, 43, 169f., 172, 209 Eck, Job van 12-15, 22f. Edelstein, Ludwig 124 Eggers Lan, Conrado 125 Eigler, Gunther 5, 134, 218, 260 Eros 180f., 201, 249 Ferber, Rafael 129, 132f. Foster, Travis 18 Frede, Dorothea 11, 62, 118, 158, 178, 209, 284 Frede, Michael 36, 86, 92 Fritz, Kurt von 126, 136, 146, 153, 157 Gadamer, Hans-Georg 18, 93 Gaiser, Konrad 129 Gallop, David 11-13, 15, 19, 41, 60, 172, 175 Gerson, Lloyd P. 100, 108, 114, 121 Gill, Mary L. 51 Gonzalez, Francisco J. 13-15, 17, 20, 28, 40, 106, 125, 127, 129, 133, 141f., 144, 146f., 149, 155, 157, 164 Goodrich, W. J. 11 G¨ orgemanns, Herwig 134, 276, 281 Gorgias 32, 121 Gould, John 163, 238 Graeser, Andreas 4, 16, 21f., 32, 35f., 44f., 50f., 106, 111, 132, 136, 139, 145, 147f., 151f., 190, 192f., 199, 289 Griswold, Charles L. 112, 251 Grube, G. M. A. 8
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Namensregister
Gulley, Norman 51, 124 Gundert, Hermann 129, 146 Guthrie, W. K. C. 7, 99f., 129, 136, 139, 141, 146 Hackforth, Reginald 11-15, 19, 22, 29, 56, 158 Halfwassen, Jens 54 Harward, J. 123, 127, 129, 132, 145 Hayduck, Michael 111 Heiberg, Johan L. 258 Heitsch, Ernst 7 Heraklit 52 Herter, Hans 243, 246 Hesiod 1, 166, 234 H¨ olscher, Uvo 37 Homer 166, 233, 255 Horn, Christoph 190 Howald, Ernst 139f., 145 Hunt, David P. 51 Isnardi Parente, Margherita 129, 136, 138, 143-146, 159 J¨ ager, Gerhard 125, 263, 282, 284 J¨ urß, Fritz 123 Kahn, Charles H. 36 Kanayama, Yahei 11-15, 25, 27, 29 Kanitschneider, Bernulf 273f. Kolb, Peter 17, 74, 77f. Kr¨ amer, Hans J. 129f., 132, 159 Kranz, Walther 83 Kullmann, Wolfgang 246 Kutschera, Franz von 100, 107f., 112, 120f. Lacey, A. R. 75 Lauermann, Christian 77, 86, 281 Ledger, Gerard R. 7, 100, 126 Lee, Edward N. 17, 51 Lee, Sang-In 169f., 175, 187 Lentz, William 76-78 Levison, M. 126 Mahieu, Wauthier de 143, 270 Marten, Rainer 74 Mason, Andrew 278f. McPherran, Mark L. 77 Menkhaus, Torsten 12, 19, 172 Menn, Stephen 263, 283f. Merki, Hubert 243, 253f. Michaelson, S. 126 Miller, Mitchell H. 101, 107, 121
Mills, K. W. 51 Morgan, Michael L. 248 Morrow, Glenn R. 123-126 Morton, A. Q. 126 M¨ uller, Gerhard 125f., 136, 145, 159 Natorp, Paul 100 Nehamas, Alexander 8, 10, 12, 19, 28 Novotn´ y, Frantisek 136, 141, 145 Owen, G. E. L. 22, 51, 100 Parmenides 54-56, 83, 99-102, 104-7, 115-121, 238 Parry, Richard D. 51, 65, 270 Passmore, John 243 Patzig, G¨ unther 21f., 49, 241 Peck, A. L. 75, 99f., 106 Perger, Mischa von 289 Perl, Eric D. 284, 288 Pester, Hans-Eberhard 76f., 86f. Picht, Georg 80, 82, 146, 166, 228, 237, 240, 249, 260f. Pietsch, Christian 189 Plass, Paul 12f., 15 Plotin 59, 109, 129, 136 Popper, Karl R. 214 Prauss, Gerold 20-23, 82 Press, Gerald A. 228 Prior, William J. 77, 99 Proklos 109 Protagoras 204, 231, 261 Quarch, Christoph 43, 175 Radke, Gyburg 9, 16, 19, 28, 34, 36 Raeder, Hans 99, 101 Reale, Giovanni 14, 128f., 132, 159 Riedweg, Christoph 248f. Robinson, Richard 12-15, 19, 25 Robinson, Thomas M. 4 Roloff, Dietrich 89, 228, 243 Ross, W. D. 12, 17, 99, 116, 145, 251 Rowe, Christopher J. 12-15 Rutenber, Culbert G. 243 Ryle, Gilbert 125f. Sayre, Kenneth M. 113-17, 121, 123, 126, 130f. Schadewaldt, Wolfgang 202 Schleiermacher, Friedrich 12, 40, 85, 239 Schmid, Walter T. 229f., 236
Namensregister
Schmitt, Arbogast 9, 12-16, 19, 22-26, 28, 34, 40, 50-52, 142, 176, 186f., 189-92, 200f., 222f., 240 Sch¨ opsdau, Klaus 243, 259 Sedley, David 14, 19, 243, 247, 250 Segvic, Heda 238-240 Seidl, Horst 81 Sharafat, Shahriar 243, 246 Shorey, Paul 16 Silverman, Allan 51, 77, 89, 93 Simplikios 53, 258, 283 Solmsen, F. 124 Stahl, Hans-Peter 12f., 29 Steiner, Peter M. 4, 134, 263, 269f., 276, 278-281, 283f. Stenzel, Julius 136, 140, 144 Szaif, Jan 32, 37, 72, 121, 190 Szlez´ ak, Thomas A. 4, 128-132, 280, 283 Tait, W. W. 11f., 22 Tarrant, Dorothy 7 Tarrant, Harold 126 Thiel, Rainer 116 Thrasyllos 123, 127 Thukydides 230, 236 Thurnher, Rainer 130, 136 Tigerstedt, Eug`ene N. 136
301
Uhde, Bernhard 233 Verdenius, W. J. 243, 263 Vlastos, Gregory 36, 47, 99, 111 Vogel, Cornelia J. de 53, 76f., 97, 264, 279, 284, 287 Vonessen, Franz 255 Walter, Henrik 63, 273f. Weiss, Roslyn 208f. Welton, William A. 111f. Whitehead, Alfred N. 57 Wiehl, Reiner 69, 74f. Wieland, Wolfgang 12, 22, 100, 108, 125, 163, 224 Winspear, A. D. 126 Wolfsdorf, David 228 Woodruff, Paul 7f., 16 Yi, Byeong-uk 120f. Zekl, Hans G. 40, 116 Zenon 101-4 Zhmud, Leonid 258 Zuckert, Catherine H. 100
Sachregister Affekte, Kultivierung der 214-6, 238 Andersheit s. Verschiedenheit Angleichung an Gott 4, 243-264, 297 a priori 29, 33, 178, 183 Assoziation 171f. Astronomie 257f. Begehren ( ) 185, 193-198, 207, 221, 296 Besonnenheit 207f., 210, 216-218 Bestimmtheit s. Idee Bewegung ( ) 39, 71, 73ff., 78ff. Arten der B. 276f., 296 B. der Elemente 270, 275 B. der Ideen 3, 76f., 87f., 92, 285f., 294 B. des Denkens 256, 258, 269, 281, 294, 297 B. des Himmels 15, 60, 256, 258, 267, 298 Irrationale B. 65, 257f., 267, 282 Kontinuierliche B. 56, 266, 268, 292 Rotationsbewegung 281f. Selbstbewegung 2, 276ff., 294ff. Ursprung der B. 278 Vollkommene B. 52 Demiurg 263, 288 Denken 41ff., 86, 115, 185, 198, 200-202, 282, 296 Bastard-D. 34, 65 Bewegung des D. s. Bewegung Differenz-D. 34 Denken, absolutes 288, 294, 297f. Denken der Idee 5, 88, 247, 286f., 288, 293 Deus-mensura-Satz 259, 261 Dialektik 72ff., 153, 164 Dialog, Dialogform 4, 228f., 241 Eifer ( ) 185, 193, 198-200, 212, 296 Einbildungskraft ( ) 195f.
Eleusinische Mysterien 248 Erkennen E. als Unterscheiden 33ff. Erkenntnis ( ) 140ff., 186, 190f. E. der Idee 41ff., 86, 141, 157ff., 163ff., 181ff., 241, 252 E. von Einzeldingen 173 Erkenntnisvoraussetzung 3, 157, 159f., 163, 224 Erkl¨ arung ( ) 90, 137ff., 151, 164 Erleiden ( ) 75f., 79, 83, 92 Ernst 132ff. Ewigkeit 59, 293f. Flucht ( ) 2, 244f., 252f., 283 Fluss, herakliteischer 51ff. Freiheit 240 F¨ ursorge, g¨ ottliche 255 Gattungen, gr¨ oßte ( ) 72ff., 89ff., 289ff. Gerechtigkeit 79f., 204, 218-222 Gleichheit 174ff. Gott, G¨ otter 4, 243, 246, 251f., 260, 262264, 284 Grenze ( ) 61 Gymnastik 214f. Harmonie, sch¨ onste 237, 242 Hervorbringung ( ) 3, 75f., 79ff., 92, 285ff., 293, 297 Hinterwelt 2, 283 Homo-mensura-Satz 261 Idee 31, 104f., 122, 150 Bewegung der I. s. Bewegung Denken der I. s. Denken Erkenntnis der I. s. Erkenntnis Existenz der I. 12, 15ff., 102 Gattungsidee 96 Hypothesis der I. 12ff., 19, 27f., 102 I. als Abstraktion 94, 109 I. als Allgemeines 116, 174
Sachregister
I. I. I. I. I.
als Bestimmtheit 2, 16-24, 74, 90 als Gedachtes 114ff. als Paradigma 32, 58, 117f. als Seiendes 37 als Seinsm¨ oglichkeit 3, 57, 109f., 226f., 257, 293 ¨ I. als Uberf¨ ulle 109, 150, 257, 293 I. als Unterscheidungskriterium 10 I. als Ursache 275f. I. des Guten 179f., 298 I. des Menschen 94f., 109f. Immanente I. 106f., 110, 116, 226, 284 Selbstpr¨ adikation der I. 111, 113f. Sprechen u ¨ber I. 38, 151, 156 Teile der I. 107, 110, 150 Transzendente I. 61, 116, 284 Unver¨ anderlichkeit der I. 38ff., 91 Verdinglichung der I. 108 Verflechtung der I. 28f., 67, 71ff., 89ff., 93ff., 97, 119f., 223, 286f., 294 Verwandtschaft von Seele und I. 13, 143, 160ff., 180, 233, 246, 255, 279, 290, 297f. Identit¨ at s. Selbigkeit Idiopragie 218, 220-2, 227, 250 Individualit¨ at 226f. Instanz, Einzelding 31, 47ff., 268 I. als Aggregat 21, 23, 82 I. als Bestimmtes 25f. I. als Erkenntnismittel 139f., 145, 164 Defizienz der I. 174-7 Vielgestaltigkeit der I. 48ff., 68f., 93ff., 97 Werden der I. 50ff., 97, 293 Intellektualismus 238 Kategorien 48f. Kosmos 58ff., 253, 257, 268, 283, 293f. Kunst, Kunstfertigkeit ( ) 143, 205f., 270, 272f. Lebewesen, denkbares/ewiges/ vollkommenes 53, 96, 287 Leib 269 Leibfeindlichkeit 158 Lehre, ungeschriebene 128f., 132 Lernen 269, 296
303
Lust ( ) 195 Meinung ( ) 142, 186, 190f., 240, 292 Mitursache ( ) 62ff., 133, 271, 276, 291, 296f. M¨ oglichkeit, Verm¨ ogen ( ) 75ff., 84f., 296 Musik 214f. Name ( ), Benennung 67ff., 90, 106, 137f., 142, 144, 147, 151, 164 Natur ( ) 133, 143, 222, 270, 272f. N. des Menschen 244ff. Naturphilosophie ( ) 11, 15, 60, 272f., 275f. Neidlosigkeit 288 Notwendigkeit ( ) 65, 271 Pl¨ otzlich ( ) 44, 55, 135ff. Prinzip ( ) 25 Rechenschaft ablegen ( ) 27, 100, 102, 183f., 229-232, 234f., 262 Reinigung ( ) 210 Relation 10, 22, 72ff. Rettung der Ph¨ anomene 53, 258, 283 Ruhe ( ) 71, 73ff., 89ff. Sagbarkeit 129ff. Sch¨ one, das 7ff., 15, 18f., 111f., 180, 201, 248f. Seele 233, 268f., 286ff. Definition der S. 278ff., 295 Einzelseele 2, 269 Funktion der S. 15 Geordnete S. 253 Konstruktion der S. 289f. S. als Abbild 2, 4, 294, 297f. S. als Vermittlung 4, 283, 291 S. des Alls, Weltseele 2, 65, 269, 284f., 289, 294f. S. des Menschen 269, 295, 297 Seelenteile 4, 185 Verursachung durch S. 272, 282f., 291 Verwandschaft von S. und Ideen s. Idee Seiendes 84f. Vollkommen S. 87f., 285ff. Sein 32ff., 69, 73ff., 78, 89, 92f., 289ff. S. als Existenz 32, 36 S. der Idee 37f.
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Sachregister
Seinsm¨ oglichkeit s. Idee Selbigkeit, Identit¨ at 34, 54, 73ff., 89ff., 113, 266f., 289ff. Selbst des Menschen 233, 246, 251 Selbsterkenntnis 206f., 232, 234, 241, 250f. Selbstkritik 99f. Sokratisches Gespr¨ ach 227, 232, 235 Subsumtion 173, 240 Tapferkeit 210-216 Teilhabe ( ) 12, 15, 18f., 24, 71f., 83f., 86, 95, 106ff., 114 Theorie und Praxis 3, 162, 185, 214, 235242, 247, 262, 297 Tod 161 Trennung ( ) 18, 119ff. Tugend ( ) 159, 202ff., 297 Scheinbild der T. 207, 209 Tugendwissen s. Weisheit ¨ Uberf¨ ulle ( ) 59, 109f., 226f. ¨ Uberlieferung, indirekte 4 ¨ Uberzeugung ( ) 241, 260 Umschlag ( ) 55ff. Ursache ( ) 15f., 62ff., 133, 249, 270, 272, 296f. Erste U. 276, 278 Ursprung von allem 3, 283
Ver¨ anderung 267f. Vernunft ( ) 256, 271, 282, 284ff. Verschiedenheit, Andersheit 34, 54, 73ff., 89ff., 113, 266f., 289ff. Wahrnehmung ( ) 10, 41f., 166, 170f., 173, 186-190, 195 Weisheit 204-211 Werden ( ) 2, 50ff., 97 S. a. Bewegung W. zum Sein 61 Werk ( ) 189, 193, 203, 216, 296 Wesen, Akzidenz 23, 56, 97, 145ff. Widerspruch, Satz vom W. 9f., 19ff., 26, 49, 55, 82f., 101ff., 193, 235 Wiedererinnerung 169ff. Wissen Pr¨ apositionales W. 224 Vorgeburtliches W. 169, 177ff. Wohlberatenheit ( ) 204-6 Zeit 59, 257, 293f. Zufall ( ) 270ff.
Quellen [Buchheim 1989] Buchheim, Thomas (Hrsg.): Gorgias von Leontinoi: Reden, ¨ Fragmente und Testimonien. Herausgegeben mit Ubersetzung und Kommentar von Thomas Buchheim. Griechisch–deutsch. Hamburg : Felix Meiner, 1989 (Philosophische Bibliothek 404) [Burnet 1953] Burnet, John (Hrsg.): Platonis Opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet. 4. Auflage. Oxford : Clarendon Press, 1953 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis) [Diels und Kranz 1956] Diels, Hermann (Hrsg.) ; Kranz, Walther (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch. 8. Auflage herausgegeben von Walther Kranz. Erster Band. Berlin : Weidmannsche Verlagsbuchhandlung, 1956 [Dodds 1963] Dodds, E. R. (Hrsg.): Proclus: The Elements of Theology. A Revised Text with Translation, Introduction and Commentary. 2. Auflage. Oxford : Clarendon Press, 1963 [Duke u. a. 1995] Duke, E. A. (Hrsg.) ; Hicken, W. F. (Hrsg.) ; Nicoll, W. S. M. (Hrsg.) ; Robinson, D. B. (Hrsg.) ; Strachan, J. C. G. (Hrsg.): Platonis Opera. Tomus I. Recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt E. A. Duke, W. F. Hicken, W. S. M. Nicoll, D. B. Robinson, J. C. G. Strachan. Oxford : Clarendon Press, 1995 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis) [Eigler 1990] Eigler, Gunther (Hrsg.): Plato: Werke in acht B¨ anden. Griechisch und deutsch. Griechischer Text aus: Platon, Oeuvres compl`etes, Collection des Universit´es de France, publi´ee sous le patronage de l’Association Guillaume Bu¨ d´e. Deutsche Ubersetzung von Friedrich Schleiermacher et al. Sonderausgabe. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990 [Hayduck 1891] Hayduck, Michael (Hrsg.): Alexandri Aphrodisiensis In Aristotelis Metaphysica commentaria. Berlin : Georg Reimer, 1891 (Commentaria in Aristotelem Graeca 1) [Heiberg 1894] Heiberg, Johan L. (Hrsg.): Simplicii In Aristotelis De caelo commentaria. Berlin : Georg Reimer, 1894 (Commentaria in Aristotelem Graeca 7) [Seidl 1989] Seidl, Horst (Hrsg.): Aristoteles’ Metaphysik. Erster Halbband: ¨ B¨ ucher I (A) - VI (E). Griechisch–deutsch. Neubearbeitung der Ubersetzung von Hermann Bonitz. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Christ. 3., verbesserte Auflage. Hamburg : Felix Meiner, 1989 (Philosophische Bibliothek 307)
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