Wittgenstein: Die ordnende Lesart: Der Platz des Absoluten im sprachlichen Urphänomen 9783110664676, 9783110661453

Does Wittgenstein’s critique of metaphysics imply a rejection of absolute values and truths? In this book, Baukrowitz sh

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German Pages 282 Year 2020

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Wittgenstein: Die ordnende Lesart: Der Platz des Absoluten im sprachlichen Urphänomen
 9783110664676, 9783110661453

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Marian Baukrowitz Wittgenstein: Die ordnende Lesart

Über Wittgenstein

Herausgegeben im Auftrag der Internationalen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e. V. von James Conant, Wolfgang Kienzler, Stefan Majetschak, Volker Munz, Josef G. F. Rothhaupt, David Stern und Wilhelm Vossenkuhl

Band 4

Marian Baukrowitz

Wittgenstein: Die ordnende Lesart

Der Platz des Absoluten im sprachlichen Urphänomen

Dissertation am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin.

ISBN 978-3-11-066145-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066467-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066488-1 ISSN 2365-9637 Library of Congress Control Number: 2020930922 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Januar 2019 an der Freien Universität Berlin verteidigt habe. Anlass für das Entwickeln einer ordnenden Lesart war das Wundern darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit viele Wittgenstein-Interpreten die Rahmenannahme teilen, dass sich Wittgenstein, wenn er sich gegen die Metaphysik richtet, notwendig auch gegen das Anvisieren einer externen Perspektive auf das menschliche Leben überhaupt oder gegen den Bezug auf Absolutes überhaupt richtet. Eine Wittgenstein-Auslegung, die näher an Wittgensteins Texten und philosophisch weniger widersprüchlich und willkürlich ist, schien mir möglich, wenn man ernst nimmt, dass nicht das metaphysische Philosophieren nachträglich die Vorstellungen einer externen Perspektive oder des Absoluten wie einen Fremdkörper in das normale Alltagsverständnis eindringen lässt, sondern, dass der Bezug auf das Absolute in der Metaphysik ein verwirrter Versuch ist, das Absolute, auf das inhärent in der Alltagspraxis bezuggenommen wird, auszudrücken. Die ordnende Lesart grenzt sich von dem destruktiven Versuch ab, mit Wittgenstein den Bezug auf das Externe und das Absolute aus unserem Verständnis zu entfernen – dieser Bezug, der durch metaphysisches Denken ja durchaus verwirrt ist, soll jedoch wieder angemessen in unser Verständnis eingeordnet werden. Obwohl dieses der spezifische Anlass für die explizite Fragestellung war, ist das Ziel der Arbeit nicht eine Wittgenstein-Interpretation aus dem Selbstzweck, Wittgenstein zu interpretieren. Es geht vielmehr darum,Wittgensteins Denkwegen zu folgen, um generelle philosophische Fragen zu klären – z. B. über die Rolle von guten Gründen im Wirklichkeitsbezug und die Bedingungen der Möglichkeit der Begründbarkeit. Das Begründen von Aussagen, die als wahr ausgewiesen werden sollen, ist eine höchst relevante Tätigkeit.Wittgenstein stellt jedoch immer wieder heraus, dass das Vorgehen des Begründens nicht ultimativ ist. Das Gründegeben kommt an ein Ende – dieses Ende ist jedoch keine rational zwingende Letztbegründung, sondern in einer bestimmten Praxis werden schier bestimmte Gründe als gute Gründe akzeptiert, ohne dass es dafür wiederum weitere Gründe gäbe. Aber wie muss man eigentlich genau die Grundlosigkeit verstehen, die sich zeigt, wenn die Gründe ans Ende kommen? Impliziert das Alltagsverständnis einiger Praktiken, die Wittgenstein in den Fokus rückt und denen wir in der Tat verpflichtet sind, dass das Grundlose vom Ethischen, das sich konstitutiv auf unabhängiges Absolutes bezieht, umrahmt und gehalten wird? Berlin, August 2019 https://doi.org/10.1515/9783110664676-001

Danksagung Ich danke David Lauer dafür, dass er mich auf die Frage aufmerksam gemacht hat, was es für den Status von Wittgensteins Philosophie bedeutet, dass Wittgenstein bemerkt hat, dass er jedes Problem aus einer religiösen Perspektive sieht. Dadurch wurden viele für die Arbeit wichtige Gedankengänge angestoßen. Meinen Gutachtern Sybille Krämer und Georg Bertram danke ich für die kompetente Betreuung der Arbeit. Meinen Eltern Christina und Reinhard danke ich dafür, dass sie mich beim Schreiben der Arbeit unterstützt haben. Meiner Frau Solvej Hartmann danke ich für gehaltvolle philosophische Kommentare und ihre allgemein erhellende Präsenz. Weiterhin danke ich all jenen, die sich auf ernsthafte ergebnisoffene philosophische Gespräche mit mir eingelassen haben.

https://doi.org/10.1515/9783110664676-002

Inhalt Einleitung

1

4  Die ordnende Lesart . Denkanlass I – Wittgensteins Texte 5 .. Wittgenstein als „radikaler“ Anti-Metaphysiker 5 9 .. Begründete Zweifel an dieser „Radikalität“ .. Züge der ordnenden Lesart 15 15 ... Neu einordnen, statt austilgen ... Bekanntes ordnen statt neue Erkenntnisse hereinzuholen 15 ... Harmonische Ordnung als vertrauenswürdiges Zeichen, der Wirklichkeit gerecht zu werden 17 . Denkanlass II – Spannungen in der Metaphysik 23 .. Wittgensteins Denkweg als Reaktion auf das „Chaos“ in der 24 Metaphysik .. Dunkelheit der Metaphysik (Wittgenstein) 27 33 .. Überhelle der Metaphysik (Platon) ... Der Zusammenhang zwischen Staunen und 34 Philosophieren ... Philosophisches Hinausgehen über die Erfahrungswelt 35 ... Philosophieren als Erinnern 39 40 ... Ethischer Rahmen des vernünftigen Philosophierens ... Die Grenzerfahrung in der Metaphysik – Überhelle vs. 42 Dunkelheit . Prinzipiell mögliche Reaktionen auf das Problem der Unklarheit der Metaphysik 47 48 .. Theoretische Lesarten .. Klärende Lesarten 50 .. Resolute Lesarten 51 52 .. Ordnende Lesart ... Dostojewski – Schweigen als Öffnung des „Raums der Freiheit“ 53 ... Thomas von Aquin – Die Begrenztheit des natürlichen Intellekts 56 ermöglicht Freiheit ... Koran – Freiheit durch die beständige Möglichkeit des Leugnens 57 . Der weitere Gang der Untersuchung 58

X

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Inhalt

Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus) 60 Das Tractatus-Paradoxon 60 61 Substanzielle vs. resolute Lesarten Die gemeinsame Wurzel substanzieller und resoluter Lesarten 72 73 Die ordnende Lesart des Tractatus 78 Auslegung und Ordnung der Sprechweisen Zweifel an der Oberflächengrammatik – Russell, Frege, 79 Schopenhauer Russell 79 Frege 80 81 Schopenhauer Ordnen, nicht Wegschaffen 82 Naturwissenschaftliche Sätze als Abbilder im logischen 83 Raum Verwirrungen zwischen Logik und Naturwissenschaft 88 Ethische Sätze als Ausdruck von Seinsweisen im logischen 93 Raum Verwirrungen zwischen Ethik und Naturwissenschaft 96 97 Grundlose Bekehrung vs. Begründung Erlösung durch harmonisches Einfügen in den logischen Raum vs. Zielverfolgung durch Umgestaltung der Fakten im logischen 99 Raum Welt als gottbestimmte Welt vs. Welt + Gott 106 109 An-Gott-glauben vs. Glauben-dass-Gott-existiert Gott in Bildern vs. Gott + Bilder Gottes 110 Ethische Sätze in der theoretischen Lesart 112 113 Ethische Sätze in der resoluten Lesart Übersehen der spezifischen Wirklichkeitsweise Gottes durch die Wittgensteinianer 115 Wegphase II: Spätphilosophie (Philosophische Untersuchungen & 118 Über Gewissheit) Wörter repräsentieren keine Gegenstände 118 118 Angriffsziel Erscheinungsformen des irreführenden Bildes 119 Philosophische Probleme, die aus dem Bild erwachsen 119 Strategische Ausrichtung 121 Umsetzung der Strategie 122

Inhalt

... ... ... ... ... ... .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. ... ... ... ... .. ... ... ...

XI

Verwirrung: Schauen auf Hauptwörter wie „Tisch“ und Wegschauen von den anderen Wortarten 122 Verwirrung: Vergessen, dass Wörter als Teil von Handlungen 123 auftauchen Verwirrung: Vergessen, dass die Forderung nach Referenzobjekten nicht selbstverständlich ist 125 Verwirrung: Verwechslung des Trägers des Namens mit der Bedeu125 tung des Namens Verwirrung: Verwechslung eines Paradigmas im Sprachspiel mit der Bedeutung eines Namens 125 Verwirrung: Verwechslung von Begründung und 126 Abrichtung Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse 127 Theoretisch ausgelegt 128 130 Klärend ausgelegt Resolut ausgelegt 135 141 Ordnend ausgelegt Das logische Muss ist nicht absolut 147 Theoretisch ausgelegt 153 156 Klärend ausgelegt 159 Resolut ausgelegt 162 Ordnend ausgelegt Der Geist ist kein privater Raum 163 Verwirrungen aufgrund der Privilegierung der 164 Wissensbeziehung Schmerzen haben ≠ in einer Wissensbeziehung zum Schmerz stehen 164 Grammatische Gewissheit ≠ Gewissheit des wohlbegründeten Wissens 164 Wort ohne wissensmäßige Rechtfertigung gebrauchen ≠ Wort zu 165 Unrecht gebrauchen Zweifeln-können ≠ Glauben-zweifeln-zu-können 166 166 Verwirrungen aufgrund von Kontextvergessenheit Richtige Anwendung eines Vokabulars wird durch externe Kriterien überprüft 167 Vermeintliche „private“ Empfindungen sind prinzipiell eigentlich öffentlich 167 Sprache zur Schmerzäußerung ist eingebunden in diverse Sprechweisen, die radikal unterschiedliche Funktionsweisen haben 169

XII

.. . ..

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 . .. . ..

Inhalt

Ordnend ausgelegt 170 Wissen beruht zuletzt nicht auf Gründen 183 Methodischer Zweifel des Descartes als Resultat des Verlustes der Feinheit und des Kontextes des ursprünglichen Begriffs des Zweifels 186 195 Vertrauen: Klärend vs. Ordnend ausgelegt 201 Natürliches und religiöses Vertrauen Verwirrung: Religiöse Sätze beziehen sich auf Gegenstände und 201 Ereignisse wie Erfahrungssätze Verwirrung: Religiöse Sätze sind nicht vernünftig und somit in defizitärer Weise unvernünftig. 202 Verwirrung: Bilder von Gott bilden Gott ab, so wie Bilder von 203 Pflanzen diese abbilden Erlösungsbedürfnis 203 204 Anerkennung einer Autorität Bekehrung 205 Erlösung durch harmonisches Einordnen in die profanen 206 Sprachspiele Irreduzible Bilder 208 215 Lichtgleichnisse bei Platon, al-Ghazali und Wittgenstein 215 Platons Höhlengleichnis 218 Der Lichtvers des Korans bei al-Ghazali Licht bei Wittgenstein 220 Das Außersprachliche als erziehende, elterliche Autorität 222 222 Unordentliches Bild der Wahrheit als Repräsentation Unordentliches Bild der Wahrheit als nützliche Weltwendigkeit 223 223 Ordentliches Bild: Wahrheit als Ziel des Erzogen-seins Variation des ordentlichen Bildes: Wahrheit als sich-als-Teilharmonisch-in-eine-übergeordnete-entzogene-Struktureinfügen 225 Wegphase III + Rückkehr? (Über Gewissheit) 229 Grammatik versus Metaphysik? 229 236 Metaphysik als innerer Teil und nicht als äußere Königin Konsequenzen für das philosophische Denken 240 Warum gibt es überhaupt etwas und nicht viel mehr nichts? – Ein ordnender Lösungsweg 245

Inhalt

 . . .

Fazit 249 Der Ursprung von Wittgensteins Methode 249 Anwendung und Ergebnisse von Wittgensteins Methode 257 Status und Gültigkeit von Wittgensteins Methode

Literaturverzeichnis 259 Schriften Wittgensteins (Siglen) Werke anderer Autoren 260 Personenindex Sachindex

265 266

259

XIII

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Einleitung Wer sich auf eine Frage einlässt, selbst wenn dies spontan und spielerisch geschieht, scheint immer schon ein gewisses Vorverständnis zu haben, an das er sich hält. Immerhin wird diese Frage verfolgt und nicht jene. Es wird eine Auswahl getroffen und eine Richtung eingeschlagen. Wenn man sich in der philosophischen Haltung der Reflexion befindet, drängt sich schnell die weitere Frage auf, welche Auswahlkriterien eigentlich gut sind, um die Richtung zu bestimmen. Dieses Fragen, scheint es dann, würde erst zu einem Ende kommen, wenn absolut gute bzw. letztgültige Auswahlkriterien gesichert werden könnten. Damit hat man sich bereits in einer Orientierung aufs Absolute hin verfangen. Auch dann, wenn man Zweifel an der schieren Bedeutung und konsequenten Denkbarkeit des Absoluten hat und versucht diese aufs Absolute orientierte Perspektive zu destruieren, bleibt sie doch, bis das vollständig geschehen ist, relevanter Hintergrund des Denkens. Daraus – aus dem Erlebnis des gerichteten Fragens und der Reflexion der Richtung – ergibt es sich, dass das Absolute zu thematisieren ist. Ein Versuch, die Frage nach absoluter Orientierung und absoluter Erkenntnis wissenschaftlich zu verfolgen, besteht in dem philosophischen Projekt, das von Platon und Aristoteles angestoßen wurde, dem der Name „Metaphysik“ verliehen wurde. Insofern das Fragen nach dem Absoluten nicht bei der nur-eigenen Perspektive aufhören kann, ist der Versuch, eine gewissermaßen radikal externe Perspektive anzuvisieren mit dem Projekt eng verknüpft. Insofern lässt sich in diesem Kontext auch von Bezug zu externem Seienden reden. Diese Orientierung zum Absoluten in der Metaphysik scheint aber immer wieder zu frustrieren und mit nicht zu bewältigenden Ansprüchen zu überfordern. Die absolut wahre Erkenntnis soll durch eine Letztbegründung gesichert werden. Dazu muss klar sein, was die Kriterien dafür sind, dass eine Letztbegründung erfolgreich ist. Aber gerade diese klaren Erfolgskriterien fehlen. Wittgensteins frühe und späte Schriften stimmen in einer expliziten Ablehnung der Metaphysik überein, die sich gerade auch aus der Frustration über diesen Mangel an Erfolgskriterien speist. Im Tractatus (6.53) wird eine strenge Philosophie charakterisiert als eine, in der es geboten ist, immer dann, wenn einer „etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat“. In den Untersuchungen (§116) heißt es: „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück“. Das, was Wittgenstein mit Metaphysik meint, wird von ihm stets als verzerrte, bruchstückhaft-verworrene Reflexion der Alltagspraxis gesehen. Ihre Unklarheit wird dann dadurch verständlich, dass in der Metaphysik bloß bestimmte Aspekte der Alltagssprache nachträglich und https://doi.org/10.1515/9783110664676-003

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Einleitung

künstlich verabsolutiert und hypostasiert werden. Es wird ein der Metaphysik zugänglicher externer Raum der absoluten Gründe der erscheinenden Welt anvisiert. In diesem künstlich-nachträglichen Raum haben aber die dort genutzten Wörter keine hinreichend klare Bedeutung mehr, wobei die Unklarheit dergestalt ist, dass sie einem als wissenschaftlich intendierten Projekt wie der Metaphysik grundlegend widerspricht. Wittgensteins Ablehnung der Metaphysik hat dazu geführt, dass in der Forschung Wittgenstein als jemand gesehen wird, der, insofern er versucht das metaphysische Denken aufzulösen, auch radikal die Möglichkeit ausschließt, dass wir so etwas wie eine externe Perspektive auf unser Leben überhaupt anvisieren können, oder dass es Bedeutung hat, sich am Absoluten zu orientieren. Laut dieser Sichtweise verweist Wittgenstein auf die vor der philosophischen Reflexion liegende Alltagspraxis, um zu zeigen, dass das metaphysische Projekt und die damit einhergehenden Konzepte – einer externen Perspektive, des externen Seienden, des Außersprachlichen, des Absoluten – nachträgliche Verwirrungen sind, die derart auf die Alltagssprache reduzierbar sind, dass sie sich als völlig leer und irrelevant für das menschliche Weltverstehen zeigen bzw. wenn nicht als völlig irrelevant, dann nur als nachträgliche Illusionen, an denen wir Gefallen finden. In der vorliegenden Arbeit wird nicht in Frage gestellt, dass das Vorgehen des reifen Wittgensteins darin besteht, die Alltagspraxis zu beschreiben, um metaphysische Begriffe auf dieser Basis als Verwirrungen auszuweisen. Es wird jedoch in Zweifel gezogen, dass in der Forschung hinreichend konsequent der Denkweg Wittgensteins nachvollzogen wurde. Die Betrachtung der Sprachspiele, welche für Wittgenstein die Urphänomene darstellen, denen ein erfolgreiches Philosophieren verpflichtet bleiben muss, zeigt, dass in den als wissenschaftlich verstandenen metaphysischen Fragen nach Erkenntnis des externen Seienden, nach Erkenntnis des Absoluten, nach Erkenntnis der ultimativen Ursachen der erscheinenden Welt eine Fehldeutung des ursprünglichen Absoluten der Alltagspraxis – nämlich absoluter Pflichten, die einem Leben einen absoluten Sinn, also eine absolut einzuhaltende Richtung geben – zugrunde liegt. Die ordnende Lesart ist also in dem Sinne nicht als Gegensatz zur gängigen Wittgensteinauffassung, laut der er miteinander verwirrte Sprachspiele wieder entwirrt, zu fassen, sondern eher als Reformation, als konsequente Ausführung. Bei der konsequenten Ausführung zeigt sich aber, dass die meist geteilte Auffassung – dass Wittgenstein ein Philosoph ist, der sich streng gegen das Absolute, absolute Wahrheiten, absolute Wirklichkeit, das externe Seiende richtet – vieles verfehlt. Wittgenstein versucht metaphysische Verwirrungen, die das externe Seiende und das Absolute betreffen, zu entwirren, um dann damit Konzepte wie

Einleitung

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das Absolute, die durchaus auch einen ursprünglichen und angemessenen Platz in den Urphänomenen der Sprachspiele haben, neu – nämlich an diesen ursprünglichen Platz angemessen – in die philosophische Reflexion einzuordnen. Daraus ergibt sich der Name „ordnende Lesart“: Der affirmierende Bezug auf das externe Absolute soll nicht vollständig aus der angemessenen philosophischen Reflexion ausgemerzt werden, sondern der Bezug auf das externe Absolute soll so eingeordnet werden, dass die Paradoxien der Metaphysik, die Wittgenstein beschäftigen, versiegen. Wenn man unter „Metaphysik“ ein als wissenschaftlich intendiertes Projekt versteht, das durch eine rational zwingende Letztbegründung den externen Raum absoluter Gründe erhellen soll, dann ist Wittgenstein in der Tat Anti-Metaphysiker.Wenn man, wie es auch geschieht, „Metaphysik“ in der viel grobschlächtigeren Weise benutzt, um lediglich die Überzeugung, dass man sich verstehend auf das Absolute beziehen kann, zu kennzeichnen, dann kann man Wittgenstein nicht als Anti-Metaphysiker bezeichnen. Wittgenstein selbst benutzt den Begriff Metaphysik im ersten Sinne. Als ursprünglicher Ort des Absoluten zeigen sich dabei für Wittgenstein die ethischen Sprachspiele bzw. die ethische Dimension des Sprechens. Die Frage nach der Wirklichkeit ist demnach soweit immer auch eine Frage nach dem absolut Guten, insofern sich die Wirklichkeit als der Bereich, in dem man sich orientiert, und in dem man sich auf etwas Gutes hin orientiert, darstellt. Insofern diese Wirklichkeit, die zur Orientierung zwingt, nicht menschengemacht ist, ragt dieses absolute Gute, so Wittgensteins Auffassung, wie sie in dieser Arbeit herausgearbeitet wird, wie etwas Anderes, das aber wesentlich an unserer eigenen Konstitution beteiligt ist, in die Sprachgemeinschaft hinein, ohne dass es jemals umgriffen und verinnerlicht werden könnte.

1 Die ordnende Lesart Wenn man vom Philosophieren des „gereiften“, späten Wittgensteins spricht, welches er nach dem Tractatus entwickelt hat, dann ist es wenig kontrovers, festzuhalten, dass laut Wittgenstein das metaphysische Projekt scheitert. Weiter ist es nicht kontrovers, dass Wittgenstein Metaphysik für ein Projekt hält, das wissenschaftlich begründete Aussagen über einen Seinsbereich anstrebt, der die Erfahrungswirklichkeit ursächlich bedingt. Es ist ebenfalls nicht kontrovers, dass Wittgenstein die Metaphysik umgehen will, indem er metaphysische Probleme auf Verwirrungen der Alltagssprache zurückführt, so dass sie sich als Scheinprobleme zeigen. Es ist auch wenig kontrovers, dass zu Wittgensteins Angriff auf die Metaphysik mindestens in etwa folgende Schritte gehören: Wittgenstein ermöglicht es dem, der in sein Philosophieren aktiv einsteigt, sich dem regelhaften Gebrauch von Begriffen und Sätzen in der Alltagssprache bewusst zu werden und klar zu sehen, wo in zunächst unwichtig wirkenden, aber doch „verhängnisvoll“ entscheidenden Punkten Alltagssprache und philosophische Sprache auseinanderfallen. Wittgenstein hilft dem aktiv Philosophierenden dabei, nachzuvollziehen, wie sich der abweichende, philosophische Sprachgebrauch aus einer Verwirrung von Aspekten des alltäglichen Gebrauchs hat ergeben können. Damit führt Wittgenstein den Philosophierenden zu einem Zustand, in dem sich ursprünglich aufwühlende, metaphysische Fragen, die am Anfang des Philosophierens überhaupt stehen, nicht mehr stellen, da sie auf Sprachverwirrungen zurückgeführt werden können. So gelingt der Übergang vom Philosophieren im Modus der Metaphysik, welches erklären soll, zum Philosophieren im Modus Wittgensteins, welches beschreiben soll. Die Frage, wie diese Schritte im Detail zu verstehen sind, öffnet aber den Raum für Kontroversen. Großen Raum nimmt in der Wittgensteinforschung die teilweise recht hitzig geführte Debatte zwischen zwei Lesarten ein, die oft als ganz unterschiedlich dargestellt werden. Auf der einen Seite gibt es demnach die substanziellen Standard-Lesarten, laut denen Wittgensteins Philosophie positive (substanzielle) Erkenntnisse über die Regeln der Tiefengrammatik unserer Sprachspiele zusammenträgt und damit gleichzeitig alte, metaphysische Illusionen zerstört, welche diesen Regeln widersprechen. Auf der anderen Seite gibt es die neuen, resoluten Lesarten der New Wittgensteinians, laut denen Wittgensteins Vorhaben philosophisch vollkommen destruktiv ist und sich darauf beschränkt, metaphysische Illusionen durch das Alltagsverständnis aufzulösen, ohne der Auflösung philosophisch positive Erträge oder Erkenntnisse entgegen zu setzen.

https://doi.org/10.1515/9783110664676-004

1.1 Denkanlass I – Wittgensteins Texte

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Der große geteilte Boden beider Lesarten zeigt sich aber in einer Bemerkung von Alice Crary (2000, S. 3 – 4) in der Einleitung zum Sammelband The New Wittgenstein: „Within standard interpretations, Wittgenstein is portrayed as holding that it follows from the abandonment of the idea [of an external standpoint on language] that what counts as agreement between the use of a sign and its meaning is fixed (not by objective reality, but) by grammar – and that therefore there can be no such thing as fully objective agreement. […] Thus, standard interpretations […] keep the idea [of an external standpoint] in play.“ Die Kritik der Resoluten lautet, dass die Standard-Lesarten in der Ablehnung des externen Standpunkts der Metaphysik, von dem aus sich die objektive Wirklichkeit zeigen würde, nicht weit genug gehen. In den Standard-Lesarten, so Crary, wird argumentiert, dass die Bedeutung von Sätzen nicht von einer externen, objektiven Wirklichkeit festgelegt wird und es daher die Grammatik selbst ist, welche das tut. In dieser Argumentation wird aber bereits auf die schiere Idee des externen Standpunkts zurückgegriffen. Es wird zwar argumentiert, dass der externe Standpunkt nicht eingenommen werden kann. Aber es wird eben mit der Idee argumentiert. Das geht aus resoluter Perspektive schon zu weit, da diese Idee demnach selbst eine metaphysische Illusion ist, von der das klare Denken zu befreien ist. Beide Lesarten fußen also auf der mehr oder weniger radikalen Ablehnung der Rolle der externen Perspektive in den Sprachspielen des Alltags. Laut der ordnenden Lesart gibt es jedoch gute Gründe anzunehmen, dass beide Lesarten Wittgenstein vorschnell eine zu grobschlächtige Metaphysikkritik zuschreiben und dass in Wittgensteins Denken die Überzeugung eine sehr wichtige Rolle spielt, dass es „radikal externes Seiendes“ außerhalb der Sprachspiele gibt, das zwar nicht als Begründung der Grammatik der Sprachspiele fungiert, aber als Orientierungs- und Zielpunkt verschiedener Verstehensformen absolut wichtig ist.

1.1 Denkanlass I – Wittgensteins Texte 1.1.1 Wittgenstein als „radikaler“ Anti-Metaphysiker Der Anlass für die ordnende Lesart ist die Beobachtung, dass Interpreten von Wittgenstein zwischen zwei extremen Positionen schwanken. Entweder, so die Interpreten, ist Wittgenstein (zur Zeit des Tractatus) ein Metaphysiker in einem eigentlich ganz klassischen Sinne (vgl. Schroeder 2006), oder er ist (sowohl im Tractatus als auch der Spätphilosophie) ein „radikaler“ Anti-Metaphysiker, der

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1 Die ordnende Lesart

nahezu alles, was mit der traditionellen Metaphysik assoziiert wird, vernichten will (vgl. Crary & Read 2000). Zur groben Charakterisierung der Metaphysik, die Wittgensteins Verständnis entspricht, lässt sich folgendes sagen. – Es gibt die Überzeugung, dass es vom Menschen absolut unabhängiges, externes Seiendes gibt, – welches die perspektivisch vom Menschen erfahrene Welt hervorbringt, – welchem Menschen gerecht werden sollen, – welches sich vernünftig und wissenschaftlich begründet erfassen lässt, – wobei genau darin der wichtigste Schritt besteht, diesem Seienden gerecht zu werden. Die Punkte hängen natürlich zusammen und bilden somit eine Einheit. Wenn Wittgenstein sich nun also gegen die Metaphysik richtet, dann ist es zunächst bereits ein ganz natürlicher Gedanke, zu meinen, dass er die ganze Einheit aus dem Denken verscheuchen will. Aber erfassen wir zunächst die Einheit etwas besser. Bringen wir nun also noch etwas mehr Struktur in die Charakterisierung, indem wir einzelne Punkte zu Gruppen zusammenfassen. Bereich 1: – Es gibt die Überzeugung, dass es vom Menschen absolut unabhängiges, externes Seiendes gibt, – welches die perspektivisch vom Menschen erfahrene Welt hervorbringt, Bereich 2: – welchem Menschen gerecht werden sollen, Bereich 3: – welches sich vernünftig und wissenschaftlich begründet erfassen lässt, – wobei genau darin der wichtigste Schritt besteht, diesem Seienden gerecht zu werden. Bereich 1 besagt, dass es vom Menschen unabhängiges Seiendes überhaupt gibt. Dass das wirklich Seiende nicht da aufhört, wo die menschliche Perspektive aufhört. Der Mensch wird als eingebettetes Wesen betrachtet. Jenseits der perspektivisch vom Menschen erfahrenen Welt gibt es demnach noch einen Seinsbereich, der durch so etwas wie eine externe Perspektive erschlossen werden könnte, wobei hier noch unklar ist, wie diese externe Perspektive genau aussehen könnte oder müsste.

1.1 Denkanlass I – Wittgensteins Texte

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Bereich 2 besagt, dass dieses Seiende relevant und anspruchsvoll ist. Die ethische Formulierung „gerecht werden sollen“ wurde mit Bedacht gewählt. Es ist nicht nur so, dass dieses Seiende relevant ist, weil es eine einflussreiche Größe ist, mit der man rechnen muss, wenn es die ur-eigenen Pläne nicht durchkreuzen soll. Es wird auch als auffordernd erlebt; man soll es so anerkennen, wie es eben ist. (Ein verwandter Punkt: Wahrheit ist nicht nur ein nützliches Instrument, sondern hat – wenn diese Charakterisierung stimmt – eine irreduzibel-ethische Dimension, insofern jene, die mit dem Konzept „Wahrheit“ umgehen, es für eine Selbstverständlichkeit halten, dass man im Regelfall ganz einfach das Wahre sagen soll.) Bereich 3 besagt, dass sich dieses Seiende vor allem durch vernünftiges Gründegeben erschließen lässt und in erster Linie den Menschen als Vernunftwesen ruft. Nun stellt sich die Frage in größerer Klarheit. Was lehnt Wittgenstein denn genau ab an der Metaphysik? Lehnt er sämtliche Bereiche oder spezifische Bereiche ab? Es scheint recht klar, dass Wittgenstein Bereich 3 ablehnt. Wittgenstein sagt über die Philosophen, die sich seinem Ansatz anschließen: „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück“ (PU § 116). Weiter lehnt er sich gegen die Philosophie als Wissenschaft auf. „Dies ist ein irritierender Unsinn, es wird vorgegeben, die Philosophie sei irgend eine Wissenschaft“ (CV, S. 33). Insofern Metaphysik der Versuch ist, Philosophie als Wissenschaft zu betreiben, ist deutlich, dass Wittgenstein an der Metaphysik definitiv die Wissenschaftlichkeit ablehnt. Wie sieht es nun mit den Bereichen 1 und 2 aus? Gibt es laut Wittgenstein jenseits der menschlichen Perspektive externes Seiendes (Bereich 1), das im menschlichen Leben eine gewichtige Rolle spielt (Bereich 2)? Wenigstens beim späten Wittgenstein gibt es Passagen, die doch recht deutlich nahe zu legen scheinen, dass Menschen eben Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sind, und dass in diesem menschlichen Sein, wirkliche außersprachliche Dinge nicht zugänglich sind und keine Rolle spielen. Wittgenstein untersucht in den Philosophischen Untersuchungen die Idee, dass Wörter ihre Bedeutung bekommen, indem sie mit Dingen korreliert werden, in etwa so wie „einem Ding ein Namentäfelchen“ (PU § 26) angeheftet wird. Er untersucht also die Idee, ob hinter dem Wort eine externe, außersprachliche Wirklichkeit ist, so wie hinter dem Täfelchen das vom Täfelchen unabhängig existierende Ding ist. Nun zeigt sich, dass diese externe, von Sprache entkleidete, Wirklichkeit gar nie auftaucht. Man denke an das Wort „Zwei“. Jemand versucht es zu definieren, indem er auf zwei Nüsse zeigt. Sind die Nüsse nun ein außersprachliches Fun-

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dament, aus dem Wörter ihre Bedeutung ziehen können? Kann man aus diesem vermeintlich außersprachlichen Grund-Ding nun die Bedeutung auch nur irgendeines Worts herleiten? Man kann es nicht. Wenn man auf zwei Nüsse zeigt und „Zwei“ sagt, dann eröffnet sich nicht einfach eine klare Bedeutung, sondern ein recht großer Möglichkeitsraum. Der Schüler, der die Bedeutung lernen soll, steht immer vor einer potenziell mehrdeutigen Situation. „Der, dem man die Definition gibt […] wird annehmen, daß du diese Gruppe von Nüssen ‚zwei’ nennst! […] Er könnte ja auch, umgekehrt, wenn ich dieser Gruppe von Nüssen einen Namen beilegen will, ihn als Zahlnamen mißverstehen“ (PU § 28). Prinzipiell öffnet sich dieser Möglichkeitsraum ins Chaotische. Will jener, der „Zwei“ sagt und auf die Nüsse deutet, den Namen einer Fruchtart, einer partikularen Frucht, einer Zahl, einer Farbe oder einer Textur definieren? Will er auffordern, die Nüsse zu essen? Vergleicht er den Schüler – als Witz oder Beleidigung oder Kompliment – mit diesen Nüssen? Dieses potenzielle Chaos bricht aber im Normalfall eben nicht aus. Wodurch wird es eingehegt? Durch andere Wörter. Vielleicht sagt man: die Zwei kann nur so hinweisend definiert werden: „Diese Zahl heißt ‚zwei’“. Denn das Wort „Zahl“ zeigt hier an, an welchen Platz der Sprache, der Grammatik, wir das Wort setzen. Das heißt aber, es muß das Wort „Zahl“ erklärt sein, ehe jene hinweisende Definition verstanden werden kann. – Das Wort „Zahl“ in der Definition zeigt allerdings diesen Platz an; den Posten, an den wir das Wort stellen. Und wir können so Mißverständnissen vorbeugen, indem wir sagen: „Diese Farbe heißt so und so“, „Diese Länge heißt so und so“, usw. Das heißt: Mißverständnisse werden manchmal so vermieden. Aber läßt sich denn das Wort „Farbe“, oder „Länge“ nur so auffassen? – Nun, wir müssen sie eben erklären. – Also erklären durch andere Wörter! (PU § 29)

Der hier nun relevante Punkt wird im letzten Satz des zitierten Abschnittes klar herausgestellt. Worterklärungen geschehen auch immer durch andere Wörter. Es erstrahlt nirgendwo in eindeutiger Klarheit das außersprachliche Seiende. Es ist unmöglich, ein Ding zu erfahren, ohne es als bereits in irgendeiner Weise in eine Art Begriffssystem eingeordnet zu erfahren. Damit scheint vielleicht gesichert, dass Wittgenstein auf jeden Fall Bereich 2 ablehnt – es erscheint nun als verwirrte Idee, dass unser Sprechen und damit unser sprachliches Leben irgendwie einer außersprachlichen Wirklichkeit gerecht werden könnte. Gleichermaßen scheint damit die ganze Idee von außersprachlichem, externem Seienden – Bereich 1 – unterminiert. Fassen wir also den Stand zusammen. Wittgenstein richtet sich explizit gegen die Metaphysik, ohne irgendwie darauf hinzuweisen, dass er nur bestimmte Aspekte der Metaphysik meint. Mehr noch: Wenn man die Metaphysik als Einheit in verschiedene Aspekte aufschlüsselt, so finden sich gewichtige Passagen bei

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Wittgenstein, die unterstreichen, dass er wirklich gegen jeden der genannten Aspekte ins Feld zieht. Der Fall scheint klar.Wittgenstein scheint es wirklich auf die Metaphysik in all ihren Aspekten abgesehen zu haben. Dazu betont Wittgenstein auch noch recht häufig seinen radikalen und destruktiven Anspruch. In seinem Tagebuch charakterisiert er seine philosophische Arbeit mit den Worten „I destroy, I destroy, I destroy“ (VB, S. 479). Er betont auch die radikale Neuheit seines Denkens. „Meine Art des Philosophierens ist mir selbst immer noch, & immer wieder, neu, & daher muß ich mich so oft wiederholen. […] Diese Methode ist im Wesentlichen der Übergang von der Frage nach der Wahrheit zur Frage nach dem Sinn“ (CV, S. 3). Wenn Wittgenstein wirklich so einen radikalen Bruch mit der Tradition macht und sogar offenbar die Frage nach der Wahrheit als unwichtig für die Philosophie zurückweist, wie kann da ein Zweifel daran bestehen, dass Wittgenstein mit allen oben genannten Aspekten der Metaphysik bricht? Und wenn es manchmal schwer erscheint, Wittgenstein zu verstehen, ohne in metaphysische Konzepte zurückzufallen, liegt das dann nicht einfach nur daran, dass dieses Denken so avantgardistisch ist, und man selbst – von der Schwere der Tradition zurückgehalten – noch nicht weit genug in die neue Sicht vorgedrungen ist, um ihre innere – radikal metaphysikfreie – Konsistenz zu würdigen? Es ist also wenig verwunderlich, dass die meisten Interpreten, die sich intensiv und mit Sympathie mit Wittgenstein beschäftigen, ihm eine sehr radikale Metaphysikkritik zuschreiben. Dennoch darf man hier nicht voreilig sein. Es gibt nämlich Gründe anzunehmen, dass diese Interpretation Wittgensteins in gewichtiger Weise tatsächlich vorschnell ist.

1.1.2 Begründete Zweifel an dieser „Radikalität“ Warum sollte man annehmen, dass Wittgensteins Metaphysikkritik nicht eine radikale Kritik an der Idee der externen Perspektive einschließt? Wo ist hier Einhalt zu gebieten? Vor allem folgende Gründe sind zu nennen. Wittgenstein – vor allem der späte, bei dem die Ablehnung der Metaphysik am deutlichsten scheint – philosophiert als Reaktion auf bestimmte Verwirrungen. „Ein philosophisches Problem hat die Form: ‚Ich kenne mich nicht aus‘“ (PU § 123). Man muss sich also davor hüten, vorschnell allzu allgemeine, große Aussagen – über das externe Sein oder Nichtsein – aus bestimmten Problembehandlungen Wittgensteins herzuleiten. Es ist sorgfältig zu betrachten, was er genau angreift und was er nicht angreift. Das führt konkret zum nächsten Punkt. Wittgenstein zeigt zwar, dass (a) das externe, außersprachliche Seiende nicht präsentierbar ist, und dass (b) die au-

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ßersprachliche Wirklichkeit nicht als Begründung der Sprache fungieren kann. Aber was folgt daraus? Wieso sollte daraus eine vollständige Verneinung der außersprachlichen Wirklichkeit – und der Notwendigkeit ihr gerecht zu werden – folgen? Aus Wittgensteins Bemerkungen ließe sich nur dann eine konsequente Verneinung der außersprachlichen Wirklichkeit schließen, wenn (a*) Wirklichkeit und Präsentierbarkeit gleichgesetzt werden, und wenn (b*) die einzige Möglichkeit dem außersprachlichen Sein gerecht zu werden, darin gesehen wird, das Vokabular der Sprechenden von außen zu begründen. Aber das sind eben voreilige Positionen. Wirklichkeit muss nicht Präsentierbarkeit heißen. Es kann etwas wirklich sein, das sich nicht präsentieren lässt. Das radikal externe Wirkliche kann prinzipiell auf Weisen wirken, die nicht einer Präsentation (wie sie in der verwirrten Version der hinweisenden Erklärung angestrebt wird) entsprechen. Und die Begründung muss nicht die einzige Weise sein, auf die man einer außersprachlichen Wirklichkeit gerecht werden könnte. Hier ist eben eine genaue Beschäftigung damit geboten, was Wittgensteins Texte im Detail hergeben. Wittgenstein versucht von der philosophischen Sprache zum Verständnis der Alltagspraxis zurückzuführen.Wie glaubwürdig ist es aber, zu behaupten, dass im Alltagsverständnis keinerlei Bezug zum unabhängigen, außersprachlichen Sein gemacht wird? Wittgensteins Projekt, die Sprachspiele so zu beschreiben, wie sie vom Sprechenden „gespielt“ werden, wird regelmäßig als kategorische Zurückweisung der externen Perspektive gesehen. Es bedeutet, so diese Auffassung, „to give up the project of external self-understanding altogether and instead to limit ourselves to the sufficiently formidable task of understanding our point of view toward the world from within“ (Nagel 2012, S. 29 – 30). Tatsächlich betont Wittgenstein ja auch, dass die Philosophie im letzten Schritt nur beschreibend konstatieren kann, dass dieses oder jenes Sprachspiel gespielt wird. „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene‘ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt“ (PU § 654). Aber was bedeutet es, Sprachspiele als Urphänomene zu betrachten? Wird damit die externe Perspektive einfach radikal ausgeschlossen? Sybille Krämer (2001, S. 116) betont, dass mit dem Begriff Sprachspiel nicht das „Wesen der Sprache“ ausgedrückt werden soll. Es soll auch nicht eine „letzte, nicht weiter zerlegbare Einheit [gekennzeichnet werden], die als universale Ordnung hinter der Mannigfaltigkeit der Sprachereignisse verborgen und durch Analyse zutage zu fördern ist“ (Krämer 2001, S. 116). Über die Sprachspielmethode soll nicht das Wesen unseres sprachlichen Seins an und für sich fixiert werden, sondern es gilt:

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„[Das Sprachspiel] ist ein Arbeitsinstrument, ein Übersicht verschaffendes Mittel der Darstellung“ (Krämer 2001, S. 116). Es geht bei der Betrachtung der Sprache über die Sprachspielmethode darum, bestimmte Aspekte unseres Sprechens gewissermaßen aufleuchten zu lassen; es ist eine „Praxis des Sichtbarmachens“ (Krämer 2001, S. 115). Aber was ist nun der Status von dem, was Wittgenstein da sichtbar macht? Schließt es Außersprachliches als irrelevant aus? Wittgenstein behandelt die sprachlichen Tatsachen als Urphänomene. Hier sind zwei Aspekte wichtig. Urphänomene sind „durch keine Hierarchiestufe von den übrigen Phänomenen [getrennt]“ (Krämer 2001, S. 114). Etwas als Urphänomen zu betrachten, bedeutet nicht, dass es als hierarchisch privilegierter Urgrund, aus dem andere Phänomene hervorgehen, identifiziert wird. Es bedeutet schlicht, dass aus der Vielzahl gewissermaßen gleichrangiger Phänomene bestimmte Phänomene isoliert werden, die gerade nur dadurch zu Urphänomenen werden, dass sie für einen bestimmten Prozess des ordnenden Herstellens einer Übersicht als Maßstab fungieren. Wenn bestimmtes Sprechen zum Zwecke philosophischer Klärung als Urphänomen behandelt wird, dann folgt daraus also noch nicht, dass dieses Sprechen anderen Phänomenen oder dem Sprachexternen prinzipiell hierarchisch übergeordnet wird. Wie verhält sich die Untersuchung der Phänomene zum Externen? „Phänomene sind Erscheinungen, die nicht so betrachtet werden, daß sie ein unter ihrer Oberfläche angesiedeltes Wesen verbergen, welches es dann durch eine die Erscheinungen durchdringende und zerlegende Analyse aufzudecken gilt“ (Krämer 2001, S. 113). Etwas als Phänomen zu betrachten, bedeutet also, es so anzuerkennen, wie es gerade aufscheint. Es wird nicht der Versuch gemacht, das Aufscheinende so zu überspringen, dass hinter dem Aufscheinenden eine dem-Phänomen-zusätzliche Wirklichkeit über eine bestimmte Analysetechnik entborgen wird, die vorher wie durch einen Schleier verdeckt war. Dem Phänomen soll nichts Erklärendes hinzugefügt werden, sondern es soll so genommen werden, wie es erscheint. Das Phänomen ist ganz als „Oberfläche“ da. Die Oberfläche wird nicht als etwas Defizitäres genommen. Es ist gewissermaßen ein Stehenbleiben bei dem, was als Erscheinung gegeben ist, ohne den Anspruch, die Erscheinung notwendig auf etwas Dahinterstehendes zurückzuführen. Man gibt sich dann als Denker der Gestalt des Phänomens hin, ohne es selbständig über eine Analyse zu zerlegen und so gewissermaßen umzugestalten. Aus dem Zurückweisen des Ansatzes einem Phänomen einen hintergründigverborgenen Seinsbereich gewissermaßen „anzudichten“, folgt natürlich nicht die Unmöglichkeit, dass es spezifische Phänomene gibt, die gerade dann, wenn man sie so vernimmt, wie sie aufscheinen, von selbst und aus ihrer inneren Gestalt

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heraus auf etwas Externes verweisen. Es kann Phänomene geben, die von selbst und aus ihrer inneren Struktur her über sich selbst hinausweisen. Nun ist es auch genau der springende Punkt, dass eben Sprachspiele gespielt werden, die sich genau durch den Anspruch, eine „interne“ Perspektive zu überschreiten, auszeichnen. Der Bezug zum Sprachexternen gehört also genau zum Urphänomen. In seiner Lecture on Ethics verweist Wittgenstein auf den Fall eines aberwitzigen Lügners. Aus der Perspektive eines ethischen Sprachspiels würde man aber die Praxis des Lügners als abscheulich bekämpfen und zwar mit dem Verweis auf absolute Gebote. „[The ethical person] would say ‘Well, you ought to want to behave better.‘ Here you have an absolute judgment of value“ (LE, S. 39). Sprachspiele sind also nicht einfach in sich selbst geschlossen, sondern „von Natur aus“ so nach außen bezogen, dass eine externe Perspektive mitgemeint wird, an dem sich die Sprachspiele zu messen haben. Wenn Wittgensteins Projekt als radikal internes Unternehmen betrachtet wird, wird folgender Einwand laut: „[W]hile internal understanding is certainly valuable […] I don’t see how we can stop there and not seek an external conception of ourselves as well“ (Nagel 2012, S. 30).Wenn man nun beachtet, dass der Bezug aufs Externe zum Urphänomen der Sprachspiele gehört, dann ist es tatsächlich nicht klar einsichtig, wie die philosophische Reflexion den Bezug auf das Externe ausklammern könnte. Wittgenstein richtet sich daher gerade gegen den spezifischen Versuch, das Externe im Modus der wissenschaftlichen Metaphysik zu repräsentieren, da er dies als inkohärentes Projekt sieht, das eben nicht zu Verständnis führt. Dieses Verständnis versucht er aber gerade dadurch zu erreichen, dass er genau philosophisch reflektiert, wie wir das Externe als Teil der aufscheinenden Phänomene implizit immer schon verstehen. Ein weiterer höchst gewichtiger Grund ist der folgende. Wittgenstein stellt seine spezifische philosophische Methode als den traditionellen Methoden überlegen dar. Dabei strebt er eine vollkommene Auflösung der philosophischen Irritationen an. „[D]ie Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen“ (PU § 133). Nun ist es aber so, dass die Überlegenheit von Wittgensteins Methode eben nicht selbstverständlich ist. Einige Wittgensteinianer behandeln sie als beinahe selbstverständlich korrekt, machen dabei aber ähnliche Fehler. Der „Hauptfehler“ liegt in Gedankengängen der Form: Man kann metaphysische Fragen auf Sprachverwirrungen zurückführen, also muss man es tun. Die kohärente Möglichkeit einer Reduktion der Metaphysik auf Sprachverwirrungen impliziert aber nicht die Notwendigkeit der Reduktion.

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Ein anderer „Anti-Metaphysiker“ als Vergleichsfall: Wenn es so ist, dass man altruistische Moral kohärent auf einen ungeraden Willen zur Macht im Sinne Nietzsches zurückführen kann (vgl. Nietzsche 1999 a, S. 257– 289), dann folgt daraus ebenfalls noch nicht, dass man das auch tun muss. Nicht nur gibt es zum einen prinzipiell alternative Kandidaten, einen Phänomenbereich auf andere Phänomene zu reduzieren. Tiefer liegt aber der Punkt, dass aus der Möglichkeit einer Reduktion nicht die Notwendigkeit der Reduktion folgt, wenngleich das „Aufblitzen“ der Möglichkeit durch eine Reduktion Klarheit zu schaffen, natürlich höchst eindrucksvoll sein kann und auch ernst zu nehmen ist. Auch der Versuch, die Überlegenheit von Wittgensteins Methode z. B. mit dem Verweis darauf zu verdeutlichen, dass Wittgenstein eben zur Alltagssprache zurückführt, wodurch man sich die zusätzliche metaphysische Sprache sparen kann, ist kraftlos. Es ist schierer Dogmatismus, die kategorische Überlegenheit der Alltagssprache gegenüber metaphysischer Sprache zu behaupten. Auch der Verweis auf die Ökonomie tut hier nicht den nötigen Dienst, da es eben nicht selbstverständlich ist, dass das absolute Ziel des Philosophierens ein möglichst sparsames Gesamtvokabular ist. Es lässt sich im Detail zeigen, wie die Versuche verschiedenster radikal antimetaphysischer Wittgensteinianer, die strenge Überlegenheit von Wittgensteins Methode zu zeigen, entweder in deutlich ungenügenden Begründungen oder uninteressantem Dogmatismus verbleiben. Weitestgehend wird die Überlegenheit von Wittgensteins Methode von Wittgensteinianern aber gar nicht konsequent in Frage gestellt. Die Wittgensteinaner fokussieren sich dann darauf, die wunden Punkte der metaphysischen Tradition zu attackieren, ohne zu hinterfragen, warum eigentlich genau Wittgensteins Weg der verlässliche Weg aus diesen Übeln sein sollte. Das ist problematisch, denn die Ergebnisse, die man mit Wittgensteins Methode erringt, sind nur so wertvoll wie die Methode selbst. Der Wert der Früchte von Wittgensteins Arbeit hängt am Wert der Methode. Es stellt sich also die Frage, wieso genau sie die beste philosophische Methode ist. Aber wenn man die Fragestellung zulässt, ob Wittgensteins Methode verlässlichere Ergebnisse liefert als die traditionelle Philosophie, scheint man schon Bezug auf externes Seiendes zu nehmen, weil man somit auf einen externen Standard verweist, dem eine gute Methode gerecht zu werden hätte. Wenn dieser Standard nur ein relativ externer Standard wäre, dann gäbe es kein grundlegendes Problem. Diese relativ externen Standards gibt es dabei ja auch, denn die Sprachpraxis der philosophischen Reflexion nach Wittgensteins Methode gelingt erst dann, wenn in der philosophischen Sprachpraxis der Sprachgebrauch der alltäglichen Sprachspiele beschrieben wird. Die alltäglichen Sprachspiele über die reflektiert wird, bilden also den relativ externen Standard, an dem sich die Ergebnisse der philosophischen Methode zu messen haben. Der

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Standard ist aber nur relativ extern, da er eben aus der normalen menschlichen Perspektive zugänglich ist. Aber es stellt sich eben auch die Frage, ob es überhaupt adäquat ist, philosophische Fragen als bloße Sprachverwirrungen zu behandeln, oder ob man damit nicht doch das Wesen philosophischer Fragen verkennt. Diese Frage ist nicht mehr aus der normalen Perspektive zu überschauen und somit verweist sie auf einen absolut externen Standard und somit absolut externes Seiendes. Aber trennen wir uns damit von Wittgenstein? Ist es vielleicht tatsächlich so, dass Wittgensteins Methode rein philosophisch betrachtet an einem Begründungsdefizit leidet, aber dass Wittgenstein dieses – ähnlich wie die kritischen, aber nicht unbedingt sehr selbstkritischen Wittgensteinianer – eben selbst nicht klar gesehen hat? Wittgenstein selbst scheint das Problem des „Begründungsdefizits“ seiner Methode interessanterweise jedoch klar gesehen zu haben. Wittgenstein notiert 1947: „Ist, was ich tue, überhaupt der Mühe wert? Doch nur, wenn es von oben her ein Licht empfängt. […] Ist das Licht von oben nicht da, so kann ich ja doch nur geschickt sein“ (VB, S. 531– 532). 1937: „Das Licht der Arbeit ist ein schönes Licht, das aber nur dann wirklich schön leuchtet, wenn es von einem anderen Licht erleuchtet wird“ (VB, S. 486). Das bedeutet, dass der Wert seines Philosophierens nicht unmittelbar und aus sich selbst heraus zugänglich ist. Es wird eine externe Lichtquelle benötigt, um den Wert zu vermitteln. Das kann man so verstehen, dass sich Wittgenstein den oben genannten, sich aufdrängenden Einwänden gegen seine Methode bewusst ist, welche den Wert der Früchte der Methode zunächst in der Schwebe halten. Besonders relevant ist hier der Verweis darauf, dass Wittgenstein sich ohne das Licht lediglich als recht geschickt zeigen würde. Eine bestimmte intellektuelle Qualität von Wittgensteins Arbeiten ist schlichtweg nicht abzustreiten. Er zeigt mit ungewöhnlicher Schärfe, wie sich philosophische Fragen als Verwirrung des alltäglichen Vokabulars darstellen lassen. Jedoch: Sind sie auch wirklich nur Verwirrungen? Trifft die intellektuelle Leistung auch die philosophische reflektierte Wirklichkeit, oder ist sie nur eine Art sportliche Puzzle-Leistung, die im Rahmen einer irrigen Methode stattfindet? Die Möglichkeit, eine philosophische Frage als Sprachverwirrung aufzufassen, impliziert schließlich nicht logisch die Notwendigkeit, die philosophische Frage als nichts weiter als eine Sprachverwirrung auffassen zu müssen. Die Möglichkeit einer entwirrenden Reduktion der Metaphysik auf die Alltagssprache impliziert nicht logisch die Notwendigkeit einer entwirrenden Reduktion der Metaphysik auf die Alltagssprache. Weiterhin fällt auf, dass das gesuchte Licht besonderer Art ist. Es kann Zweifel darüber herrschen, ob es gerade auf einen betrachteten Gegenstand scheint. Das steht im scharfen Kontrast z. B. zum Licht der Glühbirne oder der Sonne, welches

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solche Zweifel im Normalfall nicht zulässt. Es stellt sich die Frage, wie man dieses andere Licht begreifen muss. Wenn Wittgensteins Methode eine Absicherung braucht, dann ist die erste Weise der Absicherung, die sich aufdrängt, jene der klassischen vernünftigen metaphysischen Begründung. Diese Weise ist aber nicht zugänglich, da das der inkohärente Versuch wäre, eine ja doch metaphysikkritische Methode metaphysisch zu begründen. Es ist also zu fragen, wie man dieses Licht von oben verstehen muss, damit es Wittgensteins Methode sichern kann, ohne die Irrwege der klassischen Metaphysik zu wiederholen.

1.1.3 Züge der ordnenden Lesart Die ordnende Lesart zeichnet sich nun durch folgende Aspekte aus, die entwickelt wurden in Reaktion auf die im vorigen Kapitel charakterisierten Zweifel an der angeblichen „radikalen“ antimetaphysischen Haltung Wittgensteins.

1.1.3.1 Neu einordnen, statt austilgen Im Gegensatz zu den „radikal“ antimetaphysischen Lesarten, lehnt Wittgenstein aus dem „Bereich des Metaphysischen“ nur den oben bezeichneten Bereich 3 ab. Er lehnt Metaphysik als Wissenschaft ab. Er lehnt nicht radikal die Existenz von absolut externem Seienden ab, das in einer irgendwie gearteten – jedenfalls aber nicht wissenschaftlich geformten – externen Perspektive zugänglich wäre. Es ist also nicht so, dass das externe Seiende für Wittgenstein einfach nicht da ist. Es sträubt sich aber gegen einen wissenschaftlichen Zugang und wird falsch modelliert, wenn es analog zu so etwas wie einer Faktenlage, die von Naturwissenschaften erschlossen werden könnte, gedacht wird. Wittgenstein will also den Bezug auf das externe Sein in der philosophischen Reflexion neu einordnen. Er will nicht das ganze Konzept aus dem Bereich des philosophischen Denkens wegräumen oder austilgen. Wittgenstein ist viel weniger destruktiv als er gemeinhin ausgelegt wird.

1.1.3.2 Bekanntes ordnen statt neue Erkenntnisse hereinzuholen Im Gegensatz zu einem metaphysischen Ansatz, der Wissen vermehren will, und neues Wissen erringen will, zu dem durch einen Begründungsgang emporgestiegen wird, sind in Wittgensteins Ansatz „News“ völlig uninteressant. Alles, was wichtig ist, ist für Wittgenstein bereits da. Es ist aber ungeordnet und verwirrt. (Es gibt also „nur“ philosophische Neuigkeiten in dem Sinne, dass eine alte Unord-

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nung bereinigt wird.) „[Philosophische] Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch die Zusammenstellung des längst Bekannten“ (PU § 109). Sybille Krämer (2001, S. 117) betont, dass Wittgensteins philosophisches Unterfangen im Ordnen von bereits gänzlich zugegen-seienden Sprachphänomenen besteht, und nicht darin besteht, hinter die Sprachphänomene zu treten, um dort eine vorher unbekannte Wirklichkeit herzuleiten: „[D]as, was wir durch den Vergleich mit dem Sprachspiel ordnen [, ist] nicht die Sprache, sondern unser Wissen von der Sprache“. Es geht darum, unsere Reflexionen über die erscheinende Sprache zu ordnen. Durch diese Ordnung werden vorher übersehene Zusammenhänge und Unterschiede verschiedener sprachlicher Phänomene transparent. Durch die Ordnung „entsteht so etwas wie eine ‚Gestalt’, ‚ein Gesicht’“ (Krämer 2001, S. 113). Was wird also geordnet? Es sind verschiedene Weisen des Sprechens/Verstehens, welche die in der Philosophie zu beachtenden Urphänomene bilden. Im Tractatus unterscheidet Wittgenstein lediglich drei Weisen: Naturwissenschaft, Logik und (als zusammengehörigen Bereich) Ästhetik/Ethik/Philosophie. Wittgenstein löst philosophische Paradoxien auf, indem er zeigt, dass sich diese erst durch eine Vermischung der Verstehensweisen ergeben haben. Russells Paradox ist, so Wittgensteins Analyse, nur dadurch entstanden, dass er logische Sätze wie naturwissenschaftliche Sätze behandelt hat. Durch eine Darstellung der Form logischer und naturwissenschaftlicher Sätze kann Wittgenstein die Verwirrung klären. In der Spätphilosophie geht Wittgenstein nach dem gleichen Grundmuster vor, „intensiviert“ es aber, insofern er nun eine potenziell unendliche Vielfalt verschiedener Sprachspiele voneinander unterscheidet. In dem Kontext ist es erhellend, zwei verschiedene Klassen von philosophischen Verwirrungen zu unterscheiden, welche Metaphysiker lösen wollen, indem sie eine theoretische, wissensmäßige Antwort erringen. Einige philosophische Probleme sind, wenn sie auf eine Verwirrung zurückgeführt werden, gewissermaßen vollständig erledigt. Das Problem, wie man die paradoxe Definition der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, aus der Logik ausschließen kann, welches Russell durch das Hinzufügen einer Typentheorie lösen wollte, stellt sich aus Wittgensteins Perspektive schlicht nicht mehr, wenn man einsieht, dass logische Sätze anders als naturwissenschaftliche Sätze sich nicht auf Fakten beziehen, sondern anders als naturwissenschaftliche Sätze die logische Form der Welt darstellen (vgl. TLP 3.333). Andere philosophische Probleme sind, wenn sie als Verwirrung analysiert werden, noch nicht vollständig abgehandelt, sondern sie „überleben“ sich. Die metaphysische Frage, worin das gute Leben besteht, fragt nach einer wissenschaftlichen Antwort. Wenn Wittgenstein nun zeigt, dass ethische Sätze aber ganz

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anders funktionieren als (natur‐)wissenschaftliche Sätze, weil in den Wissenschaften Fakten abgebildet werden und ethische Sätze Seinsweisen ausdrücken, dann ist damit die quasi-wissenschaftliche, metaphysische Frage durchaus abgehandelt. Aber in dieser verwirrten, metaphysischen Frage hat sich eine genuine Frage verwirrt ausgedrückt, die weiterbesteht. Diese Fragen fordern aber keine wissenschaftliche Antwort, sondern sie fordern den Befragten heraus, sich kreativ in die logische Form der Welt einzuordnen.

1.1.3.3 Harmonische Ordnung als vertrauenswürdiges Zeichen, der Wirklichkeit gerecht zu werden In wissenschaftlichen Sprachspielen kommt eine besondere, paradigmatische Form des Gerechtwerdens vor: Eine Tatsachenbehauptung wird aufgestellt und daraufhin, einer bestimmten Technik folgend, mit der Wirklichkeit verglichen. Die Tatsachenbehauptung, dass in der Tiefsee kein Leben gedeiht, wird mit der Wirklichkeit verglichen, indem eine Expedition dorthin unternommen wird, diese Wirklichkeit ins Auge genommen wird, Bildaufnahmen hergestellt werden, Tiere eingefangen werden usw. Der Satz, dass in der Tiefsee kein Leben ist, kann mit dieser Technik als falsch erwiesen werden: Er wird der Wirklichkeit nicht gerecht, weil er sie nicht korrekt repräsentiert/widerspiegelt/abbildet. Die Frage, ob ein Sprachspiel als Ganzes einer dem Spiel außersprachlichen Wirklichkeit gerecht wird, kann nicht nach diesem Modell gedacht werden, denn man kann das Sprachspielganze nicht mit der außersprachlichen Welt vergleichen, da dafür keine Technik vorhanden ist. In anderen Worten: Es ist keine naturwissenschaftlich beantwortbare Frage, ob die Naturwissenschaft als solche korrekt ist. Um eine metawissenschaftliche analoge Technik des Vergleichens des ganzen Sprachspiels mit der außersprachlichen Wirklichkeit zu entwickeln, fehlen wiederum die klaren Erfolgskriterien. Nach welchem Modell ist das Gerechtwerden eines Sprachspielganzen also zu denken? Hier gibt es zwei Indizien, um Wittgenstein auf die Spur zu kommen. Wittgenstein stellt besonders bei explizit ethischen Sprachspielen den Bezug auf externe/absolute Standards heraus, an die sich alle halten sollen (vgl. LE). Weiterhin ist es so, wie John Bowlin (2004, S. 162) argumentiert hat, dass das Einüben von Sprachspielen an sich immer bereits eine implizite ethische Dimension hat, da das Kind, welches in ein Sprachspiel eingeführt wird, die kompetenten Erwachsenen gewissermaßen als ethische Autoritäten behandelt, denen es folgen soll: „My son will acquire mastery of the concept ‘spoon‘ only as he acknowledges that eating in certain ways is good.“ Wittgenstein hat den Tractatus gegenüber Ludwig von Ficker als ethisches Buch bezeichnet, das einen ethischen Sinn verfolgt (vgl. Engelmann 1967, S. 143 – 144). Philosophische, ästhetische und ethische Sätze

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bilden im Tractatus die Einheit sogenannter unsinniger Sätze. In der Spätphilosophie versteht sich Wittgenstein selbst als Person, die versucht „zur Ehre Gottes“ (PB, S. 7) zu schreiben, womit z. B. der Anspruch gemeint ist, dass Eitelkeit nicht den Blick verstellen soll. Wittgenstein sagte: „I cannot help seeing every problem from a religious point of view“ (Drury 1984, S. 79). Wittgenstein versteht seine Philosophie also als Teil eines übergeordneten ethischen/religiösen Projekts. Das logisch-scharfe Denken ist dabei gerade der Ausdruck einer ethischen Haltung der Ehrlichkeit und Transparenz. Diesen Hinweisen folgend ergibt sich folgendes Bild. Die Art und Weise wie ein Sprachspielganzes der externen Wirklichkeit gerecht wird, muss man sich nach dem Modell der explizit ethischen Sprachspiele denken, da gerade hier der Ort ist, in welchem in den Urphänomenen der Bezug zum Äußeren geschlagen wird. Auch die Art und Weise, wie das Sprachspiel des Philosophierens nach Wittgensteins Methode der Wirklichkeit gerecht wird, ist dann im Kontext dieses Modells zu denken – Wittgenstein selbst charakterisiert ja sein Philosophieren gerade als ethisches Projekt und somit als ethisches Sprachspiel. Was zeigt sich also in den ethischen Sprachspielen? Ethik denkt Wittgenstein dabei immer eng mit dem Göttlichen und Religiösen zusammen. „Wenn etwas gut ist, so ist es auch göttlich. Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefaßt“ (VB, S. 454). Ethik/Religion besteht darin, dass sich Menschen auf bestimmte Weise in die profane, logisch geformte Welt einfügen. Man ist zur Welt anders in einer explizit ethischen Seinsweise als in einer profanen Seinsweise. In der profanen Seinsweise eröffnet sich die logisch geformte Welt und alle Handlungsmöglichkeiten erscheinen auf der gleichen Stufe, insofern alle Optionen als logisch mögliche Handlungen erscheinen, die je nach Zielsetzung des Handelnden ausgeführt werden können oder nicht. Die Handlungen, einen anderen Menschen zu töten, einen Geschäftsvertrag mit ihm einzugehen, ihn als Instrument zur Zerstreuung oder als dankbaren Adressat der eigenen Hilfe zu behandeln, stehen alle auf derselben Stufe als logisch mögliche Handlungen. Durch das Eintreten eines absoluten ethischen Imperativs – z. B. dem Imperativ zur Nächstenliebe – wird der Raum der logischen Möglichkeiten modifiziert, insofern bestimmte logisch mögliche Handlungen in so einer Radikalität ausgeschlossen werden, dass sie als absolut schmählich gelten. Durch das Einüben in so eine ethische Praxis werden bestimmte ethisch empörende Handlungen eigentlich „undenkbar“ und die Welt tritt nach der Einübung in einer ganz neuen Selbstverständlichkeit auf. Die Welt, die vorher mit Personen bevölkert war, mit denen man, da alle logischen Möglichkeiten auch prinzipiell zulässig sind, je nach auftretendem Interesse umgehen kann, ist nun voll mit Personen, die einen vor die definitive Aufgabe stellen, ihnen nach Kräften zu helfen.

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Als ethische Seinsweise geht sie nun, das ist ein Bestand, der laut Wittgenstein als Phänomen gegeben ist, mit Erlösungserfahrungen einher: Das absolute Gebot zur Hilfe erlöst z. B. von der Richtungslosigkeit des Lebens. Erlösung von der Angst vor dem Tod oder von Isolation wären weitere typische Erfahrungen. „Die Furcht vor dem Tode ist das beste Zeichen eines falschen, d. h. schlechten Lebens“ (TB 14– 16, S. 169). Dass man in einer ethischen Praxis der externen Wirklichkeit, die absolute Forderung an einen stellt, gerecht wird, deutet sich laut Wittgenstein also dadurch an, dass bestimmte Probleme wie die Angst vorm Tode verschwinden. Es gehört nun aber zur inneren Konstitution/Dynamik des Sprachspiels, dass diese Erlösungserfahrungen nicht einfach als Beweis oder hinreichende Bestätigung der Wirklichkeit der absoluten Autorität aufgefasst werden können. Wenn man ethische Gebote als nützliche, weil erlösende (und andernfalls irrelevante) Gebote auffasst, dann verlieren sie ihren absoluten Status, wodurch sie dann in sich stimmig auch keine absolut strenge Praxis mehr motivieren könnten. Eine „absolute“ Autorität, deren Gültigkeit von ihren nützlichen Ergebnissen abhängt, wäre schlicht keine absolute Autorität mehr. „Glauben heißt, sich einer Autorität unterwerfen. Hat man sich ihr unterworfen, so kann man sie nun nicht, ohne sich gegen sie auflehnen, wieder in Frage ziehen und auf’s neue glaubwürdig finden“ (VB, S. 514). Darum bleibt die Ethik/Religion, trotz ihrer innerweltlich zugänglichen „greifbaren“ Resultate, eben notwendig „Glaubenssache“. Es wird einer Autorität vertraut, die dennoch fremd und entzogen bleibt. Die Harmonie, die sich im Leben zeigen kann, wird aber als Wink betrachtet, dass man in Übereinstimmung mit der Autorität ist. Die religiöse Perspektive besteht darin, harmonische Muster im Leben zu identifizieren und darin einen Wink zu sehen, wie man der absoluten, externen, anspruchsvollen Wirklichkeit gerecht wird. Dass die Synchronität von Ethik und Erlösung in der Praxis nicht als Unterordnung der Ethik unter den nicht-absoluten Standard der Erlösung/Glückseligkeit zu verstehen ist, zeigt auch ein anderes Beispiel. Im Kontext des kategorischen Imperativs legt Kant ethisches Handeln als pflichtgemäßes Handeln aus. Wer ethisch handelt, der tut es demnach, weil er die Pflicht anerkennt, nicht, weil er damit Glückseligkeit erwerben will. Dennoch ist es so, dass die Person, die ethisch handelt, auch wenn dafür kein Lohn zu erwarten ist, dann jedoch genau dadurch, dass sie ihr Handeln nicht vom Lohn abhängig macht, wiederum einen Lohn (z. B. die Erlösung) eigentlich verdient. Aber der Lohn kann eben nur dann verdient sein, wenn der Handelnde ethisch handelt, aber nicht vom Wunsch den Lohn zu erringen motiviert ist (vgl. Johnston 2010, S. 10 – 12). Diese Reflexion spiegelt eine ethische Grunderfahrung: Wir verstehen, dass jemand, der ethisch handelt, weil er von einer Strafe eingeschüchtert wird, etwas genuin Anderes tut, als jemand, der es frei tut. Im Ethischen zeigt sich somit eine Struktur, die an-

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satzweise „paradox“ wirken kann: Gerade dadurch, dass der Handelnde keinen Lohn verlangt, verdient er seinen Lohn unbedingt. Wenn man Wittgensteins philosophisches Vorgehen als Teil einer ethischen/ religiösen Praxis begreift, dann muss man sich die endgültige Absicherung der Philosophie nach diesem Modell vorstellen. Es legen auch einige Textstellen nahe, dass man damit genau Wittgensteins eigenes Verständnis trifft. Wittgenstein unterscheidet aber offenbar verschiedene Stufen seiner Arbeit. Er sieht die Philosophie aus einer religiösen Perspektive, die Philosophie benötigt eigentlich ein Licht von oben. Aber dennoch verschmelzen Philosophie und Religion nicht einfach. Die Religion stützt die Philosophie bei Wittgenstein in signifikanter Weise, aber verleibt sie sich definitiv nicht ein. Das liegt daran, dass Wittgenstein in der Philosophie durchaus eine Möglichkeit der Neutralität sieht. „Der Philosoph ist nicht Bürger einer Denkgemeinde. Das ist, was ihn zum Philosophen macht“ (Z § 455). Der Philosophierende befasst sich mit der Beschreibung der Sprachpraxis (vgl. PU § 109). Um Wittgenstein zu verstehen, sollte man also zwei Stufen der Absicherung seiner Methode unterscheiden. Es gibt eine natürliche Absicherung der Methode, die auf dem natürlichen Vertrauen in die Gültigkeit der ursprünglichen Sprachspiele besteht. Dann gibt es eine religiöse Absicherung der Methode, die auf dem gesteigerten religiösen Vertrauen darauf beruht, dass sich in den alltäglichen Sprachspielen die Wirklichkeit in angemessener Weise ausdrückt. Stufe 1 – Natürliches Vertrauen. Das menschliche Leben beginnt damit, dass wir die Welt aus der Perspektive verschiedener Verstehensweisen erfahren. Im Tractatus sind zwar die Verstehensweisen der Naturwissenschaft, Logik und Ethik/Ästhetik/Philosophie aufeinander bezogen und voneinander abhängig, aber sie schlüsseln dennoch andere Aspekte am Seienden auf. Damit die Verstehensprozesse überhaupt geschehen können, ist ein „instinkthaftes“, dezentes Ur-Vertrauen in sie notwendig. Wenn nicht eine natürliche, reflexhafte Überzeugung bestehen würde, dass sie das am Seienden aufschlüsseln, was relevant ist, würden sie untergehen. Was nun bei philosophischen Verwirrungen passiert, so wie Wittgenstein sie darstellt, das ist, dass bestimmte Verstehensformen (unbewusst) privilegiert werden, woraufhin andere Verstehensformen nach dem Modell der privilegierten Form gedacht werden und als defizitäre Formen erscheinen. Die Sprachverwirrungen verstören also gewissermaßen gerade das Ur-Vertrauen. Wenn es nun aber zum vielfältigen menschlichen Verstehen gehört, unter anderem auch dem externen, absoluten Seienden gerecht zu werden, dann ist es klar, dass die Überprüfung, welche Arten der Verstehensweisen diesem Seienden gerecht werden, nicht möglich ist. Das zeigt sich schon dadurch, dass es für ein notwendig perspektivisches Wesen unmöglich ist, die Welt so zu sehen, wie sie

1.1 Denkanlass I – Wittgensteins Texte

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jenseits jeder Perspektive wäre. Die externe Perspektive ist aber auch nicht irrelevant, da sie ja als Fluchtpunkt, z. B. wenn absolute Standards anerkannt werden, durchaus Teil des Alltagsverständnisses ist. Dadurch zeigt sich, dass das menschliche Leben radikal im Modus des Vertrauens stattfindet. Es ist nicht überprüfbar, inwieweit unsere Verstehensweisen überhaupt dem externen Seienden gerecht werden, aber – falls es denn so ist, wie es scheint, dass der Bezug auf externes Seiendes wie absolute Standards integraler Teil der Alltagspraxis ist – dennoch müssen wir darauf vertrauen, dass sie es tun. Die Unmöglichkeit, von außen bestimmte privilegierte Verstehensweisen herauszugreifen, hat eine Kehrseite: Es können auch keine herabzusetzenden Verstehensweisen herausgegriffen werden. Wenn also keine Überprüfung „von außen“ möglich ist, dann ist man auf das Ur-Vertrauen zurückgeworfen. Dieses Ur-Vertrauen betrifft aber nun die ganze Vielfalt der Verstehensweisen. Und das ist höchst entscheidend. Die „Ausgangslage“ des Verstehens besteht in einem Grundvertrauen in sämtliche Verstehensformen. Jede Privilegierung/Herabsetzung mit dem Anspruch, diese wohlbegründet aus einer externen Perspektive durchzuführen, wäre willkürlich. Es ist demnach der ursprünglichen Vielfalt der Verstehensweisen zu vertrauen. Aber die willkürliche Privilegierung/Herabsetzung ist genau das, was laut Wittgenstein in der Metaphysik geschieht. In der Metaphysik von Russell wird z. B. die Form naturwissenschaftlicher Sätze privilegiert und damit die Verstehensweise der Logik verstellt. Weiterhin verstellt Russell mit seiner willkürlichen Privilegierung der Form der Naturwissenschaft die Ethik. Aus dieser Perspektive ist es kein schierer Dogmatismus, die Gültigkeit des ursprünglichen Alltagsverständnisses gegen die philosophischen Neu-Konstruktionen zu verteidigen. Aus dieser Perspektive zeigt sich die philosophische Konstruktion neuer metaphysisch inspirierter Sprachspiele, die auf der Privilegierung bestimmter althergebrachter Sprachspiele beruhen, eben als willkürliche – und daher nicht überzeugende – Privilegierung. Aus der Unmöglichkeit, mit verlässlichen Erfolgskriterien das Alltagsverständnis zu modifizieren, folgt eine relative Verteidigung von Wittgensteins Methode. Wir sollen unseren natürlichen Verstehensweisen ur-vertrauen, denn jede Modifikation des Ur-Vertrauens in der Metaphysik ist eine intellektuell eigentlich willkürliche Modifikation, die dennoch nur auf Basis dieses Ur-Vertrauens lebt. Wittgenstein jedoch führt zu dem Vertrauen in die natürliche Vielfalt der ursprünglichen Verstehensweisen zurück und vermeidet dadurch Willkür. Das ist sozusagen die profane Ebene seiner Philosophie, die jedoch keine hinreichend starke Verteidigung bietet. Selbst dann, wenn die Modifikationen des Alltagsverständnisses durch die Metaphysik, wenn man strenge Kriterien anlegt, als rational „willkürlich“ gefasst werden können, weil dabei nicht vollständig klare Erfolgskriterien benutzt werden, so ist damit, wie sich in der Detaildiskus-

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sion zeigen wird, doch nicht hinreichend ausgeschlossen, dass in der Metaphysik, trotz einer gewissen Schwerfälligkeit und Unschärfe der Metaphysik, eine genuine Emanzipation von der ursprünglichen Ordnung des Verstehens stattfinden könnte. Weiterhin ist nicht unmittelbar klar, warum man nicht eine ironische Distanz zum Ur-Vertrauen einnehmen sollte. Selbst wenn man auf es angewiesen bleibt, folgt ja daraus nicht, dass man es „naiv“ affirmieren muss. Aber die kategorische Bejahung des Alltagsverständnisses scheint auf so eine gewissermaßen „naive“ Affirmation hinauszulaufen. Stufe 2 – Religiöses Vertrauen. Laut der religiösen Perspektive besteht eine prinzipiell hervorragende Passform zwischen Mensch und Wirklichkeit, in dem Sinne, dass sich Menschen, wenn sie denn frei den ethischen Imperativ annehmen, harmonisch in die Welt hineinpassen und somit Erlösung erfahren. Laut der religiösen Perspektive sind somit alle wichtigen Probleme auch prinzipiell lösbar. Philosophische Probleme sind nun aber wichtige und tiefe Probleme: „Die Probleme, die durch ein Mißdeuten unserer Sprachformen entstehen, haben den Charakter der Tiefe. Es sind tiefe Beunruhigungen; sie wurzeln so tief in uns wie die Formen unserer Sprache, und ihre Bedeutung ist so groß wie die Wichtigkeit unserer Sprache“ (PU § 111). Die religiöse Perspektive, so Wittgensteins Sicht, setzt voraus, dass, wenn wir disharmonische Muster in der Grundstruktur der Welt erkennen, das an unserer Fehlhaltung zur Welt liegt. Das Problem an der traditionellen Metaphysik ist nun gerade, dass sie nicht dem prinzipiellen Harmonie- und Erlösungsanspruch der religiösen Perspektive genügt. Die wichtigen philosophischen Probleme können im Projekt der Metaphysik (a) erst nach einem langen Begründungsgang errungen werden, in dem neue Erkenntnisse entdeckt werden. Das Material für die Erlösung, welches laut der religiösen Perspektive immer schon da sein muss, ist in der Metaphysik zunächst abwesend. Aber deutlich gravierender ist der Punkt (b), dass in der Metaphysik keine hinreichend klaren Erfolgskriterien gegeben sind, so dass die Lösung der Probleme immer zweifelhaft ist. Im Kontrast dazu passt Wittgensteins Methode hervorragend zur religiösen Perspektive, da es innerhalb der Methode (b*) klare Erfolgskriterien gibt.Während die Metaphysik versucht in einem nicht eindeutig geregelten Begründungsgang zu neuen Erkenntnissen aufzusteigen, aus denen sich die Regeln der Verwendung philosophisch relevanter Begriffe ergeben würden, nimmt Wittgenstein den reflektierten Rückgang zur ursprünglich klaren Ausgangsposition vor. Die Regeln des alltäglichen Sprachgebrauchs sind insofern klar, dass sie von allen Sprechern, insofern sie Sprecher sind, geteilt werden. Diese klaren Regeln müssen dann noch in das Bewusstsein der philosophischen Reflexion gehoben werden. Damit ist auch (a*) das Material für die Lösung philosophischer Probleme immer schon da.

1.2 Denkanlass II – Spannungen in der Metaphysik

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Die Probleme „werden gelöst, nicht durch das Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten“ (PU § 109). Durch die Methode geschieht, wenn sie funktioniert, die Erlösung von den philosophischen Problemen, welche „die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen“ (PU § 133). In dem Kontext klärt sich, wie das „Licht von oben“ (VB, S. 531– 532) zu verstehen ist. Das Licht von oben, das den Wert von Wittgensteins Ergebnissen sichern würde, ist nicht das Licht der Metaphysik, das neue Erkenntnisse beleuchtet. Es ist nicht das Licht der Sonne oder der Glühbirne, die vorher verborgene Sachverhalte offenlegt. Es ist das Licht der religiösen Perspektive, die in vorher chaotisch wirkenden Strukturen harmonische Muster erkennt. Diese harmonischen Muster werden dabei als Hinweis darauf verstanden, dass ein absoluter Standard eingehalten wird.

1.2 Denkanlass II – Spannungen in der Metaphysik Das vorherige Kapitel hat vor allem bestimmte Aspekte in Wittgensteins Texten als Anlasspunkt des Denkens genommen. Es wurde also unterstellt, dass es schon klar ist, dass die Beschäftigung mit Wittgenstein wertvoll ist. Man befindet sich sozusagen in gewisser Weise schon auf Wittgensteins Terrain, man hat schon seinen Denkweg, jedenfalls in grober Richtung, eingeschlagen. Man lässt sich schon deutlich durch ihn anleiten und mitnehmen. Versuchen wir also einen Schritt zurück zu gehen und so etwas wie einen geteilten Hafen oder Ausgangspunkt zu identifizieren, von dem aus sich gerade Wittgensteins Methode und damit gerade sein Denkweg als zielführend zeigt. Vergegenwärtigen wir uns hierzu eine Formulierung eines weitreichenden philosophischen Problems, das noch nicht in Wittgensteins Vokabular formuliert ist. Wenn man sich einfach daran anschließt, dass das Problem der klassischen, westlichen Philosophie in einer Verwirrung der alltäglichen Sprache besteht, ist man schließlich schon tief in Wittgensteins eigene Rahmenüberzeugungen eingetaucht. Ein Beispiel bildet hier der Anfang des großen, analytischen Kommentars zu den Untersuchungen von Hacker und Baker: The Investigations opens up with a quotation from Augustine’s autobiography in which he describes how he thinks he learnt his mother tongue. […] What makes it so important? It exhibits the roots from which numerous philosophical conceptions of meaning grow. It shows from what primitive picture or ‘world-picture’ a large range of misconceptions about language and linguistic meaning flow (Baker & Hacker 2005, S.1).

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Hacker und Baker hinterfragen hier nicht, ob Wittgenstein überhaupt in der Diagnose richtig liegt, dass ein bestimmtes primitives Bild der Sprache, dem Augustinus anhängt, zu irrigen Vorstellungen (misconceptions) über die Sprache führt. Sie affirmieren einfach, dass es in Wittgensteins Texten gezeigt wird (it shows).Wer sich auf den Kommentar einlässt, befindet sich gewissermaßen schon auf Wittgensteins spezifischem Denkweg; er ist sozusagen schon auf die Schienen gesetzt. Die Ausdehnung des Fokus, so dass die Entscheidung für das Einschlagen des Denkweges näher erfasst wird, ist also angebracht, da sich Wittgensteins Methode und ihre Erfolge erst dann richtig verstehen lassen, wenn geklärt wird, in welchem Kontext genau der Lösungsweg Wittgensteins verheißungsvoll erscheint.

1.2.1 Wittgensteins Denkweg als Reaktion auf das „Chaos“ in der Metaphysik Dehnen wir zunächst den Fokus zu Schriften aus, die Wittgenstein nicht für die Veröffentlichung vorgesehen hat, in denen sein eigenes philosophisches Ringen noch deutlicher wird als in den Werken, die er für hinreichend vollendet hielt. Am 3. September 1914 reflektiert Wittgenstein in seinem Tagebuch über seine Diskussionen mit Russell. Russell hat zu dem Zeitpunkt die Metaphysik des logischen Atomismus vertreten. Laut dieser besteht die ultimative Wirklichkeit, die unsere Erfahrungswirklichkeit bedingt, aus logischen Atomen, die in einer vollständig analysierten Sprache freigelegt werden: „[T]he atoms that I wish to arrive at as the sort of last residue in analysis are logical atoms and not physical atoms. Some of them will be what I call ‘particulars‘ – such things as little patches of colour or sounds, momentary things – and some of them will be predicates or relations and so on“ (Russell 2004, S. 179). In diesem Kontext ergibt sich die Frage, wie man herausfindet, worin diese ultimative Wirklichkeitsschicht besteht und welche Gestalt bzw. Formen die vollständig analysierten Sätze haben müssen, welche sie abbilden. Wittgenstein drückt nun seine Frustration über Russells Vorhaben aus: „Gibt es überhaupt irgend eine der Formen, von denen Russell und ich immer gesprochen haben? (Russell würde sagen: ‚ja! Denn das ist einleuchtend.’ Jaha!)“ (TB 14– 16, S.90). Es sei eine Frage der Philosophie gegeben: etwa die, ob „A ist heller als B“ ein Relationssatz sei! Wie läßt sich so eine Frage überhaupt entscheiden?! Was für eine Evidenz kann mich darüber beruhigen, daß – zum Beispiel – die erste Frage bejaht werden muss. (Dies ist eine ungemein wichtige Frage.) Ist die einzige Evidenz hier wieder jenes höchst zweifelhafte „Einleuchten“?? […] [W]elche Evidenz könnte so eine Frage überhaupt entscheiden? (TB 14– 16, S.90).

1.2 Denkanlass II – Spannungen in der Metaphysik

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Was zeigt sich hier? Wittgenstein ist offenbar davon provoziert, dass Russell bestimmte Fragen nicht in angemessener Weise würdigt. Nach Wittgensteins Darstellung erwidert Russell auf die kritische Frage, ob seine Philosophie auch richtig ist, im allerletzten Schritt einfach: Ja! Denn das ist einleuchtend. Eine Behauptung einfach zu affirmieren ist nun aber kein Argument, so dass Wittgenstein ironisch die Leere der Bejahung Russells „nachäfft“: Jaha! Und auch hinzuzufügen, dass Russells Position eben einleuchtend ist, ist keine Würdigung der Frage, so lange nicht klar ist, inwiefern genau das Einleuchten verlässliche Evidenz sein kann, auf die man ein wissenschaftliches Vorhaben ruhigen Gewissens stützen kann. Es scheint also zunächst so, als würde Wittgenstein als den entscheidenden Mangel der Metaphysik die Abwesenheit klarer Kriterien, um philosophische Fragen auf traditionelle Weise zu beantworten, diagnostizieren. Hinzu kommt eine kuriose Blindheit der Metaphysiker für die eigenen Defizite, wenn sie diesen Mangel recht unbekümmert bei Seite wischen. Aber reagiert Wittgenstein hier nur auf persönliche Defizite im Denken Russells, oder hat sich in seinem nahen Kontakt zu Russell eine Schwäche gezeigt, die mehr oder weniger gut sichtbar, in der ganzen metaphysischen Tradition wirkt? 1931 drückt er eine ähnliche Frustration über Sokrates bzw. Platon aus: „Wenn man die sokratischen Dialoge liest, so hat man das Gefühl: welche fürchterliche Zeitvergeudung! Wozu diese Argumente, die nichts beweisen und klären?“ (VB, S. 468). Wittgenstein beklagt also wieder die Abwesenheit von zwingenden Beweisen, welche die philosophischen Diskussionen abschließen und aufklären. Weiter greift er den Gedanken auf, dass es seit Platon keinen nennenswerten Fortschritt in der metaphysischen Frage nach der Bedeutung der Wirklichkeit gab. „Ich lese ‘… philosophers are no nearer to the meaning of Reality than Plato got, …’ Welche seltsame Sachlage. Wie sonderbar, daß Platon dann überhaupt so weit kommen konnte! Oder, daß wir dann nicht weiter kommen konnten! War es, weil Platon so gescheit war?“ (VB, S. 471). Wir finden also bei Wittgenstein die rationale Forderung nach klaren Lösungskriterien für metaphysische Fragen, Unruhe über die Abwesenheit der Kriterien, da er die philosophischen Fragen als wichtig einstuft, Frustration darüber, dass die Abwesenheit der klaren Kriterien von Metaphysikern nicht gewürdigt wird und ein Gefühl der Seltsamkeit in Bezug zum ganzen traditionellen, metaphysischen Projekt. Gehen wir, nachdem der Schritt von Wittgensteins zur Veröffentlichung vorgesehenen Texten zu Tagebucheintragungen gemacht wurde, nun noch einen weiteren Schritt zurück und blicken uns den größeren philosophischen Kontext an. Die Parallelen zu Kant sind auffällig. Kant bemerkt, dass die Vernunft in der Metaphysik – trotz des Anspruchs „Königin aller Wissenschaft genannt“ (Kant 1998, AVIII) zu werden – „kontinuierlich in Stecken [gerät]“ (Kant 1998, BXIV). So

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charakterisiert Kant die Metaphysik als Kampfplatz „auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch nur den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können“ (Kant 1998, BXV). Das legt zunächst den Verdacht nahe, dass Wittgenstein eben nicht, wie seine Attacken auf die Tradition manchmal nahe zu legen scheinen, ein Philosoph ist, der von außen auf die Tradition der Philosophie blickt, sondern eben selbst Teil dieser Tradition ist. Das heißt nicht, dass er durch die Tradition determiniert ist, aber durchaus schon, dass sein Denken durch sie geformt ist. Gehen wir nun noch einen weiteren Schritt zurück. In welchem traditionellen, philosophischen Kontext wird denn diese Situation der Metaphysik überhaupt als Stress erlebt? In welchem philosophischen Kontext können die radikalen Ansprüche von Wittgenstein aufblühen, die er sowohl im Tractatus als auch im Spätwerk durchgehalten hat? Im Frühwerk schreibt er: „[D]ie Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken [scheint mir] unantastbar und definitiv“ (TLP,Vorwort). Im Spätwerk schreibt er über diejenigen, die sich seiner Methode anschließen: „[D]ie Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene“ (PU § 133). Dieses Ideal von völliger Klarheit und unumstößlicher Feste könnte ein Echo vom Anspruch des Descartes sein, der Erkenntnis anstrebt, die klar und deutlich, clare et distincte, ist. Wittgenstein steht dann bereits auf einem Weg, der, grob verkürzt gesagt, von Descartes (und ihm Ähnlichen) geebnet wurde. Dass etwas klar ist, heißt dabei für Descartes, dass es von selbst leuchtet und die Aufmerksamkeit des Erkennenden erregt, der es dann auch als unzweifelbare Evidenz nutzen kann, aus dem weiteres sicher hergeleitet werden kann. Dass etwas deutlich ist, heißt, dass seine logische Stellung zu Arten und Gattungen eingesehen wird (vgl. Descartes 2008, XL-XLI). Bei diesem Anspruch, dass das Denken auf Evidenz beruhen soll, die so von sich selbst aus leuchtet, dass daraus unumstößliche Theoriegebäude herzuleiten sind, ist gut verständlich, dass die Metaphysik in eine Sackgasse gerät. Der Zustand der Metaphysik zu Kants Zeit wird oft als zwischen den Extremen des Dogmatismus und des Skeptizismus hin- und her schwankend beschrieben (vgl. Gardner 1999, S. 2– 9). Dieses Schwanken zeigte sich auch oben bei Wittgensteins Bemerkungen über Russell. Es ergibt sich ganz natürlich aus dem Anspruch, dass Philosophie auf aus sich selbst leuchtender Evidenz, die als Fundament der weiteren Erkenntnisse dient, basieren muss. Wenn nun diese selbstverständlich selbst leuchtende Evidenz nicht so sichtbar ist, dann gibt es die Option Russells im allerletzten Schritt einfach dogmatisch zur Theorie „Ja“ zu sagen, oder die Option Wittgensteins dieses „Ja“ zu hinterfragen und in Unruhe zu verbleiben. Aus dieser spezifischen Perspektive betrachtet ist Wittgenstein also in gewisser Weise dem Skeptizismus näher.

1.2 Denkanlass II – Spannungen in der Metaphysik

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In einer Zivilisation, in der Wahrheit nicht nach einem strengen und exakten Wahr/Falsch-Modell gedacht wird, sondern versucht wird, die Gefahr des Fehlers einzuhegen, indem zwischen dem wahrscheinlich Wahren und dem wahrscheinlich Falschen unterschieden wird, hätte Wittgensteins Methode also womöglich nicht entstehen können. Wenn dieser Anspruch der Exaktheit aber gerade auch von Denkern wie Descartes fortentwickelt und verschärft wurde, dann ist Wittgenstein nicht schlicht als Anti-Cartesianer zu denken, sondern als jemand, der Ideale des Descartes teilweise aufgreift, um sie anders zu verwirklichen. Bevor wir nun genauer zu fassen versuchen, wie genau Wittgensteins Reaktion auf die missliche Lage der Metaphysik passiert und funktioniert, ist zuerst noch ein genauerer Blick darauf zu werfen, wie Wittgenstein in seinen Arbeiten, die er veröffentlicht hat bzw. veröffentlichen wollte, Metaphysik charakterisiert.

1.2.2 Dunkelheit der Metaphysik (Wittgenstein) Variationen des Wortes Metaphysik fallen im Tractatus und in den Untersuchungen zwar nur fünfmal (TLP 5.633, 5.641, 6.53; PU § 58, § 116), aber dafür an einigen Kernstellen. Blicken wir zuerst darauf, wie Wittgenstein in seinen zur Veröffentlichung gedachten Texten das Metaphysische genau charakterisiert. Die erste Charakterisierung des Metaphysischen findet sich in TLP 5.633: „Wo in der Welt ist ein metaphysisches Subjekt zu merken? Du sagst, es verhält sich hier ganz wie mit Auge und Gesichtsfeld. Aber das Auge siehst du wirklich nicht. Und nichts am Gesichtsfeld lässt darauf schließen, daß es von einem Auge gesehen wird.“ Das metaphysische Subjekt wird bildlich mit dem Auge verglichen. Das Auge erscheint aber nicht selbst im Gesichtsfeld, sondern öffnet das Gesichtsfeld. Also ordnet Wittgenstein der Metaphysik jenes Seiende zu, welches die Welt, die wir erfahren, eröffnet oder „konstituiert“, aber in dieser eröffneten Welt selbst nicht vorkommt. Es ist nicht in der Welt, sondern eine Grenze der Welt (vgl. TLP 5.641). Wittgenstein konstatiert somit, dass wir das Metaphysische nicht wie Fakten in der Welt, die durch das Metaphysische aufgeschlossen wird, erkennen können. „Das hängt damit zusammen, dass kein Teil unserer Erfahrung auch a priori ist. Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein. Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori“ (TLP 5.634). Um die sich verändernden Faktenlagen in der Welt zu erfahren, müssen wir zwar a priori anerkennen, dass die Welt a priori eine bestimmte Struktur hat, dass es a priori Gegenstände gibt, die in verschiedenen Beziehungen zueinander stehen können, die sich einem erlebenden Subjekt präsentieren. Aber diese a priori anzuerkennende Form kann nun nicht wieder als Fakt begriffen

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werden, den man erfahren kann. Es ist ja gerade die Form, die Erfahrung erst möglich macht. Dies ist an diesem Punkt der Untersuchung aber noch nicht im Detail zu erörtern. Im Tractatus finden sich also folgende Bestimmungen. (T1) Das Metaphysische bezieht sich auf Grenzbereiche der Welt, die in der Welt nicht vorkommen, aber welche die Geschehnisse in der Welt ermöglichen. (T2) Das Metaphysische hat eine absolut unwandelbare a priori Form, was bedeutet, dass es nicht so erkannt werden kann, wie Geschehnisse in der Welt, die ja diese Form bereits voraussetzen. In den Untersuchungen findet sich folgende Charakterisierung der Metaphysik: „Es erscheint uns, als sagten wir damit etwas über die Natur von Rot: daß die Worte ‚Rot existiert’ keinen Sinn ergeben. Es existiere eben ‚an und für sich’. Die gleiche Idee, – daß dies eine metaphysische Aussage über Rot ist, – drückt sich auch darin aus, daß wir etwa sagen, Rot sei zeitlos, und vielleicht noch stärker im Wort ‚unzerstörbar’.“ (PU § 58) Der Kontext der Bemerkung ist dieser: Wittgenstein diskutiert die Idee, dass ein Vokabular, mit dem man über eine sich wandelnde, erfahrbare Welt spricht, selbst von der Wandlung ausgenommen sein muss. Zum Beispiel: Eine Sprache, mit der man über rote Gegenstände reden kann, wird nicht plötzlich bedeutungslos, sobald alle roten Dinge zerstört werden. Die Idee impliziert, dass auch die Bedeutungen der Wörter von der Wandlung ausgenommen sein müssen. Dann kann aber die Bedeutung des Wortes „rot“ nicht darin liegen, dass das Wort für den Farbaspekt tatsächlicher roter Gegenstände in der Erfahrungswelt steht. Würde das Wort „rot“ das farbliche Aussehen roter Gegenstände vertreten, würde das Wort „rot“ bedeutungslos werden, sobald die Gegenstände, auf welche es sich bezieht, aufhören zu existieren. Daraus entsteht die metaphysische Idee, dass man mit „rot“ einen Wirklichkeitsbereich anspricht, in dem die Farbe an und für sich existiert (also ohne bestimmte Verbindungen mit anderen Gegenständen einzugehen, durch welche die Farbe – beispielsweise in der Form einer rot leuchtenden Ampel – erscheint) sowie zeitlos und unzerstörbar existiert (vgl. PU § 58). In der Passage findet sich also folgende Bestimmung der Metaphysik: (U1) In metaphysischen Äußerungen wird beschrieben, wie etwas an und für sich (losgelöst von den Verbindungen in der Welt) existiert. Diese an und für sich existierenden Dinge bilden den Bezugsrahmen, der es ermöglicht, es sprachlich zu erfassen, wie sich die Dinge in der Welt verschiedenartig verbinden. (Das an und für sich existierende Rot macht es nach dieser Auffassung möglich, dass man kontingente Geschehnisse in der Welt erfassen kann. Zum Beispiel: Die Ampel schaltet von Rot auf Grün; der erstgeborene Welpe des Hundes H ist ein Albino

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und hat rote Augen). (U2) In der Metaphysik wird ein Seinsbereich angesprochen, in dem etwas zeitlos und unzerstörbar existiert. Stellen wir also die Charakterisierungen im Tractatus und in den Untersuchungen gegenüber und überprüfen, inwiefern sie sich decken. (T1) Das Metaphysische bezieht sich auf Grenzbereiche der Welt, die in der Welt nicht vorkommen, aber die Geschehnisse in der Welt erschließen. (U1) In metaphysischen Äußerungen wird beschrieben, wie etwas an und für sich (losgelöst von den Verbindungen in der Welt) existiert. Diese an und für sich existierenden Dinge bilden den Bezugsrahmen, der es ermöglicht, es sprachlich zu erfassen, wie sich die Dinge in der Welt verschiedenartig verbinden. In beiden Charakterisierungen findet sich eine analoge Struktur. Es wird unterschieden zwischen der Welt, in der verschiedenartige Erfahrungen möglich sind und einem metaphysischen Bereich, der die Erfahrungen möglich macht und außerhalb dieser Erfahrungswelt steht. (T2) Das Metaphysische hat eine unwandelbare a priori Form, was bedeutet, dass es nicht so erkannt werden kann, wie Geschehnisse in der Welt, die ja diese Form bereits voraussetzen. (U2) In der Metaphysik wird ein Seinsbereich angesprochen, in dem etwas zeitlos und unzerstörbar existiert. Auch hier lässt sich eine Analogie oder enge Verwandtschaft feststellen. Etwas, das a priori ist, also von der zeitlich wandelbaren Erfahrung unabhängig ist, lässt sich gewissermaßen als zeitlos oder unzerstörbar und somit als absolut denken. Fassen wir also zur ersten Orientierung zusammen, welche Charakteristika Wittgenstein am Metaphysischen hervorhebt. (M1) Das Metaphysische eröffnet die Erfahrungswelt. (M2) Das Metaphysische ist absolut gleichbleibend und unterscheidet sich darin von der sich wandelnden Erfahrungswelt. Das Gleichbleibende spielt dabei eine Rolle die Wandlungen in der Erfahrungswelt erkennbar zu machen. Daran schließt nun aber noch eine negative Charakterisierung an: (M3) Das Reden über das Metaphysische geht fehl, da sich philosophierende Metaphysiker unzulässigerweise an der Sprache der Naturwissenschaft oder der Alltagssprache orientieren, um über Metaphysik zu reden. Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, das wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige (TLP 6.53).

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Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – „Wissen“, „Sein“, „Gegenstand“, „Ich“, „Satz“, „Name“ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück (PU § 116).

Trotz der zeitlichen Distanz der Bemerkungen scheint Wittgenstein beide Male eine ähnliche – wenn nicht sogar die gleiche – Idee auszudrücken. Die einflussreiche Wertung, dass Wittgenstein „produced two different philosophies, one in the Tractatus Logico-Philosophicus, which he published in 1921, and the other in Philosophical Investigations, which appeared in 1953“ (Pears 1997, S. 11) scheint höchst fraglich, wenn man die großen Überschneidungen in der methodischen Grundvision betrachtet. Das legt den Verdacht nahe, dass frühe und späte Philosophien eher als Variation eines Grundthemas zu betrachten sind. Was behauptet Wittgenstein hier also? Philosophierende Menschen, die metaphysische Äußerungen zu machen versuchen, machen, so Wittgenstein, Pseudo-Äußerungen, denn sie versuchen eine sprachliche Form zu gebrauchen, die im Gebiet Metaphysik nicht erfüllt werden kann. Im Tractatus wird Metaphysik mit Naturwissenschaft kontrastiert: Metaphysischen Sätzen wird die oberflächliche Form von naturwissenschaftlichen Sätzen gegeben, obwohl sie nicht das leisten können, was naturwissenschaftliche Sätze leisten, da nicht allen Zeichen in metaphysischen „Sätzen“ eine Bedeutung gegeben wird. In den Untersuchungen wird Metaphysik mit dem alltäglichen Sprachgebrauch kontrastiert. Der alltägliche Gebrauch wird als Heimat der Worte aufgefasst und der Versuch des metaphysischen Wortgebrauchs wird als unzulässiges und nicht bewusstes Verlassen der Heimat aufgefasst. Die Heimat wird als notwendiger Kontext aufgefasst, in welchen die Wörter eingebettet sein müssen. In beiden Fällen zeigt sich die gleiche Grundidee: Metaphysische „Sprecher“ orientieren sich an einem Vorbild – Naturwissenschaft bzw. Alltagssprache –, das sie prinzipiell nicht nachahmen können. Wittgenstein mahnt den Philosophierenden nun zu einem Perspektivwechsel, der seltsam wirken könnte. Der Philosophierende soll sich, grob gesagt, nicht mit „philosophischen Themen“ beschäftigen, sondern er soll, genau im Gegenteil, seine Aufmerksamkeit rückhaltlos in das gerade „Unphilosophische“ und Alltägliche stürzen. „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als […] Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat“ (TLP 6.53). „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück“ (PU § 116). Der Philosophierende soll also seine Aufmerksamkeit gerade auf etwas richten, „was mit Philosophie nichts zu tun hat“ und dann kann er philosophische Klarheit erlangen.

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Dieser Vorschlag kann seltsam scheinen. Man würde schließlich auch niemandem, der mit Problemen der Physik ringt, raten, sich einfach von der Physik abzuwenden und dem Gegenteil der Physik zuzuwenden, um besagte Probleme zu bearbeiten. Man würde jemandem, der sich für das Wachstum für Pflanzen interessiert, nicht raten, dass er in die völlig unfruchtbare Einöde gehen sollte, da gerade dort ihm alles Notwendige klarwerden dürfte. Diesen zunächst „kuriosen“ Zug Wittgensteins zu verstehen, dürfte Aufschluss über das Wesen seiner Reaktion auf die oben geschilderten Probleme der Metaphysik geben. Die Frage ist also im Hintergrund zu behalten: Wie ist es zu verstehen, dass gerade der Sturz in das Unphilosophische die philosophischen Probleme lösen soll? Im Blauen Buch, das Wittgenstein 1933/1934 seinen Studenten in Cambridge diktiert hat, hält er fest: „Philosophers constantly see the method of science before their eyes, and are irresistibly tempted to ask and answer questions in the way science does. This tendency is the real source of metaphysics, and leads the philosopher into complete darkness“ (BB, S.18). Er betont also, dass die Dunkelheit der Metaphysik keine ursprüngliche Dunkelheit ist, die im menschlichen Leben als Herausforderung immer schon prinzipiell da ist, sondern, dass es eine Dunkelheit ist, in welche sich die Philosophierenden frei hineinbegeben. Das ist nun aber gar nicht selbstverständlich. Wer im Modus der Metaphysik zu philosophieren anfängt, der meint ja, auf gravierende Unklarheit bzw. Düsternis im normalen, vor-philosophischen Verständnis des Seins zu reagieren und nicht erst aktiv in diese hineinzugehen. Der Ausgangspunkt in der Philosophie ist also immer schon die Dunkelheit. Wie genau gelingt Wittgenstein jetzt in dieser Lage, in seiner Rolle als Philosoph, der Sprung zur Etablierung seines methodischen Rahmens, in dem die beim Philosophieren als ursprünglich erlebte Dunkelheit zu so etwas wie einem „abgeleiteten Phänomen“ wird? Anders gewendet: Warum ist das Ordnen der Verstehensweisen, das Wittgenstein anstrebt, nun eine gute Strategie? Das Problem, auf das Wittgenstein reagiert, besteht in der Dunkelheit der Metaphysik. Die Metaphysik tritt also nicht unmittelbar als problematisch auf. Es ist am schieren Begriff der Metaphysik zunächst einmal gar nichts verdächtig. (Das Problem der Metaphysik besteht also ursprünglich auch nicht darin, dass sie intellektuell über die natürliche Welt hinausgehen will, dass sie nicht durch Sinneswahrnehmungen empirisch verifizierbar ist oder dass sie dem normalen Alltagsverständnis widerspricht.) Die Problemhaftigkeit der Metaphysik tritt erst dann zu Tage, wenn es darum geht, in einer metaphysischen Untersuchung klare Erfolgskriterien anzuwenden. Erst dann, wenn man die oben genannten Punkte – Hinausgehen über die natürliche Welt, Hinausgehen über die Sinneswahrnehmungen, Hinausgehen über das Alltagsverständnis – als Punkte betrachtet, in denen uns klare Erfolgskriterien für metaphysische Antworten fehlen, werden sie problematisch. Das ist wichtig zu

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beachten, damit man genau die Aspekte, die an der Metaphysik problematisch sind, herausgreift, und diese ur-problematischen Aspekte nicht mit Aspekten verwechselt, die sie umgeben. Die Metaphysik zeigt sich also erst über den Umweg der Dunkelheit der Metaphysik als problematisch. Nun reduzieren sich, so scheint es, die philosophischen Untersuchungsmöglichkeiten.Wenn die Metaphysik ein düsterer Bereich ist und bleibt, in dem keine Erkenntnis „zu holen ist“, scheint man sich von ihr abwenden zu müssen. Hier würde es naheliegen aufzugeben und die Metaphysik ad acta zu legen. Was aber doch noch klar da bleibt, ist der Drang zur Metaphysik. Es gibt ein Bedürfnis nach einer Art intellektueller Transparenz, wie sie sich der Philosoph von einer vollendeten Metaphysik erhofft. Man ist also zurückgeworfen auf (a) den Drang nach Erkenntnis und (b) die Dunkelheit, welche den Drang zur Erkenntnis frustriert. Es bleibt also im Problembereich Dunkelheit-der-Metaphysik – nur noch (?) – die Hoffnung, die Untersuchung von der anderen Seite aufzuzäumen. Wenn die Metaphysik keinen Gegenstandsbereich abgibt, in dem sich das „Licht der Erkenntnis“ ausbreiten kann, dann muss „das Licht“ (das Verstehen unter der Anwendung klarer Kriterien) in Bereichen, in denen es sich erhellend ausbreitet, ins Visier genommen werden: Es muss die Aufmerksamkeit auf – um die Terminologie umzukehren – die „Helle-der-Physik“ gelegt werden. Es muss untersucht werden, wie wir im nicht-metaphysischen Kontext erfolgreich verstehen. Und dann muss gezeigt werden, dass der Drang, der zur dunklen Metaphysik führt, „artgerecht“ in hellen Bereichen befriedigt werden kann. Wir müssen uns dann also konsequent im Bereich des „Positiven“ aufhalten – also im Bereich, in dem das Verstehen funktioniert, so dass der Bereich der Dunkelheit nur als fehlgehender Vergleichsbereich genutzt wird. Die Dunkelheit, die ja das Problem darstellt, wäre dann vollkommen überwunden, wenn man jegliche philosophischen Paradoxien als Verwirrungen, der verschiedenen, arbeitenden, erhellenden Verstehensweisen und den zu diesen Weisen gehörenden Motivationen auslegen könnte. Darum – durch diese Hoffnung auf vollständige Helle – drängt sich das Ziel des Ordnens der Verstehensweisen auf. Nun ist diese Vorgehensweise wieder in Bezug zu setzen zu Wittgensteins absolutem Anspruch. Im Tractatus heißt es: „[D]ie Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken [scheint mir] unantastbar und definitiv“ (TLP, Vorwort). In den Untersuchungen: „[D]ie Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen“ (PU § 133). Wittgenstein versucht zu unantastbaren Ergebnissen zu gelangen. Dabei wird die Unantastbarkeit von Wittgenstein sofort wieder relativiert. Wittgenstein spricht davon, dass ihm die Gedanken lediglich unantastbar scheinen. Dieser Leerbereich zwischen den eigentlich doch unantastbaren Gedanken und der Möglichkeit die Unantastbarkeit völlig evident zu machen ist wichtig.

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Dieser Aspekt von Wittgensteins Methode, der im Vergleich mit dem absoluten Anspruch zunächst wie eine Schwäche erscheinen muss – wobei nur ein konsequentes, aufmerksames Zuendedenken zeigen kann, ob es sich wirklich um eine genuine Schwäche handelt oder ob sich in der vermeintlichen Schwäche etwa Wichtiges zeigt – darf nicht übergangen werden. Es darf jedenfalls nicht beiseitegeschoben werden, dass der Weg von dem Problem der Dunkelheit der Metaphysik zu Wittgensteins Methode überhaupt nicht notwendig und insofern eben auch von Anfang an notwendig nicht unantastbar ist. Die Tatsache, dass die metaphysische Untersuchung kein Licht bringt, impliziert nicht, dass die Umkehrung der metaphysischen Untersuchung auf Wittgensteins Weise ins Licht führt. Selbst in dem Fall, dass es keinerlei andere philosophische Alternative geben würde und sich die philosophischen Optionen auf „traditionelle Philosophie vs. Wittgensteins Philosophie“ beschränken würden, könnte man nicht durch Ausschluss der fehlgehenden Option (traditionelle Philosophie) ableiten, dass die übrigbleibende Option die gesuchte, funktionierende sein muss. Der Punkt, auf den es hinausläuft, ist der folgende: Wittgensteins Methode drängt sich nicht mit einer irgendwie logischen Notwendigkeit auf, sondern es ist eher eine Art Bekehrung der Perspektive, die sich – einigermaßen „dramatisch“ ausgedrückt – aus der Bedrängnis in einer erkenntnismäßig hoffnungslosen Lage ergibt. Der Philosophierende steht sozusagen mit dem „Rücken gegen die Wand“ und sieht auf herkömmliche Weise keinen Ausweg und meint, dass er der Situation nur noch dann Herr werden kann, wenn sie in beträchtlicher Weise neu gedeutet wird. Wittgensteins Methode entsteht daraus, dass der Philosoph mit seinen traditionellen Mitteln nicht mehr weiterkommt, was zu einem Zusammenbrechen der traditionellen Perspektive führt. Aber das Neue, das nun entsteht, lässt sich natürlich nicht aus den Voraussetzungen der traditionellen Perspektive herleiten. Es lässt sich auch nicht einfach aus „dem Alltagsverständnis“ herleiten (da der Versuch das zu tun auf eine dogmatische Bejahung der Alltagssprache hinausläuft). Diese Freiheit und Unvorhersehbarkeit, die sich daraus ergibt, dass Wittgensteins Methode eben nicht notwendig herleitbar ist, sondern relativ spontan aus einer intellektuellen Notlage auftritt, wird von vielen Wittgensteininterpreten, wie oben schon in Grundzügen gezeigt, in frappierender Weise umgangen.

1.2.3 Überhelle der Metaphysik (Platon) Wittgensteins Philosophieren reagiert auf die klassische Metaphysik. Die Metaphysik bietet erst den Anlass oder das Sprungbrett, um die Philosophie im Modus der Beschreibung der Tiefengrammatik einzuschlagen. Wittgenstein fragt nun:

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„Why should what we do here be called ‘philosophy’? Why should it be regarded as the only legitimate heir of the different activities which had this name in former times?“ (BB, S. 62). Wittgenstein stellt somit heraus, dass mit dem Aufgeben der klassischen Metaphysik noch nicht klar ist, in welcher Weise die verschiedensten Aspekte von ihr vielleicht überleben. Somit entsteht wieder die oben aufgeworfene Frage: Welche Aspekte der Metaphysik genau hält Wittgenstein für „zerstörungswürdig“? Welche sollen in modifizierter Weise gedeihen? Trifft Wittgensteins Kritik der Metaphysik das, was wir bei Platon traditionell (wenn auch nachträglich) Metaphysik nennen? Um sich dieser Frage zu nähern, wie nah oder weit entfernt Wittgenstein von Platons Projekt ist, seien verschiedene Aspekte des Philosophierens betrachtet, an denen sich die Denkwege von Wittgenstein und Platon kreuzen.

1.2.3.1 Der Zusammenhang zwischen Staunen und Philosophieren Der Ursprung der Philosophie wird klassischerweise im Staunen gesehen. Bei Platon heißt es: „Das Staunen ist ein Zustand, der vor allem dem Freund der Weisheit zukommt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen (Theaitetos, 155d). An Platon anschließend führt Aristoteles im zweiten Kapitel des Buches A im Werk Metaphysik aus: Denn Verwunderung [Staunen] veranlaßte zuerst wie noch jetzt die Menschen zum Philosophieren, indem man anfangs über die unmittelbar sich darbietenden unerklärlichen Erscheinungen sich verwunderte, dann allmählich fortschritt und auch über Größeres sich in Zweifel einließ, z. B. über die Erscheinungen an dem Monde und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des All. Wer aber in Zweifel und Verwunderung über eine Sache ist, der glaubt sie nicht zu kennen. […] Wie sie also philosophierten, um der Unwissenheit zu entgehen, so suchten sie die Wissenschaft offenbar des Erkennens wegen, nicht um irgendeines Nutzens willen (Aristoteles 2014, S. 42).

Aristoteles legt hier das Staunen schon in ganz besonderer Weise aus. Für Aristoteles zeigt sich im Staunen ein Erkenntnisdefizit und in der Philosophie ein Versuch dieses Defizit durch erklärendes Wissen zu füllen. Das ist keine selbstverständliche Reaktion auf das Staunen. Andere Reaktionen sind möglich. Das Staunen muss gar nicht als Defizit erlebt werden. Es könnte ja auch sein, dass sich die Gegenstände der Welt gerade dann, wenn sie erstaunen, so zeigen, wie sie sind, sozusagen in ihrem schieren Hiersein. Das Unerklärte, diese Reaktion wäre auch möglich, wird dann nicht durch eine Erklärung gezähmt, sondern z. B. zelebriert. Selbst wenn das Staunen als Defizit verstanden wird, dann muss es kein wissensmäßiges Defizit sein. Das Staunen kann als Aufruf zu einer praktischen Reaktion verstanden werden. Anstatt wie

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Aristoteles Mond, Sonne, Gestirne und All zu erklären, könnte man auch versucht sein, sich so in sie einzufügen, oder sie so zu „nutzen“, dass ihr Hiersein befriedigend ist und sich daraus selbst „erklärt“. Dieses Erklären wäre aber eben kein wissensmäßiges Erklären, da es keinerlei Information darüber bietet, warum die Seienden Dinge hier sind. Es wird nur gezeigt, dass es in gewisser Weise gut ist, dass sie sind. Wittgenstein charakterisiert den Anfang des Philosophierens nun anders. Er sagt über philosophische Probleme: „Es sind tiefe Beunruhigungen; sie wurzeln so tief in uns wie die Formen unserer Sprache, und ihre Bedeutung ist so groß wie die Wichtigkeit unserer Sprache“ (PU § 111). Es ist also nicht so sehr das Erkenntnisdefizit, das ihn aufwühlt, sondern der Anschein, dass in der jetzigen philosophisch reflektierten Sicht irgendetwas unstimmig ist, was in das ganze Leben hineingreift und es in Frage stellt. Die vollständige Erklärung, die das Staunen auflösen soll, lehnt Wittgenstein ab. Vielmehr scheint er in die Richtung der oben skizzierten alternativen Reaktionen zu gehen, wenn er sagt, dass die unerklärbaren Urphänomene gerade in ihrer Unerklärlichkeit anerkannt werden sollten: „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene‘ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt“ (PU § 654). Die klassische, metaphysische Philosophie, durch die genannten Zitate von Platon und Aristoteles betrachtet, startet für Wittgenstein also schon mit der kontingenten (gewissermaßen „willkürlichen“) Überzeugung, dass Staunen ein Erkenntnisdefizit anzeigt, das durch Erkenntnisse gefüllt werden muss. Es ist für Wittgenstein ein unordentlicher Umgang mit dem Staunen. Warum? Weil, zumindest zu Wittgensteins Zeit und auch jetzt, keine Letztbegründung jemals zugänglich war, die das Staunen austilgen konnte, ist der Versuch einer vollständigen Erklärung ein unordentliches, weil nicht ordentlich abgeschlossenes, Projekt. Das Staunen ist also anders in das Leben einzuordnen. Es hat einen ordentlichen Platz, wenn es als Würdigung des Status des Menschen, der nicht alles erklären kann, erlebt wird, und wenn es als Anlass für Lebensführung genutzt wird, in welcher das Leben sich aus sich selbst „rechtfertigt“ und nicht als wissenschaftliches Problem gesehen wird: „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems“ (TLP 6.521).

1.2.3.2 Philosophisches Hinausgehen über die Erfahrungswelt Die Welt wird zwar unmittelbar als Einheit erfahren, aber nicht als einfach gegeben. Jemand, der eine S-Bahn betritt, erlebt nicht eine fragmenthafte Sammlung aus Türen + Boden + Knöpfen + Stangen + …, die er erst selbst aktiv zur S-Bahn zusammenbinden muss, sondern sie wird unmittelbar als Ganzes erlebt. Genauso

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wird die Tür als Ganzes erfahren und nicht als Sammlung von potenziell unendlich kleinen Ur-Elementen. Genauso wird die Welt, in der die S-Bahn ist, als Ganzes erlebt und nicht als Sammlung von verschiedenen voneinander zunächst isolierten Orten, die erst künstlich und aktiv zu einer Einheit zusammengebunden werden müssen. Das ist damit gemeint, dass die Welt und das, was weiter „in ihr zu finden ist“, unmittelbar als Einheit erfahren wird. Diese Einheiten sind aber nicht einfach da, sondern werden auf komplexe Weise als Einheiten konstituiert. Das heißt, wenn man sich fragt, warum man genau diese oder jene Einheit erfährt, und versucht das Erleben der Einheiten aufzuschlüsseln, „zerbröseln“ die Einheiten und es zeigt sich, dass sich das Erleben der Einheiten aus einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Quellen speist. Die Erfahrung weist dabei über die Erfahrung hinaus. Platon zeigt das im Siebten Brief (342a-343e) am Beispiel der Erfahrung eines Kreises in der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Der sinnlich wahrnehmbare Kreis ist eigentlich nicht der perfekte mathematische Kreis. Ein Kreis ist im eigentlichen Sinne das, was an jedem Ort die gleiche Entfernung zu seinem Mittelpunkt hat. Diese Gestalt wird bei sinnlich wahrnehmbaren Kreisen nie erreicht. Dennoch wird in ihnen die Form des eigentlichen Kreises von uns unmittelbar erkannt. Es ist also so, dass die unmittelbare Erfahrung trotz ihrer Unmittelbarkeit nicht einfach ist: Die Erfahrung fächert sich nun – wenn man die philosophische Reflexion einschlägt – in komplexer Weise auf in so etwas wie ein Verständnis für den sinnlich eigentlich nicht gegebenen perfekten, mathematischen Kreis und das Vernehmen des nicht-perfekten sinnlich fixierbaren Kreises. Platon findet es höchst bemerkenswert, dass wir mehr erkennen als eigentlich in der sinnlichen Erfahrung gegeben ist. Auch Wittgenstein zeigt sich fasziniert davon, dass unsere Erfahrung bedingt ist durch das, was nicht in der Erfahrung ist.Wenn wir z. B. die Erfahrung machen, nacheinander drei Bücher auf den Tisch zu legen, sich beim anschließenden Blick auf den Tisch aber nur zwei Bücher zeigen, dann erkennen wir nicht als empirisch belegte Tatsache an, dass in diesem spezifischen Fall „1 + 1 + 1 = 2“ ergeben hat, sondern wir halten an der Gewissheit fest, dass „3 = 1 + 1 + 1“ gilt, und dass es daher – vermutlich durch Unachtsamkeit – beim Legen der Bücher auf den Tisch zur Fehlwahrnehmung kam. „Was herauskommen muß ist eine Urteilsgrundlage, die ich nicht antaste“ (BGM, S. 350).Wenn die Erfahrung sich nicht mit dem deckt, was herauskommen muss, dann tritt die Erfahrung im Normalfall ganz natürlich als irreführend zurück. Auch Wittgenstein weist also darauf hin, wie die unmittelbare Erfahrung nicht einfach ist, sondern sich auch aus dem speist, was nicht selbst als Erfahrung zu charakterisieren ist. Platon und Wittgenstein teilen also gewissermaßen eine philosophische Wachheit dafür, dass die erfahrene Welt nicht einfach so da ist. Platons Reaktion

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darauf ist es nun, diesen „Überschuss“, der erstaunlicherweise „mit-erfahren“ wird, zu erklären. Er erklärt ihn dadurch, dass er intelligible Gegenstände postuliert, die jenseits der Erfahrung liegen, aber die strukturierte Erfahrung möglich machen, wobei diese intelligiblen Gegenstände nach dem Vorbild der Gegenstände der normalen Erfahrungswelt gedacht werden (vgl. Parmenides, 127d135c). Wittgenstein versucht den „Überschuss“ in Form grammatischer Sätze, die sich in einer bestimmten Praxis ausdrücken, festzuhalten. Dass „1 + 1 + 1 = 3“ ist, das ist ein grammatischer Satz, ein Maßstab, dem die Erfahrung genügen muss. Er zeigt sich in der Praxis dadurch, dass Erfahrungen, die dem widersprechen, von der Sprachgemeinschaft als illusionär eingestuft werden und Sprecher, die ihn verneinen, als inkompetent aus der Sprachgemeinschaft ausgeschlossen werden. Der Zweck der Sichtung der grammatischen Regeln oder Sätze ist für Wittgenstein Klarheit. Die Regeln zeigen an, was wir mit unserem Vokabular meinen. Ebenso möchte Platon eine Klärung der Bedeutung von zentralen Begriffen (wie „das Gute“, „Wahrheit“, „Schönheit“ usw.) unseres Vokabulars erreichen, indem er sich den intelligiblen Gegenständen theoretisch nähert. Für Platon und Wittgenstein gehört es also zum Philosophieren über die schiere Erfahrung bzw. die „empirische“ Welt „hinauszugehen“, die – nicht einfach durch die Erfahrung determinierten – Regeln für den Gebrauch unserer Worte festzuhalten und somit die Bedeutung unserer Worte zu klären. Stark auseinander gehen die beiden erst dann, wenn es darum geht, wie die Regeln für den Wortgebrauch philosophisch zu verstehen sind. Platon will die Regeln für den Wortgebrauch durch intelligible Gegenstände erklären, aus denen sich der akkurate Wortgebrauch herleitet. Wittgenstein will die Regeln nicht erklären, sondern schlichtweg festhalten, dass eine Sprachgemeinschaft diese oder jene Regeln anwendet. Hier drängt sich ein naheliegender Gedanke auf: Für Platon hängt die Angemessenheit eines Vokabulars ganz offenbar daran, ob es durch die intelligiblen Gegenstände jenseits der Erfahrung erklärt und gerechtfertigt wird. Wittgenstein stellt diese Frage nach der Begründung des Vokabulars nicht und zeigt sogar, wie der Versuch der Begründung in philosophische Paradoxien führt; also glaubt Wittgenstein, dass hinter den grammatischen Regeln nichts Seiendes steht, dem die Regeln gerecht werden sollen oder müssen. Dieser Gedanke – der sich mit der anfangs erwähnten Ablehnung des externen Seins der resoluten und Standard-Lesarten deckt – ist äußert naheliegend, aber eben auch äußerst voreilig. Alles, was Wittgenstein explizit affirmiert, das ist, stark verkürzt zusammengefasst, dass grammatische Sätze oder Regeln nicht in einer Weise begründet werden, die analog dazu ist, empirische Sätze zu begründen.

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Nach der „behutsameren“ ordnenden Lesart ist Platon „nur“ insofern verwirrt, dass er grammatische Regeln begründen will, also verwirrterweise grammatische Sätze wie empirische Sätze behandeln will, und dass die Begründung der grammatischen Regeln der Sprachspiele in intelligiblen Gegenständen bestehen soll, die jenseits der Erfahrung liegen, wodurch Platon das Seiende jenseits der Erfahrung verwirrterweise wie das Seiende innerhalb der Erfahrung denkt. Nicht verwirrt ist Platon laut der ordnenden Lesart, wenn er glaubt, dass die grammatischen Regeln einer jenseits der Erfahrung liegenden Wirklichkeit gerecht werden sollen. Wenn nun aber ein Vokabular nicht einer externen Wirklichkeit gerecht wird, indem es durch diese begründet wird oder es diese abbildet, wie muss man sich die gerechte Beziehung dann denken? Zunächst lohnt es sich festzuhalten, dass es prinzipiell eine große Vielfalt von Beziehungen gibt, die als Gerechtwerden zu fassen sind und die demnach prinzipiell als Kandidaten in Frage kommen, nach denen man das Gerechtwerden des Vokabulars modellieren könnte. Einem Instrument wird man nicht dadurch gerecht, dass man es begründet oder repräsentiert, sondern indem man (vielleicht virtuos) auf ihm spielt. Einem Leichnam wird man nicht gerecht, indem man ihn begründet oder abbildet, sondern indem man in einer Art Begräbniszeremonie oder ähnlichem den Verstorbenen würdigt. Einer Zimmerpflanze wird man nicht gerecht, indem man sie begründet oder abbildet, sondern indem man sie gießt und hegt und pflegt. Der zunächst überzeugendste und durch Wittgenstein forcierte Kandidat um das Gerechtwerden des Vokabulars bildlich zu fassen ist nach den Ergebnissen dieser Arbeit aber das Einfügen als Teil in eine übergeordnete, angrenzende, teilweise entzogene Struktur. Dieses Bild des Einfügens hat zwei gewichtige Vorteile: Wenn eine Sprachgemeinschaft der externen Wirklichkeit gerecht werden soll, indem sie begründet darlegt, dass die eigene Sprache die externe Wirklichkeit abbildet oder widerspiegelt, dann wird ihr damit eine untragbare Last aufgeschultert, da sie die gesamte externe Wirklichkeit präsent machen müsste. Wenn sich die Sprache nur in gerechter Weise in die externe Wirklichkeit einfügen soll, dann wird die Sprachgemeinschaft von dieser Last des Präsentmachens befreit. Es genügt nun, dass es Grenzen gibt, an denen die externe Wirklichkeit berührt wird, die aber so von der Sprachgemeinschaft behandelt werden müssen, dass sie dem entzogenen Ganzen gerecht werden. Spezifisches Bild, das bei weitem nicht perfekt ist: Der einzelnen Ameise im Ameisenstaat muss nicht die gesamte Organisation des Ameisenstaates präsent sein, sondern es genügt, dass sie die Grenzen, an denen sie sich selbst als Teil in die ganze Struktur einfügt, richtig behandelt, z. B. die Läuse hütet und melkt und so weiter. In diesem Bild – das natürlich keine perfekte Analogie ist – steht der ganze Ameisenstaat für die externe Wirklichkeit und das Verhalten der bestimmten Ameise für die Sprachpraxis einer Sprachgemeinschaft. Zweitens:

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Wenn eine Sprachgemeinschaft der externen Wirklichkeit gerecht werden soll, indem sie begründet darlegt, dass die eigene Sprache die externe Wirklichkeit abbildet oder widerspiegelt, dann gibt es keinen genuinen Raum für Kreativität in der Entwicklung des Vokabulars. Das Vokabular soll ja als passiver Spiegel fungieren, der aufnimmt, was gegeben wird. Das kreative menschliche Potenzial, neue Vokabulare zu schaffen, mit denen sich über die Welt reden lässt, und spielerisch mit ihnen umzugehen, erscheint als störende Ablenkung, die vom einen, akkurat repräsentierenden Vokabular wegführt. Aber Einfügen in eine übergeordnete Struktur kann man sich auf vielfältige und kreative Weise. Für diesen zweiten Aspekt eignet sich das Bild der Ameise im Ameisenstaat gerade nicht. Angebrachteres Bild: Das Wohl-Temperierte Klavier von Bach folgt der Grundidee, dass für jede Tonart ein Präludium und eine Fuge komponiert wird. In gewisser Weise kann man also sagen, dass der Komponist „passiv“ z. B. die Forderung „Komponiere Fuge in F-Dur für ein Tasteninstrument!“ aufnimmt und dann in diesen „extern“ herangetragenen, mehr oder weniger engen Rahmenbedingungen in kreativer Freiheit die Forderung umsetzt. In dieser – natürlich wieder nicht perfekten Analogie – steht die Forderung, in einem bestimmten Rahmen zu komponieren, für die externe Wirklichkeit und die spezifische, kreative Komposition für die Sprache einer bestimmten Sprachgemeinschaft.

1.2.3.3 Philosophieren als Erinnern Wenn erst die Philosophie klären soll, was wir eigentlich mit Begriffen meinen, die wir im Alltag verwenden, scheint das etwas Bestimmtes vorauszusetzen: Die gesuchte Antwort muss in einer verworrenen Form schon da sein, denn sonst, so scheint es, könnten wir die jetzt defizitär gebrauchten Begriffe gar nicht verwenden und ihre jetzige Unklarheit auch gar nicht als Problem registrieren. Platon bietet in dem Kontext die Idee an, dass Philosophieren im Erinnern besteht. Mythisch ausformuliert schlägt Platon vor, dass Menschen vor ihrer körperlichen Geburt als entkörperte Seelen die Formen, aus denen sich die Begriffe ableiten, geschaut haben, sich im körperlichen Leben nur noch trübe an diese Formen erinnern, aber die Erinnerung an ihre Schau durchs Philosophieren wachrufen können. „Denn der Mensch muß nach Gattungen Ausgedrücktes begreifen, welches als eins hervorgeht aus vielen durch den Verstand zusammengefaßten Wahrnehmungen. Und dieses ist Erinnerung an jenes, was einst unsere Seelen gesehen […]“ (Phaidros, 249b). Das ist kohärent mit dem Vorgehen in den Dialogen Platons, in denen auf das vorphilosophische Vorverständnis von bestimmten Begriffen Bezug genommen wird, um dann auf diesem trüben Vorverständnis basierend, logische Widersprüche usw. registrierend, zu einem klar verstandenen Begriff fortzuschreiten.

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Auch für Wittgenstein ist das Philosophieren als Erinnern zu fassen. „Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck“ (PU § 127).Wittgenstein will, dass wir uns an vergessene Aspekte des alltäglichen Wortgebrauchs erinnern, damit wir uns den alltäglichen Gebrauch philosophisch bewusst und klarmachen können. Es gibt also, wenn man diese Aspekte in den Vordergrund rückt, großen, geteilten Grund bei Platon und Wittgenstein. Beide glauben, dass Philosophie nicht darin besteht, radikal Neues zu erfahren, sondern das bewusst und klar zu machen, was beim Philosophieren als trübe und verworren erlebt wird. Beide glauben, dass der Fortschritt in der Philosophie im Erinnern besteht. Wo fallen sie also auseinander? In diesem zentralen Aspekt ist Wittgenstein tatsächlich Anti-Platoniker, der die Vorzeichen Platons umdreht. Platon will, dass wir die Alltagssprache reformieren, indem der alltägliche Gebrauch von Wörtern (wie z. B. Gerechtigkeit) dem erinnerten philosophischen Gebrauch angepasst wird. Wittgenstein will den philosophischen Gebrauch von philosophisch aufwühlenden Wörtern reformieren, indem er an den erinnerten Alltagsgebrauch angepasst wird.

1.2.3.4 Ethischer Rahmen des vernünftigen Philosophierens Philosophieren ist eine vernunftgeleitete Aktivität. Sowohl für Platon und Wittgenstein ist sie ethisch-religiös gerahmt: Sie entsteht aus einer ethischen Haltung und soll eine ethische Haltung festigen. Das vernünftige Denken, das Platon schulen wollte, fand in einem religiösen und rituellen Kontext statt. „The Academy was nothing like a department of philosophy in a modern Western university. It was a religious association; everybody attended the daily sacrifice to the gods performed by one of the students, who came not only to hear Plato’s ideas but to learn how to conduct their lives“ (Armstrong 2009, S. 70).Weiterhin war die ethische Würdigung des Anderen eine Voraussetzung für das angestrebte vernünftige Denken, „seeing the achievement of enlightenment as a joint, communal activity that must be conducted with kindness, gentleness and consideration“ (Armstrong 2009, S. 78 – 79). Auch Wittgenstein hat auf religiöse Konzepte (Gott) und die Notwendigkeit einer ethischen Haltung (eines guten Willens) als Kontext seines Denkens verwiesen. Er schreibt im Vorwort zu den Philosophischen Bemerkungen: „Ich möchte sagen ‚dieses Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben‘ […]. Es heißt, es ist in gutem Willen geschrieben“ (PB, S.7). Deutlich auseinander fallen Wittgenstein und Platon offenbar bei dem, was durch die ethisch-religiöse Haltung gerahmt wird, nämlich dem vernünftigen Philosophieren selbst.

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Platon vertritt die Methode der Dialektik. Diese strebt die „Erklärung des Seins“ (Politeia, 534b) in Form einer systematischen „Zusammenschau“ (Politeia, 537c) an. Dabei wird das Seiende nicht durch die Sinne, sondern mit dem schieren Verstand untersucht (vgl. Politeia, 511c). Dadurch stellt sich die „Vernunfterkenntnis“ (Politeia, 511d) ein. Wie dabei genau die Gestalt der Vernunft und der Dialektik bei Platon zu verstehen ist, ist schwer zu fixieren, „so dass in der Literatur nicht selten die resignierende Einschätzung Zustimmung findet, viele Anwendungsfälle des Wortes ‚Dialektik‘ hätten nichts weiter gemeinsam, als das Vorgehen zu bezeichnen, das Platon beim Abfassen eines Dialogs gerade für besonders vielversprechend hielt“ (Strobach 2009, S. 258). Es wurde oben erwähnt, dass Wittgenstein im Tractatus die Verwirrung der Verstehensformen Naturwissenschaft und Ethik und in der Spätphilosophie analoge Verwirrungen von Sprachspielen kritisiert. Platon kritisiert ebenfalls die Vermischung von Naturforschung und dem Erkunden des Guten. Im Phaidon beschreibt Platon die geistige Entwicklung des paradigmatischen Philosophen. Dieser hat zunächst „ein wunderbares Bestreben nach jener Weisheit, welche man die Naturkunde nennt“ (Phaidon, 96a). Die Naturkunde erweist sich aber als defizitär. Wenn sie die Handlung eines Menschen erklären soll, dann sagt sie z. B. nur, „daß ich jetzt deswegen hier säße, weil mein Leib aus Knochen und Sehnen besteht und die Knochen dicht sind und durch Gelenke voneinander geschieden, die Sehnen aber so eingerichtet, daß sie angezogen und nachgelassen werden können“ (Phaidon, 98c) usw. Der Philosoph muss nach Platon nun aber nicht nur danach fragen, warum etwas „da“ ist, sondern auch, warum es gut ist. Wenn nun einer die Ursache von jeglichem finden wollte, wie es entsteht oder vergeht oder besteht, so müsse er dieses daran finden, wie es gerade diesem am besten sei zu bestehen oder irgend sonst etwas zu tun oder zu leiden. Und demzufolge dann gezieme es dem Menschen nicht, nach irgend etwas anderem zu fragen, sowohl in bezug auf sich als auf alles andere, als nach dem Trefflichsten und Besten; und derselbe werde dann notwendig auch das Schlechtere wissen, denn die Erkenntnis von beiden sei dieselbe (Phaidon, 97 d-e).

Das ultimative Ziel der Dialektik ist es nun, dass der Philosophierende „unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt“ (Politeia, 517b). Diese ist wiederum „für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen“ (Politeia, 517b). Platon kritisiert also die Vermischung von Naturforschung und Ethik, da er die Erkenntnis und Erklärung des Guten (durch die Schau der Idee des Guten) für das eigentliche Ziel der Vernunft hält. Wittgenstein hingegen kritisiert die Vermischung, da er es für irreführend hält, zu sagen, dass ethische Sätze vernünftige Erklärungen haben. Sie haben für Wittgenstein zwar Ursachen im Leben und

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können sich in gewisser Weise „bewähren“, indem sie erlösen. Sie haben aber keine Erklärung, die jedem rationalen Menschen einleuchten müsste. Darauf aufbauend fallen Platon und Wittgenstein auch darin auseinander, wie sie die Rolle des Philosophierens dabei, ein ethisches Leben zu unterstützen, sehen. Menschen leben für Platon in einem ultimativ guten Kosmos, der durch die Ideen strukturiert wird. Ein Mensch lebt dann ethisch gut, wenn er sich dieser guten Ordnung, welche vernünftig geschaut wird, angleicht. „[T]he forms are objects that constitute a pattern […]. To seek justice among human beings for its own sake is to desire the appropriate structure in human institutions precisely because it is appropriate“ (Kraut 2011, S. 218). Das vernünftige Philosophieren ermöglicht also für Platon die Schau der richtigen Ordnung, welche die Aufforderung enthält, sich auf geschaute Weise in die Ideenordnung einzufügen, und ermöglicht damit die praktische Umsetzung der Vorgaben der Philosophie. Für Wittgenstein geht es nicht darum, sich den Formen oder Ideen, die das Vorbild sind, anzugleichen. Für Wittgenstein lassen sich in der logisch strukturierten, „profanen Welt der Naturerscheinungen“ verschiedene Seinsweisen verwirklichen. Diese werden als mehr oder weniger problematisch erlebt. Das Philosophieren ermöglicht für Wittgenstein eine klare Sicht der Struktur der profanen Welt und ermöglich damit einen a-rationalen Sprung in eine ethische Seinsweise, wobei der Sprung – dank des Philosophierens – nicht durch eine verzerrte Sicht der Form des profanen Lebens verwirrt wird.

1.2.3.5 Die Grenzerfahrung in der Metaphysik – Überhelle vs. Dunkelheit In der Metaphysik wird eine Grenzerfahrung gemacht: Es wird eine vernünftige Letztbegründung angestrebt, aber jede verheißungsvoll erscheinende Letztbegründung musste in der Geschichte der Philosophie bis jetzt am Ende doch wieder vor einer möglichen Kritik weichen, so dass sie sich als bestenfalls vorläufige Begründung zeigte. Platon drückt die Grenzerfahrung im Höhlengleichnis dadurch aus, dass der Philosophierende die Sonne, welche im Gleichnis die Letztbegründung vertritt, kaum zu erkennen vermag. „Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird“ (Politeia, 515e). Diese Situation kann sich nun auf mindestens zwei Weisen weiter entfalten: Das Auge gewöhnt sich an die überhellen Lichtstrahlen oder aber eine Gewöhnung tritt nie ein. Im Höhlengleichnis wird an der Möglichkeit einer Gewöhnung und so der Möglichkeit einer wirklichen Letztbegründung festgehalten.

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Wittgenstein geht auf die Grenzerfahrung in seiner in Cambridge gehaltenen Lecture on Ethics ein. Über sein eigenes verwirrtes Bedürfnis, metaphysische Aussagen zu versuchen, die dann doch nicht tauglich sind, sagt er dort: „[T]hese [metaphysical] nonsensical expressions were not nonsensical because I had not yet found the correct expressions, but that their nonsensicality was their very essence. For all I wanted to do with them was just to go beyond the world and that is to say beyond significant language. My whole tendency and, I believe, the tendency of all men who ever tried to write or talk Ethics or Religion was to run against the boundaries of language“ (LE, S. 44). Die metaphysischen Sätze, die Letztbegründungen anzeigen sollen, zeigen sich für Wittgenstein nicht deshalb als „nonsensical“, weil in ihnen noch vorläufige Defizite zu bereinigen sind. Das, was als Defizit wahrgenommen wird, gehört viel mehr zum eigentlichen Wesen dieser metaphysischen Sätze. Daher kommt Wittgenstein zum Ergebnis, dass Metaphysik als Wissenschaft völlig verfehlt ist: „This running against the walls of our cage is perfectly, absolutely hopeless“ (LE, S. 44). Seinen Studenten im Cambridge diktiert er: „Philosophers constantly see the method of science before their eyes, and are irresistibly tempted to ask and answer questions in the way science does. This tendency is the real source of metaphysics, and leads the philosopher into complete darkness“ (BB, S. 18). Für den Wittgenstein der ordnenden Lesart zeigt sich in der unaufgelösten Zwischenposition, an der Platon festhält, eine Verwirrung. Platons Projekt sieht es eigentlich vor, dass es klare Kriterien dafür gibt, dass eine Letztbegründung erfolgreich ist. Tatsächlich werden aber verschwommene, undeutliche Begründungen vertreten, die also untauglich sind. Wittgensteins Zug ist es nun, Ordnung zu schaffen, indem zwei Ziele von Platons Projekt voneinander getrennt werden. (A) Es gibt das Ziel, Klarheit darüber zu erlangen, was wir mit Begriffen, die in der Philosophie Interesse erregen, meinen. Dieses Ziel wird für Wittgenstein aber erreicht, indem eine Umkehr vom Weg der klassischen Metaphysik, die ja aus der Höhle führen soll, gemacht wird. Stattdessen wird nun die klare Sicht davon, was „in der Höhle passiert“, also wie Sprache im Alltag genutzt wird, als Ziel gesetzt. Das hat den Vorteil, dass es hier klare Erfolgskriterien gibt: Die philosophische Sicht ist dann adäquat, wenn sie sich mit dem alltäglichen Gebrauch deckt. Die Philosophie hat nun einen Endpunkt, der klar ist. Der Metaphysiker, der sich aus der Höhle emporarbeitet, kann wiederum im Prinzip nie wissen, ob er an der letzten Begründung angelangt ist, oder ob hinter „der Sonne“ noch höherstehendes, relevantes Seiendes ist. (B) Es gibt das Ziel, dem Leben durch eine klare, philosophische Begründung eine adäquate ethische Richtung zu geben. Dieses Ziel wird für Wittgenstein aber nicht erreicht, indem man durch eine philosophische Begründung vernünftig und klar einsieht, welche ethischen Regeln man

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befolgen muss. In Wittgensteins Ordnung ist derartige Klarheit gar nicht gefordert. Im Gegenteil: Ethik als Ethik schließt in dieser Perspektive aus, dass der ethisch Lebende einfach durch Vernunftgründe determiniert wird. Der „Witz“ und die „Würde“ des Ethischen besteht gerade darin, dass die ethische Person das „Richtige“ tut, ohne eine Versicherung zu haben, dass ihr Handeln „zielführend“ ist und belohnt wird. Da Platon den Bereich (A), in dem es nach Wittgenstein klare philosophische Argumentation – nach der Form 1. In der Alltagssprache wird Begriff X so-und-so verwendet; 2. In der philosophischen Sprache wird der Begriff X aber-so-und-so verwendet; 3. Der Gebrauch von X in der Philosophie muss an die Alltagssprache angepasst werden; Also muss der Begriff X in der Philosophie so-und-so verwendet werden – geben kann, mit dem Bereich (B) verwirrt, in dem es gerade darum geht, trotz der eigenen Beschränktheit und relativen Ignoranz das Wagnis zu machen, ethische Handlungen zu versuchen, kommt er zu der widersprüchlichen Situation, in welcher die Sicht einer „klaren Sonne“ angestrebt wird, die aber nie eingeholt werden kann. Wenn man Platon so auslegt, dann könnte man Wittgenstein auch in diesem Aspekt als Anti-Platoniker bezeichnen. Andrerseits muss man bedenken, dass Wittgenstein den Vernunftgebrauch als nüchternen Prozess versteht, in dem sich aus Sätzen, die als Gründe fungieren, andere Sätze, die als Schlussfolgerungen fungieren, ableiten lassen, wobei das Gewicht der Gründe jede rationale Person überzeugen können muss. Das ist aber eben auch nicht einfach die Vernunft wie Platon sie versteht. Platon war ja kein „radikaler Rationalist“, der in Wittgensteins Sinne glaubt, dass der nüchterne Prozess des Herleitens sämtliches Verhalten anleiten soll. Im Phaidros öffnet sich die Vernunft, als Fähigkeit die Ordnung der Ideen zu schauen, auch zum Wahnsinn hin: „Nun aber entstehen uns die größten Güter aus einem Wahnsinn, der […] durch göttliche Gunst verliehen wird.“ (Phaidros, 244a). Im Alltag kann es zu Ereignissen kommen, in denen Menschen spontan an die Ideenordnung erinnert werden: „Diese [Seelen, die sich beim Anblick von etwas bestimmten Schönen an die wahre Form der Schönheit erinnern] nun, wenn sie ein Ebenbild des Dortigen sehen, werden entzückt und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, das wissen sie nicht […]“ (Phaidros, 250a). Es kommt zu einem spannungsvollen Zustand, in welchem der Wahrheit einerseits begegnet wird, bei dem aber gleichzeitig gilt: „was [den Seelen] aber eigentlich begegnet, das wissen sie nicht“ (Phaidros, 250a, meine Betonung). Die Konfrontation mit der Wahrheit überfordert hier also eigentlich die Vernunft. Im Höhlengleichnis wird dieser Grenzsituation – gleichzeitiges Überfordertsein von der Konfrontation mit der Wahrheit und schemenhaftes Erkennen der Wahrheit – eine etwas andere Wendung gegeben. Der Aufsteigende kann das Finale des Aufstieges, die Idee des Guten, nicht klar er-

1.2 Denkanlass II – Spannungen in der Metaphysik

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kennen. Das liegt aber nicht daran, dass die Idee des Guten prinzipiell kein Erkenntnisobjekt wäre, sondern sie ist in einem so großen Maße Erkenntnisobjekt, dass sie die Erkenntnisfähigkeit überfordert, ähnlich wie ein zu helles Licht die Erkenntnisfähigkeit des Auges überfordert. Anders ausgedrückt: Die metaphysischen Grundbegriffe, auf welche die Begriffe unseres natürlichen Weltumgangs zurückgehen, sind für uns letztendlich nicht vernunftmäßig hinreichend transparent, obwohl sie sich uns andeutungsweise und zu stark blendend zeigen. Das liegt für Platon aber nicht daran, dass diese Ur-Begriffe letztendlich „un-begrifflich“ sind, sondern dass sie hyper-begrifflich sind. Blicken wir noch einmal zum Phaidros, um Aufschluss über Platons Vorstellung der Vernunft zu erhalten. Dort vergleicht Platon die Seele mit einem geflügelten Seelenleiter, der einen Wagen mit einem vernünftigen und einem wilden, eigensinnigen Pferd führt. Platon entwickelt das Bild, dass die Seelen im Jenseits den Göttern folgen und dort die Wahrheit erblicken, wobei das jenseitige Erblicken der Wahrheit dann Auswirkungen auf die Vernünftigkeit der irdisch verkörperten Seelen hat. Relevant ist auch hier, dass die letztendlich entscheidenden Situationen, in welchen den Seelen das Sichten der Wahrheit gelingt oder eben nicht gelingt, ganz unbestimmt bleiben. Von den andern Seelen aber konnten einige, welche am besten dem Gotte folgten und nachahmten, das Haupt des Führers hinausstrecken in den äußeren Ort, und so den Umschwung mit vollenden, geängstet jedoch von den Rossen und kaum das Seiende erblickend; andere erhoben sich bisweilen und tauchten dann wieder unter, so daß sie im gewaltigen Sträuben der Rosse einiges sahen, anderes aber nicht. Die übrigen allesamt folgen zwar auch dem droben nachstrebend, unvermögend aber werden sie im unteren Raume mit herumgetrieben, nur einander tretend und stoßend, indem jede sucht der andern zuvorzukommen. Getümmel entsteht nun, Streit und Angstschweiß, wobei durch Schuld schlechter Führer viele verstümmelt werden, vielen vieles Gefieder beschädiget; alle aber gehen nach viel erlittenen Beschwerden unteilhaft der Anschauung des Seienden davon, und so davon gegangen halten sie sich an scheinbare Nahrung. Weshalb aber so großer Eifer der Wahrheit Feld zu schauen wo es ist; nämlich die dem edelsten der Seele angemessene Weide stammt her aus jenen Wiesen, und des Gefieders Kraft, durch welches die Seele gehoben wird, nährt sich hievon, und dieses ist das Gesetz der Adrasteia, daß, welche Seele als des Gottes Begleiterin etwas erblickt hat von dem Wahrhaften, diese bis zum nächsten Auszuge keinen Schaden erleide, und wenn sie dies immer bewirken kann, auch immer unverletzt bleibe. Wenn sie aber unvermögend es zu erreichen nichts sieht, sondern ihr ein Unfall begegnet, und sie dabei von Vergessenheit und Trägheit übernommen niedergedrückt wird, und so das Gefieder verliert und zur Erde fällt; dann ist ihr gesetzt, in der ersten Zeugung noch in keine tierische Natur eingepflanzt zu werden, sondern die am meisten geschaut habende in den Keim eines Mannes, der ein Freund der Weisheit und der Schönen werden wird, oder ein den Musen und der Liebe dienender […] (Phaidros, 248a-d, meine Hervorhebung).

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Warum können bestimmte Seelen den Göttern besser folgen als andere? Worin genau besteht die Schuld schlechter Führer, durch welche „viele verstümmelt werden“? Was ist das für ein Unfall, der zu Vergessenheit und Trägheit führt? In welchen Situationen begibt man sich in das Risiko des Unfalls? Was sind das für Prozesse, die die Unfälle auslösen, welche bestehendes Wissen und bestehende Kraft wieder begraben können? Alle diese von Platon nicht beantworteten Fragen drängen sich umso ärger auf, als es bei Platon recht deutlich ist, dass vernünftiges, sinnvolles, ethisches Verhalten sich eben eigentlich daraus ergibt, dass man die intelligible Ideenordnung geschaut hat. Gleichzeitig drängt sich aber auch der Aspekt auf, der darin liegt, dass beim Zugang zum Schauen der Ideen Hindernisse überwunden werden müssen, deren Wesen nicht bestimmt wird. Die Seelen müssen sich vor nicht näher charakterisierten Unfällen und einer nicht näher charakterisierten Schuld schützen. Aber die Kraft sich davor zu schützen, kann sich nicht wieder aus einer vorherigen Sichtung der wahren Ideen ergeben haben, da dieses zu einem infiniten Regress führen würde. So öffnet sich die Vernunft im Sinne des Schauens der Ideen zu etwas anderem Undeutlichen, das die Vernunft überhaupt erst ermöglicht. Platon versucht also in mehrerlei Hinsicht die „paradoxe“ Grenzsituation, in die man beim Philosophieren gerät, nicht zu verschleiern. Er verspricht nicht, dass dem Philosophierenden die rationale Ordnung des Seins in transparenter Weise aufgehen wird. Der klar durchsichtigen, aktiven Vernunftanwendung ist laut Platon eben auch der göttliche Wahnsinn beigemischt, der über den sozusagen passiven Menschen hereinbricht, sowie die Überforderung durch das zu helle Strahlen der Grundbegriffe. Außerdem geht der vernünftigen Schau der Ideen ein Freiwerden für die Schau voraus, dessen Status ganz unklar ist. Das philosophische Erlebnis der Dunkelheit der Metaphysik (= das Erlebnis, dass die Kriterien um metaphysische Fragen zu entscheiden nicht transparent sind) wird also gewissermaßen als philosophisches Grunderlebnis auch von Platon anerkannt und behandelt. Allerdings fasst er es als Erlebnis der Überhelle der Metaphysik auf. Er stellt durchaus in Aussicht, dass sich in einer kommenden Zukunft die Erkenntnisfähigkeit an die Überhelle der Ideen anpasst und auch sie klar erkennt. Die Radikalität, mit der sich Wittgenstein vom „platonischen Projekt“ verabschiedet, sollte also nicht überbewertet werden. Mit Platon teilt er die Überzeugung, dass Philosophieren als vernünftiges Projekt in einen ethischen Rahmen gespannt ist, welcher der Philosophie Witz und Tiefe gibt, dass die empirische Welt nicht einfach so auftaucht, sondern durch a priori seiende Formen strukturiert wird (platonische Formen bzw. die Lebensformen, die sich in Sprachspielen zeigen), dass die menschliche Sicht dieser Formen externem Seienden gerecht werden muss (Platon denkt das Gerechtwerden als vernünftiges Sehen,

1.3 Reaktionen auf das Problem der Unklarheit der Metaphysik

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Wittgenstein etwas anders als Einfügen in einen Grenzbereich, hinter dem rational Unzugängliches liegt), dass Philosophie nicht so sehr im Erlangen neuer Erkenntnisse besteht, sondern im Erinnern an das, was in unklarer Form „immer schon“ bekannt war, dass es mit dem Studium der Naturerscheinungen im menschlichen Leben nicht getan ist, so dass Ethik als „übernatürlich“ aufgefasst wird, womit gemeint ist, dass es sich nicht mit dem Vokabular, mit dem man über die Natur redet, fassen lässt; dass der Mangel an Transparenz bei metaphysischen Fragestellungen als Grunderlebnis zur Philosophie gehört (wobei dieser Mangel an Transparenz einmal als Überhelle, einmal als Dunkelheit aufgefasst wird). In zwei gewichtigen Aspekten setzt Wittgenstein aber natürlich ein Minus vor Platons Projekt und wird so zum Anti-Platoniker: Für Wittgenstein soll die Alltagssprache die philosophische Sprache reformieren. Für Wittgenstein ist das Staunen nicht Anlass des Philosophierens, der überwunden werden soll, sondern Endpunkt des Philosophierens, der erreicht wird, wenn man die Unbegründbarkeit des Seienden, der Urphänomene klar vor Augen hat. So etwas wie Ethik ist nicht die höchste Wissenschaft, sondern ein Bereich, der Unwissenschaftlichkeit als Existenzbedingung hat. Die ohnehin schon großen Überschneidungen zwischen beiden Projekten werden noch größer, wenn man bedenkt, dass Wittgenstein in seinem letzten Werk Über Gewissheit implizit anerkennt, dass die Kriterien, die er aufgestellt hat, um sein philosophisches Projekt von der Metaphysik zu trennen, nicht mehr haltbar sind. Daraus folgt, dass sein eigenes Projekt, konsequent durchgeführt, auch wieder einige weitere Aspekte des traditionellen metaphysischen Projekts explizit anerkennen müsste.

1.3 Prinzipiell mögliche Reaktionen auf das Problem der Unklarheit der Metaphysik Prinzipiell ergeben sich mindestens drei mögliche Weisen, auf das Problem der Unklarheit der Metaphysik zu reagieren. A: Es ließe sich der Versuch unternehmen, eine neue, scharfe Metaphysik zu schaffen, welche die Unklarheit überwindet. Die mangelhafte Einigung in metaphysischen Fragen wäre dann kein Problem der Metaphysik an sich, sondern würde auf eine bislang mangelhafte Ausführung zurückgehen. B: Man könnte das Problem beheben, indem man die Metaphysik aus dem philosophischen Denken radikal entfernt. C: Es ließe sich zeigen, dass die Unklarheit, die bei der Metaphysik als negativ erlebt wird, tatsächlich auch in spezifischen Kontexten eine positive Funktion hat und insofern gar nicht in der charakterisierten Weise – also als kategorisch zu überwindendes Erkenntnisdefizit – problematisch ist. Anders ausgedrückt: Man behebt beim

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Problem Unklarheit-der-Metaphysik entweder (A) die Unklarheit oder (B) entfernt die Metaphysik ganz als solche aus dem relevanten philosophischen Reflexionsbereich oder (C) versteht die vermeintliche Problemhaftigkeit (der Unklarheit der Metaphysik) in einer Weise neu, in der sie aufhört als Problem zu erscheinen. Option C läuft dabei natürlich auf eine so starke Modifikation des Verständnisses von Metaphysik hinaus, dass man das so entwickelte nicht mehr unbedingt Metaphysik nennen muss oder sollte. Es geht einfach darum, diese differenzierte Strategie von der radikalen Strategie B abzugrenzen. Bisher wurden von Wittgenstein-Interpreten vor allem die Optionen A (theoretische Lesart) und B (klärende Lesart, resolute Lesart) ergriffen. Bei dieser Dreiteilung und der folgenden Zuordnung von Interpreten zu den drei philosophischen Projekten, ist natürlich zu beachten, dass es sich hier um eine Vereinfachung handelt, die bestimmte wirkliche Strukturen der philosophischen Reflexion gewissermaßen „überzeichnet“ hervortreten lassen soll. Denn eigentlich sind natürlich die philosophischen Interpreten nicht einfach nur „Avatare“, die einen bestimmten Denkansatz repräsentieren. Obwohl z. B. Kenny (2006, S. xix) Wittgenstein grundsätzlich als klassischen Theoretiker auslegt, findet er es – in Bezug darauf, Wittgenstein als metaphysischen Theoretiker oder als antimetaphysischen Anti-Theoretiker zu lesen – „hard to decide between the alternatives; sometimes I am tempted by the one, and sometimes by the other.“ Verkompliziert wird der Sachverhalt noch dadurch, dass philosophische Ansätze oft eine innere Dynamik haben. So hat Kenny z. B. den Verdacht, dass der antitheoretische Ansatz von Wittgenstein, wenn er konsequent weitergedacht wird, doch wieder in eine theoretische Philosophie umschlagen muss. Je nachdem, wo sich ein Interpret gerade im Denkweg befindet, kann es schwer sein, ihn klar einer Lesart zuzuordnen. Die Einteilung in die Lesarten sollten also immer nur eine grobe Einteilung sein. Dass dadurch Komplexität zu einem gewissen Grad möglicherweise überdeckt wird, ist gerechtfertigt, da dennoch gerade nur so große, wichtige Strukturen bei den Denkfiguren der verschiedenen Interpreten hervortreten.

1.3.1 Theoretische Lesarten Der Tractatus wird z. B. von Anscombe (1959), Hacker (1996), Pears (1997), Kenny (2006) oder Schroeder (2006) als Versuch gelesen, eine neue theoretische/metaphysische Position zu entwickeln, die argumentativ alternativen Theorien überlegen ist. Es gibt demnach im Leben erklärungsbedürftige Phänomene, die sich jeder vernünftigen Person als prinzipiell erklärungsbedürftig erschließen müssen.

1.3 Reaktionen auf das Problem der Unklarheit der Metaphysik

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Anscombe (1959, S. 13) betont, dass Wittgenstein somit ähnlich denkt wie die antiken Philosophen: „It is best, indeed, if one wants to understand [Wittgenstein] […] to be capable of being naively struck by such questions as the following ones: If I say that Russell is a clever philosopher, I mention Russell, and say something about him: now, is what I say about him something that I mention, just as I mention him? If so, what is the connection between these two mentioned things? If not, what account are we to give of the words expressing what I say about him? have they any reference to reality? Further, suppose we try to explain the reference to reality by adverting to the truth of what is said, then what about false statements? These say that such and such is the case just as much as true statements do so that the saying-that done by true statements cannot be explained by their truth. The investigations prompted by these questions are more akin to ancient, than to more modern, philosophy.“ Phänomene, die Hacker (1996, S. 22– 38) in den Fokus rückt, bestehen z. B. darin, dass logische Sätze immer wahr sind oder darin, dass wissenschaftliche Sätze sich auf eine Wirklichkeit beziehen, die sie wahr oder falsch macht. Daraus entwickeln sich Fragen: Fragen nach dem Wesen der Logik oder Fragen nach dem Wesen des sinnvollen Satzes ergeben sich aus den genannten Phänomenen. Diese Fragen sollen durch das Entwickeln einer Theorie gelöst werden. Im Tratactus wäre das die Theorie, dass zwischen Satz und Wirklichkeit eine logische Abbildbeziehung besteht, in welcher die Namen im Elementarsatz mit Gegenständen in der Wirklichkeit korreliert werden. Die Erklärung, warum logische Sätze immer wahr sind, besteht dann z. B. darin, dass in der logischen Abbildbeziehung eine a priori gültige Form reflektiert wird, welche von logischen Sätzen demonstriert wird. Die Theorie wird dabei durch rationale Argumente verteidigt, die ebenfalls für jede vernünftige Person prinzipiell nachvollziehbar sein müssen. Wittgenstein knüpft nach dieser Lesart an die Überzeugung an, dass es eine universell geteilte Vernunft gibt, die den Rahmen abgibt, in dem sich in der philosophischen Debatte die schärfsten und somit rational zwingenden Argumente identifizieren lassen. Das Problem an den theoretischen Lesarten ist es, dass Wittgensteins Projekt in letzter Analyse dann auf jenem Einleuchten beruhen würde, das Wittgenstein bei Russell kritisiert hat. In anderen Worten: Diese Lesart setzt voraus, dass es klare Erfolgskriterien in der Metaphysik gibt. Diese sind jedoch gerade nicht zugänglich, so dass hinter dem Vordergrund der angeblich rational-scharfen Argumentation, letztendlich doch gerade nicht rational-scharfe Intuitionen den Argumentationsgang bestimmen. In der Spätphilosophie ist hier an jene Autoren zu denken, z. B. Hallett (1967), Horwich (1995) oder Kenny (2006), die – grob gesagt – davon ausgehen, dass der späte Wittgenstein die Evolution von der Abbildtheorie der Sprache zur Ge-

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brauchstheorie der Sprache durchmacht. In der Spätphilosophie argumentiert Wittgenstein gegen seine unvollständigen Argumente im Tractatus und entwickelt somit eine noch schärfere theoretische Analyse darüber, was es bedeutet, ein sinnvoller Satz zu sein. Insofern in der Gebrauchstheorie die menschliche Sprachpraxis als der „Urgrund“ verstanden wird, in dem sprachliche Bedeutung durch Gebrauch hergestellt wird, und somit die von uns sprachlich-erfahrene Welt durch Gebrauch konstituiert wird, hat auch sie quasi-metaphysische Züge, wenn man unter Metaphysik die theoretische Wissenschaft von dem, was die von uns erfahrene Welt hervorbringt, versteht.

1.3.2 Klärende Lesarten Als Hauptvertreter der klärenden Lesart, die sich vor allem in Bezug auf den späten Wittgenstein herausgebildet hat, wird Hacker (1993, 1996, 2000 a, 2000 b) bzw. werden Baker und Hacker (2005, 2014) gesehen. Auch Moyal-Sharrock (2007) und Marie McGinn (1997) lassen sich den klärenden Lesarten zuordnen. Ramharter und Weiberg (2014) argumentieren ebenfalls den Denkfiguren der klärenden Lesart entsprechend. Im Gegensatz zur theoretischen Lesart, die Erklärungen für erklärungsbedürftige Phänomene sucht, wird in diesen Lesarten angestrebt, die Sprache als Urphänomen nicht zu erklären, sondern das Phänomen schlichtweg klar zu sehen, ohne es dabei wiederum auf etwas Erklärendes zurückzuführen. Dieser Denkweg hat zum einen ein negatives Ziel: Es soll durch klare Sicht des Urphänomens herausgestellt werden, dass die metaphysischen Fragen sich nur aus einer Verwirrung verschiedener Aspekte der Sprache als Urphänomen ergeben haben. Darüber hinaus hat er ein positives Ziel: Die Sprache soll im Detail klar beschrieben werden. Die Regeln der Grammatik/Tiefengrammatik unserer Sprachspiele sollen herausgearbeitet und als positiver philosophischer Ertrag bewahrt werden. Dabei wird betont, dass die Grammatik arbiträr ist und nicht begründungsmäßig von einer tieferen Wirklichkeitsschicht abhängt. Eine sprachexterne Wirklichkeit spielt also im menschlichen Leben keine Rolle. Es muss dabei nicht zwingend verneint werden, dass etwas jenseits der Sprachpraxis existiert. Insofern aber das menschliche Leben in Sprachspielen stattfindet, bleibt das ein Bereich, der nicht von Belang ist. Die negative Arbeit des klärenden Philosophen besteht darin, dass er gewissermaßen als Sprachpolizist auftritt, der kritisch untersucht, ob metaphysische Philosophen sich von der ursprünglichen Sprachpraxis entfernen, woraufhin

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er die Metaphysiker sanktioniert, falls Verstöße gegen die Regeln der Alltagssprache stattfinden. Gleichzeitig belehrt er die Metaphysiker aber auch darüber, wie sie auf die irrige Idee kommen konnten, die Regeln der Alltagssprache (und damit die Grenzen des eigentlichen sprachlichen Sinns) zu verlassen und neue Regeln für einen unsinnigen metaphysischen Sprachgebrauch zu entwickeln. Sein positiver Ertrag besteht darin, die Regeln klar festzuhalten, so dass zukünftige Verstöße gegen die Grenzen des sprachlichen Sinns leichter vermieden werden können. Zwei Probleme der klärenden Lesarten sind zu nennen. Es wird eine radikale Trennung zwischen innerer Perspektive der Alltagssprache und externer Perspektive der Metaphysik vorgenommen. Es wird eine Art ursprüngliche Reinheit der Alltagssprache postuliert, die zu bewahren ist, indem gegen auftretende metaphysische Verdüsterungen der Sprache gekämpft wird, in denen Sprache aus einer externen Perspektive reflektiert werden soll. Eine derartig radikale Trennung zwischen interner und externer Perspektive ist aber nicht offensichtlich. Es ist durchaus möglich, dass der Anspruch, das Ganze des Lebens aus einer Art Außenperspektive zu reflektieren, ein normaler, integraler Teil der Alltagssprache ist. Es wird – zweitens – die kategorische Überlegenheit der Alltagssprache vorausgesetzt. Die Tatsache, dass sich metaphysische auf Verwirrungen der Alltagssprache zurückführen lassen, ist kein zwingendes Argument für diese Methode. Nur weil eine Methode kohärent anwendbar ist und gewisse Ergebnisse liefert, ist damit noch nicht bewiesen, dass alternative konkurrierende Methoden keine Gültigkeit haben. Die Lesart bewegt sich somit auf eine dogmatische Affirmation der Alltagssprache zu, die rational nicht überzeugend ist.

1.3.3 Resolute Lesarten Die resoluten Lesarten sind stark mit dem Band The New Wittgenstein (Crary & Read, 2000) verbunden. Hier sind die Interpreten Cora Diamond (1991, 2000) sowie James Conant (2000, 2002) bzw. Conant & Diamond (2004) zentral. Auch Finkelstein (2000) und Cavell (2000) sind in diesem Kontext zu berücksichtigen. Die resoluten Interpreten verfolgen ein rein negatives Ziel: Metaphysische Fragen sollen als reine Sinnillusionen erkannt werden. Es soll erkannt werden, dass metaphysische Begriffe wie „Sein an sich“ Pseudo-Wörter sind, die logisch auf derselben Stufe stehen wie das Pseudo-Wort „wwjdoiwedjkhk“. Der Realisierungsprozess geschieht dadurch, dass der resolute Wittgensteinianer philosophische Argumente immer wieder in Bezug setzt zu seinen alltäglichen Ansprüchen an Sinn. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die philosophischen

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Begriffe diesen Ansprüchen an Sinn gar nicht genügen, woraufhin sie als SinnIllusionen durchschaut werden. Damit grenzen sie sich deutlich von den klärenden Interpreten ab. (a) In der klärenden Lesart ist es völlig zulässig, philosophische Argumente in der klassischen Form zu benutzen. Einige dort aufgeführte Argumente könnte man z. B. in diese Form bringen: „1. Im alltäglichen Gebrauch bedeutet Wort X dieses. 2. Im philosophischen Gebrauch soll Wort Y jenes bedeuten. 3. Alltäglicher Gebrauch schlägt immer philosophischen Gebrauch. Also bedeutet Wort X eigentlich immer dieses.“ Laut der resoluten Lesart ist aber Prämisse 2 gar nicht denkbar, da ja der philosophische Sprachgebrauch auf schieren Illusionen, die gar keinen Inhalt haben, beruhen. (b) Weiterhin soll von den resoluten Interpreten kein positiver Ertrag errungen werden, der darin besteht, dass die Regeln, die den Sprachgebrauch bestimmen, herausgearbeitet werden. Das wird als Überleben des metaphysischen Anspruchs aus einer externen Perspektive das Sprachganze festzuhalten gedeutet. Während die klärenden Interpreten also argumentieren, dass man die externe Perspektive der Metaphysik nicht einnehmen kann, so dass sie irrelevant ist, vertreten die resoluten Interpreten die Position, dass das schiere Konzept einer externen Perspektive gar nicht denkbar und somit radikal inhaltsleer ist. Das Problem an resoluten Lesarten ist es, dass sie das philosophische Ziel gewissermaßen mit einem radikal subjektiven, privaten Erlebnis gleichsetzen. Der Philosophierende startet in der Situation, dass er in metaphysischen Sinn-Illusionen gefangen ist. Dann geht er mit diesen sogenannten Sinn-Illusionen um, bis der Philosophierende ein Erlebnis hat, in dem plötzlich klar wird, dass die metaphysischen Gedanken eben nur Illusionen sind. Es gibt aber keinen Standard an dem man dieses Erlebnis messen und bewerten kann.Wenn Menschen anfällig für Illusionen sind, dann könnte es auch eine Sinn-Illusion sein, zu meinen, dass die Alltagssprache den Bezug auf Metaphysisches oder Externes radikal ausschließt.

1.3.4 Ordnende Lesart In der ordnenden Lesart wird die Vielfalt der Sprachspiele als Urphänomen aufgefasst. Dieses Urphänomen soll nicht erklärt werden, sondern philosophisch klar beschrieben werden, um zu zeigen, dass gewisse metaphysische Fragestellungen darauf zurückgehen, dass die innere Vielfalt des Urphänomens verkannt wird. Somit werden die metaphysischen Fragen umgangen. Soweit besteht eine große Überschneidung mit den klärenden Lesarten. Während aber in den klärenden Lesarten radikal zwischen der internen Perspektive der Alltagspraxis und der externen Perspektive, die in der Metaphysik angestrebt wird, getrennt wird, ist

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laut der ordnenden Lesart die externe Perspektive als Fluchtpunkt immer auch schon Teil der Alltagspraxis. Dass das externe Seiende nicht präsentierbar ist, wird in den klärenden und resoluten Lesarten als reines Problem gedeutet, dem also beizukommen ist, indem die externe Perspektive verbannt wird. Laut der ordnenden Lesart ist die mangelnde Präsentierbarkeit des Externen ein Problem für die traditionelle, wissenschaftliche Metaphysik, insofern diese gewissermaßen den Anspruch hat, das Externe rational zu durchleuchten und durch wohlbegründete Argumentationsgänge eindeutig zu fixieren und somit zu präsentieren. Wenn nun aber dieser Anspruch der Präsentierbarkeit des Externen wegfällt, dann hört die Entzogenheit des Externen auf, ein Problem zu sein. Dann zeigt sich die positive Funktion des Entzogenseins: Es ermöglicht gerade die Freiheit, kreativ eine Haltung zum Externen einzunehmen. Es ermöglicht die Freiheit, Bilder zu entwickeln. Die Entzogenheit des Externen gibt den Raum zur Schöpfung von Seinsweisen. Wie diese Figur zu denken ist, dass die Entzogenheit externer, aber dennoch absoluter Standards, Freiheit ermöglicht, wird im Folgenden durch Vergleiche mit anderen Denkern umrissen. Laut der ordnenden Lesart hat die Unklarheit, die in der Metaphysik als Defizit erlebt wird, eine genuine, produktive Funktion, die deutlich wird, wenn die (irrigen) Ansprüche der Metaphysik als wissenschaftliches Projekt aufgegeben werden. In verschiedenen Variationen wurde eine Würdigung der Unklarheit, die im Rahmen der ordnenden Lesart Wittgenstein zugeschrieben wird, auch von anderen Denkern gemacht. Bedeutet das, dass man sich die Mühe spart, Wittgenstein auf seine ur-eigene Weise zu verstehen, und den leichten Ausweg nimmt, Wittgenstein die klaren Positionen von Anderen zu unterstellen? Tatsächlich ist es im Gegenteil gerade im Einklang mit Wittgenstein, wenn man Ideen Anderer in seinen Werken zurückverfolgt. „Meine Originalität, (wenn das das richtige Wort ist), ist, glaube ich, eine Originalität des Bodens, nicht des Samens. (Ich habe vielleicht keinen eigenen Samen.) Wirf einen Samen in meinen Boden; & er wird anders wachsen, als in irgend einem andern Boden“ (CV, S. 42). Wittgensteins Originalität „beschränkt“ sich demnach darauf, wie er mit den Ideen (Samen) Anderer umgeht und sie zum Gedeihen bringt. Das Philosophieren als Ordnen besteht im Erinnern. Das, an was sich erinnert wird, muss schon immer irgendwie da sein, und kann nicht in radikal neuen Ideen Wittgensteins bestehen.

1.3.4.1 Dostojewski – Schweigen als Öffnung des „Raums der Freiheit“ Wittgenstein hat Dostojewski während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg intensiv gelesen. „Wittgenstein read [Dostoevsky’s Brothers Karamazov] so often he knew whole passages of it by heart, particularly the speeches of the elder

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Zossima, who represented for him a powerful Christian ideal, a holy man who could see ‘directly into the souls of other people‘“ (Monk 1991, S. 136). Dostojewskis Denkansatz hat Überschneidungen mit dem Ordnen bei Wittgenstein. Auch Dostojewski geht davon aus, dass das menschliche Verstehen durch eine Vielfalt von Verstehensweisen geschieht, und dass es zu Verwirrungen der Weisen kommen kann. Dostojewski betont, dass ethische Einsichten nicht durch die Vernunft (разум), sondern durch das Gefühl (чувство) vermittelt werden (vgl. Scanlan 2002, S. 89). Während die Vernunftergebnisse durch objektiv-zwingendes Schlussfolgern errungen werden, so hängt das Gefühl, dass die Wahrheit ethischer Pflichten enthüllt, daran, auf welche Weise man sich praktisch in die Gesellschaft einfügt (vgl. Scanlan 2002, S. 18). Das Ausüben der ethischen Praxis, so Dostojewski, schließt einem gerade die Wahrheit der ethischen Gebote auf. Gerade indem man die Praxis ausführt, wird klar, dass in ihr wahre Gebote befolgt werden. Die Wahrheit ist aber vor dem freien Sprung in die Praxis nicht durch einen kontrollierten Beweis absicherbar. Dostojewski warnt nun davor, die Bereiche чувство und разум auf illegitime Weise zu vermischen. In einer Passage von Die Brüder Karamasow (2003, S. 381– 426) beschreibt Dostojewski, wie der Naturwissenschaftler Iwan Karamasow versucht, das Thema ethischer Pflichten „naturwissenschaftlich“ zu behandeln, und wie er zu dem Ergebnis kommt, dass ethische Pflichten und Gott als ihr Urheber abzulehnen sind. Die Erwiderung seines Bruders Aljoscha, der Mönch und Schüler des oben von Monk genannten Helden Sossima ist, besteht nicht in einem naturwissenschaftlichen Gegenargument, sondern darin, dass er in Bezug auf Iwans Argumentation schweigt und stattdessen, die Ebenen wechselnd, eine gefühlsmäßige soziale Geste ausführt, indem er Iwan küsst. Auch wenn es sich hier nicht beweisen lässt, so lässt sich doch die These vertreten, dass das Finale des Tractatus „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ (TLP 7) und die Benutzung des Wortes Gefühl im Kontext des Ethischen (TLP 6.45, TLP 6.2) von den oben genannten Gedanken Dostojewskis zumindest teilweise inspiriert ist. Gefühl und Vernunft im spezifischen Sinne Dostojewskis wären also auch Beispiele für etwas, das man als Verstehensweisen charakterisieren könnte. Mit dem Schweigen und der Geste durch Aljoscha wird signalisiert, dass Iwan in ein verwirrtes Projekt verstrickt ist, in dem naturwissenschaftliche und ethische Frage, trotz ihrer Andersartigkeit, künstlich in eine Form gebracht werden, in der beide so „entstellt“ werden, dass sie nicht mehr zielführend behandelt werden können. Aljoscha will Iwan die Möglichkeit geben auf die genuin ethische Ebene zurück zu wechseln. Das Schweigen ist dabei nicht mit einem dumpfen, passiven Nichtstun zu verwechseln. Aljoscha handelt ja gerade aktiv, indem er schweigt und

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Iwan küsst. Er wechselt aber von der Ebene des quasi-naturwissenschaftlichen Arguments zur Ebene der ethischen Praxis. Möglicherweise in Anlehnung daran, unterstellt der Tractatus einen Leser, der Logik, Naturwissenschaft und Ethik verwechselt. Der unterstellte Leser will alle drei Bereiche in eine Satzform zwängen, mit dem Resultat, dass sie dadurch entstellt und philosophisch problematisch werden. Der Leser will in dieser verwirrten Weise (wie Iwan) über Ethik reden als sei sie eine Naturwissenschaft. Wittgenstein versucht Aljoscha nachzueifern und zu zeigen, dass der richtige, praktische Umgang mit den ethischen Fragen – bezogen auf den Wunsch, in verwirrter Weise über sie zu sprechen – nur als Schweigen erscheinen kann. Neben dieser Funktion des Schweigens – Verwirrungen ins Leere laufen zu lassen, indem der Schweigende das Angebot macht, in einem Sprung vom verwirrten Diskurs zu einer anderen Verstehensweise zu wechseln – wird aber noch eine weitere Funktion des Schweigens von Dostojewski anvisiert. Neben seinen „naturwissenschaftlichen“ Argumenten erzählt Iwan Karamasow seinem Bruder eine eigene Dichtung namens Der Großinquisitor. Jesus taucht demnach zur Zeit der Inquisition im Sevilla des 16. Jahrhunderts auf. Er wird von allen Menschen sofort erkannt und vollbringt Wunder. Der Großinquisitor nimmt Jesus gefangen und verhört ihn. Dabei vertritt der Großinquisitor die Position, dass Jesus und Gott ethisch defizitäre Wesen sind und es ethisch besser ist, wenn Menschen wie er selbst das Werk Gottes an sich reißen und es vollenden. Die ethischen Defizite von Jesus bestehen darin, dass er eine Erlösung und Harmonie anstrebt, die von den meisten Menschen nicht erreicht werden kann. Jesus will, dass Menschen sich frei zum Glauben an Gott entscheiden, ohne bestochen zu werden: Deshalb geht der Glauben nicht mit materiellem Erfolg, nicht mit prüfbarem Wissen und nicht mit politischer Macht einher. Der Großinquisitor hält es nun für besser, wenn eine Elite, die von der Freiheit weiß, die Macht an sich reißt, Menschen materiell versorgt und in einer quasi-politischen Bewegung vereint und die Menschen so kontrolliert, dass sie zwar nicht frei sind, aber immerhin ein reduziertes, tierhaftes Glück erleben können. Wie reagiert Jesus nun auf die Erzählung des Großinquisitors? Er hört ihm schweigend zu und küsst ihn. Das Schweigen von Jesus, der sich nur soweit „enthüllt“, dass immer auch die freie Entscheidung gegen ihn möglich ist, erfüllt hier die Funktion verschiedene ethische Seinsweisen genuin zu ermöglichen. Das ist laut dem Wittgenstein der ordnenden Lesart auch die Funktion der Dunkelheit, die im Rahmen der Metaphysik gesehen wird. Dass die Gestalt des „Seins an sich“ oder dergleichen entzogen und nicht wissenschaftlich zugänglich ist, erfüllt die Funktion, verschiedene ethische Seinsweisen zu ermöglichen.

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1 Die ordnende Lesart

1.3.4.2 Thomas von Aquin – Die Begrenztheit des natürlichen Intellekts ermöglicht Freiheit Es ist zwar bekannt, dass sich Wittgenstein mit Thomas von Aquin beschäftigt hat. Wie Wittgensteins Umgang mit ihm dabei genau ausgesehen hat, ist allerdings unklar. „The only indication we have that Aquinas may have influenced Wittgenstein directly is a single volume of the Summa Theologiae that was found sitting on a shelf in Wittgenstein’s room“ (Stout 2004, S. 2). Die Argumentation in diesem Abschnitt wird sich daher nur auf relevante philosophische Parallelen beziehen, die man in den Denkern entdecken kann, ohne zu versuchen, einen direkten Einfluss von Thomas auf Wittgenstein nachzuweisen. Laut Thomas besteht das absolute Ziel des menschlichen Lebens im Glück, welches in der Schau Gottes besteht. Es ist dem menschlichen Leben inhärent, von diesem absoluten Ziel so beeindruckt zu sein, dass es, wenn es erkannt wird, nicht abgewiesen werden kann. Damit versiegt aber die menschliche Freiheit und das Verhalten und Wollen scheint determiniert zu sein. „Würde dem Willen ein Objekt vorgestellt, das universal und in jeder Hinsicht gut wäre, dann würde er, wenn er denn etwas will, mit Notwendigkeit auf dieses Objekt hintendieren; denn er wird nicht das Gegenteil wollen können“ (S. theol. I-II, qu. 10 a. 2 co., zit. nach Forscher 2006, S. 85). Inwiefern ist nun hier ein Raum für genuine menschliche Freiheit möglich, wenn das absolute Ziel des Handelns von Menschen nicht frei gewählt werden kann? Der Zug von Thomas ist es, an Aristoteles anschließend, die Wahl (electio) als Akt des Willens der Sphäre der Mittel zuzuordnen. [D]ie electio folgt einer Meinung bzw. einem Urteil, das gewissermaßen die Conclusio eines praktischen Syllogismus ist; deshalb fällt jenes unter die Wahl, was sich wie der Schlußsatz in einem praktischem Syllogismus verhält; das Ziel aber verhält sich in praktischen Dingen wie eine Prämisse und nicht wie eine Conclusio […]; deshalb fällt das Ziel, insofern es von dieser Art ist, nicht in den Bereich der Wahl. Aber wie im Spekulativen nichts dagegen spricht, daß das, was Prinzip ist des einen Arguments oder der anderen Wissenschaft, Conclusio ist des anderen Arguments oder der anderen Wissenschaft; (und wie im Spekulativen) das oberste unbeweisbare Prinzip aber nicht Conclusio irgend eines Beweises oder einer beweisenden Wissenschaft sein kann; so kommt es auch vor, daß, was in der einen Tätigkeit als Ziel fungiert, in der anderen auf etwas anderes als seinem Ziel hingeordnet wird. Und auf diese Weise fällt es unter die electio (S. theol. I-II, qu. 13 a. 3, zit. nach Forscher 2006, S. 84– 85).

Thomas illustriert diese Überlegungen mit dem Beispiel eines Mediziners. Die körperliche Gesundheit ist für ihn als Mediziner ein Ziel, das nicht frei gewählt werden kann, sondern immer vorausgesetzt wird. Die körperliche Gesundheit ist für Thomas nun aber auf das seelische Heil hingeordnet. Deshalb kann jemand, der das Heil der Seele im Blick hat, wiederum durchaus frei wählen, ob er in

1.3 Reaktionen auf das Problem der Unklarheit der Metaphysik

57

bestimmten Fällen körperliche Gesundheit anstrebt oder nicht. Nur das allerletzte Ziel ist für Thomas nicht Gegenstand der Wahl. Dieses allerletzte Ziel kann aber nun unter natürlichen Umständen nicht erkannt und nicht erreicht werden. Alle Ziele, die sich im menschlichen Leben auftun, haben Mängel und Unvollkommenheit an sich. „Der Totalitätscharakter menschlichen Glücksverlangens hat zur Folge, daß kein endliches Gut menschliches Wollen zu determinieren vermag“ (Forscher 2006, S. 86). In den Worten von Thomas: „Wenn [der Mensch] sich aber ein Objekt vorstellt, das nicht in jeder beliebigen Hinsicht gut ist, dann wird der Wille nicht mit Notwendigkeit zu diesem hinbewegt. Und da jeder Mangel an Gutem das Merkmal des Nicht-Guten an sich hat, deshalb ist nur jenes gut, das vollendet ist und dem nichts fehlt, von der Art, daß der Wille es nicht nichtwollen kann; und das ist die Glückseligkeit. Alle beliebigen anderen partikulären Güter aber können, insofern ihnen stets auch etwas, was gut ist, fehlt, in dieser Hinsicht als nicht-gut angesehen werden, von einem Willen, der sich entsprechend den verschiedenen Hinsichten in die eine oder in die andere Richtung bewegen lassen kann“ (S. theol. I-II, qu. 10 a 2 co., zit. nach Forscher 2006, S. 85 – 86). Gerade also, dass Gott als Gegenstand metaphysischer Erkenntnis weitestgehend entzogen ist und nicht mit natürlichen Mitteln erkannt werden kann, ermöglicht es, der Welt mit diversen Willen entgegen zu treten und verschiedene ethische Seinsweisen einzunehmen. Die Willensfreiheit spielt aber eine zentrale Rolle dafür, dass menschliches Verhalten einen ethischen Wert bekommt. Thomas und Wittgenstein sehen also in der dunklen Entzogenheit des „Urgrunds der erlebten Welt“, der in der Metaphysik wissenschaftlich durchleuchtet werden soll, die Basis für ethische Freiheit und ethische Verdienste.

1.3.4.3 Koran – Freiheit durch die beständige Möglichkeit des Leugnens Mit Dostojewski hat sich Wittgenstein sehr stark beschäftigt, mit Thomas von Aquin weniger stark. Bewegen wir uns nun noch einen Schritt weiter weg von Wittgenstein und betrachten, wie der Gedanke, dass die Dunkelheit Freiheit ermöglicht, mit einer etwas anderen Wendung im Koran ausgedrückt wird. „Wer so lebt, [dass er anderes über Gott stellt], ist nicht, wie oft missverständlich gesagt und übersetzt wird, einfachhin ‚Ungläubiger‘, nicht glaubend (la yuminun), sondern ‚Leugner‘ (kafir), der, nachdem er bereits geglaubt oder hätte glauben können, weil er die koranische Offenbarung gehört und die Wahrheit der Religion eingesehen hatte, wieder zum Diesseitigen zurückkehrt“ (Uhde 2014, S. 548). Nach dieser Wendung ist zwar die Gestalt der Wahrheit als solche nicht entzogen, sondern liegt im Koran offen und auch für den Verstand zugänglich dar. Aber die Dunkelheit kann sich auch hier wieder ihren Weg bahnen, da jeder Mensch immer

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1 Die ordnende Lesart

die Möglichkeit hat zu leugnen. Die Möglichkeit des freien Leugnens eröffnet wieder den Raum für ethischen Verdienst oder Mangel und damit für die Möglichkeit von Lohn und Strafe: „Die erst glauben, dann leugnen, dann wieder glauben, dann wieder leugnen und dann zunehmen an Leugnung: nicht wird ihnen Gott vergeben und nicht sie rechtleiten auf dem Weg“ (Koran b 4:137).

1.4 Der weitere Gang der Untersuchung Wie ist nun der Gang der weiteren Untersuchung? Oben wurde spezifiziert, dass sich Wittgensteins Projekt an einem Ort ergibt, in dem die Metaphysik unter der Last ihrer eigenen Ansprüche zu zerbrechen droht. Nach dem Zusammenbrechen der metaphysischen Perspektive und ihrer Erfolgskriterien ist aber der weitere Gang nicht klar. Wittgensteins Herausarbeiten aus dieser Position der Unklarheit wird nun als Gang durch drei Wegphasen beschrieben. Phase 1: Wittgenstein versucht sich im Tractatus aus der Unklarheit der Metaphysik zu befreien, indem er sich in die diesseitig als Phänomene gegebenen Sprachpraktiken stürzt und versucht zu fassen, wie diese eigentlich funktionieren. Wenn dann klar wird, was wir mit Verstehen in verschiedenen sprachlichen Kontexten eigentlich meinen, so die Hoffnung, wird klar, warum der Anspruch der Metaphysik, der auf Abwege und in die Dunkelheit führt, auf lichte Weise befriedigt werden kann. Wenn wir die verschiedenen Verstehensweisen ordnen – das heißt, wenn wir sie klar voneinander als verschieden abgrenzen und dennoch ihr Zusammengreifen beachten – dann soll die Metaphysik als unordentliche Vermischung legitimer Weisen erscheinen. Im Tractatus tradiert Wittgenstein unbewusst aber noch bestimmte Aspekte der Vielfaltsblindheit der Metaphysik: Er trennt nur zwischen drei verschiedenen Verstehensweisen (Naturwissenschaft; Logik; Ethik/Ästhetik/Philosophie). Phase 2: In der Spätphilosophie intensiviert Wittgenstein den ordnenden Anspruch des Tractatus und wendet ihn auch gegen den Tractatus an. Er unterscheidet und ordnet als ursprüngliche Sprachphänomene nun nicht nur drei grundlegende Verstehensweisen, sondern eine potenziell unendliche Vielfalt von Sprachspielen. Wittgenstein behauptet dabei nicht, dass die Sprache eigentlich aus Sprachspielen besteht, sondern, dass sich mit Hilfe der Sprachspiel-Methode, zu der es gehört, bestimmte Teile der Sprache als Sprachspiele zu beschreiben, genuine Aspekte des Sprechens beleuchten lassen. Das ist der Zeitpunkt seiner maximalsten Entfernung zum klassischen Projekt der Metaphysik. Gerade im Kontext dieser weitesten Entfernung ergibt sich aber eine ironische Wendung. Phase 3: Rückkehr? Beim Betrachten der Vielfalt der Sprachspiele und beim ordnenden Trennen von verschiedenen Sprachspielen und der damit versuchten Ausgrenzung der Meta-

1.4 Der weitere Gang der Untersuchung

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physik, kommt Wittgenstein in Über Gewissheit zu Ergebnissen, in denen sich Metaphysik in gewisser Weise wieder als Teil der ursprünglichen Sprachphänomene aufzudrängen droht. Hier sind die innere Dynamik des Prozesses und mögliche Folgen zu untersuchen. Während dieser ganzen Rekonstruktion von Wittgenstein wird im Blick behalten, dass Wittgenstein Sprachen als Phänomene betrachtet, die so zu nehmen sind, wie sie eben aufscheinen. Sie sind aus ihrer inneren Gestalt heraus zu verstehen. Es ist in der philosophischen Reflexion bei den Phänomenen zu bleiben, genauso wie sie sich im Leben entfalten. Der springende Punkt ist hier der Folgende: Obwohl damit die externe Perspektive der Metaphysik ausgeschlossen ist, die, grob gesagt, kategorisch eine externe wissensmäßige Begründung an jedes Phänomen anstecken will, ist damit noch nicht jede Form der externen Perspektive ausgeschlossen. Es kann Phänomene geben, die aus ihrer inneren, aufscheinenden Struktur „von sich aus“ über sich selbst hinausweisen. Es ist dann gewissermaßen so, dass „Pfeile“ zur inneren Gestalt der Phänomene gehören, die auf etwas Externes weisen – selbst dann, wenn dieses Externe gerade auch in seiner Abwesenheit „da ist“.

2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus) Es ist nun darzustellen, wie Wittgenstein im Tractatus seine methodische Grundvision verwirklicht. Diese besteht darin, dass er eine ursprüngliche Vielfalt der Sprechweisen sieht, die, wenn sie in ihren Eigentümlichkeiten anerkannt werden, so geordnet dargestellt werden können, dass sich die traditionellen philosophischen Probleme auflösen. Er betrachtet dabei das Sprechen als Phänomen, welches in seiner hier-sich-zeigenden inneren Gestalt anerkannt werden soll. Das schließt aber nicht aus, dass die Phänomene aus ihrer eigentlichen Gestalt heraus so konstituiert sind, dass sie über sich hinaus zum Sprachexternen weisen. Der Anspruch des Tractatus ist es somit, zu zeigen, dass die traditionellen philosophischen Probleme auf einem „Mißverständnis der Logik unserer Sprache“ (TLP, S. 9) beruhen. Der Zweck des Tractatus ist „die logische Klärung der Gedanken“ (TLP 4.112). Wie aber dieser Prozess des Klarwerdens der Gedanken zu fassen ist, ist kontrovers. Verschiedene Deutungen ergeben sich gerade daraus, wie die Passage TLP 6.54, die als paradox verstanden wird, gedeutet wird.

2.1 Das Tractatus-Paradoxon Am Ende des Tractatus schreibt Wittgenstein: „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist“ (TLP 6.54). Dies ist zunächst paradox: Die Sätze des Werks werden als (a) unsinnig qualifiziert, aber auch (b) als Sätze, mit denen sich Wittgenstein verständlich macht, wodurch sie ja eigentlich gerade sinnvoll sein müssten. Das Paradoxon bietet einen guten Einstiegspunkt in Wittgensteins frühe Philosophie, da sich erstens große Teile der aktuellen Debatten in der Forschung am Paradoxon entzünden, so dass sich an diese anknüpfen lässt. Zweitens hat es einen guten Grund, dass sich in der Forschung auf diese Frage gestürzt wird: In der Passage drückt Wittgenstein explizit ein wichtiges Ziel aus, zu dem Wittgenstein mit seinem Philosophieren hinführen will: Gewisse Sätze sollen als unsinnige Sätze gesehen werden.

https://doi.org/10.1515/9783110664676-005

2.1 Das Tractatus-Paradoxon

61

2.1.1 Substanzielle vs. resolute Lesarten Wittgenstein-Interpreten stehen also vor der Herausforderung, zu zeigen, wie die Sätze als solche unsinnig sein können, aber doch eine „sinnvolle“ Funktion in der Kommunikation haben können. Lösungsvariante 1: Substanzielle theoretische Lesarten Laut den substanziellen Lesarten entwickelt Wittgenstein im Tractatus eine Theorie über das Wesen des Satzes. Von Frege und Russell hat Wittgenstein demnach die Frage nach dem Wesen der Logik übernommen, welche er meinte, am besten in der Frage nach dem Wesen des Satzes fassen zu können. Hacker (1996, S. 22– 25) identifiziert sechs Rahmen-Annahmen im Tractatus. (1) Wittgenstein verschreibt sich dem metaphysischen Realismus. Er postuliert einfache, nicht weiter analysierbare Gegenstände, welche die ultimativen Bestandteile der Realität sind. (2) Er sieht die Ur-Funktion von Wörtern darin, Namen für Gegenstände zu sein. Die Ur-Funktion von Sätzen besteht wiederum darin, die Wirklichkeit zu beschreiben. (3) Wittgenstein glaubt, dass es eine Verbindung gibt zwischen Wörtern und dem, was sie bedeuten. Diese Verbindung wird durch geistige Tätigkeit hergestellt. Diese besteht darin, dass ein Mensch innerlich auf dieses Objekt zeigt und ihm diesen-oder-jenen Namen gibt. (4) Wittgenstein geht davon aus, dass der Sinn von Sätzen ganz klar bestimmt sein muss. Andernfalls würde das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten nicht greifen. Das hätte wiederum die unmögliche Folge, dass logische Implikationen nicht aus dem Verhältnis, das Sätze zueinander haben, hergeleitet werden könnten. Diese Folge betrachtet Wittgenstein als unmöglich, da eine unlogische Sprache gar keine Sprache mehr wäre. (5) Wittgenstein ist Anhänger des Anti-Psychologismus. Die Logik ist demnach frei von psychologischer „Verschmutzung“ und ein objektiver Bereich. (6) Im Gegensatz zu Russell und Frege sieht Wittgenstein die Logik nicht als Wissenschaft von den allgemeinsten Wahrheiten. Das entscheidende Merkmal von logischen Sätzen ist es stattdessen, dass sie absolut notwendig sind. In diesem Rahmen entwickelt Wittgenstein nun seine Theorie über das Wesen des Satzes: Die Abbildtheorie der Sprache. Laut dieser Theorie herrscht ein Isomorphismus zwischen Sprache und Welt. Das heißt: Die Sprache, wenn sie grammatisch korrekt mit der Welt verknüpft wird, spiegelt die Welt so, dass alle möglichen Kombinationen von Objekten in der Welt von Sätzen nachgestellt werden können. Die Sprache, die abbildet, teilt also mit der Welt, die abgebildet wird, die logisch-mathematische Vielheit: X Gegenstände, die in Y Relationen zueinanderstehen können, werden durch X Namen, die in Y grammatischen Relationen zueinanderstehen können, abgebildet. Die Funktion eines Satzes ist es nun, darzustellen, wie die Gegenstände, welche die Welt konstituieren, tatsächlich arrangiert sind. Wenn ein Satz einen

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2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

prinzipiell möglichen und auch tatsächlich gegebenen Fakt (= ein bestimmtes Arrangement von Gegenständen) abbildet, dann ist er wahr. Wenn ein Satz einen prinzipiell möglichen, aber nicht gegebenen Fakt darstellt, dann ist er falsch. Ein Satz, der einen prinzipiell unmöglichen Fakt darstellen soll, wäre nicht wohlgeformt und wäre nicht mehr Teil der Sprache. Der Sinn eines Satzes ist also der prinzipiell mögliche Fakt, welchen der Satz bedeutet. Da Fakten eintreten können oder auch nicht, sind sinnvolle Sätze wesentlich bipolar: Sie können prinzipiell immer sowohl wahr als auch falsch sein. Erst der Vergleich mit der Wirklichkeit zeigt demnach die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes. Diese Theorie des Satzes erlaubt es Wittgenstein nun, die notwendige Wahrheit der Logik zu erklären. Die Erklärung lautet: Logische Sätze sind notwendig wahr, weil sie sinnlos sind. „Sinnlos“ heißt, dass sie nicht auf prinzipiell mögliche Fakten verweisen, die entweder gegeben oder nicht gegeben sind. Logische Sätze sagen also nichts über den Zustand der Welt aus. Ihr Informationsgehalt liegt bei null, da sie Tautologien sind. Ein sinnloser logischer Satz wäre beispielsweise: „Entweder es regnet oder es regnet nicht.“ Ein logischer Beweis ist sinnlos, insofern er tautologisch ist, z.B: „p ! %p & q$ & q". Dass q der Fall ist, wenn zum einen p der Fall ist und zum anderen gilt, dass wenn p der Fall ist, dann q der Fall ist, sagt nichts über den Zustand der Welt. Die Wahrheit aller sinnlosen logischen Sätzen ist zugänglich, sobald ein Mensch überhaupt sinnvolle Sätze verstehen kann. Da ein sinnvoller Satz bipolar ist, also wahr oder nicht wahr sein kann, hat jemand, der einen sinnvollen Satz versteht, auch ein Verständnis davon, was Verneinung logisch ist. Da man einzelne Sätze durch „und“ verbinden kann, um komplexe Sätze zu formen, hat jemand, der sinnvolle Sätze versteht, auch ein Verständnis für den logischen Junktor „und“. Nun lassen sich aber mit der Shefferfunktion, mit dem logischen „nicht-und“ – also auf der Grundlage von Negation und Konjunktion – alle weiteren logischen Junktoren herleiten (vgl. Schroeder 2006, S. 73 – 74). Somit ist klar, dass mit dem Verständnis von normalen, informativen Sätzen sogleich prinzipiell ein Verständnis für die gesamte Logik da ist. Als Methode, um logische Sätze darzustellen, hat Wittgenstein die Wahrheitstafeln vorgeschlagen. Ihr Vorteil ist es, dass in dieser Darstellungsform die Wahrheit der Tautologien schon im Symbol durchschaubar ist. In der Wahrheitstabelle für den Satz „p oder q“ wird dargestellt, in welchen Fällen der komplexe Satz „p oder q“ wahr ist, abhängig davon, wann seine Wahrheitsgründe, die einfachen Sätze p bzw. q wahr sind.

2.1 Das Tractatus-Paradoxon

p

q

p oder q

W F W F

W W F F

W W W F

63

Ein Satz zeigt sich nun genau dann als logisch, wenn er in jedem Fall wahr ist. Wenn man beim Beispiel der Form „Entweder es regnet oder es regnet nicht“ bleibt, dann sieht es so aus. p

nicht p

p oder nicht p

W F

F W

W W

Die rechte Spalte zeigt ausschließlich den Wert „W“. Das heißt, dass der komplexe Satz „p oder nicht p“, dessen Wahrheit von der Wahrheit oder Falschheit seiner Wahrheitsgründe – der einzelnen Sätze p bzw. q – hergeleitet wird, notwendig und in jedem Fall wahr ist. Dass die entsprechende Spalte bei allen logischen Sätzen nur den Wert „W“ zeigt, zeigt, dass alle logischen Sätze auf einer Ebene sind. „Alle Sätze der Logik sagen aber dasselbe. Nämlich nichts“ (TLP 5.43). Auch der noch komplexere und weniger übersichtliche logische Satz %p ! r$! ' %p # q$ teilt sich mit p ! ' p die Eigenschaft, dass er in jeder möglichen Faktenlage notwendig wahr ist. Die Wahrheitstafel schafft die notwendige Überschaubarkeit, so dass sich überprüfen lässt, wie die Wahrheit des komplexen Satzes von den weniger komplexen Sätzen %p ! r$ bzw. ' % p # q$ abhängt und diese wiederum in der letzten Stufe von den Elementarsätzen p, q und r abhängen. p

q

r

p˄q

'(p ˄ q)

(p ˅ r)

(p ˅ r) ˅ '(p ˄ q)

W W W W F F F F

W W F F W W F F

W F W F W F W F

W W F F F F F F

F F W W W W W W

W W W W W F W F

W W W W W W W W

Dass Wittgenstein zeigt, inwiefern alle logischen Sätze auf einer Stufe sind, da die ganze Logik einfach mit einem sinnvollen Satz „da“ ist und die Logik nicht auf so

64

2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

etwas wie zusätzliche logische Fakten verweist, wird als hervorragender Fortschritt gegenüber Frege und Russell gewertet. „[Wittgenstein’s] conception of logical propositions made clear how misleading the Frege/Russell axiomatization of logic, with its appeal to self-evidence for the axioms of basic laws chosen, was“ (Hacker 1996, S. 34). Frege privilegiert zufällig bestimmte logische Sätze als selbstverständliche Axiome, um dann aus diesen Axiomen andere logische Sätze als Theoreme herzuleiten. Mit Wittgensteins Vorgehen zeigt sich, dass die Logik nicht auf arbiträren Axiomen beruht, sondern alle logischen Sätze Tautologien von identischem Status sind, die im Prinzip immer bereits dann verstanden werden, wenn man in der Lage ist, einen sinnvollen Satz zu verstehen. „[T]he primitive propositions are presented in Frege’s system without justification as self-evident; Wittgenstein distrusted the appeal to self-evidence, and offered instead a method of calculation which was mechanical in the literal sense that it could be carried out by a machine“ (Kenny 2006, S. 27). Laut den substanziellen theoretischen Lesarten ist es nun ein Nebeneffekt der Abbildtheorie der Sprache, dass Wittgenstein metaphysische Sätze als unsinnig qualifiziert. In der Abbildtheorie werden bestimmte Kriterien für Sinn festgelegt, aus denen nun folgt, dass metaphysische Sätze die Grenzen des Sinns überschreiten und somit als scheiternde, unsinnige Sätze gefasst werden müssen. „Traditionally, the goal of metaphysics was to uncover non-trivial necessary truths about reality, to disclose the essence of the world. But this is not possible, for the only form of expressible necessity is logical necessity, and logical necessity consists in empty tautologies“ (Hacker 1996, S. 35). Die Abbildtheorie besagt, dass Sätze, die etwas aussagen, bipolar sein müssen. Metaphysische Sätze sollen aber notwendige Fakten beschreiben und können insofern nicht bipolar sein, da ein wahrer metaphysischer Satz in jedem Weltzustand wahr wäre. Damit haben sie die Grenzen des Sinns überschritten. Man kann die Betonung auch anders legen: Metaphysische Sätze sollen notwendige Fakten beschreiben. So erklärt der theoretische Interpret Schroeder (2006, S. 99) es folgendermaßen, dass Wittgenstein metaphysische ethische Sätze als unsinnig qualifiziert hat: „One would not say that murder or gratuitous cruelty, for instance, just happen to be bad, but might have been good had things turned out differently. Thus moral (and aesthetic) value judgements violate the bipolarity requirement for meaningful propositions. Moreover, the Tractatus allows only descriptive language, but moral judgements are irreducibly prescriptive.“ Damit wird Wittgensteins Philosophie plötzlich ungelenk. „According to the Tractatus, there are indeed metaphysical truths, many of which have been paraded in the book. But any attempt to state them, including that of the Tractatus, is doomed to transgress the bounds of sense“ (Hacker 1996, S. 35). Metaphysische Wahrheiten können nach dieser Lesart also zur Schau gestellt, aber nicht gesagt

2.1 Das Tractatus-Paradoxon

65

werden. Es gibt also kuriose Pseudo-Sätze, die etwas sagen würden, wenn sie denn nur wohlgeformt wären, obwohl ihre Wohlgeformtheit eine schiere Unmöglichkeit ist. Damit wird das Paradoxon nicht eigentlich aufgelöst, sondern als Nebeneffekt entschärft, der die geniale Kritik an Frege und Russell eigentlich gar nicht sonderlich beeinträchtigt. Dennoch bleibt es eine enorme Unstimmigkeit im Zentrum von Wittgensteins Philosophie, die in einer sorgfältigen Interpretation eigentlich nicht so hingenommen werden kann. „Mr Wittgenstein manages to say a good deal about what cannot be said, thus suggesting to the sceptical reader that possibly there may be some loophole through a hierarchy of languages, or by some other exit. […] I confess that it leaves me with a certain sense of intellectual discomfort“ (Russell 2001, S. xxiii-xxiv). Lösungsvariante 2: Resolute Lesarten Das von Russell angesprochene intellektuelle Unbehagen über eine Philosophie, in der aus formellen Gründen Unsagbares irgendwie informell doch gesagt wird, wird von den resoluten Interpreten ernst genommen. Sie glauben, dass man Wittgenstein erst dann versteht, wenn man in den sauren Apfel beißt und akzeptiert, dass Wittgenstein mit Unsinn wirklich einfach Unsinn (vgl. TLP, S. 9) meint. Während die Theoretiker also sagen würden, dass die metaphysischen Sätze des Tractatus gegen formelle Kriterien verstoßen, aber ansonsten Inhalte vermitteln, so glauben die Resoluten, dass die Sätze auch keinen informell kommunizierbaren Inhalt haben. Die Resoluten wollen das Paradoxon also auflösen, indem sie bejahen, dass die Sätze des Tractatus eben gar keinen Inhalt haben. Es sind lediglich Sätze, die mit Sinn-Illusionen verknüpft sind. Die eigentliche Strategie, die Wittgenstein im Tractatus verfolgt, besteht demnach darin, dass der Leser sich in die dort dargestellten Sinnillusionen stürzt und versucht sie durchzudenken, bis er zu dem Punkt gelangt, dass er einsieht, dass alle Versuche über Metaphysik zu reden gegen die normalen Ansprüche an sinnvolle Sprache verstoßen, so dass er zur Einsicht gelangt, dass die Metaphysik ein verfehltes Projekt ist. Die traditionellen theoretischen Interpreten halten demnach die Position, die Wittgenstein als unsinnig angreift, nämlich die Abbildtheorie der Sprache, irrigerweise für die Position, die Wittgenstein vertritt. Ein paradigmatisches Beispiel für diesen Irrweg ist für sie Ascombe. „I am rejecting an idea that was put very clearly by Elizabeth Ascombe: that there are some sentences which are nonsense but which would say something true if what they are an attempt to say could be said“ (Diamond 2000, S. 158). Sie wehren sich gegen die Idee, dass es bestimmte Sätze gibt, die syntaktisch nicht wohlgeformt sind und auch nicht in wohlgeformte Sätze übersetzt werden können, die aber dennoch – in mysteriöser Weise – auf unsagbare Wahrheiten verweisen.

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2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

Insofern die resolute Lesart versucht, ein Paradoxon zu vermeiden, dürfte der prinzipielle philosophische Wert des Ansatzes zunächst wenig kontrovers sein. Es stellt sich aber die Frage, ob die resolute Lesart wirklich die Kraft hat, dieses Ziel zu erreichen. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, was mit dem resoluten Ansatz nicht gemeint sein kann. Wittgenstein redet davon, dass die Sätze, welche die Grenzen des Sinns überschreiten, einfach Unsinn sind. Hier sticht das Wort „einfach“ ins Auge. Es gibt demnach nur eine Art des Unsinns. Alle unsinnigen Sätze sind demnach auf einer Stufe. Sie sagen demnach alle ein und das selbe, nämlich nichts. Cora Diamond affirmiert nun, dass die Sätze im Tractatus in exakt der Weise Unsinn sind, wie die Zeichenkombination piggly wiggle: „[W]henever someone wanted to say something metaphysical, […] you show him that, as far as the meaning goes, ‚piggly wiggle‘ would do as well as some word he used“ (Diamond 2000, S. 155). Aber der Versuch, Wittgenstein in dieser Weise „ganz wörtlich“ auszulegen, führt offenbar zu nicht überzeugenden Ergebnissen. Wenn statt traditioneller Begriffe in metaphysischen Sätzen auch einfach „piggly wiggle“ stehen könnte, dann drängt sich als konsequente Auslegung zunächst eine auf, die offensichtlich falsch ist. Schlagen wir den Tractatus irgendwo auf und betrachten den erstbesten unsinnigen, metaphysischen Satz: „Die Substanz der Welt kann nur eine Form und keine materiellen Eigenschaften bestimmen“ (TLP 2.0231). Beim Versuch in die Radikalität des resoluten Denkens einzusteigen, ist man vielleicht versucht, so einen Satz, der ja einfach Unsinn sein muss, in anderen Unsinn zu übersetzen, der gleichermaßen einfach Unsinn ist: „Die piggly der tiggle kann nur Clow und keine nennhaften wigglyxxxztztfc bestimmen.“ Bei solchen Sätzen ist es überhaupt nicht klar, wie man sie an philosophische Probleme, die im Kontext der Werke von Frege und Russell diskutiert werden, anschließen könnte. So schlicht kann man also die Gegebenheit von einfachem Unsinn jenseits der Grenze der Sprache nicht verstehen. Aller Betonungen der eigenen geradlinigen Radikalität und des eigenen Mutes, der darin besteht, dass man nicht vor den Konsequenzen von Wittgensteins Philosophie kneift, zum Trotz, muss auch Cora Diamond schließlich bejahen, dass ihre Position letztendlich doch nicht so streng und entsagend ist, wie das Konzept des einfachen Unsinns nahelegt. „It looks as if [what I’m doing] is something that I should not be doing at all, given that it follows from ascribing to Wittgenstein an austere view of nonsense (the view that all nonsense is just nonsense) that there is no articulating of the meaning of a particular bit of nonsense“ (Diamond 2000, S. 165). Ihre Antwort auf diese Herausforderung lautet: „[T]he situation is more complex than that“ (Diamond 2000, S. 165).

2.1 Das Tractatus-Paradoxon

67

Dass eine philosophische Position komplex ist, ist natürlich an sich kein Argument gegen sie. Problematisch ist jedoch, dass die resolute Position nun teilweise die intellektuell unbehaglichen Kompromisse der sogenannten orthodoxen Lesarten zu wiederholen scheint. Die Orthodoxen unterscheiden zwei Arten von Unsinn: Auf der einen Seite steht gewissermaßen reiner Unsinn, der nichts sagt, und auf der anderen Seite Unsinn, der zwar gegen die Satzform verstößt, aber auf eine unsagbare Wahrheit verweist. Wer nun erwartet, dass die Resoluten so eine Aufspaltung des einfachen Unsinns in zwei Arten von Unsinn nicht vornehmen, und sich gleichermaßen darüber wundert, wie diese resolute Haltung nicht das gesamte Philosophieren unterminieren soll, der wird sowohl enttäuscht als auch bestätigt. Die Resoluten „erkaufen“ sich die Möglichkeit des Weiterphilosophierens damit, dass sie auch zwischen zwei verschiedenen Arten des einfachen Unsinns unterscheiden. Es gibt für die Resoluten Unsinn, der in der Philosophie eine produktive Rolle spielt und Unsinn, der dieses nicht tut. Auch wenn für Diamond die unsinnigen Sätze ur-unsinnig sind und insofern unverständlich sind, so kann man doch die Person, welche den Unsinn äußern will, durch Nutzung der eigenen Vorstellungskraft verstehen. Die Möglichkeit, zu behaupten, dass die entsprechenden Sätze an sich einfach Unsinn sind, den man auch nicht verstehen kann, der aber dennoch produktiv ist, wird also damit erkauft, dass die Position bezogen wird, dass dennoch die Person, die den einfachen Unsinn äußert, verstanden werden kann. Die Orthodoxen suchen sowohl die Verständlichkeit als auch die Unverständlichkeit des Unsinns in der Satzform. Die Resoluten suchen die Unverständlichkeit in der Satzform und die Verständlichkeit im Sprecher. Diese strikte Trennung zwischen dem verstehbaren Sprecher und seinen unverstehbaren Sätzen scheint zunächst nicht gut in den Kontext des Tractatus zu passen. Die Sätze sind ja sozusagen Teil des Sprechers, den es nur gibt, weil es den Sprecher gibt. Schon im Tractatus wird der Gebrauch der Sprache als entscheidendes Kriterium behandelt, durch das sich zeigt, was mit einem sprachlichen Zeichen gemeint ist: „Was in den Zeichen nicht zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre Anwendung.Was die Zeichen verschlucken, das spricht ihre Anwendung aus“ (TLP 3.262). Von resoluter Seite wird nun aber anerkannt, dass jedes Satzzeichen prinzipiell einen sinnvollen Satz darstellen kann, da Zeichen einfach die Bedeutung haben, die man ihnen gibt. „A sentence that is meaningless is not any special kind of sentence; it is a symbol which has the general form of a proposition, and which fails to have a sense simply because we have not given it any“ (Diamond 2000, S. 151).

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2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

Worin zeichnen sich dann unsinnige Sätze also aus, die man nicht verstehen kann, obwohl man ihren Sprecher verstehen kann? Es sind Sätze, an die bestimmte Illusionen von Sinn gekoppelt sind: Sätze, die keine Bedeutung haben, da ihnen keine Bedeutung gegeben wurde, die aber doch ein seltsamer Schein von Bedeutung umgibt. Woher kommt also dieser illusionäre Nebel, der mit einer Bedeutung verwechselt wird? Diamond verweist auf zwei gewichtige Ursachen. Erstens ist die von Frege forcierte Unterscheidung zwischen Logik und Psychologie hier relevant. Die Bedeutung eines Satzes ist nämlich unabhängig von den psychischen Erlebnissen, die der Sprecher hat, während er einen Satz sagt. Die logische Rolle des Wortes „grün“ in den Sätzen „Herr Grün ist angekommen“ und „Er kocht mit grünen Tomaten“ ist radikal anders. Selbst wenn der Sprecher beider Sätze in beiden Fällen des Sprechens identische psychische Begleiterscheinung hat, nämlich dass er beim Aussprechen des Wortes an eine grüne Fläche denkt, hat das absolut keinen Einfluss auf die logische Rolle des Wortes. Das verdient betont zu werden, da es für viele Menschen intuitiv ist, zu glauben, dass Worte sich bedeutungsmäßig auf so etwas wie innere Bilder beziehen. The mental accompaniments of a sentence are irrelevant to its logical characteristics. And yet it is exactly those familiar mental accompaniments of the sentence that may give us the illusion that we mean something by a sentence which contains some familiar word, even though the word is not being used in its familiar logical role, and has not been given a new assignment of meaning (Diamond 2000, S. 159).

Die mentalen Begleiterscheinungen, die beim Nutzen von Wörtern auftreten, können also Sinnillusionen hervorrufen. Das geschieht dadurch, dass man ein Wort, das man sinnvoll in einem bestimmten logischen Kontext benutzt, in einen neuen Kontext überträgt, in dem für das Wort noch keine Bedeutung definiert wurde. Man übertragt also die Worthülse in einen neuen logischen Kontext und verliert damit die Bedeutung des Wortes, verliert aber nicht die mentalen Begleiterscheinungen. Dadurch entsteht die Illusion einer neuen Bedeutung. Nun können wir den Witz der Position, dass die metaphysischen Sätze reiner Unsinn der Art „piggly wiggle“ sind, besser sehen. Die logische Rolle des Wortes im neuen Kontext ist genauso wenig definiert wie die Rolle der Worte „piggly wiggle.“ Aber die psychischen Begleiterscheinungen des metaphysisch irreführenden Wortes sind andere Begleiterscheinungen als bei „piggly wiggle.“ Und diese Begleiterscheinungen beim metaphysischen Wort kann man durch empathisches Nutzen der Vorstellungskraft, so Diamond, nachvollziehen. To want to understand the person who talks nonsense is to want to enter imaginatively the taking of that nonsense for sense. [The Tractatus demands of its readers] a kind of imagi-

2.1 Das Tractatus-Paradoxon

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native activity, an exercise of the capacity to enter into the taking of nonsense for sense, of the capacity to share imaginatively the inclination to think that one is thinking something in it. If I could not as it were see your nonsense as sense, imaginatively let myself feel its attractiveness, I could not understand you (Diamond 2000, S. 157– 158).

Die Anfälligkeit für die oben beschriebene Illusionen ergibt sich jedoch aus einer zweiten noch tiefer liegenden Verwirrung: „The attractiveness of the words expressive of philosophical confusion arises out of the imagining a point of view for philosophical investigation“ (Diamond 2000, S. 159). Ausgedrückt findet Diamond diese Illusion in den ersten Sätzen nach dem Vorwort im Tractatus: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ (TLP 1). „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge“ (TLP 1.1). „With those sentences we imagine a point of view from which we can consider the world as a whole“ (Diamond 2000, S. 160). Diamond führt den Reiz, der zur Verwirrung der logischen Rolle eines Wortes mit den eigentlich logisch irrelevanten psychischen Begleiterscheinungen beim Benutzen des Wortes führt, auf den Reiz des externen Standpunkts zurück. Woher dieser Reiz wiederum kommt, wird nicht genauer ausgeführt. Dabei stellt sich natürlich sofort die Frage: Warum ist es genau diese Illusion, die seit Jahrtausenden eine enorm große Faszination auf Philosophierende – und nicht nur diese – ausübt? Worin liegen ihre Wurzeln? Warum wirkt sie so wichtig, dass Sokrates und Platon glauben, es ist wichtiger von der externen Perspektive aus ein gutes Leben zu führen als das schiere Überleben zu sichern? Was ist die Kraftquelle dieser Illusion? Als Illusion muss sie auf Wirkliches, das die Illusion hervorbringt, zurückgeführt werden. Aber worin genau besteht dieses Wirkliche, aus dem die Idee eines radikal externen Standpunkts entnommen werden kann? Ist diese Idee nur eine verwirrte Weise, relativ externe Standpunkte des Alltags weiterzudenken und zu überhöhen – auf einer Straße in einem Ort stehen vs. auf einem Berg stehen und den Ort von außen überblicken – oder geschieht mit der Idee des radikal externen Standpunkts ein „Qualitätssprung“, in dem sich eine ur-eigene Idee zeigt? Auch der Status des vorstellenden Einfühlens in die Sinnillusionen des Anderen bleibt düster. Da der in Illusionen verfangene Mensch ja keine sinnvollen Sätze denkt, so muss das Verstehen des Anderen auf eine Weise ablaufen, die den Reiz des Unsinns versteht. Aber was ist der Status des Verstehens des Reizes des Unsinns? Dieser Status bleibt ungeklärt. Kommen wir damit zur vielleicht wichtigsten Frage. Angenommen die resolute Lesart trifft in den bislang erörterten Punkten den Kern von Wittgensteins Vorgehen. Wie muss man sich den Übergang von der Illusion zum Zerfallen der Illusion genau vorstellen? Wie beschreitet man diesen Weg?

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2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

Laut James Conant (2000) soll sich der Leser zunächst an den Gang des Tractatus, wie er sich traditionell vorgestellt wird, anschließen. Der Leser soll sich in philosophische Argumente stürzen und aus Prämissen über das Wesen von Begriffen und der allgemeinen Satzform herleiten, dass es bestimmte Gedanken gibt, die nicht logisch ausgedrückt werden können. So on the reading of the Tractatus suggested here, what is to happen, if the book suceeds in its aim is not that I (1) succeed in conceiving of an extraordinary possibility (illogical thought), (2) judge “it” to be impossible, (3) conclude that the truth of this judgement cannot be accommodated within (the logical structure) of language because it is about (the logical structure of) language and (4) go on to communicate (under the guise of only “showing” and not “saying” “it”) what it is that cannot be said. Rather, what is to happen is that I am lured up all four rungs of the ladder and then: (5) throw the entire ladder (all four of the previous rungs) away (Conant 2000, S. 196).

Der Leser soll also zunächst so vorgehen wie der orthodoxe Leser, dann aber das ganze orthodoxe philosophische Projekt, in das er verstrickt war, aufgeben. Aber wieso genau soll es an dieser Stelle über den Leser kommen, dass er das Projekt der Orthodoxen aufgibt? Was genau passiert da im Leser, das diesen Wechsel der Anschauung bewirkt? Conant sagt, das Ziel, dass der Leser „comes to understand what the work means to say […], results not in doctrine but in elucidations“ (Conant 2000, S. 197). Der Leser soll also zu einem Verständnis gebracht werden. Er soll von einem defizitären Zustand ohne Verständnis zu einem Zustand mit Verständnis gebracht werden. Was ist nun also das Heilmittel, das dieses Verständnis kreieren kann? Conant bringt es in folgenden Zeilen auf den Punkt. [T]he attainment of this recognition depends updon the reader’s actually undergoing a certain experience […]: the reader’s experience of having the illusions of sense (in the “premises” and “conclusions” of the “argument”) dissipate through its becoming clear to him that (what he took to be) the philosophische Sätze of the work are Unsinn (Conant 2000, S. 197).

Es hängt also letztendlich alles an einer Erfahrung, die mit der Überzeugung einhergeht, dass es nun klar ist, dass die traditionellen philosophischen Sätze Unsinn sind. Während man sich zuerst noch als traditionellen orthodoxen Leser versteht, tritt schlussendlich die Erfahrung auf und dann ist es klar. Die Lesart Wittgensteins, welche sich am strengsten gegen die Idee „mysteriöser“ unsagbarer Wahrheiten stellt, mündet ironischerweise in etwas, das durchaus an einen kuriosen subjektiven Mystizismus erinnert. Das Hereinbrechen der Erfahrung der Unsinnigkeit der philosophischen Sätze wird einfach als „Beweis“ für die tatsächliche Unsinnigkeit behandelt. Wie unterscheidet sich der resolute Leser des

2.1 Das Tractatus-Paradoxon

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Tractatus also z. B. von einem Denker wie Thomas von Aquin, der am Ende seines Lebens eine mystische Erfahrung hatte, durch die er zur Überzeugung kam, dass seine Vereinigung von aristotelischer Philosophie und christlichem Dogma nur leeres Stroh ist (vgl. Forscher 2006, S. 22)? Ein Unterschied ist natürlich, dass die Resoluten die Erfahrung durch das Lesen des Tractatus gewissermaßen „kontrolliert“ herbeiführen wollen (während Thomas von Aquin seine mystische Erfahrung spontan während einer religiösen Zeremonie hatte). Gleichwohl kann die Erfahrung der Resoluten offenbar nicht im strengen Sinne kontrolliert herbeigeführt werden. Der Sprung vom Text des Tractatus zur Erfahrung bleibt ein Sprung, der von keiner denkerischen Notwendigkeit erzwungen wird. Damit bleibt die Erfahrung radikal im Bereich der nicht-verbindlichen Subjektivität. Es zeigt sich kein externer Standard, an dem man die Validität der Erfahrung messen kann. Zuerst erfährt man philosophische Sätze als sinnvoll, später als unsinnig. Zwei Erfahrungen stehen gegeneinander. Insofern der externe Standard fehlt, um die Validität beider Erfahrungen zu messen, bleibt die Erfahrung der Unsinnigkeit philosophischer Sätze gewissermaßen mystisch oder quasi-mystisch. Während man also an der resoluten Lesart würdigen muss, dass sie Wittgensteins Text in der Hinsicht ernst nimmt, dass Wittgenstein im Tractatus eben explizit gerade nicht als traditioneller Metaphysiker auftritt, der nur insofern von der Tradition abweicht, als er Metaphysik aus formellen Gründen für unaussprechbar hält, so ist die resolute Lesart doch keine tragfähige Alternative. (1) Das Paradoxon, das durch resolute Konsequenz vermieden werden soll, scheint sich über Umwege wieder einzuschleichen, wenn z. B. argumentiert wird, dass die Sätze unsinnig und unverständlich sind, es aber dennoch verstanden werden kann, was der Sprecher mit diesen Sätzen illusionärerweise zu meinen meint. Die Illusionen des Sprechers drücken dann zwar nicht – wie die Theoretiker es sagen würden – unsagbare Wahrheiten aus, aber verständlich sind sie über den Umweg des Sprechers ja doch. Letztendlich vertreten die Resoluten damit auch die Gegebenheit von „irgendwie-doch-sinnvollem-Unsinn“. (2) Nach der resoluten Lesart ist das Kriterium, an dem man den Erfolg des Philosophierens misst, eine Erfahrung, in der die traditionelle Philosophie sich plötzlich als unsinnig zeigt. Damit stehen zwei Erfahrungen nebeneinander: (a) Die Erfahrung, dass metaphysische Sprache sinnvoll scheint; (b) die Erfahrung, dass metaphysische Sprache unsinnig scheint. Es fehlt aber ein Grund dafür, warum die Erfahrung b unbedingt zu privilegieren ist.

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2.1.2 Die gemeinsame Wurzel substanzieller und resoluter Lesarten In der resoluten und theoretischen Lesart treten also analoge Probleme auf. Das liegt daran, dass sie, wenn man so will, zwei Zweige einer Wurzel sind. In der theoretischen Lesart besteht das rationale Unbehagen darüber, dass Wittgenstein paradoxerweise das Unsagbare sagt. Die Vermeidungsstrategie besteht darin, davon auszugehen, dass einige Sätze eigentlich unsinnig sind, aber irgendwiedoch auf Wahrheiten hinweisen. Es wird also zwischen schierem Unsinn und tiefem Unsinn unterschieden. In der resoluten Lesart tritt das Problem in einer Variation auf. Zwar vertreten sie nicht die These, dass Wittgenstein unsinnige Sätze sagt. Aber auch sie können es nicht dabei belassen, dass der Tractatus einfach nur eine Sammlung von Unsinn ist. Sie unterscheiden zwischen reinem Unsinn, der eine erläuternde Wirkung hat und reinem Unsinn, der diese Wirkung nicht hat. Aber auch die resolute Position ist nicht geradlinig, da davon ausgegangen wird, dass man den Unsinn zwar nicht verstehen kann, aber die Person, die den Unsinn sagen will. Und so wird doch auf ein Schlupfloch zurückgegriffen, das den Unsinn in gewisser Weise wieder verständlich macht. Der Unsinn ist zwar nicht direkt und eigentlich verständlich, aber indirekt und uneigentlich schon, da die Person durch Nutzen der Vorstellungskraft verstanden werden kann. Das Problem ist in beiden Lesarten eigentlich dasselbe. Wenn man davon ausgeht, dass die entsprechenden Sätze Wittgensteins eigentlich Unsinn sind und man – in Anlehnung an bestimmte Weisen des Alltagsgebrauches des Wortes „Unsinn“ – darunter versteht, dass die Sätze eigentlich keinerlei Inhalt, keinerlei (feste, kommunizierbare) Bedeutung haben und als unsinnige Sätze eigentlich bedeutungsmäßig radikal leer sind, da sie eigentlich einfach nichts bedeuten, dann kann man ihnen nicht in kohärenter Weise wieder einen Inhalt, mit dem sich produktiv umgehen lässt, andichten. Es ist, als würde man versuchen, die Gleichung „x*0=1“ zu lösen. Aber es ist schier unmöglich einen Wert für x zu finden, der mit 0 multipliziert 1 ergibt, da die Multiplikation mit Null dazu zwingt, dass auch das Ergebnis nichts Anderes als Null sein kann. Analog ist es unmöglich unsinnigen Sätzen, die keinerlei Bedeutung haben sollen, wieder Bedeutung zuzuführen. Ähnlich wie aus nichts schlichtweg nichts wird, lässt sich auch so verstandenen unsinnigen Sätzen keine Bedeutung mehr zuführen.Wenn das so ist, dann ist es ein hoffnungsloses Projekt das Tractatus-Paradoxon auf obige Weise zu lösen, sei es in theoretischer oder resoluter Wendung. Die Wurzel beider Lesarten ist diese: Der Begriff Unsinn legt in gewisser Weise eine radikale und absolute Verneinung von so etwas wie Bedeutung oder Inhalt nahe.Wenn man an einen Satz denkt wie „Die Tasse steht auf dem Tisch“ und den Satz sinnvoll nennt und sich dann fragt, was im Kontrast dazu ein un-sinniger Satz

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ist, dann denkt man leicht an einen Satz in dem alles das, was man in diesem sinnvollen Satz erblickt, radikal abwesend ist. Der Witz ist, dass Wittgenstein – laut der ordnenden Lesart – das verneinende Präfix un in einer relativen Weise meint, so dass es eine relative Verneinung ausdrückt. Ähnlich wie Schopenhauer (in Anlehnung an seine hinduistischen und buddhistischen Helden) mit dem Nichts, welches das Ziel des Lebens darstellen soll, ein relatives Nichts im Vergleich zur normalen Alltagswelt und nicht ein absolutes Nichts meint, meint Wittgenstein mit Unsinn etwas, das bestimmte Eigenschaften von (in seiner Terminologie) sinnvollen Sätzen nicht hat, aber eben keinesfalls eine absolute Verneinung von allem, was auch in sinnvollen Sätzen gefunden werden kann.

2.1.3 Die ordnende Lesart des Tractatus Die theoretische und die resolute Lesart sind zwei Äste einer Wurzel, die beide in nicht überzeugenden Extrempositionen münden. Nach der resoluten Lesart ist die traditionelle Philosophie reiner Unsinn, der eigentlich nicht verstanden werden kann, und Wittgenstein ein absolut radikaler Anti-Metaphysiker. Nach der theoretischen Lesart ist Wittgenstein ein völlig traditioneller Metaphysiker, der aber aus schwachen Gründen manchmal zu einer inkonsistenten antimetaphysischen Sprache neigt. Gerecht wird man Wittgenstein, wenn man ihn zwischen diesen Extremen verortet: Er glaubt zwar, dass die Metaphysik in ihrer traditionellen Ausführung verwirrt ist (da sie nach dem Modell einer Wissenschaft gedacht wird), und ist somit in Bezug auf das Projekt, welches traditionell Metaphysik genannt wird, Anti-Metaphysiker. Er glaubt aber auch, dass in diesem verwirrten Projekt wichtige Wahrheiten anvisiert werden, die aus dieser Verwirrung befreit werden sollten. Daher drückt Wittgenstein eben auch Respekt für das metaphysische Projekt aus, in welchem man versucht, die Grenzen der Sprache zu sprengen, und er sieht das Projekt nicht einfach als lächerliche, traditionelle Verwirrung: „This running [in metaphysics] against the walls of our cage is perfectly, absolutely hopeless. […] But it is a document of a tendency in the human mind which I personally cannot help respecting deeply and I would not for my life ridicule it“ (LE, S. 44). Wittgenstein unterscheidet im Tractatus zwischen sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen. Der Bereich der sinnvollen Sätze ist die Naturwissenschaft. Der Bereich der sinnlosen Sätze ist die Logik. Die unsinnigen Sätze drücken Ethik, Ästhetik und Philosophie aus. Laut den orthodoxen Lesarten entwickelt sich die Unterteilung aus Wittgensteins Theorie des sinnvollen Satzes heraus. Zuerst war Wittgensteins Theorie des sinnvollen Satzes da, bei der er vor allem an einfache,

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beschreibende Aussagen gedacht hat. Dann hat er bestimmte Bereiche der Sprache nachträglich, weil sie nicht zur Theorie passen, als sinnlos bzw. unsinnig qualifiziert. Laut den resoluten Interpreten ist die Unterteilung ein Beispiel für eine zu überwindende illusionäre Tendenz, in der man meint, von außen Aussagen über die ganze Sprache machen zu können. Laut der ordnenden Lesart will Wittgenstein mit dieser Dreiteilung auf drei verschiedene, vor-philosophisch zugängliche Sprechweisen verweisen. Diese drei verschiedenen Arten, nach denen bestimmte Teile der Sprache im Alltag funktionieren, will er im Tractatus klarer hervortreten lassen. Das heißt: Man soll nicht unsinnige Sätze wahrnehmen als wären sie sinnvolle bzw. sinnlose, usw. Denn philosophische Probleme/Paradoxien entstehen genau dann, wenn Sätze einer bestimmten Art nach dem Modell einer anderen Art verformt werden. Damit löst sich das vermeintliche Tractatus-Paradoxon auf: Mit unsinnigen Sätzen ist eine ganz bestimmte Weise Sprache zu benutzen gemeint, die auch an sich völlig in Ordnung ist. Die Bemerkung „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist“ (TLP 6.54), spielt eben auf eine sprachverwirrte Situation an, in welcher unsinnige Sätze als sinnvolle Sätze gesehen werden. Damit sich diese Lösung als plausibel zeigt, ist nun zu klären, was es genau bedeutet, wenn Wittgenstein mit Unsinn nur eine relative Verneinung meint. Laut der ordnenden Lesart sind zwei Ideen nützlich dabei, zu entschlüsseln, was Wittgenstein mit seiner Terminologie eigentlich genau meint. (1) Man muss „Sinn“ zunächst als Richtung denken. Dann muss man betrachten, wie Sätze in das menschliche Leben eingreifen. Man muss betrachten, wie bestimmte Sätze im Leben funktionieren. Es ist zu fragen, wie bestimmte Sätze die Handlungen von angesprochenen Menschen in eine andere Richtung lenken. Inwieweit ein Satz Sinn hat, hängt dann daran, inwieweit der Satz selbst in die Richtung des Lebens ändernd eingreift. (2) Die Position der ordnenden Lesart ist es wie gesagt, dass Wittgenstein auf drei vor-philosophisch zugängliche Sprechweisen verweist. Es ist also nützlich, sich zu fragen, in welchen alltäglichen Sprechsituationen man ohne philosophische Hintergedanken Äußerungen als sinnvoll, sinnlos oder unsinnig qualifiziert. Bereich 1 – Sinnvolle Sätze – Die Adresse von N.N. ist so-und-so. – Ich bin doch gar nicht für N.N. zuständig. Warum sagst du mir das? – Weil heute du eine Lieferung zu N.N. bringen sollst. – Ah, dann ergibt diese Information Sinn.

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Sinnvolle Sätze sind von jeder kompetenten Person in der Sprachgemeinschaft prinzipiell unmittelbar verständlich, informieren über eine kontingente Faktenlage, sind in die zielgerichtete, vorhersehbare Geschäftigkeit des Alltags eingebunden und stehen in klaren logischen Beziehungen zu anderen Sätzen. Anders gefasst: Sie sind sinnvoll, insofern sie richtungsweisend sind. Die Person, die einen neuen sinnvollen Satz vernimmt, kann damit etwas so anfangen, dass sie ihr Handeln neu ausrichtet und den Erfolg des Handelns absehen kann. Für den Manager, der Informationen über neu entdeckte Ölquellen erhält, hat sich die ihm erschlossene Welt nun so verändert, dass er zielgerichtete Anstrengungen, mit vorhersehbarem Erfolg, unternehmen kann, um die Ölquellen auszubeuten. Ebenso weiß der Sprecher aus dem obigen Dialog, wie er sein Handeln auf die Person, mit der er zu einem Termin verabredet ist, ausrichten muss. Diese Art der Kommunikation ist potenziell reibungslos, sie kommt normalerweise nicht ins Stocken und es kommt normalerweise nicht zu einem radikalen Abbruch. Eine Person, die beispielsweise nicht versteht, wie sie zu einer Adresse kommt und es für unverständlich hält, warum ein Unternehmen, das Öl fördert, Informationen über Ölquellen nutzt, würde als nicht geistig gesund aus der Sprachgemeinschaft ausgeschlossen werden. Ein weiterer sinnvoller und somit auch informativer Satz wäre „Es herrscht Schienenersatzverkehr zwischen Ostkreuz und Karlshorst.“ Er ist durch Besichtigung der Bahnhöfe, Konsultieren von Apps usw. in der öffentlichen Welt überprüfbar und greift in vorhersehbarer Weise ins Leben ein. Es kann vorhergesehen werden, dass Menschen, die sich mit der Bahn zwischen den Orten bewegen wollen, aufgrund der Information nun auf alternative Vehikel umsteigen. Weiterhin sind die logischen Beziehungen zwischen sinnvollen Sätzen klar: Wenn der Satz „Es herrscht SEV zwischen Ostkreuz und Karlshorst“ wahr ist, dann ist als Implikation auch der Satz „Es herrscht SEV zwischen Friedrichshain und Lichtenberg“ wahr. Ostkreuz und Karlshorst sind somit Orte im öffentlichen logischen Raum; sinnvolle Sätze beziehen sich immer auf Faktenlagen im logischen Raum (vgl. TLP 3.42). Bereich 2 – Sinnlose Sätze – Ohje, es regnet! – Nunja, Regen ist Regen und kein Regen ist kein Regen. Dabei verhält es sich so, dass es entweder regnet oder nicht regnet. – Sinnlose Bemerkung! Das ist mir auch klar. Sinnlose Sätze drücken aus, was der Sprecher ohnehin schon verstehen muss, um sinnvolle Sätze äußern zu können. Der Satz „Es regnet“ könnte via Telefon übermittelt eine nützliche Information darstellen und somit als sinnvoller Satz

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fungieren. Dass Regen aber nicht gleichzeitig kein Regen sein kann, wird dabei vorausgesetzt. Ohne es würde ja das ganze Sprechen seine Festigkeit verlieren und durch eine unendliche Vieldeutigkeit ins Unverständliche zerfließen. Die sinnlosen Sätze sind sinnlos, insofern es in der normalen Sprachpraxis überflüssig ist, sie auszusprechen, und sie nur dann eine Funktion haben, wenn ein neuer Sprecher erst in die Praxis eingeführt wird. Sie zeigen die feste Form der Sprache an, die sinnvollen sprachlichen Zügen zuvorgeht. Die Sinnlosigkeit der Sätze zeigt dabei natürlich nicht ihre Unverständlichkeit an, sondern, dass im Normalfall überhaupt keine Anstrengung gemacht werden muss, um sie zu verstehen. Sie verändern nicht die Richtung der Lebenden, da die sinnlosen Sätze eben immer und notwendig gelten und so einen Rahmen für alle Richtungsänderungen überhaupt abgeben. Die „abstrakte“ Form des logischen Raums wird also durch sinnlose logische Sätze angezeigt. „Entweder es herrscht SEV oder es herrscht kein SEV“ zeigt z. B. aspektweise die Form des logischen Raums an. Solche logischen Sätze werden somit in Abgrenzung zu sinnvollen Sätzen negativ als sinnlos charakterisiert. Sie sind sinnvollen Sätzen ähnlich, insofern sie von einem Sprecher verstanden werden müssen, wenn dieser als kompetent anerkannt werden soll. Es fehlt, dass sie spezifische Faktenlagen abbilden. Es fehlt , dass sie in die Richtung des Lebens eingreifen. Im Gegensatz zu Informationen, die überraschen können, müssen logische Sätze prinzipiell immer schon als gültig erkannt sein. Die sinnlosen Sätze sind aber immer noch sinnförmig, insoweit klare logische Beziehungen zwischen sinnlosen logischen und sinnvollen naturwissenschaftlichen Sätzen bestehen. Bereich 3 – Unsinnige Sätze Wittgenstein spielt mit dem Begriff Unsinn nicht auf die auch mögliche alltagssprachliche Verwendung an, in der Unsinn als schiere Negierung der Verständlichkeit begriffen wird, sondern auf eine andere. Betrachten wir eine tatsächliche alltagssprachliche Verwendung von „Unsinn“ in einem Kontext mit ethischer, ästhetischer und philosophischer Relevanz. Carl Gustav Jung (1995) verweist in einem Text, in dem er die Relevanz dessen, was er analytische Psychologie nennt, deutlich machen will, auf einen seiner Patienten. Jung versucht einen Traum des Patienten zu deuten. Im Traum besteigt der einen hohen, steilen Berg. Zuerst erscheint dem Träumer der Aufstieg sehr mühsam. Dann zieht ihn die Bergspitze aber immer mehr an. „Er stieg immer rascher, und allmählich geriet er in eine Art Ekstase. Es war ihm, als flöge er empor, und als er auf den Gipfel gelangte, da hatte er das Gefühl, alle Schwere verloren zu haben, und er schritt über den Gipfel hinaus in die leere Luft. Hier erwachte er“ (Jung 1995, S. 74). Im Gespräch erfährt Jung, dass der Patient erfahrener Bergsteiger ist, der mit besonderer Lust gefährliche Touren aufsucht. Die Gefahr des

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Todes stuft er dabei nicht als gravierend ein, da er den Tod in den Bergen für etwas Schönes hält. Auf diese Gefahr zu verzichten, hält der Patient nicht für überzeugend, da das Leben zu Hause ohnehin nicht lohnenswert sei. Die Ehe ist zerrüttet, der Arbeit ist er überdrüssig. Für Jung zeigte sich nun, dass der Traum Ausdruck der Todessehnsucht des Patienten ist: Da er einerseits noch am Leben hängt, ist der Aufstieg anfangs mühsam. Dieses Hängen am Leben wird dann aber durch die leidenschaftliche Todessehnsucht überwältigt. Nach einigem Schweigen sagte [der Patient] plötzlich: „Nun haben wir ja von ganz anderen Dingen gesprochen. Sie wollten ja meinen Traum deuten. Was halten Sie denn davon?“ Ich sagte ihm ehrlich meine Meinung, daß er nämlich den Tod in den Bergen suche, und daß er bei einer solchen Einstellung größte Gefahr laufe, auch wirklich den Tod zu finden. Er antwortete lachend: „Das ist ja Unsinn. Ich suche im Gegenteil Erholung in den Bergen.“ Es war ganz vergebens, ihm den Ernst der Lage klarzumachen. Ein halbes Jahr später, beim Abstieg von einer höchst gefährlichen Spitze, trat er buchstäblich ins Leere, fiel auf einen unter ihm stehenden Bergführer, den er mit sich riß, und beide fielen zu Tode (Jung 1995, S. 75).

Jung (1995, S. 75) bedauert weiter: „Wieviel moralischen Gewinn hätte der Träumer zum Beispiel aus der Erkenntnis seiner gefährlichen Maßlosigkeit allein schon für sein praktisches Leben ziehen können.“ Dieser Verweis auf die potenziellen Konsequenzen, die aber nicht gezogen wurden, da die unsinnigen Sätze Jungs abgelehnt wurden, verweist auf das Entscheidende an unsinnigen Sätzen. Man muss beim Begriff Sinn an Sinn als Richtung denken. Sinnvolle Sätze – also Sätze, die über Fakten im logischen Raum informieren – geben dem Handelnden eine klare Richtung vor. Ein Reisender fragt sich, an welchem Gleis sein Zug abfährt. Er holt die Information ein und begibt sich dann zum Gleis. Es ist ein glatter Übergang vom informierenden Satz zur informierten Handlung. Jemand, der so einen Übergang nicht machen könnte, hätte nicht die verstandesmäßigen Kapazitäten, um normaler Teil der Sprachgemeinschaft zu sein. Das, was im Wort Unsinn bei Wittgenstein verneint wird, ist dieses klare Vorgeben einer Richtung. Unsinnige Sätze funktionieren nicht so, dass sie in vorhersehbarer Weise in Handlungen der Sprecher eingreifen. Jung hat gegenüber dem Patienten Sätze geäußert, die – und das gehört gerade zur alltäglichen Funktionsweise dieser Sätze – abgelehnt werden können, ohne dass dadurch der Status als kompetenter Sprecher riskiert wird. Es gehört wesenhaft zu unsinnigen Sätzen, dass jene, die sie vernehmen, sich gegen sie sträuben können. Man kann sagen: Es ergibt Sinn/gibt eine klare Richtung vor, einen (wohlbegründeten) sinnvollen Satz zu äußern, da der Sprecher die neuen Fakten in recht vorhersehbarer Weise integrieren wird. Es ergibt keinen Sinn/gibt keine klare Richtung

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vor, unsinnige Sätze zu äußern, da es hier am adressierten Sprecher liegt, wie er diese Sätze aufnimmt, was er mit ihnen tut, ob er überhaupt weiter mit ihnen agiert. Aus der Perspektive von dem, der den Unsinn äußert, ist es in gewisser Weise fast sogar ein un-sinniges (also „vergebliches“) Unterfangen den Anderen zur eigenen Perspektive zu bringen. Der Andere steht entweder von sich aus schon dieser Perspektive wohlwollend gegenüber, so dass es vergeblich (überflüssig) ist, ihn von der Perspektive erst zu überzeugen, oder er steht dieser Perspektive schlichtweg fremd gegenüber, so dass es vergeblich (unmöglich) ist, ihn von der Perspektive zu überzeugen. Unsinnigen Sätze fehlt die Sinnhaftigkeit, da sie nicht von jedem kompetenten Sprecher anerkannt werden müssen, sondern kompetente Sprecher unsinnige Sätze gerade zurückweisen können, da sie keine überprüfbaren Faktenlagen im logischen Raum behaupten, da sie nicht in vorhersehbarer Weise ins Leben eingreifen und auch keine klaren logischen Beziehungen zwischen ihnen bestehen. Wenn man einen laut Wittgenstein unsinnigen Satz wie „Gott befiehlt, dass du deinen Nächsten lieben sollst“ oder „Deute deinen Traum so-und-so und handele danach“ betrachtet, dann gibt es keine klare Technik, mit der sich die Wahrheit des Satzes mit im logischen Raum präsenten Mitteln überprüfen lässt. Es ist unvorhersehbar, wie Menschen darauf reagieren – ob sie sich z. B. missionieren lassen, den Satz gleichgültig hinnehmen oder entschieden zurückweisen. Diese spezifische Sinnhaftigkeit muss den unsinnigen Sätzen fehlen, denn sie zeigen Seinsweisen zum ganzen logischen Raum an. Sie sind nicht notwendige Folge der Logik oder der naturwissenschaftlich erkennbaren und sinnvoll mittelbaren Faktenlage, sondern zeigen Möglichkeiten an, sich zur logischen Welt zu verhalten bzw. sich in die logische Welt einzufügen.

2.2 Auslegung und Ordnung der Sprechweisen Nach dem kurzen Überblick über die drei verschiedenen Sprechweisen, deren Unterschiede durch die Oberflächengestalt der Sätze verborgen wird, soll kurz auf die Genese der Idee einer Art Tiefengrammatik eingegangen werden. Der von Wittgenstein forcierte Gedanke, dass die Oberflächengestalt von Sätzen ihre eigentliche Funktionsweise verschleiert, lässt sich bereits bei drei Denkern feststellen, die Wittgenstein stark beeinflusst haben. Bevor bestimmt wird, wie Wittgenstein im Tractatus die verschiedenen Funktionsweisen der Sätze ordnet, ist zunächst kurz auf seine Vorgänger einzugehen.

2.2 Auslegung und Ordnung der Sprechweisen

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2.2.1 Zweifel an der Oberflächengrammatik – Russell, Frege, Schopenhauer 2.2.1.1 Russell Betrachten wir einen kennzeichnenden Satz der Form „Der/Die/Das F ist G“. Derartige Sätze unterzieht Russell einer semantischen Analyse, die Wittgensteins Konzept der Tiefengrammatik vorbereitet. (S) Die Komponistin von Fachwerk ist Russin. Auf den ersten Blick scheint es ein einfacher Subjekt-Prädikat Satz zu sein. Der Satz, so scheint es, deutet auf ein bestimmtes Individuum, Sofia Asgatowna Gubaidulina, auf welches ein Prädikat zutrifft: Es wird, scheint es, schlicht die Aussage gemacht, dass Gubaidulina Russin ist. In dieser Auffassung wird aber die oberflächliche grammatische Form des Satzes mit der logischen Form des Satzes verwechselt. Die logische Form des Satzes beinhaltet eine Existenzbehauptung (S1), eine Einzigkeitsbehauptung (S2) und eine Eigenschaftsbehauptung (S3). (S1) Es gibt mindestens eine Komponistin von Fachwerk. (S2) Es gibt nicht mehr als eine Komponistin von Fachwerk. (S3) Die Person, von der in (S1) die Rede ist, ist Russin. In logischer Notation sieht es folgendermaßen aus, wenn das Prädikat „… komponierte Fachwerk“ mit F bezeichnet und das Prädikat „… ist Russin“ mit R ausgedrückt wird. (S1) (∃x)Fx. (S2) (x)(Fx→(y)(Fx→y=x)). (S3) (x)(Fx→Rx). Wenn S1– S3 wieder zu einem Satz zusammengefügt werden, ergibt sich S4: (S4) (∃x)(Fx & ((y)(Fy→y=x)&Rx)). Der Kennzeichnungsausdruck die Komponistin kommt im logisch analysierten Satz nicht mehr vor. Der logisch analysierte Satz hat also eine Form, die Philosophierende beim unmittelbaren Betrachten des alltäglich gebrauchten Satzes nicht vermutet hatten. Dieses Gewahrwerden der logischen Form geht nun mit der Lösung einiger philosophischer Rätsel einher. Das Problem, wie sinnvoll über nichtexistierende Dinge gesprochen werden kann, stellt sich im Rahmen der logischen Analyse von kennzeichnenden Sätzen nicht mehr. Das Problem entzündet sich an einem scheinbaren Widerspruch. Ein vermeintlicher Subjekt-Prädikat Satz wie „Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl“ ist verständlich und hat insofern, will man sagen, eine Bedeutung.

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Gleichzeitig bezieht er sich aber auf den gegenwärtigen König von Frankreich, der weder unter den kahlen noch unter den nicht-kahlen Dingen zu finden ist. Der Ausdruck „der gegenwärtige König von Frankreich“ scheint aber ein singulärer Term zu sein, dessen Bedeutung von eben diesem individuellen König abhängig sein müsste. Wenn es nun diesen König nicht gibt, dann, so scheint es, kommt im Satz eine leere Kennzeichnung vor, die es verhindert, dass der Satz einen Wahrheitswert hat. Ein Satz ohne Wahrheitswert verstößt aber gegen das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten. Aber genau das Vorurteil, dass im Satz ein singulärer Term vorkommt, zeigt sich in Russells Analyse ja als falsch. Die logische Form des Satzes lautet. Es gibt mindestens einen gegenwärtigen König von Frankreich. Es gibt nicht mehr als einen König von Frankreich. Welche Person auch immer gegenwärtig König von Frankreich ist, ist kahl. In der logisch analysierten Form des Satzes kommen nur allgemeine Aussagen vor, keine Aussagen, die sich direkt auf ein spezifisches Individuum beziehen. Man kann nun sehen, dass der Satz „Es gibt mindestens einen gegenwärtigen König von Frankreich“ einfach falsch ist.

2.2.1.2 Frege Frege unterscheidet strikt zwischen Begriffen und Gegenständen. „Der Begriff – wie ich das Wort verstehe – ist prädikativ. Ein Gegenstandsname hingegen, ein Eigenname ist durchaus unfähig, als grammatisches Prädikat gebraucht zu werden“ (Frege 2008, S. 48). Ein Satz wie „Russell lehrte Wittgenstein“ setzt sich aus logisch ganz andersartigen Bestandteilen zusammen. Man kann ihn analysieren als bestehend aus der Funktion „… lehrte Wittgenstein“ bzw. „x lehrte Wittgenstein“, die ungesättigt ist, wie sich in der Leerstelle bzw. dem x zeigt, sowie dem Argument „Russell“, das auch alleine stehen kann und den Platz der Leerstelle einnehmen kann. Die Funktion könnte auch als „x lehrte y“ gefasst werden, wobei Russell das Argument für die Stelle x und Wittgenstein das Argument für die Stelle y wäre. Die Unterscheidung von Frege scheint aber durch ein Gegenbeispiel bedroht zu werden. Im Satz „der Begriff ‚Pferd‘ ist ein leicht gewinnbarer Begriff“ tritt der Begriff „Pferd“, so scheint es, als Gegenstand auf. Das ist aber laut Frege ein Irrtum, der sich aus der Oberfläche der Sprache ergibt. Für Frege ist im Satz der Begriff „Pferd“ zwar ein Gegenstand, aber kein Begriff. Er zieht einen ähnlichen Fall als Vergleichsobjekt heran. Ähnliches kommt vor, wenn wir mit Beziehung auf den Satz „diese Rose ist rot“ sagen: das grammatische Prädikat „ist rot“ gehört zum Subjekt „diese Rose“. Hier sind die Worte „das grammatische Prädikat ‚ist rot‘“ nicht grammatisches Prädikat, sondern Subjekt. Gerade

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dadurch, daß wir es ausdrücklich Prädikat nennen, rauben wir ihm diese Eigenschaft (Frege 2008, S. 51).

Wenn man versucht, über ein grammatisches Prädikat etwas auszusagen, dann führt das in bestimmter Weise eben dazu, dass das Prädikat aufhört Prädikat zu sein. Im Satz „Die Lampe leuchtet“ ist „leuchtet“ das grammatische Prädikat. Der Satz: „leuchten ist ein Verb“ ist grammatisch inkorrekt. Der Satz wird aber grammatisch korrekt, wenn man das an die Subjekt-Position verfrachtete Verb durch Anführungszeichen grammatisch modifiziert und formuliert: „‚leuchten‘ ist ein Verb“. Ähnliches geschieht, wenn man einen Begriff, welcher selbst die Form einer Funktion hat, in der Leerstelle der Funktion platziert.Wenn man vom Begriff „Pferd“ spricht, dann ist das ähnlich der Modifikation eines Verbes durch Anführungszeichen. Das Wort in Anführungszeichen ist an der Subjekt-Stelle aber eben kein Verb, sondern ein Name (vgl. Kenny 1995, S. 124– 125). Das logische Unterscheiden zwischen Begriff und Gegenstand kann laut Frege dabei nicht einfach sprachlich beigebracht werden, zum Beispiel durch das Präsentieren einer Definition. Jeder, der spricht, muss diese fundamentalen und primitiven logischen Unterscheidungen implizit mitgehen. „Eine Definition zur Einführung eines Namens für Logischeinfaches ist nicht möglich. Es bleibt dann nichts anderes übrig, als den Leser oder Hörer durch Winke dazu anzuleiten, unter dem Worte das Gemeinte zu verstehen“ (Frege 2008, S. 48). Auch die obige Diskussion hatte also nur den Charakter von Winken, die das schon vorgängige logische Unterscheiden wachrufen sollte. Das logische „Muster“, auf das die Winke deuten, muss immer selbst erkannt werden. Auch wer noch nicht versteht, was mit dem Namen „Gegenstand“ gemeint ist, dem kann nur durch Beispiele geholfen werden, in denen er das Muster erkennen muss, dass die Beispiele eben alle auf Gegenstände deuten. Diese Mustererkennung, die im Bewusstmachen von logischen Unterscheidungen besteht, die beim Sprechen immer schon vorgenommen werden, muss der Leser bzw. Hörer, der die winkenden Beispiele vernimmt, ganz alleine erringen. Ähnlich wie bei Russell kann also auch laut Frege die oberflächliche Form der Sprache logische Unterscheidungen und somit das eigentliche Funktionieren der Sprache verschleiern.

2.2.1.3 Schopenhauer Ein früher, prägender Einfluss auf Wittgenstein war Schopenhauer, der wiederum Kants Projekt vollenden wollte. Kants Metaphysikkritik ist nicht eine Kritik der traditionellen metaphysischen Sprache im spezifischen Sinne Wittgensteins. Dennoch kann man Kants Ansatz auch vorsichtig die Wendung geben, dass er in gewisser Weise gegen Verwirrungen der Oberflächengrammatik angeht. Kant

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trennt strikt zwischen Ding an sich, dem Noumenon und den Erscheinungen, den Phänomenen. Begründete wissenschaftliche Aussagen lassen sich treffen, wenn man sie auf die Welt der Erscheinung bezieht. Gleichzeitig kann man aber nicht so über das Ding an sich reden, wie man über die Phänomene redet, auch wenn die Grammatik im gewöhnlichen Sinne, also die „Oberflächengrammatik“ keinen Hinweis darauf gibt, dass das nicht möglich ist. Darum ist ja erst die kritische Philosophie nötig, welche die Grenzen absteckt, die zwischen dem Bereich der Phänomene und dem Bereich des Dinges an sich sind. Über das Ding an sich kann man zwar auch reden, aber in deutlich anderer Weise, da in diesem Bereich Begründungen sich im Leeren verlieren, wie Kant durch die Antinomien der reinen Vernunft zeigt. Sprache funktioniert also in beiden Bereichen radikal anders, obwohl die oberflächliche Betrachtung der Sprache diese verschiedenen Funktionsweisen nicht explizit macht. Das Problem ist laut Kant gerade, dass man über das Ding an sich versucht zu sprechen wie über erscheinende Gegenstände in der raumzeitlichen Welt.

2.2.1.4 Ordnen, nicht Wegschaffen An den Beispielen fällt auf, dass die Oberflächengrammatik in allen genannten Fällen zu Verwirrungen von Verstehensweisen führt, die für sich genommen gut funktionieren. In Russells Beispiel bedeuten Kennzeichnungen nicht direkt spezifische Gegenstände, sondern beruhen auf allgemeinen Aussagen. Dennoch können Worte für Russell auch direkt spezifische Gegenstände wie Sinnesdaten bedeuten. Das Problem ergibt sich aus der unzulässigen Vermischung beider Weisen, die Sprache an die Welt zu binden. Ähnlich gibt es laut Frege sowohl Funktionen/Begriffe als auch Gegenstände. Beide erfüllen eine Rolle in der Sprache. Sie müssen jedoch getrennt werden. Für Kant lässt sich sinnvoll über die Welt als Erscheinung reden und es lässt sich auch sinnvoll über das Ding an sich reden (wenngleich über das Ding an sich keine wissenschaftlichen Aussagen gemacht werden können, die es bestimmen). Beide Bereiche sind jedoch relevant für das menschliche Leben. Das Problem ergibt sich erst, wenn es zu einer Vermischung beider Bereiche kommt und z. B. versucht wird, dass Wesen des Dinges an sich einzufangen mit den Mitteln, die man erfolgreich nutzt, um Aussagen über Gegenstände in der Welt der Phänomene zu machen. Es geht also immer um die unzulässige Vermischung eigentlich gut funktionierender Teilbereiche. Das „Böse“ der philosophischen Verwirrung ist insofern radikal abhängig von der vorausgehenden Güte der ursprünglichen Verstehensweisen. Es wird dadurch relativ oberflächlich. Ein Vergleich: Bei ethischen Haltungen, die auf eine Verbesserung und Entwicklung des Menschen abzielen, kann man zwei Auffassungen unterscheiden. Es

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gibt Auffassungen, nach denen es im Menschen ethisch problematische Aspekte gibt, z. B. potenziell zerstörerische Triebe, die aber nicht ur-schlecht sind, sondern lediglich auf so eine Weise ins Leben integriert werden müssen, dass sie nicht schaden und sogar als energischer Antrieb positiv nutzbar werden. Dann gibt es Auffassungen, nach denen die schlechten Aspekte einfach völlig ausgemerzt werden müssen, damit der Mensch in purer Reinheit erstrahlt. Auf die philosophische Methode übertragen bedeutet das grob ausgedrückt: Man kann philosophische Probleme als Verwirrung von eigentlich guten Begriffen sehen. Oder man kann annehmen, dass es ur-falsche philosophische Ideen gibt, die radikal ausgemerzt werden müssen.

2.2.2 Naturwissenschaftliche Sätze als Abbilder im logischen Raum Nun soll das Sprachphänomen der sinnvollen, naturwissenschaftlichen Sätze näher geklärt werden. Eine naturwissenschaftliche Aussage ist für Wittgenstein nun eine, die über die Faktenlage in der Welt informiert. „Der Satz stellt das Bestehen und Nichtbestehen der Sachverhalte dar“ (TLP 4.1). Wittgenstein gibt nun einen Hinweis darauf, wie man sich das Satzzeichen denken muss, damit sein Wesen klar hervortritt: „Sehr klar wird das Wesen des Satzzeichens, wenn wir es uns, statt aus Schriftzeichen, aus räumlichen Gegenständen (etwa Tischen, Stühlen, Büchern) zusammengesetzt denken. Die gegenseitige räumliche Lage dieser Dinge drückt dann den Sinn des Satzes aus“ (TLP 3.1431). Denken wir an einen möglichen Fakt in der raumzeitlichen Welt. Die Blume steht auf dem Tisch. Dieser Fakt ist schon vor einer bestimmten Sprache da. Wie kann man es nun erringen, diesen Fakt sprachlich zu präsentieren? Der entscheidende Schritt ist das Geben von Namen. Um aber nicht das Eigentliche zu verpassen, das passiert, wenn Gegenstände benannt werden, mahnt uns Wittgenstein, dass wir nicht an schriftliche Namen denken sollen. Man gebe der Blume nun einen Namen. Der Name der Blume sei der räumliche Gegenstand Tasse. Der Tisch wird auf einen anderen Namen getauft: Der Name des Tisches sei der räumliche Gegenstand Buch. Sobald das Vokabular der Sprache (Tassengegenstand, Buchgegenstand) da ist, können bereits ganze Sätze geformt werden, indem die Namen kombiniert werden. Dass die Blume auf dem Tisch steht, kann dadurch abgebildet werden, dass man die Tasse auf das Buch stellt. Dass die Blume neben dem Tisch steht, kann dadurch abgebildet werden, dass die Tasse neben dem Tisch steht. Dass die Blume unter dem Tisch steht, dadurch, dass die Tasse unter dem Buch ist. Falls

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die Blume auf dem Tisch steht und die Tasse auf dem Buch ist, dann ist der Satz wahr. Wenn nicht, dann falsch. Um die Wahrheit des Satzes zu überprüfen, wird eine bestimmte Technik des Vergleichens der Namensgegenstände mit den abgebildeten Gegenständen verwendet. „Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen“ (TLP 2.223). Der Satz, der ja selbst ein Arrangement von Gegenständen in der hier-seienden Wirklichkeit ist (vgl. TLP 3.14) wird also mit dem Arrangement anderer Gegenstände in derselben hiesigen Wirklichkeit verglichen, um seine Wahrheit zu ermitteln. Nun sind aber nicht alle räumlichen Kombinationsmöglichkeiten zulänglich. Wenn man die Tasse einfach in das aufgeschlagene Buch hineinstellt, dann ist die Kombination der Namensgegenstände grammatisch unzulässig. Das liegt daran, dass dieser Satz keine logisch mögliche Situation abbildet: Die Blume kann als Blume nicht im Tisch stehen. Bereits mit der Benennung der Gegenstände ist also der entscheidende Schritt getan, da die Gegenstände eine Grammatik vorgeben. Ein Satz ist dann grammatisch wohlgeformt, wenn sich die Namensgegenstände so zueinander verhalten wie sich die abgebildeten Gegenstände im logischen Raum zueinander verhalten können. Die obigen Beispielsätze sind räumliche Bilder. Insofern sie räumliche Bilder sind, sind sie auch logische Bilder. „Jedes Bild ist auch ein logisches. (Dagegen ist z. B. nicht jedes Bild ein räumliches)“ (TLP 2.182). „Was jedes Bild, welcher Form immer, mit der Wirklichkeit gemein haben muss, um sie überhaupt – richtig oder falsch – abbilden zu können, ist die logische Form, das ist, die Form der Wirklichkeit“ (TLP 2.18). Ein Bild ist dann ein logisches Bild, wenn die Elemente des Bildes sich in gleicher Weise kombinieren lassen wie die Gegenstände in der Wirklichkeit, dem logischen Raum. Dass Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, könnte man in einem räumlichen, logischen Bild dadurch darstellen, dass eine bestimmte Münze, die für Donald Trump steht, in einer Schachtel platziert wird (und nicht eine andere Münze, die für Hillary Clinton steht). Man könnte diesen Fakt aber auch in einem auditiven Bild bereitstellen: Das Präsidentschaftsamt könnte durch einen 3/4-Takt dargestellt werden. Der DDur Akkord könnte für Donald Trump, der H-Dur Akkord für Hillary Clinton stehen. Wenn man nun den D-Dur Akkord in einem ¾-Rhythmus spielt, dann ist es ein logisches Bild für die Präsidentschaft Trumps. Das liegt daran, dass sich die Elemente des Bildes (Rhythmus und Akkord) in einer Weise kombinieren lassen, die man so mit der Wirklichkeit verknüpfen kann, dass die logische Form der Wirklichkeit eingehalten wird. Prinzipiell ließe sich, auch wenn es nicht sehr praktikabel ist, ein logisches Geruchs-Bild denken: Das Amt wird durch Geruch X dargestellt; die Kandidaten durch Gerüche Y und Z. Wenn X und Y gemeinsam auftreten, dann hat der entsprechende Kandidat gewonnen.

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In diesen Beispielen ergibt sich die Logik der Sprache aus spezifischen normalen Gegenständen. Tatsächlich glaubt Wittgenstein zur Zeit des Tractatus, dass die Befreiung der Sätze von ihrer Oberflächengrammatik zu Elementarsätzen (vgl. TLP 4.221) führt, die auf einfache Gegenstände verweisen, für die er keine Beispiele gibt. Man kann daher wohl sagen, dass Wittgenstein im Tractatus gewissermaßen die Position vertreten hat, dass sich die Logik daraus ergibt, was es überhaupt heißt Gegenstand zu sein. Einen Gegenstand als Gegenstand zu erkennen, heißt ihn als einen zu erkennen, der in bestimmten logischen Verhältnissen zu sich selbst und anderen Gegenständen stehen kann. Logische Sätze sind wahr, wenn sie zu diesem Muster des Gegenstandseins passen. Welchen Dienst leisten die naturwissenschaftlichen Sätze als Abbilder nun nicht? Die oben angesprochenen Bilder sind räumliche Bilder, die dadurch abbilden, dass in ihnen die räumlichen Strukturen des Zueinanderstehens der bedeuteten Gegenstände räumlich nachgestellt werden. Sie sagen etwas darüber aus, wie die Verhältnisse an einer bestimmten Stelle im Raum faktisch sind. Aber das Verständnis für Raum können sie nicht erwecken, sondern dieses muss bei jedem Sprecher, insofern er Sprecher ist, schon vorhanden sein. Schon bevor der Sprecher die spezifischen Vokabeln Buchgegenstand und Tassengegenstand lernt, muss er verstehen, dass ein Gegenstand wie eine Blume nicht identisch mit einem Gegenstand wie einem Tisch ist, und er muss verstehen, was eine räumliche Distanz ist. Er muss verstehen, dass, wenn ein komplexer Gegenstand, wie eine Blume, sich im Raum bewegt, auch alle Teile der Blume sich im Raum bewegen. Dass die Blume sich im Raum bewegt, impliziert, dass Blätter und Stiel die Position verändern. Er muss also das logische Muster der Implikation verstehen: „Wenn p, dann q. p. Also q.“ In der Trennung von diesen zwei Bereichen – dem Bereich des Bestimmens der Fakten im Raum und dem Bereich des Verstehens der Form des Raumes – liegt bereits eines der Grundanliegen von Wittgenstein. „Mein Grundgedanke ist, daß die ‚logischen Konstanten‘ nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten lässt“ (TLP 4.0312). Logische Konstanten wie Negation, Konjunktion, Disjunktion oder Konditional zeigen die Form des Raums an, in dem Fakten beschrieben werden, aber die Konstanten sind keine Gegenstände im Raum und können daher auch nicht durch Namen, die für Gegenstände stehen, vertreten werden. Es lässt sich in der oben skizzierten Sicht der Sprache mit einem Satz sagen, dass die Vase auf dem Tisch steht, aber keine Kombination von Gegenstandsnamen kann in diesem Sinne sagen, dass Blume = Blume ist, oder dass Blume ≠ Tisch ist. Dass die Blume ≠ Tisch ist, wird nicht durch einen aussagenden, abbildenden Satz informativ vermittelt, sondern drückt sich zeigend darin aus, dass Blume und Tisch durch andere Namensgegenstände (Tasse und Buch) symbolisiert werden.

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Die eben genutzte Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ruft mitunter äußerst große Irritationen hervor. Sie wirkt wie ein künstlicher Taschenspielertrick.Wittgenstein behauptet, man könnte etwas nicht sagen, sagt es aber doch. Es wird mit Wittgenstein in einem Satz gesagt, dass man „A=A“ angeblich nicht „sagen“ kann, aber genau dann, wenn man sprachlich formuliert, was man nicht sagen kann, sagt man es doch offenbar doch. Ist das nicht einfach Widersinn über Widersinn? Russell urteilt: „Mr Wittgenstein manages to say a good deal about what cannot be said“ (Russell 2001, S. xxiii). Die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ist aber eigentlich recht simpel. Wittgenstein benutzt Sagen und Zeigen in einem technischen Sinne, nicht im alltagssprachlichen Sinne. Dennoch arbeitet die Unterscheidung genuine Strukturen der Alltagssprache heraus und ist nicht einfach Folge arbiträrer theoretischer Setzungen. Was heißt also Sagen? Ein Satz kann gesagt werden, nur – und nur dann – wenn er sowohl (a) einen logisch möglichen Fakt darstellt und (b) affirmiert oder negiert, dass dieser Fakt der Fall ist. Das läuft darauf hinaus, dass etwas nur dann gesagt werden kann, wenn es informativ sein kann. Zeigen bezieht sich auf den notwendigen, verstehensmäßigen Kontext des Sagens, der nicht informativ vermittelt werden kann. Zum Beispiel kann man in der Sprache mit dem obigen Vokabular (Tassengegenstand, Buchgegenstand) nicht sagen, was mit den Namen gemeint ist. Die Tasse ist mit der Blume korreliert und das Buch mit dem Tisch, aber dieses Korrelationsverhältnis lässt sich nicht mit dem Vokabular aussagen. Das Etablieren der Korrelation geschieht auf eine radikal andere Weise als das Sagen. Die Korrelation wird etabliert, sobald der Sprecher sieht, dass sich ein Muster zeigt, in dem Buch und Tasse grammatisch die Vorbilder Tisch und Blume imitieren. „Was nicht in den Zeichen zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre Anwendung. Was die Zeichen verschlucken, das spricht ihre Anwendung aus“ (TLP 3.262). In der Anwendung der Zeichen Buchgegenstand und Tassengegenstand wird ein bestimmtes Muster des Imitierens der bedeuteten Gegenstände verfolgt. Dieses Muster ist nicht einfach offensichtlich. Die Beobachtung der Äußerungen von Sprechenden könnte auch bloß als unstrukturiertes Zeichengeklingel erscheinen. Wenn dann aber das Muster erkannt wird, dann zeigt es sich für den Sprechenden. Man kann einem noch-Unverständigen Erläuterungen und Hinweise darauf geben, welches Muster erkannt werden soll, aber er muss es letztendlich immer selbst verstehen. „Die Bedeutungen von Urzeichen können durch Erläuterungen erklärt werden. Erläuterungen sind Sätze, welche die Urzeichen enthalten. Sie können also nur verstanden werden, wenn die Bedeutungen dieser Zeichen bereits erkannt sind“ (TLP 3.263). Darum – weil die informative Aussage im Satz, dass dieses oder jenes der Fall ist, von einem Kontext, der sich für den Sprecher zeigen muss, abhängig ist – heißt es: „Der Satz zeigt seinen Sinn. Der Satz zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist.

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Und er sagt, daß es sich so verhält“ (TLP 4.022). Der Witz der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ist also, dass das Zeigen auf eine Art eigenständige Formerkennung verweist und dass das Sagen auf bestimmte, vorhersehbare, kontrollierbare Züge verweist, die man innerhalb dieser erkannten Form machen kann. Kritiker der Unterscheidung können also immer wieder auf Beispielsätze verweisen, in denen etwas im alltäglichen Sinne gesagt wird, was laut Wittgenstein unsagbar ist, und das als Evidenz gegen Wittgensteins Unterscheidung anführen, aber sie verfehlen damit den Punkt. Die eigentliche Frage ist: Funktionieren diese Sätze wie informative Abbilder oder funktionieren sie wie Sätze, die auf Aspekte verweisen, die man bereits verstehen muss, damit man ein Abbild überhaupt erst als Abbild erkennen kann? Mit seiner Darstellung des Satzes klärt Wittgenstein nun, wie die vor-philosophisch zugängliche Sprechweise des sinnvollen Sprechens möglich ist. Das sinnvolle Sprechen zeichnet sich dadurch aus, dass es (a) jedes Mitglied der Sprachgemeinschaft beherrscht, (b) dass es informativ ist und Neuigkeiten vermittelt, dass es (c) in die vorhersehbare Geschäftigkeit des Alltags eingebunden ist, sowie, dass (d) die logische Verknüpfung zu anderen sinnvollen und sinnlosen Sätzen klar ist. „Die Wirklichkeit wird mit dem Satz verglichen“ (TLP 4.05). Das heißt, es ist (a) eine Wirklichkeit zugänglich, die mit dem Satz verglichen werden kann. Und diese ist jedem Menschen zugänglich, da ein Mensch, der sie nicht erkennt, schlicht nicht als gesunder Mensch gilt. Ein Mensch der Gegenstände wie Tische, Stühle und Bücher nicht erkennt, ist nicht gesund und kein normaler Teil der Gemeinschaft. Dazu gehört, dass er die logische Form der Wirklichkeit erkennt. Ein Buch zu erkennen, heißt, zu verstehen, dass, wenn das Buch in Raum Y ist, es logisch impliziert ist, dass auch die Seiten dort sind. Was für Gegenstände als Teil der Wirklichkeit von der Sprachgemeinschaft anerkannt werden, das zeigt sich letzten Endes nur in der Sprachpraxis: „Was die Zeichen verschlucken, das spricht ihre Anwendung aus“ (TLP 3.262). Diese Art von geteilter öffentlicher Wirklichkeit bezeichnet Wittgenstein als Welt: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ (TLP 1). „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten“ (TLP 2). „Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen.)“ (TLP 2.01) „Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten, ist die Form des Gegenstandes“ (TLP 2.0141). Die Welt ergibt sich also aus dem Arrangement von Gegenständen, wobei es wesentlich zu Gegenständen gehört, dass sie die Möglichkeit des Vorkommens in Sachverhalten haben. Die Sachverhalte fügen sich wiederum zu dem zusammen, was der Fall ist. Dies ist wiederum die Welt. Die Gegenstände konstituieren also eine in sich dynamische, wechselhafte Welt. Ähnlich wie Lotterie-Bälle sich in allen möglichen

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Kombinationen anordnen können, können die Gegenstände der Welt in ihren wechselnden Beziehungen zueinander immer wieder andere Weltzustände konstituieren, die letztendlich ergeben, was der Fall ist. Dieses Wesen der Gegenstände verdeutlicht (b), warum sinnvolle Sätze wesentlich informativ sind. Wir erleben vor-philosophisch eine Wirklichkeit, die zur Zukunft hin offen ist. Wenn man eine neue Text-Nachricht öffnet, dann weiß man bis zum Moment des Lesens einfach nicht, was sich genau dort zeigen wird – wie die Gegenstände, welche die Nachricht bilden, arrangiert sind. Wenn man aus dem Fenster schaut, dann weiß man schlichtweg nicht, in welcher Weise sich die Gegenstände, welche die Szene bilden, arrangieren werden. Selbst wenn man einen höchst vorhersehbaren Prozess beobachtet, so ist doch jeden Moment die Möglichkeit einer unvorhergesehenen Störung prinzipiell vollkommen gegeben. „Dass die Sonne morgen aufgehen wird, ist eine Hypothese; und das heißt: wir wissen nicht, ob sie aufgehen wird“ (TLP 6.36311). Dieses vor-philosophische Erleben der immer möglichen Neuorganisation der Welt versucht Wittgenstein dadurch zu klären, dass er in letzter Analyse einfache Gegenstände postuliert, zu deren Wesen es gehört, prinzipiell immer in diversen Sachverhalten sein zu können. Dieses erklärt dann wiederum, warum sinnvolle Sätze immer informativ sein können, da jeder Weltzustand radikal unvorhersehbar ist und seine Gegebenheit nur auf eine Weise erschlossen werden kann: „Die Wirklichkeit wird mit dem Satz verglichen“ (TLP 4.05). Damit ist auch gleichermaßen verdeutlicht, warum (c) die Sätze auf vorhersehbare, sinnvolle Weise in die Richtung des Lebens eingreifen. Wenn jemand ein bestimmtes Projekt in der Welt verfolgt – z. B. etwas zu ernten – dann hängt sein Vorgehen daran, wie die zu erntenden Gegenstände der Welt arrangiert sind. Er wird sein Handeln danach richten, was in informativen Sätzen mitgeteilt wird.

2.2.3 Verwirrungen zwischen Logik und Naturwissenschaft Der Gewinn, der darin liegt, die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen klar aufzuführen, tritt hervor, wenn man philosophische Probleme betrachtet, die sich ergeben, wenn man die Vielfalt der Verstehensweisen nicht berücksichtigt. Russell stieß auf das Problem, dass es so aussieht, als würde die ungezügelte Logik in ein Paradoxon führen. Im Anschluss an Frege lässt sich die Menge aller Mengen definieren, die sich nicht selbst als Element enthalten: R = {m|m ∉ m}. Der Widerspruch tritt klar hervor, wenn man fragt, ob sich R selbst als Element enthält. Wenn das bejaht wird, dann gilt: R∈ R. Aber das ist gleichbedeutend damit, dass für R gilt: R∉R. Nun schlägt die bejahende Antwort aber in ihr Gegenteil um. Es gilt R∉R. Aber genau deshalb gilt auch R∈ R, was offenkundig ein Widerspruch ist. Anders ausgedrückt: Wenn die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst ent-

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halten, sich selbst enthält, dann hört sie paradoxerweise auf, die Menge der Mengen zu sein, die sich nicht selbst enthalten.Wenn die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, sich wiederum nicht selbst enthält, dann ist sie paradoxerweise ebenfalls nicht mehr Element dieser Menge. Um dieses Paradoxon zu umgehen, hat Russell die Typentheorie entwickelt, welche der Mengenbildung strenge Restriktionen auferlegt. Die Idee ist, dass Mengen verschiedenen Typen bzw. Rängen angehören und die Elemente immer einen niedrigeren Typus haben als die Menge zu der sie gehören. Damit wird kategorisch der Satz x∈x als nicht wohlgeformt und daher sinnlos ausgeschlossen. Insofern der Satz sinnlos ist, ist es auch seine Verneinung x∉x. Damit ist das Paradoxon gebannt. Wittgenstein weist Russells Versuch der Logik durch eine Theorie Restriktionen aufzuerlegen als Verwirrung zurück: „Die Logik muß für sich selber sorgen. […] Alles was in der Logik möglich ist, ist auch erlaubt. […] Wir können uns, in gewissem Sinne, nicht in der Logik irren“ (TLP 5.473). Laut Russells Typentheorie ist es nicht möglich, zu formulieren, dass die Klasse Mensch ein Mensch ist. Der Satz wird auf der Basis theoretischer Setzungen ausgeschlossen. Wittgenstein irritiert hier der Versuch, etwas, das jedem kompetenten Sprecher, insofern er überhaupt Sprecher ist, klar sein muss, nachträglich theoretisch zu fundieren. Wer weiß, was der Begriff „Mensch“ ist/bedeutet, weiß auch, dass der Begriff nicht selbst ein Mensch ist. Was Wittgenstein jedoch für legitim hält, ist es, Darstellungsformen zu entwickeln, in denen solche logischen Unterscheidungen klar hervortreten und anschaulich werden. Stellen wir den Begriff Mensch als ungesättigtes Prädikat dar: x ist ein Mensch Man versuche nun, dass Prädikat so zu behandeln, dass es auf sich selbst angewendet wird. (x ist ein Mensch) ist ein Mensch Was sich hier anschaulich zeigt, das ist, dass beide Prädikate nicht dieselbe Form haben. Die erste Hälfte des Satzes „(x ist ein Mensch) ist ein Mensch“ hat eine andere Form als die zweite. Es handelt sich also nicht um das selbe Prädikat. Sätze der Form x∈x müssen also gar nicht künstlich ausgeschlossen werden, damit Russells Paradoxon umgangen wird, sondern die für Russell bedrohlich wirkenden Sätze haben, wie hier nun völlig klar hervortritt, gar nicht die Form x∈x! Es war alles nur eine Illusion. Mit der Trennung zwischen sinnvollen Sätzen, die gesagt werden können, und der logischen Form, die sich als Grundstruktur der Wirklichkeit zeigt, löst sich generell Russells logischer Platonismus auf. Russell vertritt (1984, S. 97) die These,

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dass logische Symbole für logische Gegenstände stehen, die man erfährt. Es gibt allerdings keine Erfahrung, die man als spezifische Erfahrung logischer Gegenstände identifizieren kann. Mit Wittgensteins ordnendem Vorgehen ist aber klar, dass die Idee, dass es logische Gegenstände geben müsste, nur durch eine Verwirrung der Verstehensweisen zustande kommt. Es gehört zu unserem Grundumgang mit der Welt, Gegenstände als solche zu erfahren, die in logischen Beziehungen zueinanderstehen. Die Idee, dass man diese Beziehungen erst wieder durch logische Gegenstände begründen muss, drängt sich erst dann auf, wenn man auf die Logik illegitimerweise das Modell der sinnvollen, abbildenden, naturwissenschaftlichen Sätze zwingt. Vergegenwärtigen wir uns die verschiedenen Bilder des Philosophierens, die dem Denken von Wittgenstein laut der theoretischen Lesart und der ordnenden Lesart zu Grunde liegen. Nach der theoretischen Lesart gibt es so etwas wie eine universell geteilte philosophische Vernunft, die den Philosophen in die Lage versetzt, Argumente für erklärungsbedürftige Phänomene zu finden. Der Wert von Wittgensteins Philosophie hängt dann vor allem daran, dass er rational stärkere Argumente als seine Konkurrenten vorlegt. Nach diesem Bild lässt sich Russells Argumentation (Abb. 2.1) und Wittgensteins Argumentation (Abb. 2.2) folgendermaßen darstellen.

Abb. 2.1: Eigene bildliche Darstellung von Russells Argumentation nach dem theoretischen Interpreten Schroeder (2006, S. 37)

Nach diesem Bild gibt es ur-problematische, philosophisch erklärungsbedürftige Phänomene, die entproblematisiert werden, indem sie erklärt werden. Wenn Wittgenstein sein Vorgehen so verstehen würde, dann wäre er nicht konsistent.

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Abb. 2.2: Eigene bildliche Darstellung von Wittgensteins Argumentation nach dem theoretischen Interpreten Schroeder (2006, S. 37)

Wittgenstein kritisiert Russell schließlich dafür, dass er die erfahrene Wirklichkeit durch „einleuchtende“ Setzungen erklären will, die aber durch keine klare Evidenz begründet werden können. „Gibt es überhaupt irgend eine der Formen, von denen Russell und ich immer gesprochen haben? (Russell würde sagen: ‚ja! Denn das ist einleuchtend.’ Jaha!)“ (TB 14– 16, S. 90). „Es sei eine Frage der Philosophie gegeben: etwa die, ob ‚A ist heller als B’ ein Relationssatz sei! Wie läßt sich so eine Frage überhaupt entscheiden?! Was für eine Evidenz kann mich darüber beruhigen, daß – zum Beispiel – die erste Frage bejaht werden muss. (Dies ist eine ungemein wichtige Frage.) Ist die einzige Evidenz hier wieder jenes höchst zweifelhafte ‚Einleuchten’?? […] [W]elche Evidenz könnte so eine Frage überhaupt entscheiden?“ (TB 14– 16, S. 90). Nun geht es Wittgenstein aber nicht darum, dass er glaubt, dass er im Gegensatz zu Russell hinreichende Evidenz gefunden hat, mit denen sich absolut zwingende Argumente erringen lassen. Er will dem erklärungsbedürftigen Phänomen gar keine Erklärung hinzufügen. Darum schreibt er: „Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken. […] Das Resultat der Philosophie sind nicht ‚philosophische Sätze’, sondern das Klarwerden von Sätzen“ (TLP 4.112). Das Vorgehen in der Philosophie kann also nicht darin bestehen, die Erfahrung der Welt mit neuen Argumenten zu unterfüttern, welche die Welt erklären. Es

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soll lediglich das, was ohnehin schon da ist, geordnet werden. „Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen“ (TLP 4.112). Das heißt, der Philosophierende soll sich wieder bewusstmachen, was er tut, wenn er logische Zusammenhänge erkennt, und was genau er tut, wenn er naturwissenschaftliche Sätze überprüft. Dann sieht er, dass es ganz andersartige Verstehensweisen sind. Dann kann er aus dem verwirrten Zustand (Abb. 2.3), in dem die sinnlosen Sätze der Logik verdeckt werden, da sie nach dem Vorbild der sinnvollen, naturwissenschaftlichen Sätze gedacht werden, zum geordneten Zustand (Abb. 2.4) schreiten.

Abb. 2.3: Unordnung der Verstehensweisen, da sinnlose und unsinnige Sätze nach dem Modell sinnvoller Sätze gedacht werden

Man könnte auch bildhaft sagen, dass laut der theoretischen Lesart Wittgensteins Philosophieren „drei-dimensional“ ist, da er mit einem erklärungsbedürftigen Phänomen startet und dann „in die Tiefe geht“, um hinter dem Phänomen stehende Erklärungen zu erringen. Laut der ordnenden Lesart ist das Philosophieren „zweidimensional“, da es schlicht eine Fläche mit allen möglichen erscheinenden Verstehensformen gibt, die geordnet oder ungeordnet sind, ohne dass es notwendig oder möglich ist, im Sinne der theoretischen Lesart hinter diese Verstehensformen zu steigen.

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Abb. 2.4: Übersichtliche Ordnung der Verstehensweisen, da sinnvolle, sinnlose und unsinnige Sätze wieder getrennt wurden

2.2.4 Ethische Sätze als Ausdruck von Seinsweisen im logischen Raum Mit den sinnvollen/naturwissenschaftlichen und sinnlosen/logischen Sätzen hat Wittgenstein die Aspekte des Seienden herausgearbeitet, zu denen sich alle Menschen, wenn sie als kompetente Sprecher gelten sollen, gleich verhalten müssen. In diesem Bereich sind die logischen Beziehungen zwischen Sätzen klar und es ist klar, wie die Wahrheit der Sätze überprüft wird. Logische Sätze drücken aus, was es bedeutet, überhaupt Gegenstand zu sein, der mit anderen Gegenständen in (logischen) Beziehungen steht. Logische Sätze sind also dann wahr, wenn sie zum Muster, was es bedeutet, Gegenstand zu sein, passen. Naturwissenschaftliche Sätze sind dann wahr, wenn sie zeigen, wie sich konkrete/spezifische Gegenstände zueinander verhalten. Die Wahrheit lässt sich überprüfen, indem man den Satz mit einer bestimmten Technik mit der durch ihn abgebildeten Wirklichkeit vergleicht. Dieses, was erscheint, wenn man als kompetenter Sprecher die gleiche logische Form und somit den gleichen logischen Raum, in dem sich die logischstrukturierten, naturwissenschaftlichen Fakten enthüllen, anerkennt, bezeichnet Wittgenstein als Welt. „Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt“ (TLP 1.13).

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Die vorherige Herausarbeitung der Unterschiede zwischen naturwissenschaftlichen und logischen Sätzen und ihren radikal anderen Weisen wahr zu sein (Wahrsein als korrektes Abbilden eines Fakts versus Wahrsein als Ausdrücken eines (logischen) Musters), zeigt an, worum es auch nun geht. Es geht darum, die ethischen Sätze in ihren ur-eigenen, spezifischen Funktionsweisen und Wahrheitsweisen anzuerkennen und bewusst zu machen. Nun ist es aber mit dieser öffentlichen geteilten Welt, die sich als Summe sämtlicher gegebener Faktenlagen ergibt, nicht einfach getan. Diese öffentliche Welt hat nämlich Grenzen. Eine Art Grenze ist das Bewusstsein eines spezifischen Menschen, der die öffentliche Welt wahrnimmt, wobei sein Bewusstsein selbst als je eigens erlebtes Bewusstsein in der öffentlichen Welt nicht vorkommt (vgl. TLP 5.632, TLP 5.633). Eine weitere Art der Grenzen ergibt sich daraus, dass der logische Raum ein bestimmtes Muster hat: Insofern es logisch ist, dass es entweder regnet oder nicht regnet, aber nicht logisch ist, dass es gleichzeitig am gleichen Ort regnet und nicht-regnet, gibt es bestimmte logische Grenzen und nicht andere. Wenn nun der Fokus auf diese Grenzen als Grenzen gelegt wird, dann erscheint die Welt in ihrem schieren Dasein als Urphänomen. Es lässt sich zwar erklären, warum ein bestimmter naturwissenschaftlicher Satz wahr ist, indem man auf den Fakt verweist, der ihn wahrmacht. Warum es überhaupt Fakten und Logik gibt, und warum die Logik eine bestimmte Form hat, ist damit nicht erklärt. Es geschieht damit ein Perspektivwechsel von der Frage, was-in-der-Welt-faktischgegeben ist, zu der Perspektive, in der gestaunt wird, dass-überhaupt-ist. „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“ (TLP 6.44). „Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als – begrenztes – Ganzes. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische“ (TLP 6.45). Diese Grenzen sind nun nicht einfach starr gegeben, sondern lassen Flexibilität zu. „Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen […]. Kurz, die Welt muss dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muss sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen. Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen“ (TLP 6.43). Es lassen sich also die Grenzen der Welt ändern und dadurch erscheint die Welt selbst als eine andere. Die Welt kann dabei, je nach Gestaltung der Grenzen, als harmonisch und glücklich oder als disharmonisch und unglücklich da sein. Was kann es nun bedeuten, diese Grenzen zu ändern? Die Grenzen zu ändern bedeutet, dass ein spezifischer Mensch eine andere Seinsweise zu den Grenzen des logischen Raums einnimmt. Er fügt sich anders in diese Grenzen ein. Logik ist unzeitlich, insofern logische Sätze immer wahr sind. Ethische Gebote der Art, an die Wittgenstein denkt, sind ebenfalls unzeitlich, insofern sie als kategorische Gebote immer gültig sind. Dass sich Logik und Ethik die Unzeit-

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lichkeit teilen, ist nun kein Zufall, sondern liegt daran, dass das Annehmen einer ethischen Praxis gewissermaßen eine Modifikation des logischen Raums durch eine Art Metaebene ist. Im natürlichen, profanen Verständnis sind alle logisch möglichen Handlungen auch prinzipiell zulässig. Je nach Absicht kann man mit einem Menschen freundlich umgehen, da man ihm Sympathie entgegen bringt, ihn ausbeuten, falls man ein Machtungleichgewicht ausnutzen will, ihn als gleichberechtigten wirtschaftlichen Partner einbinden, oder sonstiges.Wenn man nun das absolute Gebot zur Nächstenliebe annimmt, dann ändert sich gewissermaßen der (meta‐)logische Status aller Menschen. Diese erscheinen nun nicht mehr als Menschen mit denen man – je nach eigenen gerade auftretenden Bedürfnissen – in jeder logisch möglichen Weise umgehen kann, sondern sie erscheinen als Wesen, denen man ständig nach Kräften helfen muss: Sie erscheinen nun so als-ob gewissermaßen ein logischer Zwang bestünde, sie im Sinne der Nächstenliebe anzuerkennen. Die Form des logischen Raums ändert sich damit in gewisser Weise, da viele logische Möglichkeiten radikal als schmählich ausgeschlossen werden. Bestimmte logische Möglichkeiten werden gewissermaßen „hinter Grenzen verbannt.“ Daher gilt: „[D]ie Welt muss dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muss sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen“ (TLP 6.43). Die Welt nimmt zu, insofern absolute Gebote hinzukommen. Die Welt nimmt ab, insofern bestimmte logische Möglichkeiten radikal ausgeschlossen werden. Dadurch sind Erlösungserlebnisse möglich. „Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen“ (TLP 6.43). Insofern im Rahmen einer ethischen Praxis die ganze Welt anders da ist, ist es kohärent, dass die Gültigkeit der ethischen Praxis nicht durch innerweltliche Evidenz oder faktenmäßige Begründungen hergeleitet werden kann. Die ethische/ religiöse Praxis wird durch Bekehrungserlebnisse angestoßen, in denen ein neues Muster in der Welt „aufscheint“ und als vertrauenswürdig angenommen wird. So erschließt sich die Unsinnigkeit von ethischen, ästhetischen und philosophischen Sätzen. Ethische „Einsichten“ können nicht auf vorhersehbare Weise als Information mitgeteilt und weitergegeben werden und sind somit unsinnig: Das heißt, sie sind nicht im alltagssprachlichen Sinne radikal inhaltsfrei und sie sind auch nicht fehlgebildet, aber sie sind nicht so wie naturwissenschaftliche Fakten überbringbar und ein ethischer Satz wird dann fehlgebildet, falls er als quasi-naturwissenschaftlicher Satz versucht wird. Das Verständnis sinnvoller Sätze hat als Voraussetzung, dass der Sprecher in der Welt bestimmte logische Muster erkennt, damit die Welt als logischer Raum da ist. In unsinnigen Sätzen werden nun wiederum weitere Muster im logischen Raum erkannt. Unsinnige Sätze sind also höherstufig. Die erste Ebene bilden die Muster, welche den logischen Raum konstituieren. Die zweite Ebene bilden weitere Muster, die wiederum im ersten Muster des logischen Raums erkannt werden können. Aber analog dazu,

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wie sich Wortbedeutungen nicht informativ mitteilen lassen, weil das Muster des Gebrauchs vom Lernenden selbst erkannt werden muss, so muss auch das Muster, in dem die Seinsweise besteht, die in unsinnigen Sätzen ausgedrückt werden soll, von einer Person eigenständig selbst erkannt werden. Die Lage ist aber noch komplexer als beim Erschließen des logischen Raumes überhaupt: Es sind verschiedene Seinsweisen in ihm möglich. Während es nur eine Logik gibt, gibt es diverse Seinsweisen und damit Muster, die in dem einen logischen Raum verwirklicht werden können. Was damit gemeint ist, dass ein ethischer, ästhetischer oder philosophischer Satz als unsinnig qualifiziert ist, das ist, dass die Seinsweise, die in ihm ausgedrückt wird, nicht zielgerichtet und vorhersehbar kommuniziert werden kann wie eine kontingente Faktenlage, weil der Satz auf ein Muster verweist, das der Angesprochene nur selbständig erkennen kann.

2.2.5 Verwirrungen zwischen Ethik und Naturwissenschaft Was es heißt, dass unsinnige Sätze Seinsweisen im logischen Raum ausdrücken, lässt sich am besten in Kontrast zu einer anderen philosophischen Position, die Wittgenstein als Verwirrung verschiedener Sprechweisen analysiert, darlegen. In seinem Aufsatz Is There a God? (1997) vertritt Bertrand Russell die Position, dass der Glaube an Gott analog zum Glauben an die unbewiesene Hypothese ist, dass eine für Teleskope nicht entdeckbare, sehr kleine Teekanne die Sonne umkreist. „If I were to suggest that between the Earth and Mars there is a china teapot revolving about the sun in an elliptical orbit, nobody would be able to disprove my assertion provided I were careful to add that the teapot is too small to be revealed even by our most powerful telescopes. But if I were to go on to say that, since my assertion cannot be disproved, it is an intolerable presumption on the part of human reason to doubt it, I should rightly be thought to be talking nonsense“ (Russell 1997, S. 547– 548). Russell betont, dass aus der Tatsache, dass die Hypothese so formuliert ist, dass sie (momentan) niemand wiederlegen kann, nicht folgt, dass etwas für die Hypothese spricht. Ohne positive Evidenz für die Hypothese der Existenz der kreisenden Teekanne sollte man sie aber, so Russell, auf keinen Fall affirmieren. In gleicher Weise hält er es für eine untragbare Anmaßung, die Existenz Gottes zu bejahen. In dieser Argumentation Russells zeigt sich die Philosophie des Evidenzialismus. Das ist die Idee, dass die Frage nach der Existenz Gottes auf der Grundlage von Evidenz, die im geteilten logischen Raum auftaucht, entschieden werden kann. Gott wird von Russell nach dem Modell normaler, wissenschaftlich entdeckbarer Gegenstände der raumzeitlichen Welt gedacht. Eine Teekanne oder ein

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Asteroid sind Gegenstände mit bestimmten Eigenschaften. Gott ist ebenfalls ein Gegenstand mit bestimmten (ungewöhnlichen) Eigenschaften. Wenn man Gott nach dem Vorbild gewöhnlicher wissenschaftlich entdeckbarer Umgangsgegenstände denkt, dann drängt sich der Evidenzialismus ganz natürlich auf. Die Existenz eines Sonnensystems mit zwei Sonnen (z. B. Alpha Centauri) lässt sich über die durch Teleskope gelieferte Evidenz nachweisen. Die frühere Existenz des Archaeopteryx lässt sich durch die Evidenz der Fossilienfunde nachweisen. Wenn nun Gott aber ebenfalls schlicht ein existierender Gegenstand mit bestimmten Eigenschaften ist, dann muss für Gott analoge Evidenz gefordert werden. Wenn es sie jedoch nicht gibt, dann ist seine Existenz genauso wenig zu bejahen wie die Existenz von z. B. einer Variation des Archaeopteryx, die auf dem Kopf ein riesiges Einhorn trägt und begeistert Gedichte über das Leben im Oberjura vorträgt. Nun ist es aber so, dass Gläubige im Regelfall nicht ihren Glauben aus derartiger (quasi‐)wissenschaftlicher Evidenz herleiten. Als mehr oder weniger paradigmatisches Beispiel sei hier Ratzinger genannt, der über seinen religiösen Weg sagt: „[Als Kind] war für mich die gläubige Welt ganz fest und sicher gebaut“ (Benedikt XVI 2016, S. 65). Auch im Buch Einführung in das Christentum (2013) macht er nicht ansatzweise den Versuch, die Gültigkeit des Christentums aus dem aktuellen Stand der (natur‐)wissenschaftlichen Forschung herzuleiten. Nach dem Bild Russells ist das schlichtweg ein defizitärer Umgang mit Evidenz. Nach der philosophischen Vision Wittgensteins jedoch ist es äußert verdächtig, wenn eine weitverbreitete Sprachpraxis, die als Phänomen zunächst einfach da ist, einfach als Fehler erscheint. Insofern ist es aus Wittgensteins Perspektive angebracht, die Position von Russell als Resultat der illegitimen Vermischung verschiedener Verstehensweisen zu analysieren. Es ist also zu betrachten, was die eigentliche eigene, vor-philosophische Funktionsweise religiöser Sprache ist. Es sollen nun die nach Wittgenstein relevanten Aspekte der religiösen Praxis herausgearbeitet werden.

2.2.5.1 Grundlose Bekehrung vs. Begründung Gehen wir, um einige Eigenheiten des religiösen Verstehens zu beleuchten, zunächst zu den frühsten christlichen Schriften, den Briefen von Paulus. Im Römerbrief sagt Paulus, dass es gerade nicht bestimmte Fakten in der Welt sind, die Evidenz sind, aus denen man Gott herleiten kann, sondern, dass Gott durch die Welt als solche ganz unmittelbar offenbar ist. Das Nichtsehen Gottes ist demnach für Paulus keine wissenschaftliche Herausforderung, sondern eine ethische. Wenn ein Mensch Gott nicht sieht, dann ist das für Paulus kein Defizit der Vernunft, sondern ein Defizit des verfinsterten Herzens.

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Der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar. Denn sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert (Röm 1,18 – 21).

Der Wechsel vom Unglauben zum Glauben geschieht deshalb nicht durch eine Begründung, sondern die Ursache ist eine wissenschaftsmäßig grundlose Bekehrung. Bleiben wir hier beim Beispiel des Paulus. Der Kern seiner Bekehrung, der geschieht, während Paulus Christen in Damaskus verfolgt, wird so beschrieben: „Unterwegs aber, als er sich bereits Damaskus näherte, geschah es, dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ (Apg 9,3 – 4). Das Licht und die Stimme sind nach dem Tractatus auf mindestens zweierlei Weise keine Evidenz. Erstens: Insofern sie nur von Paulus erlebt wurden, sind sie nicht Teil der öffentlichen Welt, des öffentlichen logischen Raumes. Zweitens: Selbst wenn sie Teil der öffentlichen Welt wären, könnte man aus ihnen nicht die Existenz Gottes herleiten.Wittgenstein akzeptiert nur logische Notwendigkeit. Das bestimmte visuelle und das bestimmte auditive Ereignis implizieren aber mit keiner logischen Notwendigkeit die Existenz Gottes. Man könnte nun meinen, dass sie eben untaugliche Evidenz bzw. PseudoEvidenz sind, aus denen Paulus wegen seiner Vernunftdefizite auf unzulässige Weise Gottes Existenz herleitet. Aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass Paulus in einen vernünftigen Begründungsgang eingestiegen ist, in dem er schrittweise Gott als Ergebnis hergeleitet hat. Wenn wir auf das achten, was Paulus sagt, der eben die ethische Herausforderung betont, dann tritt etwas ganz Anderes in dem Bekehrungserlebnis in den Vordergrund. In der Bekehrung geht es nicht um ein erklärungsbedürftiges visuelles und auditives Phänomen, sondern um das Konfrontiertwerden mit einer ethischen Frage: Warum verfolgst du mich? Paulus erlebt sich als angesprochen und muss sich in einem ethischen Drama (Christen verfolgen oder nicht), in dem es um Leben und Tod geht, positionieren. Während die Bekehrung also nicht auf einem Grund beruht, der als Wirklichkeit fungieren könnte, mit der man einen sinnvollen Satz vergleichen könnte, um seine Wahrheit zu überprüfen, so hat sie doch eine Ursache: Paulus wurde in einem ethischen Drama herausgefordert und war gezwungen sich persönlich zu positionieren. Darum schreibt Wittgenstein: „Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt“ (TLP 6.432). Es sind nicht bestimmte naturwissenschaftliche Fakten in der Welt, die auf Gott weisen, son-

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dern Gott zeigt sich, wenn begonnen wird, die Welt als ethisches Drama zu betrachten, in dem man sich vor einer Autorität verantworten muss.

2.2.5.2 Erlösung durch harmonisches Einfügen in den logischen Raum vs. Zielverfolgung durch Umgestaltung der Fakten im logischen Raum Betrachten wir einige sinnvolle Sätze, die mögliche Fakten im logischen Raum beschreiben. Bezogen auf das Jahr 1590 sind folgende Sätze wahr. – S1: Carlo Gesualdo und Maria d’Avalos sind verheiratet. – S2: Fabrizio Carafa und Maria d’Avalos haben eine Affäre. – S3: Carlo Gesualdo hat Fabrizio Carafa mit einem Gewehr erschossen und mit einem Schwert seinen Körper verstümmelt. – S4: Carlo Gesualdo hat Maria d’Avalos die Kehle durchgeschnitten. – S5: Carlo Gesualdo hat Maria d’Avalos getötet. Wenn man nun bestimmte logische Operationen mit den Sätzen durchführt, dann kann man aus ihnen andere sinnvolle Sätze bilden. Wenn man die logische Operation der Verneinung durchführt, dann wird aus S1 der falsche Satz „Es ist nicht der Fall, dass Carlo Gesualdo und Maria d’Avalos verheiratet sind.“ Man kann S1 und S2 durch Konjunktion zu einem komplexen wahren Satz verbinden: „Carlo Gesualdo und Maria d’Avalos sind verheiratet, und Fabrizio Carafa und Maria d’Avalos haben eine Affäre.“ Man kann S1 und S2 durch Disjunktion zu einem falschen, komplexen Satz verbinden: „Entweder Carlo Gesualdo und Maria d’Avalos sind verheiratet oder Fabrizio Carafa und Maria d’Avalos haben eine Affäre.“ Nun lassen sich durch logische Operationen aber auch komplexe Sätze bilden, die nicht sinnvoll sind, sondern sinnlose logische Sätze, welche die Grenzen des logischen Raumes anzeigen und notwendig wahr sind. „Carlo Gesualdo und Maria d’Avalos sind verheiratet oder Carlo Gesualdo und Maria d’Avalos sind nicht verheiratet.“ „Wenn Carlo Gesualdo Maria d’Avalos die Kehle durchgeschnitten hat, dann hat Carlo Gesualdo Maria d’Avalos getötet, und er hat ihr die Kehle durchgeschnitten, also hat Carlo Gesualdo Maria d’Avalos getötet.“ Wittgenstein ist nun beeindruckt davon, dass ethische Imperative eine Strukturähnlichkeit mit sinnlosen logischen Sätzen teilen, da sowohl logische als auch ethische Sätze Notwendigkeit postulieren. In seiner Lecture on Ethics ringt Wittgenstein damit, wie man eine ethische absolut gute Verhaltensweise (bzw. eine absolut gute „Straße“) charakterisieren müsste. „Now let us see what we could possibly mean by the expression, ‘the absolutely right road.’ I think it would be the road which everybody on seeing it would, with logical necessity, have to go, or be ashamed for not going“ (LE, S. 40).

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Nun ist aber auch klar, dass jemand, der die Notwendigkeit der logischen Regeln (bis auf Ausnahmefälle) missachtet, nicht Teil der Sprachgemeinschaft sein kann. Wenn Menschen nicht darin übereinstimmen, welche moralischen Imperative gültig sind, bleiben sie dennoch Teil einer Sprachgemeinschaft. In der Sprachpraxis zeigt sich auch schnell, dass ethische Sätze nicht wie sinnvolle Sätze funktionieren. Wenn keine Einigkeit über den Satz „Carlo Gesualdo und Maria d’Avalos sind verheiratet“ herrscht, dann lässt sich der Satz über offizielle Dokumente der Stadt Neapel mit der Wirklichkeit vergleichen. Wenn nun aber P1 sagt „Carlo Gesualdo hat absolut richtig gehandelt, da er als betrogener Ehemann und Adliger seine Ehre verteidigt hat“ und P2 sagt „Carlo Gesualdo hat absolut falsch gehandelt, da Mord immer verboten ist“ gibt es keine analoge Technik beide Sätze mit so etwas wie einer ethischen Wirklichkeit zu vergleichen. P1 könnte zwar versuchen, weiter auszuführen, warum man als Fürst die Pflicht hat, seine Ehre zu verteidigen, und die Ehre das höchste Gut ist, aber wenn P2 dieses Muster nicht aufgreift, dann bleiben P1 keine notwendig produktiven, sprachlichen Züge offen. Ein deutlicher Extremfall, der zeigt, dass ethische Auseinandersetzungen eine andere Offenheit als naturwissenschaftliche Auseinandersetzungen haben, besteht dann, wenn z. B. eine der widerstreitenden Personen die Position bezieht, überhaupt gar kein Interesse an dem Guten zu haben und auch den Verdacht zurückweist, dass er implizites Interesse am Guten hat. Hier kommt die Auseinandersetzung in einen spannungsvollen Stillstand, ohne dass einer der Sprecher einfach als einer zurückgewiesen werden kann, der Sprache nicht beherrscht. Daher ist es aus Wittgensteins Sicht eine Verwirrung, zu meinen, dass ethische/ religiöse Sätze wie informierende Sätze über Fakten funktionieren oder eigentlich funktionieren müssten. Eine ethische Haltung einzunehmen, das bedeutet nach Wittgenstein stattdessen, die Grenzen des logischen Raumes in gewisser Weise zu modifizieren: „Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann“ (TLP 6.43). Was heißt es, die Grenzen des logischen Raumes so zu ändern? Es heißt, dass bestimmte Züge im logischen Raum ausgegrenzt werden. Nehmen wir das Gebot zur Nächstenliebe. Eine Person, welche das Gebot akzeptiert, modifiziert ihren Umgang mit dem logischen Raum. Im logischen Raum als solchem ist es möglich, zu töten oder nicht zu töten. Wenn nun aber der ethische Imperativ angenommen wird, dann verändert sich der Raum, da einige logisch mögliche Handlungen sozusagen „hinter Grenzen verbannt werden“, so dass die Welt in einer neuen Selbstverständlichkeit erstrahlt. Wer den Imperativ vollständig annimmt, lebt in einer anderen Welt. Bestimmte Handlungen sind nun verboten, andere Handlungen – Menschen nach Kraft zu helfen – sind jedoch geboten. Darum wird die

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Welt durch das, was Wittgenstein das gute oder böse Wollen nennt, eine andere: „Kurz, die Welt muss dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muss sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen“ (TLP 6.43). Die Welt nimmt zu, weil bestimmte Gebote, die dem Leben eine Richtung geben, hinzukommen. Sie nimmt ab, weil bestimmte Verbote logisch mögliche Handlungen ausschließen. Während der a-ethische Mensch zu den Sätzen S1-S4 eine gleichermaßen neutrale Haltung einnehmen kann, so ist der Mensch, der sich dem Imperativ zur Nächstenliebe unterwirft, verpflichtet sich nach Kräften zu bemühen, dass z. B. die Sätze S3 und S4 nicht wahr werden. Nun schließt Wittgenstein eine weitere Aussage an: „Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen“ (TLP 6.43). Er verknüpft die veränderte Seinsweise im logischen Raum also mit einem veränderten Glückserleben. Dieses Glück entsteht aber nicht dadurch, dass der ethische Mensch durch seine beharrlichen Bemühungen die Fakten der Welt umgestaltet (und so z. B. Armut und Krankheit überwindet): „Es muss zwar eine Art von ethischem Lohn und ethischer Strafe geben, aber diese müssen in der Handlung selbst liegen“ (TLP 6.422). Die Geschehnisse im logischen Raum sind kontingent und die Zukunft ist notwendig offen. Ethischer Lohn, der – in Zusammenstimmung mit der notwendigen Pflicht – ebenfalls notwendig ist, kann also nicht in der stets kontingenten Faktenlage der Welt verwirklicht werden. Der ethische Lohn besteht bereits darin, dass die Welt selbst durch den veränderten Umgang mit der logischen Form verändert und harmonisch wird und genau dadurch Glückseligkeit bedingt. Die Welt von Carlo Gesualdo, im ethisch defizitären Zustand, könnte man also sagen, ist disharmonisch, da bestimmte Fakten (ausgedrückt in S2) die Kraft haben, ihn zu erschüttern. Im ethischen Zustand der Nächstenliebe fügt er sich so in den logischen Raum ein, dass sowohl der Satz S2 als auch seine Verneinung Fakten abbilden, die ihn nicht erschüttern, sondern mit denen seine ethische Grundrichtung des Lebens – Anderen nach Kräften zu helfen – kompatibel ist. Nach dem Tractatus drückt Wittgenstein den Gedanken so aus: „Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische“ (VB, S. 487).

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Seinsweisen im logischen Raum Harmonische/ethische Seinsweisen

Disharmonische/unethische Seinsweisen

E

U

E

U

Abb. 2.5: Seinsweisen im logischen Raum

Zur Illustration kann man sich, wie in Abb. 2.5., den logischen Raum als Kreis denken. Die Grenzen des Kreises stehen für die sinnlosen logischen Tautologien. Die Fläche des Kreises stellt alle möglichen sinnvollen Sätze dar. Die Figuren, die im Kreis bleiben oder ihn überschreiten, stellen die Seinsweisen dar. Die Eckpunkte der Figuren bzw. Endpunkte der Geraden stellen dar, worauf die „Stabilität“ der Seinsweise beruht. Die Eckpunkte des Dreiecks E1 liegen alle im Kreis, der die logischen Tautologien ausdrückt. Das heißt, die Person, welche in dieser Seinweise ist, kann in allen logisch möglichen Weltzuständen des Raumes sein, ohne dass sie grundlegend erschüttert wird. Es ist eine sinnlose, logische Tautologie, dass die Person in Seinsweise E1 entweder von einer anderen Person betrogen wird oder von einer anderen Person nicht betrogen wird. Dass sich das Dreieck in den Kreis harmonisch einfügt, soll darstellen, dass sich die Person in Seinsweise E1 harmonisch in diesen derart gestalteten logischen Raum einfügt und in beiden genannten möglichen Weltzuständen die Richtung ihres Lebens beibehalten kann, ohne in eine existenzielle Krise zu geraten. Eine ähnliche Seinsweise scheint z. B. in der Bergpredigt vorgeschlagen zu werden, wenn gemahnt wird, dass auch Verleumdung und Verfolgung keine

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Anlässe zur Erschütterung sein soll: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet“ (Mt, 5,10 – 11). Die Seinsweise U1 fügt sich nun nicht harmonisch in die Grenzen ein, sondern überschreitet sie. Die Endpunkte der Seinsweise befinden sich jenseits des logischen Raumes. Das kann heißen, dass die Stabilität der Seinsweise auf logisch unmöglichen Ansprüchen beruht: Ein Diktator oder Amokläufer könnte z. B. in solch einer Weise leben, dass die Richtung seines Lebens dadurch bestimmt ist, dass er „gottartiger“/allmächtiger Herrscher über Leben und Tod sein will, was jedoch für ein abhängiges Wesen wie einen Menschen logisch unmöglich ist. Eric Harris hat vor seinem Amoklauf auf seiner Website z. B. folgende Zeilen veröffentlicht: „Philosophy: My belief is that if I say something, it goes. I am the law, if you don’t like it, you die. If I don’t like you or I don’t like what you want me to do, you die. If I do something incorrect, oh fucking well, you die. Dead people cant do many things, like argue, whine, bitch, complain, narc, rat out, criticize, or even fucking talk. So thats the only way to solve arguments with all you fuckheads out there, I just kill!“ (Harris 2018 a). Das Ziel von Harris, Ruhe und Harmonie herzustellen, indem alle Leute, sobald sie sich ihm in den Weg stellen, notwendig sterben bzw. getötet werden, ist nicht realisierbar, da es nur logische Notwendigkeit gibt, welche die Wirklichkeit dieser gewünschten Faktenlagen jedoch nicht impliziert. In Seinsweise U1 ist also nie eine Harmonie im logischen Raum erreichbar. Ein anderes Beispiel für diese Rebellion gegen die Form des logischen Raumes findet sich bei einigen Anhängern des IS: „Soon, by Allah’s permission, a day will come when the Muslim will walk everywhere as a master, having honor, being revered, with his head raised high, and his dignity preserved. Anyone who dares to offend him will be disciplined, and any hand that reaches out to harm him will be cut off“ (Dabiq Magazine #12 2015, S. 3). Hier zeigt sich wieder der disharmonische, weil logisch nicht realisierbare Wunsch, dass jeder, der den Machtanspruch der Gruppe, welche dominieren will, anzweifelt, sozusagen wie mit logischer Notwendigkeit sogleich durch Gewalt zur Unterordnung gezwungen wird. Keiner der Endpunkte in Seinsweise U2 stützt sich auf die Grenzen des logischen Raumes. In diesem Muster lassen sich Aspekte einer Seinsweise einfangen, die man Carlo Gesualdo unterstellen könnte. Die Person vertritt in dieser Seinsweise den Anspruch, dass bestimmte Fakten unbedingt gelten müssen, dass z. B. der Ehepartner unbedingt nicht betrügt. Wenn die Fakten diesem widersprechen, kommt es zu einer unerträglichen Disharmonie, die durch Morde entschärft werden soll. Aber auch die Morde sind ja nicht in der Lage, die Kränkung ungeschehen zu machen, so dass sie die gewünschte Harmonie nicht herstellen. So

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wird auch von Gesualdo berichtet, dass er den Rest seines Lebens mit Depressionen und Schuldgefühlen verbrachte, obwohl er als Adliger für Ehrenmorde nicht juristisch verfolgt wurde. Um den zweiten Kern-Aspekt der Seinsweisen herauszustellen, lassen sich die Abbildungen nun etwas modifizieren (Abb. 2.6). Seinsweisen im logischen Raum Harmonische/ethische Seinsweisen

Disharmonische/unethische Seinsweisen

E

U

E

U

Abb. 2.6: Seinsweisen im logischen Raum (2)

Die schwarz ausgefüllte Fläche steht nun in gewisser Weise für die Gebote der Seinsweise: Die schwarze Fläche deckt die sinnvollen Sätze ab, die Faktenlagen beschreiben, deren Verwirklichung anzustreben ist. Die weiße Fläche zeigt die sinnvollen Sätze, die Faktenlagen beschreiben, deren Verwirklichung zu vermeiden ist. In der christlichen Variante der nächstenliebenden Seinsweise E1 könnte es demnach verboten sein, andere Personen als „Dummkopf“ (Mt 5,22) zu bezeichnen, aber geboten sein, „Arme, Krüppel, Lahme und Blinde“ (Lk 14,13) zum Essen einzuladen. Die schwarz ausgefüllte Fläche außerhalb des Kreises in Darstellung U1 steht für die logisch unmöglichen Gebote dieser Seinsweise, die darauf hinauslaufen, dass Menschen, die sich nicht freiwillig unterwerfen lassen, für diesen Mangel an Unterwerfung sofort und mit sozusagen logischer Not-

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wendigkeit verletzt oder getötet werden. Die Seinsweise E2 könnte nun, da die schwarze Fläche größer ist als bei E1, eine Seinsweise sein, die verhältnismäßig mehr Gebote aufstellt: Eine Seinsweise in der z. B. auch die Realisierung einer bestimmten, gerechten politischen Organisation angestrebt wird. Aber hier ist wieder zu betonen, dass das Glück, welches sich in der Seinsweise ergibt, nicht durch die faktenmäßigen Folgen der ethischen Handlungen entsteht. „Es ist aber klar, dass die Ethik nichts mit Strafe und Lohn im gewöhnlichen Sinne zu tun hat. Also muss diese Frage nach den Folgen einer Handlung belanglos sein“ (TLP 6.422). Der Lohn besteht stattdessen in der veränderten Grundweise des Lebens: „Das glückliche Leben scheint in irgendeinem Sinne harmonischer zu sein als das unglückliche“ (TB 14– 16, S. 173). Diese Harmonie wird nun erreicht, indem eine Übereinstimmung mit der Welt gewonnen wird: „Um glücklich zu leben, muß ich in Übereinstimmung sein mit der Welt. Und dies heißt ja ‚glücklich sein’“ (TB14– 16, S. 169). Zu dieser Harmonie gehört es gerade, dass das erlebte Glück nicht auf zufällig eintretenden Faktenlagen beruht. Aber die ethische Seinsweise ist mehr als eine Immunisierung gegen das mögliche Chaos der Geschichte, da sie ja eben auch Imperative enthält, die Handlungen und ethische Aktivität (nicht bloß passives und gleichmütiges Ertragen möglicher Nöte) vorschreiben. Warum soll nun gerade z. B. in einer Seinsweise der Nächstenliebe das harmonische und glückliche Leben bestehen? Hier ist Wittgensteins Erwiderung natürlich, dass eine informative Antwort auf diese Frage zu finden ein verwirrtes Projekt ist: Über die Güte einer Seinsweise kann man nicht informieren. „Was ist das objektive Merkmal des glücklichen, harmonischen Lebens? Da ist es wieder klar, daß es kein solches Merkmal, das sich beschreiben ließe, geben kann“ (TB 14– 16, S. 173). Diesen Aspekt der Seinsweisen können die Abbildungen 2.5 und 2.6 nicht mehr darstellen: Wenn man den logischen Raum als Kreis begreift, dann lassen sich ganz einfach Figuren herleiten, deren Endpunkte den Kreis berühren und sich in dem Sinne harmonisch in ihn einfügen. Die Güte einer Seinsweise kann man aber nicht vorab erschließen, sondern das Annehmen einer Seinsweise ist immer ein freier Sprung in das Ungewisse und Unvorhersehbare: „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?)“ (TLP 6.521). Dass man eine richtige Seinsweise errungen hat, zeigt sich dann in der Erlösung von existenziellen Leiden wie Gefühlen der Sinnlosigkeit, Angst, Isolation usw.: „Die Furcht vor dem Tode ist das beste Zeichen eines falschen, d. h. schlechten Lebens“ (TB14– 16, S. 169). Die ethische Herausforderung besteht also gerade darin, frei und eigenständig eine erlösende Seinsweise zu erringen, deren Güte sich erst nach der freien Entscheidung für sie bestätigt.

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Dass die Welt die Möglichkeit dieser Erlösung bereithält, ist für Wittgenstein in religiöser Sprache zu fassen: „An einen Gott glauben heißt sehen daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. […] [J]edenfalls sind wir in einem gewissen Sinne abhängig und das, wovon wir abhängig sind, können wir Gott nennen. […] Ich bin [wenn ich glücklich lebe] sozusagen in Übereinstimmung mit jenem fremden Willen, vom dem ich abhängig erscheine. Das heißt: ‚Ich tue den Willen Gottes’“ (TB 14– 16, S. 169).

2.2.5.3 Welt als gottbestimmte Welt vs. Welt + Gott In der religiösen Seinsweise erscheint die Welt in einer bestimmten Bedeutsamkeit. „An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. […] An Gott glauben heißt sehen, dass das Leben einen Sinn hat“ (TB14– 16, S. 168). Der Sinn hatte sich oben als Richtung gezeigt, der im Leben zu folgen ist, so dass es harmonisch ist. Gott kommt also nicht dadurch in die Welt, dass ein zusätzlicher Raum im Jenseits eröffnet wird, in dem sich als zusätzlicher Gegenstand Gott befindet, sondern die Welt erscheint in neuer Weise als gottbestimmte Welt. Augustinus: „Was ist das, was ich liebe? Befragt habe ich die Weite des Weltalls […], und es antwortete mir: nicht ich bin Gott […]. Ich habe die Erde befragt, und sie sagte: nicht ich bin Gott; und alles, was in der Welt ist, hat dasselbe Bekenntnis abgelegt. Befragt habe ich das Meer, den Weltraum und das kriechende Getier; und sie antworteten: nicht wir sind dein Gott […]. Ich habe die wehenden Lüfte befragt; und das ganze Luftreich mit all seinen Bewohnern sprach: […] nicht ich bin Gott. Ich habe den Himmel befragt, die Sonne, den Mond, die Sterne: nicht wir, sagen sie, sind der Gott“ (Augustinus 2006, S. 13). Die Welt erscheint für Augustinus in einer bestimmten Weise, da er mit den regulären Dingen der Welt – Erde, Meer, kriechende Tiere, Sterne – auf bestimmte Weise umgeht, indem er sie sozusagen als feierliche Hinweise behandelt, die Gottes Autorität unterstehen und liebend auf ihn verweisen. Im Koran wird ein ähnliches religiös verändertes Welterleben ausgedrückt: „Hast du nicht gesehen, daß es Allah ist, Den alle lobpreisen, die in den Himmeln und auf Erden sind, und die Vögel auch mit ausgebreiteten Schwingen? Jedes kennt seine eigene (Weise von) Gebet und Lobpreisung. Und Allah weiß wohl, was sie tun“ (Koran a 24:42). Gott wird hier ebenfalls nicht als zusätzlicher Gegenstand präsent, sondern als Veränderung aller regulären Gegenstände. In der Koran-Übersetzung von Ahmad Milad Karimi wird die Nichtgegenständlichkeit Gottes besonders herausgestellt: „Die Werke derer, die leugnen aber, gleichen der Fata Morgana in einer Ebene: der Durstige hält sie für Wasser, wenn er aber hinkommt, findet er nichts. Er findet Gott da“ (Koran b 24:39). Der Leugner findet nichts und gerade insofern er nichts

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findet, was den von ihm gesuchten profanen Gütern entspricht, findet er Gott da, weil Gott, falls er als Gegenstand gedacht wird, im Sinne des Seins eines Gegenstands eben tatsächlich gar nichts ist. Dass der Witz des Wortes „Gott“ nicht darin besteht, dass es auf einen zusätzlichen Gegenstand im logischen Raum verweist, sondern dass die Affirmation Gottes die Gegenstände im logischen Raum auf andere Weise erscheinen lässt, zeigt sich, wenn man beachtet, wie begegnende Menschen in verschiedenen Seinsweisen erscheinen. Für den Amokläufer Eric Harris ist es klar, dass Menschen, deren Verhalten aus seiner Sicht bestimmte intellektuelle oder andere Defizite aufweist, getötet werden sollten, da sie sich so als absolut defizitäre Wesen enthüllen: „people that only know stupid facts that arent important should be shot, what fucking use are they. NATURAL SELECTION. KILL all retards, people w/ brain fuck ups, drug adics, people cant figure out to use a fucking lighter. GEEEAWD! people spend millions of dollars on saving the lives of retards, and why. I don’t buy that shit like ‘oh hes my son though’ so the fuck what, he aint normal, kill him, put him out his misery. he is only a waste of time and money“ (Harris 2018 b). Im Kontrast dazu gibt es bestimmte religiöse Perspektiven, in denen Menschen kategorisch Potenzial zugeschreiben wird. Während Harris z. B. Drogensucht als Beleg für ein Scheitern sieht, das mit dem Tod bestraft werden sollte, gehen die Alcoholics Anonymous davon aus, dass Menschen mit Gottes Hilfe prinzipiell immer die Alkoholsucht überwinden können (vgl. Alcoholics Anonymous 1981). Hier zeigen sich zwei Seinsweisen, in denen die normale, öffentliche Welt in ganz anderer „Selbstverständlichkeit“ erscheint. Diese Selbstverständlichkeit zeigt sich in einer anderen Praxis des Umgangs mit den Gegenständen im logischen Raum. Während Harris zur Tat schritt und mehrere Menschen, deren Leben er für unwert hielt, tötete, behandeln die Alcoholics Anonymous die Abhängigen als Menschen, denen zu helfen ist. Nach dem philosophischen Bild von Russell affirmiert der Gläubige also die Existenz eines weiteren Gegenstandes außerhalb des normal zugänglichen logischen Raumes. Der Unterschied zwischen dem Gläubigen (Abb. 2.7) und dem Atheisten (Abb. 2.8) lässt sich dann folgendermaßen darstellen.

Abb. .: Sein Gottes (Welt + Gott)

Abb. .: Nichtsein Gottes (Welt ohne Gott)

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2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

Die vier Formen unter dem Strich stellen die Gegenstände im logischen Raum dar. Der Gegenstand oberhalb des Striches in Abb. 2.7 stellt den Gott-Gegenstand dar. Nach diesem Bild wird Gott nach dem Modell regulärer Gegenstände gedacht, daher sieht der Gegenstand Gott in der Darstellung fast aus wie die regulären Gegenstände im logischen Raum – er wurde bloß in der Form leicht modifiziert. Die Gegenstände in der Welt sind in Abb. 2.7 und Abb. 2.8 identisch, da nach dem Bild Gott ein zusätzlicher Gegenstand ist, der die Gestalt der anderen Gegenstände nicht tangiert. Nach Wittgenstein zeigt sich Gott dadurch, dass die Welt als gottbestimmte Welt auftaucht und der Umgang mit den Gegenständen im logischen Raum anders wird. Der Gläubige (Abb. 2.9) und der Ungläubige (2.10) leben zwar beide in der geteilten öffentlichen Welt, aber gehen kategorisch anders mit ihr um, so dass sie in einer jeweils anderen Selbstverständlichkeit erscheint. In diesem Sinne leben sie also in anderen Welten.

Abb. .: Sein Gottes (Gottbestimmte Welt)

Abb. .: Nichtsein Gottes (Nicht gottbestimmte Welt)

Die Pfeile in Abb. 2.9 und Abb. 2.10 stellen dar, welcher Umgang mit den Gegenständen geboten ist. Für die nächstenliebende Seinsweise gilt, dass einem Menschen immer nach Kräften geholfen werden muss. In der „natürlichen“ Seinsweise ist das nicht geboten, sondern alle im logischen Raum möglichen Handlungen stehen prinzipiell offen: Man kann der anderen Person aus Sympathie helfen, man kann der anderen Person um die eigene Überlegenheit herauszustellen helfen, sie für wirtschaftliche Zwecke engagieren, sie wegen ihrer Talente verehren, sie erniedrigen, usw. usf. Dies ist in den Bildern dadurch ausgedrückt, dass die Pfeile in Abb. 2.10 in alle möglichen Richtungen zeigen, während die Pfeile in Abb. 2.9 immer nur in eine Richtung weisen – nach links oder nach oben. So wird deutlich, warum die Religion keine Evidenz aus dem logischen Raum braucht, da es in ihr eben gar nicht um die Tatsachen im logischen Raum geht, sondern darum, sich in ihn einzufügen. Die religiöse Seinsweise hat nun nach Wittgenstein einen bestimmten Sinn, eine bestimmte Richtung, die zur Erlösung führt. Der a-religiösen Seinsweise fehlt diese Richtung. Das ist in den Bildern dadurch ausgedrückt, dass man, wenn man den Pfeilen in Abb. 2.9 folgt, immer zu einem klaren, ruhigen Endpunkt kommt:

2.2 Auslegung und Ordnung der Sprechweisen

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Dem Punkt links oben. Die Pfeile in Abb. 2.10 sind so, dass man von jeder Stelle zu jeder anderen Stelle und wieder zurück fortschreiten kann. Das kann als Chaos erlebt werden, so dass sich für so eine Person die Notwendigkeit einer religiösen Seinsweise auftut. Durch den anderen praktischen Umgang mit den Gegenständen sind diese in einer anderen Selbstverständlichkeit da, was dadurch ausgedrückt wird, dass die Gegenstände in Abb. 2.9 anders „leuchten“ als in Abb. 2.10.

2.2.5.4 An-Gott-glauben vs. Glauben-dass-Gott-existiert Russell fasst den Glauben an Gott als Hypothese, dass ein bestimmter Gegenstand existiert. Das steht im scharfen Kontrast zur Sicht der Autoren der Bibel, nach denen es im Glauben an Gott gar nicht darum geht, zu affirmieren, dass Gott existiert. „Du glaubst: Es gibt nur den einen Gott. Damit hast du Recht; das glauben auch die Dämonen und sie zittern“ (Jak 2,19). Im Buch Ijob tritt der Satan als Gottessohn auf (Ijob 1,6). Laut dem Markusevangelium (1,34) wissen die Dämonen, wer Jesus ist, lehnen ihn aber ab. Das Wort kafir bezeichnet im Koran eigentlich keinen Ungläubigen, der von der schieren Existenz Gottes nichts weiß, sondern einen Leugner, der zwar von Gott weiß, aber sich weigert ihn anzuerkennen (vgl. Uhde 2014, S. 548). Nietzsche schreibt: „Wir leugnen Gott als Gott . . . Wenn man uns diesen Gott der Christen bewiese, wir würden ihn noch weniger zu glauben wissen“ (1999, S. 225). Diese Ungläubigen glauben also (potenziell), dass Gott existiert. Aber sie glauben nicht an ihn, da sie ihn nicht liebend als Autorität annehmen. Daher sind sie laut der religiösen Perspektive auch nicht erlöst. An dieses Verständnis schließt Wittgenstein an: „Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert“ (TLP 6.41). Die Welt besteht aus den schieren, arrangierten Gegenständen. Aber das schiere Konfrontiertwerden mit einem Ding bedeutet nicht, dass man notwendig vor ihm ethische Achtung hat. Die ethisch-religiöse Haltung kann sich gar nicht einfach aus der Existenz eines ding-artigen Gottes im logischen Raum ergeben. Stellen wir uns ein mächtiges Wesen im logischen Raum vor, das die Macht hat, Menschen für ihre Taten zu belohnen oder zu bestrafen, indem das Wesen die betreffenden Menschen in ein Gefängnis oder einen Garten versetzt. Es ist nun nicht schwer, sich vorzustellen, dass eine Person, die mit diesem Gottding konfrontiert wird, von ihm empört ist und sich in eine entrüstete Rebellion begibt und die Strafen, die sie durch es erhält, in Kauf nimmt, um die eigene ethische Integrität und Richtung zu wahren. Gott ist bei Wittgenstein aber gerade das, was sich zeigt – falls es sich in so einem Fall zeigt –, wenn der Rebell trotz der Leiden im logischen Raum eine höhere, erlösende Ruhe und Integrität verspürt, die daraus resultiert, dass er das Gute tut. Das heißt aber nicht, dass sich Wittgenstein

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2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

mit Gott nur auf eine bestimmte menschliche Haltung bezieht, dass er Gott auf eine menschliche Praxis des Umgangs mit der Welt reduziert.

2.2.5.5 Gott in Bildern vs. Gott + Bilder Gottes Wenn man Gott als Gegenstand denkt, der bestimmte Eigenschaften hat (z. B. zeitliche Unendlichkeit oder maximal große Macht), dann kann man den Gegenstand zwar durch andere Gegenstände bildlich darstellen (als König um die Macht zu verbildlichen, oder als Fels um die Unabhängigkeit von der Zeit zu illustrieren), aber er ist eben auch ohne die Bilder denkbar. In anderen Wörtern: Die Bilder können in nicht-Bildliches übersetzt und aufgelöst werden und so in gewisser Weise überflüssig gemacht werden. Wittgenstein betont nun, dass man die Bilder, die in religiöser Sprache benutzt werden, eben nicht in nicht-Bildliches übersetzen kann. „[I]n ethical and religious language we seem constantly to be using similes. But a simile must be the simile for something. And if I can describe a fact by means of a simile I must also be able to drop the simile and to describe the facts without it. Now in our case as soon as we try to drop the simile and simply to state the facts which stand behind it, we find that there are no such facts“ (LE, S. 43). Zur Zeit des Tractatus sind Wittgenstein zwei Bilder für Gott wichtig. Wir erleben uns als Teil einer Welt, die nicht wir geschaffen und gestaltet haben. Das ruft das Bild eines übermächtigen fremden Willens hervor: „Die Welt ist mir gegeben […]. Daher haben wir das Gefühl, daß wir von einem fremden Willen abhängig sind […] und das, wovon wir abhängig sind, können wir Gott nennen“ (TB 14– 16, S. 169).Weiterhin hebt er hervor, dass man als Mensch die Möglichkeit hat, diesen fremden Willen als Autorität anzuerkennen: „Den Sinn des Lebens, d.i. den Sinn der Welt, können wir Gott nennen. Und das Gleichnis von Gott als einem Vater daran knüpfen“ (TB 14– 16, S. 167). Dass Gott immer über Bilder dargestellt wird, ohne dass die Bilder eingelöst werden können, und Gott somit nicht in so etwas wie dem ur-eigenen göttlichen Sein präsentiert werden kann, heißt damit auch, dass der exakte ontologische Status nicht bestimmbar ist und entzogen bleibt. Stattdessen ist Gott als Wunder da, das sich der rationalen Durchleuchtung und Einordnung entzieht. Gott selbst ist das Wunder der ethisch strukturierten Existenz. Im Wunder zeigt sich nun aber für den Gläubigen etwas Wirkliches. Im Wunder wird etwas Wirkliches angedeutet, das aber den Rahmen des rationalen Verstehens sprengt. In der Lecture on Ethics hebt Wittgenstein an der religiösen Haltung hervor, dass dort die Welt als Wunder erlebt wird: „[I]t is the experience of seeing the world as a miracle“ (LE, S. 43). In den Naturwissenschaften kann es zwar erstaunliche Fakten geben, die ungewohnte Erklärungen erfordern. Aber diese er-

2.2 Auslegung und Ordnung der Sprechweisen

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staunlichen Fakten können, solange sie naturwissenschaftlich erklärbar sind, gerade wegen ihrer Erklärbarkeit eben keine Wunder sein: „The truth is that the scientific way of looking at a fact is not the way to look at it as a miracle“ (LE, S. 43). Nun können wir die obige Darstellung (Abb. 2.9) der religiösen Seinsweise komplettieren. Die religiöse Seinsweise besteht in einem bestimmten diesseitigen Umgang mit der regulären, öffentlichen Welt. Aber dieser Umgang wird für den Gläubigen gerade dadurch ermöglicht, dass er die Welt als einer höheren, entzogenen Wirklichkeit (Gott) unterstehend sieht, die es ermöglicht, erlösende Muster des Seins in der öffentlichen Welt zu finden. Da Gott nur über Bilder zugänglich ist, die sich nicht in rational greifbare Wirklichkeiten übersetzen lassen, so dass Gott nie mit einem der Bilder für ihn gleichgesetzt werden kann, wird der jenseitige Aspekt Gottes nun in der komplettierten Abb. 2.11 durch das Ungleichzeichen dargestellt.

Abb. 2.11: Sein Gottes (Durch Gott als Wunder bestimmte Welt)

Zu beurteilen, ob eine religiöse Seinsweise nun zu ergreifen oder zurückzuweisen ist, ist für Wittgenstein nicht Aufgabe der Philosophie. Die Aufgabe der Philosophie besteht bloß darin, klarer erscheinen zu lassen, wie die menschlichen Verstehensweisen funktionieren. „Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken“ (TLP 4.112).Wittgenstein stellt das religiöse Verstehen im Tractatus aber als eine Grundweise des menschlichen Verstehens dar, die daher zu klären ist. Er richtet sich zwar strikt gegen die moderne Idee, Religion abzulehnen, weil sie als scheiternde Wissenschaft oder Pseudo-Wissenschaft verstanden wird, aber er affirmiert auch nicht, dass religiöse Seinsweisen der Wirklichkeit gerecht werden.Wittgenstein betont ja gerade auch, dass es eben zur Religion gehört, dass sie grundlos akzeptiert wird. Er attackiert lediglich klar die moderne Vermischung von Naturwissenschaft und Gott: „So bleiben [die Modernen] bei den Naturgesetzen als bei etwas Unantastbarem stehen, wie die Älteren bei Gott und dem Schicksal. [..] Die Alten sind allerdings insofern klarer, als sie einen klaren Ab-

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2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

schluss anerkennen, während es bei dem neuen System scheinen soll, als sei alles erklärt“ (TLP 6.372). Laut dieser Auslegung zeigt sich für Wittgenstein eine transzendente, eigenständige Wirklichkeit Gottes dadurch, dass in der regulären, öffentlichen Welt bestimmte harmonische Muster aufscheinen, an denen man sich so orientieren kann, dass Erlösungserlebnisse eintreten und die Welt als sinnvoll ausgerichtet erscheint. Warum wurde die Möglichkeit,Wittgenstein so zu verstehen, dass er weder (a) die traditionelle externe Perspektive der Metaphysik, trotz einiger kosmetischer Verdeckungen, eigentlich wiederholt, noch (b) die externe Perspektive überhaupt ablehnt, von den einflussreichen, hier beachteten Interpreten nicht ergriffen? Um die Frage zu beantworten, ist noch einmal zu betrachten, wie theoretische und resolute Interpreten den Status ethischer Sätze bei Wittgenstein auslegen.

2.2.5.6 Ethische Sätze in der theoretischen Lesart Laut der theoretischen Lesart von Schroeder ist die „Unsinnigkeit“ und „Unsagbarkeit“ ethischer Sätze nicht intendierte philosophische Schärfung einer vorphilosophisch zugänglichen Funktionsverschiedenheit von naturwissenschaftlichen und ethischen Sprachäußerungen, sondern schierer, „zufälliger“ Effekt theoretischer Prämissen, die Wittgenstein entwickelt hat, um logische Probleme bei Frege und Russell zu lösen. „From the earlier parts of the [Tractatus] it follows that ethics cannot be put into words (TLP 6.421), for matters of moral value are not merely contingent (TLP 6.41). One would not say that murder or gratuitous cruelty, for instance, just happen to be bad, but might have been good had things turned out differently. Thus moral (and aesthetic) value judgements violate the bipolarity requirement for meaningful propositions. Moreover, the Tractatus allows only descriptive language, but moral judgements are irreducibly prescriptive“ (Schroeder 2006, S. 99). Schroeder kommt damit zu dem Ergebnis, dass Wittgenstein eine eigentlich falsche philosophische Position vertritt, wenn er ethische und metaphysische Sätze als unsinnig bezeichnet. „Wittgenstein intended the Tractatus propositions to be ’nonsense’ on the ground that they were to be necessarily true. As this amounts to a misuse of the word ’nonsense’, we should not agree with his verdict, nor accept the bipolarity principle underlying it“ (Schroeder 2006, S. 112). Der ganze Unterschied zwischen ethischen und naturwissenschaftlichen Sätzen wird somit darauf heruntergebrochen, dass ethische und metaphysische Sätze notwendig wahr sind und naturwissenschaftliche Sätze eine Bipolarität aufweisen, insofern sie prinzipiell wahr oder falsch sein können. Die ethischen Sätze werden somit nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Sätze gedacht, aber

2.2 Auslegung und Ordnung der Sprechweisen

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dann in dem spezifischen Aspekt modifiziert, dass sie als notwendig wahr gedacht werden. Während der naturwissenschaftliche Satz auf kontingente Fakten verweist, verweist der ethische Satz, so dieses verworrene Bild, auf notwendige Fakten. Gegen diese Bewegung des Angleichens naturwissenschaftlicher und ethischer Sätze argumentieren nun die resoluten Interpreten, die auf die radikale Andersartigkeit ethischer Äußerungen beharren und sie als reinen Unsinn auslegen.

2.2.5.7 Ethische Sätze in der resoluten Lesart Laut Cora Diamond (2000, S. 153) gilt: „[T]here are no ethical propositions […].“ Ein ethischer Satz wie „Du sollst mit gutem Willen an deine Mitmenschen herantreten und ihnen nicht leichtfertig schlechte Motive unterstellen“ ist laut der ordnenden Lesart unsinnig, insofern er nicht auf die Weise begründbar und somit rational für jeden Sprecher zwingend einsichtig zu machen ist wie ein naturwissenschaftlicher Satz. Dazu gehört, dass der ethische Satz nicht klar vorhersehbar die Richtung (den Sinn) des Lebens der ihn vernehmenden Person bestimmen wird. Diamond (2000, S. 153) legt die Unsinnigkeit ganz anders aus: „[A]nything we take to be an ethical proposition has no more sense than ’piggly wiggle tiggle’.“ Laut Diamond sind alle Sätze des Tractatus reiner Unsinn, der von externen Sinn-Illusionen umgeben ist. Diese Sinn-Illusionen sind für sie zwar an sich radikal unverständlich, die Person, die von diesen Illusionen ergriffen ist, ist jedoch durch eine „imaginative activity“ (Diamond 2000, S. 157), in der wir die Person und den Reiz der Illusion verstehen, doch wieder nachvollziehbar. Während aber die metaphysischen Sätze, die das Wesen der Welt ausdrücken, laut Diamond ihren Reiz verlieren, wenn sie als reiner Unsinn erkannt werden, so bleiben ethische Sätze reizvoll, auch wenn sie als schiere Sinnillusionen begriffen werden. „The attractiveness of philosophical sentences will disappear through the kind of self-understanding that the [Tractatus] aims to lead to in philosophers; the attractiveness of ethical sentences will not“ (Diamond 2000, S. 161). Die philosophisch reflektierte ethische Person soll demnach zu einem „self-aware user of nonsense“ (Diamond 2000, S. 162) werden. Dies geschieht, indem die Person, die ethische Sätze äußern will, realisiert, dass die scheinbaren ethischen Sätze gar nicht das erreichen, was der sie Äußernde zu erreichen sucht: „We may […] recognize that the person who utters some [nonsensical] sentence speaks with an intention that would […] be frustrated by his sentence’s making sense“ (Diamond 2000, S. 163). Laut Diamond verstehen wir einen Satz, in dem ausgedrückt wird, dass jemand ein bestimmtes innerweltliches Ziel erreichen will. Im Satz „Ludwig Wittgenstein will in der Sowjetunion leben“ oder „Die 5-jährige Sofia Gubaidulina will

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2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

Komponistin werden, weil sie glaubt, dass sich sämtliche Kompositionen der Welt auf die wenigen ihr bekannten Kinderlieder beschränken“ hat jedes Wort eine Bedeutung. Ein ethischer Satz wie „N.N. will das Gute/das Böse“ oder „N.N. hat einen bösen Willen“ ist, so Diamonds Behauptung, nach den eben genannten Vorbildern gedacht. Aber da nicht ein partikulares innerweltliches Ziel angestrebt wird, sondern der ethische Satz eine Haltung zur ganzen Welt an sich ausdrücken soll, in Bezug zu welcher der Agent das Gute oder Böse will, umgibt ihm, so Diamond, eine Sinn-Illusion und vom logischen Standpunkt ist er reiner Unsinn. „In understanding a person whose will is evil, we model our understanding on the understanding of a person who wills some particular thing, the content of whose will can be given in a sentence of our language“ (Diamond 2000, S. 167). Zwei verschiedene Erwiderungen auf diese Lesart drängen sich auf. (1) Man kann den Aspekt forcieren, dass der resolute Anspruch, dass ethische Sätze reiner Unsinn sind, eigentlich implizit wieder aufgegeben wird, wenn die Person, welche vom Unsinn gereizt wird, als verständlich bezeichnet wird. Wenn ethische Sätze eigentlich doch über den Umweg der Person verständlich sind und gewissermaßen etwas „sagen“, dann wird unklar, ob die ganze philosophische Operation der resoluten Interpreten nicht bloß auf eine kosmetische Unterscheidung hinausläuft. (2) Man kann den Aspekt ernst nehmen, dass ethische Sätze eigentlich radikal inhaltsleere Äußerungen sind, die ein Wittgensteinianer dennoch nicht aufgeben will. Damit scheint aber das Eigentliche der Ethik – das Befolgen eines absoluten Gebots – aufgehoben und die Imperative, unschuldige Kinder nicht zu quälen oder keinen Völkermord zu begehen, sinken zum Status hinab, Unsinn vom Kaliber „piggly wiggly tiggle“ zu sein, den man aber nun mal attraktiv findet. Weder in der theoretischen noch in der resoluten Lesart gelingt es somit, das Spezifische und Eigentliche der ethischen Sätze zu gewinnen. Laut der theoretischen Lesart sind ethische Sätze quasi-naturwissenschaftliche Sätze. Laut der resoluten Lesart sind ethische Sätze gewissermaßen anti-naturwissenschaftliche Sätze oder Anti-Sätze. Beide verharren in der Position, sich einen Satz entweder als naturwissenschaftlichen Satz oder als umgedrehten anti-naturwissenschaftlichen Satz bzw. Anti-Satz vorzustellen. In der ordnenden Lesart werden ethische Sätze in ihrer Eigenartigkeit anerkannt, wenn sie als Ausdruck von Seinsweisen zum logischen Raum verstanden werden. Damit ist eine Art des Satzes fixiert, die nicht nach dem Modell des abbildenden, naturwissenschaftlichen Satzes funktioniert und auch nicht, weil er nicht abbildet, als radikaler leerer Satz ausgelegt wird, sondern der Satz wird in seiner eigenartigen Funktionsweise anerkannt, wenn er als Satz verstanden wird, der das Einfügen eines Handelnden in den logischen Raum ausdrückt. Die spezifische Figur des Einfügens und der Einfügbarkeit, die ganz klar vom Abbilden der Naturwissenschaft und der Abbildbarkeit

2.2 Auslegung und Ordnung der Sprechweisen

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der Fakten im logischen Raum abzugrenzen ist, stellt hier Teil des Gewinns der philosophischen Klärung dar.

2.2.5.8 Übersehen der spezifischen Wirklichkeitsweise Gottes durch die Wittgensteinianer Die hier betrachteten Wittgensteinianer schwanken dazwischen, sich theoretisch Gott als Modifikation natürlicher Gegenstände zu denken und resolut Gott/das Gute als attraktive Sinn-Illusion, die man vielleicht bewusst affirmieren will, zu fassen. Gott ist dann entweder Übernaturding oder Illusion. Keiner Lesart gelingt es eine genuin spezifische Seinsweise Gottes zu denken, in der transparent wird, warum Gott zwar nicht da und wirklich ist so wie ein Naturgegenstand wirklich ist, Gott aber auch nicht auf das Resultat einer menschlichen Praxis reduziert werden kann. Das liegt möglicherweise daran, dass die Wittgensteinianer die Lektion Wittgensteins, die Vielfalt der Verstehensweisens zu beachten, nicht befolgen. Präsenz des Gleichrangigen: In der Naturwissenschaft wird in einer ganz spezifischen Weise Wirklichkeit fixiert. Dort wird Wirklichkeit als „Präsenz des Gleichrangigen“ fixiert. Damit ist gemeint, dass das Bestehen einer Wirklichkeit genau dadurch überprüft wird, dass zwei Naturgegenstände miteinander verglichen werden: Der Satzzeichengegenstand, der ein natürlicher Fakt ist, wird mit dem abgebildeten Fakt verglichen. Das Zeichending, das als naturwissenschaftlicher Satz fungiert, ist ein Fakt in der natürlichen Welt, genauso wie die Fakten, die durch den Satz abgebildet werden, Fakten in der natürlichen Welt sind. „Das Satzzeichen ist eine Tatsache“ (TLP 3.14). Das Satzzeichen „Im Grunewald in der Nähe der Sandgrube halten sich mindestens zwei Raben auf“ ist eine naturwissenschaftlich beschreibbare Tatsache (die z. B. als bestimmte Pixelanordnung auf einem Bildschirm oder als bestimmter Tintenabdruck auf Papier beschreibbar ist). Wenn es als Satz aufgefasst wird, lässt es sich über eine bestimmte Technik mit einer gleichrangigen Wirklichkeit vergleichen. Man blickt auf den Satz, dann blickt man an die relevante Waldstelle, überprüft Ruf und Gefieder der erscheinenden Vögel, zählt diese und so weiter. Der springende Punkt ist, dass sowohl der Satzdingfakt als auch der durchs Satzding abgebildete Fakt zur gleichen hierseienden Erlebnissphäre gehören. Mit Wirklichkeit ist in diesem Kontext die einen angehende Wirklichkeit hierseiender Gegenstände gemeint. Wenn die Gegenstände nicht unmittelbar hier sind, so können sie, grob vereinfacht gesagt, doch selbst hierhergebracht werden (wie z. B. Gestein von fremden Planeten) oder über Evidenz (wie z. B. Mikroskope oder Teleskope) ins „Hier“ vermittelt werden. Muster als Zeichen für Übergeordnetes. In der Ethik geht es nun nicht um das Gleichrangige, sondern um das Übergeordnete, nämlich „das Höhere“ (TLP 6.42,

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2 Wegphase I (Tractatus Logico-Philosophicus)

6.432). Während es in der Naturwissenschaft darum geht, einen Aspekt der hierseienden Wirklichkeit mit einem anderen Aspekt derselben hierseienden Wirklichkeit zu vergleichen, so geht es bei der Ethik/Religion darum, dass die ganze hierseiende Praxis sich an einem (absoluten) Standard des Guten messen soll, der aber eigentlich entzogen ist. Die Entzogenheit liegt daran, dass man als ursprachliches Wesen nicht die Sprachlichkeit abstreifen kann und die ganze Sprachpraxis aus einer sprachfreien Perspektive bemessen kann. Es geht also gerade um eine Wirklichkeit, die prinzipiell nicht hier sein kann. Daraus folgt aber nicht, dass das Nichthierseiende keinerlei Rolle spielt. Es ist so, dass sich das Nichthierseiende im Hierseienden „bekundet“. Im Unterschied zu Naturgegenständen, die über Evidenz vollständig vermittelt werden können, kann das Ethische aber gewissermaßen nur in den Grenzbereichen „angedeutet“ werden und bleibt in letzter Analyse prinzipiell-distanziert. An der Grenze jedoch deutet sich aspektweise das Höhere/„Jenseitige“ an. Wie bekundet sich nun das Höhere? Ist es einfach eine Art unbekannter, angrenzender Wirklichkeitsbereich, über den man verschiedene Spekulationen anstellen kann? Bekundet sich das Höhere als Raum für Spekulationen? Ist der Maßstab, der angewendet werden kann, um etwas über das Höhere zu erfahren, dass in einer Art armchair-philosophy kohärente Kandidaten für sprachexternes Seiendes entwickelt werden? Das wäre für Wittgenstein der fehlgehende Maßstab der Metaphysik. Der für Wittgenstein entscheidende Maßstab ist das gelingende Leben. Es gibt für Wittgenstein ein Hinausgehen mit Bildern über die „diesseitige“ Welt, die durch dieses Hinausgehen eine gewisse Ähnlichkeit mit der metaphysischen Spekulation hat, wenn Gott z. B. als strenger Vater gedacht wird.Während die Spekulation der armchair-philosophy aber keine klaren Erfolgskriterien bereithält, so sind bei der guten Lebenspraxis schärfere Erfolgskriterien zugänglich. Wenn in einer bestimmten ethischen Praxis, die mit bestimmten Bildern verknüpft ist, z. B. die Angst vor dem Tod erlischt, dann ist das für Wittgenstein ein Zeichen dafür, dass die Lebenspraxis wirklich dem externen Standard gerecht wird. Dass in einer bestimmten Praxis im oben erläuterten Sinne harmonische Muster im logischen Raum erkannt werden, ist für Wittgenstein ein Hinweis/Wink/Zeichen dafür, dass in dieser Praxis tatsächlich auf adäquate Weise ein angrenzender, übergeordneter genuin-eigenständiger Wirklichkeitsbereich berührt wird. Es gibt also im Bereich Naturwissenschaft und Ethik zwei verschiedene Weisen mit Wirklichkeiten umzugehen. Wirklichkeit in der Naturwissenschaft ist die Wirklichkeit hierseiender-einen-angehender-Gegenstände und die Wahrheit eines naturwissenschaftlichen Satzes wird überprüft durch Vergleichen-des-hierseienden-Satzdingfaktes-mit-dem-abgebildeten-hierseienden-Fakt. Wirklichkeit in der Ethik ist das sich-hier-durch-harmonische-Muster-Andeuten-eines-absoluten-

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Standards. Wenn man diese Vielfalt der Satzarten nicht im Blick behält und Wirklichkeit immer implizit als die hierseiende Wirklichkeit, die in der Naturwissenschaft besprochen wird, auffasst, dann ergeben sich als philosophische Positionen jene, die von den theoretischen und resoluten Tractatus-Interpreten gewählt wurden: Dann sind ethische Sätze entweder quasi- oder pseudo-naturwissenschaftliche Sätze, die sich auf Wirklichkeiten beziehen, die nach dem Modell der Naturwirklichkeit gedacht werden, oder ethische Sätze sind schiere Sinnillusionen, wie die Resoluten meinen.

3 Wegphase II: Spätphilosophie (Philosophische Untersuchungen & Über Gewissheit) In der Spätphilosophie intensiviert Wittgenstein seine methodische Grundvision des Ordnens der Vielfalt der Sprachphänomene. Es werden nun nicht nur die drei Sprech- und Verstehensweisen naturwissenschaftlicher, logischer und ethischer/ ästhetischer/philosophischer Sätze geordnet, sondern es wird eine potenziell unendliche Vielfalt der Sprachspiele geordnet. Wittgenstein hat dabei im Tractatus nicht nur eine zu geringe Vielfalt der Sprechweisen anerkannt, sondern sich diese auch an sich zu grob vorgestellt. Im Tractatus betont Wittgenstein z. B., dass die Bedeutung eines Namens nur im Gebrauch (vgl. TLP 3.26 – 3.263) fixiert wird, aber dieser Gebrauch als Korrelieren eines Namens mit einem Gegenstand zu fassen ist. Im Tractatus genügte diese Unterscheidung, um Logik (die sich nicht auf Gegenstände bezieht, sondern auf die logische Form davon, was es überhaupt heißt, Gegenstand zu sein) von Naturwissenschaft (die sich auf die von Gegenständen gebildeten Faktenlagen bezieht) abzugrenzen. Das Bild ist aber immer noch zu unordentlich, da es mit anderen philosophischen Verwirrungen und Problemen verknüpft ist, die nun auch in den folgenden Kapiteln behandelt werden. Zu dem Ordnen Wittgensteins gehört es, die Sprachphänomene als Phänomene so anzuerkennen, wie sie sich zeigen. Diese „innere“ Perspektive, in der die Phänomene, so wie sie erscheinen, ernst genommen werden, führt aber nicht einfach zum Ausschluss der externen Perspektive. Es ist dabei die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass das Hinausweisen zum Externen gerade zur inneren Gestalt und Konstitution der Phänomene gehört. Es wird dann nicht versucht, über das Phänomen hinauszuspringen in einen externen Bereich, sondern gefasst, inwiefern das abwesende Externe gerade eine konstitutive Rolle für das „Innere“ des „gegebenen“ Phänomens spielt.

3.1 Wörter repräsentieren keine Gegenstände 3.1.1 Angriffsziel Das erste irreführende „Bild vom Wesen der menschlichen Sprache“ (PU § 1), das Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen angreift, charakterisiert er so: „Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände – Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen. […] Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung https://doi.org/10.1515/9783110664676-006

3.1 Wörter repräsentieren keine Gegenstände

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ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht“ (PU § 1).

3.1.2 Erscheinungsformen des irreführenden Bildes Als Beispiel für dieses Bild zitiert Wittgenstein aus den Bekenntnissen des Augustinus: „Nannten die Erwachsenen irgend einen Gegenstand und wandten sie sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr und ich begriff, daß der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, da sie auf ihn hinweisen wollten. Dies aber entnahm ich aus ihren Gebärden, der natürlichen Sprache aller Völker, der Sprache, die durch Mienen- und Augenspiel, durch die Bewegungen der Glieder und den Klang der Stimme die Empfindungen der Seele anzeigt […]“ (PU § 1). Aber auch in Wittgensteins eigenem Tractatus ist dieses Bild noch nicht vollständig entwirrt. Zwar weist Wittgenstein bereits dort dieses Bild für Sätze in den Feldern Logik, Ethik, Ästhetik und Philosophie zurück, aber lässt es ansonsten für alle naturwissenschaftlichen Sätze gelten: „Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit“ (TLP 2.12). „Den Gegenständen entsprechen im Bild die Elemente des Bildes“ (TLP 2.13), „Die Elemente des Bildes vertreten im Bild die Gegenstände“ (TLP 2.131).

3.1.3 Philosophische Probleme, die aus dem Bild erwachsen Wenn Worte für Gegenstände stehen, wird es bei vielen Worten rätselhaft, was für Gegenstände sie bezeichnen. Dementsprechend hat Wittgenstein auch nie entschiedene Beispiele für die einfachen Gegenstände gebracht, die im Tractatus aus philosophischen Erwägungen postuliert werden. Konkret stellen sich z. B. diese Fragen: Inwiefern sind logische Konstanten, Tätigkeiten, Abstrahierungen, ethische Gebote, Zustände, nichtexistente „Fantasiegegenstände“ oder Zahlen durch Worte bezeichnete Gegenstände? Wenn Sätze einfach Kombinationen aus Worten sind, die Gegenstände vertreten, wie kann ein Satz, der ja einfach nur das Arrangement von Gegenständen beschreiben kann, als Aufforderung aufgefasst werden? Wie wird zwischen dem nicht-sprachlichen Gegenstand und dem Wort ein Band geknüpft, so dass das Wort den Gegenstand bezeichnet? Wieso stehen Wort und bezeichneter Gegenstand nicht einfach wie zusammenhanglose Fragmente nebeneinander? Wenn der Geist ein Gegenstand ist und der Körper ein anderer Gegenstand ist, wie können die beiden Gegenstände miteinander eigentlich in eine Beziehung treten?

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3 Wegphase II: Spätphilosophie

Diese Problemfamilie steht bereits ganz am Anfang der westlichen Philosophie und wird z. B. in Platons Dialog Parmenides ins Zentrum gerückt. Dort vertritt Sokrates die These, dass es intelligible Gegenstände gibt, auf welche sich Begriffe wie „die Ähnlichkeit“, „Eins“, „das Viele“, „das Schöne“, „das Gute“ und so weiter beziehen (Parmenides, 130a-c). Die Notwendigkeit zum Postulat dieser Gegenstände ergibt sich daraus, dass wir sinnvoll das Gute oder das Schöne besprechen können, ohne dass diese Gegenstände in unserer alltäglichen Erfahrungswelt zugänglich wären wie z. B. ein bestimmtes Holzbrett oder ein bestimmter Bienenstock. Es entstehen im Rahmen dieser philosophischen Theorie nun viele neue Probleme. Im Dialog tritt Parmenides als Kritiker des Sokrates auf und weist darauf hin, dass es schwierig ist, sich vorzustellen, wie die intelligiblen Gegenstände die Genese der sichtbaren Gegenstände bedingen. Sokrates will sagen, dass die sichtbaren Gegenstände durch Teilhabe an den intelligiblen Gegenständen ihr Wesen haben. Aber das Teilhaben der konkreten, partikularen Gegenstände am einen intelligiblen Gegenstand hat laut Parmenides die absurde Konsequenz, dass der eine intelligible Gegenstand sich in lauter Teile aufspaltet, die auf nicht nachvollziehbare Weise in den verschiedenen, relevanten sichtbaren Gegenständen sind, wodurch der intelligible Gegenstand – absurderweise – aufhört ein einfacher, benennbarer Gegenstand zu sein (Parmenides, 130e-131e). Sokrates will weiterhin sagen, dass, wenn es eine Menge von sichtbaren Dingen mit Eigenschaft E gibt, es eine intelligible Form der Eigenschaft E geben muss, welche den sichtbaren Dingen diese Eigenschaft verleiht. Aber, so Sokrates, damit diese Eigenschaft verliehen werden kann, muss die Form die Eigenschaft selbst besitzen. Aber das hat, wie Parmenides forciert, die unangenehme Konsequenz, dass die Form selbst zur Menge der Dinge mit Eigenschaft E gehören muss, die eine intelligible Form nötig hat, welche den Dingen die Eigenschaft verleiht. Es kommt also zum infiniten Regress (Parmenides, 132a-b). Weiter will Sokrates sagen, dass die Gegenstände der Alltagswelt sich durch ein Ähnlichkeitsverhältnis als Nachbilder auf die Formen, welche die Urbilder sind, beziehen. Aber da verweist Parmenides wieder auf einen infiniten Regress: Wenn Ähnlichkeit im Nachahmen des Urbildes besteht, dann benötigt die Form, die ja auch dem Nachbild ähnlich ist, wiederum ein übergeordnetes Urbild, welches die Ähnlichkeit verleiht (Parmenides, 132c-133a). Final weist Parmenides auf die Schwierigkeit hin, die er für die gravierendste hält: Die intelligiblen und sichtbaren Gegenstände werden zwei ganz andersartigen Seinsbereichen zugeordnet. Interaktion gibt es innerhalb eines Bereiches. Ein Sklave ist ein bestimmter Sklave eines bestimmten Herrn; er ist nicht eigentlich Sklave der intelligiblen Form des Herrn. Der Graben zwischen den Seinsweisen hat nun aber zur Folge, dass die Formen eigentlich unerkennbar sein müssen (Parmenides, 133a-134e).

3.1 Wörter repräsentieren keine Gegenstände

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Dennoch werden von Parmenides diese Schwierigkeiten nicht als absolut fundamental aufgefasst. Die Alternative wäre es, die Existenz von intelligiblen Formen aufzugeben; doch daraus würde folgen, dass man nicht mehr sinnvoll und wissenschaftlich über die Welt reden kann. Dennoch aber, o Sokrates, sagte Parmenides, wenn jemand auf der anderen Seite nicht zugeben will, daß Begriffe Seiendes sind, weil er eben auf alles Vorige und mehr Ähnliches hinsieht und keinen Begriff für jedes Besondere bestimmt setzen will: so wird er nicht haben, wohin er seinen Verstand wende, wenn er nicht eine Idee für jegliches Seiende zuläßt, die immer dieselbe bleibt, und so wird er das Vermögen der Dialektik gänzlich aufheben (Parmenides, 135b-c).

Haken wir hier kurz ein und beachten, dass Platon und Wittgenstein hier im Philosophieren gewissermaßen beide an die Stelle geraten, an der man als Philosophierender von den Problemen, die sich aus diesem („augustinischen“) Bild der Sprache ergeben, überwältigt wird. Wie kann man von hier aus weitergehen? Welche Wege eröffnen sich? Platon schlägt den Weg ein, die problematische, philosophische Methode zu intensivieren. Nach den Einwänden des Parmenides heißt es im Dialog, dass man die dialektische, philosophische Methode nun noch besser üben sollte, damit man die genannten Schwierigkeiten in Zukunft meistern wird. „Allzu früh eben, habe Parmenides gesagt, ehe du dich gehörig geübt hast, o Sokrates, unternimmst du zu bestimmen, was schön und gerecht und gut ist, und so jeden andern Begriff […]. Strecke dich aber zuvor noch besser und übe dich [in dieser] Wissenschaft“ (Parmenides, 135c-d). Wittgenstein will den umgekehrten Weg einschlagen und dies auf konsequente Weise tun. Er will nicht einfach – z. B. Aristoteles folgend – Platons Probleme durch eine schlankere, elegantere Theorie ersetzen, sondern das ganze Projekt des theoretischen Philosophierens umgehen, indem den unlösbar scheinenden Fragen die Wurzeln genommen werden.

3.1.4 Strategische Ausrichtung Wittgenstein gibt seinem generellen Ansatz, philosophische Fragen auf Sprachverwirrungen zurückzuführen, verschiedene Wendungen, die aufeinander verweisen und ineinander übergehen. Übersichtlichkeit wird als strategisches Mittel verwendet. „Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. – Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß

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wir die ‚Zusammenhänge sehen’“ (PU § 122). „Ein philosophisches Problem hat die Form: ‚Ich kenne mich nicht aus’“ (PU § 123). „[D]enk nicht, sondern schau!“ (PU § 66). Erinnerung/Rückführung wird strategisch eingesetzt. „Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck“ (PU § 127). „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ‚Wissen’, ‚Sein’, ‚Gegenstand’, ‚Ich’, ‚Satz’, ‚Name’ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück“ (PU § 116). Die Unmöglichkeit der Letzt-Begründung soll strategisch beim Philosophieren eingesetzt werden. „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles, wie es ist“ (PU § 124). Das Vermeiden von Theorie gehört zur philosophischen Strategie. „[W]ir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“ (PU § 109). Schließlich nennt Wittgenstien auch ein Zeichen für den Erfolg der Strategie: „[D]ie Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen“ (PU § 133).

3.1.5 Umsetzung der Strategie 3.1.5.1 Verwirrung: Schauen auf Hauptwörter wie „Tisch“ und Wegschauen von den anderen Wortarten Wittgenstein bemerkt nun in Bezug auf das augustinische Bild der Sprache, dass eine Bedingung für die Genese des Bildes ein mangelhaftes Überblicken der Vielfalt der Sprechweisen ist: „Von einem Unterschied der Wortarten spricht Augustinus nicht. Wer das Lernen der Sprache so beschreibt, denkt, so möchte ich glauben, zunächst an Hauptwörter, wie ‚Tisch’, ‚Stuhl’, ‚Brot’, und die Namen von Personen, erst in zweiter Linie an die Namen gewisser Tätigkeiten und Eigenschaften, und an die übrigen Wortarten als etwas, was sich finden wird“ (PU § 1). Wittgenstein unterstellt den Anhängern dieses Bildes ein aktives Wegschauen und Vernachlässigen der Beachtung der Vielfalt der Sprachphänomene, wenn er davon ausgeht, dass der Anhänger des Bildes „an die übrigen Wortarten als etwas [denkt], was sich finden wird“ (PU § 1).

3.1 Wörter repräsentieren keine Gegenstände

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3.1.5.2 Verwirrung: Vergessen, dass Wörter als Teil von Handlungen auftauchen Als Medizin für das Wegschauen von der Vielfalt der Wortarten, fordert Wittgenstein einen dazu auf, wieder in das Urphänomen des sprachlichen Geschehens hineinzuspringen: „Denke nun an diese Verwendung der Sprache: Ich schicke jemand einkaufen. Ich gebe ihm einen Zettel, auf diesem stehen die Zeichen: ‚fünf rote Äpfel’. Er trägt den Zettel zum Kaufmann; der öffnet die Lade, auf welcher das Zeichen ‚Apfel’ steht; dann sucht er in einer Tabelle das Wort ‚rot’ auf und findet ihm gegenüber ein Farbmuster; nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter – ich nehme an, er weiß sie auswendig – bis zum Worte ‚fünf’ und bei jedem Zahlwort nimmt er einen Apfel aus der Lade, der die Farbe des Musters hat. – So, und ähnlich, operiert man mit Worten“ (PU § 1). Wittgenstein macht darauf aufmerksam, dass Wörter Teil von Handlungen sind und diese Handlungen darüber hinaus unterschiedliche Formen haben (Zettel zum Kaufmann tragen vs. Äpfel abzählen vs. Farbmuster vergleichen). Das Wort „Apfel“, zeigt sich hier, hat also gar nicht einfach die Funktion, einen bestimmten Gegenstand zu identifizieren und auf ihn zu verweisen, sondern bekommt erst im Kontext der Handlung und des Umgangs mit dem Apfel spezifische Bedeutungen. So wie sich im ersten Fall die „Kontextvergessenheit“ so zeigte, dass vergessen wurde, dass Hauptwörter im Kontext anderer Wortarten auftauchen, so verweist Wittgenstein nun darauf, dass vergessen wird, dass Wörter für Gegenstände im Kontext von Handlungen auftauchen. In § 2 der Untersuchungen heißt es nun über das Bild der Sprache des Augustinus: „Jener philosophische Begriff der Bedeutung ist in einer primitiven Vorstellung von der Art und Weise, wie die Sprache funktioniert, zu Hause. Man kann aber auch sagen, es sei die Vorstellung einer primitiveren Sprache als der unsern“ (PU § 2). Wie kann man sich also kohärent eine Sprache vorstellen, in der sich Worte auf Gegenstände beziehen? Wittgenstein entwickelt die folgende Skizze: „Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: ‚Würfel’, ‚Säule’, ‚Platte’, ‚Balken’. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf“ (PU § 2). Warum ist es in diesem Falle nun in Ordnung, die Position zu vertreten, dass die Wörter Gegenstände bezeichnen? Der springende Punkt, welcher den Unterschied macht, besteht darin, dass hier ein Wort wie „Würfel“ nicht einfach einen an-sich-seienden-Gegenstand aus der außersprachlichen Welt herausgreifen soll,

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sondern, dass das Aussprechen des Wortes in eine bestimmte zielgerichtete Aktivität eingebunden ist. Es ist nicht der schiere, vom Kontext losgelöste Gegenstand, der bezeichnet wird, sondern der naheliegende-zu-bringende-Gegenstand, der sich zum Bauen eignet. Das, dass der Gegenstand einen definierten Platz in einer Aktivität hat, macht den Unterschied. Die Unmöglichkeit, den sprachunabhängigen, einfachen Gegenstand zu finden, der sich vom sprachlichen Umgang mit ihm isolieren lässt, wird noch deutlicher, wenn man Wittgensteins Frage folgt, ob man einen Ruf wie „Würfel“ oder „Platte“ in § 2 als Satz oder als Wort auffassen soll. Man könnte den Ruf „Platte“ als eigentlich elliptische Form des Satzes „Bring mir eine Platte“ auffassen wollen. Wittgenstein will nun zeigen, dass die Frage, ob der Ausruf „Platte“ in dem Sprachspiel eigentlich ein Wort oder ein Satz ist, leer ist, weil es keine eigentlichen oder ewigen, metaphysischen Kriterien dafür gibt, wann ein Ausruf ein Satz oder ein Wort ist: „Aber wie machst du das, dies meinen, während du ‚Platte’ sagst? Sprichst du dir inwendig den unverkürzten Satz vor?“ (PU § 19). Den Ausruf „Platte“ als verkürzten Satz aufzufassen, bedeutet einfach nur, dass man die Ausdrucksweise unserer gewohnten Sprachspiele so sehr privilegiert, dass man sie als versteckte sprachliche Wirklichkeit hinter der im Sprachspiel aus § 2 gegebenen sprachlichen Wirklichkeit postuliert. „‚Elliptisch’ ist der Satz nicht, weil er etwas ausläßt, was wir meinen, wenn wir ihn aussprechen, sondern weil er gekürzt ist – im Vergleich mit einem bestimmten Vorbild unserer Grammatik“ (PU § 20). Tatsächlich ist es in gewisser Weise arbiträr, ob man „Platte“ als Wort oder als Satz bezeichnet, da sich der relevante Sinn der sprachlichen Äußerung eben darin zeigt, wie sie ins Leben der sprechenden Personen, die mit ihr umgehen, eingreift: „[E]ine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“ (PU § 19). Weiterhin zeigt sich, dass sich der außersprachliche Gegenstand nicht von der Sprachpraxis isolieren lässt, wenn man hinweisende Definitionen betrachtet. Es ist durchaus möglich, ein Wort zu erklären, indem man auf einen Gegenstand zeigt. Wittgenstein betont, dass es prinzipiell überhaupt nicht falsch ist, das Zahlwort „zwei“ zu definieren, indem man auf zwei Nüsse zeigt. Was jedoch widersinnig ist, das ist die Idee, dass man somit auf einen außersprachlichen Gegenstand zeigt, aus dem selbst sich die Bedeutung des zu definierenden Wortes und die grammatischen Regeln für seine Verwendung ergeben. Das wird klar, wenn man bedenkt, dass die Definition prinzipiell immer missverstanden werden kann. Der Schüler könnte es prinzipiell auch so auffassen, dass mit dem Zeigen auf die Nüsse das Farbwort „braun“, das Wort „Nüsse“, das Wort „Frucht“ oder das Wort „Seiendes“ erklärt werden soll. Der Raum für Missverständnisse wird erst durch den Kontext, der aber auch bereits immer schon ein sprachlicher Kontext ist, reduziert. „Man könnte also sagen: Die hinweisende Definition erklärt

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den Gebrauch – die Bedeutung – des Wortes, wenn es schon klar ist, welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll“ (PU § 30).

3.1.5.3 Verwirrung: Vergessen, dass die Forderung nach Referenzobjekten nicht selbstverständlich ist Wittgenstein schreibt zum Fall der Sprachverwendung beim Kaufmann weiter: „Was ist aber die Bedeutung des Wortes ‚fünf’? – Von einer solchen war hier gar nicht die Rede; nur davon, wie das Wort ‚fünf’ gebraucht wird“ (PU § 1). Das Wort „fünf“ hat natürlich eine Bedeutung, insofern es einen sinnvollen Gebrauch hat. Aber es ist nicht selbstverständlich, dass dieser Gebrauch durch einen Referenzgegenstand, aus dem sich seine Bedeutung ableitet, ergibt. In der Alltagssprache werden derartige mathematische Dinge jedenfalls nicht postuliert.

3.1.5.4 Verwirrung: Verwechslung des Trägers des Namens mit der Bedeutung des Namens Es ist nicht nur so, dass in der Alltagssprache die Bedeutung von Zahlen nicht an mathematische Dinge gebunden wird, es ist sogar so, dass Namen, die einen Träger haben, eine Bedeutung haben, die nicht mit dem Träger identisch ist. „Es ist wichtig, festzustellen, daß das Wort ‚Bedeutung’ sprachwidrig gebraucht wird, wenn man damit das Ding bezeichnet, das dem Wort ‚entspricht’. Dies heißt, die Bedeutung eines Namens verwechseln mit dem Träger des Namens. Wenn Herr N. N. stirbt, so sagt man, es sterbe der Träger des Namens, nicht, es sterbe die Bedeutung des Namens. Und es wäre unsinnig, so zu reden, denn hörte der Name auf, Bedeutung zu haben, so hätte es keinen Sinn, zu sagen ‚Herr N. N. ist gestorben’“ (PU § 40).

3.1.5.5 Verwirrung: Verwechslung eines Paradigmas im Sprachspiel mit der Bedeutung eines Namens Es gibt eine Neigung, sagen zu wollen, dass selbst, wenn alle roten Dinge auf der Welt zerstört wären, das Wort „rot“ dennoch eine Bedeutung hätte. Man möchte vielleicht sagen, „Rot sei zeitlos“ oder „unzerstörbar“ (vgl. PU § 58). Es drängt sich die Idee auf, dass Rot an sich ein ewiges metaphysisches Urobjekt ist, von dem es abhängt, dass wir partikulare rote Dinge erkennen können. Hier verweist Wittgenstein darauf, dass es in der Sprachpraxis durchaus so ist, dass eine Sprachpraxis auf paradigmatische Gegenstände angewiesen ist, die als Muster fungieren. Selbst, wenn die Bedeutung des Namens N.N. nicht mit der Person, die den Namen trägt, identisch ist, so ist der Namensträger dennoch

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notwendig, damit der Name eine Bedeutung haben kann (vgl. PU § 55). Ein verwandter Fall ergibt sich mit roten Gegenständen, die als Muster fungieren, um die Bedeutung des Wortes zu lehren. Beispiele der Röte wie Mohnblumen, Blut, rote Farbstifte oder Marienkäfer erzeugen nicht die Bedeutung des Wortes, aber fungieren als Muster, auf das man sich bezieht, um die Bedeutung des Begriffs zu lehren. Nun mahnt Wittgenstein aber, keine voreiligen Schlüsse daraus zu ziehen, dass wir, selbst dann, wenn alle roten Gegenstände zerstört wären, uns noch an die Bedeutung des Wortes erinnern könnten: „[K]lammre dich nicht daran, daß wir [uns die Röte] vors geistige Auge rufen können, auch wenn es nichts Rotes mehr gibt! […] Denn wie, wenn du dich nicht mehr an die Farbe erinnern kannst? – Wenn wir vergessen, welche Farbe es ist, die diesen Namen hat, so verliert er seine Bedeutung für uns; d. h., wir können ein bestimmtes Sprachspiel nicht mehr mit ihm spielen. Und die Situation ist dann der zu vergleichen, daß das Paradigma, welches ein Mittel unserer Sprache war, verlorengegangen ist“ (PU § 57). Wir müssen also laut Wittgenstein zwei zeitliche Horizonte unterscheiden. In der kurzen Frist nimmt die Zerstörung der Muster-Gegenstände dem Wort nicht die Bedeutung. In der langen Frist hingegen zerfällt das alte Sprachspiel schleichend und damit die sinnvollen Züge, die man durch Gebrauch des Wortes „rot“ in ihm machen kann. Ein bedeutungsvolles Wort überlebt die Zerstörung aller Träger kurz- bis mittelfristig, aber langfristig verschwindet es, wenn es keine Ansatzpunkte in der Wirklichkeit mehr hat, aus dem Sprachverkehr und geht damit in die Bedeutungslosigkeit über. Die Sprachspiele passen sich sozusagen in einem Prozess der „Evolution“ oder „Devolution“ den neuen Begebenheiten an.

3.1.5.6 Verwirrung: Verwechslung von Begründung und Abrichtung Begründungen stellen einen wichtigen Zug in komplexen Sprachspielen dar. Zu Sprachspielen der Justiz gehört es, dass ein Satz, der ein Rechtsurteil ausdrückt, begründet sein muss. Hier, so scheint es, will man im Denken einen Sprung machen und wie ganz selbstverständlich annehmen, dass auch die Begriffe selbst, mit denen begründbare Sätze formuliert werden, begründet werden können und müssen. Die Begründung für das Wort „Gift“, die beweist, dass es sich um ein angemessenes Wort handelt, ist dann eben der bedeutete Giftgegenstand. Wittgenstein sagt nun über das Sprachspiel des Einkaufens im § 1: „Solche primitiven Formen der Sprache verwendet das Kind, wenn es sprechen lernt. Das Lehren der Sprache ist hier kein Erklären, sondern ein Abrichten“ (PU § 5). Über das Sprachspiel der Bauenden aus dem § 2 sagt er: „Die Kinder [dieses Volksstammes] werden dazu erzogen, diese Tätigkeiten zu verrichten, diese Wörter dabei zu gebrauchen, und so auf die Worte des Anderen zu reagieren. Ein wich-

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tiger Teil der Abrichtung wird darin bestehen, daß der Lehrende auf die Gegenstände weist, die Aufmerksamkeit des Kindes auf sie lenkt, und dabei ein Wort ausspricht; z. B. das Wort ‚Platte’ beim Vorzeigen dieser Form“ (PU § 6). Dieses Abrichten stellt ein hinweisendes Lehren dar, aber kein hinweisendes Definieren (vgl. PU § 6).Wer nicht die Frage „Was ist x?“ formulieren kann, wie das Kind, das gerade erst in die Sprachgemeinschaft eingegliedert wird, kann auch keine Definition von x auffassen. Dem Kind fehlt das Vokabular, das den notwendigen Kontext bildet, damit ein Zeigen auf einen Gegenstand als Definition begriffen werden kann. Was tatsächlich passiert, das ist, dass das Kind darauf abgerichtet wird, auf sprachliche Äußerungen mit den gewohnten Handlungen zu reagieren. Dass ein Kind ein Wort verstanden hat, zeigt sich einfach darin, dass es nach einem bestimmten Unterricht das Wort so und so gebraucht. Am Boden des Sprachspiels stehen also keine außersprachlichen Gründe, aus denen sich das korrekte Vokabular herleiten lässt. Das Begründen selbst ist eine sprachliche Aktivität, die erst auftaucht, nachdem durch abrichtenden Unterricht einfache Sprachspiele errungen wurden. „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene’ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt“ (PU § 654).

3.1.6 Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse Auflösung der Verwirrungen: – Träger des Namens ≠ Bedeutung des Namens. – Träger des Namens ≠ außersprachlicher Gegenstand. – Träger des Namens ≠ vom Kontext einer Aktivität losgelöster Gegenstand. – Bedeutung des Namens ≠ ewiger, unzerstörbarer Gegenstand hinter der Sprache. – Bedeutung des Namens ≠ Gegenstand, der durch Zeigen (und geistiges Meinen) dem Namens-Zeichen zugeordnet wird. – Bedeutung des Namens ≠ Gegenstand, aus dem sich die Regeln für den Gebrauch des Namens mit zwingender Notwendigkeit ergeben. Quellen der Verwirrungen: – Die Bedeutung eines Namens lässt sich, wenn der entsprechende Kontext da ist, durchaus durch Deuten auf den Träger des Namens erklären. → Der notwendige Kontext wird vom Philosophierenden jedoch wieder vergessen. → Er postuliert Gegenstände, aus denen sich die Bedeutung und der regelhafte Gebrauch der Namen zwingend ergibt.

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Die Bedeutung eines Namens kann von einem Paradigma im Sprachspiel abhängig sein. → Aus so einem Paradigma, das notwendig in etwa fast so lange währen muss wie das Sprachspiel, wird – im verwirrten Denken des Philosophierenden – ein außerzeitlicher, unzerstörbarer Bereich, dem die Wörter für zerstörbare Gegenstände ihre Bedeutungen entnehmen.

Diese Zusammenfassung von Wittgensteins Vorgehen bleibt recht nah an dem, was explizit in den Texten gesagt wird. Dass Wittgenstein grob die oben geschilderten philosophischen Züge unternimmt, wird in der Grundausrichtung nicht zu kontrovers sein. Höchst kontrovers ist nun allerdings, warum genau diese philosophischen Bemerkungen Wittgensteins uns beeindrucken sollten.

3.1.7 Theoretisch ausgelegt Mit theoretischen Lesarten sind solche gemeint, die dem frühen Wittgenstein eine Abbildtheorie der Sprache und dem späten Wittgenstein eine Gebrauchstheorie der Sprache zuschreiben. Nach diesen Lesarten ist Wittgenstein ein Theoretiker, der fest in der westlichen, philosophischen Tradition verankert ist und gerade nur als Teil von ihr gefasst werden kann. Das heißt er entwickelt Theorien über das Seiende, entwickelt philosophische Argumente, die entweder notwendig wahr oder notwendig falsch sind, und nutzt die Vernunft und die normalen logischen Regeln, um diese Theorien und Argumente zu bewerten (vgl. Kenny 2006, S. xix). Die Gedanken Wittgensteins, die in Kapitel 3.1.5.2 (Verwirrung: Vergessen, dass Wörter als Teil von Handlungen auftauchen) behandelt werden, könnten also aus der theoretischen Perspektive in Argumentform ausgedrückt werden. (P1) Die Bedeutung eines Namens besteht in seinem alltäglichen Gebrauch. (P2) Das eigentliche Funktionieren der Sprache wird durch ihre oberflächliche Erscheinungsform verdeckt. (P3) Eine hinweisende Definition erscheint als Akt, in dem ein Name mit einem Gegenstand korreliert wird und somit Bedeutung erhält. (Also) Die oberflächliche Gestalt der hinweisenden Definition verdeckt, dass die Bedeutung eines Namens nicht im bedeuteten Gegenstand, sondern im Gebrauch besteht. Die Argumentform verhindert nun durchaus philosophischen Dogmatismus, da jede Prämisse des Arguments hinterfragt und durch weitere Argumente gestärkt oder geschwächt werden kann. P1 kann gestützt werden, indem es in einem anderen Argument als Konklusion auftaucht.

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(P1) Die Bedeutung eines Namens besteht entweder in einem durch eine hinweisende Definition mit dem Namen korrelierten Gegenstand oder im alltäglichen Gebrauch. (P2) Die Bedeutung eines Namens zeigt sich in dem Kriterium, das genutzt wird, um zu entscheiden, ob ein Sprecher die Bedeutung des Namens versteht. (P3) Das Kriterium, um zu entscheiden, ob ein Sprecher einen Namen verstanden hat, liegt darin, dass er den Namen richtig gebraucht. (Also) Die Bedeutung eines Namens besteht nicht in einem damit korrelierten Gegenstand, sondern im Gebrauch. Diese Argumentationsform vermeidet Dogmatismus, führt aber auch mit sich, dass potenziell unendlich viele vernünftige Gründe und Gegengründe für die Prämissen gesucht werden können, falls keine unantastbare Letztbegründung auftaucht. Indem Wittgenstein als traditioneller Theoretiker gesehen wird, wird sein philosophisches Selbstverständnis als anti-traditioneller anti-Theoretiker zurückgewiesen. „It is no surprise if Wittgenstein’s account of the nature of philosophy should turn out to be one of the weakest parts of his philosophizing: the same is true of the greatest philosophers from Plato and Aristotle onwards. If we discard Wittgenstein’s account, we can treat philosophical statements, in accordance with tradition, as being bearers of truth values: as being either necessarily true or necessarily false. We can then treat philosophical arguments, including Wittgenstein’s own, as perfectly genuine arguments proceeding in accordance with normal logical rules“ (Kenny 2006, S. xix). Begründet wird diese Zurückweisung von Wittgensteins Selbstverständnis weiterhin damit, dass Wittgenstein inkohärent ist. Wittgenstein möchte sich verstehen als jemand, der sein Denken nicht mit kontroversen, theoretischen Positionen anreichert. „Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären“ (PU § 128). Tatsächlich jedoch vertritt Wittgenstein eben völlig kontroverse Thesen wie „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (PU § 43) oder „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen“ (PU § 371). Denken wir an die Situation am Ende von Platons Parmenides. Die dort vorgeschlagene Strategie ist es, im Kontext äußerst schwieriger philosophischer Rätsel, sich nicht beirren zu lassen und das traditionelle Philosophieren noch besser zu üben. Die Wittgensteinianer der theoretischen Lesart legen Wittgenstein gewissermaßen analog dazu aus. Was Wittgenstein laut ihnen eigentlich tut, ist es, kontroverse Argumente und Standpunkte zu entwickeln, die sich jedoch dadurch auszeichnen, dass sie noch schärfer und rational noch befriedigender sind als die von Wittgensteins Vorgängern.

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Wittgenstein jedoch wollte aus dem Kreislauf aus traditionellen philosophischen Argumenten und Gegenargumenten ganz ausbrechen. „[D]ie Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen“ (PU § 133). Man kann den theoretischen Interpreten vorwerfen, dass sie zu schnell Wittgensteins radikalere Ansprüche bei Seite wischen, ohne zu Ende zu denken, wie man Wittgenstein auslegen müsste, wenn man sein Selbstverständnis ernst nimmt. Betrachten wir also zunächst die wichtige Gruppe der klärenden Interpreten, die genau das zu tun versuchen.

3.1.8 Klärend ausgelegt Mit der klärenden Lesart ist vor allem jene gemeint, die von Hacker (1993, 1996, 2000 a, 2000 b) bzw. Hacker und Baker (2005, 2014) in ihren großen analytischen Kommentaren zu den Untersuchungen ausgearbeitet wurde. Nach dieser Richtung ist Wittgensteins Vorgehen nicht theoretisch, da er sich auf die Beschreibung der tiefengrammatischen Regeln der Alltagssprache beschränkt und durch den Vergleich der Alltagssprache und der philosophischen Sprache darlegt, inwiefern in der Philosophie die Grenzen des Sinns bestimmter Wörter und Sätze überschritten werden. Weiterhin (d) zeigt Wittgenstein Quellen des verwirrten philosophischen Sprachgebrauchs auf, die in einem mangelnden Überblick über die grammatischen Regeln bestehen. Hacker und Baker weisen also die Kritik Kennys zurück, dass Wittgenstein kontroverse philosophische Thesen vertritt. „There are no hypotheses in philosophy, since philosophy moves around in the domain of the meaning-determining rules of grammar. It cannot be a hypothesis that a form of words one understands and uses correctly makes sense“ (Baker & Hacker 2005, S. 295). In diesem Kontext affirmieren Hacker und Baker auch, dass mit Wittgensteins Methode eine absolut sichere Basis der Philosophie gefunden wurde, die nicht erschüttert werden kann. Während alle vorigen Philosophien auf Prämissen beruhen, die hinterfragt werden können, so diese Lesart, affirmiert Wittgenstein nur grammatische Regeln, denen jeder Sprecher zustimmt. „The great philosophical systems of the past rested on presuppositions. Plato presupposed a realm of abstract entities by reference to which he thought to explain the character of items in the phenomenal world. Descartes presupposed that there are indubitable propositions that constituted the foundations of empirical knowledge. Hume presupposed that the medium of thought is the ideas with which the mind is furnished by experience. Kant presupposed that there are synthetic a priori propositions that describe how things necessarily are in the world. The Tractatus

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presupposed that names have meanings, i. e. simple objects constituting the substance of the world, and that elementary propositions have sense (TLP 6.24), i. e. are essentially pictures of possible states of affairs. In all such cases, if the presuppositions are challenged, the whole philosophical edifice is challenged. And if the challenge is warranted, the edifice collapses. Wittgenstein, by contrast, now offers a conception of philosophy which does not rest on any such questionable presupposition“ (Baker & Hacker 2005, S. 276). Wittgenstein stimmt aber laut der klärenden Lesart noch soweit mit der Tradition überein, dass sich seine Bemerkungen als philosophische Argumente fassen lassen. Es ist aber so, dass Wittgenstein mit seinen Argumenten nicht – wie Kenny sagt – ewige, notwendige Wahrheiten beweisen will, sondern, dass Wittgenstein die Frage nach der Wahrheit aufgibt und stattdessen die Frage nach dem Sinn der Sprache stellt: „The generic method of philosophy, as advocated by Wittgenstein, is to investigate sense, not truth“ (Baker & Hacker 2005, S. 293). Insofern zielen Wittgensteins Argumente nicht darauf ab, bestimmte philosophische Positionen, die er angreift, als falsch auszuweisen, sondern als unsinnig. Wittgenstein präsentiert demnach auch „deductively valid arguments in philosophy, the premisses of which spell out conditions of sense and the conclusion of which is that a given form of words lacks sense (since it fails to accord with the conditions of sense)“ (Baker & Hacker 2005, S. 294). Im Gegensatz zur theoretischen Lesart werden die Argumente aber sozusagen in einem anderen Modus durchgeführt. Laut der theoretischen Lesart sind die Prämissen Wittgensteins kontroverse Thesen und können in weiteren Argumenten hinterfragt werden. Dies lässt sich dadurch darstellen, dass die Prämissen zackig unterstrichen werden. In der klärenden Lesart werden die entsprechenden Prämissen doppelt gerade unterstrichen, um darzustellen, dass sie als prinzipiell nicht hinterfragbar gelten. Argumentation Wittgensteins Theoretisch ausgelegt

Klärend ausgelegt

(P) Die Bedeutung eines Namens besteht in seinem alltäglichen Gebrauch.

(P) Die Bedeutung eines Namens besteht in seinem alltäglichen Gebrauch.

(P) Das eigentliche Funktionieren der Sprache wird durch ihre oberflächliche Erscheinungsform verdeckt.

(P) Das eigentliche Funktionieren der Sprache wird durch ihre oberflächliche Erscheinungsform verdeckt.

(P) Eine hinweisende Definition erscheint als Akt, in dem ein Name mit einem Gegenstand korreliert wird und somit Bedeutung erhält.

(P) Eine hinweisende Definition erscheint als Akt, in dem ein Name mit einem Gegenstand korreliert wird und somit Bedeutung erhält.

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Fortsetzung Argumentation Wittgensteins Theoretisch ausgelegt

Klärend ausgelegt

(Also) Die oberflächliche Gestalt der hinweisenden Definition verdeckt, dass die Bedeutung eines Namens nicht im bedeuteten Gegenstand, sondern im Gebrauch besteht.

(Also) Die oberflächliche Gestalt der hinweisenden Definition verdeckt, dass die Bedeutung eines Namens nicht im bedeuteten Gegenstand, sondern im Gebrauch besteht.

Nun verteidigen sie aber Wittgenstein gegen den Vorwurf, er sei ein commonsense Philosoph, der einfach gegen die Philosophie das Alltagsverständnis affirmiert. In dem Kontext wird klar, dass die obige Argumentation nie komplett sein kann, da auch immer der Ursprung der philosophischen Verwirrung offengelegt werden muss. „[Wittgenstein] insisted that there is no common-sense answer to philosophical problems. Philosophical problems do not arise for common sense. […] [W]hat needs to be done is to find the sources of the confusions that lead sane and intelligent people to be baffled by [philosophical paradoxes]“ (Baker & Hacker 2005, S. 302). In diesem Kontext affirmieren sie, dass Wittgenstein einen starken Anspruch hat und etwas beweisen will. „[H]is purpose is to prove that [ostensive definitions] are not especially privileged; in particular, that they do not lay the foundations of language“ (Baker & Hacker 2005, S. 83). Welche Reduktion der Verwirrung auf die Alltagssprache wird nun als Beweis genannt? „An ostensive definition should not be regarded as forging a connection between language and reality […]. That misconception is part of the Augustinian conception of language. It confuses the fact that with an ostensive definition we step outside word-language into gesturelanguage with the illusion that we are making a ‘connection between language and reality’“ (Baker & Hacker 2005, S. 92). Die philosophische Idee, dass die Sprache durch außersprachliche Gegenstände ihre Bedeutung erhält, wird also als Verwirrung von Wort-Sprache und Gesten-Sprache ausgelegt. Baker und Hacker sehen also zwei Aspekte, die Wittgensteins Philosophieren Beweiskraft geben: (1) Die Sprache folgt tiefengrammatischen Regeln, deren Gebrauch jeder Sprecher praktisch anerkannt. Daher ist es nicht kontrovers, diesen Gebrauch positiv zu beschreiben und zu fixieren. (2) Traditionelle philosophische Ansichten lassen sich als Verwirrung der tiefengrammatischen Regeln aus verschiedenen Bereichen darstellen und somit auf eine Verwirrung reduzieren. Nun ist es allerdings so, dass aus der kohärenten Möglichkeit der Reduktion der metaphysisch-philosophischen Fragen nicht die Notwendigkeit der Reduktion folgt. Das liegt einerseits daran, dass prinzipiell alternative, konkurrierende

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Möglichkeiten der Reduktion auftreten können, die sich gegenseitig ausschließen. Aber tiefer noch ist der Punkt, dass Möglichkeit ganz allgemein eben nicht Notwendigkeit impliziert. Denken wir an eine andere metaphysikkritische Reduktion: Nietzsche reduziert, vereinfacht gesagt, die Idee der Ethik der Nächstenliebe auf niedere, „egoistische“ Instinkte. Nur weil dies eine mögliche, kohärente Sichtweise ist, ist man aber überhaupt nicht rational gezwungen, sie zu affirmieren. Die Affirmation ohne weitere Prüfung wäre im Gegenteil voreilig und rational fragwürdig. Betrachten wir das an einem konkreten Beispiel. Wittgenstein hält fest, dass wir in der Alltagspraxis nie auf einen außersprachlichen Gegenstand zugreifen, aus dem wir, ohne weiteres Zutun, gewissermaßen aus dem Nichts heraus, die Regeln für den Wortgebrauch ableiten können. Er problematisiert diese Idee des einfachen Zugriffs, indem er immer wieder auf den in unserer Sprachpraxis impliziten, notwendigen Kontext verweist. Muss ein traditioneller Metaphysiker davon beeindruckt sein? Gehen wir zu den Anfängen der Tradition und betrachten Platon, der glaubt, dass Worte ihre Bedeutung von den Form-Gegenständen erlangen. Platon glaubt nicht, dass Menschen ohne weiteres, wie aus dem Nichts heraus, auf Gegenstände zugreifen können, aus denen sich dann von selbst die Grammatik ihrer Verwendung ergibt. Er problematisiert diese „naive“ Idee außersprachlicher Gegenstände bereits selbst. Daher wählt er für die Erkenntnis das Sonnengleichnis. Das sinnliche Sehen von Gegenständen funktioniert nicht ohne Kontext, sondern ist darauf angewiesen, dass das Licht als Medium, das Erkennenden und Erkanntes verbindet, sinnlich gegeben ist. In analoger Weise muss auch beim begrifflichen Denken etwas als Kontext vorbereitet sein. Erst die durch die Sonne gleichnishaft dargestellte Idee des Guten ermöglicht es, dass sich die Seele auf die Formen beziehen kann. Erst die Sonne – die als Quelle sowohl bewirkt, dass die Dinge existieren, als auch, dass sie erkennbar sind – kann garantieren, dass sinnliches oder geistiges Sehen (=Denken) funktioniert. Das Auge muss laut Platon also immer schon als sonnenartig verstanden werden. Die Kraft des Sehens wird erst durch einen von „Gott ihm mitgeteilten Ausfluß“ (Politeia, 508b) ermöglicht. Nun muss man aber seitens Wittgenstein einwenden, dass Platon, selbst wenn er die Notwendigkeit von Kontexten berücksichtigt, irregeführt wird dadurch, dass er den eigentlichen Kontext, der sich in der Alltagssprache zeigt, ignoriert und daher einen theoretisch zu postulierenden, jenseitigen, metaphysischen Kontext „hinzudichten“ muss. Aber auch das muss einen traditionellen Metaphysiker nicht beeindrucken, insofern er ja gar nicht den impliziten Anspruch hat, bei dem Verständnis der Alltagspraxis stehen zu bleiben und dieses einfach nur zu explizieren, sondern ganz bewusst die Konzepte, die in der Alltagssprache verwendet werden, weiterentwickelt und somit bewusst modifiziert.

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Die Modifikation der alltäglichen Konzepte ist dann gerade keine defizitäre Abweichung von ihr, sondern eine Emanzipation. Selbst wenn man anerkennt, dass Wittgenstein eine kohärente Alternative zur Metaphysik anbietet, so folgt daraus nicht, dass Wittgenstein mit seiner Alternative die Unsinnigkeit der Metaphysik beweist, wie es laut Baker und Hacker sein Anspruch ist. Baker und Hacker ignorieren das Problem, dass die Möglichkeit einer Reduktion der Philosophie auf Verwirrungen der Alltagssprache nicht die Notwendigkeit dieser Reduktion beweist – selbst dann nicht, wenn dadurch einige Paradoxien umgangen werden können. Wenn sie die Gründe für die Ablehnung Wittgensteins durch traditionelle Philosophen diskutieren, nennen sie an erster Stelle nicht sachliche Gegenargumente, sondern unterstellen explizit Wut: „Telling [philosophers] that their subject is not even a cognitive discipline and that philosophers do not add to the sum of human knowledge was sure to enrage them“ (Baker & Hacker 2005, S. 299). In dem Kontext betonen sie wieder, dass Wittgenstein eben die philosophischen Probleme erfolgreich löst, da er zeigt, dass sie auf Alltagsverwirrungen zurückgeführt werden können (vgl. Baker & Hacker 2005, S. 302). Aber hier liegt eben die Fragilität von Wittgensteins Vorgehen: Man kann wie Wittgenstein vorgehen, man muss es aber nicht. Und darum produziert er keine Beweise. Ein Beweis zeichnet sich dadurch aus, dass er eigentlich anerkannt werden muss, ansonsten ist er eben kein Beweis. Auch der Aspekt, dass Wittgensteins Philosophie nur deskriptiv sein soll, der laut Baker und Hacker die entsprechenden Prämissen von Wittgensteins Argumenten unantastbar macht, leidet an Schwächen. Hier sind vor allem zwei Schwächen zu nennen. Ganz allgemein: Beschreibung versteht sich nicht von selbst. Es ist eine Aktivität, die bestimmte Kriterien erfüllen muss, damit sie erfolgreich ist. Prinzipiell droht immer dann, wenn eine Beschreibung geliefert wird, der Einwand, dass nicht richtig beschrieben wurde. Der Versuch, zu beschreiben, wie viele individuelle Exemplare der Pflanzenart Feldahorn im Grunewald vorhanden sind, kann daran scheitern, dass der Beschreibende Feldahorn und Bergahorn nicht auseinanderhalten kann und Schwierigkeiten damit hat, wenn viele individuelle Feldahornbäume nebeneinanderwachsen, die genaue Anzahl zu bestimmen usw. So können auch die grammatischen Beschreibungen, die in Wittgensteins Philosophie geliefert werden, immer hinterfragt werden. Ist es z. B. richtig beschrieben, wenn Wittgenstein es als Abrichten charakterisiert, wenn einem Kind ein Wort beigebracht wird (vgl. PU § 5)? Wenn aber die Beschreibungen immer wieder umgeworfen werden können wie die Prämissen der großen philosophischen Systeme, dann können auch die Ergebnisse von Wittgensteins Philosophieren nie sicher sein. Selbst dann, wenn es so ist, dass alle Menschen den grammatischen Regeln des Wortgebrauchs zustimmen, so stimmen sie ihnen nur in gewisser Weise zu. Es gibt eine Sprachpraxis, die von einer

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Sprachgemeinschaft verwirklicht wird. Es gibt also praktische Übereinstimmung. Die Übereinstimmung die Wittgenstein nun herstellen will, ist aber gerade nicht die praktische Übereinstimmung, sondern die Übereinstimmung in der gedanklichen Reflexion. Der Sprung von der Übereinstimmung in der Praxis zur Übereinstimmung in der Reflexion soll nun über die reine Beschreibung gemacht werden. Aber die, so hat es sich ja eben gezeigt, kann diesen Sprung auch nicht gleichschalten, da es keine absolut selbstverständlichen Regeln dafür gibt, wann eine Beschreibung der Tiefengrammatik der Sprachspiele korrekt ist. Der Beleg für diesen Mangel an Selbstverständlichkeit liegt darin, dass in den verschiedenen Lesarten diesen „Beschreibungen“ ganz unterschiedlicher philosophischer Status zugesprochen wird, wie oben schon im Vergleich zur theoretischen Lesart gesehen wurde. Hacker und Bakers Vorgehen zeichnet sich also dadurch aus, dass sie vorschnell zu extreme Schlussfolgerungen ziehen. Daraus, dass eine Übereinstimmung in der unbewussten Praxis gegeben ist, schließen sie vorschnell, dass auch eine Übereinstimmung in der bewussten philosophischen Reflexion der unbewussten Praxis sicher herzuleiten ist. Daraus, dass die Regeln der menschlichen Sprache nicht einfach, ohne weiteren sprachlichen Kontext, aus namenlosen Gegenständen hergeleitet werden können, schließen sie vorschnell, dass die Genese der Regeln der Sprache in der „diesseitigen“ Sprachpraxis liegt.

3.1.9 Resolut ausgelegt Die Resoluten fassen die theoretischen und klärenden Interpreten als eine Gruppe zusammen. Die Resoluten bezeichnen sie als substanzielle Lesarten, laut denen Wittgenstein eine positive Agenda vertritt und substanzielle Ergebnisse liefert: Nach diesen hält Wittgenstein die grammatischen Regeln der Sprachspiele positiv fest. Laut den Resoluten zeigt dieser positive Ansatz, dass sie – auch wenn sie sich selbst fälschlicherweise als konsequente Anti-Metaphysiker verstehen – die metaphysische Tradition noch nicht hinreichend überwunden haben. Laut den Resoluten haben die Substanziellen die metaphysische Tradition noch nicht überwunden, da die Substanziellen noch davon ausgehen, dass die schiere Idee eines Seins jenseits der Sprachpraxis sinnvoll (= verstehbar) ist. Das eigentliche Ziel besteht in der noch radikaleren Realisierung, dass derartige Worte nur von SinnIllusionen umgeben sind und logisch auf derselben Stufe stehen wie das PseudoWort: „xyzwqhwef“.

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Within standard interpretations, Wittgenstein is portrayed as holding that it follows from the abandonment of the idea [of an external standpoint on language] that what counts as agreement between the use of a sign and its meaning is fixed (not by objective reality, but) by grammar – and that therefore there can be no such thing as fully objective agreement. […] The difficulty is that abandoning the idea of an external standpoint on language only appears to threaten our entitlement to talk about full-blooded objectivity if it is assumed that we depend for any entitlement we enjoy on the existence of features of reality which transcend our forms of thought and speech and determine their correctness […] and if it is assumed […] that in abandoning the idea of such a standpoint we have tacitly admitted that there are no such features of reality. […] [Wittgenstein] is understood as holding that it is possible to occupy such a standpoint and to detect from there that nothing external underwrites our ways of thinking and talking […] Thus, standard interpretations […] keep the idea [of an external standpoint] in play (Crary 2000, S. 3 – 4).

Inwiefern unterscheiden sich das substanzielle und das resolute Verständnis des Unsinns nun? Laut den Substanziellen sind metaphysische Sätze und Begriffe unsinnig, insofern sie keinen regelhaften Gebrauch in der Alltagspraxis haben. Dennoch sind die unsinnigen Pseudo-Sätze den sinnvollen Sätzen soweit ähnlich, dass sie Teil von Wittgensteins anti-metaphysischen Argumenten werden können. Der Theoretiker Kenny sagt: „[W]e have to take [the traditional philosopher’s] pseudo-proposition seriously by treating it as if it were a genuine proposition and drawing consequences from it. Of course, these consequences will themselves be pseudo-propositions and only pseudo-consequences“ (Kenny 2006, S. xvi). Laut den Klärenden liefert Wittgenstein „deductively valid arguments in philosophy, the premises of which spell out conditions of sense and the conclusion of which is that a given form of words lacks sense (since it fails to accord with the conditions of sense)“ (Baker & Hacker 2005, S. 294). Argumentation Wittgensteins

Vorgehen Wittgensteins

Theoretisch ausgelegt

Klärend ausgelegt

Resolut ausgelegt

(P) Die Bedeutung eines Namens besteht in seinem alltäglichen Gebrauch.

(P) Die Bedeutung eines Namens besteht in seinem alltäglichen Gebrauch.

(P)/t Eine hinweisende Definition erscheint als Akt, in dem ein Name mit einem Gegenstand korreliert wird und somit Bedeutung erhält.

(P) Das eigentliche Funktionieren der Sprache wird durch ihre oberflächliche Erscheinungsform verdeckt.

(P) Das eigentliche Funktionieren der Sprache wird durch ihre oberflächliche Erscheinungsform verdeckt.

(P)/t (P) Eine hinweisende Definition erscheint als Akt, in dem ein Name mit einem Gegenstand [UNSINN] wird und somit Bedeutung erhält.

(P) Eine hinweisende Definition erscheint als Akt, in dem

(P) Eine hinweisende Definition erscheint als Akt, in dem

(P)/t (P) Eine hinweisende Definition erscheint als Akt, in

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Fortsetzung Argumentation Wittgensteins Theoretisch ausgelegt

Klärend ausgelegt

Vorgehen Wittgensteins Resolut ausgelegt

ein Name mit einem Gegenein Name mit einem Gegendem ein Name mit einem [UNstand korreliert wird und somit stand korreliert wird und somit SINN] [UNSINN] wird und somit Bedeutung erhält. Bedeutung erhält. Bedeutung erhält. (Also) Die oberflächliche Gestalt der hinweisenden Definition verdeckt, dass die Bedeutung eines Namens nicht im bedeuteten Gegenstand, sondern im Gebrauch besteht.

(Also) Die oberflächliche Gestalt der hinweisenden Definition verdeckt, dass die Bedeutung eines Namens nicht im bedeuteten Gegenstand, sondern im Gebrauch besteht.

(P)/t (P) Eine hinweisende Definition erscheint als Akt, in dem ein Name mit einem [UNSINN] [UNSINN] wird und [UNSINN].

Laut den Resoluten merken wir, wenn wir uns mit Wittgensteins Hilfe in das Philosophieren stürzen, nach und nach immer mehr, dass die philosophischen Begriffe und Sätze an den eigentlichen Sinn-Kriterien scheitern, die wir implizit in der Alltagssprache verwenden. Da die Gültigkeit der Alltagssprache laut den Resoluten feststeht und beim Philosophieren im resoluten Modus auf diese zurückgegriffen wird, ist die Darstellung des Vorgehens sowohl bei den Klärenden als auch bei den Resoluten gerade unterstrichen. Da der philosophische Progress darin besteht, immer mehr unsinnige Aspekte des metaphysischen Sprechens als Unsinn zu vernehmen und das Denken immer mehr an das Alltagsverständnis anzugleichen, werden die Gedankenschritte in der obigen Darstellung mit einer Unterstreichung versehen, die schrittweise – vom Zeitpunkt t0 der zunächst völlig verwirrten Reflexion ausgehend bis zum bereits weniger verwirrten, weil mehr Unsinn als Unsinn klarsehenden Zeitpunkt t3 fortschreitend – immer weniger unterbrochen und dann dicker wird. Stanley Cavell versucht in dieser Stoßrichtung in seinem Aufsatz Excursus on Wittgenstein’s Vision Of Language (2000) zu zeigen, dass die Frage, wie Wörter ihre Bedeutung erlangen, unsinnig ist, weil wir prinzipiell überhaupt keine Antwort darauf als angemessen akzeptieren können. Sein Vorgehen besteht darin, zunächst die Schwäche der „Antworten“ vorzuführen, mit denen versucht wird zu erklären, was passiert, wenn ein Kind das Wort „cat“ erlernt. Der erste Antwortversuch lautet: „He learns that sounds like this name objects like that“ (Cavell 2000, S. 22). Die Antwort scheitert jedoch und ist unsinnig, da die Formulierung „like this“ absurderweise prinzipiell zulässt, dass ein Wort wie „rat“, das ähnlich wie das Wort „cat“ klingt, eine Katze bezeichnet. Der zweite Antwortversuch lautet: „He learns that sounds exactly similar to this name objects exactly similar to that“ (Cavell 2000, S. 22). Auch dieser Versuch

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3 Wegphase II: Spätphilosophie

scheitert wegen seiner Unsinnigkeit. Die Antwort könnte laut Cavell so verstanden werden, dass das Wort „cat“ nur Katzen bezeichnet, die exakt so sind, wie die Katze auf die beim Lehren des Wortes gedeutet wurde, und die daher nicht von ihr unterschieden werden können. Dann ist die Antwort offensichtlich falsch. Wenn wir aber diese Interpretation der Antwort ausschließen, dann fällt laut Cavell auf, dass wir einfach nur das Phänomen, das die Frage aufgeworfen hatte, wiederholen und nun aber als Antwort bejahen. „What we want to say is that the child learns that a sound that is (counts as) this word names objects which are cats. But isn’t that just what we thought we needed, and were trying to give, an explanation for?“ (Cavell 2000, S. 22). Weiterhin versucht Cavell zu zeigen, dass die folgenden Fragen unsinnig sind: (a) Lernt ein Kind, welches das Wort „pumpkin“ erlernt, was ein Kürbis ist? (b) Wird dem Kind mitgeteilt, was die Bedeutung des Wortes „pumpkin“ ist? Unsinnigkeit der Frage b: Laut Cavell ist es klar, dass einem Kind in so einem Fall nicht die Bedeutung des Wortes mitgeteilt wird, da man eine informative Mitteilung nur einer Person machen kann, die bereits verständig danach fragen kann (vgl. Cavell 2000, S. 22). So wie ein Kind, das noch nicht in die Praxis des Verleihens von Gegenständen eingeführt wurde, seine Rassel nicht verleihen kann, so kann ein Kind, das den Umgang mit dem Wort „pumpkin“ neu erlernt, die Bedeutung des Wortes nicht als Information neu empfangen. Ein derartiges Konzept der Bedeutung, wie es von kompetenten, erwachsenen Sprechern verstanden wird, spielt im Leben des Kindes noch gar keine Rolle. Unsinnigkeit der Frage a: Aus der schieren Benennung folgt kein Verständnis dafür, was ein Ding ist. „[T]o ‘know what a pumpkin is’ is to know, e. g., that it is a kind of fruit; that it is used to make pies; that it has many forms and sizes and colors; that this one is misshapen and old; that inside every tame pumpkin there is a wild man named Jack, screaming to get out“ (Cavell 2000, S. 23). Weiter weist Cavell darauf hin, „that there is not the clear difference between learning and maturation that we sometimes suppose there is“ (Cavell 2000, S. 23). Wenn ein Kind 15 Monate alt ist und „kitty“ sagt, wenn es Katzen sieht, liegt die Idee nahe, dass es die Bedeutung des Wortes „kitty“ gelernt hat. Dagegen steht jedoch, dass das Kind auch beim Betasten eines Pelzstückes „kitty“ sagen könnte, so dass es für das Kind womöglich einfach nur „weich“, „sanft“ oder „Wie schön ist das!“ bedeutet. Wir können aus diesen Alternativen, so Cavell, nicht sinnvoll wählen. Das Kind befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einem Prozess des Reifens, so dass es Wörter auf eine Weise benutzt, die keine Entsprechung im Vokabular der Erwachsenen hat. „Kittens – what we call ‘kittens’ – do not exist in her world yet, she has not acquired the forms of life which contain them“ (Cavell 2000, S. 24). Cavell verweist hier offenbar auf Wittgensteins Bemerkung: „[E]ine Sprache vor-

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stellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“ (PU § 19). Katzen kommen im Leben des Kindes nicht so vor wie im Leben eines Erwachsenen. Ähnliches gilt für Begriffe wie Gott, Liebe oder Verantwortung. Cavell will damit die Frage danach, was das Kind als Bedeutung des Wortes gelernt hat, als leer ausweisen: Die Namensträger existieren in der Welt des Kindes noch gar nicht, also hat das Kind, das sprechen lernt, auch nicht die Bedeutung des Wortes durch Kennenlernen des Namensträgers begriffen. Darin besteht für Cavell das wertvolle Ergebnis. „That the justifications and explanations we give of our language and conduct, that our ways of trying to intellectualize our lives, do not really satisfy us, is what […] Wittgenstein wishes us above all to grasp“ (Cavell 2000, S.26). Die Unsinnigkeit der philosophischen Aussagen einzusehen bedeutet, dass man mit den philosophischen Sätzen gar nicht gesagt hat, was man zu sagen meinte. Cavell (2000, S. 26) will mit Wittgenstein zeigen, „that the person making an assertion does not really know what he means, has not really said what he wished.“ Die Ursachen für diesen Trieb Unsinn zu äußern sieht Cavell (2000, S. 26) in „climates of opinion“ bzw. „cultural style.“ Cavells (2000, S. 26) Angriff auf den Versuch, gehaltvolle metaphysische Aussagen zu tätigen, beruht auf der Unterstellung, „that the person making [a metaphysical] assertion does not really know what he means, has not really said what he wished.“ Diese Position ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Wenn man die Idee einführt, dass ein philosophierender Mensch in einer Sinn-Illusion verfangen ist, die dazu führt, dass er Pseudo-Sätze ohne Bedeutung äußert, die er nur für bedeutungsvoll hält, dann scheint die Box der Pandora geöffnet: Nun ist prinzipiell auch die Unterstellung möglich, dass der resolute Anti-Philosoph in einer Sinn-Illusion gefangen ist. Es gibt keinen zwingenden Grund, warum es unmöglich sein sollte, dass gerade das Herunterschrumpfen des bedeutungsvollen Sprachgebrauchs auf die sogenannte „Alltagssprache“ selbst eine Sinn-Illusion bzw. Anti-Sinn-Illusion sein sollte. Das tiefste Problem ist hierbei die Abwesenheit externer, harter Standards. Laut der resoluten Lesart gibt es nicht rational absolut zwingende Argumente, die beweisen, dass die metaphysische Sprache Unsinn ist, sondern man soll die Unsinnigkeit im Laufe des Durchdenkens begreifen (grasp) (vgl. Cavell 2000, S. 26). Man schreitet somit vom ersten Zustand, in dem Metaphysik sinnvoll erscheint, zu einem zweiten Zustand, in dem sie nicht mehr sinnvoll erscheint. Es wird aber kein harter, rational verbindlicher Standard genannt, an dem sich gerade die Adäquanz des zweiten Zustands zeigt. Dass zwischen (a) den einzelnen Denkschritten Cavells und (b) der Bekehrung zur resoluten Grundeinsicht, dass Metaphysik radikaler Unsinn ist, ein rein rational nicht überbrückbarer Graben besteht, deutet sich an, wenn man die Schritte im Detail betrachtet.

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Cavell versucht die Frage nach der metaphysischen Bedeutung eines Worts wie „cat“, „kitty“ oder „pumpkin“ zu unterminieren, indem er auf die Diskontinuität der Lebensformen von Erwachsenen und Kindern verweist. Diese Diskontinuität ist relevant, weil die Bedeutung eines Wortes kontextabhängig von der Lebensform ist. Somit verliert die metaphysische Frage, die eine Antwort fordert, in der kontextunabhängig die eine absolute Bedeutung fixiert wird, ihren Griff und wird zerstreut. Cavells eigene philosophische Züge sind aber höchst arbiträr. Cavell affirmiert in seiner philosophischen Reflexion, dass Wörter eine Bedeutung im Kontext einer Lebensform haben und dass Dinge wie Kürbisse oder Katzen das sind, was sie sind, im Kontext einer Lebensform. Ohne die spezifische Praxis des Umgangs mit Katzen oder Kürbissen wären sie andere Dinge. Damit betont er die Diskontinuität zwischen Katzen im Leben des Kindes und des Erwachsenen. Es ist aber auch eine dem entgegensetzte philosophische Reflexion möglich, in der die Kontinuität betont wird. Ein von Aristoteles inspirierter Mensch möchte vielleicht sagen, dass die diversen menschlichen Lebensformen, in denen Hauskatzen vorkommen, bedingt wird durch die eine zugrundeliegende gleichbleibende Form der Hauskatze (= vierbeiniges Wesen, das Menschen durch Miauen manipulieren und Mäuse jagen usw. kann), die in anderen Lebensformen mit recht beträchtlichen Unterschieden in Erscheinung tritt. Selbst wenn es in dieser metaphysischen Antwort gewisse Lücken, Risse und Spalten gibt, die nicht absolut befriedigend gefüllt werden können, so kann dieser Philosophierende doch auf den Sinn seiner Antwort beharren. Er kann darauf verweisen, dass seine Antwort unterstellt, dass die Welt, grob gesagt, aus stabilen, gleichförmig-bleibenden Substanzen zusammengesetzt ist. Eine Katze hat, insofern sie eine Katze ist, bestimmte definierbare wesentliche Eigenschaften und Potenziale. Es gehört dann z. B. zum Wesen der Katze, dass sie nicht spontan das Gefäß für jenseitige Kräfte werden kann, die sie ergreifen, ihr Wesen vorübergehend umformen und für ihre übernatürlichen Zwecke einspannen. Somit ergibt sich das überhaupt nicht offensichtliche Bild einer vorhersehbaren, weitgehend erkennbaren und berechenbaren Welt. Es gibt also zunächst keinen zwingenden Grund, warum die philosophische Reflektion resoluter Art, welche die Diskontinuität betont, der Reflektion, welche die Kontinuität betont, grundlegend überlegen sein sollte. Cavell (vgl. 2000, S. 24) sieht den obigen Einwand, dass er die Diskontinuität überbetont, in den Grundzügen voraus und formuliert den Einwand eines möglichen Kritikers so: „Anyone will grant that [the child] can’t do everything we do with the word, nor know everything we do about kitties […] but […] she’s learned to name an object, and the same object we name.“ Cavells Erwiderung besteht darin, die Betonung der Diskontinuität noch zu verschärfen. Er betont nun, dass sich die philosophischen Fragen, die mit dem augustinischen Bild der Sprache

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zusammenhängen, nur aus einer spezifischen, kontingenten, kulturellen Perspektive ergeben, die eben auch wieder aufgegeben werden kann. Aber auch hier ist wiederum eine Betonung der Kontinuität möglich. Laut Hacker und Baker verweist Wittgenstein auf Augustinus, um zu zeigen, dass er philosophische Probleme behandelt, die gerade nicht an eine enge, kulturelle Perspektive gebunden sind: „[The Augustinian] pre-theoretical picture is manifest in the works of countless writers. Wittgenstein chose Augustine […] because he was an exceptionally clear-thinking man, who belonged to a culture far removed from ours“ (Baker & Hacker 2005, S.1). Besonders fragwürdig wird die Betonung der Diskontinuität, die metaphysische Fragen an ganz spezifische kulturelle Kontexte binden will, wenn man beachtet, dass der ganze Aufsatz unter der Überschrift „the illusory comfort of an external standpoint“ (Crary 2000, S. v) steht. Laut den Resoluten ist die schiere Idee eines externen Standpunkts eine zu überwindende Illusion. Man kann natürlich alle kulturell geformten Details aufzählen, in denen zu einer bestimmten Zeit die Frage nach dem externen Standpunkt formuliert wird, die anderen Zeiten exakt so nicht möglich gewesen wären. Daraus folgt aber noch nicht, dass sich in diesen spezifischen Ausprägungen nicht ein universeller, natürlicher Drang des menschlichen Fragens ausdrückt, der sich z. B. auch dann zeigt, wenn chinesische Denker sich über das äußern, was extern ist: „Was ohne Begriff ist, ist Anfang von Himmel und Erde. Was einen Begriff hat, ist Mutter der zehntausend Dinge“ (Laozi 2009, S. 9).

3.1.10 Ordnend ausgelegt Aus den obigen Kritikpunkten ergeben sich die Ansprüche, die eine ordnende Auslegung erfüllen muss, wenn sie in diesen Punkten Fortschritte erzielen soll. Es muss erstens die zu extreme, resolute Position, dass traditioneller philosophischer Sprachgebrauch ganz unsinnig und eigentlich radikal unverständlich ist, vermieden werden. Wenn in der Philosophie so radikale Sinn-Illusionen möglich sind, dann lässt sich die Gefahr nicht bannen, dass auch die Philosophie im Modus Wittgensteins auf gleichermaßen radikalen Sinn-Illusionen beruht, so dass sich die Überlegenheit der Philosophie Wittgensteins nicht allgemeingültig verteidigen lässt. Es muss zweitens die dogmatische Position, dass die Alltagssprache eine derartige absolute Gültigkeit hat, so dass abweichende philosophische Sprache immer aufgegeben werden muss, vermieden werden. Die Schwäche dieser Position besteht darin, dass sie die Möglichkeit, dass Abweichung von der Alltags-

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sprache gerade eine Emanzipation von ihr ist, nicht überzeugend ausschließen kann. Es muss drittens die naive Position, dass die Beschreibung der Alltagssprache keine Kontroversen zulässt und daher eine sichere Basis für das Philosophieren ist, entschärft werden. Das liegt daran, dass immer die Gefahr der nicht richtigen Beschreibung besteht. Die Position der theoretischen Lesarten, dass Wittgenstein ein nahezu handelsüblicher theoretischer Philosoph ist, der ein falsches Bild seiner Methode hat, läuft viertens Gefahr, zusammen mit Wittgensteins explizit anti-theoretischem Anspruch vorschnell das eigentümlich besondere und wertvolle von Wittgensteins Philosophie zu verdecken. Der Anspruch von Wittgenstein ist also ernst zu nehmen, ohne dabei die oben – in den ersten drei Punkten – kritisierte nicht stimmige Zurückweisung der metaphysisch-theoretischen Philosophie zu wiederholen. Während die Resoluten behaupten, dass der Weg der traditionellen Philosophie gar nicht existiert und nur eine Sinn-Täuschung ist, und die Klärenden behaupten, dass der Weg der traditionellen Philosophie existiert, aber es verboten ist, ihn einzuschlagen, da er die Grenzen des Sinns (welche durch die Möglichkeit sinnvoller Züge in der Alltagspraxis konstituiert werden) überschreitet, so steht die ordnende Lesart vor der Herausforderung zu zeigen, warum der traditionelle Weg wirklich da und offen ist, überhaupt keine Verbote bestehen, ihn zu betreten, aber er dennoch nicht langfristig betreten werden sollte. Die Entscheidung, den traditionellen Weg nicht weiterhin einzuschlagen, soll laut dem Wittgenstein der ordnenden Lesart in mindestens folgenden Schritten errungen werden. Beim traditionellen Philosophieren leuchten bestimmte Aspekte der Welt als erklärungsbedürftig und seltsam wirkend auf. Das motiviert das Einschlagen des traditionellen Weges, in dem eine beruhigende Erklärung gefunden werden soll.Wittgenstein stellt dagegen den Versuch (a) die Motivation für das langfristige Einschlagen des traditionellen Weges zu umgehen, indem (b) die Wirkung der Normalität der Welt wiederhergestellt wird, indem (c) die verschiedenen ursprünglichen Weisen des Verstehens und sprachlichen Umgangs mit der Welt geordnet werden, indem (d) eine Erinnerung an die Verstehensweisen stattfindet. Der Weg der Erinnerung ist es dabei auch, der es Wittgenstein erlaubt, (e) den klassischen Weg der Theorie zu umgehen. Wittgenstein betont, dass im Kontext des augustinischen Bildes der Sprache die Sprache seltsam zu scheinen beginnt, da sich die schwierig zu beantwortende Frage auftut, wie genau eine Verbindung zwischen Namen und benanntem Gegenstand hergestellt wird. Diese Seltsamkeit soll durch eine gutbegründete Erklärung getilgt werden. „Das Benennen erscheint als eine seltsame Verbindung eines Wortes mit einem Gegenstand. – Und so eine seltsame Verbindung hat

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wirklich statt, wenn nämlich der Philosoph, um herauszubringen, was die Beziehung zwischen Namen und Benanntem ist, auf einen Gegenstand vor sich starrt und dabei unzählige Male einen Namen wiederholt, oder auch das Wort ‚dieses’. Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert. Und da können wir uns allerdings einbilden, das Benennen sei irgend ein merkwürdiger seelischer Akt, quasi eine Taufe eines Gegenstandes“ (PU § 38). Laut Platon und Aristoteles beginnt die Philosophie mit dem Staunen. „Das Staunen ist ein Zustand, der vor allem dem Freund der Weisheit zukommt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen“ (Theaitetos, 155d). „Denn Verwunderung [Staunen] veranlaßte zuerst wie noch jetzt die Menschen zum Philosophieren, indem man anfangs über die unmittelbar sich darbietenden unerklärlichen Erscheinungen sich verwunderte, dann allmählich fortschritt und auch über Größeres sich in Zweifel einließ“ (Aristoteles 2014, S. 42). Diese Art des philosophischen Staunens sieht Wittgenstein auch in dem philosophischen Gefühl der Seltsamkeit des Benennens. Der metaphysische Impuls besteht nun darin, das Staunen durch eine wissensmäßige Erklärung zu tilgen. „Wer aber in Zweifel und Verwunderung über eine Sache ist, der glaubt sie nicht zu kennen“ (Aristoteles 2014, S. 42). Die Wirkung der Normalität soll nun laut Wittgenstein wiederhergestellt werden, indem die Verstehensweisen geordnet werden. Das philosophische Staunen, in dessen Kontext die traditionelle Philosophie nicht in der Lage ist, durch eine kohärente Letztbegründung die Normalität abschließend herzustellen, wird dabei als Vermischung von zwei kohärenten Formen des Staunens aufgefasst. (1) Eine Verstehensweise, in der sich relevante Weltaspekte auftun, besteht im wissenschaftlichen Staunen über noch zu erklärende Phänomene. So ist es kohärent, über das „Horizontproblem“ zu staunen, dass verschiedene Regionen des Universums, die sehr weit voneinander entfernt sind, physikalisch homogene Eigenschaften zeigen, obwohl die Urknalltheorie eigentlich größere Anisotropien vorhersagt (vgl. Guth 1981). (2) Eine andere Verstehensweise, die in sich kohärent ist, ist das Staunen über das schiere Sein. Dass überhaupt etwas ist, kann offenbar nicht wieder – wie im Modus der Wissenschaft – durch anderes Seiendes erklärt werden. Dieses Staunen ergibt sich, wenn man die Urphänomene als schiere Urphänomene anerkennt. „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene’ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt“ (PU § 654). Im Tractatus sagt Wittgenstein zu dem Thema: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“ (TLP 6.44). In der Metaphysik kommt es nun zu einer inkohärenten, unordentlichen Vermischung des wissenschaftlichen Staunens und des Staunens über das schiere Sein, da dort versucht wird, Urphänomene wissenschaftlich zu erklären.

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Die Inkohärenz des Versuchs einer Erklärung der Frage, wie ein Wort mit dem bedeuteten Gegenstand verknüpft wird, erläutert Wittgenstein z. B. im Blue Book. Er stellt die Frage: „If I give someone the order ‘fetch me a red flower from that meadow’, how is he to know what sort of flower to bring, as I have only given him a word?“ (BB, S.3). Diese Frage evoziert den Wunsch nach einer Antwort, die begründet und erklärt, wie die Verknüpfung zustande kommt. Now the answer one might suggest first is that he went to look for a red flower carrying a red imagine in his mind, and comparing it with the flowers to see which of them had the colour of the image. Now there is such a way of searching, and it is not at all essential that the image we use should be a mental one. In fact the process may be this: I carry a chart coordinating names and coloured squares. When I hear the order “fetch me etc.” I draw my finger across the chart from the word “red” to a certain square, and I go and look for a flower which has the same colour as the square. But this is not the only way of searching and it isn’t the usual way. We go, look about us, walk up to a flower and pick it, without comparing it to anything. To see that the process of obeying the order can be of this kind, consider the order “imagine a red patch”. You are not tempted in this case to think that before obeying you must have imagined a red patch which you were ordered to imagine (BB, S.3).

Das zu ziehende Fazit ist hier, dass das konsequente philosophische Denken, das Begründungen sucht, in einen Regress führt. Wenn wir einen imaginierten roten Fleck im Geist des Suchenden postulieren müssten, damit wir erklären können, dass er die rote Blume auf der Wiese – die er mit dem roten Fleck im Geiste vergleicht – als rot identifizieren kann, dann müssten wir, wenn wir das Ausführen der Aufforderung „Imaginiere einen roten Fleck!“ erklären wollten, auch einen höherstufigen roten Fleck im Geiste postulieren, der als Vergleichsobjekt für die Aufforderung einen roten Fleck zu imaginieren, fungiert. Das führt aber in eine absurderweise endlose Begründungskette. Dass etwas unerklärt ist, ist nicht per se ein Problem. Das würde sogar die Möglichkeit jeglicher Erklärung unterminieren. In einer Erklärung gibt es das Erklärungsbedürftige und das Erklärende. Beispielsweise ist es erklärungsbedürftig, warum in einer Gegend unzählige entwurzelte Bäume herumliegen. Erklärt wird es z. B. durch einen starken Sturm. Das Erklärende (der Sturm) erfüllt seine Funktion auch bereits dann, wenn er nicht selbst erklärt wird, wenngleich es in diesem Fall möglich ist, wiederum auch ihn zu erklären. In anderen Fällen kommen aber die Erklärungen an ein Ende. Neben dem negativen Verweis auf den Regress, erinnert uns Wittgenstein dementsprechend auch positiv daran, dass wir in der Alltagssprache eben keine ultimativen Begründungen fordern. Das Benennen von Gegenständen geschieht in der Alltagssprache nie aus einer vorsprachlichen Situation heraus, sondern ist immer eingebettet in ein Schonsprechenkönnen, auch wenn es die primitivste Zeichenund Lautsprache des Säuglings ist.

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Warum sieht Wittgenstein dieses Zurückkehren zur Alltagssprache, die er durch sein neuartiges Konzept des Sprachspiels fasst, nun nicht als kontroverse Theorie? Entscheidend scheint hier für ihn zunächst zu sein, dass er keine zusätzlichen Entitäten, die er theoretisch herleitet, postuliert, welche die Bedeutung von Wörtern sind. Sein Konzept des Sprachspiels meint weiterhin auch kein theoretisch entdeckbares Wesen der Sprache, sondern es ist Wittgensteins methodische Entscheidung, Sprechen als Sprachspiel zu betrachten. Dadurch sollen gerade nicht neue Aspekte der Sprache entdeckt werden, sondern lediglich vorphilosophisch zugängliche Aspekte hervorgehoben und unterstrichen werden. Weiterhin ist die Theorie in Kontrast zu setzen mit der Erinnerung. „Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck“ (PU § 127). Angenommen eine Person wacht auf und soll Auskunft darüber geben, was sie am vorherigen Tag getan hat. Person A hat eine Gedächtnislücke und spinnt daher aufgrund verschiedener Evidenz eine Theorie über ihre Taten. Aus dem Erbrochenen, dem blutigen Auge und dem leeren Portemonnaie schließt sie dann z. B. auf einen Alkoholexzess mit anschließender Schlägerei. Person B erinnert sich direkt und muss daher keine Theorie konstruieren, sondern nur die unmittelbare Erinnerung adressatengerecht zur Sprache bringen. Wittgensteins Fokus auf die Erinnerung entschärft dabei auch das Problem, dass die grammatischen Regeln der Sprachspiele prinzipiell immer falsch beschrieben werden können und daher nicht das absolut sichere Fundament bieten können, das Hacker und Baker (vgl. 2005, S. 276) darin sehen. Das liegt darin, dass die immer schon latent vorliegende Erinnerung die Last der Verantwortung von der Beschreibung nimmt. Die Beschreibung muss nicht vollständig und in jedem Detail akkurat sein, sondern nur eine hinreichende Erinnerungshilfe sein. Wenn man eine Passage eines Musikstücks auf einem Instrument nicht mehr auswendig spielen kann, reicht es oft, den ersten und zweiten Ton des entsprechenden Taktes nachzuschlagen und damit kommt auch die Erinnerung an die vielen, verbleibenden Töne wieder zum Vorschein. Das Sichtbarmachen eines Bruchstücks genügt, um die ganze Erinnerung wiederherzustellen. Es besteht hier auch eine Analogie zu Operationen durch einen Arzt. Es kann erstaunen, dass ein Arzt, z. B. bei einer Organtransplantation, komplexe Eingriffe in den Körper vornimmt, die dennoch zum Erfolg führen. Man will fragen: Wie ist es möglich, dass ein Mediziner eigenhändig und zielgerichtet komplexe Prozesse im Körper steuert? Aber hier muss man berücksichtigen, dass die meiste Arbeit eben vom Körper selbst übernommen wird. Eine gewöhnliche Wunde heilt im Normalfall von selbst ohne aktives/bewusstes, menschliches Zutun. Und so werden auch die Prozesse, welche der Arzt in der Operation anstößt, vom Körper „von selbst“ vollendet. Die aktiven Handlungen des Arztes sind eingebettet in den größeren Kontext eines Köpers, der sich von selbst heilt und die Handlungen des Arztes können auch nur

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in diesem Kontext bestehen. Wenn Wittgenstein also die Alltagssprache in Sprachspielen vorstellt, dann muss er nicht selbst alle Aspekte der Sprache explizit herausstellen, es genügt, wenn er durch Skizzen die richtigen Andeutungen macht, welche dann „von selbst“ im Leser die Erinnerung an das sprachliche Eingebundensein in die Welt wachrufen. Wittgenstein kann dann davon reden, dass Kinder Wörter durch „Abrichten“ (PU § 5) lernen und das als grobe Skizze meinen, die in diesem spezifischen Kontext als Erinnerungshilfe dafür dient, dass ein Kind, welches neu sprechen lernt, nicht nach dem Modell einer bereits sprechenden Person verstanden werden kann, die neue Wörter erlernt, indem sie Erklärungen vernimmt, die bereits sprachlich ausformuliert sind. Wittgenstein steht dann nicht vor der Herausforderung, vollständig und exakt zu beschreiben, was passiert, sondern vor der etwas geringeren Herausforderung, die richtigen Erinnerungshilfen zu geben, die dem Mitphilosophierenden erlauben, in die philosophische Reflexion einzusteigen. Kommen wir zum vorläufigen Fazit der Erörterung. Es sollte gezeigt werden, warum Wittgenstein, obwohl kein Zwang dazu besteht, bei der Alltagssprache stehen bleibt. Die genuine Möglichkeit, in die traditionelle Philosophie einzusteigen, wird erst dann genuin attraktiv, wenn eine bestimmte Form des Staunens vorliegt. Diese Form des Staunens ist eine illegitime Vermischung zweier ordentlicher Formen des Staunens: Das Staunen über das „Wie-sein“ der Welt und das Staunen über das „Dass-sein“ der Welt. Durch die Erinnerung an die Alltagspraxis werden uns diese zwei Formen des Staunens als ordentliche Ur-Formen wieder plastisch und transparent. Das philosophische Staunen, das Erklärungen fordert, kann nun in das ordentliche Staunen über das Dass-sein der Welt umgewandelt werden und der Trieb zur traditionellen Philosophie ist damit beruhigt. Man ist dann wie jemand, der zwar die verbotene Frucht vom Baum genuin pflücken könnte, aber von dieser Möglichkeit nicht unruhig gemacht wird. Die anderen Lesarten verneinen, dass es überhaupt so etwas geben könnte, wie die Frucht des Baumes genuin zu pflücken. Die vervollständigende, erinnernde Sichtung der Alltagssprache zeigt also an, dass die ultimative Begründung nicht zur Alltagssprache gehört. Wenn es zum erinnernden Akzeptieren der Alltagssprache kommt, dann wird der Drang zur ultimativen Begründung aufgehoben. Die Seltsamkeit ergab sich aus dem Gefühl, dass ein bestimmter Begründungsgang eigentlich tauglich sein müsste, aber andererseits doch nicht hinreichend tauglich wirkt. Wenn aber dieser (verwirrte) Anspruch zur ultimativen Begründung wegfällt, dann geht mit ihm auch das Gefühl der Seltsamkeit unter. Noch nicht hinreichend geklärt sind damit jedoch die Fragen, warum man bei der Alltagssprache tatsächlich konsequent und langfristig stehen bleiben sollte, auch wenn man es kohärent kann und einige philosophische Probleme dadurch

3.2 Das logische Muss ist nicht absolut

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gelöst werden, so dass noch nicht klar ist, ob die ordnende Lesart in der Hinsicht wirklich weitreichende Fortschritte gegenüber der klärenden Lesart erringt, sowie die Frage, inwiefern Wittgenstein den Bezug auf außersprachliches Seiendes in der Alltagssprache und in seiner philosophischen Methode anerkennt. Diese Fragen sind in den nun anschließenden Kapiteln zu klären.

3.2 Das logische Muss ist nicht absolut Zum augustinischen Bild gehört die Idee, dass ein sozusagen außersprachlicher Gegenstand einen logischen Zwang ausübt, der die Tiefengrammatik des Namens des bezeichneten Gegenstandes vorgibt. Wittgenstein diskutiert das Konzept des logischen Zwanges aber nicht nur in dieser bestimmten Wendung, in der Bedeutung nach dem Modell alltäglicher, greifbarer Umgangsgegenstände gedacht wird, sondern wendet sich auch anderen Entitäten zu, die als Kandidaten für den Ursprung des logischen Zwanges Reiz ausüben. Die Idee entspringt unter anderem aus dem Phänomen, dass mitunter ein bestimmter Wortgebrauch, der ja zeitlich ausgestreckt ist, mit einem Schlage, also zeitlich maximal konzentriert, erfahren wird. Der Wortgebrauch scheint etwas zu sein, was schon in dem, was sich im Schlage gezeigt hat, im Kern konzentriert vorhanden war. Der Gebrauch muss dann nur noch aus dem Kern logisch streng entfaltet werden. Das ruft dann weiter die Frage hervor, wie genau der Gebrauch als zum Kern passende Entfaltung gefasst werden kann. Wenn mir jemand z. B. das Wort „Würfel“ sagt, so weiß ich, was es bedeutet. Aber kann mir denn die ganze Verwendung des Wortes vorschweben, wenn ich es so verstehe? Ja, wird aber anderseits die Bedeutung des Wortes nicht auch durch diese Verwendung bestimmt? Und können sich diese Bestimmungen nun widersprechen? Kann, was wir so mit einem Schlage erfassen, mit einer Verwendung übereinstimmen, zu ihr passen, oder nicht zu ihr passen? Und wie kann das, was uns in einem Augenblicke gegenwärtig ist, was uns in einem Augenblick vorschwebt, zu einer Verwendung passen? (PU § 139).

Ein Kandidat für etwas, aus dem sich die Regeln für den Gebrauch des Worts „Würfel“ logisch zwingend herleiten würden, ist „[e]twa die Zeichnung eines Würfels“ (PU § 139). Welcher sprachliche Zug würde nun von dieser Zeichnung grammatisch verboten werden? Wittgenstein schlägt rhetorisch vor: „Wenn mir dieses Bild vorschwebt und ich zeige z. B. auf ein dreieckiges Prisma und sage, dies sei ein Würfel, so paßt diese Verwendung nicht zum Bild“ (PU § 139). Der „Witz“ ist, dass man sich dabei aber schnell eine Projektionsmethode vorstellen kann, nach der das Bild doch passt. Ein anderes Beispiel: Ein Bild, das einen Mann zeigt, der auf einem Stock gestützt geht, könnte prinzipiell auch als Bild

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eines Mannes, der die Straße hinunterrutscht aufgefasst werden. Ein normales Mitglied unserer Sprachgemeinschaft würde das zwar natürlicherweise nicht tun, aber das Bild selbst lässt die Möglichkeit eben doch zu: „Ein Marsbewohner würde das Bild vielleicht so beschreiben“ (PU § 139). Ähnlich ist es bei der Zeichnung des Würfels: „Das Bild des Würfels legte uns allerdings eine gewisse Verwendung nahe, aber ich konnte es auch anders verwenden“ (PU § 139). Es wird also das Naheliegen eines Gebrauchs für eine bestimmte Gruppe mit dem sich aus der Entität selbst ergebenden absoluten logischen Zwang verwechselt. Etwas anders gewendet: „Unser ‚Glaube, das Bild zwinge uns zu einer bestimmten Anwendung’, bestand also darin, daß uns nur der eine Fall und kein andrer einfiel“ (PU § 140). Das Nichtbedenken alternativer Möglichkeiten wird mit einer sich logisch aufzwingenden Abwesenheit alternativer Möglichkeiten verwechselt. Die Idee, dass dem Bild des Würfels noch „ein Schema der Projektionsart“ (PU § 141) hinzugefügt ist, welches die alternativen Deutungen ausschließt, ist auch nicht zielführend, da sich das Problem hier wieder erneut stellt: Auch das Schema kann verschiedenartig behandelt werden. Das wirkliche Phänomen, dass einem durch ein Bild die bestimmte Benutzung des Begriffs klar wird, fasst Wittgenstein so, dass Bild und Anwendung potenziell „insofern kollidieren, als uns das Bild eine andere Verwendung erwarten läßt; weil die Menschen im allgemeinen von diesem Bild diese Anwendung machen. […] Es gibt hier einen normalen Fall und abnormale Fälle“ (PU § 141). Normalität der Praxis wird also mit einer Art „übermenschlichem“ logischen Zwang verwechselt. Nun betrachtet Wittgenstein einen anderen Kandidaten für etwas, das zeitlich und räumlich konzentriert die Regeln für den zeitlich ausgedehnten Sprachgebrauch in sich schließt. „B soll auf den Befehl des A Reihen von Zeichen niederschreiben nach einem bestimmten Bildungsgesetz. Die erste dieser Reihen soll die sein der natürlichen Zahlen im Dezimalsystem“ (PU § 143). Um den Schüler B in die Praxis einzuführen, wird ihm beispielhaft die erste korrekte Reihe vorgeführt, aus der er schon zu einem großen Teil den zukünftigen Gebrauch entnehmen soll. Man kann ihm „etwa zuerst beim Nachschreiben der Reihe 0 bis 9 die Hand [führen]; dann aber wird die Möglichkeit der Verständigung daran hängen, daß er nun selbständig weiterschreibt“ (PU § 143). Wittgenstein legt damit wieder den Fokus von der isolierten Entität – dem Beispiel der korrekten Zahlenreihe – aus welcher sich der korrekte Gebrauch logisch aufzwingen sollte, auf den Kontext: Auf die natürlichen, aber nicht zwingenden, Reaktionen des Schülers. Der Schüler darf zwar bestimmte Fehler machen, die dann korrigiert werden können, aber die müssen sich in Grenzen halten, damit er dann, nach der Zurechtweisung, von selbst korrekt weiterschreibt. Wenn die Fehler zu radikal werden, dann besteht keine „Möglichkeit der Verständigung“ (PU § 143) mehr. Es ist also nicht so, dass aus dem Beispiel selbst ein bestimmtes, sprachliches Verhalten mit Zwang

3.2 Das logische Muss ist nicht absolut

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folgt, sondern normalerweise reagieren Menschen auf das Beispiel ähnlich genug, um eine regelförmige Praxis in Gang zu bringen. Die Möglichkeit der Verständigung innerhalb einer Sprachgemeinschaft wird also mit einem sich aus einem isolierten Sprachding ergebenden absoluten logischen Zwang verwechselt. Ob der Schüler die Regeln begriffen hat, entscheidet sich daran, ob er die Zahlenreihe weiterhin ohne signifikante Fehler vervollständigt. „Die Anwendung bleibt ein Kriterium des Verständnisses“ (PU § 146). Hier zeigt sich wieder der Fokus auf das Ganze. Das Regelverständnis des Schülers kann nicht darin bestehen, dass er die Regel in konzentrierter, isolierbarer Form – z. B. als Vorstellung einer Würfelzeichnung oder als herausgelöste Formel – präsent hat. Die Entscheidung, ob ein Schüler eine Regel beherrscht, wird nämlich nicht dadurch getroffen, dass man begutachtet, welche Formeln oder Bilder vor seinem „geistigen Auge“ schweben, sondern am Gebrauch. Es wird nicht der Geist des Schülers aus dem Ganzen herausgelöst und der Geist als Ort des Verständnisses isoliert betrachtet, sondern die Stellung des Schülers in der ganzen Sprachpraxis. Die Wirkungskraft des Ganzen wird also in einer Verwirrung auf die Wirkungskraft eines isolierten Teils projiziert. So verweist das Phänomen, dass man plötzlich etwas wie „Nun verstehe ich!“ sagen will und dann auch die Regel tatsächlich anwenden kann, eben auch auf das Ganze. Wenn man diesen Satz treffend sagen kann, „so sind es gewisse Umstände, die [einen] berechtigen, zu sagen, [man] könne fortsetzen“ (PU § 154). Wenn dem Ausspruch das richtige Training vorausgeht, dann kann das Verständnis tatsächlich schlagartig einsetzen. Im § 185 betrachtet Wittgenstein die Formel „+n“ als Beispiel für eine Entität, über die der traditionell Philosophierende glaubt, dass in ihr der logische Zwang zu einem bestimmten Gebrauch eingeschlossen ist. Wittgenstein stellt nun den Fall vor, dass ein Schüler auf den Befehl „+1“ erst korrekt die Grundzahlenreihe bis zur Zahl 1000 schreibt. Doch dann passiert eine unerwartete, abnorme Reaktion. „Wir lassen nun den Schüler einmal eine Reihe (etwa „+2“) über 1000 hinaus fortsetzen, – da schreibt er: 1000, 1004, 1008, 1012“ (PU § 185). Auf den Hinweis, dass der Schüler weiter die Formel „+2“ anwenden soll, reagiert er mit Unverständnis und sagt, er sei doch auf die gleiche Weise fortgefahren. Dieser Schüler hätte für Wittgenstein unnatürliche Reaktionen auf den Unterricht. „Dieser Fall hätte Ähnlichkeit mit dem, als reagierte ein Mensch auf eine zeigende Gebärde der Hand von Natur damit, daß er in der Richtung von der Fingerspitze zur Handwurzel blickt, statt in der Richtung zur Fingerspitze“ (PU § 185). Hier zeigt sich einerseits wieder die Verwechselung der Normalität der Praxis mit einer Art „übermenschlichem“ logischen Zwang. Andrerseits rückt hier noch ein anderer Aspekt der Verwirrung klarer in den Vordergrund. Es scheint, als hätte der Lehrer beim Verstehen der Formel „+2“ schon alle Zahlen der Zahlenreihe irgendwie präsent gehabt.Wenn er den Übergang „1000, 1004“ als abnorm erkennt, dann, so

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scheint es, muss er doch irgendwie schon den Übergang „1000, 1002“ präsent gehabt haben. Das scheint aber dem zu widersprechen, dass er beim Bedenken von „+2“ eben nicht an jeden einzelnen Übergang explizit denkt. Er kann ja nicht „eine unendliche Anzahl“ (PU § 186) solcher Übergänge präsent haben. Hier tritt wieder das Gefühl der merkwürdigen Kraft der Formel auf: „[E]s schien, als wären [die Übergänge] in einer einzigartigen Weise vorausbestimmt, antizipiert“ (PU § 188). Einerseits will man der Formel die Macht zusprechen, alle Übergänge der Regel in sich zu schließen, andrerseits ist die Macht nicht transparent zu machen: Darum wirkt sie einzigartig und merkwürdig. Wittgenstein will das Problem lösen, indem er diesen Fall des Regelfolgens in Analogie mit einem anderen Fall setzt: Denn du meinst ja nicht, daß du damals an den Übergang von 1000 auf 1002 gedacht hast – und wenn auch an diesen Übergang, so doch an andre nicht. Dein „Ich habe damals schon gewußt …“ heißt etwa: „Hätte man mich damals gefragt, welche Zahl er nach 1000 schreiben soll, so hätte ich geantwortet ‚1002’.“ Und daran zweifle ich nicht. Es ist das eine Annahme etwa von der Art dieser: „Wenn er damals ins Wasser gefallen wäre, so wäre ich ihm nachgesprungen.“ – Worin lag nun das Irrige deiner Idee? (PU § 187).

Es gibt potenziell unendlich viele Variationen von Situationen, in denen z. B. ein Ertrinkender gerettet werden müsste. Hier ist es deutlicher, dass wir trotz der Variationen die Fälle immer als eine Art von Fall, die eine Art von Reaktion erfordert, wahrnehmen. Für uns ist es ebenso natürlich, den Übergang „998, 1000“ und den Übergang „1000, 1002“ als von einer Art zu erleben.Wenn eine bestimmte Zahl als Anfang der Reihe genannt wird, dann ist es klar, wie wir nach der Art der Regel fortfahren. Es ist kein Problem, die Regel immer wieder erneut anzuwenden. Die Fähigkeit, die Regeln in einer gewöhnlichen Situation immer wieder erneut sicher anwenden zu können, wurde also mit einem einzigartigen Präsentsein aller Übergänge der Regel verwechselt. Wenn im Ausdruck der Formel „+n“ nichts ist, was einen bestimmten Gebrauch aufzwingt, dann kann jeder Gebrauch als im Einklang mit der Formel stehend, angesehen werden. Jemand, der bei der Formel „+2“ die Übergänge „998, 1000, 1004, 1008“ macht, könnte man sagen, versteht die Formel „+2“ so, wie wir den Befehl: „Zwischen 0 und 1000: +2; ab 1000: +4“ verstehen würden. Aber beide Arten des Umgangs, könnte man sagen wollen, lassen sich als Ausdruck der Formel „+2“ sehen. Daher fasst Wittgenstein zusammen: „Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei“ (PU § 201). Wittgenstein will nun zeigen, dass dahinter eine irregeleitete Frage steckt: „Die Antwort war: Ist jede [Handlungsweise] mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch“ (PU § 201). Das Inübereinstimmungbringen oder In-

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widerspruchbringen einer Regel mit der Anwendung geschieht in einem bestimmten Modus des Umgangs mit ihr: Im Modus der Interpretation. Interpretation kann aber nicht der Ur-Umgang mit Regeln sein, da dann das Regelfolgen seine Basis verlieren würde und sich in der Endlosigkeit neuer Interpretationen verlieren würde: „Daß da ein Mißverständnis ist, zeigt sich schon darin, daß wir in diesem Gedankengang Deutung hinter Deutung setzen; als beruhige uns eine jede wenigstens für einen Augenblick, bis wir an eine Deutung denken, die wieder hinter dieser liegt“ (PU § 201). Der natürliche Umgang mit „+n“ ist also keine Interpretation, keine Deutung. Wie lässt er sich dann charakterisieren? In Über Gewißheit formuliert Wittgenstein die Art und Weise, wie wir die grammatischen Regeln unserer Sprachspiele festhalten, so: „Ich möchte nun diese Sicherheit nicht als etwas der Vorschnellheit oder Oberflächlichkeit Verwandtes ansehen, sondern als (eine) Lebensform.“ (ÜG § 358). „Das heißt doch, ich will sie als etwas auffassen, was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt; also gleichsam als etwas Animalisches.“ (ÜG § 359). Tiefer als die Interpretation liegt also die animalische Gewissheit, mit der bestimmte Regeln, die eine Lebensform konstituieren, instinkthaft anerkannt werden. Das Interpretieren, das eine Handlung ist, die schon viel Sicheres voraussetzt, bleibt auf solche animalischen Gewissheiten als Basis angewiesen. Wenn man eine Regel wie „+n“ durch Umformulierung erklärt, dann weist man eben nicht auf die richtige Interpretation, die hinter dem Ausdruck der Regel liegt, sondern ersetzt nur einen logisch gleichwertigen Ausdruck mit einem anderen: „‚Deuten’ aber sollte man nur nennen: einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen.“ (PU § 201). Das Ersetzen eines Ausdrucks durch einen gleichwertigen Ausdruck wird also mit dem Verfolgen einer hierarchischen Deutungskette verwechselt. Außerdem: Die jenseits von Begründungen liegende animalische Gewissheit wird mit einem begründeten, quasi-platonischen, logischen Zwang verwechselt. Dies drückt Wittgenstein in den Untersuchungen dadurch aus, dass er nicht das Bild der animalischen Gewissheit nutzt, sondern das des harten Felsens, an dem sich der Spaten biegt: „Wie kann ich einer Regel folgen?“ – wenn das nicht eine Frage nach den Ursachen ist, so ist es eine nach der Rechtfertigung dafür, daß ich so nach ihr handle. Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: „So handle ich eben“ (PU § 217).

Schließlich vergleicht Wittgenstein den logischen Zwang der Regel mit dem kausalen Zwang in der Physik. Beim Philosophieren, so Wittgenstein, vermischen wir beide Zwänge miteinander. „Nun, statt der Regel könnten wir uns Geleise denken. Und der nicht begrenzten Anwendung der Regel entsprechen unendlich lange Geleise“ (PU § 218). Wir sind mit dem unerbittlichen Zwang der Naturge-

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walten vertraut. Das als Ursache des Todes wirkende Gift im Körper des Sokrates übt z. B. einen kausalen Zwang aus, der nicht antastbar ist. (Man könnte vielleicht ein Gegengift geben, aber damit hebt man nicht den kausalen Zwang als solchen auf, sondern arbeitet mit den kausalen Zwängen.) Die physischen Gleise üben den Zwang aus, dass sich der Wagen, der auf sie gesetzt wird, nun nur in den vorgegebenen Bahnen bewegen kann. Die von der S3 befahrenen Gleise zwischen Ostkreuz und Karlshorst schließen durch ihre Beschaffenheit unerbittlich aus, dass man auf ihnen die Strecke von Moskau nach Peking zurücklegen kann. So wie bestimmte Gleise einen notwendig vom Ostkreuz nach Karlshorst führen, so Wittgenstein, glaubt ein Philosoph in der Tradition des Sokrates, dass die Anwendung der Regel einen notwendig zu einem bestimmten Ergebnis schickt. Dabei ist der logische Zwang von einer anderen Art. Es ist der Zwang des natürlichen Instinkts, aber der ist nicht absolut, sondern wird eingebettet in eine bestimmte Erziehung und lässt eine gewisse beschränkte Varianz zu. Das Verstoßen gegen den logischen Zwang ist nicht wie das unmögliche Verstoßen gegen ein Naturgesetz, sondern es ist ein abnormes Verhalten, das von der Sprachgemeinschaft als befremdlich aufgenommen und sanktioniert wird. Folgende Verwirrungen lassen sich also zusammenfassen: – Für eine bestimmte Sprachgemeinschaft naheliegender Sprachgebrauch ≠ Sich aus einer quasi-platonischen Entität ergebender absoluter Zwang zum Sprachgebrauch. – Das Nichtbedenken alternativer Möglichkeiten auf ein sprachliches Zeichen zu reagieren ≠ Sich logisch aufzwingende Eindeutigkeit des Zeichens. – Normalität der sprachlichen Praxis ≠ „Übermenschlicher“ logischer Zwang zur sprachlichen Praxis. – Die Möglichkeit der Verständigung innerhalb einer Sprachgemeinschaft ≠ Sich aus einem isolierbaren Sprachding ergebender absoluter logischer Zwang zur Sprache der Gemeinschaft. – Die Wirkungskraft des Ganzen der Sprache ≠ Die Wirkungskraft eines isolierten Teils der Sprache. – Die Fähigkeit eines Mitglieds der Sprachgemeinschaft, die Regeln in einer gewöhnlichen Situation immer wieder erneut sicher anwenden zu können ≠ Einzigartiges Präsentsein aller Übergänge der Regel. – Das Ersetzen eines Ausdrucks der Regel durch einen gleichwertigen Ausdruck ≠ Verfolgen einer hierarchischen Deutungskette, welche in der quasi-platonischen Ur-Form der Regel aufgeht. – Die jenseits von Begründungen liegende animalische Gewissheit ≠ Begründeter, quasi-platonischer, logischer Zwang, der sich als Gewissheit ausdrückt.

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Unerbittlichkeit des logischen Zwanges ≠ Unerbittlichkeit des kausalen Zwanges. Zu den Quellen der Verwirrungen gehören die folgenden Aspekte der Alltagssprache: Im Kontext eines Trainings kann ein Regelgebrauch vom Schüler schlagartig verstanden werden. → Der notwendige Kontext wird vom Philosophierenden jedoch wieder vergessen. → Die Wirkkraft des Trainings wird auf isolierbare Gegenstände wie innere Geisteszustände oder Ur-Formeln für die Regel projiziert. Aus der Alltagspraxis sind uns kausaler und grammatischer bzw. logischer Zwang bekannt. → Eigenschaften dieser beiden Arten werden vermischt und es entsteht die Idee eines logischen Zwanges, der unerbittlich wie die Naturgewalten ist. → Da wir in der Praxis des Regelfolgens nichts finden, was diesen unerbittlichen Zwang begründet, wirkt das Regelfolgen schlicht zufällig.

3.2.1 Theoretisch ausgelegt Als Beispiel für eine theoretische Lesart wird hier Saul Kripkes Wittgenstein on Rules and Private Language (1982) angeführt. Obwohl Kripke bereits vielfach kritisiert wurde und von anti-theoretischen Interpreten oft gerade als schillerndes Negativbeispiel für eine entstellende Wittgensteinlesart angeführt wird (vgl. McGinn 1997; Schroeder 2006), ist es angemessen, hier nochmals auf ihn einzugehen. Das liegt vor allem daran, dass er laut der ordnenden Lesart nicht nur fehlgeht, sondern in verwirrter Weise auch auf einige wichtige Aspekte, die genuin bei Wittgenstein vorhanden sind und meist übersehen werden, verweist. Kripke verweist auf das folgende Paradoxon. Angenommen ein Sprecher hätte bislang nur Zahlen unter 50 addiert, und nun wird ihm die Aufgabe „68 + 57“ gestellt. Es wäre nun natürlich für uns zu sagen, dass er in der Vergangenheit eine Regel benutzt hat, die ihn zum Ergebnis „125“ führen würde. Aber laut § 201 der Untersuchungen gibt es eben keinen Fakt im vergangenen Gebrauch, der „125“ als korrektes Ergebnis determiniert oder irgendeine Antwort vor einer anderen Antwort als die genuin richtige auszeichnet. Statt der Regel, die wir „plus“ nennen, so Kripke, hätte der Sprecher auch die ganze Zeit die Regel „quus“ anwenden können. Diese wird so definiert: x " y = x + y,if x,y < 57 = 5 otherwise

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Was für mathematische Regeln gilt, gilt auch für andere Regeln, die den Wortgebrauch lenken. Es wäre durch eine zeitlich begrenzte Anwendung der Begriffe „Lampe“ oder „Gerechtigkeit“ nie klar, was exakt mit diesen Begriffen gemeint ist. Wie löst Kripke nun das Problem? Für ihn erscheint das Problem dann als dringend, wenn man nach Wahrheitsbedingungen (truth-conditions) sucht; wenn man danach fragt, was wahrhaftig der Fall sein muss, damit ein Satz wie „68 plus 57“ oder „68 quus 57“ korrekt ist.Wenn man dieses Modell voraussetzt, dann folgt aus der Entdeckung des Skeptikers, die darin besteht, dass es keine Fakten gibt, die determinieren, welche Regel benutzt wurde und wird, dass Sätze der Form „Sprecher S meint … mit Ausdruck A“ falsch oder unsinnig sind. Der Ausweg besteht für Kripke nun darin, den Blick von den truth-conditions zu den assertability-conditions zu wenden. Laut Kripke entwickelt Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen ein Modell, nach dem zwei Aspekte die Bedeutung eines Satzes bestimmen: Die Umstände, in denen man einen Satz bejaht oder verneint; die Tatsache, dass die Praxis der Bejahung und Verneinung in bestimmten Umständen eine gewichtige Rolle im Alltag einer Gemeinschaft hat. Es gilt in Bezug auf bejahende und verneinende Sätze, dass Folgendes gegeben ist: „[R]houghly specifiable circumstances under which they are legitimately assertable, and that the game of asserting them under such conditions has a role in our lives.“ (Kripke 1982, S. 78). Der Vorteil dieser neuen Sicht: „[N]o supposition that ‘facts correspond‘ to those assertions is needed“ (Kripke 1982, S. 78). Wenn man ein isoliertes Individuum betrachtet, dann kann man nun laut Kripke nicht feststellen, ob es einer Regel korrekt folgt oder nicht. „All we can say, if we consider a single person in isolation, is that our ordinary practices licenses him to apply the rule in the way it strikes him“ (Kripke 1982, S. 88). Die normative Dimension eröffnet sich erst mit dem Eintritt des Individuums in eine Gemeinschaft: Wenn nun seine Neigungen eine Regel so und nicht anders anzuwenden mit den Neigungen der Anderen zusammenfallen, dann kann man in der Gruppe sagen, dass das Gemeinschaftsmitglied die Regel gemeistert hat. Für Kripke ist es aber wichtig zu betonen, dass die Frage, ob der Sprecher die Regel auch richtig benutzt, eine offene, skeptische Frage bleibt. Aus der Tatsache, dass die Gemeinschaft im Regelgebrauch übereinstimmt, folgt nicht, dass dieser Regelgebrauch korrekt ist. [T]hat Wittgenstein’s theory is one of assertability conditions deserves emphasis. Wittgenstein’s theory should not be confused with a theory that, for any m and n, “plus”, is (by definition) the value that (nearly) all the linguistic community would give as an answer. Such a theory would be a theory of the truth conditions of such assertions as “By ‘plus’ we mean such-and-such a function” or “By ‘plus’ we mean a function, which, when applied to 68 and 57 as arguments, yields 125 as value.” (Kripke 1982, S. 111)

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Der offensichtliche Kritikpunkt aus der Perspektive klärender und resoluter Lesarten liegt hier natürlich darin, dass Wittgenstein nicht durch eine theory of assertability conditions versucht, ein skeptisches Problem zu umgehen, sondern versucht zu zeigen, dass die skeptische Frage auf einem Missverständnis davon beruht, was es heißt, einer Regel zu folgen. „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen“ (PU § 371). Eine Sichtung der Alltagssprache zeigt dann schlicht, dass zum Wesen des Regelfolgens der Verweis auf Fakten, aus der sich die Regel herleitet, nicht gehört. Selbst wenn Wittgenstein die traditionelle Weise, das skeptische Problem zu formulieren, umgehen will, heißt das aber noch nicht, dass Wittgenstein keine Haltung einnimmt, die eine gewisse, tiefgreifende Verwandtschaft zu den traditionellen skeptischen Fragen hat. Diese Verwandtschaft wird überdeckt, wenn schlicht affirmiert wird, dass Wittgenstein anti-skeptisch ist. Daraus, dass Wittgenstein ablehnt, dass es außersprachliche Entitäten gibt, die mit logischem Zwang die Grammatik einer korrekten Sprache vorschreiben, folgt noch nicht, dass Wittgenstein die Idee, dass die Grammatiken der Sprachspiele teilweise einer außersprachlichen Welt gerecht werden sollen, in jeder Ausprägung ablehnt. Nach klärender und resoluter Lesart ist es so, dass die externe Perspektive, die in der Metaphysik eingenommen wird, etwas ist, das erst durch die Philosophie wie ein radikaler Fremdkörper zum Alltagsverständnis hinzugefügt wird. Wenn es nun aber so ist, dass der Anspruch der Übersteigung der unmittelbaren/internen Perspektive bereits immer schon zu einigen Aspekten des Alltagsverständnisses gehört, dann eröffnet sich die ernstzunehmende Möglichkeit, dass Wittgenstein (a) affirmiert, dass wenigstens einige Grammatiken einer außersprachlichen Weltan-sich gerecht werden sollen, sowie (b) dass sich das Gerechtwerden nicht überprüfen lässt. Das hätte eine gewisse Verwandtschaft zum skeptischen Problem, das erst durch den Mangel an Überprüfbarkeit entsteht. Wittgensteins Perspektive ist dennoch eine andere, wenn er weiterhin philosophisch klärt, warum dieser Mangel an Überprüfbarkeit nicht nur akzeptabel ist, sondern wichtige Funktionen erfüllt. Die klärenden und resoluten Interpreten würden nun die schiere Idee der Welt-an-sich oder des Dinges-an-sich für eine Verwirrung halten. Es ist aber durchaus zu erhärten, dass Wittgenstein nicht in der schieren Idee der Welt-an-sich die Verwirrung sieht, sondern lediglich in dem Versuch, auf Aspekte der Welt-an-sich, welche einen bestimmten Regelgebrauch absegnen würden, auf die gleiche oder analoge Weise zuzugreifen wie auf offenliegende Aspekte der erlebten Welt.

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3.2.2 Klärend ausgelegt Laut der klärenden Lesart sind die grammatischen Regeln „diesseitig“ zu fassen, also als Regeln, die nicht von einer vor- oder außersprachlichen Welt, die als externer Standard fungieren würde, begründet oder anders abgesegnet werden sollen. In Kapitel 3.1.8 hatte sich gezeigt, dass dieser Ansatz mit einer dogmatischen Zurückweisung oder Verdrängung bestimmter philosophischer Probleme einhergeht – z. B. mit dem dogmatischen Abwehren der Frage, wie die Möglichkeit der Reduktion der Metaphysik auf die Alltagssprache die Notwendigkeit der Reduktion implizieren könnte. Nun wird Esther Ramharters und Anja Weibergs Buch Die Härte des logischen Muss (2016) als weiteres Beispiel dafür angeführt, dass sich im Rahmen der klärenden Lesart die Versuchung ergibt, traditionelle philosophische Fragen in ungenügender Weise zu verdrängen. Ramharter und Weiberg (2014, S. 61) vertreten die Auffassung, dass Wittgenstein der Sichtweise eine Absage erteilt, dass mathematische Sätze einen Zwangscharakter erhalten, „weil sie wahr sind. Vielleicht sogar: weil sie ewig wahr sind, weil sie unabhängig von Menschen wahr sind.“ Aber was setzt Wittgenstein dem laut ihnen entgegen? Als naheliegender Konkurrent für den Wahrheitsanspruch tritt zunächst ein reiner Brauchbarkeitsanspruch auf: „‚Aber ist dieses Zählen also nur ein Gebrauch; entspricht dieser Folge nicht auch eine Wahrheit?’ Die Wahrheit ist, daß das Zählen sich bewährt hat.“ (BGM I, § 4/S. 37). Wittgenstein erteilt also zunächst der Fundierung der Mathematik in einer Wahrheit in gewisser Hinsicht eine Absage: „Die Frage nach der Wahrheit kann nur dahingehend beantwortet werden, ‚daß das Zählen sich bewährt hat’ – das allerdings ist schon eine ‚Wahrheit’, d. h. das ist so“ (Ramharter & Weiberg 2014, S. 61).

Hier drängt sich die Frage auf, was es denn heißt, dass sich die mathematischen Sätze bewährt haben? Bewähren sie sich, weil sich die – durch diese Sätze getragenen – menschlichen Handlungen harmonisch in eine schon-vor-demSprachspiel-existierende Welt einfügen? Bewähren sie sich also analog zu einem Schlüssel, der ins Schloss passt? Man würde nicht sagen, dass der Schlüssel wahr gemacht wird vom Schloss, wenn er die sich ins Schloss einfügende Passform hat. Noch weniger würde man es vielleicht sagen, wenn man an einen Dietrich denkt, der in nicht exakter Weise ins Schloss passt, aber dennoch tauglich ist, es zu öffnen. Dennoch hätte man es hier mit einer Relation zu tun, bei der es naheliegen würde, zu sagen, dass die vorrangige Wirklichkeit des Schlosses die Tauglichkeit des Schlüssels oder Dietrichs bewirkt, und dass das Schloss somit die Tauglichkeit des Schlüssels wahrmacht. Dann wäre die Möglichkeit des Schlüssels oder Dietrichs, sich zu bewähren, ganz eng daran gebunden, dass er dem Wesen einer

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vorgehenden Wirklichkeit (= dem Schloss) gerecht wird. Aber dann läge es sinngemäß, auch wenn es etwas ungelenk klingt, auch nahe zu sagen, dass der Schlüssel gewissermaßen von der Wirklichkeit des Schlosses „wahr gemacht wird“ – der Schlüssel wird dann nämlich gerade durch sein Passen zum wahren (weil tauglichen) Schlüssel. Über das Verhältnis des Bewährens wäre dann das Verhältnis des Wahrseins wieder eingeholt. Es liefe letztendlich auf ein Bewähren durch Wahrsein hinaus. Das Zählen bewährt sich nach dieser Auffassung, weil es wahr ist. Aber das ist ja genau das, was Wittgenstein laut Ramharter und Weiberg zurückgewiesen hat. Was haben Ramharter und Weiberg also positiv zu bieten, so dass man das Bewähren auf eine Weise fassen kann, die nicht wieder zum abgesagten Wahrheitsbegriff führt? Auffällig ist nun, dass der Wahrheitsbegriff einfach nicht genau gefasst wird, vage bleibt und seine Klärung schnell bei Seite geschoben wird. Wittgenstein leistet sich mit dieser (zweiten) Verwendung des Begriffs „Wahrheit“ nicht nur einen Scherz, sondern weist auch auf etwas hin: Wenn wir uns auch nicht auf eine mathematische Sätze wahr machende Wirklichkeit oder dergleichen beziehen können, so erheben wir doch mit unseren Behauptungen einen Anspruch, etwas in irgendeiner Weise gültiges zu sagen (Ramharter & Weiberg 2014, S. 62).

Im zuvor zitierten Abschnitt wurde das als Wahrheit bezeichnet, was ist. Nun wird die Wahrheit so charakterisiert, dass sie in irgendeinem Sinne gültig ist. Da stellt sich die Frage: In welchem Sinne? Diese Frage wird nicht positiv beantwortet. Es wird nur die Möglichkeit zurückgewiesen, dass Wahrsein gleichbedeutend mit Nützlichsein ist. „Die Zurückweisung des Anspruchs mathematischer Sätze auf eine dahinterliegende Wahrheit mündet bei Wittgenstein allerdings auch nicht in das andere Extrem: Auch die pragmatistische Wahrheitsauffassung, der zufolge wahr ist, was sich als nützlich erweist, trifft nicht den Punkt“ (Ramharter & Weiberg 2014, S. 62). Offenbar sind Ramharter und Weiberg also der Meinung, dass man etwas erhellendes über Wittgensteins Verständnis von Wahrheit sagen kann, denn sie sagen ja, dass sich Wahrheit weder aus einer wahrmachenden Wirklichkeit noch aus der Nützlichkeit speist.Was genau steht nun einer positiven Charakterisierung entgegen? „Brauchbarkeit“ ist […] nicht die falsche Antwort auf die Frage: „Was ist Wahrheit in der Mathematik?“, sondern Wittgenstein hält bereits die Forderung nach einem allgemeinen Wahrheitskriterium für irreführend (weil es keine Antwort gibt) und stellt diesem Anspruch die Beschränkung auf das unterschiedliche Funktionieren mathematischer Sprachspiele gegenüber (Ramharter & Weiberg 2014, S. 62).

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Die Frage nach der Charakterisierung der Wahrheit wird also mit dem Verweis darauf bei Seite geschoben, dass es kein allgemeines Wahrheitskriterium gibt. Aber dieses Beiseiteschieben ist der Diskussion nicht angemessen. Warum nicht? Weil oben nicht diskutiert wurde, was Wahrheit an und für sich in Sprachspielen generell bedeutet, sondern, was es im spezifischen Fall des Sprachspiels des Zählens heißt, dass es wahr ist, dass sich das Zählen bewährt hat. Es wäre nun z. B. nicht angemessen, auf die Frage, wie der Preis für ein bestimmtes Produkt XY festgelegt wird, zu sagen, dass diese Frage eine illegitime Forderung enthält, da es verschiedene Kriterien gibt, nach denen Preise gebildet werden. Man könnte z. B. sinnvoll antworten, dass im vorliegenden Fall der Preis etwas höher als der des Konkurrenzprodukts angesetzt wird, da er als Qualitätsindikator fungieren soll; oder dass der Preis sehr niedrig angesetzt wird, so niedrig, dass zunächst Verluste in Kauf genommen werden, damit ein Markt erobert wird und der Preis dann, wenn ein gewisser Bekanntheitsgrad gesichert ist, gehoben werden soll; oder, dass vom Staat eine gewisse Preisgrenze vorgeschrieben wurde, und so weiter. Genauso, wie es nun nicht angemessen wäre, die Frage nach der Preisbildung in einem spezifischen Fall zurückzuweisen, da es verschiedene Kriterien zur Preisbildung gibt, ist es nicht angemessen, die Frage nach der Wahrheit durch den Verweis auf die verschiedenen Wahrheitskriterien zurückzuweisen. Statt nach einem allgemeinen Wahrheitskriterium zu suchen, heißt es nun, solle man die Funktionsweise der verschiedenen Sprachspiele betrachten. Aber das war es ja genau, was die Frage nach der Wahrheit aufgeworfen hat. Es wurde betrachtet, wie man Regeln beim Zählen und Bilden von Zahlenreihen befolgt. Es wurde betrachtet, wie das Regelfolgen funktioniert – dass es mit Training, natürlichen Reaktionen in einer Sprachgemeinschaft, dem Kontext der sprachlichen Zeichen und so weiter zu tun hat – und genau das hat die Frage aufgeworfen, was es nun heißt, dass es wahr ist, dass sich eine bestimmte Art des Regelfolgens bewährt hat. Es scheint nun deutlich, dass hier die Frage nach der Wahrheit von Ramharter und Weiberg auf unzulängliche Weise zur Seite gedrängt wird. Als vorläufiges Fazit lässt sich ziehen, dass auch hier seitens der klärenden Lesart nicht deutlich gemacht werden konnte, dass Wittgenstein die Vorstellung strikt ablehnt, dass eine Grammatik einer außersprachlichen Welt in irgendeiner Weise gerecht werden soll. Was hervorgehoben wurde, das ist, dass Wittgenstein keine absolut-allgemeinen, universellen Wahrheitskriterien sucht. Aber das ist genau das, worauf sich die ordnende Lesart stützt. Wittgenstein geht es demnach darum, zu betonen, dass die Art und Weise, wie ein Sprachspiel der außersprachlichen Welt gerecht wird, deutlich anders ist als die Art und Weise, wie ein wahrer Satz im Sprachspiel den wahrmachenden Fakten gerecht wird. Die Wahrheit-der-Grammatik ist anders zu fassen als die Wahrheit-in-der-Grammatik. Ob man hier das Wort Wahrheit für die Wahrheit-der-Grammatik nutzen möchte,

3.2 Das logische Muss ist nicht absolut

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ist offen. Es kann irreführend sein, es zu benutzen, weil es die Gefahr aufruft, die Wahrheit-der-Grammatik zu sehr nach dem Modell der Wahrheit-in-der-Grammatik zu denken. Es kann aber gleichermaßen irreführend sein, es nicht zu benutzen, wenn dadurch suggeriert wird, es gäbe keinerlei Formverwandtschaften zwischen beiden „Wahrheitstypen“, obwohl beide sich formähnlich sind, falls sie einen externen „Segen“ benötigen.

3.2.3 Resolut ausgelegt In seinem Aufsatz Wittgenstein on Rules and Platonism (2000) richtet sich David Finkelstein gegen die Idee, dass der von Saul Kripke (1982) und seinen Nachfolgern postulierte skeptische Graben zwischen einer im Zeichen-Ding ausgedrückten Regel und der Anwendung der Regel besteht. Als Platoniker gilt für Finkelstein (2000, S. 67) „who, first, unthinkingly agrees that there is a gulf between any rule and its application, and then imagines items that have a mysterious power to bridge the gulf.“ Als Motivation für den Graben nennt er zwei Verwirrungen. (V1) Aus der Möglichkeit, dass eine Regel immer falsch verstanden werden kann, wird hergeleitet, dass das richtige Verstehen der Regel durch eine adäquate Interpretation gesichert werden muss. (V2) Daraus, dass eine Regel ohne weiteres nur eine Menge aus Farbklecksern, Körperbewegungen (oder ähnlichem) ist, wird hergeleitet, dass erst durch einen Akt des Verstehens die Regel handlungsweisend wird. V1 hält er entgegen, dass der Sonderfall des Missverstehens mit dem Normalfall des kompetenten Regelfolgens verwechselt wird. Nur weil jede Regel prinzipiell irgendwann einmal falsch angewendet werden kann, heißt das nicht, dass jede Regelanwendung zu jeder Zeit – im Kampf gegen eine immer wieder zu bannende Gefahr des Missverstehens – neu errungen werden muss. In Bezug auf Argument V2 verweist Finkelstein auf PU § 432 „Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? – Oder ist der Gebrauch sein Atem?“ Finkelstein legt das so aus, dass das Zeichen für uns nicht ursprünglich tot ist und dann zum Leben erweckt wird, sondern, dass das lebende Zeichen den Normalfall darstellt. Wenn dieses lebende Zeichen dann aus dem Gebrauch herausgeschnitten wird, dann scheint es tot. „A sign only seems dead if we consider it by itself – i. e., apart from the use that we make of it […] I’ve noticed that if I stare at written English words for a long time, they begin to seem like squiggles. (It helps to squint a little.) But it makes sense for me to say this only thanks to the distinction between squiggles and English words“ (Finkelstein 2000, S. 65 – 66).

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Hier fühlt man sich vielleicht an den § 38 der Untersuchungen zurückerinnert, der in Kapitel 3.1.4 auch für die ordnende Lesart als zentral ausgelegt wurde. Dort weist Wittgenstein auf vom normalen Leben abgetrennte Handlungen hin, „wenn nämlich der Philosoph, um herauszubringen, was die Beziehung zwischen Namen und Benanntem ist, auf einen Gegenstand vor sich starrt und dabei unzählige Male einen Namen wiederholt“ (PU § 38). In verwandter Weise stellt Finkelstein nun die ungewöhnliche Handlung vor, dass man vor einem geschriebenen Text sitzt, mit den Augen blinzelt und lange Zeit auf die Worte starrt bis sie nur noch wie tote Schnörkel wirken. Der Witz dabei ist nun nicht nur, dass erst in dieser „unnormalen Aktivität“ die Buchstaben wie Schnörkel wirken, sondern, dass schon die Unterscheidung zwischen englischen Wörtern und schieren Schnörkeln auf der funktionierenden Sprache beruht, womit Finkelstein vermutlich darauf hinweisen will, dass man in so einer Situation eben nicht einen aufblitzenden Aspekt des Vorsprachlichen erhascht, sondern letztendlich in seiner gewöhnlichen, sprachlichen Perspektive verhaftet bleibt. Wieder in großer Nähe zur ordnenden Lesart weist Finkelstein darauf hin, dass Wittgenstein einen dazu bringen will, das Gefühl der unglaublich verblüffenden Abnormalität beim Betrachten der Alltagspraxis zu verlieren. According to Wittgenstein, the Platonist isn’t wrong in thinking that our words and thoughts have content; he’s wrong to find it mind-boggling that they should. […] Typically, Wittgenstein’s response to Platonism is not, “What you’re saying is false,” but rather “What you say is all right; only there’s nothing queer or magical about it” (Finkelstein 2000, S. 67– 68).

Finkelstein (2000, S. 69) will den Punkt machen, dass wenn man Regeln im Leben situiert sieht, die Frage nach dem Graben und der Überbrückung erlischt: „[W]hen rules are seen as situated within our lives, such gulfs are exceptional. In general, nothing bridges a gulf between a rule and its application because no gulf opens up.“ Es mag nun so sein, dass bestimmte Phänomene, z. B. das Befolgen von textlich dargestellten Regeln, in Grenzsituationen, die von der normalen Praxis abweichen, rätselhaft wirken. Allerdings besteht ja prinzipiell auch die Möglichkeit, dass sich gerade in der Grenzsituation etwas Wichtiges zeigt. Finkelstein (2000, S. 69) schreibt: „[W]hen rules are seen as situated within our lives, such gulfs are exceptional.“ Wenn man die Regeln so im Leben sieht, ja, dann gibt es keinen Graben. Und wenn man sie nicht so sieht, dann tut sich der Graben aber eben schon auf. Uns stehen also mindestens zwei Varianten des Sehens offen: (1) Das Sehen der Regel im Leben, sowie (2) das Sehen der Regel „losgelöst“ vom Leben. Nun hindert uns aber nichts daran, unseren Blick zur zweiten Variante zu schwenken. Finkelstein (2000, S. 69) scheint das auch in gewisser Weise anzu-

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erkennen, wenn er sagt: „[Wittgenstein] is urging us to question our inclination for any such account [of the connection between words and their meanings].“ Demnach drängt uns (is urging us) Wittgenstein zum Perspektivwechsel. Er kann aber keinen zwingenden Anlass für den Perspektivwechsel vorlegen. Drängt Wittgenstein nun etwa im Sinne des Schikanierens, weil er um die Dürftigkeit seiner Gründe weiß? Also sei nochmal die Frage gestellt: Wodurch soll der Perspektivwechsel motiviert werden? Finkelstein verweist auf § 435 der Untersuchungen: Wenn man fragt „Wie macht der Satz das, daß er darstellt?“ – so könnte die Antwort sein: „Weißt du es denn nicht? Du siehst es doch, wenn du ihn benützt.“ Es ist ja nichts verborgen. Wie macht der Satz das? – Weißt du es denn nicht? Es ist ja nichts versteckt (PU § 435).

Der entscheidende Teil ist hier die Antwort: „Weißt du es denn nicht? Du siehst es doch, wenn du ihn benützt.“ Wenn man in der ersten Perspektive verbleibt, so die Vorstellung, dann will man gar nicht mehr in die zweite wechseln. Der ersten Perspektive wird also eine Macht zur Befriedigung der offenen Fragen zugeschrieben. Wie versucht Finkelstein nun letztendlich diesen Anspruch durchzusetzen? Inwiefern liegt laut ihm in der genannten „ersten“ Perspektive, die darin besteht, das Regelfolgen als Teil innerhalb des Gewebes des Lebens zu sehen, die Macht, die Abschaffung der externen Perspektive herbeizuführen? Sein Gedankengang mündet in folgendem Finale. The thought that in reality, words are no more than squiggles has come to seem innocuous enough (and indeed goes unnoticed) by many contemporary philosophers. But the thought is not innocuous; it causes us to lose grip on important and obvious distinctions – such as that between vague, imperspicuous rules […] and clear, precise ones, such as are found in good cookbooks (Finkelstein 2000, S. 66).

Es läuft also darauf hinaus, dass, wenn wir das Regelfolgen im Gewebe des Lebens betrachten, es uns nicht rätselhaft vorkommt; wenn wir es aber aus der „Außenperspektive“, also „abgelöst“ vom Leben, betrachten, Unklarheiten auftreten, durch die wir den Halt verlieren und offensichtliche Differenzierungen der Alltagssprache nicht mehr durchhalten können. (In der philosophischen Perspektive wird z. B. ohne Unterschied jede Regel erklärungsbedürftig, während in der Alltagsperspektive Regeln im Kochbuch z. B. unmittelbar klar sind.) Ist das eine genügende Antwort? Dagegen spricht, dass sie entweder dogmatisch die Autorität der Alltagssprache voraussetzt, oder dogmatisch Unklarheit als Kennzeichen der Verkehrtheit auslegt. Weiterhin kann Finkelstein somit bestenfalls eine Abwendung von der externen Perspektive der Metaphysik als zu

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erwägende Option vorstellen, aber diese Abwendung nicht als dringend gebotene Option darstellen. Wenn das Ziel einer philosophischen Bewegung darin besteht, die schiere Idee der externen Perspektive auszutilgen, dann genügt es nicht, zu zeigen, dass das Aufgeben der externen Perspektive in einer gewissen Haltung möglich ist und bestimmte Vorteile hätte. Es würde dann lediglich gezeigt, dass eine Implikation des Ziels errungen werden kann. Aber das Erreichen einer Implikation des Zieles darf nicht mit dem Erreichen des Zieles selbst verwechselt werden. Wenn X bis zum nächsten Monat unbedingt einen Betrag von 15.000 € bezahlen muss, so dass X ein Vertrag nicht gekündigt wird, dann impliziert dieses Ziel, dass X unter anderem die Teilmenge von 10.000 € beschaffen muss. Wenn X nun plausibel machen kann, aus welchen Quellen diese 10.000 € entnommen werden können, ist damit trotzdem in keiner Weise belegt, dass auch das eigentliche Ziel der Beschaffung von 15.000 € erreicht wird. Für das Ziel, das darin besteht, die Kündigung abzuwenden, sind die bloßen 10.000 € ohne weiteres ohne Belang. Sie werden erst dann wirkmächtig, wenn sie zusammen mit der Restsumme überwiesen werden. Ähnlich verhält es sich mit der resoluten Lesart. Zu zeigen, dass das Abwenden der externen Perspektive bestimmte Vorteile hätte, trägt in gewisser Weise „gar nichts“ dazu bei, die philosophische Unmöglichkeit dieser Perspektive zu untermauern.

3.2.4 Ordnend ausgelegt An dieser Stelle ist zunächst nur die „negative“ Bemerkung zu machen, dass sich die oben diskutierten Lesarten durch vorschnelle Schlussfolgerungen auszeichnen. Wenn Wittgenstein traditionelle Positionen kritisiert, ist es angebracht, im Blick zu behalten, was genau er kritisiert. Der anti-traditionelle Ethos, den man in seinen Texten finden kann, lädt dazu ein, Wittgenstein hier überspannte Positionen zu unterstellen, die sich so eigentlich nicht in den Texten finden lassen. Wittgenstein kritisiert die Idee, dass es bestimmte Dinge (Formeln, Gegenstände, Bilder) gibt, die außerhalb oder an der Grenze einer Sprache stehen und aus denen sich mit absolutem logischen Zwang die richtige Sprachpraxis ergibt, so dass man die Angemessenheit einer Sprachpraxis ermitteln kann, indem man sie mit diesem außen oder in einem Grenzbereich liegenden Standard vergleicht. Hier ist wieder zu betonen, dass daraus nicht folgt, dass die Grammatik eines Sprachspiels in keiner Weise an äußeren Standards orientiert ist; es ist damit nicht ausgeschlossen, dass die an der Sprachpraxis teilnehmenden Sprecher in einer Haltung reden als-ob die Sprache sich in angemessener Weise zum externen

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Standard verhält. Es folgt aus Wittgensteins Kritik nur, dass man sich diese Standards nicht in der kritisierten Form vorstellen soll. Weiterhin ist zu betonen, dass aus Wittgensteins Zurückweisung der Idee, dass der logische Zwang bzw. das logische Muss absolut ist, nicht folgt, dass in Fragen der Logik anything goes. Es folgt nicht, dass man nun eine chaotische Vielfalt alternativer Logiken anerkennen muss. Die auszuufern drohende Vielfalt der Logiken wird gezähmt durch etwas, was Wittgenstein als natürliches menschliches Verhalten fasst, welches die Erziehung zu verschiedenen Sprachspielen beschränkt (vgl. PU § 441). Als Kehrseite zu diesem Aufruf zur umsichtigen Zurückhaltung ergeben sich Fragen, die das weitere Vorgehen leiten. Welche Kandidaten gibt es, sich das Gerechtwerden einer Grammatik vorzustellen, die nicht einfach die Fehler der kritisierten Kandidaten wiederholen? Haben diese Aspekte der Sprache, die wie Mängel erscheinen können – das Fehlen einer absoluten logischen Härte und das Fehlen eines offenliegenden äußeren Standards, an dem man die Adäquanz einer Grammatik ablesen kann – eine wichtige Funktion in der Sprachpraxis, vielleicht sogar eine Funktion, ohne die das ganze normale Sprechen unbegreiflich wird?

3.3 Der Geist ist kein privater Raum In diesem Abschnitt geht es um den Textabschnitt PU §§ 243 – 315, der oft als Privatsprachenargument bezeichnet wird. Wittgenstein hat diesen Titel nie verwendet. Er untersucht dabei die Idee einer Sprache, die prinzipiell nur vom Erfinder der Sprache verstanden werden kann, da sie sich auf einen Wissenstypus bezieht, zu dem nur der Erfinder Zugriff hat, insofern nur er „auf seine unmittelbaren, privaten Empfindungen“ (PU § 243) Zugriff hat. Wittgenstein orientiert sich dabei an mindestens zwei generellen Verwirrungstypen. Er verweist einerseits auf die Verwirrung von logischen bzw. grammatischen Sätzen und Wissenssätzen. Also auf Verwirrungen von Sätzen, die Regeln anzeigen, mit Sätzen, welche Wissen festhalten, das erst durch die Anwendung bestimmter Regeln gewonnen wird. Weiterhin verweist er wiederholt auf verschiedene Formen des Kontextverlustes oder der Kontextvergessenheit. Dabei kommt es zu einer verwirrten Sicht des Sprechens, da bestimmte dazugehörige Aspekte übersehen werden.

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3.3.1 Verwirrungen aufgrund der Privilegierung der Wissensbeziehung Schon Wittgensteins Formulierung, dass „die Wörter dieser Sprache […] sich auf das beziehen [sollen], wovon nur der Sprechende wissen kann“ (PU § 243, meine Betonung) weist daraufhin, dass es Wittgenstein um eine Fehlsicht der Sprache geht, in welcher das Wissen um bestimmte Ereignisse oder Dinge zum Fundament der Sprache gemacht wird. Betrachten wir zunächst einige stark zusammenhängende Verwirrungen aus diesem Feld.

3.3.1.1 Schmerzen haben ≠ in einer Wissensbeziehung zum Schmerz stehen Die nicht-alltägliche Formulierung, man würde wissen, dass man selbst Schmerzen hat, ist für Wittgenstein äußerst irreführend, da sie eigentlich nicht mehr aussagen kann als das, dass man eben Schmerzen hat (vgl. PU § 246). Damit wird der eigentliche Witz des Konzepts des Wissens verdeckt, denn Wissen markiert eigentlich einen relevanten Unterschied zum Haben: Wenn ein Bauender ein bestimmtes Baumaterial benötigt, dass er auch im Lager hat, dann hängt der Erfolg seines Unternehmens davon ab, ob er weiß, dass er es hat, so dass er das Projekt zu Ende führen kann, oder ob er es nicht weiß, so dass das Projekt aufgeschoben wird. Es gibt aber keinen sinnvollen oder verständlichen Unterschied dazwischen, wenn ich Zahnschmerzen habe und es weiß und Zahnschmerzen habe und es nicht weiß. Die Leere der Unterscheidung zeigt an, dass das Konzept des Wissens, wenn man sagt, man wisse, dass man Schmerzen habe, ganz anders als „normalerweise gebraucht wird“ (PU § 246), da die Unterscheidung zwischen Wissen und Haben normalerweise höchst relevant ist.

3.3.1.2 Grammatische Gewissheit ≠ Gewissheit des wohlbegründeten Wissens Ein Faktor, der die oben genannte Verwirrung (3.3.1.1) verschärft, besteht in einem bestimmten Aspekt der normalen Sprache, nämlich darin, dass man nicht „im Zweifel darüber“ (PU § 246) sein kann, ob man selbst Schmerzen hat. Das liegt daran, dass das Wort „Schmerz“ in unserem Sprachspiel so verwendet wird, dass prinzipiell immer der Leidende die Autorität hat, zu bestimmen, ob er Schmerzen hat oder nicht. Das Sprachspiel funktioniert so, dass der Leidende nicht erst durch Gründe und durch Rückgriff auf Evidenz die These verteidigen muss, dass er Schmerzen hat. Dazu gehört, dass er keine Fehler bei der Schmerzidentifizierung machen kann. Die Gewissheit, dass man Schmerzen hat, ist also eine grammatische Gewissheit, die sich aus der Bedeutung des Wortes „Schmerz“ ergibt. Im scharfen Kontrast dazu steht die hergeleitete Gewissheit beyond a reasonable doubt des begründeten Wissens, die immer nur so stark wie ihre Begrün-

3.3 Der Geist ist kein privater Raum

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dung ist. Wenn ein kompetenter Arzt die Gehirnscans eines Patienten untersucht, dann kann er aus der Evidenz der Aktivität in bestimmten Hirnarealen ableiten, dass der Patient Schmerzen hat. Prinzipiell sind hier jedoch Fehler möglich. Die Hirnscans könnten z. B. durch Mängel der Messgeräte beeinträchtigt sein, durch Übermüdung falsch gelesen werden oder vertauscht sein. Die Gefahr eines Fehlers wird graduell verringert je mehr Fehlerquellen ausgeschlossen werden können. In einer verwirrten Sicht auf die Sprache wird nun aber dieses Modell der graduellen, begründbaren und zu begründenden Gewissheit auf die unmittelbare, nicht-graduelle grammatische Gewissheit des eigenen Schmerzes gestülpt. Wenn man nun in diesem verwirrten Rahmen die in der Sprachpraxis gegebene Unanzweifelbarkeit des eigenen Schmerzes beachtet, dann kann diese Unanzweifelbarkeit nur eines bedeuten: Der Schmerz muss – so der verwirrte Gedankengang – ein Gegenstand des Wissens sein, für den gerade nur der Leidende hervorragende, unanzweifelbare Evidenz hat. Tatsächlich und ironischerweise ist der eigene Schmerz jedoch gerade deshalb gewiss und über jeden Zweifel erhaben, weil er gerade kein Gegenstand des Wissens ist.

3.3.1.3 Wort ohne wissensmäßige Rechtfertigung gebrauchen ≠ Wort zu Unrecht gebrauchen Es ist irreführend, das Haben des Schmerzes als hervorragende Evidenz für das Wissen um den Schmerz aufzufassen, da das eigene Schmerzerlebnis nicht aus vorhergehender Evidenz abgeleitet wird. „Ich identifiziere meine Empfindung freilich nicht durch Kriterien“ (PU § 290). Schmerz ist unmittelbar als Schmerz da und wird im Gegensatz zum Gegenstand des Wissens nicht erst hergeleitet. Beim erlebten Schmerz ergibt es keinen Sinn mehr zu fragen, mit welcher Rechtfertigung man das nun als Schmerz identifiziert. Mit so einer Identifizierung „endet ja das Sprachspiel nicht; damit fängt es an“ (PU § 290). Insofern der eigene Schmerz unmittelbar als Schmerz erlebt wird, lässt sich auch keine Rechtfertigung dafür anführen, dass dieses oder jenes, was man erlebt, nun wirklich Schmerz ist. Die Abwesenheit der Rechtfertigung ist aber gar kein Problem, denn: „Ein Wort ohne Rechtfertigung gebrauchen, heißt nicht, es zu Unrecht gebrauchen“ (PU § 289). Erst durch den verwirrten Versuch, das Schmerzempfinden als Gegenstand des Wissens zu konstruieren, drängt sich die Vorstellung auf, dass eine wissensmäßige Rechtfertigung für die Benutzung des Wortes „Schmerz“ (a) benötigt wird und dann (b) sogleich im unmittelbaren, privaten Schmerzerlebnis gefunden wird.

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3.3.1.4 Zweifeln-können ≠ Glauben-zweifeln-zu-können Die Kehrseite davon, dass die eigene „private“ Schmerzempfindung durch die oben dargestellte Modifikation des alltäglichen Begriffs des Wissens als hervorragende Evidenz konstruiert wurde, ist, dass nun der Schmerz der Anderen als äußerst schlecht begründet und höchst zweifelhaft erscheint. Wittgenstein betont nun, dass diese philosophische Modifikation der Konzepte relativ oberflächlich bleibt. Er fordert: „Versuch einmal – in einem wirklichen Fall – die Angst, die Schmerzen des Andern zu bezweifeln“ (PU § 303). Die philosophische Umgestaltung unserer alltäglichen Begriffe, so ist Wittgenstein überzeugt, wird nicht so weit führen, dass wir auch tatsächlich im Eifer der Praxis die neue, philosophische Sicht ernst nehmen. Wenn der Philosophierende mit einer bekannten Person, die keine Ausbildung als Stuntman hat und nicht für makabre Scherze bekannt ist, die Straße überquert und mitansieht, wie sie überfahren wird, das Blut quillt und sie animalische Schmerzensschreie ausstößt, dann wird eine vor-philosophische, „instinkthafte“ Verstehensweise wachgerufen, die von der philosophischen Reflexion gar nicht angetastet wird und welche die natürliche Basis von jeglichem Sprechen ist, laut der klar ist, dass der Überfahrene Schmerzen hat. Dieser Widerspruch ist gerade deshalb ein Problem, weil ja die Modifikation der alltäglichen Konzepte vom Philosophierenden als Explikation der alltäglichen Konzepte gedacht wird. Laut dem Philosophierenden wird der alltägliche Begriff des Wissens geschärft, wenn explizit gemacht wird, dass man eigentlich nur die eigenen privaten Empfindungen kennt (vgl. PU § 303). Wittgenstein erinnert nun daran, dass das eine Fehlsicht auf die alltäglichen Begriffe ist und in den alltäglichen Begriffen des Wissens und des Zweifels nicht implizit der Anspruch vertreten wird, dass Zweifel durch absolut sichere, wissenschaftliche Evidenz überbrückt werden muss.

3.3.2 Verwirrungen aufgrund von Kontextvergessenheit Neben dieser Familie von Verwirrungen, in denen grammatische Sätze nach dem Vorbild von wissensmäßigen Erfahrungssätzen fehlkonstruiert werden, sollen nun einige Aspekte der zweiten Familie von Verwirrungen betrachtet werden, in denen es darum geht, dass der Kontext verschiedener Aspekte des Sprechens vergessen wird.

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3.3.2.1 Richtige Anwendung eines Vokabulars wird durch externe Kriterien überprüft Die Privatsprache wird so vorgestellt, dass der Privatsprechende sich für das Zeichen „E“ selbst eine hinweisende Definition gibt, indem er „gleichsam im Inneren“ (PU § 258) auf eine private Empfindung zeigt und sie mit dem Wort „E“ verknüpft. Dies erscheint für den Befürworter der Möglichkeit der Privatsprache unproblematisch, da er davon ausgeht, dass sich eine private Empfindung eben einfach mit einem Wort verknüpfen lässt, und man sich dann immer wieder an die Verknüpfung erinnern kann, so wie man sich auch immer wieder vergegenwärtigen kann, dass das russische Wort „жизнь“ im Wörterbuch neben dem deutschen Wort „Leben“ steht, bzw. dass das hebräische Wort „ ‫ “אבן‬neben „Stein“ steht, usw. (vgl. PU § 265). Wittgenstein verweist nun darauf, dass hinweisende Definitionen und die Erinnerung an sie nur dann funktionieren, wenn sie in einen größeren Kontext eingebettet sind. Die eigene Erinnerung an die richtige Übersetzung einer Vokabel ist gebunden an verschiedene externe (= öffentliche) Kriterien. Die Erinnerung selbst lässt sich im Zweifelsfall mit einem Blick ins öffentliche Buch prüfen. Die Richtigkeit des öffentlichen Buches selbst wird dadurch überprüft, ob es mit der Sprachpraxis übereinstimmt. Kinder, die neu Deutsch, Russisch oder Hebräisch lernen, sind an die bejahenden oder korrigierenden Reaktionen der kompetenten, erwachsenen Sprecher gebunden. Ohne weiteren Kontext eine private Empfindung zu „benennen“, ist demnach eine leere „Zeremonie“ (PU § 258), die analog dazu ist, „mehrere Exemplare der heutigen Morgenzeitung [zu kaufen], um sich zu vergewissern, daß sie die Wahrheit schreibt“ (PU § 265). In der Privatsprache wird somit durch die Abwesenheit der externen Kriterien der eigentlich höchst wichtige Unterschied dazwischen nivelliert, etwas zu verstehen und bloß zu glauben, etwas zu verstehen (vgl. PU § 269). Die sogenannte Privatsprache hätte also, insofern sie überhaupt denkbar ist, wenig Ähnlichkeit mit dem, was wir eigentlich Sprache nennen. Eine „Sprache“, bei der es keine Rolle spielt, ob man sie versteht oder nicht, ist eigentlich natürlich nicht mehr als Sprache zu qualifizieren.

3.3.2.2 Vermeintliche „private“ Empfindungen sind prinzipiell eigentlich öffentlich Der Verteidiger der Privatsprache könnte nun versucht sein, die obige Kritik zurückzuweisen, indem er betont, dass es in der Alltagssprache eben tatsächlich Worte gibt, die sich auf innere, private Empfindungen, z. B. auf inneren „Schmerz“, beziehen, so dass die Möglichkeit des Bezugs auf private Empfindungen auch durch die Alltagssprache unterstrichen wird.

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Wittgenstein erinnert nun daran, dass das, was wir als Schmerz bezeichnen, eine irreduzible öffentliche Dimension hat. Die Idee von „Schmerz ohne Schmerzbenehmen“ (PU § 281) ist – abgesehen von Grenzfällen – widersinnig. Das lässt sich besonders gut vergegenwärtigen, wenn man selbst Schmerzen hat, welche das Vollbringen alltäglicher Aktivitäten behindern. Bei einer Entzündung der Mundschleimhaut kann es vorkommen, dass der Mund so gereizt ist, dass jede Bewegung der Zunge schmerzt und schon ein kleiner Teil Nahrung im Mund die Haut so reizt, dass es blutet. In so einer Lage zieht sich durch den Versuch der Schmerzminimierung die Nahrungsaufnahme sehr lange hin, so dass sich die ungeduldige Idee aufdrängen kann, dass man sich nun einfach mal so benimmt, als hätte man gar keine Schmerzen und unbeeindruckt weiter kaut, damit man wenigstens das Essen beschleunigt. Aber es zeigt sich, dass es schlichtweg nicht geht. Das „Schmerzgefühl“ und das damit einhergehende Verkrampfen sind zwei untrennbare Aspekte von einem Phänomen. „Starker“ Schmerz, der nicht in das Benehmen eingreift, ist einfach kein Schmerz. Daraus, dass es Grenzfälle gibt, in denen sich Schmerzäußerungen mit Übung kontrolliert unterdrücken lassen oder vortäuschen lassen, folgt nicht, dass die Verbindung zwischen Schmerz und Schmerzbenehmen per se kontingent bzw. nicht notwendig ist. Die Kehrseite davon, dass Empfindungen öffentlich sind, ist, dass sie, wenn sie wirklich privat wären, einfach gar keine Rolle im öffentlichen Leben spielen würden (vgl. PU § 271, 293). Wenn zwischen Empfindung und öffentlicher Welt ein absoluter Graben gerissen wird, dann hat das nicht nur die Konsequenz, dass die private Empfindung nicht zur öffentlichen Welt durchdringt, sondern auch, dass sozusagen die öffentliche Welt nicht zur privaten Empfindung durchdringt, also, dass alles, was regelhaft in der öffentlichen Welt passiert, ohne irgendeinen relevanten Bezug zur privaten Empfindung passieren muss. Wäre Schmerz ein genuin privates Objekt, das wie in einer öffentlich unzugänglichen Schachtel versteckt ist, dann wäre es für die öffentliche Praxis des Umgangs mit Schmerz ja auch völlig irrelevant, ob sich Schmerz mal so und mal radikal anders anfühlt. „Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte“ (PU § 293). Das heißt aber nur, dass das private Objekt für die Sprachpraxis unbedeutend ist, denn „das Rad gehört nicht zur Maschine, das man drehen kann, ohne daß Anderes sich mitbewegt“ (PU § 271). Der Verteidiger der Privatsprache hat also den öffentlichen Kontext der Empfindungen vergessen, in dem sie erst das sind, was sie sind.

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3.3.2.3 Sprache zur Schmerzäußerung ist eingebunden in diverse Sprechweisen, die radikal unterschiedliche Funktionsweisen haben In der tief verwirrten Sicht der Sprache, laut der Empfindungen wie Schmerz private Objekte sind, die nur zufällig und nicht notwendig mit Äußerungen verknüpft sind, wird auch Wittgensteins philosophische Kritik dieser Sicht in verwirrter Weise aufgefasst. Wenn Wittgenstein die innere, private Seite des Schmerzes verneint, so die verwirrte Schlussfolgerung, dann lässt er ja lediglich die äußere, öffentliche Seite übrig, so dass er als „verkappter Behaviourist“ (PU § 307) zu überführen wäre, der gerade das am Schmerz verneint, „was wichtig ist, – und schrecklich“ (PU § 296). Wittgenstein bekämpft aber nur die „grammatische Fiktion“ (PU § 307), dass eine Empfindung wie Schmerz als Gegenstand des Wissens, über den wir hervorragend informiert sind, in unser Leben tritt, woraus sich dann in Folge weitere grammatische Fiktionen entspinnen: die Fiktion, dass nur Phänomene, die eigenen Empfindungen analog sind, wohlbegründet sind; die grammatische Fiktion, dass Empfindungen Anderer wissensmäßig unzugänglich sind; die grammatische Fiktion, dass der eigene Geist ein innerer Raum ist, zu dem notwendig nur man selbst Zutritt hat und über den die Außenwelt nur indirekt vermittelt wird, so dass diese immer zweifelhaft bleibt. Der Vorwurf des Behaviorismus verkennt Wittgensteins Vorgehen vollkommen. Es geht ihm gerade nicht darum, zu verneinen, dass vom Schmerzbenehmen zu unterscheidender Schmerz existiert, sondern im Gegenteil darum zu betonen, dass das Erleben und Verständnis von Schmerzen so fundamental zur Grundform des menschlichen Lebens gehört, dass es „tiefer“ ist als jede wissenschaftliche Erkenntnis, die erst als kontingente Information ins Leben hinzukommt: „Daß wir so gerne sagen möchten ‚Das Wichtige ist das’ – indem wir für uns selbst auf die Empfindung deuten, – zeigt schon, wie sehr wir geneigt sind, etwas zu sagen, was keine [wissenschaftliche, informative] Mitteilung ist“ (PU § 298). Die natürliche Form des menschlichen Lebens ist sozusagen schon „schmerzförmig“ bzw. „schmerz- und freudförmig“, was ja nach Wittgensteins Beschreibung auch die Bedingung für den Spracherwerb der Kinder durch „Abrichtung“ (PU § 5) ist. „Das Paradox verschwindet nur dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck“ (PU § 304). Erst wenn man einsieht, dass es ganz andersartige Sprechweisen gibt, verliert die Versuchung, Schmerzen als wissensmäßige Information zu konstruieren, für Wittgenstein den Reiz. „Der Satz ‚Empfindungen sind privat’ ist vergleichbar dem: ‚Patience spielt man allein’“ (PU § 248). Als grammatischer Satz, der die grundlegende (= grundlose, unbegründete) Regel im Sprachspiel ausdrückt, dass die Autorität, die eigenen Schmerzen zu identifizieren, bei der ersten Person liegt, ist der Satz „Empfindungen sind privat“ an sich völlig in Ordnung. Als

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wissenschaftlicher oder metaphysischer Satz, der über die Entdeckung informieren soll, dass ein Subjekt nur erkenntnismäßigen Zugang zum eigenen Schmerz hat, ist der Satz eine unsinnige Verwirrung, die Unordnung stiftend ins Netz der zusammenhängenden Sprachspiele eingreift, sodass die oben erwähnten Aspekte der natürlichen Sprachspiele plötzlich nicht mehr vertrauenswürdig erscheinen („Wissen“ über Andere scheint kein Wissen mehr zu sein, „die öffentliche Welt“ scheint nur noch eine fragwürdige Konstruktion zu sein, die in einem privaten Raum erschaffen wird, usw.).

3.3.3 Ordnend ausgelegt Die Grundzüge und Schwächen der verschiedenen Wittgensteinlesarten wurden oben bereits besprochen, so dass es nicht mehr notwendig ist, auch den Umgang mit den Privatsprachenargumenten einzeln durchzusprechen. Es wird hier als wichtigster Kontrast zur ordnenden Lesart vor allem noch mal auf die klärende Lesart und vor allem auf Hacker eingegangen. Laut dieser klärenden Lesart verweisen (a) die Sprachspiele, in denen es um Empfindungen geht, auf keine außersprachliche Wirklichkeit, der die Sprachspiele gerecht werden sollen, und (b) Wittgensteins Rückführung der philosophischen Sprache auf die Alltagssprache wird als rational zwingend ausgelegt. Laut der ordnenden Lesart sieht Wittgenstein (a*) diese Sprachspiele als solche, die im Modus des als-ob gespielt werden, das heißt, dass die Sprechenden darauf vertrauen, dass jenseits der Sprachpraxis und zusätzlich zur Sprachpraxis X wirklich ist („der Fall ist“), obwohl X selbst nicht in der Praxis eigentlich-präsent ist. Damit verknüpft ist es (b*) nicht Wittgensteins Ziel, zu zeigen, dass die philosophische Rückführung zur Alltagssprache rational zwingend ist, sondern lediglich, dass sie rational möglich ist, so dass dementsprechend kein rationaler Zwang zur skeptischen Distanz zur Alltagssprache besteht. Die Felder a und b sind miteinander verknüpft, da die absolute Gültigkeit der Alltagssprache gerade deshalb fraglich ist, weil die alltagssprachliche Praxis „über sich hinausweist“ und implizit in einigen Fällen vom Anspruch mitgetragen wird, Vehikel dafür zu sein, etwas Treffendes über das außersprachliche Seiende zu vermitteln. Der auch in der Metaphysik zu findende Anspruch, eine externe Perspektive auf das Sprachganze einzunehmen, tritt nicht erst mit der Metaphysik als Neuheit ins Denken, sondern ist schon Teil einiger alltäglicher Sprachspiele. Zunächst seien noch einmal kurz die Schwächen der klärenden Lesart aufgezeigt. Es wird dogmatisch vorausgesetzt, dass philosophische Begriffe nicht gegen die Form der Alltagssprache verstoßen dürfen. Die Idee einer privaten Empfindung, die als Muster fungiert, aus der sich die Grammatik eines Wortes

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einer Privatsprache herleiten lässt, wird als rational nicht fassbar zurückgewiesen mit der Begründung, dass sie in der Alltagssprache nicht vorkommt. „A sample must function as a standard of comparison for subsequent applications, must be preservable or reproducible; and it must be possible to lay a sample alongside reality, for match or mismatch. […] These requirements are not satisfied in the case of sensations or impressions […]. There can be no such thing as preserving pain for future use. One cannot take a photograph of it, as one can of pain-behaviour. One can preserve a sample of red, ultramarine, or sepia on a colour-chart and consult it on later occasions; but one cannot preserve an impression of colour for future use. A sample […] is something which persists, can be examined again, looked at for a time and shown to others“ (Hacker 1993, S. 47– 48). Dass die formellen Eigenschaften der theoretisch postulierten Muster der Privatsprache nicht identisch sind mit den formellen Eigenschaften der alltäglich verstandenen Muster der öffentlichen Sprache, ist jedoch kein hinreichender Beweis dafür, dass die Annahme dieser privaten Muster prinzipiell irrational ist. Es ist an sich nichts irrational an dem Gedanken, dass es etwas geben könnte, was in einem „verborgenen“ – durch eine philosophische Theorie zu erreichenden – metaphysischen Bereich waltet, das menschliches Sprechen teilweise erklärt, das eine Entität ist, die zunächst nach dem Vorbild regulärer öffentlicher Muster zu denken ist, aber dann so zu modifizieren ist, dass einige Eigenschaften neu gedacht werden. Dass die Möglichkeit besteht, aufzuzeigen, wie sich die Idee des privaten Musters aus einer verwirrten, begrenzten Sicht der Alltagssprache ergeben hat, mag den Reiz der spezifischen Idee des privaten Musters mildern. Aber auch die Möglichkeit der Rückführung ist kein hinreichender Beweis für die Richtigkeit von Wittgensteins Position, da die Möglichkeit der Rückführung der Metaphysik auf die Alltagssprache nicht die Notwendigkeit der Rückführung der Metaphysik auf die Alltagssprache impliziert. Ein Nebeneffekt davon, der Alltagssprache eine derartige absolute Gültigkeit zuzusprechen, ist es, dass die Alltagssprache nach dieser Auffassung selbst keinen externen Standards unterliegt. Hacker denkt darüber nach, was passieren würde, wenn hochentwickelte, nicht-organische Androiden, die sich wie Menschen verhalten, in die Gesellschaft integriert werden. Sollte man ihnen in der Alltagssprache Bewusstsein zuschreiben oder nicht? Laut Hacker gibt es da keine korrekte Antwort, da die Alltagssprache eben nicht einer externen Wirklichkeit gerecht werden muss oder kann. Es ist schlicht die kreative Entscheidung der Sprachgemeinschaft, ob Androiden nun Bewusstsein haben oder nicht (vgl. Hacker 1993, S. 80 – 81). Laut der ordnenden Lesart verkennt Hacker gerade dadurch, dass er der Alltagssprache eine derartige Unantastbarkeit und radikale Diesseitigkeit zuspricht, die eigentliche Alltagssprache und Wittgensteins feinsinnigere Orientie-

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rung an ihr. Laut dem der Alltagspraxis impliziten Verständnis, so die ordnende Lesart, ist es nicht angemessen, die Entscheidung für oder gegen eine Sprachpraxis, welche Androiden Bewusstsein zuspricht, einfach als kreative Entscheidung der Sprachgemeinschaft zu fassen. Es ist vielmehr eine ethische Entscheidung, in der versucht wird, einer Wirklichkeit, die sich nicht direkt in der Praxis zeigt, aber ohne welche die Praxis ihren „Witz“ verlieren würde, gerecht zu werden, ohne dass dieses Gerechtwerden jemals überprüft werden könnte. Weil dieses Gerechtwerden nicht überprüft werden kann, wird das Sprachspiel im Modus des als-ob gespielt. Es wird im Vertrauen darauf, dass es gerecht wird, so gespielt, als-ob mit dem Verhalten der anderen Akteure im Sprachspiel bestimmte Empfindungen oder ähnliche Wirklichkeiten, die sich als solche nicht in der Praxis zeigen, einhergehen. Diese Auslegung kann den Eindruck erwecken, in gefährlicher Spannung oder sogar im evidenten Widerspruch zu der oben vertretenen Darstellung Wittgensteins zu stehen, laut der Wittgenstein darauf verweist, dass Schmerz als privates, entzogenes Objekt in der Alltagspraxis undenkbar ist und wie alle Empfindungen eine notwendig öffentliche Dimension hat. Sind „Empfindungen, die sich als solche nicht in der Praxis zeigen“ nicht einfach die privaten Empfindungen, gegen die Wittgenstein recht offensichtlich ins Feld zieht? Wischt man nicht den ganzen philosophischen Ertrag Wittgensteins einfach wieder weg, wenn man nun doch wieder etwas zulässt, das eine quasi-private Empfindung zu sein scheint? Der Eindruck des Widerspruchs soll im Folgenden im Detail widerlegt werden, indem verschiedene Ebenen von Wittgensteins Denken getrennt werden. Hierzu lohnt es sich, Wittgensteins Vorgehen genauer in den größeren Umgang mit den skeptischen Problemen einzuordnen. Wenn vom Skeptizismus an der Außenwelt oder dem Skeptizismus am Bewusstsein Anderer die Rede ist, dann lassen sich zwei große Gegenstrategien identifizieren. Die erste große Strategie: Es wird bejaht, dass ein Skeptizismus aufwerfender Graben zwischen erlebter Welt und eigentlich wirklicher Welt besteht, aber behauptet, dass er durch rationale Argumentation überbrückt werden kann. Paul Moser (1990) affirmiert das Ideal vom Schluss auf die beste Erklärung, das willkürliche, unwahrscheinliche Hypothesen ausschließen soll. Er hält die skeptische Herausforderung des Descartes, dass ein böser Täuschergott am Werke ist, für willkürlich und es für rational, zu affirmieren, dass die Außenwelt im Grunde so ist, wie sie scheint. Daran anschließend könnte man sagen, dass die Idee, dass jeder von uns eigentlich ein Privatsprachler ist, der privaten Empfindungen einen Namen gegeben hat, die sich nicht mit den öffentlichen Empfindungen decken, eine These ist, die so unwahrscheinlich ist, dass sie rational zurückgewiesen werden kann. Ein anderer Vertreter dieser Strategie der Überbrückung ist Descartes (2008) selbst, der den Graben zwischen Subjekt und Welt überbrückt, indem er daraus,

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dass eine Ursache immer vollkommener als die Folge sein muss, schlussfolgert, dass seine Idee eines guten (nicht betrügenden) Gottes ursächlich auf diesen guten Gott zurückgehen muss. Die zweite große Strategie: Es wird verneint, dass ein Skeptizismus aufwerfender Graben zwischen einem Menschen und der vom Menschen erlebten Welt besteht, da mit „Welt“ eben gerade die erlebte Welt gemeint ist. Donald Davidson (2001) argumentiert, dass Kenntnis des eigenen Geistes, Kenntnis der Außenwelt und Kenntnis des Geistes anderer Subjekte notwendig aufeinander angewiesen sind, so dass jede Art der Kenntnis nur möglich ist, wenn auch die anderen Subjekte da sind. Das, was wir Außenwelt nennen, was wir eigenen Geist nennen und was wir als Geist Anderer fassen, ist also immer nur zusammen gegeben und gewissermaßen gleichursprünglich. Insofern wäre dann auch die Idee des Privatsprachlers, dass er seinen eigenen privaten Geist kennt, aber der Geist Anderer radikal entzogen ist, in sich widersprüchlich. Ebenso ist die Außenwelt genau die Welt, die erst in der sozialen Praxis als objektive (intersubjektiv verbindliche) wirkliche Außenwelt erscheint. Es liegt nun nahe, Wittgenstein einfach geradlinig in die zweite große Strategieform einzuordnen, da er ja, wie es scheint, zeigt, dass die Idee der Trennung zwischen dem privaten Geist-Innenraum und der Welt erst durch Sprachverwirrungen kreiert wird und eine Abweichung von der normalen, eigentlichen Zusammengehörigkeit von Mensch und Umwelt ist. Die Strategie, die Wittgenstein verfolgt, lässt sich jedoch eher so als dritte Variante fassen. Ein gewisser „Graben“ zwischen Mensch und der umgebenden Welt ist prinzipiell immer-schon-da, aber er wird im Zustand des natürlichen Vertrauens nicht als Bedrohung erlebt. Erst gewisse rationale – aber rational auch nicht notwendige – philosophische, skeptische Gedankengänge erschüttern das Vertrauen. Das natürliche, „vor-rationale“ Vertrauen ist nun in ein kohärentes, rational reflektiertes Vertrauen zu überführen. Warum sollte so ein Graben prinzipiell immer schon da sein und nicht erst durch die Kunst skeptischer Argumente zufällig aufgerissen werden? Der Grund ist ganz simpel. Insoweit Menschen Wesen sind, welche die Welt perspektivisch erleben und den Anspruch haben, absoluten Aspekten der Welt gerecht zu werden, ist immer eine prinzipiell unüberbrückbare Distanz zwischen der beschränkten Perspektive und dem Absoluten da. In seiner Lecture on Ethics macht Wittgenstein deutlich, dass er die Konzepte des absolut Guten, des absoluten Wertes oder des absoluten Urteils höchst ernst nimmt. Die unüberbrückbare Distanz wird also nicht erst durch einen einigermaßen komplexen Gedankengang aufgebaut, sondern ist schlicht ein Aspekt des absoluten Anspruchs eines perspektivisch begrenzten Wesens. Selbst wenn die absoluten Ansprüche nicht natürlich oder wirklich urtümlich sind, scheinen diese doch im Alltagsverständnis

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hinreichend großer Sprachgemeinschaften vorhanden zu sein, so dass Wittgenstein nicht umhinkommen kann, diese ernst zu nehmen. Wenn es aber ein fundamentaler „Graben“ ist, der prinzipiell ist und daher auch prinzipiell nicht überbrückt werden kann, weil ein Mensch dazu ein anderes (nicht-perspektivisches) Wesen werden müsste, ist er aus Wittgensteins Perspektive eigentlich nicht als skeptischer Graben zu fassen. Skepsis steht eigentlich im Zusammenhang mit der prinzipiellen Möglichkeit des Wissens. Man kann gegenüber der möglichen Lösung eines Rätsels skeptisch sein, weil das Rätsel eine Aufgabe ist, die durch Nachsinnen und Forschung gelöst werden kann und soll. Wenn jedoch die Möglichkeit einer Lösung prinzipiell ausgeschlossen ist, dann ist es eher angemessen, von einem Geheimnis zu sprechen, weil das etwas weniger irreführend ist. In gewisser – vorsichtig zu postulierender – Verwandtschaft mit Kant und Schopenhauer, ist Wittgenstein davon überzeugt, dass so etwas wie das Ding-an-sich oder die Welt-an-sich wirklich und relevant ist, aber prinzipiell im Status des Geheimnisses notwendig unzugänglich bleibt. Darum schreibt Wittgenstein im Tractatus: „Das [unlösbare] Rätsel gibt es nicht. Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden“ (TLP 6.5). „Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann“ (TLP 6.51). Die Unsinnigkeit des Skeptizismus rührt auf dieser Ebene nicht eigentlich daher, dass er einen künstlichen Graben erst-neu-erschafft, sondern, dass der Skeptizismus einen prinzipiellen Graben versucht wie einen nicht-prinzipiellen, überwindbaren Graben zu behandeln. Der Anhänger des Skeptizismus verwechselt das Rätsel mit dem Geheimnis. Auch in seiner Diskussion der Privatsprache verweist Wittgenstein darauf, wie bei skeptischen Argumenten prinzipielle Grenzen wie eigentlich-zufällige Grenzen behandelt werden. Wittgenstein diskutiert die Idee, dass der Andere nicht meine Schmerzen kennen kann, da er nicht meine Schmerzen haben kann (vgl. PU § 253). Dadurch wird die Frage nach dem Kriterium für die Identität eines Schmerzes aufgeworfen. „Überlege, was es möglich macht, im Falle physikalischer Gegenstände von ‚zwei genau gleichen’ zu sprechen. Z. B. zu sagen: ‚Dieser Sessel ist nicht derselbe, den du gestern hier gesehen hast, aber er ist ein genau gleicher’“ (PU § 253). Zwei Sessel sind demnach genau gleich, wenn sie identische Eigenschaften haben: gleiche Form, gleiche absolute Höhe, gleiche Farbe, gleiches Material usw. In dem Sinne können auch zwei Menschen den genau gleichen Schmerz haben – z. B. den genau gleichen pulsierenden Kopfschmerz, der in der Mitte der Stirn anfängt und sich dann langsam ausdehnt, und der immer dann auftritt, wenn nach dem morgendlichen Aufstehen kein Kaffee getrunken wird. Gleichheit bedeutet also in dem Sinne, dass zwei verschiedene individuelle Träger (Sessel oder Personen) sich bestimmte generelle Eigenschaften teilen.

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Dass die Sessel gleich sind, impliziert also gerade nicht, dass die zwei individuellen Sessel zu einer Einheit verschmolzen sind. Was bedeutet das also für den Verteidiger der Privatsprache, der davon irritiert ist, dass der Andere nie seinen Schmerz haben kann? Grammatisch ist der eigene Schmerz der, den nur man selbst autoritativ ausdrücken kann. Die Irritation, dass der Andere nicht die eigenen Schmerzen haben kann, läuft damit auf die Irritation, dass der Andere nicht man selbst sein kann, hinaus. Die Vorstellung, es müsste für den Anderen eigentlich möglich sein, die eigenen Schmerzen verspüren zu können, ist die Vorstellung, dass es für den Anderen eigentlich möglich sein müsste, man selbst zu sein. Aber damit würde das schiere Prinzip der individuell unterscheidbaren Menschen aufgehoben werden. Ein Mensch ist gerade der, welcher er ist, weil er nicht der Andere ist. Im skeptischen Zweifel wird dieser prinzipielle Unterschied zwischen verschiedenen Individuen in einer Verwirrung als nicht-prinzipieller, überbrückbarer Unterschied aufgefasst. Wittgenstein würde hier natürlich nicht verneinen, dass ein Graben besteht. Aber er ist, gerade weil er ein prinzipieller Graben ist, kein skeptischer Graben. Am wichtigsten ist hier aber, wie bereits gesagt, zunächst allgemein festzuhalten, dass Wittgenstein davon ausgeht, dass das Seiende für ein menschliches Wesen, welches perspektivisch begrenzt ist und dennoch den Anspruch hat, „dem Absoluten“ gerecht zu werden, prinzipiell notwendig geheimnisvoll ist. Wittgensteins Position hat also gewichtige Überschneidungen mit der des Skeptikers (weshalb ihn vielleicht auch skeptische Argumente so faszinieren); er ist aber sozusagen „noch skeptischer als der Skeptiker“, weil er die Möglichkeit einer Überbrückung der „skeptischen“ Gräben für prinzipiell unmöglich hält (woraus dann für ihn folgt, dass der Begriff der wissensmäßigen „Skepsis“ irreführend ist). Nun könnte man hier einhaken, dass der bisher noch nicht näher bestimmte „Graben“ zwischen dem perspektivischen menschlichen Wesen und dem Absoluten für die traditionellen, skeptischen Probleme der Philosophie gar keine Rolle spielt. Wenn die traditionelle skeptische Frage gestellt wird, ob man vom Schmerz oder dem Bewusstsein Anderer wissen kann, dann stellt man, so der Einwand, noch gar keine Fragen nach dem absoluten Sein-an-sich oder derartigem. Auf diesen Einwand ist zu erwidern, dass sich zeigen lässt, dass in der alltagssprachlichen Behandlung ethischer Fragen immer wieder auf Absolutes verwiesen wird, und dass andere, bewusste Personen immer als ethisch relevante Figuren auftauchen, die gerade nur das sind, was sie sind, weil sie in bestimmte ethische Strukturen eingebunden sind. Man kann also nicht danach fragen, ob eine andere Person Bewusstsein oder Bewusstseinsinhalte hat, ohne damit implizit auch die Frage nach „absoluten“ ethischen Strukturen aufzuwerfen, ohne welche das Bewusstsein nicht als Bewusstsein einer Person denkbar ist.

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Die Strategie, diese Position plausibel zu machen, besteht darin, erst zu zeigen, dass in der Alltagssprache im Bereich der Ethik oft absolute Aussagen gemacht werden, die prinzipiell nicht überprüfbar sind, so dass die Überprüfbarkeit ihrer Gültigkeit entzogen ist und sie so-etwas wie Skepsis/Geheimnis aufwerfen, und dann zweitens zu zeigen, dass der Skepsis/Geheimnis-Aspekt, weil Ethik und Bewusstsein notwendig verbunden sind, sich auch auf die Frage nach der Wirklichkeit der Bewusstseinsinhalte Anderer ausdehnt. Ein in diversen Variationen oft zu beobachtender Gesprächsverlauf besteht darin, dass Person A ein ethisches Urteil über Andere fällt, woraufhin Person B empört die Position vertritt, dass jeder seine eigenen ethischen Werte hat und A sich daher nicht mit absoluten Urteilen über die Urteile Anderer erheben darf. Offenbar vertritt aber B selbst ein absolutes ethisches Urteil, wenn sie vertritt, dass A prinzipiell nicht über Andere richten soll, wodurch sie sich selbst widerspricht. So etwas ist ein Hinweis darauf, dass zur Alltagspraxis die Überzeugung gehört, dass es ethische Urteile gibt, die als absolut verstanden werden und nicht als solche verstanden werden, die erst in einer bestimmten menschlichen Perspektive Gültigkeit erlangen. Dass so ein als absolut behandeltes Gebot wirklich absolute Gültigkeit hat, das lässt sich aber nicht erweisen, sondern wird vertrauend angenommen. Wittgenstein charakterisiert dieses Beharren auf absolute Pflichten in der Alltagspraxis so. „Now let us see what we could possibly mean by the expression, ’the absolutely right road.’ I think it would be the road which everybody on seeing it would, with logical necessity, have to go, or be ashamed for not going“ (LE, S. 40). Dass absolute ethische Pflichten nicht an (individuelle) Perspektiven gebunden sind, drückt er so aus: „[S]uppose I had told one of you a preposterous lie and he came up to me and said, ‘You’re behaving like a beast’ and then I were to say ‘I know I behave badly, but then I don’t want to behave any better,’ could he then say ‘Ah, then that’s all right’? Certainly not; he would say ‘Well, you ought to want to behave better.’ Here you have an absolute judgment of value“ (LE, S. 38 – 39). Ein anderes Beispiel dafür, dass nach der expliziten Leugnung absoluter ethischer Gesetze diese dann doch wieder implizit affirmiert werden, ist Michael Ruse (2014). Dieser argumentiert in einem Interview theoretisch dafür, dass es keine absoluten ethischen Gesetze gibt. Vielmehr finden sich unter dem Titel Verhaltensweisen wie Kooperation, die Selektionsvorteile in der Evolution liefern. Die ethischen Gesetze sind also nicht absolut, sondern ergeben sich erst aus einer Perspektive, die Selektionsvorteile als Ziel anerkennt. „[B]eing good cooperators makes each one of us individually better off in the struggle for existence. If we are nice to other people, they are much more likely to be nice to us in return. However, as the philosopher J.L. Mackie used to argue, I think we ‘objectify’ substantive ethics – we think it objectively the case that we ought return library books on time.

3.3 Der Geist ist kein privater Raum

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But we do this (or rather our genes make us do this) because if we didn’t we would all start to cheat and substantive ethics would collapse to the ground“ (Ruse 2014). Dass er nach der Darlegung seiner theoretischen Position, die Ethik auf Nützlichkeitsbeziehungen zurückführt, aber bei einem emotional herausfordernden Thema sofort in eine Argumentationsweise und Handlungsweise fällt, laut der Ethik deutlich den Rahmen des Nützlichkeitsdenkens sprengt, kann als starker Hinweis darauf gelesen werden, dass auch Ruse implizit absolute ethische Gebote anerkennt. Er lehnt nun nämlich einen Gott ab, der Unschuldigen großes Leid zufügt, auch dann, wenn der Gott diese Unschuldigen anschließend mit ewiger Glückseligkeit bzw. Erlösung belohnen würde. Das sprengt das zielgerichtete Denken, das ökonomischen Nutzen gegen ökonomischen Aufwand abwägt, in eklatanter Weise. „I don’t want an argument that convinces me that the death under the guillotine of Sophie Scholl (one of the leaders of the White Rose group opposed to the Nazis) or of Anne Frank in Bergen-Belsen ultimately contributes to the greater good. If my eternal salvation depends on the deaths of these two young women, then forget it“ (Ruse 2014). Wittgensteins Diskussion der Privatsprache kreist gerade um Schmerzen, um auch diese ethische Dimension hervorzuheben. Die Grammatik des Begriffs Schmerz regelt auch die Grammatik ethischer Begriffe wie Mitleid und Trost. „Wenn Einer in der Hand Schmerzen hat, so sagt’s die Hand nicht (außer sie schreibt’s), und man spricht nicht der Hand Trost zu, sondern dem Leidenden; man sieht ihm in die Augen“ (PU § 286). „Wie bin ich von Mitleid für diesen Menschen erfüllt? Wie zeigt es sich, welches Objekt das Mitleid hat? (Das Mitleid, kann man sagen, ist eine Form der Überzeugung, daß ein Anderer Schmerzen hat)“ (PU § 287). Weiterhin bindet er die Möglichkeit, dem Anderen Schmerzen zuzuschreiben, an die grammatisch feste Überzeugung, dass dieser eine Seele hat (vgl. PU iv). Das Sprachspiel lässt zu, dass ich entweder glaube, dass der Andere leidet oder nicht. Für den Glauben lassen sich Gründe und Gegengründe anführen: Es ist glaubhaft, dass A leidet, weil A mit Sorgenfalten in die Leere starrt. Der Grund kann aber durch den Gegengrund aufgewogen werden, dass A einfach konzentriert über ein Rätsel nachdenkt. Nun kann man aber nicht in dieser Weise glauben, dass der Andere kein Automat ist und eine Seele hat. Es gibt in unserem Sprachspiel keine Gründe, die man anführen könnte, um Zweifel daran auszulösen, dass irgendein Mitmensch ein Automat ist. Ebenso muss das nicht erst durch zu gebende Gründe belegt werden. Es ist eine grammatische Regel unserer Sprachspiele, dass jemand, der sich wie ein Mensch benimmt, eben ein beseelter Mensch ist. Daher kann man nicht der Meinung sein, dass ein Freund kein Automat ist, weil die Schein-Option, dass er ein Automat sein könnte, grammatisch gar nicht möglich ist. „Meine Einstellung zu ihm ist eine Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die Meinung, dass er eine Seele hat“ (PU iv). Der skeptische Zweifel am

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Schmerz verändert also notwendig auch die Sicht auf grammatisch damit zusammenhängende ethisch relevante Begriffe wie Mitleid, Trost und Seele. Nun gibt es einige Philosophen, die in den traditionellen skeptischen Problemen einfach einen theoretisch überspannten und willkürlichen Zweifel sehen, der eigentlich fast selbstverständlich falsch ist, und über den das Nachdenken sich daher wenig lohnt. „[H]ow about Rorty’s admonition to stop trying to answer the skeptic, and tell him to get lost? A short response would be that the skeptic has been told this again and again over the millennia and never seems to listen; like the philosopher he is, he wants an argument“ (Davidson 2001, S. 156). Jener, der die skeptischen Argumente ernst nimmt, wird als so sehr in der Theorie verfangener Philosoph dargestellt, dass er sogar für so etwas Offensichtliches wie die Wirklichkeit der Außenwelt und Anderer ein Argument fordert. Es spricht aber einiges dafür, dass es genau andersherum ist, dass die Faszination für die skeptischen Argumente daherkommt, dass in ihnen implizit auch immer ethische Fragen angesprochen werden, deren Antworten eben nicht selbstverständlich und nicht nur von theoretischem Belang sind. Es ist auffällig, dass in einem erfolgreichen Film wie The Matrix (1999), in dem das skeptische Szenario durchgespielt wird, dass Menschen in einer Computersimulation leben, die Relevanz der Täuschung an ethische Fragen gebunden wird: Im Film geht es darum, dass die Menschen in einer Computersimulation leben, um ausgebeutet zu werden. Auch der erfolgreiche Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? (1968) von Philip K. Dick, in dem von Menschen nur durch bestimmte Tests zu unterscheidende Androiden in der Gesellschaft leben, ist auf ethische Themen fokussiert: z. B. geht es darum, dass Menschen in dieser Zukunftsvision die Gesellschaft von Androiden bevorzugen, da sie sich wenigstens äußerlich „menschlicher“ (empathischer) benehmen als tatsächliche Menschen. Abu-Hamid Muhammad alGhazali (1988) hat im 11. Jahrhundert die skeptische Frage gestellt, woher wir wissen können, ob wir mit der Vernunft die Wirklichkeit erkennen oder ob die wahrgenommene Wirklichkeit einem Traum gleicht. Auf die Frage ist er gestoßen, als er darüber staunte, dass Muslime als Muslime, Christen als Christen und Juden als Juden erzogen werden, ohne dass sie die Einübung in die Religion auf sichere Vernunftgründe stützen. So hat er sich auf die Suche nach absolut sicherer Erkenntnis begeben, die den Islam stützt, die ins Stocken geriet, als er das skeptische Traumargument entwickelt hat. Dieses hat ihn so sehr erschüttert, dass er mehrere Wochen krank wurde. Auch hier steht die skeptische Frage nicht einfach in einem nüchtern-theoretischen Kontext, sondern es geht um die richtige ethisch-religiöse Praxis. Auch Descartes (2008, S. 43) nennt in seinem skeptischen Gedankenexperiment die täuschende Instanz einen „boshafte[n] Genius“ und stellt mit diesem Verweis auf das Gute und das Böse die ethische Signifikanz der Skepsis heraus. Auch ist auffällig, dass Wittgenstein in seinen Tagebüchern ge-

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schrieben hat, dass es ihm oft schwerfällt, Menschen als Menschen zu erkennen. „Der Leutnant & ich haben schon oft über alles mögliche gesprochen; ein sehr netter Mensch. Er kann mit den größten Halunken umgehen & freundlich sein ohne sich etwas zu vergeben. Wenn wir einen Chinesen hören so sind wir geneigt sein Sprechen für ein unartikuliertes Gurgeln zu halten. Einer der chinesisch versteht wird darin die Sprache erkennen. So kann ich oft nicht den Menschen im Menschen erkennen“ (CV, S. 3). Wittgenstein kann also den Menschen oft nicht erkennen, so wie er eine fremde Sprache nicht verstehen kann. Dieses Nichterkennen führt dann zu Schwierigkeiten dabei, die Menschen als ethisch relevante Personen ernst zu nehmen und zu würdigen und nicht einfach als befremdende Halunken auf Abstand zu halten. Das bedeutet: Die Grammatiken der Sprachspiele, in denen es darum geht, anderen Menschen Bewusstsein, ethisch relevante Empfindungen usw. zuzuschreiben, sind welche, die für Wittgenstein persönlich durchaus auch fremd und ansatzweise unverständlich werden. Dass das skeptische Problem, ob die erlebte Welt eine illusionäre Welt ist, implizit ein ethisches Problem ist, lässt sich auch noch aus einem etwas anderen Winkel herausstellen. Wenn man über die Wirklichkeit der Außenwelt oder über die Wirklichkeit des Fremdpsychischen nachdenkt, dann kann man das Verhältnis zwischen sprachlicher Praxis und Außersprachlichem auf mindestens drei Weisen auslegen. Erstens: Es gibt die in der Sprachpraxis erlebte Welt und jenseits davon nichts. Zweitens: Es gibt die in der Sprachpraxis erlebte Welt und jenseits davon eine außersprachliche Welt, die aus Kräften besteht, die einen „hin- und herschieben“. Die Kräfte treten dann gewissermaßen wie Kausalursachen auf, welche die möglichen Sprachspiele begrenzen. Wir können nicht einfach die Sprachspiele des Grundschulunterrichts so modifizieren, dass auch Katzen und Hunde wie Kinder in Deutsch und Mathematik unterrichtet werden. Alle überhaupt möglichen Sprachspiele sind aber auf derselben Stufe der „Richtigkeit“, da sie offenbar mit den hin- und herschiebenden Kräften kompatibel sind. Es ist daher unsinnig zu sagen, dass bestimmte Sprachspiele die außersprachlichen Kräfte akkurat repräsentieren. Drittens ist jene Sicht zu nennen: Es gibt die in der Sprachpraxis erlebte Welt und jenseits davon eine außersprachliche Welt, die nicht nur als limitierende Kraft wirkt, sondern die auch Ansprüche stellt, denen man gerecht werden soll. Dass man diesen Ansprüchen gerecht werden soll, weist sie als ethische Ansprüche aus. Wenn man die außersprachliche Welt auf erste oder zweite Weise auslegt, dann verliert das skeptische Problem seine Kraft, da es aus diesen Perspektiven gar keinen relevanten Unterschied zwischen Illusion und „tatsächlicher Wirklichkeit“ gibt. Die illusionäre Welt wäre immer noch eine Welt, in der ein regelhafter, vorhersehbarer, praktischer Umgang möglich ist, so dass die illusionäre Welt so gut ist wie jede andere mögliche Welt, da „Welt“ eben nichts weiter be-

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deuten kann als eine erlebte Umwelt, in der man mehr oder weniger zielgerichtet praktisch umgehen kann. Bei so einer schlanken bzw. nicht vorhandenen Außenwelt ist Hackers (1993, S. 80 – 81) Position, dass es einfach eine kreative Entscheidung der Sprechenden sein wird, ob Androiden Bewusstsein haben oder nicht haben, prinzipiell kohärent. Erst wenn man das Außersprachliche nicht nur als Kraft fasst, mit der man irgendwie oder möglichst pragmatisch fertig werden muss, wird der Unterschied zwischen Illusion und eigentlicher Wirklichkeit relevant. Erst wenn es im Außersprachlichen etwas gibt, das durch eine Sprachpraxis gewürdigt oder anerkannt werden soll, stellt sich die Frage, ob eine bestimmte Sprachpraxis dem Außersprachlichen gerecht wird, oder ob in der Sprachpraxis ein illusionäres Bild festgehalten wird, welches die zu würdigende Wirklichkeit verfehlt. Erst wenn der Andere und seine Psyche als in ihrer Eigentlichkeit zu würdigende und daher ethisch zu würdigende Aspekte der auch schon außer- oder vor-sprachlich seienden Außenwelt auftreten, kann der skeptische Zweifel als genuiner skeptischer Zweifel aufblühen. Nun wäre prinzipiell auch eine „Zwischen-Strategie“ möglich. Man könnte argumentieren, dass es zwar jenseits der schieren Sprachpraxis eine auch ethisch bedeutsame Wirklichkeit gibt, dass es aber eben auch selbstverständlich oder offensichtlich ist, dass die Außenwelt und die Anderen keine Illusionen im Sinne der skeptischen Herausforderung sind, da ihre Wirklichkeit zu unseren tiefsten Intuitionen gehört, ohne welche die Genese unserer Sprachpraxis zudem äußerst schwer zu erklären ist. Der skeptische Zweifel wird dann einfach als Problemanzeige verstanden, dass etwas beim Philosophieren falsch gelaufen sein muss. Dann kann man sich aus methodischen Gründen auf eine schlanke Sicht der Welt im Sinne der Option 2 zurückziehen, um nachzuverfolgen, wie sich die gewissermaßen eigentlich absurden skeptischen Fragen ergeben konnten, ohne dass man eigentlich verneint, dass es Wichtiges jenseits der Regeln der Sprachpraxis gibt. Die Schwäche dieser Strategie ist aber offenbar, dass sie der skeptischen Frage einfach ausweicht und diese gar nicht erst ernst nimmt, obwohl sie bereits im Grundanspruch eines perspektivisch begrenzten Wesens, das teilweise ethische Ansprüche und damit teilweise absolute Ansprüche verfolgt, als Möglichkeit angelegt ist. Dringend wird die skeptische Frage bereits, sobald das begründete Wissen als absolut privilegierte Weise des Weltumgangs gefasst wird. Die skeptische Frage ist nicht bloß Effekt höchst spezifischer theoretischer Annahmen wie dem Postulat von Sinnes-Daten oder ähnlichem, weshalb ja auch al-Ghazali im 11. Jahrhundert bereits auf die skeptische Herausforderung stieß. Die Genese der skeptischen Frage auf bestimmte „Bösewichte“ wie Sinnesdaten, Körper-GeistDualismus oder das Konzept des substanzhaften Subjekts zu schieben, die in bestimmter Form in der kontingenten, modernen, europäischen Philosophietra-

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dition aufgetreten sind, verdeckt, dass in den skeptischen Argumenten implizit auch immer eine Distanz zwischen Perspektive und dem Absoluten angesprochen wird, die viel weitreichender ist als die spezifischen, angesprochenen philosophischen Postulate. Wenn Wittgenstein also „skeptischer als der Skeptiker“ ist, insofern er das prinzipiell unlösbare Geheimnis anerkennt – und nicht den Weg von z. B. Descartes einschlägt, der ein prinzipiell durch rationale Beweisführung zu überwindendes skeptisches Szenario aufwirft, um es dann eben rational zu überwinden –, worin besteht dann Wittgensteins Erwiderung auf den Skeptizismus genau? Insofern das an-sich-Seiende notwendig geheimnisvoll entzogen ist, wird der Umgang mit der Welt von dem Vertrauen getragen, dass in den Sprachspielen das, was am an-sich-Seienden wichtig ist, berührt wird. Das Geheimnis wird nicht als bedrohlich erlebt, weil es das Grundvertrauen der Sprachgemeinschaften gibt, dass das, was notwendig verborgen ist, nicht in Opposition zu den Sprachspielen steht. Die Kehrseite davon, dass das Vertrauen fundamental ist, ist es, dass Begründungen nicht fundamental sind. Daher betont Wittgenstein immer wieder die Grundlosigkeit der Sprachspiele. „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene’ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt“ (PU § 654). „Nicht um die Erklärung eines Sprachspiels durch unsre Erlebnisse handelt sich’s, sondern um die Feststellung eines Sprachspiels“ (PU § 655). Das Gründegeben ist ein verfeinerter Weltbezug, der erst auftreten kann, wenn bereits bestimmten grammatischen Regeln – die bestimmen, was als Grund zählt und was nicht – vertraut wird. Wittgensteins Rückführungen der philosophischen Sprache auf die Alltagssprache haben nun mindestens folgende Funktionen: Sie sollen zeigen, dass die metaphysische Sprache, insofern sie als Modifikation der Alltagssprache aufgefasst wird, keinen privilegierten, scharfen Zugang zum Sein hat, da sie als Spross der Alltagssprache genau wie die Alltagssprache von einem grundlosen Vertrauen abhängig ist. Die metaphysische Sprache gedeiht auf dem Feld der Alltagssprache und wurzelt in ihr. Wenn die metaphysische Sprache sich nun gegen die Alltagssprache richtet, weil diese nicht begründet ist, dann richtet sich die metaphysische Sprache implizit auch gegen sich selbst, weil sie selbst als Spross der Alltagssprache ebenso grundlos ist. Die traditionelle Philosophie wird „von Fragen gepeitscht […], die sie selbst in Frage stellen“ (PU § 133). Die Rückführungen sollen weiterhin zeigen, dass die Modifikationen der Alltagssprache eben genuine Modifikationen und nicht einfach Explikationen der Alltagssprache sind, die einfach nur herausschälen, was in der Alltagssprache eigentlich schon immer gemeint ist. Ein traditioneller Philosoph könnte argu-

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mentieren, dass jeder, der an Wissen interessiert ist, nach philosophischer Reflexion zugeben muss, dass man nur das weiß, was man ultimativ begründen kann, und dass man daher letztendlich nie weiß, ob der Andere Schmerz hat, wenn man statt letzter Gründe nur angeben kann, dass man Gehirnscans, Schmerzäußerungen usw. als hinreichende Gründe akzeptiert. Wittgenstein zeigt durch die Rückführung, dass dieser metaphysische Begriff des Wissens nicht rational zwingend ist, da er auf einer nicht notwendigen Umgestaltung des alltagssprachlichen Begriffs des Wissens beruht. Weiterhin hat es einen Grund, warum Wittgensteins philosophische Bemerkungen nicht einfach in nüchtern zusammengetragenen Argumenten präsentiert werden. Wittgenstein sagt über seine eigene Methode: „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten“ (VB, S. 483). Die Schilderungen der Sprachspiele sollen die Alltagspraxis in ihrer unmittelbar durchlebten Lebendigkeit wachrufen und so die Erinnerung an das Alltagsverständnis wecken. Der Philosophierende soll daran erinnert werden, dass er im Eifer der Praxis ganz andere Begriffe ernst nimmt als bei einem abgesonderten Denken. Zusammengenommen zielt Wittgensteins Strategie darauf ab, zu zeigen, dass es keinen rationalen Zwang gibt, den Weg der traditionellen Philosophie einzuschlagen, da die Privilegierung der metaphysischen Sprechweise nicht notwendig und daher in gewisser Weise willkürlich ist. Der Weg zwischen Alltagssprache und traditioneller Philosophie kann in beide Richtungen beschritten werden, so dass die Idee des philosophischen Fortschritts, der zwingend in eine bestimmte Richtung weist (nämlich weg vom „primitiven“ Alltagsverständnis), sich als Vorurteil zeigt. Wittgensteins Anspruch ist also, soweit betrachtet, relativ bescheiden. Er will aufzeigen, dass es eine genuine Alternative zur traditionellen Philosophie gibt, aber er verneint die Möglichkeit der traditionellen Philosophie nicht kategorisch. Alle seine Angriffe auf die Philosophie sind kompatibel damit, dass die Modifikation der Alltagssprache in der Philosophie eine genuine Emanzipation von der Alltagssprache sein könnte. Selbst wenn es noch unklar ist, woher genau die Philosophie als „Auswuchs“ der Alltagssprache ihren bevorzugten Zugang zur Wirklichkeit bekommt, so ist damit noch nicht ernstlich die Idee widerlegt, dass der Drang zur philosophischen Modifikation des alltäglichen Vokabulars gerade deshalb besteht, weil Menschen dabei tatsächlichen Erkenntnissen auf der Spur sind – auch wenn es ein tastendes, unsicheres, fragiles Fortschreiten ist. Wittgensteins Ziel ist es zunächst, dass der Philosophierende sieht, dass er als rationales Wesen mindestens zwei Wege einschlagen kann: Wittgensteins Weg oder den Weg der traditionellen Philosophie. Der Weg der traditionellen Philosophie, so scheint es für Wittgenstein, kann jedoch wegen des Mangels an klaren Erfolgskriterien den skeptischen Zweifel nicht besiegen. Die Möglichkeit des skeptischen Zweifels bleibt daher für Wittgenstein immer eine

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rationale Möglichkeit. Er sieht sie aber als eine Möglichkeit, die man nicht einschlagen muss. Der skeptische Zweifel ist damit gewissermaßen wie eine „verbotene Frucht“, die immer in Reichweite hängt. Man kann sie essen, so man denn will, und muss dann mit den Konsequenzen leben, oder aber man pflückt und isst sie nicht.Wittgensteins Ziel ist es, den Philosophierenden „zur Ruhe“ (PU § 133) zu bringen, so dass der Philosophierende ohne Irritation an der Frucht vorbeigehen kann, „wann [er] will“ (PU § 133). Das heißt: Der Philosophierende sieht diese Denkmöglichkeiten und befasst sich mit ihnen, lässt sich aber nicht von ihnen aus der Ruhe bringen und das eigene Denken durch diese kontrollieren.

3.4 Wissen beruht zuletzt nicht auf Gründen In Über Gewissheit wendet sich Wittgenstein wieder den skeptischen Fragen der traditionellen Philosophie zu. Dabei unterscheidet Wittgenstein mindestens zwei Ebenen des Fragens. Es gibt zum einen die praktische Ebene des Alltags: Auf dieser Ebene hat eine kompetente, wissende Person keinen Zweifel daran, dass der Jupiter ein Gasplanet ist, oder dass der Mond 384.400 km von der Erde entfernt ist, weil sich diese Aussagen durch Gründe wie wissenschaftliche Beobachtungen hinreichend belegen lassen. Der philosophische Skeptiker will nun die angebrachte Abwesenheit des Zweifels auf dieser Ebene zunächst nicht antasten, sondern behauptet „es gebe […] noch einen Zweifel hinter diesem“ (ÜG § 19). Der Skeptiker nimmt eine distanzierte Haltung zur ganzen Sprachpraxis ein und fragt danach, woher man denn weiß, dass diese ganze Praxis überhaupt gültig ist? Es genügt als antiskeptische Strategie daher nach Wittgenstein nicht einfach das Alltagsverständnis zu affirmieren, sondern man muss es reflektiert und bewusst verstehen. Daher wechselt Wittgenstein von der Frage nach dem Wissen zur Frage nach der Logik. „[Z]ur Logik gehört alles, was ein Sprachspiel beschreibt“ (ÜG § 56).Wittgenstein erörtert die logische Rolle des Zweifels in der Alltagspraxis, um zu zeigen, dass ein Zweifel hinter dem alltäglichen Zweifel „eine [grammatische] Täuschung ist“ (ÜG § 19). Die grammatische Täuschung besteht darin, dass bei der philosophischen Betrachtung des Sprachspiels Spielregeln (grammatische Sätze) so betrachtet werden als wären sie Züge im Spiel (wissensmäßige Erfahrungssätze). Durch diese Fehlbetrachtung ergibt sich eine grammatische Fiktion. Das kompetente Affirmieren von wissensmäßigen Erfahrungssätzen setzt bereits immer Regelkonformität voraus.Wer behauptet, etwas zu wissen, der muss Gründe dafür angeben. „Es muß erst erwiesen werden, daß er’s weiß“ (ÜG § 14). Diese Gründe müssen für alle kompetenten Mitglieder der Sprachgemeinschaft nachvollziehbar sein. Das Wissen „muß objektiv feststellbar sein“ (ÜG § 15). Diese Gründe müssen nach Regeln vorgelegt werden, die von den Anderen auch

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nachvollzogen werden. „Der Andere muß sich, wenn er das Sprachspiel kennt, vorstellen können, wie man so etwas wissen kann“ (ÜG § 18). Die Kehrseite davon, dass es Regeln gibt, die bestimmen, was eine hinreichende Begründung ist, ist es, dass es Regeln gibt, die anzeigen, wann die Ergebnisse einer Begründung in Zweifel gezogen werden können. „D. h.: der Vernünftige zweifelt daran nur unter den und den Umständen“ (ÜG § 334). Bei den Begründungen gibt es verschiedene Schichten der Tiefe. Man kann erklären und begründen, dass der Lehrer als Vermittler des Wissens glaubwürdig ist, weil seine Kompetenz durch verschiedene Institutionen geprüft wurde. Dann kann man weiter begründen, warum die durch ihn vermittelten theoretischen Einsichten wahr sind, und so weiter. „Aber einmal müssten doch diese Erklärungen ein Ende haben“ (ÜG § 34). Die grammatischen Regeln selbst sind eben nicht mehr begründbar. „Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen“ (ÜG § 166). „Du musst bedenken, dass das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben“ (ÜG § 559). Warum ist es laut Wittgenstein nun so schwierig, den Unterschied von grundlosen Regeln und regelhaft Begründetem einzusehen? Es liegt mindestens daran, dass viele Regeln formell gleichermaßen Tatsachenbehauptungen sind und somit leicht mit den zu begründenden Tatsachenbehauptungen verwechselt werden können, sowie, dass die Grenzen zwischen grammatischen Sätzen und Erfahrungssätzen nicht in allen Fällen klar determiniert sind (vgl. ÜG § 309). Beispiele für Sätze, die gleichermaßen Regeln und Tatsachenbehauptung sind: „[H]ier [ist] eine Hand“ (ÜG § 1); „ich [bin] ein Mensch“ (ÜG § 4); „es [gibt] physikalische Gegenstände“ (ÜG § 35); „ich [wohne] seit Monaten an der Adresse A“ (ÜG § 70); „die Erde [hat] schon lange vor meiner Geburt existiert“ (ÜG § 190); „es [gibt] Bücher“ (ÜG § 476); „Ich weiß, dass ich so heiße“ (ÜG § 570). Warum sind diese Tatsachenbehauptungen laut Wittgenstein sprachliche Regeln? Wenn man diese Sätze in normalen Umständen in der Alltagspraxis verneint, dann besteht die normale Reaktion darauf, dass einem das Verständnis der Sätze abgesprochen wird. Wenn man ernsthaft die monatelang genutzte eigene Adresse nicht kennt, ernsthaft Hände nicht als Hände anerkennt und ernsthaft behauptet kein Mensch zu sein, dann wird eine „Geistesstörung“ (ÜG § 71) unterstellt, die das Verständnis der Sätze verhindert. Dies steht im scharfen Kontrast zu Irrtümern, die vor einem verstandenen Hintergrund passieren. Irrtümer zeichnen sich dadurch aus, dass sie „nicht nur eine Ursache, sondern auch einen Grund“ haben (ÜG § 74). Sie lassen sich „in das richtige Wissen des Irrenden einordnen“ (ÜG § 74). „Wer keiner Tatsache gewiss ist, der kann auch des Sinnes seiner Worte nicht gewiss sein“ (ÜG § 114).

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Die grammatischen Tatsachenbehauptungen werden außerdem nicht durch Erfahrungen, die sicherer sind als diese, hergeleitet, sondern dienen als Prinzipien, an denen die Erfahrung gemessen wird. „[J]eder Satz lässt sich aus andern herleiten. Aber diese mögen nicht sicherer sein als er selbst“ (ÜG § 1). Dass die Erde bereits 100 Jahre vor meiner Geburt existiert hat, kann man daraus ableiten, dass laut aktuellem Stand der Naturwissenschaft unser Sonnensystem etwa 4,6 Milliarden Jahre alt ist. Dieser Satz ist ein Erfahrungssatz und es ist möglich, dass wegen einer nicht hinreichenden Sichtung der Evidenz die Jahresangabe in mehr oder weniger signifikanter Weise korrigiert werden muss. Zwischen den Sätzen „Die Erde ist mindestens 3 Milliarden Jahre alt“ und „Die Erde ist mindestens 100 Jahre alt“ besteht nicht einfach ein gradueller, sondern ein kategorischer Unterschied. Die ganze Praxis der Naturwissenschaft (und nicht nur diese) beruht auf der Überzeugung, dass die Erde älter als 100 Jahre ist, dass auf Wissen, das von Menschen vor über 100 Jahren errungen wurde, aufgebaut werden kann, usw. „Dass ich zwei Hände habe, ist unter normalen Umständen so sicher wie irgendetwas, was ich als Evidenz dafür anführen könnte. Ich bin darum außerstande, den Anblick meiner Hand als Evidenz dafür aufzufassen“ (ÜG § 250). Insofern wäre es umgekehrt z. B. auch so, dass das Nichtsehen der Hand in hinreichend normalen Umständen nicht als Evidenz gegen die Existenz der Hände aufgefasst wird, sondern reflexhaft geschlossen wird, dass eine optische Täuschung oder Vergleichbares vorliegt. Diese Regeln des Sprachspiels, in denen sich die menschlichen Lebensformen zeigen, werden nicht wissensmäßig, sondern mit animalischer Gewissheit festgehalten. „Das heißt doch, ich will [die Lebensform] als etwas auffassen, was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt; also gleichsam als etwas Animalisches“ (ÜG § 359). „‚Wissen‘ und ‚Sicherheit‘ gehören zu verschiedenen Kategorien“ (ÜG § 308). Wittgenstein ist es wichtig, dass die Sicherheit nicht mit einer Art flüchtiger Voreiligkeit verwechselt wird. Bei den Regeln ist in der Praxis daher „Irrtum logisch ausgeschlossen“ (ÜG § 194). Man kann sie nicht aufgeben, „ohne alles Urteilen aufzugeben“ (ÜG § 494). Obwohl die grammatischen Sätze grundlos sind, sind sie nicht ursachenlos. Einige grammatische Überzeugen sind natürlich – z. B. die Überzeugung, dass man einen Körper bzw. Hände hat. Wenn die Menschheit in einer Weise weiter evolviert, die zum Verlust der Hände führt, dann verliert langfristig auch die grammatische Überzeugung, Hände zu haben, den sie ursächlich festhaltenden Kontext. Andere werden durch die Erziehung verursacht – z. B. die Überzeugung, dass der eigenen Name N.N. ist. Obwohl sie animalisch festgehalten werden, sind sie nicht völlig starr und können sich langsam wandeln (vgl. ÜG §§ 94– 98). Der skeptische Zweifel ist also eine grammatische Täuschung, weil grammatische Sätze, die grundlos mit einer Art Ur-Sicherheit festgehalten werden, mit

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Erfahrungssätzen, die erst durch Gründe festgehalten werden, verwechselt werden. „Man macht sich [in der traditionellen Philosophie] ein falsches Bild vom Zweifel“ (ÜG § 249). Man kann bei Descartes verfolgen, wie sich aus dieser grammatischen Verwirrung ein neues, philosophisches Konzept des Zweifels ergibt, das sich aus dem alltäglichen entwickelt hat, das aber nach und nach die scharfe Kontur verliert, so dass es zu einem „gespenstischen“, halb-zerfallenen Nachbild des alltäglichen Zweifels wird.

3.4.1 Methodischer Zweifel des Descartes als Resultat des Verlustes der Feinheit und des Kontextes des ursprünglichen Begriffs des Zweifels Man kann diesen Zerfallsprozess des Zweifelkonzeptes unter mindestens zwei Blickwinkeln herausstellen: dem Verlust der Feinheit sowie dem Verlust des Kontextes. Verlust der Feinheit. In der Alltagspraxis gilt: „Man zweifelt aus bestimmten Gründen“ (ÜG § 458). Der Zweifel ist also an spezifische Bedingungen gebunden. Man zweifelt beispielsweise an der Zustellung eines Briefes, weil die normalerweise zu erwartende Reaktion ausbleibt. Man zweifelt daran, dass die Züge heute nach dem regulären Fahrplan fahren sollen, weil sie zu ungewohnten Zeiten an ungewohnten Gleisen eintreffen. Zu beiden Zweifeln gehören im Sprachspiel Regeln, die darstellen, wie sich der Zweifel überwinden lässt. Man kann beim Adressaten des Briefes nachfragen bzw. die aktuellen Fahrplanänderungen online konsultieren. Descartes scheint dem zunächst nicht zu widersprechen. Auch er zweifelt ja aus bestimmten Gründen und nicht willkürlich. Descartes (2008, S. 33) möchte ja gerade alles anzweifeln, an dem er „auch nur irgendeinen Grund zum Zweifeln“ antrifft. Er hat nun entdeckt, „daß die Sinne zuweilen täuschen, und Klugheit verlangt, sich niemals blind auf jene zu verlassen, die uns auch nur einmal betrogen haben“ (Descartes 2008, S. 35). In der Alltagspraxis hat der Zweifel an den Sinnen eine fein eingeordnete Rolle. Bei Kurzsichtigkeit könnte z. B. unklar sein, ob die Anzeigetafel angibt, dass der nächste Zug in 3, 8 oder 9 Minuten bzw. in 1 oder 7 Minuten kommt, da die Zahlen ähnlich aussehen. Die Überwindung des Zweifels geschieht durch näheres Herantreten, auditives Vernehmen der Zeit oder ähnliches. Bei Descartes hingegen geht diese Feinheit verloren und wird durch ein grobschlächtiges Zweifeln an der ganzen Sinneswahrnehmung ausgetauscht. Es kommt bei Descartes zu einem Strukturverlust.

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Verlust des Kontextes. In der Alltagspraxis gilt: „Das Spiel des Zweifels setzt selbst schon Gewissheit voraus“ (ÜG § 115). In der Alltagspraxis gibt es mindestens drei Schichten. Es gibt die mit einer Ur-Sicherheit festgehaltenen grammatischen Regeln, die bestimmen, was als guter Grund und was als zweifelhafter Grund sowie als Überwindung des Zweifels zählt. Es gibt die Erfahrung, die an diesen grammatischen Regeln gemessen wird. Es gibt die durch die Erfahrung begründeten oder nicht begründeten und zweifelhaften Erfahrungssätze. Das Gründegeben tritt also immer im Kontext der prinzipiell nicht hinterfragten grammatischen Regeln auf, denen mit einer Ur-Sicherheit vertraut wird. Bei Descartes kommt es zu einem fortschreitenden Verlust dieses Kontextes. Descartes stützt den Zweifel zunächst auf spezifische Gründe wie evidente Sinnestäuschungen, ohne dass er prinzipiell an allem zweifelt. Er ist kein radikaler Skeptiker. Er zweifelt nicht daran, etwas zu tun, wenn die „Vernunft dazu rät“, oder daran, dass „einmal im Leben alles von Grund auf umgeworfen und von den ersten Fundamenten her erneut begonnen werden müsste“ (Descartes 2008, S. 33). Dann kommt es aber zu einer Dynamik, in welcher der noch-spezifische Begriff des Zweifels in einen viel expansiveren Begriff des Zweifels umschlägt. Im Rahmen des Traumarguments, das die Frage aufwirft, ob es sichere Gründe gibt, durch die sich Traum und Wachen unterscheiden lassen, ergibt sich ein noch stärkerer Begriff des Zweifels. Es ergibt sich nun die Idee, dass alles, was nicht wohlbegründet ist, zweifelhaft ist. „Wenn ich aufmerksamer daran denke, sehe ich so unverhohlen, dass der Wachzustand niemals aufgrund sicherer Anzeichen vom Traum unterschieden werden kann, dass ich erstaune; und dieses Erstaunen bestärkt mich fast sogar in meiner Meinung zu träumen“ (Descartes 2008, S. 37). Aber auch an dieser Stelle ist Descartes in seiner tatsächlichen philosophischen Praxis noch immer kein absolut radikaler Skeptiker, denn er zweifelt ja z. B. nicht an der Bedeutung der Wörter, die er benutzt. Dieses würde auch sein ganzes Projekt unterminieren und zeigt das Paradoxe am „radikalen“ Zweifel (vgl. ÜG § 456, § 506). „Ein Zweifel, der an allem zweifelt, wäre kein Zweifel“ (ÜG § 450). Was Wittgenstein hier nach ordnender Auslegung getan hat, ist mindestens zu zeigen, dass der philosophische Begriff des Zweifels sich vom alltäglichen Begriff des Zweifels unterscheidet, so dass klar ist, dass der philosophische Skeptiker etwas radikal Anderes tut als jener, der vernünftig im Alltag zweifelt, so dass sich der philosophische Skeptiker nicht einfach mit den Federn des „lobenswert“ sorgfältigen, alltäglichen Zweiflers schmücken kann. Er hat weiter gezeigt, dass sich die Geburt des philosophischen Begriffs auf eine Verwechslung von grammatischen Sätzen und Erfahrungssätzen zurückführen und reduzieren lässt. Er hat weiter gezeigt, dass der philosophische Zweifel nur scheinbar radikal

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ist und tatsächlich darauf beruht, bestimmte Aspekte des Verstehens gewissermaßen willkürlich vom Zweifel auszuschließen. All das zeigt, dass es nicht rational notwendig ist, den traditionellen philosophischen Zweifel einzuschlagen. Es ist aber dennoch durchaus möglich, jene Aspekte, die oben als Verfall der grammatischen Ordnung ausgelegt wurden, als Emanzipation und Befreiung von einer naiven Ordnung aufzufassen. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Distanzierung von der Alltagspraxis und Neumodellierung des Zweifelkonzepts etwas an der Wirklichkeit trifft, was in der Alltagspraxis noch ignoriert wird. Bevor erläutert wird, wie Wittgenstein laut der ordnenden Lesart plausibel machen will, dass das beruhigte Vertrauen in die Alltagspraxis nicht nur rational möglich, sondern tatsächlich die eigentlich adäquate philosophische Reaktion ist, soll noch die klärende Lesart von Danièle Moyal-Sharrock (2007) besprochen werden. Moyal-Sharrock legt Wittgensteins Erwiderung auf den Skeptizismus als rational zwingend aus und identifiziert zwei verschiedene Todesstöße gegen den Skeptizismus, die darin bestehen sollen, dass Wittgenstein fatale Fehler bei den traditionellen Philosophen identifiziert. „According to Wittgenstein, the sceptic is making two grave mistakes – and these are connected. One […] is that he is mistaking the behaviour of doubt for genuine doubt; and the other is that he is mistaking hinges for propositions […]. It will be in terms of the latter categorymistake that I will formulate one of On Certainty’s fatal blows against external world skepticism“ (Moyal-Sharrock 2007, S. 162). Die traditionelle skeptische Philosophie soll also dadurch völlig erledigt werden, dass Wittgenstein einen Kategorienfehler nachzeichnet und nachweist, dass philosophischer Zweifel als praktisch nicht gelebter Zweifel bedeutungsmäßig einfach leer ist. Ist der unterstellte Kategorienfehler tödlich? Moyal-Sharrock stuft ihn so ein, da Wittgenstein den Kategorienfehler aufzeigt und seine Genese nachzeichnet. „[Wittgenstein] dissolves the problem of doubt-scepticism, by identifying the conceptual misunderstanding – the category mistake – that gives rise to it, and he explains why this category mistake is (so easily) made […] thereby rebutting skepticism“ (Moyal-Sharrock 2007, S. 163). Sie meint hier die Verwirrung von grammatischen Sätzen – die sie in Bezug auf ÜG § 341 auch hinge-propositions nennt – und Erfahrungssätzen, die auch oben als Teil der ordnenden Lesart besprochen wurde. Sie argumentiert, dass die Möglichkeit eine philosophische Idee auf einen Kategorienfehler zu reduzieren, wenn sie nun kombiniert wird mit der Möglichkeit, die Genese des Kategorienfehlers nachzuzeichnen, in der Notwendigkeit der Reduktion mündet. Das ist schlichtweg falsch. Zum einen impliziert Möglichkeit gerade nicht Notwendigkeit. Zum anderen ist es so, dass prinzipiell diverse inkompatible Reduktionen denkbar sind. Selbst wenn zwei verschiedene

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Möglichkeiten dadurch, dass sie kombiniert werden, eine Notwendigkeit ergeben würden, dann müsste Moyal-Sharrock immer noch nachweisen, dass die Reduktion, die sie anstrebt, die einzige prinzipiell mögliche Reduktion ist, damit sie gewissenhaft von einem fatal blow, grave mistakes und einem rebuttal of skepticism reden kann. Laut Moyal-Sharrock hängen die zwei Todesstöße miteinander zusammen. Zeigt sich also die absolute Schärfe von Wittgensteins Erwiderung, wenn dieser zweite näher beleuchtet wird? Dieser Sieg über den Skeptizismus ergibt sich für Moyal-Sharrock (2007, S. 173) aus Wittgensteins logischem Pragmatismus: „Logical pragmatism is the view that our basic beliefs are a know-how, and that this knowhow is logical – that is necessary to our making sense.“ Wittgensteins Position ist demnach kein Pragmatismus im engen Sinne, weil er nicht Wahrheit und Nützlichkeit gleichsetzt, sondern in einem weiten Sinne: „His viewing meaning in terms of use, his insistence on the anthropological and logical primacy of the deed over the word (’In the beginning was the deed’) and his re-evaluation of some of our words as deeds largely justify his affiliation to broad pragmatism“ (Moyal-Sharrock 2007, S. 172). Moyal-Sharrock betont, dass Wittgenstein somit auch ein Fundamentalist ist, in dem Sinne, dass er den Primat der Praxis affirmiert. „Im Anfang war die Tat“ (ÜG § 402). Dieser „pragmatism with foundations“ (Moyal-Sharrock 2007, S. 172) verhindert nun den Skeptizismus. Ein Versuch, den Skeptizismus abzuwehren, liegt in der Suche nach fundamentalen, selbstverständlich einsichtigen Wahrheiten. Diesen Kandidaten lehnt Wittgenstein ab. „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; – das Ende ist aber nicht, dass uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsrerseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt“ (ÜG § 204). „Unsere Rede erhält durch unsere übrigen Handlungen ihren Sinn“ (ÜG § 229). Moyal-Sharrock rückt Handlungen in den Mittelpunkt, in denen man unreflektiert mit Tisch oder Stuhl umgeht (vgl. PU § 575) oder sprachlich ohne vorhergehende Reflektion ein Handtuch als Handtuch bezeichnet (vgl. ÜG § 510). In diesen Handlungen zeigt sich eine Sicherheit, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie ohne „precursory thought or hesitation“ (Moyal-Sharrock 2007, S. 61) da ist. Wegen dieser Gedankenlosigkeit, so Moyal-Sharrock (vgl. 2007, S.62), kann sie auch mit instinktivem oder automatischem Verhalten verglichen werden. Diese Sicherheit ist für sie ein Vertrauen, das selbst nicht bewusst und positiv als Vertrauen erlebt wird, sondern sich gerade durch die Abwesenheit von Misstrauen auszeichnet. Es ist ein blindes, unbewusstes, zweifelloses Vertrauen, das sich im direkten Ergreifen der Handlungen zeigt. Es handelt sich um „a direct taking-hold or thought-less grasp“ (Moyal-Sharrock 2007, S. 62).

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Dieses blinde Vertrauen darein, dass Stühle einen tragen können, Tische, wenn man sie berührt, relativ hart sind, usw., hat einen logischen Status. Dieses Vertrauen bildet nämlich den Hintergrund für jedes Sprechen: Insoweit die Verständlichkeit der Sätze auf diesem Vertrauen basieren, gehört dieses Vertrauen wesentlich zur Logik. Man kann hier weiterhin von einem know-how sprechen, da die relevanten Gegenstände der Welt sich gerade in dem nichtreflektierten, glatten Umgang mit ihnen zeigen: „Das Kind lernt nicht, dass es Bücher gibt, dass es Sessel gibt, etc. etc., sondern es lernt Bücher holen, sich auf Sessel (zu) setzen, etc.“ (ÜG § 476). Weiterhin charakterisiert Moyal-Sharrock diese Sicherheit als stumm, da sie nicht bedeutungsvoll zur Sprache gebracht werden kann, sondern sich ausschließlich in den ausgeführten Handlungen zeigen kann. Das Verständnis dafür, dass man im zweiten Stock wohnt oder eine Hand hat, zeigt sich gerade nur darin, dass man ohne Misstrauen in den zweiten Stock geht, mit der Hand die Tür öffnet, usw. Die grammatische Sicherheit, dass hier eine Hand ist, sprachlich auszuformulieren, ist laut Moyal-Sharrock unsinnig, da die sprachliche Formulierung keine Funktion im Sprachspiel hat, sondern das Sprachspiel unterbricht. Bedeutung hat aber laut ihr nur das, was einen Gebrauch hat: „Meaning is use – where there is no use, there is no meaning“ (Moyal-Sharrock 2007, S. 66). Wenn ich einer Person beim Zubereiten des Kaffees zur Hand gehe, aber dann den Löffel mit dem Kaffeepulver hinlege, die Hand hochhebe und die Mitteilung mache „Das ist eine Hand; sie kann physikalische Gegenstände ergreifen“, unterbreche ich gerade eines der Sprachspiele, in dem sich eigentlich ausdrücken würde, was es überhaupt bedeutet, eine Hand zu haben. Moyal-Sharrock denkt also im Sinne des pragmatischen Fundamentalismus, dass sämtliche sprachliche Äußerungen mehr oder weniger verfeinerte Formen des praktischen Umgangs mit der Welt sind, sowie, dass sich sprachliche Bedeutung vollkommen aus dem Gebrauch ergibt. In dem Kontext wird dann skeptischer Zweifel an der Existenz der Außenwelt, die ja niemals mehr sein kann als die im praktischen Umgang direkt ergriffene Außenwelt, natürlich leer und unsinnig. Moyal-Sharrock kann damit als Anhängerin der oben in Kapitel 3.3.3 beschriebenen antiskeptischen Strategie verstanden werden, laut welcher der skeptische Graben zwischen Mensch und Welt negiert werden soll, indem die Welt auf die erlebte Welt bzw. die Umgangswelt reduziert wird. Der philosophische Skeptiker, so Moyal-Sharrock (vgl. S. 175 – 176), der sich ohne Misstrauen auf Stühle setzt, Tische und Hände benutzt, Bücher holt usw., aber dann auch philosophischen Zweifel an der Existenz der Welt äußert, zweifelt demnach nicht wirklich, sondern zeigt nur oberflächliches Gebaren des Zweifels. Auch dieser zweite vermeintliche Todesstoß gegen den Skeptizismus ist nicht genügend, da Moyal-Sharrock nicht hinreichend klargemacht hat, dass der logi-

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sche Pragmatismus die adäquate philosophische Position ist. Das liegt schon an einer Unbestimmtheit im Begriff der Praxis. Selbst dann, wenn man so weit geht und den Primat der Praxis anerkennt, dann kann man den Begriff der Praxis auf diverse Weise auslegen. Haben die grundlegenden Praktiken – stark vereinfacht gesagt – einfach die Struktur „Wir Agenten sind interessiert an X und setzen das auf Weise Y um, insofern es möglich ist“ oder haben sie die über die „reine“ Praxis hinausgehende Struktur „Wir Agenten sind interessiert an X und setzen das auf Weise Y um, insofern es möglich ist und insofern wir davon überzeugt sind, dass Z der Fall ist, auch wenn sich Z nicht direkt in der Praxis ausdrückt“? Sind es also „rein instrumentelle“ Praktiken oder sind es Praktiken, die von Agenten ausgeführt werden, die sich an etwas orientieren und vor etwas verantworten, das in gewisser Weise über die schiere Praxis hinausgeht? Moyal-Sharrock könnte potenziell aber nur bei der ersten Auslegung des Begriffs der Praxis erfolgreich sein. Oben in Kapitel 3.3.3 wurde prinzipiell schon dafür argumentiert, dass MoyalSharrocks Begriff der Praxis nicht einfach mit dem Alltagsverständnis gleichgesetzt werden kann, weil in bestimmten Sprachspielen der Anspruch gemacht wird, absolut wirklichen Aspekten des Seins gerecht zu werden, deren Wirklichkeit dem Auftauchen spezifischer Lebensformen und Sprachspiele vorgängig ist. Der Position von Moyal-Sharrock sind einige Feinheiten in der Argumentation Wittgensteins entgegen zu setzen. Wittgenstein identifiziert nicht Bedeutung und Gebrauch. Die paradigmatische Stelle lautet: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung’ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, dass man auf seinen Träger zeigt“ (PU § 43). Wittgenstein kontrastiert hier zwei Weisen, eine Bedeutung zu erklären, die beide prinzipiell gleichermaßen in Ordnung sind: (a) Die Bedeutung eines Namens erklären, indem man auf den Träger zeigt; (b) die Bedeutung eines Wortes durch seine Verwendung erklären. Es ist aus der obigen Diskussion in Kapitel 3.1 klar, dass Wittgenstein die Bedeutung eines Namens nicht mit dem Träger identifiziert. Dementsprechend ist es auch nicht angebracht, Wittgenstein eine Identifikation von Wortbedeutung und Wortgebrauch zu unterstellen. Denn Wittgenstein stellt einen ganz bestimmten praktischen Kontrast zwischen den Fällen a und b heraus: Die Erklärungsweise a funktioniert manchmal, während die Erklärungsweise b sehr häufig funktioniert. Darum – um diesen „bloß quantitativen“ Unterschied – geht es. Es geht Wittgenstein nicht darum – in quasi-metaphysischer Art und Weise – den absoluten Urquell der Wortbedeutung zu entdecken und mit dem Gebrauch zu identifizieren. Es geht lediglich darum, einen praktischen Ansatzpunkt zu finden, an dem sich die Bedeutung eines Wortes verlässlich aufklären lässt. (So wie ein wildes Tier, das sich möglicherweise am

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besten bei den Hörnern packen lässt, so dass es kontrolliert werden kann, nicht mit den Hörnern identisch ist, so ist auch die Bedeutung eines Worts nicht mit dem Gebrauch identisch. Der Gebrauch ist lediglich der im Normalfall praktischste Ansatzpunkt.) Dementsprechend betont Wittgenstein, dass die Erklärung der Bedeutung über die Verwendung in einer großen Klasse der Fälle funktioniert, aber nicht in allen Fällen: So können z. B. die Bedeutungen der gewöhnlichen Farbwörter den Farbblinden nicht über die Erklärung der Verwendung der Begriffe vermittelt werden (vgl. BÜF § 77). Die „vorsprachliche“ Weise des sinnlichen Bezugs auf die Welt, die beim Farbblinden anders ist, hat eben auch elementaren Anteil an der Bedeutung der Farbwörter. Wittgenstein betont die Vielfalt der Verstehensweisen und warnt vor der willkürlichen Privilegierung bestimmter Aspekte des Sprechens. „Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen“ (PU § 593). Moyal-Sharrock entwickelt ihre Position an Beispielen wie dem gelingenden praktischen Umgang mit Tisch, Tür, Treppe und Stuhl, der sich dadurch auszeichnet, dass man den Widerstand des Materials berücksichtigt usw. Aus diesen fundamentalen Umgangsformen entstehen dann für sie alle verfeinerten Weltbezüge. Wenn man sich auf solche Beispiele stützt, dann ist die Zurückweisung des Skeptizismus als per se unsinnig in sich stimmig, da kein greifbarer Unterschied besteht zwischen einer „illusionären“ Tür, die ihren praktischen Dienst tut, und einer „realen“ Tür, die ihren praktischen Dienst tut. Die Tür ist eben genau dann eine wirkliche Tür, solange sie ihren Dienst tut. Das Ereignis des Türöffnens ist „selbst-ständig“: Die Wirklichkeit des erfahrbaren Türöffnens hängt von keiner prinzipiell unzugänglichen weiteren Wirklichkeit ab. Ein ganz anderes Beispiel, das dem Roman Der Idiot (1996) von Dostojewski entnommen ist: Gawrila Ardalionowitsch werden vom reichen Adeligen Afanassij Iwanowitsch Tozkij 75.000 Rubel angeboten, falls er Nastassja Filippowna Baraschkowa heiratet, die von Tozkij als Jugendliche missbraucht wurde. Gawrila verachtet Nastassja und wird von ihrem chaotischen und gehässigen Verhalten abgeschreckt, wird aber auch von dem Geld gelockt. Verliebt ist Gawrila in Aglaja Iwanowna Jepantschin. Er will sich aber noch nicht für Aglaja entscheiden, solange die Heirat gegen Geld für ihn noch eine realistische Option ist. Aglaja würde prinzipiell in Erwägung ziehen, Gawrila zu heiraten: Aber nur dann, wenn Gawrila im letzten Entschluss freiwillig die Heirat gegen Geld mit Nastassja ablehnt. Als nicht eigentlich freiwillig würde Aglaja die Entscheidung einstufen, wenn Berechnungen Gawrilas dahinterstehen – wenn Gawrila also z. B. nur deshalb auf die Hochzeit mit Nastassja verzichtet, weil er sich sogar bei einer zunächst geschlossenen Heirat doch keine so guten finanziellen Chancen ausrechnet.

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Nehmen wir an, dass Gawrila nun nach der Phase des Hinauszögerns Nastassja schlussendlich zurückweist und zustimmt, Aglaja zu heiraten. Es gibt nun keine hinreichend klaren Kriterien, um zu entscheiden, ob Gawrila im gewünschten Sinne freiwillig zur Hochzeit mit Aglaja zustimmt, oder ob es doch Kalkül ist, da er z. B. vernünftelt, dass eine Hochzeit mit einer psychisch kranken, gehässigen Frau auch finanziell zu unsicher ist. Für Aglaja kommt es bei der Praxis des Zustimmens zur Hochzeit also auf Gawrilas freie ethische Haltung an – misst Gawrila frei und selbständig seiner Liebe zu Aglaja oder seiner Liebe zum Geld letztendlich mehr Wert zu? Diese ethische Haltung deutet sich aber nur in der Praxis an und zeigt sich nicht restlos in ihr. Die Praxis zeigt bestenfalls nur, dass Gawrila prinzipiell zu beiden Werten hingezogen ist und beide Arten der Liebe in ihm wirken. Ein Mensch in einer Situation wie Aglaja ist dazu gezwungen, entweder zu vertrauen, dass die Entscheidung für sie dann doch „freiwillig“ geschieht oder nicht zu vertrauen. Aber die relevante Wirklichkeit, die anzeigt, ob es sich wirklich um eine im gewünschten Sinne freiwillige Handlung handelt, ist prinzipiell geheimnisvoll entzogen. Die Reflexion über die Grammatik zeigt hier also zwei verschiedene Arten der Praxis.Wenn es um den praktischen Umgang mit Türen, Tischen und Tassen geht, dann wird in der Praxis nicht auf eine prinzipiell entzogene Wirklichkeit Bezug genommen. Wenn es um den praktischen Umgang mit Menschen in ethisch-relevanten Kontexten geht, dann hängt es von prinzipiell entzogenem Kontext ab, wie eine bestimmte Handlung/Entscheidung zu begreifen ist. Es ist nun eine klassische philosophische Verwirrung, wie Wittgenstein sie überwinden will, wenn die zweite Art der Praxis nach der Art der ersten gedacht wird, wie es MoyalSharrock jedoch tut. Moyal-Sharrock modelliert das Verständnis ethischer Herausforderungen nach dem Verständnis des Umgangs mit praktischen Gebrauchsgegenständen und verfehlt so das Ethische in seiner Eigentlichkeit. Wittgenstein vergleicht die grammatischen Sätze mit einer Offenbarung Gottes, der als absoluter Standard die Gewissheiten vermittelt, die durch Erfahrungen nicht anzutasten sind. „Ich könnte aber auch sagen: Es ist mir von Gott geoffenbart, dass das so ist. Gott hat mich gelehrt, dass das mein Fuß ist“ (ÜG § 361). Wittgenstein warnt nun davor, daraus, dass die grammatischen Gewissheiten sozusagen „subjektiv unantastbar“ sind, abzuleiten, dass sie Wirklichkeiten ausdrücken, die erst vom Menschen geschaffen werden. „Denn dann ist es, als wollte ich versichern, dass es Dinge gibt, die ich weiß. Worüber Gott selber mir nichts erzählen könnte“ (ÜG § 554). Wenn man also aus dem Feststehen der grammatischen Sätze durch die menschliche Praxis schließt, dass die grammatischen Sätze der Autorität der menschlichen Gemeinschaft unterstehen, dann „erschein[en] [sie] in einem falschen Lichte“ (ÜG § 554). Die Menschen scheinen

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dann als quasi-göttlicher Standard, durch den zu entscheiden ist, was wirklich ist und was nicht. Moyal-Sharrock geht nun durchaus nicht so weit, Menschen eine quasigöttliche Macht zuzuschreiben, weil es nicht der Fall ist, „that [our grammatical propositions] are under our control“ (Moyal-Sharrock 2007, S. 179). Menschen können nicht willkürlich kontrollieren, welche grammatischen Gewissheiten in einer Sprachgemeinschaft akzeptiert werden. Dennoch fordert sie eine Humanisierung der Logik, insofern anerkannt werden soll, dass es gerade erst die menschliche Praxis ist, die Bedeutung und bedeutete Wirklichkeit kreiert. Logik hat demnach keinen absoluten Status mehr, sondern logisch ist das, was in einer sprachlich geprägten Lebensform als Gewissheit von Menschen anerkannt wird oder nicht: Zur Logik gehören dabei, wie gesagt, nicht nur Regeln im engeren Sinne, sondern auch Tatsachen – z. B. das Existieren der Außenwelt, von physikalischen Gegenständen, usw. Diese Tatsachen gelten aber nicht als absolut wirklich, da sie von der Sprachgemeinschaft abhängen. Moyal-Sharrock plädiert für Objektivität ohne Absolutismus. Das nichtmenschliche Außersprachliche kommt bei Moyal-Sharrock nur als unbestimmte, unbestimmbare Art Kraft vor, welche die Willkür des Menschen beschränkt. Bei Wittgenstein hingegen wird das nichtmenschliche Außersprachliche gerade über das Bild von Gott gefasst, der unabhängig da ist und Standards setzt. Laut der ordnenden Lesart vermeidet Wittgenstein also die „verzerrenden“ Extreme und versucht das, was wir Wirklichkeit nennen, weder einfach in „das Innere“ noch in „das Äußere“ zu verlagern. Menschliches Leben bewegt sich gerade im Spannungsfeld zwischen äußeren Maßstäben, die anzuerkennen sind, und kreativem Umgang mit ihnen. So ist der „offenbarende Gott“, welcher die Grammatik offenbart, eben auch immer noch so einer, zu dem Menschen bzw. Sprachgemeinschaften eigenständige Haltungen einnehmen können. Wittgenstein weist darauf hin, dass, wenn es zu Konflikten zwischen Sprachgemeinschaften, die verschiedenen Grammatiken anhängen, kommt, eine dezidiert ethische Dimension involviert ist. Der Andere sollte, wenn er nicht verstehensmäßig radikal defizitär ist, die adäquate Grammatik eigentlich anerkennen – tut er dieses nicht, dann ist das ein ethischer Fehler. „Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen können, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer“ (ÜG § 611). Es sind also verschiedene Ebenen zu unterscheiden – es gibt mindestens (a) die Wirklichkeit, wie sie für die Lebenspraxis in Form grammatischer Regeln offenbart wird, die nicht willkürlich von Menschen ergriffen werden, sondern immer schon als vor-gängiger Hintergrund da sind, (b) die unabhängige Wirklichkeit, die durch die Grammatik offenbart werden soll, und welcher die Grammatik gerecht werden soll, sowie (c) den teilweise möglichen kreativen menschlichen Umgang

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mit diesen grammatischen Regeln, der gerade deshalb möglich ist, weil zwischen (a) der offenbarenden Grammatik und (b) der offenbarten Wirklichkeit eine prinzipielle Distanz besteht. Der kreative Umgang mit der Grammatik ist dabei nämlich auch darauf ausgerichtet, die Grammatik gerade so zu modifizieren, dass sie der zu offenbarenden Wirklichkeit noch besser gerecht wird. (Der kreative Umgang mit der Grammatik ist nur begrenzt möglich, insofern es jetzt z. B. nicht einsichtig ist, dass eine Sprachgemeinschaft auf den Satz, dass es (materielle/physikalische) Gegenstände gibt, verzichten könnte. Unterschiede in menschlichen Lebensformen zeigen jedoch, wo grammatische Modifikation durchaus möglich ist.) Insofern Wittgenstein in früher und später Philosophie wieder das Bild Gottes oder des Vaters wählt, denkt sich Wittgenstein die absolute Wirklichkeit also bildhaft nach einer Person, mit der man kommunizieren kann. (Dennoch geschieht in der Kommunikation nur eine untergeordnete Einflussnahme, welche die absolute Autorität wahrt – man denke als Bild an die Passagen in der Bibel, in denen Moses mit Gott diskutiert (vgl. Ex 32,9 – 14), dabei aber nur mit Prämissen argumentiert, die ihm zuvor von Gott vermittelt wurden.) Kurz gesagt: Wittgenstein verortet den Menschen immer in so einer Weise, dass versucht wird, sowohl den Menschen, insofern er kreativ ist, zu berücksichtigen, aber auch insofern er vor absoluten Maßstäben Verantwortung trägt. Das Gewicht in die eine oder andere Richtung zu kippen, wäre eine unordentliche Verwirrung. Den Versuch, das Bild Gottes im Sinne der traditionellen Philosophie transparent zu machen, unternimmt Wittgenstein nicht. Die Aufgabe der philosophischen Reflexion besteht darin, zu klären, dass ein Bezug aufs Außersprachliche Teil gewisser sprachlicher Praktiken ist, wobei das Außersprachliche bildhaft als erziehende Autorität gefasst werden kann. Die Aufgabe der Philosophie im Sinne Wittgensteins ist es nicht, diese Aspekte der Praxis oder Bilder zu begründen. Die Aufgabe der persönlichen Einordnung in das Seiende geht ebenfalls über die Aufgabe der Philosophie hinaus.

3.4.2 Vertrauen: Klärend vs. Ordnend ausgelegt Für Moyal-Sharrock (2007, S. 181– 201) ist es wichtig, das Vertrauen in die Grammatik als Ur-Vertrauen von sekundärem Vertrauen abzugrenzen. Sekundäres Vertrauen wird erst auf der Grundlage von Reflexion gewonnen: Dies geschieht, wenn man sich z. B. entscheidet, eine Person aufgrund ihres vergangenen Verhaltens als vertrauenswürdig einzuschätzen. Es wäre ebenfalls sekundäres Vertrauen, wenn man sich nach einer Reflexion entscheidet, einer Person Vertrauen zu schenken, obwohl sie sich noch nicht als vertrauenswürdig gezeigt hat oder sogar Vertrauen enttäuscht hat.

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Ur-Vertrauen steht vor diesem Vertrauen und macht dieses erst möglich. Am klarsten zeigt es sich in Säuglingen und ihrem sub-kognitiven Umgang mit der Welt. Das Ur-Vertrauen ist nicht kognitiv, nicht affektiv und auch nicht konativ, sondern so grundlegend, dass es vor den genannten weiteren Differenzierungen steht. Das Ur-Vertrauen ist automatisch, reflexhaft, gedankenlos, unreflektiert, instinkthaft, „glatt“, direkt-ergreifend, nicht berechnend. „An infant’s groping for his mother’s breast questions nothing and, looking at its reflection in the mirror, does not wonder that it is but simply reaches out. Ur-trust is the prime mover“ (Moyal-Sharrock 2007, S. 200). Ohne die „Glattheit“, welche vom Ur-Vertrauen bedingt wird, könnten gar keine Handlungen oder Denkprozesse stattfinden, da sich bei jedem „Schritt“ Zweifel und Gräben auftun würden. In der ordnenden Lesart wird zugestimmt, dass es so ein vor-jeder-Reflexionstehendes, dezentes, gedankenloses Ur-Vertrauen gibt. Es ist eine äußerst gewinnbringende Leistung von Moyal-Sharrock (2007) die verschiedenen Aspekte des Ur-Vertrauens klar herauszuarbeiten. Dadurch, dass das Ur-Vertrauen so dezent und „glatt“ ist, entsteht leicht der verwirrte Eindruck, es wäre eigentlich gar nicht da. Es gibt nun aber – im Gegensatz zur Position von Moyal-Sharrock – laut der ordnenden Lesart keinen guten Grund, anzunehmen, dass in allen für Wittgensteins Philosophieren relevanten Sprachgemeinschaftenff das Ur-Vertrauen nicht das Vertrauen in eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit, im oben in Kapitel 3 ausgearbeiteten Sinne, einschließt. Vielmehr steht, wie oben argumentiert, hinter der Reduktion der Welt der Alltagssprache auf die intersubjektiv-kreierte Welt ein nicht hinreichend begründeter, voreiliger (Fehl‐)Schluss. Warum soll, noch einmal kurz wiederholt, die Welt nicht einfach auf die erst intersubjektiv-kreierte Welt reduziert werden? Weil in der Alltagssprache ethische Positionen als absolut gültig vertreten werden. Absolute Gültigkeit heißt aber, dass die Gültigkeit nicht erst durch eine spezifische Sprachpraxis kreiert wird. (Der Holocaust wäre auch dann absolut falsch, wenn alle Menschen einer Gemeinschaft eine Sprachpraxis verwirklichen, in welcher Juden nicht als Menschen, sondern als zu-eliminierende Untermenschen oder Unmenschen behandelt würden. Die Tatsache, dass nicht alle Menschen in ihren ethischen Wertungen übereinstimmen, bedeutet nicht, dass ethische Wertungen nicht absolut gültig sind, sondern bedeutet schlimmstenfalls nur, dass einige – oder prinzipiell auch sämtliche – Sprachgemeinschaften falsch liegen. Relevant für die Erfassung der Grammatik ist jedoch, dass das Richtigliegen ernstlich angestrebt wird.) In seiner Lecture on Ethics verteidigt Wittgenstein absolute Werturteile gegen den Vorwurf, sie seien nicht als absolute Urteile ernstzunehmen, da sie nicht die Form wissenschaftlicher Aussagen über Fakten haben.

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Die Reduktion führt weiterhin zu dem unzulänglichen Ergebnis, dass die Möglichkeit bewusstseinsloser Androiden/„Zombies“ in regulärer Menschengestalt als unsinniger Skeptizismus zurückgewiesen wird, mit der Begründung, dass in unserer Sprachpraxis als Mensch eben jener zählt, der sich äußerlich wie einer benimmt. Hacker (vgl. 1993, S. 80 – 81) argumentiert in dem Kontext explizit dafür, dass, wenn es zu einer technischen Revolution kommt und hochentwickelte Androiden in die Gesellschaft integriert werden, es schlicht unsere Entscheidung sein wird, ob diese Androiden Bewusstsein haben oder nicht haben. Etwas jenseits der spezifischen Sprachpraxis Seiendes, das in dieser anerkannt werden müsste, wird nicht gewürdigt. In ähnlicher Weise argumentiert Richard Rorty (1989, S. 15): „To say that a given organism has a mind is just to say that, for some purposes, it will pay to think of it as having beliefs and desires.“ Rorty beschränkt die relevante Wirklichkeit ebenfalls auf die Sprachpraxis. Warum ist diese Beschränkung unzulänglich? Weil sie eine Modifikation der Alltagssprache ist, in welcher absolute Urteile, die sich auf eine existenzmäßig unabhängige Wirklichkeit beziehen, vorkommen. Warum soll die Sprachpraxis nicht modifiziert werden? Weil sie laut Wittgenstein der Ur-Grund des Verstehens ist, der durch natürliches Ur-Vertrauen anerkannt wird: Jede Modifikation der Ur-Form des Verstehens ist nun daher unzulänglich, weil sie willkürlich und begründungsmäßig gewissermaßen zufällig ist. Wenn die klärenden Interpreten wirklich so eklatant gegen das Alltagsverständnis verstoßen, dann entsteht die Frage, wie es passieren kann, dass das Alltagsverständnis von ihnen derartig blockiert wird. Das Ur-Vertrauen erklärt nun wiederum auch, lässt sich wenigstens vermuten, warum die klärenden Interpreten in der philosophischen Reflexion derart stark gegen das Alltagsverständnis verstoßen können, dass sie sogar eine philosophische Darstellung des Alltagsverständnisses akzeptieren, in welcher der Unterschied zwischen Menschen mit Bewusstsein und bewusstseinsleeren Automaten nicht mehr philosophisch eingeholt werden kann. Das sub-kognitive, reflexhafte, völlig glatte Ur-Vertrauen in die Wirklichkeit des Bewusstseins der Anderen ist eigentlich so fest und tief, dass sogar eine philosophische Reflexion, in welcher das Bewusstsein der Anderen flüchtig wird, keine Irritation bei den entsprechenden Philosophen hervorruft, da sie tief gar nicht wahrgenommen wird. Das UrVertrauen ist laut Wittgenstein sozusagen eine Schicht unter dem reflektierten Denken. So ähnlich wie in einem Haus das, was auf dem Dachboden geschieht, im Regelfall keinen Einfluss auf das hat, was im Keller geschieht, so bleibt das UrVertrauen von der philosophischen Reflexion unbeeindruckt. Selbst wenn auf dem Dachboden die Wirklichkeit des Kellers verneint wird, bleibt das für den Keller ohne Belang: Er „trägt“ den Rest des Hauses inklusive Dachboden weiterhin.

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Ein verwandter Fall: In der Alltagspraxis macht man einen Unterschied zwischen freiwilligen Handlungen und nicht freiwilligen Handlungen. Ein normaler Mensch, der mordet, handelt freiwillig. Daher wird er gerügt und lädt moralische Empörung ein. Ein wilder Bär, der einen Menschen tötet, so das Alltagsverständnis, tut das nicht freiwillig und lädt daher auch keine moralische Entrüstung ein. Wenn nun Menschen in der philosophischen oder wissenschaftlichen Reflexion zu dem Ergebnis kommen, dass der freie Wille eine Illusion ist, dann müsste das, von einem bestimmten Gesichtspunkt aus, der Kohärenz zwischen Lebenspraxis und rationaler Lebensdeutung fordert, eigentlich ihr Alltagsverständnis und die damit verbundene Alltagspraxis revolutionieren. Menschliches Verhalten wird dann ja, wenigstens in der philosophischen Reflexion, dem Verhalten des unfreien und amoralischen Tieres angenähert. Sobald die Überzeugung einsetzt, dass es keinen freien Willen gibt, müssten alle damit verbundenen moralischen Wertungen sofort versiegen. Obwohl nun aber sehr viele Menschen aus philosophischen Gründen den freien Willen verneinen, so ändern sie dennoch ihre Praxis der moralischen Wertung gerade nicht, die ja laut der Reflexion bloß auf schieren Illusionen beruht. Warum diese scheinbare Leichtigkeit, mit der bei diesen Menschen die ganze Lebenspraxis auf Illusionen gestellt wird? Das könnte daran liegen, dass ihr sub-kognitives Ur-Vertrauen in die Freiwilligkeit menschlicher Handlungen so groß ist, dass es nur eine relativ oberflächliche Störung hervorruft, wenn die Freiwilligkeit, der fest ur-vertraut wird, in der rationalen Reflektion verneint und als Illusion umgedeutet wird. Letztendlich, auf der tiefsten Ebene des Ur-Vertrauens, die alle weiteren Schichten des Verstehens trägt, glauben diese Denker eben nicht, dass es sich um Illusionen handelt. Ironischerweise ist es gerade so, dass sie in die Illusion, den freien Willen für eine Illusion zu halten, geraten. Die klärenden Wittgensteinianer geraten in analoger Weise in die Illusion, die von der Sprachpraxis unabhängige Welt für eine grammatische Illusion zu halten. Im Alltag und der philosophischen Reflexion schwankt es von Kontext zu Kontext, wo das Ich aufhört und wo die Umwelt anfängt. Die Grenzziehung ist also flexibel. Diese flexible Grenzziehung stiftet nun auch in der philosophischen Reflexion der Wittgensteinianer Verwirrung. Eine prinzipiell mögliche Erklärung für die Weltvergessenheit der Wittgensteinianer: Da in der vorphilosophischen Praxis, je nach Kontext, Teile der Außenwelt als Teile des Ichs betrachtet werden können, lässt sich in der philosophischen Reflexion der Wittgensteinianer leicht der Sprung machen, die externe Welt an sich kategorisch völlig in die Welt, die sich innerhalb der Sprachpraxis ergibt, „hineinzuziehen“. Beispiel 1: Träume lassen sich als Teil des Ichs aber auch als Teil der Umwelt betrachten. Descartes (2008) z. B. betrachtet Träume als Teil des Ichs, da, so seine Begründung, die Träumenden den Traum manchmal zeitweise mit der öffentli-

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chen Außenwelt verwechseln. Carl Gustav Jung (1970, § 317) betrachtet den Traum als objektives Naturereignis und somit als Teil der Umwelt, weil Träume nicht der Willkür des Träumenden unterstehen und somit im Traum Kräfte wirken, die nicht mit dem Träumenden identifiziert werden können. Descartes und Jung nutzen implizit also andere Kriterien, um Ich und Umwelt voneinander abzugrenzen. Beispiel 2: Menschliche Taten eines Handelnden lassen sich als Auswirkung des Ichs oder auch als Auswirkung der Umwelt begreifen. Wenn in einem Kriminalfall diskutiert wird, ob ein Verbrecher schuldfähig ist oder nicht, da er z. B. an einer Störung des Gehirns leidet, dann lässt sich so argumentieren, dass das Verbrechen nicht eigentlich von der Person selbst begangen wurde, sondern, dass nicht die Person selbst, sondern die Gehirnstörung, die nicht mit der Person identisch, sondern ihr äußerlich ist, wirkte. Unabhängig davon, wie man solche Situationen im Detail analysiert, ist klar, dass hier verschiedene Grenzziehungen zwischen Ich und Umwelt prinzipiell möglich sind. Beispiel 3: Auf körperlicher Ebene ist die Grenzziehung auch flexibel. Nehmen wir an, dass etwa 2 kg des Körpergewichts eines Menschen durch Bakterien bedingt werden. Man kann diese Bakterien – je nach Kontext – sowohl als Teil des Körpers betrachten, wie auch als Teil der Umwelt, in welche der menschliche Körper integriert ist. Ein Herzschrittmacher kann als Teil des Körpers betrachtet werden oder als etwas, das dem Körper äußerlich ist. Beispiel 4: Das Ich lässt sich durch Handlungsmacht von der Umwelt abgrenzen oder durch bestimmte wesenhafte Eigenschaften. Wenn man das Ich dort sucht, wo man Handlungsmacht hat, dann will man vielleicht sagen, dass bestimmte eigene Taten – das Trinken von Kaffee, das Öffnen des Fensters usw. – zum Ich gehören, da man diese Taten selbst hervorgebracht hat. Dass man überhaupt Sprache hat, körperlich und psychisch da ist, würde dann aber nicht mehr zum eigenen Ich gehören, da man diese „wesentlichen Eigenschaften“ nicht selbst zu verantworten hat, da man sich ja nicht selbst erschaffen hat, sondern sich irgendwann schlichtweg in derartiger Weise vorgefunden hat. Die Unschärfe, die sich aus solchen möglichen Grenzziehungen ergibt, zeigt sich bei bestimmten philosophischen Positionen. Ein Vertreter einer Form des transzendentalen Idealismus könnte argumentieren, dass die erlebte Welt erst vom Subjekt selbst erschaffen wird. Wenn man Ich und Handlungsmacht identifiziert, dann müsste dieses welterschaffende Subjekt Teil der Außenwelt sein, da man ja nicht bewusst und kontrolliert und willkürlich die erlebte Welt erschafft. Wenn man diese strikte Identifikation nicht vornimmt, dann eröffnen sich prinzipiell wieder Grenzziehungen, die es erlauben, diese Art von Subjekt nicht der Außenwelt zuzuordnen. Im Gegensatz zum Selbstbild der Wittgensteinianer ist ihre Philosophie weiterhin nicht völlig anti-kartesianisch, sondern kann in weiten Teilen als evolvierte Form tradierter kartesianischer Grundüberzeugen aufgefasst werden.

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Die klärenden und resoluten Interpreten sind sicherlich anti-kartesianisch, insofern sie den Geist nicht als privaten Innenraum auffassen. Damit ist aber noch nicht alles gesagt. Descartes (2008) zeichnet sich dadurch aus, dass er ein starkes Sicherheitsbedürfnis hat, das darin resultiert, dass er nur das als wirklich akzeptieren will, was er aus gegebener Evidenz herleiten kann. Er will das Seiende auf das beschränken, was ihm präsent ist. Wenn Wirklichkeiten anerkannt werden, die das unmittelbar Gegebene überschreiten, dann nur solche, die sich logisch streng aus dem hier Gegebenen herleiten lassen. Das Seiende soll vollständig im Hier-Seienden, Hier-Behandelbaren aufgehen. Die Wittgensteinianer weisen nun diesen spezifischen Ansatz zurück. Wittgenstein geht ja auch immer wieder darauf ein, dass die Versuche einer logisch lückenlosen Letztbegründung wahrer Sätze aus unmittelbarer Evidenz in einen infiniten Regress führt. Aber wie fahren die Wittgensteinianer weiter fort? Verabschieden sie sich von der – vom Wunsch nach Sicherheit getragenen – Forderung des Descartes, die gesamte Wirklichkeit im Hierseienden und dem lückenlos daraus Herleitbaren zu versammeln, oder versuchen sie die Forderung auf andere Weise umzusetzen und vielleicht eine „zweitbeste“ Lösung zu erzielen? Ihre Philosophie könnte jedenfalls so gedeutet werden: Wenn sich die gesamte Wirklichkeit nicht kohärent aus dem Hier-Seienden kontrolliert herleiten lässt, dann – so der Gedanke – muss die Wirklichkeit einfach mit der hier-seienden Sprachpraxis identisch sein. Die Wirklichkeit im hier-gegeben-seienden Sprachgebrauch zu verorten, ist dann – wenn man gewissermaßen ein enttäuschter Anhänger der Grundrichtung des Descartes ist – die zweitbeste Lösung. Das kartesianische Bedürfnis nach Sicherheit wird befriedigt, indem die Wirklichkeit des nicht-Präsenten einfach verneint wird. Es drängt sich also die Frage auf: Ist die Reduktion der Welt auf die intersubjektiv kreierte „innersprachliche“ Welt das Äquivalent zur Reduktion der gültigen/wahren Sätze auf die letztbegründbaren Sätze? Sind beide Reduktionen überspannte Weisen des Suchens nach totaler Sicherheit, die sich als Reaktion aus einer partiellen Erschütterung des Ur-Vertrauens ergeben haben? Bezogen auf Moyal-Sharrock (2007) bedeutet das, dass sie – obwohl sie betont, dass das grundlose, ungesicherte Ur-Vertrauen die Grundlage von allen Verstehensprozessen ist – schnell wieder in ein kartesianisches oder quasi-kartesianisches oder post-kartesianisches Absicherungsdenken zurückfällt. Das Vertrauen in prinzipiell entzogene Wirklichkeiten ist für das kartesianische Sicherheitsbedürfnis zu gewagt, so dass – so die „Unterstellung“ – die Wirklichkeit auf die unmittelbar hier in den sozialen Praktiken erscheinende Wirklichkeit reduziert wird.

3.5 Natürliches und religiöses Vertrauen

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3.5 Natürliches und religiöses Vertrauen Bislang wurde argumentiert, dass die Metaphysik für Wittgenstein ein Irrweg ist, da sie eine rational-eigentlich-willkürliche Abweichung vom Alltagsverständnis und dem damit einhergehenden Ur-Vertrauen ist. Er hingegen versucht die urvertrauten Sprachregeln wieder bewusst zu machen und so die Metaphysik als Verwirrung der Regeln aufzuzeigen. Das ist für Wittgenstein aber kein hinreichender Beleg dafür, dass wiederum seine Methode richtig und sozusagen wahr ist. Selbst wenn jeder Verstehensprozess an das grundlose Ur-Vertrauen rückgebunden bleibt, heißt das ja nicht, dass man keine ironisch-distanzierte Haltung zu diesem einnehmen darf. Es ist möglich, dass darin gerade eine fortschrittliche Emanzipation besteht. Daher fragt Wittgenstein: „Ist, was ich tue, überhaupt der Mühe wert? Doch nur, wenn es von oben her ein Licht empfängt. […] Ist das Licht von oben nicht da, so kann ich ja doch nur geschickt sein“ (VB, S. 531– 532). Die Geschicktheit und intellektuelle Leistung von seinen möglichen Lösungswegen stellt Wittgenstein nicht in Frage. Wohl aber die Gültigkeit seiner Lösungen. Was hat es nun mit diesem Licht von oben auf sich? Es ist kein gewöhnliches Licht, da Wittgenstein nicht sagen kann, ob es seine Arbeit erleuchtet oder nicht. Bei Lichtquellen wie Schreibtischlampen oder Kerzen stellt sich die Frage nicht: Es ist leicht festzustellen, ob sie leuchten und bestimmte Objekte erhellen oder nicht. Die Weise des Leuchtens dieses Lichts, die Wittgensteins Methode sichern könnte, ist also herauszuarbeiten. Die Frage nach dem Licht von oben wird hier zusammengedacht mit einer Bemerkung Wittgensteins, die impliziert, dass er philosophische Probleme aus einer religiösen Perspektive betrachtet hat: „I cannot help seeing every problem from a religious point of view“ (Drury 1984, S. 79). Zu diesem Zwecke wird nun noch einmal auf Wittgensteins Bemerkungen über die Religion in seiner Spätphilosophie eingegangen, um dann bestimmen zu können, wie er sich die kohärente Absicherung seiner metaphysikkritischen Methode vorstellt. Wittgensteins philosophische Reflexion über die Religion nimmt wieder bestimmte Verwirrungen als Anlass.

3.5.1 Verwirrung: Religiöse Sätze beziehen sich auf Gegenstände und Ereignisse wie Erfahrungssätze Die von Wittgenstein besprochene Verwirrung lautet: Religiöse Sätze beziehen sich in der gleichen Weise auf die Welt wie Sätze über (a) Gegenstände in der näheren Umgangssphäre wie Flugzeuge und Menschenkörper oder Sätze über (b) natürlich erforschbare vergangene oder zukünftige Ereignisse.

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Religiöse Sätze werden jedoch in der Tat anders begründet als Sätze über Gegenstände in der Umgangssphäre. Wenn sich zwei gewöhnliche Menschen darüber uneins sind, ob über ihnen ein Flugzeug fliegt, dann sind doch ihre „Meinungen ziemlich dicht beieinander“ (VR, S. 75), weil sie darin übereinstimmen, welche Evidenz die Meinungsverschiedenheit klären könnte. Die Sicht durch das Fernglas oder das Konsultieren einer FlightTracker-App wären z. B. möglich. Bei Auseinandersetzungen über religiöse Sätze identifiziert Wittgenstein eine „enorme Kluft“ (VR, S. 75), die darauf zurückgeht, dass keine gemeinsame Evidenz anerkannt wird. „Diese Auseinandersetzungen sehen ganz anders als normale Auseinandersetzungen aus. Die Begründungen sehen ganz anders aus als normale Begründungen“ (VR, S. 78). Der eine verweist bei der Frage, warum er an das Jüngste Gericht glaubt, vielleicht auf einen heiligen Text oder einen Traum, während der Andere dieses für völlig irrelevant hält. Dass religiöse und „profane“ Sätze in der Tat anders begründet werden, das heißt, dass sie andere logische/ grammatische Formen haben. Religiöse Sätze setzen außerdem Kräfte für Taten frei, die wissenschaftliche Sätze nicht freisetzen. Der Gläubige „riskiert um [des Glaubens] willen etwas, das er nicht für etwas riskieren würde, das für ihn weit besser gesichert ist. Obwohl er zwischen gut gesicherten und weniger gut gesicherten Dingen unterscheidet“ (VR, S. 76). Menschen entscheiden sich für ein asketisches Leben im Kloster, z. B. um einer Strafe während des Jüngsten Gerichts zu entgehen, wohlwissend, dass im wissenschaftlichen Sinne derartige Vorhersagen viel weniger sicher sind als die Vorhersage, dass bei bestimmten zweckrationalen Verhaltensweisen verschiedene Freuden ausgekostet werden können. „Ein Mensch würde um sein Leben kämpfen, um nicht in das Feuer gezogen zu werden. Keine Einziehung. Schrecken. Das ist sozusagen Teil des Wesens des Glaubens“ (VR, S. 79). „Selbst wenn es [für die Auferstehung von Jesus] genauso viele [wissenschaftliche] Beweise wie für Napoleon gäbe. […] [D]ie Unanzweifelbarkeit würde nicht ausreichen, mein ganzes Leben zu ändern“ (VR, S. 80). Dass religiöse und naturwissenschaftliche Sätze zu anderen Verhaltensformen motivieren, das zeigt, dass sie andere logische/ grammatische Formen haben.

3.5.2 Verwirrung: Religiöse Sätze sind nicht vernünftig und somit in defizitärer Weise unvernünftig. Unvernunft ist ein Defizit in einer Sache, bei der Vernünftigkeit angestrebt wird. Insofern will Wittgenstein Religion zwar als nicht vernünftig, jedoch nicht als unvernünftig fassen. „Sehr gescheite und gebildete Leute glauben an die Schöpfungsgeschichte der Bibel, und andere halten sie für erwiesenermaßen falsch, und

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diese Gründe sind jenen bekannt“ (ÜG § 336). Der Gläubige tritt an religiöse Sätze nicht im Modus des vernünftigen Gründegebens heran. Wittgenstein sagt: „Ich möchte sagen: sie behandeln das nicht als eine Sache von Vernünftigkeit“ (VR, S. 81). In dem Sinne betont auch der griechisch gebildete Paulus, dass er gerade nicht in der Rolle des weisen Philosophen den Christus verkündet, sondern die rationalen Standards der Griechen durch Rückgriff auf die höhere Autorität Gottes als Irrweg zurückweist. „Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? […] [D]ie Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: […] für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1:20 – 24).

3.5.3 Verwirrung: Bilder von Gott bilden Gott ab, so wie Bilder von Pflanzen diese abbilden Zu Bildern gehört immer eine bestimmte Technik der Anwendung. Man kann z. B. wildwachsende Pflanzen verlässlich identifizieren, wenn man eine bestimmte Technik erlernt hat, die detaillierten Zeichnungen mit den Gewächsen zu vergleichen. Es sind nicht die „Farbflecken als solche“, die, unabhängig vom Gebrauch, etwas über die Pflanzenform mitteilen. Wenn nun Michelangelo ein Bild Gottes zeichnet, dann geht dieser, so Wittgenstein, nicht davon aus, dass der „Mann in dem merkwürdigen Laken“ (VB, S. 87) Gott darstellt, so wie eine wissenschaftliche Zeichnung der Pflanze die Pflanze darstellt. Das liegt daran, dass mit dem Bild anders umgegangen wird. Es gibt keine Technik, die darin besteht, verschiedene innerweltliche Gegenstände mit dem Bild Gottes zu vergleichen, um somit Gott zu identifizieren. Wittgenstein weist also darauf hin, dass religiöse Sätze nach dem Vorbild gewisser profaner oder naturwissenschaftlicher Sätze re-konstruiert werden. Nach der Re-Konstruktion erscheinen sie dann als defizitäre Varianten naturwissenschaftlicher oder profaner Sätze. Dadurch wird aber, so Wittgenstein, ihre eigentliche Form verstellt. Nach der weitestgehend negativen Zurkenntnisnahme, dass religiöse Sätze eine andere Form haben, ist zu betrachten, welche spezifischen Charakteristika Wittgenstein positiv in ihnen identifiziert.

3.5.4 Erlösungsbedürfnis Der Anlass für Religion ist laut Wittgenstein ein Mangel, welcher nicht durch eigene Kraft bewältigt werden kann. „Die christliche Religion ist nur für den, der unendliche Hilfe braucht, also nur für den, der unendliche Not fühlt […] Der

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christliche Glaube – so meine ich – ist die Zuflucht in dieser höchsten Not“ (VB, S. 514). Dieser Mangel ist nicht in gewöhnlicher Weise quantifizierbar, sondern so allumfassend, dass er von Wittgenstein als unendlich bezeichnet wird. Es geht also nicht um Mangel an bestimmten wirtschaftlichen Gütern, sozialen Beziehungen oder Gesundheit. Es geht vielmehr um das Wie der existenziellen Grunderfahrung des ganzen Lebens. Aspekte, an denen sich ein aufs Ganze bezogenes Erlösungsbedürfnis zeigt, können z. B. Angst vorm Tod als Ende des ganzen Lebens, Erlebnisse der Ziellosigkeit des ganzen Lebens oder ein Isolationsgefühl sein, das sich auf den allgemeinen Modus des Umgangs mit den Mitmenschen bezieht.Wer sich z. B. in Bezug auf seine Mitmenschen für ethisch kategorisch überlegen hält, wird sich ihnen potenziell schmerzlich fremd fühlen (vgl. VB, S. 514).

3.5.5 Anerkennung einer Autorität Die Religion beruht auf einer Hilflosigkeit, in welcher ein fundamentaler Mangel eigener Kräfte erlebt wird. Es ist kohärent, dass auf diesen Mangel nun eine Autorität antworten soll, die vom Hilflosen nicht wieder durch rationale Gründe bewertet und kontrolliert werden kann.Wenn – um in dem Bild der Unendlichkeit zu bleiben – eine endliche Person nach „unendlicher Hilfe“ fleht, aber dann darauf beharrt, den unendlichen Helfer mit den eigenen, endlichen Gründen zurechtzuweisen, würde er seine eigene Hilflosigkeit ja wieder verstellen. „Die Religion sagt: Tu dies! – Denk so! – aber sie kann es nicht begründen, und versucht sie es auch nur, so stößt sie ab; denn zu jedem Grund, den sie gibt, gibt es einen stichhaltigen Gegengrund. Überzeugender ist es, zu sagen: ‚Denke so! – so seltsam dies scheinen mag’“ (VB, S. 491). „Glauben heißt, sich einer Autorität unterwerfen“ (VB, S. 514). Auf welche Weise geschieht nun diese Unterwerfung unter die Autorität? Wodurch, wenn nicht durch die Begründung, wird der Befehl, zunächst seltsam scheinende Gebote einzuhalten, getragen? Laut Wittgenstein ist es eine liebende Unterordnung. „[Die] Nachricht (die Evangelien) wird glaubend (d. h. liebend) vom Menschen ergriffen. Das ist die Sicherheit dieses Für-wahr-haltens, nicht Anderes“ (VB, S. 495). An die Gebote wird nicht im skeptisch-kontrollierten Modus des Überprüfens-durch-Begründungen herangetreten, sondern im kategorisch-offenen Modus der Liebe für eine nicht vollständig verständliche, sondern nur zu erahnende Autorität.

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3.5.6 Bekehrung Auch wenn religiöser Glaube, so Wittgenstein, keine Gründe im eigentlichen Sinne hat, so hat er doch Ursachen. Glauben, sagt Wittgenstein, „kannst Du nur als Resultat eines Lebens“ (VB, S. 494). „Das Leben kann zum Glauben an Gott erziehen. Und es sind auch Erfahrungen, die das tun; […] z. B. Leiden verschiedener Art“ (VB, S. 571). Bestimmte Lebenserfahrungen führen zu einem nicht rational vorhersagbaren Bruch in der Auffassung/Wahrnehmung des Lebens, in dem die religiöse Autorität plötzlich als genuin gültig erscheint. Beispiel 1 – Bekehrung des Augustinus: Vor seinem unmittelbaren Bekehrungserlebnis wurde Augustinus vom Afrikaner Ponitician besucht, der ausführlich von Klöstern und religiösen Lebensformen berichtete. Näher ging dieser darauf ein, wie ein Bekannter, nach dem Lesen eines Buchs der Lebensbeschreibung des ägyptischen Mönches Antonius, bekehrt wurde. Ihn erfüllte nach der Lektüre „heilige Liebe und besonnene Scham“ sowie „Zorn über sich selbst“ (Augustinus 2008, S. 229), woraufhin er seine politische Karriere aufgab und sich für eine religiöse Lebenspraxis entschied. In dem Kontext bedauert Augustinus (2008, S. 232) die mangelnde Kraft der Vernunft: „Ungelehrte stehen auf und reißen das Himmelreich an sich, und wir mit unserer herzlosen Wissenschaft, sieh, wir wälzen uns in Fleisch und Blut.“ Das eigentliche Bekehrungserlebnis beginnt, als Augustinus (2008, S. 242) hört, wie ein Kind „im Singsang ausruft und oft wiederholt: ‚Nimm und lies, nimm und lies!‘“ Er liest daraufhin eine Passage aus dem Römerbrief und berichtet: „[S]ofort, als ich den Satz zu Ende gelesen hatte, strömte das Licht der Gewissheit in mein Herz; jegliche Finsternis des Zweifels war verschwunden“ (Augustinus 2008, S. 242). Beispiel 2 – Die eigentliche Bekehrung von Teresa von Avila, die im 16. Jahrhundert als Nonne im Kloster lebte, geschah nicht durch einen vernünftigen Beweis, sondern dadurch, dass ihr die Taten von Jesus durch eine bildliche Darstellung schlagartig als Ausdruck eines so enormen Mitleides deutlich wurden, dass in diesem Kontext die ganze Welt in einem anderen Licht da war. „Da geschah es mir, dass ich eines Tages beim Eintritt in den Gebetsraum ein Bild sah, das man zur Verehrung dorthin gebracht und für ein Fest, das im Haus gefeiert wurde, aufgestellt hatte. Es war das Bild eines ganz mit Wunden bedeckten Christus und so andachterweckend, dass es mich beim Anblick zuinnerst erschütterte, ihn so zu sehen, denn es stellte gut dar, was er für uns durchlitten hatte. Das, was ich empfand, weil ich mich für diese Wunden kaum dankbar gezeigt hatte, war so gewaltig, dass es mir war, als würde es mir das Herz zerreißen. Aufgelöst in Tränen warf ich mich vor ihm nieder und flehte ihn an, mir ein für allemal Kraft zu geben, ihn nicht mehr zu beleidigen“ (Teresa von Avila 2001, S. 163).

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Beispiel 3 – Die Bekehrung von Tolstoi. In Meine Beichte (2008) schildert Tolstoi, wie er, trotz Erfolgen in Karriere und Familienleben, keinen hinreichenden Sinn in seinem Leben entdecken konnte. Alle genannten Erfolge würden ja durch den Tod vernichtet werden. Auch die intellektuellen Versuche der rationalen Philosophen und der gebildeten Theologen, einen unzeitlichen Sinn in der zeitlichen Welt aufzuzeigen, hat er als inkonsistent zurückgewiesen. Das ihn erlösende Bekehrungserlebnis hatte er bei der Begegnung mit der christlichen Lebensform der ungebildeten Bauern, die – im Gegensatz zu den gebildeten Klassen – Tod, Krankheit, Armut und andere Schrecknisse mit Geduld und Freude, so Tolstois Erleben, angenommen haben. Im Bekehrungserlebnis blitze sozusagen plötzlich als genuine Möglichkeit eine Weise des In-der-Welt-seins auf, in der sich bestimmte Probleme nicht mehr stellen.

3.5.7 Erlösung durch harmonisches Einordnen in die profanen Sprachspiele Das religiöse Erlösungsbedürfnis bezieht sich, wie oben erläutert, nicht auf bestimmte kontingente Probleme im Leben, sondern auf das grundlegende Wie des Lebens. Die Lösung besteht darin, diese Weise zu verändern. „Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische“ (VB, S. 487). Wie wird diese Änderung der Lebensform von Wittgenstein konkret gefasst? Insofern das Leben in den Sprachspielen eröffnet wird, besteht die Religion darin, bestimmte Sprachspiele zu etablieren. „[R]eligiöser Glaube [kann] nur etwas wie das leidenschaftliche Sich-entscheiden für ein Bezugssystem sein“ (VB, S. 540 – 541). Beispiel 1: Die Regeln profaner Sprachspiele erlauben mehrere Möglichkeiten, wie man auf ungewünschte Ereignisse reagieren kann. Es steht z. B. der Zug offen, Schuldige für die Ereignisse zu suchen und diese zu betrafen und sich in Feindschaft zu den Schuldigen zu begeben – seien als Schuldige nun die Anderen oder man selbst gewählt. Eine religiöse Praxis kann nun darin bestehen, diese Regel aus dem Sprachspiel auszuschließen. Die Regel, so-und-so den Anderen oder sich selbst Schuld zuzuschreiben, kann im religiösen Sprachspiel dann nicht mehr ohne Sanktionen angewendet werden. Stattdessen soll die Regel eingehalten werden, in solchen Fällen zu sagen „Es war Gottes Wille“ oder „Es war Schicksal“ (vgl. VB, S. 536). Damit geht „ein anderes Verhalten, eine andere Art des Lebens“ (VB, S. 536) einher, so dass gewisse unangenehme Geschehnisse nach dem Eintreten nicht weiter im Besonderen in gewöhnlicher Weise thematisiert werden.

3.5 Natürliches und religiöses Vertrauen

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Insofern diese Art des Lebens als harmonischer und besser erlebt wird, tritt somit eine gewisse Erlösung ein. Diese Praxis, streng angewendet, hätte nun auch gewisse „inner-weltliche“ Folgen: Ein gewalttätiger Kreislauf von Mord und Rachemord würde z. B. durch so eine Haltung prinzipiell beendet werden. Das Eigentliche besteht aber für Wittgenstein in der Haltung der einzelnen religiösen Person. Bereits dadurch, dass die Welt im Rahmen anderer Sprachspiel-Regeln erscheint, wird sie prinzipiell grundlegend anders geformt. Darin besteht der entscheidende Schritt, nicht erst in den Ergebnissen, die dann eintreten würden, wenn die Praxis zur universellen Praxis würde. Beispiel 2: In den profanen Sprachspielen ist der Zug möglich, sich selbst bzw. die eigene Gruppe als ethisch beträchtlich überlegen zu beschreiben. Das führt zu einer Haltung der Isolation und Fremdheit gegenüber den als ethisch minderwertig beschriebenen Menschen. Die ethisch-defizitären Menschen werden dann deutlich als Störfaktor erlebt, welcher den ethisch-hochstehenden Menschen das Leben unnötig erschwert. In einer religiösen Praxis könnte nun dieser sprachliche Zug ausgeschlossen werden, indem kategorisch die Regel eingeführt wird, dass die Menschen einander dauernd als „böse Kinder“ (VB, S. 514) betrachten müssen, die vor den Anderen „ohne Amt, Würde und Abstand“ (VB, S. 514) sind. Das Gefühl ethischer Überlegenheit führt Wittgenstein dabei auch – gewissermaßen als Kompensation – auf Scham über das eigene eigentlich auch defizitäre Innenleben zurück. „Gott kann mir sagen: ‚Ich richte Dich aus Deinem eigenen Munde. Du hast Dich vor Ekel vor Deinen eigenen Handlungen geschüttelt, wenn Du sie an Andern gesehen hast“ (VB, S. 573). In der religiösen Praxis würde man die eigenen ethischen Mängel und auch die der Anderen immer noch anerkennen, aber sie nicht mehr zu verstecken versuchen. „Man soll nun zwar fortfahren, sich seines Inneren zu schämen, aber nicht sich seines vor den Mitmenschen zu schämen“ (VB, S. 514). Wittgenstein kannte große Passagen von Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow (2003) auswendig (vgl. Monk 1990, S. 136). Zentrum des Romans ist der Mord am sadistisch-triebhaft-egoistischen Vater der Karamasow-Brüder, zu dem alle Brüder – bis auf den moralischen Helden Aljoscha – beigetragen haben. Auffällig ist hier, dass der Naturwissenschaftler Iwan Karamasow, welcher von Dostojewski als der Hauptschuldige konzipiert wurde, den Mord am Vater zulässt, weil er diesen für so ethisch defizitär hält, dass sein Tod nicht zu bedauern wäre. Im 1873 veröffentlichten Roman Böse Geister (2010) geht Dostojewski auf die russischen Sozialisten ein, bei denen auch die Idee eine Rolle spielt, dass man ethisch-minderwertige Menschen, welche den Fortschritt behindern, töten darf oder soll. Auch in der aktuellen Zeit lassen sich leicht unzählige Beispiele finden, bei denen militärische Einsätze oder andere Gewaltanwendungen mit der ethi-

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schen Minderwertigkeit der Anderen begründet werden. Wenigstens solche spezifischen Verstrickungen würden sich in einem Sprachspiel auflösen, in welchem diese Art der Herabsetzung der Anderen prinzipiell ausgeschlossen wird. Dennoch gilt, wie bereits beim vorherigen Punkt betont, dass diese positiven innerweltlichen Folgen, die ja auch erst dann eintreten würden, wenn das Sprachspiel universell oder weit verbreitet würde, nicht das Eigentliche der religiösen Erlösung ausmachen. Die Erlösung besteht bereits darin, dass die Isolation durch die Änderung der Regeln der Sprachspiele überwunden wird, denn die Änderung der Regeln bedeutet eine Änderung der in den Sprachspielen erscheinenden Welt. Beispiel 3: In profanen Sprachspielen ist es möglich, das Ausführen oder Versuchen von Handlungen von berechenbaren Erfolgsaussichten abhängig zu machen. Das führt, wenn mit Sinn des Lebens die grundlegende Richtung des Lebens gemeint ist, zu einer gewissen Sinnlosigkeit: Der Sinn schwankt dann nämlich mit den möglichen Erfolgs- und Risikovorhersagen. In der Religion tritt nun aber die Formulierung auf: „Gott hat es befohlen, also muß man’s tun können“ (VB, S. 559). Der Versuch, hier rational Konzepte wie die Gnadenwahl und die Erfüllung göttlicher Pflichten zusammenzudenken, führt laut Wittgenstein nur in absurde Widersprüche. Das Wichtige sieht er im Gegenteil gerade darin, darauf zu verzichten, sich in Erfolgs- und Risikovorhersagen zu versteigen, sich stattdessen auf das unermüdliche Arbeiten zu konzentrieren. „Wenn Du also im Religiösen bleiben willst, mußt Du kämpfen“ (VB, S. 572). Das Einführen der absoluten Gebote im religiösen Sprachspiel erlöst somit von der Sinnlosigkeit.

3.5.8 Irreduzible Bilder Die religiöse Sprache nutzt laut Wittgenstein Bilder. „Es werden Lebensregeln in Bilder gekleidet“ (VB, S. 490). Diese Bilder können nicht auf Nichtbildliches reduziert werden. „Kann man den Begriff der Höllenstrafen auch anders, als durch den Begriff der Strafe erklären? Oder den Begriff der Güte Gottes auch anders, als durch den Begriff der Güte? Wenn Du mit Deinen Worten die rechte Wirkung erzielen willst, gewiß nicht“ (VB, S. 564). Die Bilder haben gerade als Bilder eine ganz bestimmte praktische Wirkung. Wenn man diese Bilder nun als Theorie zu behandelt versucht, so Wittgenstein, werden sie widersinnig. Das Bild der Gnadenwahl erscheint als Theorie paradox: Menschen werden einerseits als radikal machtlose Wesen dargestellt, die nur durch Gottes Gnade gerettet werden können. Andrerseits werden dabei Begriffe wie Lohn und Strafe benutzt, die Macht vorauszusetzen scheinen. Dass es aber darum nicht geht, deutet sich an, denn praktisch ist das Bild „ja angewendet worden“ (VB, S. 559). Das Bild der Gnadenwahl kann fungieren als „ein Seufzer,

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oder ein Schrei“ (VB, S. 491). Die Übermacht Gottes im Bild der Gnadenwahl kann auch als Aufforderung genutzt werden, nie zur ruhigen Auffassung zu gelangen, man hätte bereits alles ethisch Notwendige getan: „Wenn Du also im Religiösen bleiben willst, mußt Du kämpfen“ (VB, S. 572). „Dem Menschen, der bei dieser Allegorie unwillig wird, könnte man sagen: Verwende sie anders oder kümmere Dich nicht um sie!“ (VB, S. 559). Entfernt sich Wittgenstein damit, dass er Religionen als kontingente, wissenschaftlich grundlose Sprachspiele, in der in Bildern gekleidete Lebensregeln befolgt werden, behandelt, von der traditionellen Sicht, dass Religionen von absoluten Wirklichkeiten handeln? Die Autoren der Bibel legen nahe, dass das, was die großen religiösen Gestalten getan haben, darin besteht, Gott zu vermitteln oder ansprechbar zu machen (vgl. Ratzinger 2007, S. 10 – 23). Es wird ein Zugang zu Gott bereitgestellt, der vorher nicht geöffnet war. Moses konnte nach diesem Verständnis eine religiöse Praxis, in der man die Zehn Gebote und andere Vorgaben zu berücksichtigen hat, etablieren, weil er von Angesicht zu Angesicht (vgl. Ex 33,11) mit Gott verkehrt hat. Dadurch war es ihm möglich, Gott, der ohnehin als Gott bereits implizit auf die Welt wirkt, explizit zu machen. Die Zehn Gebote zeigen, wie man leben muss, um die immer bereits implizit göttliche Welt explizit als göttliche Welt zu würdigen. Nach biblischem Verständnis sind dabei verschiedene Grade des Explizitmachens möglich, so dass die Bergpredigt von Jesus als neue Tora noch weiter als die erste Tora offenlegt, wie die Welt als göttliche Welt zu würdigen ist. Jesus wird dabei als Person verstanden, die nicht nur wie Moses in besonderen Fällen von Angesicht zu Angesicht mit Gott redet, sondern die vertrauter Sohn Gottes ist. Die religiöse Praxis bzw. das religiöse Sprachspiel des Befolgens der Tora/der Bergpredigt (= der „erneuerten“ Tora) wird also als Mittel gesehen, durch das ein Zugang zu Gott, der eine eigenständige, den Menschen vorgängige Wirklichkeit hat, geschlagen wird. Aus der Einheit des einen, absoluten Gottes folgt dabei also keinesfalls, dass er sich auch auf ganz einheitliche Weise enthüllt: (a) Gott enthüllt sich den Juden anders als den Heiden. Er berücksichtigt also die Traditionen verschiedener Personengruppen. (b) Gott enthüllt sich, so jedenfalls das Bild der Autoren der Bibel, je nach „Entwicklungsstufe“ der adressierten Personengruppen auf andere Weise (vgl. Mt 19,8). Auch Wittgenstein knüpft an eben diese Punkte an, wenn er hervorhebt, dass es verschiedene „Stufe[n] der Religiosität“ gibt, die mit anderen „Art[en] des Ausdrucks“ einhergehen (VB, S. 494). Der Vorwurf, der Wittgenstein oft gemacht wird, er würde behaupten, „that believing that God exists is nothing but a passionate commitment to a system of reference – i. e. a commitment to leading a life in which questions will be asked, obligations will be acknowledged, decisions taken and actions performed“ (Hyman 2004, S. 7), so dass er einen „reductive view of moral [and religious] jud-

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gements“ (Hyman 2004, S. 8) einnimmt, zeigt sich in diesem Kontext als verfehlt. Wittgenstein reduziert nicht Religion auf eine bloß „freischwebende“ Praxis, und er reduziert nicht die Wirklichkeit Gottes, der absoluter Gott sein soll, auf die Wirklichkeit, die in der kontingenten Sprachpraxis erscheint, sondern die religiöse Sprachpraxis ist gerade der Ort, in dem der absolut vorgängige Gott teilweise explizit und zugänglich gemacht wird. Damit knüpft Wittgenstein gerade an die Tradition an und „verkürzt“ sie nicht. Auch Wittgensteins Zug, das Religiöse am Ziel der Erlösung festzumachen, stimmt gerade mit der Tradition überein (vgl. Riesebrodt 2010). Im Christentum wird Erlösung über die Erlösung von den Sünden gefasst; im Konfuzianismus und Daoismus wird eine Art Erlösung durch angleichende Ausrichtung an der Grundstruktur alles Seins gesucht (vgl. Chan 1963, S. 3 – 49 & S. 136 – 176); in buddhistischen und hinduistischen Traditionen wird die Erlösung von der Verstrickung in negative, karmische Strukturen gesucht (vgl. Brück, 2007), usw. Auch die Würdigung einer Vielfalt religiöser Sprachspiele aus Wittgensteins Perspektive, wäre – gerade in Hinblick auf die Tradition – kein hinreichender Grund, anzunehmen, dass Wittgenstein die Position einnimmt, dass sich diese vielfältigen Sprachspiele nicht mit Ansprüchen des Gerechtwerdens auf den einen, außersprachlichen Gott beziehen. Im Buch Genesis interveniert Gott auf vielfältige Weise, so dass verschiedene religiöse Praktiken der von Gott adressierten Menschen zeitweise jene sind, die dem absoluten Gott gerecht werden. Im Römerbrief wird die Gültigkeit alter jüdischer Praktiken anerkannt, jedoch auch gerade die neue christliche Praxis als gültig vorgestellt, sowie Praktiken der Heiden als teilweise gültig präsentiert (vgl. Röm 2,12– 16). Diese Akzeptanz einer begrenzten Vielfalt, die aber in einem gewissen Rahmen eben doch eine genuine Vielfalt zulässt, findet sich auch in anderen Traditionen. Im Kontext des Islams wäre z. B. Farid ud-Din Attar zu nennen, der in seiner 1177 n.Chr. vollendeten Dichtung Die Konferenz der Vögel (2008) diverse religiöse Praktiken als Wege zu Gott bezeichnet. Aus der Vielfalt der Praktiken folgt somit gerade nicht, dass sie nicht alle auf ein wirkliches, außerhalb der Praxis bestehendes Ziel gerichtet sind, sondern die Vielfalt macht das Erreichen des absoluten Ziels gerade erst möglich. „Wie könnte auf diesem Weg des Freundes die traurige Spinne den gleichen Weg wie der Elefant gehen? Die Reise […] ist für einen jeden seinem Zustand entsprechend. […] In der Gotteserkenntnis gibt es ebenfalls Unterschiede: Der eine fand die Gebetsrichtung des Islam, der andere den Götzen“ (Attar 2008, S. 147). Auch Rumi, der 1273 n.Chr. gestorben ist und sich als „Diener des Korans und als Staubkorn auf dem Wege des Propheten Muhammed“ (Öztürk 2002, S.35) verstanden hat, fasst den Variantenreichtum religiöser Praktiken als Voraussetzung dafür, dass sich der absolute Gott zeigt. Im Gedicht Moses und der Schäfer (Rumi 2004, S. 165 – 168) hört Moses mit, wie ein Schäfer Gott auf „blasphemische“ Weise preist. Der

3.5 Natürliches und religiöses Vertrauen

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Schäfer stellt sich Gott als Baby vor und malt sich aus, wie er das Baby mit Milch füttert, es entlaust, ihm kleine Schuhe anzieht und seine winzigen Hände und Füße küsst. Davon erzürnt, dass der ewige Schöpfergott als Säugling dargestellt wird, weist Moses den Schäfer zurecht. Dann erhält Moses jedoch eine Offenbarung von Gott. Gott wirft Moses vor, den Schäfer von Gott zu entzweien und mahnt, dass es eben diverse Weisen des Preisens gibt – sei es die Weise der Hindus oder die der Muslime. Dieses wird aber nicht als Relativierung der eigenständigen Wirklichkeit Gottes gesehen, es ist nur eine Relativierung des Weges dorthin. Die Anerkennung der Vielfalt ist somit auch nicht mit einer aktuellen Haltung der Toleranz zu verwechseln, in welcher die Selbstbestimmtheit des Individuums im Fokus steht, das tun darf, was es will, solange es Anderen nicht schadet. Es sollen im Gegenteil spezifische Wege der Erlösung gefunden werden, da, so diese Perspektive, alle Menschen den dringenden Auftrag haben, dieses Ziel zu erreichen. Wittgenstein verteidigt Religion gegen den philosophischen Einwand, dass sie eine falsche, schlechte begründete Pseudo- oder Quasi-Wissenschaft ist. Aber inwieweit affirmiert er Religion oder bestimmte religiöse Formen als Philosoph? Die Antwort lautet kurz gesagt: Wittgenstein affirmiert philosophisch die prinzipielle Möglichkeit, religiöse Seinsweisen als philosophisch kohärente Praktiken zu ergreifen. Der Philosophierende zeichnet sich für Wittgenstein durch seinen Abstand aus. „Der Philosoph ist nicht Bürger einer Denkgemeinde. Das ist, was ihn zum Philosophen macht“ (Z § 455). Dementsprechend ist es die Aufgabe des Philosophen, zu beschreiben, was in einer religiösen Praxis eben passiert, zu klären, welche sprachlichen Regeln der Gläubige befolgt, aber nicht für die Religion selbst Partei zu ergreifen. Als Philosoph stellt Wittgenstein zwar fest, dass bestimmte philosophische Attacken auf die Religion – z. B. der Vorwurf im Evidenzialismus, dass Religionen Evidenz benötigen, aber nicht liefern können – die Sprachspiele verfehlen. Stattdessen „bewähren“ sich die Religionen durch Erlösungserfahrungen. Hier ist aber Vorsicht geboten: Aus der grammatischen Feststellung, dass sich Religionen durch Erlösungserfahrungen „auszeichnen“, ist noch nicht zu folgern, dass damit Religionen, die erlösen, vom Philosophen als gut und richtig zu affirmieren wären. Das liegt daran, dass in der geteilten Sprachpraxis immer eine Offenheit besteht, in dem Sinne, dass die Sprachpraxis immer die Möglichkeit zulässt, dass ein Nichtgläubiger die Erlösungserlebnisse des Gläubigen nicht als Erlösung einstuft. Einem Sprechenden steht der Zug offen, dass er das, was der Gläubige Erlösung nennt, als vielleicht sogar krankhaften Irrweg zurückweist (vgl. Nietzsche 1999 b, S. 199 – 200). In solchen Fällen gehen die verschiedenen Parteien dann von ihrem „Sprachspiel aus und bekämpfen das“ andere (ÜG § 609). Der Kampf für bestimmte Sprachspiele, die über die natürli-

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chen, universell geteilten Sprachspiele hinausgehen, beruht dabei nicht auf wissensmäßiger Evidenz, sondern es werden z. B. Schlagwörter benutzt, um die damit einhergehenden Seinsweisen zu bewerben (vgl. ÜG § 610). Kommen wir aber nun zu der Frage zurück, was es bedeutet, dass Wittgenstein wiederum seine Philosophie aus einer religiösen Perspektive betreibt. Wenn Religion sich oben gezeigt hat als offenstehende Möglichkeit einer Seinsweise, in der auf Basis des Vertrauens in eine Autorität eine „hervorragende Passform“ zur Wirklichkeit errungen wird, die zur Erlösung führt, dann ist damit der entscheidende Hinweis gegeben. Wittgenstein sieht seine Philosophie – im Gegensatz zur Metaphysik – als jene Art der Philosophie, die eine hervorragende Passform zur Wirklichkeit erreicht, welche die Menge philosophischer Paradoxien „zur Ruhe bringt“ (PU § 133), deren „Bedeutung […] so groß [ist] wie die Wichtigkeit unserer Sprache“ (PU § 111) und somit von der Qual durch wichtige – ansonsten unlösbare scheinende – Paradoxien/Fragen erlöst. Anders ausgedrückt: Laut der religiösen Perspektive ist die Welt im Grunde so strukturiert, dass Erlösung prinzipiell immer möglich ist. Philosophische Probleme zeigen Paradoxien, welche die tiefsten Bereiche des menschlichen Lebens betreffen und somit äußerst wichtig sind (vgl. PU § 111). Selbst wenn die klassische Sicht der Metaphysik richtig ist, laut der die Metaphysik – nach einem langen Gang – die gesuchte Letztbegründung als Wissen schließlich erringen kann, dann, so sieht es Wittgenstein, ist die prinzipiell ständig offene Möglichkeit der Erlösung, die in der religiösen Perspektive gegeben sein muss, nicht gegeben, da dann philosophische Probleme im Rahmen eines wissenschaftlichen, metaphysischen Projekts durch wissensmäßige Entdeckungen, die bislang noch fehlen, errungen werden müssen. Das widerspricht der religiösen Überzeugung einer hervorragenden prinzipiellen (gewissermaßen zeitlosen) Passharmonie zwischen Mensch und Welt, da dann Erlösung an kontingenten, zeitlich zufälligen Wissenserwerb geknüpft wird. Tatsächlich ist die Situation laut Wittgenstein aber noch deutlich kritischer, da ihn seine Erfahrungen mit Bertrand Russell und anderen Metaphysikern überzeugt haben, dass es in der Metaphysik eben schlichtweg keine klaren Erfolgskriterien gibt, so dass die abschließende, metaphysische Lösung philosophischer Probleme sogar prinzipiell ausgeschlossen ist. Das ist natürlich eine genuine, rationale Möglichkeit: Es kann natürlich sein, dass Menschen mit einem Verstand ausgestattet sind, der prinzipiell unlösbare Fragen aufwirft. Der „Witz“ der Religion, so sieht es Wittgenstein, besteht nun aber darin, sich von solchen Möglichkeiten nicht beirren zu lassen, sondern „unbeeindruckt“ zu der harmonischen Lösung, die sich ja schon abzeichnet, fortzuschreiten. Die harmonische Lösung für philosophische Probleme besteht darin, dass entweder philosophische Fragen „völlig“ aufgelöst werden, indem der philosophische Wortgebrauch, der die Frage aufwirft, wieder auf den alltäglichen Wortgebrauch,

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der als vertrauenswürdige Autorität behandelt wird, zurückgeführt wird (für den es klare Erfolgskriterien gibt, was sich darin zeigt, dass die Sprachpraxis eben besteht und wir ein Verständnis von ihr haben, an das wir uns erinnern können), so dass das Problematische am Thema damit abgehandelt wird. Oder, wenn die philosophische Frage nicht „völlig“ aufgelöst wird, so wird gezeigt, dass die intellektuelle, metaphysische Frage, die eine Antwort der wissensmäßigen Erkenntnis fordert, eigentlich eine ethische Frage verbirgt, die eine freie ethische Entscheidung, aber kein zusätzlich zu entdeckendes Wissen, fordert. Wittgensteins philosophische Arbeit selbst ist daher nicht eigentlich religiös. Seine philosophische Arbeit im engeren Sinne ergibt sich aus dem noch-nichtprinzipiell-religiösen, sondern natürlichen Vertrauen auf die Gültigkeit des Alltagsverständnisses. Das natürliche Vertrauen widerstrebt der Metaphysik, da die Metaphysik als in letzter Analyse willkürliche Modifikation des vertrauten Alltagsverständnisses gefasst wird. Wittgensteins Methode, die man offenbar auch ohne religiöse Überzeugungen anwenden kann, passt nun aber in hervorragender Weise zur Vision der Welt, die in der Religion vorkommt. Dadurch wird die Methode dann wiederum auf einer höheren Stufe noch einmal von der religiösen Perspektive und dem religiösen Vertrauen gestützt. Aber hier ist es wichtig, dass die religiöse Perspektive die philosophische Methode unterstützt, ohne, dass Religion und Philosophie bei Wittgenstein zu einer Einheit verschmelzen, die nicht mehr getrennt werden kann. Das zeigt auch: Die religiöse Absicherung der Methode hat nicht die Kraft eines Beweises. Wittgenstein schrieb dementsprechend: „Ist, was ich tue, überhaupt der Mühe wert? Doch nur, wenn es von oben her ein Licht empfängt. […] Ist das Licht von oben nicht da, so kann ich ja doch nur geschickt sein“ (VB, S. 531– 532). Auf der profanen Stufe des natürlichen Vertrauens ist es unbestreitbar, dass Wittgenstein geschickte (= intellektuell scharfsinnige) Möglichkeiten aufzeigt, philosophische Probleme zu dekonstruieren. Daraus folgt aber nicht, dass Wittgenstein damit auch das trifft, was philosophische Probleme wirklich sind. Die Überprüfung dessen würde das Einnehmen einer Außenperspektive voraussetzen –das Einnehmen des Raumes, aus dem, wie Wittgenstein sagt, das „Licht von oben“ (VB, S. 532) leuchtet. Dieser Raum der Außenperspektive selbst ist aber für den Philosophen nicht einnehmbar. Aber es wäre nun voreilig, daraus zu schließen, dass die Außenperspektive und auch der Versuch, im Philosophieren diesem Außen gerecht zu werden, aufzugeben wären. Als Wesen, die Teil der Wirklichkeit sind, die sich in der radikal externen Perspektive zeigen würde, sind wir ja mit diesem Äußeren verbunden, so dass es sich auch in unserem Leben andeuten müsste. Es müsste demnach zwar keine Beweise, jedoch aber Hinweise geben, ob man diesem entzogenen Äußeren gerecht wird.

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Hier könnte sich nun der Einfluss Schopenhauers auf Wittgenstein zeigen. Am Anfang seines philosophischen Denkens war Wittgenstein immerhin der Auffassung, dass Schopenhauer die philosophischen Probleme grundsätzlich richtig behandelt hat und nur noch „a few adjustments and clarifications“ (Anscombe 1959, S. 11– 12) nötig sind. Wittgenstein betont an der Religion das harmonische Hineinpassen in die Welt. Schopenhauer versucht in seiner Antwort auf die metaphysische Frage nach dem unzugänglichen Ding-an-sich nun ebenfalls die Harmonie als Wink auf die Wahrheit zu behandeln. Laut Schopenhauer können wir die Erfahrungswelt als eine Art Schrift oder Code betrachten, die es zu entziffern gilt. Wenn man unbekannte Schriften, z. B. Hieroglyphen, zu entziffern versucht, dann spricht die Harmonie der Ergebnisse eigentlich zweifellos für die Richtigkeit, auch wenn die Harmonie in gewisser Weise kein strenger Beweis ist, da sie prinzipiell auch Zufall sein könnte. Ebenso glaubt Schopenhauer, dass er das Wesen des Dinges an sich bestimmen kann, wenn er ein Wesen spezifiziert, zu dem alle Phänomene der Welt passen (vgl. Young 2005, S. 94– 98). Es ist nicht auszuschließen, dass Wittgenstein, der ursprünglich nur das Ziel hatte Schopenhauers Philosophie zu vollenden und zu korrigieren, diese Denkfigur, nämlich Harmonie als hinreichendes Zeichen für absolute Wahrheiten zu verwenden, für sein eigenes Denken modifiziert hat. Wenn mit Wittgensteins Philosophie nun ebenfalls die Beziehung zwischen Sprachpraxis und philosophischer Reflexion harmonisch wird, dann ist das zwar kein Beweis der Richtigkeit der Methode, wohl aber ist die sozusagen harmonische Glattheit der Philosophie für ihn ein Hinweis darauf, dass sie der externen Wirklichkeit gerecht wird. Sich von dieser prinzipiellen Unsicherheit und „Unvollständigkeit“ des Hinweises nicht beirren zu lassen, sondern sich vertrauend auf ihn einzulassen, darin besteht die religiöse Perspektive. Im Gegensatz zu Schopenhauer geht es aber Wittgenstein nicht darum, die Gestalt und das Wesen des Dinges-an-sich philosophisch-metaphysisch zu repräsentieren. Für Wittgenstein ist es wichtig, dem absoluten Wirklichkeitsbereich gerecht zu werden – aber das ist nicht eine Frage der wissenschaftlichen Repräsentation, in welcher die Wirklichkeit erkannt werden soll, sondern es geht um die ethische Haltung, in welcher die Wirklichkeit in ihrem Sein anerkannt wird. Warum ist sich Wittgenstein nicht sicher, ob das Licht von oben da ist? Es ist kein Licht, das so zu denken ist wie das Licht der Lampe, die vorher dunkle Sachverhalte aufhellt. Das Licht, was er meint, ist das religiöse Licht des Erkennens von harmonischen Strukturen in vorher chaotisch wirkenden Phänomenen. Wittgenstein selbst sieht die Probleme aus religiöser Perspektive, hat aber nach seinem Selbstverständnis noch nicht den religiös erlösten Zustand erreicht: Das heißt, er erahnt, dass sich mit seiner Methode abzeichnet, wie eine harmonische Passform zwischen Leben und philosophischer Reflexion möglich wird. Er sieht schon teilweise harmonische

3.6 Lichtgleichnisse bei Platon, al-Ghazali und Wittgenstein

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Lösungen von philosophischen Problemen. Er kann aber noch nicht affirmieren, dass er die philosophischen Paradoxien und die damit einhergehende Disharmonie völlig überwunden hat. (So verwundert es auch nicht, dass Wittgenstein kurz vor seinem Lebensende 1950 in Über Gewißheit Positionen vertritt, die eigentlich zu einer Unterminierung seiner radikalen Opposition von Alltagsverständnis und Metaphysik führen könnten, wie in Kapitel 4 angedeutet wird. Die Bemerkung über das Licht von oben ist von 1947.)

3.6 Lichtgleichnisse bei Platon, al-Ghazali und Wittgenstein Um Wittgensteins Methode und die Art ihrer Absicherung noch deutlicher zu klären, sollen Wittgensteins Bemerkungen über das Licht von oben (vgl. VB, S. 531– 532) mit Lichtgleichnissen von Platon und al-Ghazali in Beziehung gesetzt werden. Man kann in der Bewegung von Platon (‐400 v.Chr.) zu al-Ghazali (1100 n.Chr.) zu Wittgenstein (1900 n.Chr.) nicht nur ein zeitliches Fortschreiten entdecken, sondern man könnte die Bewegung auch vorsichtig als eine Art philosophische Evolution darstellen, in der al-Ghazali Probleme von Platon löst, woraufhin Wittgenstein dann noch weiter fortschreitet und Probleme, die bei alGhazali auftauchen, löst. In all den Gleichnissen geht es darum, wie vernünftiges Denken funktioniert und wie die letzte Absicherung vernünftigen Denkens zu verstehen ist.

3.6.1 Platons Höhlengleichnis Im Höhlengleichnis sitzen festgebundene Gefangene, deren Blicke auf die Schatten an der Wand gehen, in einer Höhle und machen eine Wissenschaft daraus, die Bewegungen der Schatten vorherzusagen. Die Fesseln hindern sie daran, den Ursprung und Grund der Schatten zu erkennen. Wenn nun ein Gefangener befreit wird, erkennt er nach einer Phase des Geblendetseins, dass die Schatten keine selbständige Sichtbarkeit haben, sondern von Gegenständen geworfen werden. Die Gegenstände werden wiederum durch ein Feuer in der Höhle erleuchtet. Das Licht in der Höhle ist aber ebenfalls nicht selbständig da. Wenn der Befreite der Höhle entsteigt, ist er wieder zunächst geblendet und muss sich graduell dem Sichtbaren annähern – er muss die Abbilder der Gegenstände im Wasser betrachten, bevor er diese selbst betrachtet, sowie den Nachthimmel, bevor er bei Tage die Sonne erblickt und sie als absoluten Ursprung entdeckt. Das Gleichnis steht laut Platon für den „Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis“ (Politeia, 517b).

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Das Gleichnis soll hier nicht in seiner ganzen Komplexität und Vieldeutigkeit gewürdigt werden. Es genügt an dieser Stelle, dass in ihm unter anderem der Kern für eine Vision des Philosophierens gefunden werden kann, die Wittgenstein für inkohärent hält. Der Aufstieg des Gefangenen aus der Höhle würde dann für das Philosophieren des Metaphysikers stehen, der das vernünftige Gründegeben für die eigentliche philosophische Tätigkeit hält. Die Gründe können dabei wieder selbst begründet werden, bis die Kette der Gründe in der Letztbegründung endet. Folgende Kritikpunkte Wittgensteins finden sich im so ausgelegten Gleichnis. (K1) Der Metaphysik fehlen die klaren Erfolgskriterien. Wittgenstein äußert in seinen Tagebüchern seinen Unmut darüber, dass Bertrand Russell das Einleuchten als Maßstab nutzt, um philosophische Fragen zu entscheiden. Es sei eine Frage der Philosophie gegeben: etwa die, ob „A ist heller als B“ ein Relationssatz sei! Wie läßt sich so eine Frage überhaupt entscheiden?! Was für eine Evidenz kann mich darüber beruhigen, daß – zum Beispiel – die erste Frage bejaht werden muss. (Dies ist eine ungemein wichtige Frage.) Ist die einzige Evidenz hier wieder jenes höchst zweifelhafte „Einleuchten“?? […] [W]elche Evidenz könnte so eine Frage überhaupt entscheiden? (TB 14– 16, S. 90).

Im Höhlengleichnis zeigt sich der Mangel klarer Erfolgskriterien daran, dass es keine offenbaren Kriterien gibt, warum der Aufstieg bei der Sonne enden muss. Am sichtbaren Objekt Sonne selbst ist nichts, was sie unbedingt als ultimativen Urgrund kennzeichnet. (K2) Wenn Wirkliches prinzipiell erst nach einer ultimativen Begründung anerkannt werden soll, kommt es zu einem infiniten Regress, durch den eigentlich nichts mehr anerkannt werden kann. Das Begründende in jeder Begründung müsste in diesem Projekt – wenn man die Form der Begründung nicht an einem willkürlichen Punkt künstlich modifiziert – wieder selbst begründet werden. Die in PU § 201 zusammengefasste Diskussion um das Regelfolgen ist eines von vielen Beispielen, in denen Wittgenstein metaphysische Positionen bekämpft, indem er zeigt, wie sie konsequent durchgeführt unter anderem in einen Regress des Gründegebens führen. Das zeigt sich im Höhlengleichnis durch die Gradualität des Aufstiegs. So wie man sich prinzipiell einen immer noch tieferen Punkt unter der besprochenen Höhle vorstellen kann, kann man sich nie sicher sein, ob man den höchsten Punkt des Aufstiegs erreicht hat. (K3) Wenn die Begründung zum eigentlichen Prinzip des Weltzugangs erhoben wird, dann stellt sich die unbeantwortbare Frage nach der Begründung der Vernunft. Wittgenstein betont, dass Begründungen in einen Kontext nicht-zubegründender Überzeugungen eingebettet sein müssen (vgl. ÜG § 150, ÜG § 475).

3.6 Lichtgleichnisse bei Platon, al-Ghazali und Wittgenstein

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Im Höhlengleichnis zeigt sich dieses Problem darin, dass der Anlass zum Aufstieg mysteriös bleibt. Nach der Lösung seiner Fesseln wird der Gefangene von einem Führer beim Aufstieg angeleitet. Aber wer ist dieser Führer? Ein normaler Mensch, der sich früher befreit hat? Ein göttlicher Bote? Wie wählte er den Zeitpunkt für die Befreiung? Das Problem bleibt in jedem Fall: Wenn das Höhlengleichnis den Vorrang des philosophischen Vernunftgebrauches illustrieren soll, bleibt der äußere Anlass für die Bekehrung vom Fokus auf die Schatten zur Sonne geheimnisvoll und schränkt damit die Reichweite der Vernunft wieder drastisch ein. (K4) Wittgenstein betont „die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen“ (PU § 23). So bedeutet Beschreibung in verschiedenen Sprachspielen recht verschiedenes: Es gibt „Beschreibung der Lage eines Körpers durch seine Koordinaten; Beschreibung eines Gesichtsausdrucks; Beschreibung einer Tastempfindung; einer Stimmung“ (PU § 24). Verständnis der Welt muss also diese Vielfalt würdigen. Im Höhlengleichnis zeigt sich die Verdrängung der ursprünglichen Vielfalt dadurch, dass Erkennen vor allem als Sehen von mehr oder weniger hellen Formen gefasst wird. Der Wirklichkeitsbezug in der Höhle und in der Freiheit unterscheidet sich dadurch, dass in der Höhle verminderte Abbilder gesichtet werden, in der Freiheit leuchtende Vorbilder – es geht aber immer um das Sehen von Bildern. (K5) In der Metaphysik werden Wörter der Alltagssprache auf neue Weise gebraucht. Wenn nun mit den neuen metaphysischen Begriffen der Alltag erfasst werden soll, passen sie – wegen ihrer Veränderung – nicht mehr klar in die ursprünglichen Strukturen und es ist nicht mehr klar, wie sich der neue Begriff in das Netz der alten Begriffe einfügen kann. Wittgenstein versteht diese Unklarheit als Dunkelheit der Metaphysik: Philosophers constantly see the method of science before their eyes, and are irresistibly tempted to ask and answer questions in the way science does. This tendency is the real source of metaphysics, and leads the philosopher into complete darkness (BB, S. 18).

Im Höhlengleichnis wird das, was Wittgenstein als Dunkelheit fasst, als Überhelle begriffen. Das Problem der metaphysischen Gegenstände ist nicht, dass sie unerkennbar und insofern düster sind, sondern dass sie über-erkennbar sind und daher zeitweise – bis zur Gewöhnung an das helle Licht – überfordern. Das ist für Wittgenstein eine Flucht in die Zukunft, da es nichts gibt, was es verbürgt, dass sich die Gewöhnung gewünschter Art einstellen wird.

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3.6.2 Der Lichtvers des Korans bei al-Ghazali Al-Ghazali (1058 – 1111) entwickelt kein eigenes Gleichnis, um die Erkenntnissituation des Menschen darzustellen, sondern legt in Die Nische der Lichter (1987) den Lichtvers des Korans aus. Allah ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist gleich einer Nische, in der sich eine Lampe befindet; die Lampe ist in einem Glase, und das Glas gleich einem flimmernden Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder vom Osten noch vom Westen, dessen Öl fast leuchtete, auch wenn es kein Feuer berührte – Licht über Licht! Allah leitet zu Seinem Licht, wen Er will, und Allah macht Gleichnisse für die Menschen, und Allah kennt alle Dinge (Koran a 24:35).

Wittgensteins Kritikpunkte K1-K3 betonen Probleme, die sich ergeben, wenn man die Vernunft als selbständig betrachtet. K4 kritisiert, dass im Gleichnis die Vielfalt der Verstehensformen überdeckt wird, da nicht-vernünftiges Verstehen als defizitärer, abgemagerter Modus des Vernunftgebrauches ausgelegt wird. K5 eröffnet die Frage, ob es gar keine Mittel gibt, um metaphysische Fragen positiv zu beantworten, oder ob es andere Mittel als das vernünftige Gründegeben braucht. Bei al-Ghazali finden sich alle diese Probleme im Ansatz berücksichtigt. Al-Ghazalis Wissensdurst wurde, wie er sagt, in seiner Jugend angeregt, als ihn frappierte, dass Kinder durch blinde Nachahmung zu Juden, Christen oder Muslimen erzogen werden. Al-Ghazali (1988, S. 5) suchte also eine Erkenntnisart, „in der sich das Erkannte in der Weise enthüllt, daß es keinen Zweifel mehr zulässt“. Als Kandidaten für sichere Erkenntnis sieht er zunächst sinnliche Wahrnehmung und vernünftige Denknotwendigkeiten. Die sinnliche Wahrnehmung scheitert, da z. B. die Sonne am Himmel sehr klein aussieht, mathematische Berechnungen sie aber als sehr viel größer ausweisen. Die Sinneswahrnehmung untersteht also einem Richter, der sie korrigiert: der Vernunft. Diese Form der Abhängigkeitsbeziehung lässt al-Ghazali nun aber auch an der Vernunft zweifeln, denn es gibt keinen Grund, warum die Vernunft nicht auch von einem höheren Vermögen in gleicher Weise korrigiert werden könnte. Vielleicht versteckt sich ja hinter der Vernunfterkenntnis ein anderer Richter welcher, sobald er in Erscheinung tritt, das Urteil der Vernunft der Lüge bezichtigt, wie der Richter der Vernunft erschienen ist und das Urteil der sinnlichen Wahrnehmung als Lüge bezichtigt hat. Die Tatsache, daß dieses Erkenntnisvermögen nicht hervortritt, beweist noch nicht die Unmöglichkeit seiner Existenz (al-Ghazali 1988, S. 8).

Da es unmöglich ist, sich vernünftig aus einem genuinen Zweifel an der Vernunft durch eine Begründungskette zu befreien, geriet er in eine Krise, die keinen Ausweg zeigte. „[Eine Heilung] könnte durch nichts anderes als durch einen

3.6 Lichtgleichnisse bei Platon, al-Ghazali und Wittgenstein

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Beweis erreicht werden. Ein solcher läßt sich aber nur mit Hilfe der primären Erkenntnisse konstruieren. Werden diese nicht anerkannt, dann kann der Beweis nicht geführt werden“ (al-Ghazali 1988, S. 9). Nach einigen Monaten hatte er die Krise überwunden. „Dies geschah nicht durch einen geordneten Beweis und eine systematische Redeweise, sondern durch ein Licht, das der erhabene Gott in meine Brust warf“ (al-Ghazali,1988, S. 10). Den Zustand der radikalen Skepsis bezeichnet al-Ghazali in dem Kontext als Krankheit. Das ist wieder eine Parallele zu Wittgenstein, der betont, dass man im Alltag einem radikalen Zweifler, der z. B. alle Ergebnisse der Mathematik ablehnt, da Fehler immer möglich seien, nicht versuchen würde einen Irrtum (also einen Fehler in einem prinzipiell richtigförmigen Gedankengang) nachzuweisen, sondern, dass man ihn eher für verrückt und somit für krank erklären würde (vgl. ÜG § 217). Die Vielfalt der Funktionsweisen der Verstehensformen und der ineinandergreifenden Sprachspiele würdigt al-Ghazali ansatzweise, wenn er vier Seelen mit andersartigen Funktionsweisen vergleicht, die im Lichtvers symbolisch dargestellt werden. Symbol

Symbolisiertes

Ähnlichkeit

Nische

Wahrnehmende Seele, die aufnimmt, was die Sinne vermitteln

Die Körperöffnungen zur Sinneswahrnehmung wie Auge, Mund usw. ähneln Nischen.

Glas

Vorstellende Seele, die Sinneswahrnehmungen speichert und rationale Erkenntnisse kontrolliert

So wie das Glas die Lampe vor stürmischen Winden schützt, schützt die vorstellende Selle die rationale Erkenntnis davor, den Bezug zur sinnlichen Welt zu verfehlen.

Lampe

Vernünftige Seele, die Einsicht in notwendige Erkenntnisse hat

Im Gegensatz zum Augenlicht kann das Licht der Vernunft sich selbst betrachten, ist nicht an räumliche Distanzen gebunden, kann das innere der Dinge begutachten, kann immaterielle Ideen durchdringen, Unendlichkeit verstehen und Sinnestäuschungen erkennen.

Ölbaum, der weder von Ost noch West kommt, dessen Öl fast von selbst leuchtet

Denkende Seele, die Schlussfolgerungen aus den notwendigen Erkenntnissen zieht und göttliche Erkenntnisse berührt. Der Koran als „Sonne der Vernunft“ kontrolliert sie.

Dass der Baum weder von Ost noch West kommt, steht für die Universalität der Erkenntnisse. Dass das Öl fast von selbst leuchtet, steht dafür, dass die denkende

220

3 Wegphase II: Spätphilosophie

Fortsetzung Symbol

Symbolisiertes

Ähnlichkeit Seele fast von selbst in einen prophetischen Modus geraten kann.

In Bezug auf K1-K3 besteht also eine große Parallele zwischen Wittgenstein und al-Ghazali. Beide stellen heraus, dass die Vernunft nicht selbständig agieren kann, sondern in einen Kontext eingebettet sein muss, der sie trägt und selbst nicht als vernünftig, sondern gewissermaßen a-rational zu charakterisieren ist. Beide untermauern das, indem sie die klassischen Methoden der traditionellen „rationalistischen“ Philosophie benutzen, um zu zeigen, dass diese, streng angewendet, sich selbst unterminieren. Al-Ghazali nimmt Wittgensteins Beschwerde über den Mangel klarer Erfolgskriterien in der Metaphysik vorweg, wenn er konstatiert: „[Die Philosophen] konnten den Beweisen nicht treu bleiben, deren Bedingungen sie in der Logik aufgestellt hatten. Deshalb mehrte sich der Streit unter ihnen“ (1988, S. 23). In seinem Werk Destructio philosophorum versucht al-Ghazali, die Metaphysiker mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen und zu zeigen, dass sie sich in unerträgliche logische Widersprüche verstricken. In Bezug auf K4 besteht eine gewichtige Parallele zwischen beiden Philosophen, da beide die Vielfalt der Verstehensformen bzw. Sprachspiele betonen und sich so gegen die Idee abgrenzen, man könnte Verstehen überhaupt auf eine einheitliche Formel bringen.

3.6.3 Licht bei Wittgenstein Die Bemerkung über das Licht von oben, das Wittgensteins Methode einen externen Segen geben soll, lässt sich nun kombinieren mit Bemerkungen über das Licht innerhalb der Methode. „Es darf nichts Hypothetisches in unseren Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Und diese Beschreibung empfängt ihr Licht, d.i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen“ (PU § 109). Weiter vergleicht Wittgenstein die sich wandelnde Vielfalt der Sprachformen mit einer sich natürlich entwickelnden Stadt. „Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern“ (PU § 18). Aus diesen drei Bemerkungen lässt sich ein Gleichnis bilden, das ästhetisch zwar deutlich hinter dem Höhlengleichnis und dem Lichtvers zurückbleibt, aber dennoch dazu dient, wichtige Aspekte von Wittgensteins Unternehmen hervor-

3.6 Lichtgleichnisse bei Platon, al-Ghazali und Wittgenstein

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treten zu lassen. In Kurzform: Menschen gehen in einer Stadt ihren Tätigkeiten nach, wobei im Rahmen verschiedener Tätigkeiten verschiedene Lichter leuchten. An den Grenzen der Stadt gibt es verschiedenartige Spiegel. Diese Spiegel reflektieren nur bestimmte Farben des Farbspektrums. Diese Spiegel werfen das reduzierte Licht zurück auf die Stadt und tauchen sie in ein unklares, rätselhaftes Zwielicht. Einige Bewohner legen die Beleuchtung durch die Spiegel als eine höhere Autorität aus, die eine Neubewertung des Alltags in diesem Licht fordert. Andere verweisen auf die Möglichkeit, die Spiegel anders einzustellen, so dass sie einfach die Stadt spiegeln, ohne bestimmte Lichtanteile zurückzuwerfen. Weiter weisen sie darauf hin, dass der Spiegel nur Licht, das aus der gewöhnlichen Stadt kommt, bruchstückhaft zurückwirft und somit nichts genuin Neues enthüllt. Die Stadt steht für die Alltagssprache. Die Spiegel stehen für die Möglichkeit reflektiert über die Alltagssprache nachzudenken. Die Lichtanteile zurückwerfenden Spiegel stehen für philosophische Reflexion im Modus der Metaphysik. Die neu eingestellten Spiegel stehen für philosophische Reflexion im Modus der Beschreibung der Grammatik der alltäglichen Sprachspiele. Die erste Bewohnergruppe steht für die Metaphysiker, die zweite Gruppe für jene, die Wittgensteins Methode annehmen. Die Möglichkeit zu zeigen, dass der Spiegel nur bestimmte Bruchstücke des Lichts der Stadt reflektiert, steht für die Möglichkeit metaphysische Fragen im Rahmen einer grammatischen Untersuchung auf eine Verwirrung von Sprachspielen zurückzuführen. Im Rahmen des Gleichnisses stellt sich die Frage nach der Absicherung von Wittgensteins Methode nun so. Man kann die Spiegel auf beide Weisen einstellen. Wenn man sie nach Wittgensteins Art einstellt, verliert man zwar das Zwielicht, aber ist es richtig, das zu tun? In welchem weiteren Lichte lässt sich entscheiden, dass dies die richtige Vorgehensweise ist? Das weitere Licht ist nun das Licht des befolgenden Anerkennens von harmonischen Mustern. Es stehen dem Reflektierenden zwei Haltungen offen: eine disharmonische, die „Zwielicht“ beinhaltet, so dass das Leben disharmonisch gemustert ist, sowie eine harmonische, in der „Zwielicht“ nicht ausbricht, so dass das Leben harmonisch gemustert ist. Das Licht der religiösen Perspektive sucht nach harmonischen Organisationsformen und vertraut darauf, dass diese eigentlich richtig sind. Dass diese Perspektive keinen rational zwingenden Beweis vorbringt, hat dabei eine positive Funktion. Gerade durch die Abwesenheit des klaren Beweises ist es eine ethische Leistung, sich von gewissen Denkmöglichkeiten nicht auf Abwege bringen zu lassen und frei zu einer kohärenten Lebenspraxis fortzuschreiten. Wie diese Richtigkeit, die den Anspruch hat, absolute und externe Standards zu treffen, nun nach Wittgenstein genau zu fassen ist, das ist nun final im letzten Kapitel dieses Abschnittes zu klären. Es geht nun also darum, nicht dabei stehen zu bleiben, dass die Wahrheit-der-Grammatik einfach anders zu denken ist als die Wahrheit-innerhalb-der-Grammatik, sondern, soweit

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3 Wegphase II: Spätphilosophie

möglich, positiv zu bestimmen, welches Bild wir uns laut Wittgenstein in der Sprachpraxis implizit vom Wahrsein der Grammatik bzw. von der externen Wirklichkeit machen.

3.7 Das Außersprachliche als erziehende, elterliche Autorität Das laut Wittgenstein in der Sprachpraxis implizite Bild der Wahrheit-derGrammatik soll in Auseinandersetzung mit zwei verzerrten Bildern vom Wesen der Wahrheit entwickelt werden, die in der Tradition einflussreiche Gedankenbewegungen darstellen.

3.7.1 Unordentliches Bild der Wahrheit als Repräsentation Bild A.1. (1) Die Form präsentiert sich dem Menschen. (2) Die Form strahlt von sich aus und gibt dem aufnehmenden Menschen vor, wie er als Mensch sein soll. (3) Der Mensch ahmt das nach, was ihm die Form vorgibt. Wahrheit besteht dann darin, dass der Mensch die als Vorbild fungierende Form akkurat abbildet. Bei dem Bild, in diesem Grad der Detailliertheit, findet sich z. B. beim zweiten Schritt ein Ort, an dem Skeptizismus geweckt werden kann. Form und Mensch werden als zwei verschiedene gefasst. Das heißt dann aber auch, kann der Skeptiker einhaken, dass die Form eben nicht „von sich aus“ leuchtet, sondern, dass der Mensch erst eine Technik der Deutung anwenden muss, um das Strahlen als Strahlen zu verstehen. Hierbei kann es aber, durch Anwendung einer falschen Technik, zu radikalen Missverständnissen kommen. Bild A.2. (1) Der Mensch blickt auf einen Spiegel. (2) Der Spiegel ist in so einem Winkel eingerichtet, dass nur der Spiegel sichtbar ist, nicht aber die gespiegelte Wirklichkeit direkt betrachtbar ist. (3) Der Mensch verhält sich so, als wäre das, was der Spiegel abbildet, wirklich. Der zweite Schritt ist wieder der Ort, an dem der Skeptizismus einsetzen kann. Es ist möglich, dass der Spiegel gar nicht als Spiegel fungiert, sondern als Zerrspiegel oder sogar Bildschirm für Fantasieszenen. Beide Bilder stellen heraus, dass Menschen, wenn sie mit der Wirklichkeit in Kontakt treten, mit etwas umgehen, das übergeordnet und unabhängig von ihnen ist und dem sie gerecht werden sollen. Insofern kann man sie durchaus positiv würdigen, solange das Ziel darin besteht, einfach nur diese Aspekte dessen zu verdeutlichen, was wir Wahrheit nennen. Die Bilder lassen aber auch vieles unterbestimmt, so dass sich hier leicht der skeptische Zweifel, der dann ins Bo-

3.7 Das Außersprachliche als erziehende, elterliche Autorität

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denlose führt, öffnet. Der nächste Typus Wahrheit aufzufassen kann nun als überspannte Reaktion auf diese Schwächen gefasst werden.

3.7.2 Unordentliches Bild der Wahrheit als nützliche Weltwendigkeit Bild B.1. (1) Die Form präsentiert sich dem Menschen. (2) Der Mensch wendet eine Technik der Deutung an, um zu determinieren, welche Mitteilung die Form macht. (3) Als Resultat der Technik geht der Mensch in bestimmter Weise mit der Welt um. (4) Wenn der Weltumgang als zielführend erlebt wird, dann gilt die in 2 angewendete Technik als richtig; wenn er als frustrierend erlebt wird, dann gilt die Technik als zu revidieren. (5) Durch den Prozess der Revision der Technik des Deutens, die offenlegen soll, was die Form mitteilt, zeigt sich, dass die sich in Schritt 1 präsentierende Form nie an sich da ist, sondern immer nur im Kontext eines deutenden Umgangs. Dieses Bild hat eine höhere Detailschärfe und zeigt an, warum der Skeptizismus nicht eigentlich angemessen ist, weil darin übergangen wird, dass das Kontrollieren von Wahrheit, wie wir sie verstehen, eben auch mit bewährtem, zielgerichteten Umgang in der Welt zu tun hat. Im Bild der Wahrheit als Repräsentation eines Vorbildes ist implizit schon herausgestellt, dass Wahrheit eine Beziehung zwischen dem Wahren und dem Wahrmachenden ist; das Gewicht der Beziehung liegt hier aber auf dem Wahrmachenden, welches schlicht imitiert werden soll. Im revidierten Bild wird verstärkt herausgestellt, dass das Wahrmachende etwas ist, das für Menschen nicht-selbstverständliche Relevanz haben muss und mit dem Menschen in aktivem Umgang stehen. Bei diesem Bild treten aber die Ziele des Menschen in eine derart privilegierte Position, dass die dem Menschen sich darbietende Welt nur noch als limitierende Kraft vorkommt, die den Deutungen des Menschen Grenzen setzt. Die Welt ist nun nur noch die Summe von dem, was Menschen – ihren Kräften entsprechend – aus ihr machen können. Nun ist ein für die Sprachpraxis fundamentaleres Bild zu fassen, aus dem die beiden oben genannten Bilder als Verwirrungen oder illegitime Verkürzungen hervorgehen.

3.7.3 Ordentliches Bild: Wahrheit als Ziel des Erzogen-seins Bild.C.1 (1) Der verständige Vater präsentiert dem Kind die Form. (2) Das Kind vernimmt frei die Gestalt der Form. (3) Das Kind verhält sich als Reaktion auf die Form in bestimmter Weise. (4) Der Vater greift erzieherisch durch Hinweise (Lohn/

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3 Wegphase II: Spätphilosophie

Strafe) in das Verhalten ein. (5) Das Kind lernt entweder, die ihm präsentierte Form so zu verstehen, wie der Vater es nahelegt, oder es erweist sich als unerziehbar. Wie in Bild A.1 hat die Form eine selbständige Wirklichkeit. Der Mensch, der nun bildlich als Kind gefasst wird, reagiert zunächst frei auf sie. Die Form ist somit selbständig, so dass Anlass für die skeptische Frage da ist, ob das Kind die Form richtig versteht. Dieser Skeptizismus wird nun aber eingehegt: Der Vater greift erzieherisch in das Verhalten ein, um das Kind zum richtigen Verständnis zu leiten. Wie in Bild B.1 wird also das richtige Verständnis der Form an die Konsequenzen im Handeln geknüpft. Nicht wie in Bild B.1 ist jedoch, dass es vermieden wird, Wahrheit auf einen zweckmäßigen Weltumgang zu reduzieren, in welchem die Eigenständigkeit der Form verloren geht. Die Eigenständigkeit der Form wird nun gewahrt, insofern der Vater als kompetenter, vertrauenswürdiger Mittler auftritt, welcher das Kind zum wirklichen Verständnis der Form führt. Dabei nutzt er Hinweise wie Lohn und Strafe: Das heißt aber nicht, dass das richtige Verständnis der Form darin besteht, zu verstehen, dass bestimme Handlungsweisen Strafen und andere Lohn zur Folge haben. Lohn und Strafe sind lediglich die Stufen, die genutzt werden, um zum eigentlichen Verständnis zu kommen. Ein Kind, dem durch Strafe zur eigentlichen Realisierung verholfen werden soll, dass bestimmte Verhaltensweisen an sich schlecht sind, soll mehr realisieren als nur das, wie es weltwendig gewisse unangenehme Strafen umgehen kann. Die Einhegung des Skeptizismus ist nur dadurch möglich, dass der Autorität des Vaters vertraut wird. An die Stelle des Skeptizismus tritt also nicht die radikale Unmöglichkeit des Fragens, sondern das beruhigte Vertrauen, das nicht zum Fragen aufgestachelt ist. Das Bild kommt an eine Grenze, wenn man sich fragt, woher der Vater denn nun seine Kompetenz erlangt hat. Daher ist es für Wittgenstein wichtig zu betonen, dass das Bild von Gott als Vater eben ein Bild ist. Dabei ist es ein Bild, das nur eine beschränkte Anwendung hat. „Den Sinn des Lebens, d. i. den Sinn der Welt, können wir Gott nennen. Und das Gleichnis von Gott als einem Vater daran knüpfen“ (TB 14– 16, S. 167). „Die Welt ist mir gegeben […]. [J]edenfalls sind wir in einem gewissen Sinne abhängig und das, wovon wir abhängig sind, können wir Gott nennen […]. Um glücklich zu leben, muss ich in Übereinstimmung sein […] mit jenem fremden Willen, von dem ich abhängig erscheine. Das heißt: ‚Ich tue den Willen Gottes’“ (TB 14– 16, S. 169).

3.7 Das Außersprachliche als erziehende, elterliche Autorität

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3.7.4 Variation des ordentlichen Bildes: Wahrheit als sich-als-Teil-harmonisch-in-eine-übergeordnete-entzogene-Struktur-einfügen Bild.C.2 (1) Das ganze Sein ist ein Muster. (2) Der Mensch als Teil dieses Seins stellt ein bestimmtes Muster dar. (3) Für den Menschen sind nur die Grenzen des ganzen Seins, in das er eingefügt ist, zugänglich, so dass er nicht überprüfen kann, ob das eigene Muster sich harmonisch ins Musterganze einfügt. (4) Wenn sich das Menschen-Muster nicht einfügt, dann kann es nicht bestehen und zerfällt. (5) Auf das Zerfallen folgt ein neuer Versuch der Musterbildung, mit dem Anspruch, dieses weitere Mal dem nicht durch Prüfung zugänglichen äußeren Muster gerecht zu werden. Das ganze Sein hat laut diesem Bild eine „Ausrichtung“, die in Abb. 3.1 durch die Pfeile dargestellt ist. Das Sein eines Menschen ist als viereckiger Raum dargestellt, der als untergeordneter Teil in die gerichteten Pfeile eingefügt ist. Das insich-Abgeschlossene des Vierecks soll darstellen, dass die menschliche Perspektive nicht die „absolute Perspektive“ einnehmen kann, aus der es sich als Teil des übergeordneten, gerichteten Musters erfassen kann, aber diese in einem Grenzbereich gewissermaßen „berührt“.

Abb. 3.1: Imperfektes Bild. „Mythologie“ des externen Seienden, die der alltäglichen Sprachpraxis laut Wittgenstein implizit ist

Innerhalb des menschlichen Freiraums können nun verschiedene Seinsweisen verwirklicht werden, die sich entweder wie in Abb. 3.2 harmonisch in die Gerichtetheit des übergeordneten Seienden einfügen oder disharmonisch wie in Abb. 3.3 dazu verhalten. Die Harmonie ist dadurch dargestellt, dass die Pfeile so verknüpfbar sind, dass sie eine Grundrichtung befolgen. Die Disharmonie ist dadurch ausgedrückt, dass die Pfeile im menschlichen Freiraum in verschiedene Richtungen drängen und sich nicht in die übergeordnete, externe Grundrichtung einfügen.

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3 Wegphase II: Spätphilosophie

Abb. 3.2: Mögliches harmonisches Einfügen der Seinsweise in die Grenzen des Externen

Abb. 3.3: Mögliches disharmonisches Widerstreiten der Seinsweise

In diesem Bild wird wieder der Mittelweg zwischen Skeptizismus und AntiSkeptizismus beschritten. Ein Menschenmuster ist wahr, wenn es sich in das übergeordnete Muster einfügt. Dieses ist nicht überprüfbar, da der übergeordnete Bereich jenseits der Grenzen entzogen ist, so dass Skeptizismus prinzipiell möglich ist. Der Skeptizismus wird aber in dem Bild wieder dadurch eingehegt, dass früher oder später das Muster zerfällt, wenn es sich nicht recht einfügt (so wie früher oder später der Vater im obigen Bild das Kind korrigiert, wenn es im freien Lernen zu sehr abirrt). „Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische“ (VB, S. 487). „Das Leben kann zum Glauben an Gott erziehen. Und es sind auch Erfahrungen, die das tun; […] z. B. Leiden verschiedener Art“ (VB, S. 571). Damit ist auch gezeigt, inwiefern die Möglichkeit verschiedener adäquater Sprachspiele, in denen es andere Regeln für wahre/gültige Sätze gibt, mit dem Gegebensein einer außersprachlichen Wirklichkeit vereinbar ist. So wie es verschiedene Möglichkeiten gibt, ein Muster auf harmonische Weise zu vervollständigen, so gibt es auch verschiedene Sprachspiele, die sich harmonisch in den außersprachlichen Kontext einfügen. Wittgenstein würde damit eine Art Realismus des Telos in der menschlichen Sprachpraxis identifizieren. Es ist wichtig, dass die Sprachpraxis ein bestimmtes Ziel (das Einfügen) erreicht; dieses kann jedoch auf verschiedene Weise erreicht werden. Vorsichtig könnte man z. B. die außersprachliche Wirklichkeit mit dem Telos „Komponiere ein Stück in der Tonart A-Dur“ vergleichen, der immer bereits dann erreicht wird, wenn das Lied in dieser Tonart komponiert wird: Die Unterschiedlichkeit der Kompositionen voneinander

3.7 Das Außersprachliche als erziehende, elterliche Autorität

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bedeutet dabei nicht, dass sie nicht einem absoluten, externen Standard gerecht werden sollen. Genauso wenig folgt aus der Vielfalt möglicher Sprachspiele, dass sie nicht einem externen Standard gerecht werden sollen. Dabei ist zu betonen, dass dieses Bild der Wahrheit, die als musikalische Harmonie gefasst wird, – ähnlich wie das Bild der Wahrheit als Abbild – am Anfang der Philosophiegeschichte steht und bei Platon vorkommt (vgl. Politeia, 443d). Beide Bilder sind richtig angewendet natürlich zulässig – das Bild der Wahrheit als harmonisches Einfügen in einen übergeordneten Kontext hat jedoch den Vorteil, klar zu machen, wie verschiedenartige Sprachspiele dennoch wahrlich einer sprachexternen Wirklichkeit gerecht werden können. Die Menschen treten implizit bei Wittgenstein also nicht als Spiegel auf, die passiv die Wirklichkeit nachstellen, aber auch nicht als Schöpfer, die aktiv und selbständig Wirklichkeit kreieren. Wittgenstein warnt davor, dass man seine Philosophie in einem „falschen Lichte“ (ÜG § 554) sieht, wenn man aus der grundlosen Gewissheit, mit der Menschen grammatische Regeln als gültig festhalten, schließt es gäbe Dinge, „[w]orüber Gott selber mir nichts erzählen könnte“ (ÜG § 554). Vielmehr erscheinen diese Positionen nun als verwirrte Extrempositionen, die verkennen, dass Menschen eben nur schöpferisch in einem eng gesteckten Rahmen sind, der äußerlich gegeben ist, und der anerkannt werden soll. Die Wahrheit des Sprachspielganzen hat also immer eine ethische Dimension. Wenn man sich die Wahrheit des Sprachspiels nach dem Modell der Wahrheit eines wissenschaftlichen Satzes in einem naturwissenschaftlichen Sprachspiel vorstellt, dann verkennt man die Wahrheitsweise völlig. Diese Explikation des impliziten Verständnisses der Wahrheit-des-Sprachspiels als Ziel-des-Erzogenseins-durch-die-elterliche-Autorität bzw. der Wahrheit-des-Sprachspiels als harmonisches-Einfügen-in-das-übergeordnete-Muster ist dabei nicht als naiver Schluss vom Alltagsverständnis auf die eigentliche Wirklichkeit gedacht, sondern als Explikation der Strukturen, die unser Verstehen doch immer schon formen. Wird nun die Figur des Einfügens nicht in ganz andersartiger Weise benutzt als vorher in Kapitel 2 und 3, wenn vom Einfügen oder Einordnen in den logischen Raum bzw. in die Logik der profanen Sprachspiele die Rede war? Ist nicht einmal mit Einfügen das Einfügen in den hierpräsenten logischen Raum gemeint, und einmal mit dem Einfügen das Einfügen in das externe Seiende, das hier gerade nicht präsent ist, gemeint? Der Verbindungspunkt besteht darin, dass Wittgenstein die schiere Gestalt des logischen Raumes (bzw. die schiere Gestalt der Logik der profanen Sprachspiele) bildhaft als Ausdruck eines fremden, autoritären Willens auslegt. Der logische Raum ist also der Grenzbereich, in dem sich das Diesseitige der profanen Naturwelt und das radikal Externe ansatzweise berühren. Wer sich in die dies-

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3 Wegphase II: Spätphilosophie

seitig zugänglichen Grenzen des logischen Raumes in spezifischer Weise einfügt, fügt sich somit auch in das Externe in spezifischer Weise ein. Warum ist der logische Raum Ausdruck des Externen? Weil Menschen ihr Sprechen bzw. ihre Sprachfähigkeit und ihr verstehendes Sein nicht selbständig hervorbringen und kontrollieren, und weil sie die sich empirisch in den Grenzen der Logik entfaltenden Ereignisse ebenfalls nicht grundsätzlich kontrollieren. Menschen sind keine unabhängigen Wesen, sondern zutiefst abhängige Wesen, die eine menschliche Grundform haben, die sie nicht selbst erschaffen haben und nicht selbständig neuschaffen können. Dieses, wovon man als Mensch fundamental abhängig ist, und das uns laut Wittgenstein ethisch ruft und herausfordert, fasst Wittgenstein bildlich als Vater, der eine erzieherische Tätigkeit ausübt.

4 Wegphase III + Rückkehr? (Über Gewissheit) Kommen wir nun zur letzten Phase und beachten bestimmte Aspekte in Wittgensteins letztem Werk Über Gewissheit, welche die Voraussetzungen seines eigenen Projekts bedrohen könnten. Dieses Kapitel hat dabei einen anderen Stil als die vorigen. Es wird andeutungsweise gezeigt, dass Wittgensteins Trennung von Alltag und Metaphysik in Über Gewissheit fragil zu werden droht. Dann werden skizzenhaft einige Denkmöglichkeiten umrissen, die sich daraus ergeben. Diese werden nicht im Detail entfaltet, sondern in einer gewissen Nähe zum Brainstorming ausgebreitet.

4.1 Grammatik versus Metaphysik? Die grammatische Methode ist explizit antimetaphysisch. Wo die Tradition philosophische Fragen abschließen will, indem das Fragwürdige mit einer Theorie gefüllt wird, da soll die grammatische Methode die Fragen selbst entfernen. Aber es besteht die Möglichkeit, dass die Methode zwar antimetaphysisch anfängt, dadurch ein a-metaphysischer Blick auf den Alltag kultiviert wird, woraufhin dann in dieser antimetaphysischen Perspektive die Metaphysik doch wieder – vielleicht in leicht modifizierter Form – auftaucht. Grammatik schaut auf den Alltag, der von Wittgenstein als Gegensatz zur Metaphysik „konstruiert“ wird.Was aber ist, wenn die Betrachtung des Alltages die Metaphysik kurioserweise doch als Teil des Alltages zeigt? Welche philosophischen Früchte kann man dann noch ernten? Wäre das ein absolutes Scheitern von Wittgensteins Projekt und eine besiegte Rückkehr zur Tradition, oder würde noch ein genuiner philosophischer Fortschritt vorliegen? Methodische Notwendigkeit der radikalen Trennung zwischen Alltag und Metaphysik? Wittgenstein bringt den Graben zwischen seiner Philosophie und der irregehenden traditionellen Metaphysik auf den Punkt: „Philosophische Untersuchungen: begriffliche Untersuchungen. Das Wesentliche der Metaphysik: daß sie den Unterschied zwischen sachlichen und begrifflichen Untersuchungen verwischt“ (Z §458). Wittgenstein stellt damit ein deutliches Kriterium vor, mit dem sich Metaphysik identifizieren lässt. Dort wird die eigentliche Grenze zwischen begrifflichen Untersuchungen und sachlichen Untersuchungen nicht gewürdigt. Begriffe werden dabei durch die Grammatik der Sprachspiele bestimmt, und sachliche Untersu-

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4 Wegphase III + Rückkehr? (Über Gewissheit)

chungen betreffen Vorkommnisse – z. B. auftauchende Faktenlagen – innerhalb der Sprachspiele. Damit gibt Wittgenstein gleichermaßen ein Kriterium vor, welches schlimmstenfalls die „Selbstzerstörung“ oder andernfalls doch eine recht „radikale Transformation“ seiner Philosophie bedeuten könnte. Falls die begrifflichen Untersuchungen in gewisser Weise doch auch notwendig sachliche Untersuchungen implizieren, dann, so scheint es, muss man die Metaphysik gewissermaßen wieder in den Bereich der akzeptablen Philosophie aufnehmen. In Über Gewißheit vergleicht Wittgenstein die Grammatik der Sprachspiele – also die in Z §458 angesprochene begriffliche Ebene – mit einem Flußbett und die sachliche Ebene mit „der Bewegung des Wassers im Flußbett“ (ÜG §97). Die Begriffe – das Flußbett – können sich nun jedoch verändern. Diese Veränderung wird dabei durch die Bewegung des Wassers bedingt. „Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung nicht gibt“ (ÜG §97). Wittgenstein warnt nun davor, daraus, dass es generell nur eine unklare Grenze zwischen Logik und Erfahrungswissen gibt, abzuleiten, dass die „Logik eine Erfahrungswissenschaft“ (ÜG §98) ist. Das liegt daran, dass ein Satz, auch wenn er auf beiderlei Weise benutzt werden kann, entweder als logischer oder eben als empirischer behandelt wird. „Aber dies ist richtig, daß der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfung behandelt werden kann“ (ÜG §98). Ein Beispiel für einen Satz, der als logischer oder empirischer verwendet werden kann, ist: „M.B. hat Hände.“ Wenn ich, M.B., vor einem Spiegel stehe, der – aus welchen Gründen auch immer – das Licht meiner Hände „verschluckt“, bin ich nicht ansatzweise versucht, empirisch zu schließen, dass meine Hände verschwunden sind, sondern nutzte die Existenz meiner Hände als logischen Standard, um den Spiegel als irgendwie verändert zu erschließen. Als empirischer Satz fungiert er z. B. dann, wenn ich von einem wilden Tier gebissen wurde, sich meine Hände infiziert haben und eine Amputation als realistische Option zur Debatte steht. Dann hat der Satz seinen logischen Status verloren – und zwar durch das empirisch zugängliche Ereignis der Verletzung. Ein Beispiel für die Veränderung des Status eines logischen Satzes zeigt sich auch in der von Wittgenstein 1950 erwähnten logischen Gewissheit, dass kein Mensch jemals auf dem Mond gewesen sein könnte. Ein Erwachsener hätte einem Kind erzählt, er wäre auf dem Mond gewesen. Das Kind erzählt mir das, und ich sage, es sei nur ein Scherz gewesen, Soundso sei nicht auf dem Mond gewesen; der Mond sei weit, weit von uns entfernt, und man könnte nicht hinaufsteigen oder hinfliegen. – Wenn nun das Kind darauf beharrte: es gebe vielleicht doch eine Art, wie man hinkommen könne, und sie sei mir nur nicht bekannt, etc. – was könnte ich erwidern? […]

4.1 Grammatik versus Metaphysik?

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Ein Kind wird aber für gewöhnlich nicht an so einem Glauben festhalten und bald von dem überzeugt werden, was wir ihm im Ernst sagen (ÜG §106).

Die Veränderung des grammatischen/logischen Satzes geschieht nicht durch Sichtung eines vorhersehbaren empirischen Belegs. Sie geschieht durch eine langsame, unvorhersehbare Änderung des Begriffssystems. Wenn wir in unserem System denken, so ist es gewiß, daß kein Mensch je auf dem Mond war. Nicht nur ist uns so etwas nie im Ernst von vernünftigen Leuten berichtet worden, sondern unser ganzes System der Physik verbietet uns, es zu glauben. Denn dies verlangt Antworten auf die Fragen: „Wie hat er die Schwerkraft überwunden?“, „Wie konnte er ohne Atmosphäre leben?“ und tausend andere, die nicht zu beantworten wären (ÜG §108).

Die langsame Transformation des Begriffssystems lässt sich nun durch die prinzipielle Unvorhersehbarkeit der neuen Form des Systems von Situationen abgrenzen, in denen neue – empirisch eingeholte – Fakten überraschen, die als prinzipielle Möglichkeit immer schon transparent, wenn auch unwahrscheinlich, waren. Insofern (a) die Welt jetzt sprachlich und in Begriffen vernommen wird, (b) jetzt keine Welt jenseits der Begriffe zugänglich ist und (c) den gewöhnlichen Begriffen jetzt ein Grundvertrauen entgegengebracht werden muss, so ist nicht klar, was genau geschehen wird, wenn der zukunftsweisende Prozess beginnt, in dem die Ordnung des Begriffssystems durch langsame Transformation wichtiger Begriffe aufgeweicht wird, um schließlich wieder ein einigermaßen festes System zu bilden. Bei Veränderungen der Grammatik innerhalb einer Sprachgemeinschaft verweist Wittgenstein auf wie von selbst und unbemerkt geschehende Prozesse. Die Änderung der Grammatik wird nicht aktiv herbeigeführt, sondern ergibt sich als Nebeneffekt, dem man gewissermaßen passiv ausgesetzt ist. Im Rahmen des Bildes des Flussbetts, in welchem das fließende Wasser für die Anwendung der Grammatik und das Bett für die Regeln der Grammatik steht, sagt Wittgenstein: „Ja, das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird“ (ÜG §99). Nicht in den Fokus gerückt wird die Möglichkeit, dass Menschen aktiv in philosophierender Auseinandersetzung mit der sich empirisch zeigenden Welt neue Sprachspiele entwerfen, die sich dann als Alltagspraxis etablieren. Gibt es Gründe, warum Wittgenstein sich diese Möglichkeit, falls sie genuin da ist, verdeckt? Es fällt hier auf, dass Wittgenstein philosophische Ideen unter anderem als leerlaufendes Rad charakterisiert. „Hier möchte ich sagen: das Rad gehört nicht zur Maschine, das man drehen kann, ohne daß Anderes sich mitbewegt“ (PU §271).

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4 Wegphase III + Rückkehr? (Über Gewissheit)

Wittgenstein beachtet Fälle, in denen philosophische Begründungen, wenn sie konsequent weitergedacht werden, zum unendlichen Regress führen, wodurch sie sich als leerlaufend zeigen. Wittgenstein trennt somit die philosophische Begründung radikal von der Praxis ab, weil die philosophische Begründung die Praxis gar nicht konsequent begründen kann. Aber was ist, wenn Wittgenstein ein falsches Bild davon hat, wie eine philosophische Begründung eine Sprachpraxis begründen können müsste? Wittgensteins Kritik an der Metaphysik zielt darauf ab, dass sie (a) keine klaren Erfolgskriterien hat, obwohl sie diese bräuchte, und (b) dadurch auch von der Praxis abgetrennt ist. Die Trennung der Metaphysik von der Sprachpraxis lässt sich so fassen, dass die Sprachpraxis erst dann begründbar wäre, wenn eine klare, absolut abgeschlossene metaphysische Begründung vorläge. Aber verdeckt Wittgenstein damit nicht die Möglichkeit einer ewig-vorläufigen-Metaphysik, einer ewig-nicht-ganz-konsequenten-Metaphysik, einer wesenhaft-unreinen Metaphysik, einer suchend-tastenden-aber-niemals-greifendenMetaphysik? Warum sollte die Metaphysik eigentlich nicht erst dann ihre eigentliche Kraft entfalten können, wenn sie vom Zwang des Ideals zur absoluten Reinheit befreit wird? Wenn man so eine Option nicht kategorisch als inkohärent zurückweist, dann lässt sich auch der Bezug so einer Metaphysik-Variation zur alltäglichen Sprachpraxis anerkennen. Betrachten wir hier näher den Fall der Grammatik „innerer“ Zustände. Es wird nun gefragt, ob nicht eine oben skizzierte Form der Metaphysik doch die alltägliche Grammatik innerer Zustände genuin verändern kann. In PU §283 hält Wittgenstein eine Regel der Grammatik fest: „Nur von dem, was sich benimmt wie ein Mensch, kann man sagen, daß es Schmerzen hat.“ Von Steinen und Pflanzen, so Wittgenstein, können wir es gemäß unserer Grammatik nicht sagen. Nehmen wir also Wittgenstein beim Wort und wenden uns dem Feld der Pflanzenneurobiologie zu. In diesem Kontext wird auch darüber nachgedacht, Pflanzen Arten von Bewusstseinszuständen zuzuschreiben. Passiert hier nun etwas, dass man in gewisser Weise doch als Form der Herstellung neuer Grammatiken auf gewissermaßen metaphysischer Grundlage charakterisieren könnte? In der Tradition von Charles Darwin, der Argumente dafür untersuchte, inwieweit Pflanzen intelligent sind und bewusste Empfindungen haben, stellt Stefano Mancuso (Mancuso & Viola 2015) unter anderem folgende Punkte heraus. (1) Pflanzen reagieren geordnet auf Probleme in ihrer Umwelt, indem sie sich adäquaten Lichtverhältnissen zuwenden oder Tiere anlocken und abstoßen. Die Reaktionen auf die Umwelt zeigen auch so etwas wie Kosten-Nutzen-Abwägungen zwischen verschiedenen Optionen. (2) Aus dem Verhalten der Pflanzen lassen sich neben den fünf Sinnen, die auch Menschen kennen, bis zu 20 Sinne herleiten.

4.1 Grammatik versus Metaphysik?

233

Darunter fallen Sinne, welche elektromagnetische Felder, Luftfeuchtigkeit oder Gravitation erkennen. (3) Pflanzen kommunizieren mit anderen Pflanzen, indem sie z. B. vor Schädlingen warnen. Sie bilden so komplexe soziale Netze. Insofern im Kontext der Pflanzenneurobiologie so etwas wie „reine“ Naturwissenschaft betrieben wird, ist das Projekt für Wittgensteins grammatische Bemerkung, dass Pflanzen keinen Schmerz haben können, harmlos. Wenn im Sprachspiel der Naturwissenschaft bestimmte Reaktionen von Pflanzen als Schmerz kategorisiert werden, z. B. die Reaktion, bestimmte chemische Stoffe auszuschütten, wäre das zuerst einmal nur ein Name für bestimmte beobachtbare biologische Prozesse. Dieser Begriff des „Schmerzes“ würde einer durchaus anderen Grammatik folgen als jener des menschlichen Alltags. Philosophisch herausfordernd für Wittgensteins Perspektive ist es, wenn nun Menschen anfangen, (a) aufgrund dieser sich empirisch zeigenden Verhaltensweisen der Pflanzen in metaphysische Argumentationen darüber einzusteigen, wie es ultimativ für die Pflanze selbst ist, lebendig zu sein, und sie dann zusätzlich (b) ihren alltäglichen Umgang mit Pflanzen aufgrund des metaphysischen Argumentierens tatsächlich ändern. Dann würde sich nämlich zeigen, dass die Metaphysik nicht einfach ein Rad ist, das sich in der Leere dreht, sondern ein Rad, das tief in den Alltag greift. Kategorisch zu behaupten, dass die Änderung des Alltags nie eigentlich durch die metaphysische Argumentation bedingt wird, wäre dogmatisch. Wittgenstein stellt heraus, dass die gängige Grammatik des Zuschreibens von Schmerzen unter Menschen nicht auf einem Analogieschluss beruht. Ein Kind, das Sprechen lernt, fängt nicht im Zustand der nüchternen Neutralität gegenüber anderen Lebewesen an, stellt dann nicht irgendwann fest, dass das eigene Schmerzempfinden mit Schmerzäußerungen gekoppelt ist, und es leitet nicht sodann her, dass Andere bei analogen Äußerungen analoge Gefühle haben müssen. Die wirkliche und mit Gewissheit ausgeübte Praxis könnte von solchen prinzipiell hinterfragbaren Herleitungen nicht getragen werden. Aber nun scheint sich eine Situation aufzutun, in welcher ein metaphysischer Analogieschluss doch einen Teil dazu beitragen könnte, eine alltägliche Praxis zu etablieren. Im weiteren Kontext der streng in der Perspektive der dritten Person ausgeführten Naturwissenschaft wird nämlich immer wieder die Frage aufgeworfen, ob an die beobachtbaren Handlungen der Pflanzen so etwas wie Bewusstsein gekoppelt ist. Dann wird die Argumentation mit Analogien wichtig. Es wird seitens der Gegner argumentiert: „1. Bewusstsein ist an ein Gehirn gekoppelt, wie man es von Tieren kennt. 2. Pflanzen haben kein derartiges Gehirn. Also: Pflanzen haben kein Bewusstsein.“ Seitens der Befürworter wird argumentiert: „1. Bewusstsein ist an das Gehirn oder gehirnähnliche nervliche Strukturen gekoppelt. 2. Pflanzen haben gehirnähnliche nervliche Strukturen. Also: Pflanzen haben Bewusstsein.“ An

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4 Wegphase III + Rückkehr? (Über Gewissheit)

solche metaphysischen Argumente knüpfen sich dann Erwägungen darüber an, welche ethische Praxis man gegenüber Pflanzen einnehmen sollte, ob man Pflanzen z. B. bestimmte Rechte zugestehen sollte, ob man sie vor Licht- und Lärmbelästigung schützen sollte usw. Die Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich (2008) beschäftigt sich z. B. mit politischen Forderungen, die aus der Würde der Pflanzen hervorgehen könnten, die sie im Zusammenspiel wissenschaftlicher Forschung und philosophischer Reflexion zu fassen versuchen (vgl. Grefe 2006). Nun wäre es ein Wittgensteinianischer Zug, zu sagen, dass die metaphysische Argumentation eben nicht absolut schlüssig ist und sein kann. Gründe und Gegengründe halten sich die Waage. Wenn also eine bestimmte ethische Praxis gegenüber Pflanzen etabliert wird, dann sind die metaphysischen Argumente eigentlich nur Luftgebäude, an denen die Entscheidung zur Praxis gar nicht hängt, da die metaphysischen Argumente – weil sie nie absolut abgeschlossen sind – eben nicht die Kraft haben, die Praxis zu begründen. Aber würde sich dann Wittgenstein nicht gegen die Grammatik sperren? Ist es wirklich widersinnig, festzuhalten, dass metaphysische Argumentation in einem Zwielicht des Zwischenzustandes passiert, in welchem sie zwar eine Praxis nicht vollständig begründen kann, aber doch einen relevanten Teil zur endgültigen Entscheidung für sie beiträgt? Ist es nicht möglich, dass die metaphysische Argumentation zwar ein Faktor unter vielfältigen Ursachen ist, nie alleinstehender Faktor sein könnte, aber in komplexer Relation zu anderen Faktoren eben doch gewichtiger Faktor ist? Ist es nicht prinzipiell möglich, dass z. B. bestimmte Personen damit ringen, ob sie nun Pflanzen Bewusstsein zuschreiben sollen oder nicht, woraufhin das Nachdenken über metaphysische Argumente dann zu einer bestimmten Praxis führt? Wenn das so ist, dann müsste Wittgenstein dieser Art bescheidener Metaphysik einen Platz einräumen. Man könnte Wittgenstein auch noch weiter herausfordern und die Frage aufwerfen, ob es nicht Wittgensteins eigene Verstrickung in die philosophische Tradition des Aristoteles ist, in der die Pflanzenseele strikt von der Tierseele getrennt wird, die ihn zu einer Fehlsicht auf die Grammatik des Schmerzbegriffs und der damit verwandten Begriffe führt. Ist Wittgenstein so sehr in einer teilweise auch metaphysisch begründeten Tradition verhaftet, dass er die metaphysischen Wurzeln der von ihm beschriebenen Grammatik gar nicht mehr erblicken kann? Auch wenn nicht jeder neu in die Sprachgemeinschaft einzuführende Sprecher sein eigenes Sprechen auf die metaphysische Grundlage stellt, ist es nicht möglich, dass ein metaphysischer Begründungsgang über Generationen hinweg sich in einem instinkthaften Selbstverständnis niedergeschlagen hat? Man könnte weiter Wittgenstein mit seinen eigenen Mitteln bedrohen. Eine von Wittgensteins Hauptstrategien ist es, darauf zu verweisen, dass ein fremder

4.1 Grammatik versus Metaphysik?

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Bereich nach dem Modell eines künstlich privilegierten Bereichs dargestellt wird, wodurch bestimmte Aspekte des „rangtieferen“ Bereichs verstellt werden. Wenn man die bewussten Sinneswahrnehmungen von Pflanzen strikt nach dem Modell von Tieren denkt und nach Organen sucht, die streng analog zu Augen, Nase, Mund, Haut und Ohr sind, oder man nach Nervensystemen sucht, die streng analog zum Gehirn eines Tieres sind, dann bleibt die Suche unergiebig. Pflanzen sind teilbar und daher keine unteilbaren Individuen. Sie sind außerdem in der Bewegung stark eingeschränkt. Dadurch ergibt sich eine spezifische Form der Angreifbarkeit, die es nötig macht, dass lebenswichtige Funktionen sich nicht auf bestimmte Zentren konzentrieren, sondern sich relativ gleichmäßig verteilen. Pflanzen orientieren sich nicht mit Hilfe von Augen am Licht, sondern die Lichtstrahlung, die auf die Blätter trifft, löst bestimmte chemische Reaktionen aus, die über die Lichtverhältnisse „informieren“. Wenn man nun Sehen streng nach dem Modell des Auges begreift, dann wird das eigenartige Sehen der Pflanze verstellt. Pflanzen sind weiterhin durch ihre Wurzeln an einen Standort gebunden und können sich nur langsam bewegen. Bei Schmerz sind typische Reaktionen wie Flucht oder Kampf bei Pflanzen also nicht möglich. Dennoch reagieren sie in einer Weise auf Bedrohungen, welche die Funktion erfüllt, sie zu schützen. Beim Nahen von Fressfeinden werden z. B. Giftstoffe produziert. Pflanzenneurobiologen wie Mancuso (Mancuso & Viola 2015) heben hervor, dass in solchen Fällen den Pflanzen oft verschiedene „rationale“ Handlungsmöglichkeiten offenstehen, so dass sich die Pflanze gewissermaßen „je nach Charakter“ für eine Handlungsoption entscheiden muss. Es wird also betont, dass das Verhalten eine Komplexität und Intelligenz hat, die sich nicht auf simple Reiz-Reaktions-Schemen hinunter brechen lässt. Die metaphysisch richtige Grammatik des Begriffes „Schmerz“ bei Pflanzen könnte so – trotz gewichtiger Unterschiede – durchaus genuine Familienähnlichkeiten mit unserm gewöhnlichen Schmerzbegriff haben. Es geht in dieser Arbeit nicht darum, die starke These zu verfechten oder anzugreifen, dass Pflanzen irgendeine Art von Bewusstsein haben. Es geht darum, dass diese metaphysische Position (a) prinzipiell möglich ist, (b) sich an empirische Befunde koppeln und durch sie erhärten lässt (insofern sich z. B. bei exaktem Studium der empirischen Welt bei Pflanzen Strukturen finden lassen, die dem bewussten Verhalten von Tieren ähnlich sind) und (c) als Teilbegründung einer alltäglichen Sprachpraxis fungieren könnte, die sich z. B. juristisch in der Notwendigkeit niederschlägt, bestimmte „Pflanzenrechte“ zu wahren.

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4 Wegphase III + Rückkehr? (Über Gewissheit)

4.1.1 Metaphysik als innerer Teil und nicht als äußere Königin Wenn als Ziel der Metaphysik die ultimative Letztbegründung gefasst wurde, die aus der externen Perspektive das richtige Licht auf die Erscheinungswelt wirft, und diese Position nun verworfen wird, aber die Metaphysik doch einen Platz behalten soll, wie muss man sie dann „zuschneiden“? Man muss vielleicht beobachten, wie die Metaphysik eigentlich im Alltag funktioniert. Was heißt das nun konkret? Die ultimative Letztbegründung gibt es nicht, wie die Sichtung der Alltagsgrammatik zeigt. Dennoch gibt es metaphysische Begründungen. Es sind also vor-läufige Begründungen, die ihre Kraft erst im Gespann mit anderen Kräften besitzen. Bei einer Sichtung des metaphysischen Geschehens zeigt sich die Begründung als Teil einer größeren „Liste“ von Kräften, die Menschen aktiv im Umgang mit philosophischen Fragen nutzen. Die Liste soll hier nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit aufgeführt werden, sondern nur die Gesellschaft der Aktivität des Begründens andeuten. – Begründen – Belohnen/Bestrafen – Beeindrucken – Bewähren – Bekehren – Bearbeiten Vom Begründen zum Beeindrucken zum Begründen zum … Eine Grenze, an der das Begründen in eine andere Aktivität umkippt, ist das ästhetische Beeindrucktsein. Einstein bemerkte, dass das Akzeptieren einer Theorie in der Physik auch auf Schönheit beruht: „The only physical theories that we are willing to accept are the beautiful ones“ (zit. nach Farmelo 2002, S. xii). Hier drängt sich die Frage auf, ob man wirklich von einem Umkippen sprechen kann: Ist Schönheit laut diesem Ansatz nicht einfach gute Evidenz dafür, dass eine Theorie tatsächlich wahr ist? Wird nicht einfach die Schönheit als Begründung herangezogen? Ist demnach nicht die Begründung die fundamentale Aktivität, die in Variationen – worunter die Variation der Begründung durch Schönheit ist – ausgeführt wird? Diese Überlegungen demonstrieren aber wieder nur, dass das Begründen auf andere Verstehensaktivitäten angewiesen ist. Denn nun bräuchte es – wieder der Fall des infiniten Regresses – eine Begründung dafür, dass Schönheit begründende Evidenz ist. Tatsächlich jedoch tritt Schönheit als eigenständige Kraft auf, die im Alltag ganz natürlich von der Begründung abgegrenzt wird, aber die Begründung unterstützt.

4.1 Grammatik versus Metaphysik?

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Es ist aber nicht nur der Fall, dass beeindruckende Schönheit Begründungen unterstützt: Auch die Wirkung der Schönheit wird durch externe Begründungen gestützt. Denn es wird ja durchaus – wenn auch nicht mit der Kraft einer metaphysischen Letztbegründung – dafür argumentiert, dass Schönheit nicht ultimative, sondern abgeleitete begründende Evidenz für etwas Anderes ist (für die Wahrheit einer Theorie, für die genetische Fitness eines Lebewesens usw.). Es kann z. B. argumentiert werden, dass eine Theorie eher dann wahr ist, wenn sie relativ übersichtlich ist, und dass sie dann auch schöner ist, und dass über den Umweg der Übersichtlichkeit die Schönheit zu genuiner Evidenz wird. In der Metaphysik ist dieses gegenseitige Stützen von Begründen und Beeindrucken oder das Ineinanderübergehen bzw. das Umschlagen von einer Aktivität in die andere in Platons Phaidros zu beobachten. Vom Begründen zum Belohnen/Bestrafen zum Begründen zum … Der Gedanke, die Physik zur Metaphysik zu erheben und die Naturwissenschaften als jene Disziplinen aufzufassen, welche das Seiende exakt so erfassen, wie es ist, drängt sich vielen Menschen leicht auf. Aber warum sollte genau die Physik die von der Metaphysik gesuchte Wahrheit enthüllen? Man könnte ja nun auf Kant zurückgreifen, um grob zu argumentieren, dass die Naturwissenschaften zwar die Welt der Phänomene beschreiben, dass es aber unzulässig ist, daraus auf das Noumenon zu schließen. Dann könnte man wiederum Kants Unterscheidung von analytischen und synthetischen Sätzen angreifen, usw. In gewisser Weise als Ausbruch aus diesem Geben von „abstrakten“ Gründen oder Gegengründen kann der Verweis auf so etwas wie belohnenden Erfolg gesehen werden. „Philosophische Gründe“, könnte man sagen, „hin oder her: Die Naturwissenschaften belohnen die Zivilisationen, die sie betreiben, mit mächtiger Technologie, die in erstaunlichem Maße Übel wie Hunger, Krankheit oder Distanzen überwinden kann.“ Das Belohntwerden durch die Technologie wird dann schlicht als Zeichen dafür erlebt, dass die Naturwissenschaften nicht nur die physische, sondern gleichermaßen metaphysische Wirklichkeit zeigen. Trotz der theoretischen Möglichkeit, die Argumente für oder gegen diese Position weiterzuführen, kommt der Drang zum Gründefinden an ein Ende, da für die Verfechter sozusagen der belohnende „Erfolg für sich selbst spricht“. In analoger Weise wird mit den gleichen Mitteln – mit dem Verweisen auf den belohnenden Erfolg – dafür gefochten, dass Physik nicht Metaphysik sein kann, da es bestimmte Probleme gibt, die nicht auf dem Boden der Naturwissenschaften und der Technologie gelöst werden können. Es wird dann z. B. angeführt, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Das Erlebnis der belohnenden Fülle, die sich beim Hinausgehen über die natürliche Perspektive einstellt, wird trotz der Mög-

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lichkeit, theoretisch weitere Gründe und Gegengründe zu suchen, dann als Zeichen dafür akzeptiert, dass die Physik nicht die ganze Wirklichkeit fasst. Vom Begründen zum Bearbeiten zum Begründen zum … Wenn es nun so ist, dass in der Metaphysik keine Letztbegründung errungen wird, aber dennoch Begründungsgänge eingeschlagen werden, aus denen praktische Konsequenzen gezogen werden, dann stellt sich die Frage, wie man das Ende dieses Ganges charakterisieren muss, der ja doch als irgendwie defizitär gesehen wird. Ist es einfach eine Schlussfolgerung aus einem nicht-ultimativen-Grund? Nehmen wir an, es wird eine Begründung dafür gesucht, was Wahrheit nun eigentlich genau ist. P1 argumentiert grob auf Grundlage eines teleologischen Gottesbeweises, dass ein Schöpfergott existiert, und dass Wahrheit darin besteht, die Gedanken, die der Schöpfer vor-gedacht hat, nun selbst nach-zudenken. Wahrheit ist dann gegeben, wenn die eigenen Gedanken den Gedanken Gottes folgen. P2 wiederum argumentiert, dass Gott ein kühnes Postulat außerhalb der Erlebnissphäre ist: Insofern Wahrheit im menschlichen Leben eine Rolle spielt, argumentiert P2 grob, muss sie dort gefunden werden, wo der Mensch selbst aktiv ist. Wahrheit, so die grobe Argumentation, ist etwas Menschengemachtes, insofern sie einfach menschengeschaffene, verlässliche Handlungsanweisungen bezeichnet. Wenn es nun (a) so ist, dass beide – und vergleichbare – Begründungsgänge nie eine Letztbegründung hervorbringen, die alle rationalen Wesen überzeugt, diese Begründungsgänge aber (b) dennoch als Begründungsgang und nicht wegen ihrer Offenheit als reine Pseudo-Begründungsgänge aufgefasst werden sollen, dann stellt sich die Frage: Ist der letzte Schritt im Begründungsgang, das Ergebnis des Begründungsgangs eine Schlussfolgerung aus einem schwebenden Grund? Oder handelt es sich um etwas Anderes? Insofern der Grund ein schwebender Grund wäre, ist er nur schwer als Grund – also als Fundament – zu charakterisieren. Er ist eben nicht fest gegründet. Was in den besprochenen Fällen stattdessen passiert, kann man jedoch sagen, ist, dass das Begründen hier in das Bearbeiten umkippt. Durch den Prozess des Gründegebens werden Konzepte wie „Wahrheit“ gar nicht einfach begründet, sondern sie selbst werden bearbeitet, modifiziert, kreativ umgestaltet. P1 und P2 begründen nicht so sehr bestimmte Vorstellungen von dem, was Wahrheit ist, sondern werden selbst kreativ und gestalten auf Basis der ihnen historisch zukommenden Wahrheitsbegriffe neue Ausgestaltungen. Insofern die verschiedenen Wahrheitskonzepte sich auch im Alltag, in wissenschaftlicher und religiöser Praxis niederschlagen, geschieht die Bearbeitung nicht einfach in einem abgetrennten Bereich der Schwebe, sondern greift tief in das restliche Leben ein.

4.1 Grammatik versus Metaphysik?

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Das Umkippen vom Begründen ins Bearbeiten kann nun jedoch wieder „zurück-kippen“. Wenn akzeptiert wird, dass bei den Versuchen, ein Konzept letztzubegründen, eine Bearbeitung vorgenommen wird, lädt sich folgende grobe Argumentation ein: Bestimmte Auslegungen von Wahrheit können nicht ultimativ begründet werden, und das ist wiederum ein Grund dafür, anzunehmen, dass es kein absolutes Konzept der Wahrheit gibt, sondern dass in der Praxis immer kontingente Wahrheitskonzepte angewendet werden. Aber auch dieser „Grund“ (?) zeigt sich wieder als Grenzfall: Der entsprechende Begründungsgang, der darin kulminiert, dass es kein absolutes Wahrheitskonzept gibt, kann selbst als Bearbeitung des Wahrheitskonzeptes aufgefasst werden. Im Gang wird nämlich der Begriff „Wahrheit“ so ausgegeben, dass das Konzept „Wahrheit“ zunächst ein „wildes“ Bedeutungs-Ur-Feld voller Material ist, das man dann so gestalten kann, dass verschiedene konkrete Varianten davon, was Wahrheit ist, entwickelt werden können. Aber diese Bereitstellung von Wahrheit-als-relativ-offenes-gestaltbares-Konzept ist selbst eine Bearbeitung des vor-philosophischen Wahrheitskonzeptes, da auch die Begründung von ihm nicht durch eine Letztbegründung abgeschlossen ist und das vor-philosophische Wahrheitskonzept eben vor-philosophisch ist und sich daher nicht mit einer philosophischen Fixierung decken kann. So kippt das Begründen in das Bearbeiten in das Begründen in das Bearbeiten. Vom Begründen zum Bekehren zum Begründen zum … Harry Binswanger (2015) beschreibt, wie er als Student in einer Vorlesung von Ayn Rand saß, den Argumenten halbaufmerksam folgte und dann plötzlich, nach dem Hören weniger Sätze, Rands philosophische Grundposition übernahm. Die Worte lauteten: „Man can focus his mind to a full, active, purposefully directed awareness of reality – or he can unfocus it and let himself drift in a semiconscious daze, merely reacting to any chance stimulus of the immediate moment, at the mercy of his undirected sensory-perceptual mechanism and of any random, associational connections it might happen to make“ (Binswanger 2015). Diese Worte, so schien es Binswanger (2015), zeigten ganz plötzlich eine klare Struktur im Leben auf, die alle Herausforderungen des Lebens aufschlüsselt: „I thought, ‘This is the most important thing I’ve ever heard. It’s the key to everything: I can take control of my own mind, and thus of my life.’“ Die Wirkung der Worte wurde dabei nicht durch spezifische, theoretische Argumente erzielt, sondern durch die Haltung Rands. (1) Binswanger war davon positiv erschüttert, dass Rand ihre eigenen Romanfiguren – und damit sich selbst – als Autoritäten zitierte. (2) Er hat sich in die Radikalität ihres Denkens verliebt: „She was absolute, radical, black-and-white. I loved that.“ (3) Der Tonfall mit dem Rand auf die Frage, ob sie ein Atheist sei, antwortete, dass sie natürlich ein Atheist

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sei, machte aus Binswanger, bis dahin ein Agnostiker, unmittelbar einen Atheisten. When asked, “Are you an atheist?” she answered, “Of course,” as if slightly surprised by being even asked – something like how you would respond if asked, “Do you wear warmer clothing in winter?” On hearing that “Of course,” I instantly became an atheist (Binswanger 2015).

Nun ist ein Tonfall etwas ganz anderes als ein rationales Argument. Dennoch, so Binswanger, war der Tonfall eben auch an rationale Gründe gekettet. „Rand went on to explain that she accepted reason and only reason, and that in thousands of years, no purportedly rational argument for God had ever stood up to inspection. And that added a sense of objectivity to my reaction“ (Binswanger 2015). (4) Weiterhin beeindruckte ihn, dass im Feld der Sexualethik Rand, im Gegensatz zur sonst dominierenden Atmosphäre in den 1960er Jahren, es wagte, die Keuschheit zu affirmieren und sich selbst ernst zu nehmen. „She considers her choices, her values, and her person to be sacred. That appealed to me on a deep level“ (Binswanger 2015). Auch hier zeigt sich wieder das metaphysische Gründegeben eingespannt in ganz andere Wirkkräfte. Vom Ideal der scharfen Letztbegründung her können diese Kräfte wie Beiwerke wirken, die von den Kernproblemen ablenken und sie verwässern. Aus der ordnenden Perspektive jedoch, die zunächst allen Verstehenskapazitäten mit Vertrauen begegnet – weil jede strenge Privilegierung einer bestimmten Kapazität darauf beruht, anderen Kapazitäten willkürlich das Vertrauen zu entziehen – müssen auch die anderen Kräfte als gerecht anerkannt werden. Diese Perspektive fordert, dass man sich klar ist, wann man begründet, wann man bekehrt, wann man bearbeitet usw., damit es nicht zu Verwirrungen der Kapazitäten kommt. Gleichzeitig muss aber auch – wenn man sich selbst transparent werden will und sich nicht verdecken will, was man praktisch ja doch tut – sich bewusst sein, dass die verschiedenen Verstehenskräfte in vielförmiger Weise ineinandergreifen. Das Ordnen würde also darauf hinauslaufen, die Verstehenskapazitäten so zu organisieren, dass sie weitestgehend harmonisch zueinander stehen, und keine Kapazitäten über ihre Unterdrückung „klagen“.

4.2 Konsequenzen für das philosophische Denken Eingeordnete Metaphysik versus traditionelle, externe Metaphysik Die Letztbegründung hätte einen Abschlusspunkt des philosophischen Denkens dargestellt, an dem die Philosophie zur Ruhe kommt.

4.2 Konsequenzen für das philosophische Denken

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Hier drängen sich zwei Bilder auf. (BM1) Zum einen lässt sich an einen Ball denken, der angestoßen wird und, abhängig davon mit welcher Kraft er angestoßen wurde, irgendwann auf dem Grund zur Ruhe kommt. Das Ruhen des Balles an einer bestimmten Stelle des Grundes steht dafür, dass ein bestimmter philosophischer Grund als adäquate philosophische Begründung anerkannt wird. (BM2) Zum anderen lässt sich an ein Haus denken. Ein Haus wird gebaut und bezogen. Das Bauen des Hauses steht für das Errichten einer begründeten philosophischen Theorie. Das Beziehen des Hauses steht für das Akzeptieren der Begründung. Nun kommt aber, wie sich gezeigt hat, das Denken nicht in einer Letztbegründung zur Ruhe. Es zeigt sich stattdessen, dass das Verstehen in einer gewissen „Wildheit“ vom Begründen in andere Aktivitäten umkippt. Es ist möglich, dass das Begründen ins Bekehren ins Bearbeiten ins Belohnen/Bestrafen und so weiter umkippt. Es zeigt sich kein Endpunkt, an dem das Verstehen in endloser Befriedigung, in der keine Fragen mehr möglich und aufwühlend sind, stehen bleibt. Es mag sehr lange Perioden der relativen Ruhe geben. Aber diese zeigen eben auch nur relative, nicht absolute Ruhe. Langfristig ist es so, dass das Verstehen eine Struktur hat, die absolute Ruhe ausschließt. Die Abwesenheit von Kriterien, die eine Verstehensbewegung zur Ruhe bringt, bedeutet Folgendes: So lange Verstehensprozesse passieren, besteht ein Zwang zur Re-Orientierung, der sich aus der Offenheit der Verstehensprozesse ergibt. Die Bilder lassen sich demnach so weiter entwickeln. (BM1) Der Ball kommt zunächst nach dem Wurf zur Ruhe. Nach einer gewissen Zeit, die sehr schnell oder sehr langsam eintritt, wirken andere Kräfte, – in dem Ball oder außerhalb des Balles (das ist für das Bild nebensächlich) – die den Ball wieder verschieben, so dass die Ruhe verloren wird. Das Bewegen des Balles steht dafür, dass das Begründen auf natürliche Weise in andere Aktivitäten umkippt. Die Begründung ist nie eine ultimative Begründung und es treten in den Philosophierenden Fragen auf, die nicht nur mit dem Mittel der Begründung, sondern auch den Mitteln der Bearbeitung, der Bekehrung, dem Beeindrucken behandelt werden. (BM2) Das bezogene Haus ist zunächst bewohnbar. Dann zerfällt es und der Boden, auf dem es errichtet wurde, verliert – wenigstens vorübergehend – die Festigkeit. Der Zerfall des Hauses und des Grundes steht dafür, dass sich nach der nicht ultimativen Begründung andere Verstehensprozesse melden, welche die Begründung vielleicht teilweise auch stützten, aber früher oder später auch so sehr angreifen, dass die ursprüngliche Begründung nicht mehr so verteidigt werden kann. Die Möglichkeit, dass der Boden später wieder nutzbar wird, steht dafür, dass philosophische Gründe, die zwischenzeitlich ihre Wirkmächtigkeit verloren haben, in einer neuen Situation wieder eine Renaissance erleben können.

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Eingeordnete Metaphysik versus klassische Ordnung Wittgensteins Wittgenstein hat gehofft, dass die Philosophie in einer Beschreibung der Grammatik der Alltagssprache zur Ruhe kommt. Die Unruhe, so seine Diagnose, kommt dadurch, dass die verschiedenen Formen verschiedener Grammatiken miteinander vermischt werden und so in Unordnung kommen. Als Problem hat sich nun aber gezeigt, dass die klare Trennung zwischen begrifflichen und empirischen Untersuchungen, die seine Methode voraussetzt, sich als nicht eigentlich der Alltagssprache entsprechend zeigt. Hier drängt sich ein Bild auf. (BW1) Wenn man den Himmel betrachtet, und bemerkt, dass sich dort Wolken befinden, drängt sich leicht die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Wasser auf: Wasser, das z. B. in Wolkenform im Bereich des Himmels ist, und Wasser, das auf oder unter der Erde fließt und steht. Vor dem Hintergrund der Unmöglichkeit der radikalen Trennung empirischer und begrifflicher Untersuchungen, die Wittgenstein forderte, kann sein Projekt an eine Person erinnern, die versucht, sämtliches Wasser der Welt entweder in den Himmelsbereich oder den Erdbereich einzuordnen. Nun tut sich aber ein Problem auf: Die Natürlichkeit des Regens. Wenn es regnet, wird die angestrebte Ordnung aufgeweicht. Die fallenden Regentropfen sind weder klar im einen, noch im anderen Bereich. Aber wenn man nun im Bild bleibt, dann ist der Regenfall natürlich gar nichts Unordentliches, sondern schlicht Teil einer dynamischen, komplexen Ordnung. (Man könnte sogar, im Bild bleibend, darauf verweisen, dass es eben gerade erst die scheinbare Unordnung der Wassermengen ist, die nicht in ihrem designierten Bereich bleiben, die z. B. das Leben von Pflanzen ermöglicht – und damit das Leben aller in der Nahrungskette höherstehenden Lebewesen.) Versucht Wittgenstein also in seinem ordnenden Projekt schlicht eine zu einfache, zu starre Ordnung zwischen verschiedenen klar abgegrenzten Sprachbereichen zu fixieren? Übersieht er dadurch, dass es gerade die oben beschriebene Dynamik des Umkippens des Begründens ins Bearbeiten ins Bekehren usw. ist, welche eine dynamische, „höhere“ Ordnung darstellt? Betrachten wir noch ein zweites Bild.Wittgensteins methodische Frage lautet: „Wird denn [das metaphysisch verwendete] Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?“ (PU §116). Wittgenstein treibt also Philosophie im Modus der Heimkehr. Weiter vergleicht er die Sprache mit einer Stadt. „Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt“ (PU §18). (BW2) Zusammengenommen ergibt sich das Bild, dass der Metaphysiker sich aus der Stadt in eine Art lebensfeindliche Wildnis begibt, in der er einem verwirrenden Chaos ausgesetzt ist. Ziel ist es den Weg zurück in die Heimat zu finden. Nun hat sich aber gezeigt, dass die Alltagssprache gar nicht diese klare Trennung hergibt. Metaphysik ist vielmehr Teil der Alltagssprache. Ist die Meta-

4.2 Konsequenzen für das philosophische Denken

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physik also ein bestimmtes Gebäude in der Stadt? Ist die Metaphysik der Königspalast oder wenigstens das Rathaus der Stadt? – Das wäre ein irreführendes Bild, da sich ja die Metaphysik – als metaphysisches Begründen – als Teil der dynamischen, ineinandergreifenden, sich gegenseitig perpetuierenden Verstehensprozesse gezeigt hat. Die Metaphysik könnte bildlich also eher durch einen einflussreichen Berater in einem Gremium vieler einflussreicher Bearbeiter gefasst werden. Aber hier ist zu bedenken, dass Philosophie in der ordnenden Perspektive eben nicht mit Metaphysik gleichzusetzen ist. Metaphysik ist ein Teil der Philosophie. Darüber hinaus gibt es das philosophische Ordnen der Verstehenskapazitäten. Diesen Teil der Philosophie hat Wittgenstein in seinem Versuch, verschiedene Sprachspiele voneinander klar zu trennen, deutlich vorgeführt. Nun gehört aber auch das reflektierte Einordnen der Metaphysik zu diesem ordnenden Teil der Philosophie. Für die ordnende Philosophie drängt sich nun ein anderes Bild auf. Wenn wir mit Wittgenstein weiterdenken und aus bestimmten Aspekten seines Philosophierens, die sich als wichtig gezeigt haben, die Konsequenzen ziehen und versuchen, (a) den ordnenden, harmonisierenden Anspruch Wittgensteins beizubehalten, aber (b) trotzdem anerkennen, dass es eine künstliche, faule Ordnung wäre, die Metaphysik aus der Alltagssprache auszuschließen, bietet sich das folgende Bild an. Das Bild ist der jüdisch-christlichen religiösen Tradition entnommen. Aber hier sei noch einmal betont, dass hier „spielerisch“ mit den Bildern umgegangen wird. Sie werden genutzt, um philosophische Denkbewegungen zu illustrieren, die sich ergeben, wenn man den Rahmen von Wittgensteins Denken einschlägt. Das Motiv der Heimkehr in das gelobte Land ist deutlich in der jüdischen Tradition. Im Pessachfest wird die Befreiung aus der ägyptischen Sklavenschaft gefeiert, welche die Rückkehr in das gelobte Land ermöglicht. Nun ist interessant, wie Jesus dieses Konzept modifiziert. Die Kreuzigung und Auferstehung findet zum Pessachfest statt. Die Bedeutung liegt nahe: 1. Jesus ist das „ewige“ Pessach-Lamm, das die Sünden der Welt vollständig wegnimmt (während die „normalen“ Pessach-Lämmer aufs Neue geschlachtet werden müssen). 2. Während die Befreiung aus Ägypten das Volk dafür frei macht, die Gebote Gottes zu befolgen, macht die Kreuzigung von Jesus die Gläubigen dafür frei, seinem Beispiel zu folgen und so frei für ihr eigentliches Menschsein zu werden. Der „Witz“ besteht nun darin, wie Jesus mit dem Konzept der Heimat und der Heimkehr umgeht. „Als Jesus die vielen Menschen sah, die um ihn waren, befahl er, ans andere Ufer zu fahren. Da kam ein Schriftgelehrter zu ihm und sagte: Meister, ich will dir folgen, wohin du auch gehst. Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen

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4 Wegphase III + Rückkehr? (Über Gewissheit)

Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Mt 8,18 – 20). Wir haben hier den Übergang vom Leben im Modus der Heimkehr zum Leben im Modus des Unterwegseins. Gleichzeitig ist klar, dass das Unterwegssein von Jesus eines sein muss, dass nicht rastlos-chaotisches Hin- und Hergehen ist, sondern sich eben an Gott orientiert, der Zielpunkt der wechselhaften Geschichte ist. Beziehen wir das Bild auf den Umgang mit der Metaphysik im Rahmen einer ordnenden Philosophie: Die Metaphysik ist eingebettet in endlos-dynamische Prozesse, die ein ewiges Ruhen, eine ewige verwirklichte Ordnung unmöglich machen. Die Philosophie ist also nicht im Modus der Heimkehr, sondern in einem Modus des ständigen Unterwegsseins. Dennoch verfällt sie nicht in ein zielloses Chaos, da sie die immer wieder neu zu erringende harmonische Ordnung der Verstehenskapazitäten im Blick hat. Der Zielpunkt ergibt sich aus der Überzeugung, dass eine harmonische Ordnung möglich ist und dass sie immer wieder neu errungen werden kann. Das heißt: Die Vielfalt der Sprachspiele, die das menschliche Leben formen, haben eine vielgestaltige, innere Dynamik und dabei tritt immer wieder der Drang auf, bestimmte Sprachspiele zu privilegieren, so dass andere unzulässig „unterdrückt“ oder „verstellt“ werden. Im Tractatus wird z. B. gezeigt, wie die Naturwissenschaft gegenüber der Logik privilegiert wird, so dass die Logik verstellt wird. Diese Unterdrückung der Logik zeigt sich dann schmerzlich in unangenehmen philosophischen Verdrehungen wie der Typentheorie von Russell. Dieses Unwohlsein, das sich aus der Unterdrückung ergibt, hört erst auf, wenn die Logik auf die ihr eigentümliche Weise anerkannt und verstanden wird. Nach diesem Muster, das ist die ordnende Idee, muss die Vielfalt der Verstehensformen in Harmonie gebracht werden. Wegen der Instabilität und Wechselhaftigkeit, die im Rahmen des metaphysischen Begründens auf jeden Fall dazukommt, ist das jedoch eine immer wieder neu und nur vorläufig zu erringende Harmonie. Damit zeigt sich, dass das philosophische Denken im Spannungsfeld von Ruhe und Unruhe stattfindet: Die Unruhe, die sich aus der inneren Dynamik der Sprache ergibt, wird getragen von der Ruhe des Zielpunktes der harmonischen Ordnung. Anders ausgedrückt: Der Zielpunkt der harmonischen Ordnung ist die oben angesprochene „höhere Ordnung“, die sich nach Bild BW1 darin ausdrückt, dass der Regenfall – der zunächst „unordentlich“ scheint, weil die Trennung zwischen Wasser im Himmel und auf der Erde verwässert wird – auf der hohen Stufe doch eine Ordnung zeigt, weil die Bewegung des Wassers von Erde zu Himmel zu Erde den Rahmen für alle möglichen Lebensprozesse abgibt.

4.2 Konsequenzen für das philosophische Denken

245

4.2.1 Warum gibt es überhaupt etwas und nicht viel mehr nichts? – Ein ordnender Lösungsweg Was bedeutet der oben skizzierte philosophische Ansatz nun für traditionelle, „tiefe“ metaphysische Fragen? Denken wir an die Frage, warum überhaupt Sein und nicht vielmehr Nichtsein ist. Warum gibt es etwas und nicht nichts? Warum gibt es Seiendes und nicht bloß Nichtseiendes? Der ordnende Ansatz sieht vor, dass es nicht zur Privilegierung einer Verstehensweise kommt. Skizzieren wir nun einen möglichen Lösungsweg. Dem Denkenden könnten sich beispielsweise (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) drei Grundweisen eröffnen, mit der Frage umzugehen. Diese werden kurz umrissen. Weg 1: Der Philosophierende akzeptiert die metaphysische Frage als wohl-geformt und sinnvoll Dann drängt sich als erstes das Problem auf, wie eine genuine Antwort auf die Frage überhaupt aussehen könnte. Es wird schnell klar, wie die Antwort nicht aussehen kann. Es kann keine Antwort der Form „X wegen Y“ („Die Uhr gibt es wegen des Uhrenmachers“, „Honig gibt es wegen der fleißigen Bienen“) sein, da dies die Frage nach dem Ursprung unendlich weiter verschieben würde. Die Antwort kann also nicht im Verweis auf eine Kausalursache liegen. Was ließe sich also im Blick auf diese Fragen erringen, das als Erklärung gelten kann? Zwei grobe Antwortmöglichkeiten tun sich nun auf. 1: Das Sein könnte „zufällig“ und „aus dem Nichts“ entstanden sein. 2. Das Sein könnte in seiner Grundstruktur oder Grundform notwendig sein. Antwortmöglichkeit 1 könnte dubios wirken, in dem Sinne, dass es sehr fragwürdig erscheint, dass eine Welt, in der sehr viel Ordnung zu beobachten ist, ohne Grund aus dem „reinen Chaos des Nichts“ emergiert ist. Selbst wenn man nicht von einer teleologischen Lenkung der Entstehung ausgehen will, so scheint es doch schwer, eine ordentliche Entstehung zu verneinen. Selbst ungelenkte Prozesse wie die Evolution im klassischen Sinne Darwins beschreiben ja nicht, wie aus Chaos und Zufall Ordnung entsteht, sondern wie ein geordneter Prozess – die natürliche Selektion – wirkt. Auch wenn man davon ausgeht, dass es neben dem beobachtbaren, geordneten Universum eine unendlich große Anzahl von Universen gibt, von denen die meisten chaotisch sind, und schließt, dass die Menschen zufällig in einem Universum leben, das zur „unendlich kleinen“ Menge der ordnungsvollen Universen gehört, so scheint man eine Grundordnung durch die Hintertür einzuschmuggeln: Es scheint nämlich einen Prozess zu geben, der alle möglichen Universen verwirklicht. Darüber hinaus: Ist dieser Möglichkeitsraum nicht bereits etwas Seiendes, das geordnet ist? [In diesem Absatz wird

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4 Wegphase III + Rückkehr? (Über Gewissheit)

„Ordnung“ im ganz gewöhnlichen Sinne genutzt. Es soll damit keine besondere Nähe zur „ordnenden Lesart“ Wittgensteins nahegelegt werden.] Bei der zweiten Antwortmöglichkeit tut sich die Frage auf, ob es überhaupt eine Erklärung ist, zu sagen, dass etwas notwendig existiert? Es scheint jedoch so zu sein, dass dem eine gewisse erklärende Kraft innewohnt. Warum gilt das logische Gesetz der Identität, warum ist „A=A“? Es ist durchaus klärend, hier festzuhalten, dass dies eben eine notwendige Form ausdrückt. Ähnlich, wenn man fragt, warum „3+5=8“ ist. Wenn man weiß, was „3“, „5“, „+“, „=“ und „8“ bedeuten, so weiß man mit Notwendigkeit, dass der Satz notwendig wahr ist. Mit den Zeichen wird auf eine Struktur verwiesen, die notwendig ist, so dass ihre Affirmierung notwendig wahr ist. Grob nach diesem Vorbild könnte man nun das „Sein An Sich“ erklären. So ähnlich wie mathematische und logische Sätze notwendig sind, so ist das „Sein An Sich“ (die „Grundform des Seins“, „das gesuchte Etwas“) notwendig. Problematisch bleibt hier die Düsterheit und Grobheit der Erklärung. Weg 2: Der Philosophierende weist die Frage als nicht wohlgeformt zurück Vielleicht ist die Frage ganz falsch gestellt. Vielleicht ist die Frage „Warum existiert etwas und nicht viel mehr nichts?“ zwar ein grammatisch korrekter deutscher Satz, der aber dennoch keine genuine Frage aufwirft.Vielleicht ist es eine PseudoFrage wie „Ist eine Taube identischer als eine Biene?“ Hinter der Frage könnte schlicht ein Kategorienfehler stehen. So ist es zwar zulässig, danach zu fragen, warum dieses oder jenes Seiende existiert, aber nicht danach zu fragen, warum überhaupt etwas oder „Sein An Sich“ existiert. Wenn es aber nur eine Scheinfrage ist, der eine Illusion von Sinnhaftigkeit anhaftet, drängt sich auf, warum die fragenden Menschen dennoch so stark von einer Illusion ergriffen sind, welche die Frage wohlgeformt und recht wichtig erscheinen lässt. Weg 3: Der Philosophierende nimmt an, dass einige „metaphysische“ Fragen nicht theoretische, sondern praktische Antworten erfordern Die Frage „Warum gibt es Sein und nicht vielmehr Nichtsein?“ (bzw. eine der möglichen Variationen) ist vielleicht gar keine theoretische Frage, sondern eine Art Ruf, der einen aufmerken lassen soll. Die geforderte Erwiderung ist dann gar keine theoretische Antwort, sondern z. B. eine bestimmte Art zu leben, das Verwirklichen einer bestimmten Lebenspraxis. Die Frage ist ein Hinweis darauf, dass es eine Lebenspraxis – eine Weise in der Welt zu sein – gibt, in der sich das Sein nicht mehr als theoretisches Problem stellt, das es zu lösen gilt, sondern in der sich das Sein von selbst versteht und rechtfertigt. Das Sein zeigt sich dann nicht als Quelle von theoretischen Fragen, sondern als Anlass es zu zelebrieren.

4.2 Konsequenzen für das philosophische Denken

247

Hier stellt sich das Problem, ob die Antwort nicht auf eine seltsame „Unterdrückung“ der intellektuellen Ansprüche hinausläuft. Natürlich erschöpfen sich die Möglichkeiten nicht mit diesen drei Wegen und natürlich können sie selbst noch in vielerlei Variationen ausgelegt werden. Es sind aber genuin gangbare und genuin problematische Wege. Nun ist der ordnende Umgang mit diesen Wegen davon abzugrenzen, wie im Kontext von dem, was auf Grundlage Wittgensteins in dieser Arbeit als „klassische“ Metaphysik gefasst wurde, mit der Vielfalt der Wege umzugehen wäre: Die Wege widersprechen sich demnach gegenseitig logisch. Entweder es ist eine wohlgeformte theoretische Frage, oder es ist eine nicht-wohlgeformte theoretische Frage, oder es ist gar keine theoretische, sondern eine rein praktische Frage. Es kann also nur maximal einer der Wege richtig sein. Bestenfalls könnten die Widersprüche als scheinbare Widersprüche ausgelegt werden, die sich auf einer höheren Ebene auflösen. Auf dieser höheren Ebene wäre dann aber der klare Blick der logischen Eindeutigkeit zurückgewonnen, der das Sein mit scharfem Blick fixiert und „festnagelt“. Was wäre der ordnende Weg? – Der ordnende Weg ist es, dass der Denkende nicht versucht, eine künstliche Einheit zu erstellen, indem einer der sich eröffnenden Wege privilegiert wird. Der Denkende muss sich in seiner Vielheit anerkennen und, aller Spannungen zum Trotz, muss er alle Wege gleichzeitig beschreiten. Bildlich gesprochen muss er sich in drei Personen „aufspalten“, welche die verschiedenen Denkwege einschlagen und dabei in spannungsvoller Kommunikation miteinander bleiben. Und wohin führen die Wege? Muss sich der Denkende in drei Personen „aufspalten“, die alle ihren eigenen Weg konsequent alleine gehen, damit sie sich am Ende der Wege, sozusagen „nach getaner Arbeit“, wieder zu einer Einheit zusammenschließen können? Nein, denn das wäre der klassische Ansatz, in dem sich Spannungen auf der höheren Ebene auflösen sollen. Die „kuriose“ Antwort ist es, dass (a) allen Wegen zunächst im Grunde vertraut werden muss, so wie man als Mensch – der die Ergebnisse seiner Verstehensorgane nicht „direkt“ mit der „Wirklichkeit an sich“ vergleichen kann – den verschiedenen Verstehensformen eben vertrauen muss, wenn die Struktur des Verstehens nicht ins bodenlose Chaos brechen soll oder willkürlich umgestaltet werden soll, und dass (b) es gerade die Herausforderung an die Freiheit des Denkenden ist, produktiv mit den Spannungen umzugehen, die Spannungen zu „zähmen“, ohne sie zu vernichten, so dass eine harmonische, aber lebhaft-offene Gesamtsituation entsteht. Aber wird damit nicht doch schlussendlich eine höhere Ebene eingenommen? Ist der einzige Unterschied nicht, dass die „klassische“ Metaphysik versucht, die Spannungen in logischer Eindeutigkeit aufzulösen, während der ordnende Ansatz

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4 Wegphase III + Rückkehr? (Über Gewissheit)

lediglich eine Zähmung der Spannungen fordert? Die Antwort ist hier, dass es eben nicht die eine höhere Ebene gibt, aus der sich die Gesamtheit der Verstehensformen überblicken lässt, sondern, dass sich die Verstehensformen gegenseitig anblicken. Hier liefert die Bildersprache des Christentums wieder ein Bild, mit dem man „spielerisch“ umgehen kann, um den oben gewonnenen philosophischen Gehalt zu verdeutlichen. Gott wird als Trinität gedacht. Gott ist eine zusammenstehende Einheit aus dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Wenn Gott nun als Sein An Sich gedacht wird, und wenn dieses als Vater, Sohn und Heiliger Geist da ist, dann bekommt sich das Sein An Sich nie ganz in gleichförmiger Transparenz selbst in den Blick. Der Vater ist sich seiner selbst bewusst und sieht Sohn und Heiligen Geist. Der Sohn ist sich seiner selbst bewusst und blickt den Vater und den Heiligen Geist an. Der Heilige Geist ist sich seiner selbst bewusst und betrachtet Vater und Sohn. Keine Partei kann einfach das Ganze vernehmen, sondern jeder Partei ist immer etwas entzogen, und jede Partei verbleibt stets in ihrer Perspektive. Darüber hinaus entsteht in dieser kommunikativen Situation eine gewisse Freiheit. Insofern die Parteien als Vater, Sohn und Heiliger Geist miteinander sprechen können, und man prinzipiell unendlich viele Sätze formulieren kann, kann sich das Sein An Sich in unendlicher Vielfalt zu sich selbst in Bezug setzen. Das ist ein Bild für die Grundsituation des Menschen, der als Wesen mit verschiedenartigen Verstehenskapazitäten – die nie einfach das Ganze anzeigen können – „dem Sein gegenübertritt“.

5 Fazit Abschließend werden noch einmal dicht komprimiert die zentralen Weichen in dem Gedankengang der Arbeit dargestellt. Dabei wird auf erläuternde Beispiele und Zitate fast völlig verzichtet, um das philosophische Grundgerüst der Arbeit transparent zu machen. Insofern das primäre Ziel der Arbeit in einer konsistenten Wittgensteinauslegung besteht – und in dem vierten Kapitel mögliche Grenzen von Wittgensteins Philosophie bloß angedeutet und grob durchlaufen werden, – beschränkt sich diese zusammenfassende Übersicht auf die ersten drei Kapitel, in denen versucht wird, Wittgensteins Denkweg und den philosophischen Gehalt dieses Weges explizit zu machen.

5.1 Der Ursprung von Wittgensteins Methode –







Am Anfang von Wittgensteins Denkweg steht die Faszination für philosophische Fragen, deren Bedeutung als so groß erlebt wird wie die Bedeutung unseres sprachlichen Lebens. Unser Verständnis der Grundstruktur der Welt wird beim Philosophieren als mangelhaft und daher als fragwürdig und einer Antwort bedürfend erlebt. Beim Versuch, diese Fragen philosophisch-metaphysisch zu beantworten, wird, so Wittgensteins Darstellung der Metaphysik, die uns erscheinende empirisch-erfahrbare Welt durch eine Theorie in Gedanken nachträglich erweitert: Es wird auf einen theoretischen metaphysischen Bereich bezuggenommen, welcher die Erfahrung übersteigt, in welchem die ultimativen Gründe der erfahrbaren Welt offengelegt werden können. Die genaue Verfasstheit dieses Bereiches, der sich durch die dortige Präsenz absoluter Ursachen/Gründe auszeichnet, soll nun wissenschaftlich erforscht werden und – durch die Präsentation einer Letztbegründung – rational zwingende Ergebnisse liefern. Wie zuvor Kant wird Wittgenstein durch einen geschichtlichen Fakt irritiert. Die Metaphysik zeigt sich als Kampfplatz, „auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch nur den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können“ (Kant 1998, BXV). Diese geschichtliche Erfahrung wird mit der auch ahistorisch zugänglichen Gegebenheit erklärt, dass in der Metaphysik klare Erfolgskriterien fehlen, obwohl sie inhärent so konstituiert ist, dass sie klare Erfolgskriterien nötig

https://doi.org/10.1515/9783110664676-008

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5 Fazit

hat. Eine Letztbegründung kann ja nur dann rational zwingend sein, wenn es klar ist, welche Kriterien sie erfüllen muss. Der Mangel an klaren Erfolgskriterien führt dazu, dass die Metaphysik zwischen Dogmatismus und Skeptizismus hin- und her gepeitscht wird. Das Aufhalten im metaphysischen Fragebereich, das mit einem Hin- und Hergeworfensein von unzureichenden Argumenten und Gegenargumenten einhergeht, kann, wenn es keine klaren Erfolgskriterien gibt, nicht auf metaphysisch-argumentierende Weise beendet werden. Die Verstrickung in jene Probleme lässt sich dann nur durch einen Ausbruch auflösen. Es drängt sich – für den sozusagen an der Wand stehenden Philosophierenden – nun die Möglichkeit auf, aus dem Bereich des unklaren metaphysischen Denkens eine Flucht in einen klaren Bereich vorzunehmen, um von dort aus wieder festen Halt zu erlangen. Der Philosophierende macht also einen Sprung von der Orientierung an dem unklaren Bereich der Metaphysik zu dem „entgegengesetzten“ Bereich, nämlich der uns offen vor Augen liegenden Welt, um sich dort nur genau an das zu halten, was klar ist. Als Kandidat für diesen klaren Bereich drängt sich für Wittgenstein die alltägliche Praxis auf. Diese ist in vorzüglicher Weise klar, insofern (a) die grundlegenden sprachlichen Praktiken von kompetenten Sprechern ohne Zögern und wie selbstverständlich ausgeführt werden, und (b) in einer Sprachgemeinschaft zwischen den verschiedenen Sprechern klare Übereinstimmung herrscht, die sogar dafür notwendig ist, dass die Praxis als gemeinsame Praxis überhaupt stattfinden kann. Der Bruch mit der Metaphysik kann nur ein relativer Bruch sein, da die Fragen der Metaphysik nach wie vor als dringlich erlebt werden, so dass immer ein Rückbezug zur metaphysischen Tradition notwendig ist. In der verzweifelten Lage drängt sich eine konsistent scheinende Lösungsmöglichkeit auf: Möglicherweise lösen sich die metaphysischen Fragen von selbst auf und geben sich als Scheinfragen zu erkennen, wenn man den klaren Bereich nur sorgfältig genug sichtet. Der Sprung zu Wittgensteins Methode ergibt sich also nicht aus einer denkerischen Notwendigkeit – weder einem streng wissenschaftlichen Grund, noch einer common-sense Erwägung – sondern im Erlebnis der Ausweglosigkeit, der Bedrängnis und der Anspannung, welches eine Flucht vom Unklaren ins Klare evoziert. Keiner der oben erwähnten Punkte beweist ja, dass nicht doch eine völlig strenge Metaphysik durchführbar wäre, mit der man eine rational zwingende Letztbegründung für die erscheinende Welt offenlegen könnte. In diesem Kontext eine Art von Selbstverständlichkeit oder zwingende Überlegenheit von Wittgensteins Methode zu behaupten, wäre

5.2 Anwendung und Ergebnisse von Wittgensteins Methode

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daher genau ein Rückfall in den Dogmatismus, der die Kehrseite des Skeptizismus ist.

5.2 Anwendung und Ergebnisse von Wittgensteins Methode –





Zwei Schritte stehen bei Wittgensteins Methode im Vordergrund. Erstens wird die Alltagssprache gesichtet, und normaler und metaphysischer Sprachgebrauch werden im Detail kontrastiert. Dabei werden radikale Abweichungen bzw. Brüche zwischen dem alltäglichen und dem metaphysischen Sprachgebrauch derselben Worte sichtbar. Daraus folgt, dass (1) die Bedeutungen metaphysischer Begriffe keine einfache Explikation bzw. keine explizierende Weiterentwicklung der alltagssprachlichen Begriffe sind, sondern es sich um eine sprunghafte Modifikation der Alltagssprache handelt, woraus wiederum (2) folgt, dass eine Person, die bereits der Alltagssprache verpflichtet ist, nicht rational gedrungen ist, sich auf die metaphysische Abweichung der Alltagssprache einzulassen, da es nicht erwiesen ist, dass dieser Bruch einen Fortschritt darstellt. Zweitens wird gezeigt, dass sich die Brüche aus einer Verwirrung verschiedener Aspekte der Alltagssprache erklären lassen. Metaphysische Fragen können somit kohärent als Scheinfragen ausgelegt werden, indem sie auf Verwirrungen verschiedener Aspekte der Alltagssprache zurückgeführt werden. Erst durch das Nachvollziehen dieser Quellen der Verwirrung ist eine mögliche Antwort darauf gegeben, wieso überhaupt der Reiz dazu entsteht, die metaphysische Sprache zu entwickeln. Wenn man den Fokus auf Philosophie als Reflexion des vorgängigen Alltagsverständnisses legt, dann lässt sich die Gestalt von Wittgensteins Methode noch etwas näher fassen. Insofern Philosophieren in der Reflexion besteht, gibt es einen gewissen Primat des reflektierten Alltagsverständnisses, welches die Quelle jedes nachträglichen metaphysischen Sprechens darstellt. Die Alltagssprache zeichnet sich nun gerade durch eine Vielfalt verschiedener Sprachspiele aus. In der Metaphysik aber, so zeigt es die Anwendung von Wittgensteins Methode, werden ohne hinreichende Begründung nur bestimmte Aspekte bestimmter Sprachspiele privilegiert und verabsolutiert sowie andere verdrängt. Es kommt somit in der Metaphysik zu einer rational nicht streng gerechtfertigten „Verkümmerung“ des Sprechens. Es handelt sich also nicht nur um eine Verwirrung, sondern um eine sprachverkümmernde Verwirrung. Insofern die Metaphysik eigentlich vom Anspruch einer strengen Letztbegründung getragen wird, ist diese Verkümmerung nicht als bewusstes Ziel der Philosophierenden zu verstehen, sondern als Folge der mangelnden Auf-

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5 Fazit

merksamkeit auf die sprachlichen Urphänomene. Die Ursünde der Metaphysik besteht somit also in einer unachtsamen mangelhaften Sichtung der Vielfalt der Alltagssprache, die dazu führt, dass bestimmte Sprachphänomene ohne hinreichende Begründung privilegiert und andere verdrängt werden. Durch die nicht eigentlich begründete Privilegierung und Verabsolutierung bestimmter Aspekte des Sprechens wird nachträglich und gewissermaßen „künstlich“ ein Raum der absoluten Gründe – der metaphysischen Fakten – von den Philosophierenden postuliert, durch den die Missachtung der Alltagssprache kompensiert werden soll. So wie durch die Verdrängung bestimmter Aspekte des alltäglichen Sprechens in der metaphysisch-philosophischen Reflexion eine Aushöhlung der Alltagssprache stattfindet, so findet kompensatorisch eine Aufblähung des Raumes der Metaphysik statt. Mit Wittgensteins Methode lässt sich also zeigen, dass kein rationaler Zwang besteht, sich zu diesem metaphysischen Raum zu bekennen. Gleichermaßen ist es jedoch auch so, dass sich mit Wittgensteins Methode nicht beweisen lässt, dass Metaphysik genuin nichts anderes als eine Verwirrung ist. Wittgenstein zeigt, dass eine kohärente Reduktion der Metaphysik auf die Alltagssprache möglich ist. Die Möglichkeit einer Reduktion impliziert jedoch nicht die Notwendigkeit einer Reduktion. Die gängige Haltung von Wittgensteinianern wie Hacker oder Moyal-Sharrock, die betonen, dass Wittgensteins Methode und die damit errungenen Ergebnisse rational zwingend sind und der Metaphysik definitiv Todesstöße versetzen, gerade weil metaphysische Fragen auf Kategorienfehler und andere Verwirrungen zurückgeführt werden können, wobei genau diese Rückführung es angeblich rational transparent macht, dass Metaphysik überhaupt nichts Anderes als Irrsinn sein kann, verfehlt also radikal das Wesen von Wittgensteins Methode. Diese Wittgensteinianer wiederholen somit gewissermaßen die Ursünde der Metaphysik, insofern sie einige gewichtige Fehler machen, die Wittgenstein auch im Kontext der Metaphysik kritisiert. Sie sind erstens unachtsam, insofern sie die Möglichkeit einer Reduktion und die rational-zwingende Notwendigkeit einer Reduktion verwirren und weiterhin vorschnell folgern, dass sämtliche Bezugnahmen auf das Absolute in der Philosophie der Effekt einer verwirrten, kompensatorischen Öffnung des metaphysischen Raumes der absoluten Letztgründe sein müssen. Zweitens missachten diese Wittgensteinianer die ursprüngliche Vielfalt der alltäglichen Sprachspiele, insofern sie den Ort der ursprünglichen Bezugnahme auf das Absolute in den alltäglichen Sprachspielen missachten. Dieser Ort sind die gewöhnlichen ethischen Sprachspiele, in denen absolute Werte affirmiert werden. Die Wittgensteinianer verfallen der spezifischen nachträglich-hergeleiteten Variante des Absoluten in der Metaphysik und vergessen

5.2 Anwendung und Ergebnisse von Wittgensteins Methode





253

die ursprüngliche Kontur des Absoluten in der alltäglichen Ethik. Die ethische Haltung ist innerlich so konstituiert, dass sie dem vorgängigen Absoluten gerecht werden soll, was sich bei dem Urphänomen ethischer Sprachspiele daran zeigt, dass jene, die sich radikal gegen die Achtung der ethischen Regeln verweigern, als Menschen eingestuft werden, die sich absolut verwerflich verhalten. In einer Sprachpraxis treten absolute Werte dabei nicht wie wissenschaftliche Tatsachen auf – die sich graduell beyond a reasonable doubt objektiv bestimmen lassen über das Vorlegen von Evidenz und über bestimmte Techniken des Vergleichens der Evidenz mit der Wirklichkeit, die jeder rationale Mensch, insofern er rational ist, anerkennen muss – sondern es wird sich auf die absoluten Werte als fester Endpunkt der Praxis berufen, die jeder Sprecher überhaupt anerkennen sollte. Ein Sprecher, der diese absoluten Werte nicht anerkennt, ist dabei als schmählich zu rügen. Die Affirmation der absoluten Werte entspricht dabei nicht einfach einem stumpf-dogmatischen Fundamentalismus, sondern erlaubt einen Kontextualismus, laut dem absolute Werte je nach den Feinheiten einer Situation anders zu verwirklichen wären. Während wissenschaftliche Evidenzgründe aus der eigenen Perspektive überschaubar und somit bestimmbar sind, sprengt die absolute Autorität notwendig die eigene, interne Perspektive und entzieht sich somit der wissenschaftlichen Verfügbarkeit, und ist laut Wittgenstein vor allem über die eigene Abhängigkeit erfahrbar. Der wichtige Status bei der sprachlichen Praxis der Tatsachenfeststellung von (a) Evidenzgründen, (b) schlüssigem Umgang mit der Evidenz in Beweistechniken und (c) Wissen, lässt sich mit der Wichtigkeit von (a*) Zeichen, (b*) Bekehrungen und (c*) Vertrauen bei dem Erringen einer ethischen Haltung kontrastieren. Die ethische Haltung ist so beschaffen, dass sie an dem vorgängigen Absoluten orientiert sein soll, was sich bei dem Urphänomen ethischer Sprachspiele daran zeigt, dass jene, die offenlegen, die ethischen Regeln überhaupt nicht achten zu wollen, als Menschen eingestuft werden, die sich absolut verwerflich verhalten, weil sie dem Absoluten gar nicht gerecht werden wollen. Ob man diesem Absoluten wirklich gerecht wird, kann man jedoch nicht wissen – das ist auch ein Befund, der sich aus dem Betrachten der sprachlichen Urphänomene ergibt, die nämlich keine objektiven Techniken für die Bestimmung des Treffens oder Verfehlens einer ethischen Haltung beinhalten. Dennoch ist es ja für die ethische Person höchst wichtig, dass sie dem Absoluten genuin gerecht wird und sich nicht Scheinwerten verpflichtet, so dass sie in einer Haltung des Vertrauens sein muss. Das Vertrauen wird dabei nicht blindwütig gesetzt, sondern orientiert sich an Zeichen. Das Zeichen, das für Wittgenstein im Vordergrund steht, ist die erlebte

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5 Fazit

Harmonie des Lebens. Die Harmonie kann hierbei unter anderem als harmonisches Einfügen in die Form des logischen Raumes expliziert werden. Eine Seinsweise, die auf das zufällige Eintreten kontingenter Fakten oder dem Vermeiden logisch möglicher Fakten gebaut ist, lässt gravierende Disharmonie zwischen dem konkret gelebten Leben und der generellen logischen Form des Lebens zu, insofern so ein Leben von kontingent eintretendenen Fakten erschüttert werden kann. Eine vertiefte ethische Haltung, die über die alltägliche Ethik hinausgeht, lässt sich erreichen, insofern von den prinzipiell logisch-offenen Handlungsmöglichkeiten gewisse Möglichkeiten radikal als schmählich und gewissermaßen „undenkbar“ ausgeschlossen werden. Dadurch ändert sich die Form des eigenen Lebens. Wenn ein Mensch nun z. B. genau diese Handlungen prinzipiell ausschließt, die durch kontingente Fakten erschüttert werden können, fügt er sich näher harmonisch in die logische Form der Wirklichkeit ein. Diese Harmonisierung geht mit den gelebten Erlösungserfahrungen einher, die laut Wittgenstein in ethisch-religiösen Praktiken als sprachlichen Urphänomenen zugänglich sind. Die Konfrontation mit so einer Lebensweise kann nun zu einer Bekehrung führen, die wissenschaftlich-evidenzmäßig grundlos ist, in der jedoch eine neue, prinzipiell lebbare harmonische Grundstruktur des eigenen Lebens aufleuchtet, die frei ergriffen werden kann. Es gibt dabei keine zwingenden Gründe, die eine freie Ablehnung verunmöglichen. Was für den einen als harmonisches Einfügen in die Form des Lebens aufleuchtet, kann der Andere als Narrentum und aberwitzige Beschränkung des menschlichen Potenzials sehen. Genau dieser freie Sprung in die Praxis, welche sich auf eine nicht verfügbare (daher auch nur bildlich ausdrückbare) absolute Autorität bezieht, macht dabei das Ethische aus im Gegensatz zur Wissenschaft, in welcher zwingende Gründe auftreten. Das freie Einlassen auf die nicht-verfügbare Autorität grenzt die ethische Praxis auch von einer instrumentellen Praxis ab: Die sprachlichen Urphänomene, so Wittgensteins Darstellungen, zeigen, dass der Sprung in die Praxis nur möglich ist, insofern man sich genuin einer die eigene Perspektive überschreitenden Autorität zuordnet. Eine ethische Praxis führt insofern zwar zur Erlösung, aber eben gerade nur dann, wenn es einem um mehr als das schiere Erlösungserlebnis geht. Das Erlebnis der Erlösung ist ein Wink, der aber nicht einfach mit dem ganzen Ziel der Haltung verwechselt werden darf. Mythologisch ist diese Seinsweise z. B. in den Gestalten von Hiob oder Jesus ausdrückbar. Sie orientieren sich an einem absoluten Standard (der hier als persönlicher Gott auftritt), von dem sie auch Erlösungsglück erhoffen. Die Glückserwartung ist aber nicht primärer Leitfaden, und die Beziehung zu Gott ist kein nachträgliches Instrument, um glücklich zu werden, was sich daran zeigt, dass diese Figuren auch das von Gott ermöglichte Unglück ertragen –

5.2 Anwendung und Ergebnisse von Wittgensteins Methode





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Jesus fürchtet sich z. B. vor einer sinnlosen Kreuzigung, an der Gott gar keinen Anteil nimmt, bleibt aber bei seinem Unterfangen (vgl. Mk 15,33 – 34). Gerade, dass die Orientierung am Absoluten in einer Zeit der Hoffnungslosigkeit durchgehalten wird, zeigt, dass es keine Orientierung an der Wahrscheinlichkeit einer Glücksempfindung ist, sondern genuin am Absoluten ist. Genau durch diesen Verzicht auf den Glücksanspruch, so die Gestalt der Seinsweise, verdient man dann jedoch gewissermaßen das Glück. Insofern diese Mythen laut Wittgenstein etwas ausdrücken, was ständig passiert, ist diese Seinweise direkt als Phänomen in diversen Varianten des ethischen Lebens zugänglich (vgl. VB, S. 488). Wittgensteins Methode liefert also mindestens zwei verschiedene Arten von Auflösungen von klassischen metaphysischen Fragen. (a) Einige Fragen, die nicht direkt ethische Werte betreffen, werden vollständig aufgelöst. Die Frage, wie eine Typentheorie beschaffen sein muss, mit der sich Russells Paradox umgehen lässt, ist im Kontext von Wittgensteins Methode völlig erledigt, sobald sie als Verwirrung der Sprechweisen der Logik und der Naturwissenschaft analysiert wurde. (b) Fragen, die ethische Werte betreffen, überleben sich und Bestehen nach der Überwindung der verwirrten metaphysischen Fragestellung in veränderter Form weiter. Die Frage, welches Leben der Philosophierende führen sollte, ist als wissenschaftlich-metaphysische Frage nach dem zu erkennenden Absoluten erledigt, sobald sie als Verwirrung von wissenschaftlichen und ethischen Sprachspielen analysiert wurde, lebt aber weiter als offene ethische Herausforderung, dem vertrauten Absoluten gerecht zu werden, die eine freie Entscheidung, die auf einer sorgsamen Sichtung der Form des logischen Raumes beruht, fordert. Abschließend lässt sich somit die „Radikalität“ von Wittgensteins anti-metaphysischer Haltung auf den Punkt bringen. Wittgenstein ist weniger radikal als Baker und Moyal-Sharrock annehmen, insofern er (a) selbst nicht zu beweisen versucht, dass Metaphysik radikal irrational ist, sondern sich darauf konzentriert, dass die Metaphysik ihren eigenen Ansprüchen nicht hinreichend gerecht wird, was noch nicht impliziert, dass die Metaphysik ihren eigenen Ansprüchen in einer konsequenten Durchführung nicht doch gerecht werden könnte. Metaphysik als Verheißung einer zukünftigen, ideal strengen Metaphysik ist also noch nicht zwingend als irrational überführt.Wittgenstein versucht viel mehr zu zeigen, dass man denkerisch konsistent an der klassischen Metaphysik vorbeigehen kann. Weiterhin ist er weniger radikal als Baker, Moyal-Sharrock, Crary, Conant annehmen, die glauben, dass Wittgenstein den Gedanken einer externen (absoluten) Perspektive auf das menschliche Leben als Sinnillusion vollständig ausmerzen will, insofern Wittgenstein (b) tatsächlich glaubt, dass die Metaphysik auf irrige Weise mit

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5 Fazit

den Konzepten der externen (absoluten) Perspektive umzugehen versucht, wobei diese externe absolute Perspektive ursprünglich und in angemessener Weise im Bereich der Ethik vorkommt und anvisiert wird. Wittgenstein glaubt also, dass das Bild der externen Perspektive eine Rolle in unserem Leben spielt, aber nicht die Rolle, welche die Wittgensteinianer ihr zuschreiben. Wittgenstein lehnt damit die Metaphysik als wissenschaftliches Projekt, in dem der Raum absoluter Gründe rational aufgeschlossen werden soll, ab, sieht hinter diesem unangemessenen Projekt aber den prinzipiell angemessenen Versuch, dem Absoluten, dem unsere Sprachpraktiken ethisch gerecht werden sollen, auf der Ebene der Reflexion gerecht zu werden. Metaphysik erscheint somit als Versuch einer ethisch-philosophischen Reflexion, die zur Wissenschaft „verkümmert“ und dabei die Rolle der Freiheit „opfert“, um durch hierseiende Evidenz Kontrollierbarkeit zu erreichen, welche der Bezug auf das entzogene Absolute, dem nur vertrauend begegnet werden kann, strukturell nicht zulässt. Radikaler jedoch als alle diskutierten Wittgensteinianer ist Wittgenstein in seiner anti-metaphyischen Haltung, insofern er (c) das Vertrauen in das Entzogene als Grundbezug zur Wirklichkeit stark macht, was in großer Spannung zu dem Paradigma steht, dass sich ein Philosophierender entweder (c1) nur vorsichtig an das hält, was er mit Beweisen sicherstellen kann und somit als objektive Wirklichkeit feststellen darf, oder (c2) das Unbeweisbare in einem Bereich der „subjektiven“ Gestaltbarkeit platziert, in welchem der Philosophierende nach Begehr und Macht sprachliche Lebensformen schöpfen kann, ohne dass diese sprachlichen Lebensformen einer externen, absoluten Autorität gerecht werden sollten. Dennoch ist dieses von Wittgenstein gewürdigte Vertrauen eben kein Vertrauen in willkürliche oder kapriziöse Einfälle, sondern ein Vertrauen in die ursprünglichen ethischen Sprachphänomene. Gerade weil sich Wittgenstein streng an die hier vor unseren Augen aufscheinenden Sprachphänomene hält, und diese von selbst nach Außen und hin zum Absoluten weisen, kann er sein Denken nicht auf das Hierseiende beschränken – denn es ist gerade das Hierseiende, was aus der es konstituierenden Dynamik ganz natürlich zum Jenseitigen und prinzipiell Entzogenen leitet. So wie eben bei einer Schüssel oder den Speichen eines Rades die Leerstellen konstitutiv sind, sind auch die hier-aufscheinenden ethischen Sprachphänomene nur deshalb als genau diese Phänomene hier, die sie sind, weil sie inhärent nach außen zum Entzogenen und hier nicht Greifbaren weisen. Die Formulierung der Ursünde der Metaphysik lässt sich also noch ein weiteres Mal schärfen. Die Ursünde der Metaphysik, so wie Wittgenstein den Begriff Metaphysik benutzt, besteht in mangelnder Aufmerksamkeit für die Vielfalt der hier-aufscheinenden Sprachpraktiken, die dazu führt, dass be-

5.3 Status und Gültigkeit von Wittgensteins Methode



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stimmte Aspekte des Sprechens ohne hinreichende Begründung privilegiert und andere Aspekte des Sprechens verdrängt werden, wobei durch das Ziel der Wissenschaftlichkeit der Metaphysik, welche vollständige Absicherung durch rational-zwingende Letztbegründung anstrebt, genau solche Sprachspiele privilegiert werden, in denen das Zusprechen der Wirklichkeit an hierseiende Evidenz und kontrollierbare Beweistechniken gebunden wird, wodurch das konstitutive Weisen von Sprachspielen auf entzogenes externes Absolutes vergessen wird. Das Programm der ordnenden Lesart kann so als Reformation des klassischen Zugangs zu Wittgenstein verstanden werden. Diese klassischen Lesarten versuchen alltägliche Sprachpraktiken voneinander abzugrenzen, um die externe Perspektive der Metaphysik und somit jegliches Verfolgen einer externen Perspektive auf das Sprechen zu destruieren. Die ordnende Lesart versucht ebenfalls alltägliche Praktiken und die dazugehörigen Verstehensweisen voneinander abzugrenzen. Dies wird jedoch mit größerer Konsequenz getan, so dass auch der Bezug auf das Externe bzw. Absolute im Alltag gewürdigt wird. Das reformierte Ziel ist nicht die Zerstörung der externen Perspektive per se, sondern eine neue – gerade aus der Sichtung der Alltagssprache gewonnene – Einordnung dieser.

5.3 Status und Gültigkeit von Wittgensteins Methode –





Das Nachvollziehen der Genese von Wittgensteins Methode bietet noch keine hinreichende Antwort darauf, welche philosophische Gültigkeit ihr eigentlich zuzuschreiben ist. Die Frage ist dringend, denn Wittgenstein vertritt mit seiner Philosophie einen absoluten Anspruch, insofern er eine völlige Auflösung der philosophischen Probleme anstrebt, die zur völligen Erlösung von philosophischen Irritationen führen soll. Dieser Anspruch kann – wegen der Ablehnung der Metaphysik – aber nicht durch eine rational zwingende Letztbegründung verteidigt werden. Die Frage, ob Wittgensteins Methode als Reflexion des Lebens den absoluten Ansprüchen dieses Lebens gerecht wird, ob sie zu diesem vorgängigen Leben passt, bleibt deswegen offen. Die Ergebnisse der Methode sind zwar in sich intellektuell konsistent. Das lässt aber – wegen der mangelnden Letztbegründung – zu, dass es sich um die Konsistenz einer bloß geschickten Rechnung handelt, die dennoch das anvisierte Thema verfehlt. Die gerade genannten Aspekte des Philosophierens – (a) absoluter Anspruch, dem Leben gerecht zu werden, (b) Erlösung und (c) die Grundlosigkeit im Sinne wissenschaftsmäßiger, rational zwingender Begründung – zeigen sich

258



5 Fazit

als jene Aspekte, die durch die Anwendung von Wittgensteins Methode als Aspekte der ethischen Sprachspiele herausgearbeitet wurden. Das Anwenden von Wittgensteins Methode ist somit als Teil eines ethischen Sprachspiels zu verstehen. Ethische Sprachspiele müssen aber nun, um eigentliche ethische Signifikanz zu haben, frei vertrauend ergriffen werden und sind nicht durch das Vorlegen wissenschaftlicher Gründe erzwingbar. Der absolute Anspruch der Ethik sprengt dabei inhärent auch jede Überschaubarkeit des Absoluten durch verfügbare Gründe. Der Mangel einer Letztbegründung erscheint nun nicht mehr als Defizit, sondern ist verständlich als notwendige Bedingung für die Möglichkeit des freien Sprungs in eine ethisch-philosophische Praxis, in der die wissensmäßige Sicherheit geopfert werden muss, um die erlösende Klarheit des Verstehens der ursprünglichen Vielgestalt der Sprachspiele zu erreichen.

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Kant, Immanuel 19, 25 f., 81 f., 130, 174, 237, 249 Kenny, Anthony 48 f., 64, 81, 128 f., 131, 136 Krämer, Sybille 10 f., 16 Kripke, Saul 153 f., 159

Baker, Gordon 23 f., 50, 130 – 132, 134, 136, 141, 145, 255 Binswanger, Harry 239 f.

Mancuso, Stefano 232, 235 Maria d’Avalos 99 f. Moyal-Sharrock, Danièle 188 – 196, 200, 252, 255

Carafa, Fabrizio 99 Cavell, Stanley 51, 137 – 140 Conant, James 51, 70, 255 Darwin, Charles 232 Davidson, Donald 173, 178 Descartes, René 26 f., 130, 172, 178, 181, 186 f., 198 – 200 Diamond, Cora 51, 65 – 69, 113 f. Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 53 – 55, 57, 192, 207 Einstein, Albert

236

Finkelstein, David 51, 159 – 161 Frege, Gottlob 61, 64 – 66, 68, 79 – 82, 88, 112 Gesualdo, Carlo 99 – 101, 103 Gubaidulina, Sofia Asgatowna 79, 113 Hacker, P.M.S. 23 f., 48 – 50, 61, 64, 130 – 132, 134 – 136, 141, 145, 170 f., 197, 252 Harris, Eric 103, 107 Hiob 254 Jesus 55, 109, 202, 205, 209, 243, 254 Jung, Carl Gustav 76, 199

Napoleon 202 Nietzsche, Friedrich

13, 109, 133, 211

Parmenides 37, 120 f., 129 Paulus von Tarsus 97 f., 203 Platon 25, 33 – 46, 69, 121, 133, 143, 215, 227 Ramharter, Esther 50, 156 – 158 Rand, Ayn 239 Rūmī, Dschalāl ad-Dīn Muhammad 210 Ruse, Michael 176 Russell, Bertrand 16, 21, 24 – 26, 49, 61, 64 – 66, 79 – 82, 86, 88 f., 91, 96 f., 107, 109, 112, 212, 216, 244 Schopenhauer, Arthur 73, 79, 81, 174, 214 Sokrates 25, 69, 120 f., 152 Teresa von Avila 205 Thomas von Aquin 56 f., 71 Tolstoi, Lew 206 Weiberg, Anja

50, 156 – 158

Sachindex Abbildtheorie der Sprache 49, 61, 64 f., 128 Absolute – Absolute ethische Pflichten als ursprünglicher Ort des Absoluten 12, 17, 176, 256 – Absoluter Anspruch der Philosophie 14, 257 – Absoluter logischer Zwang als philosophische Verwirrung 148, 152 – Absolutes widerspricht nicht der Vielfalt 209 – Harmonische Muster als Zeichen für das Einfügen in das Absolute 117 – Mangel absolut zwingender Argumente in der Philosophie 25, 91 – Nachträgliche Verabsolutierung bestimmer Aspekte des Sprechens 252 Bekehrung 254

Metaphysik – Metaphysik als kontingente Modifikation der Alltagssprache 21, 181, 251 – Metaphysik als Wissenschaft 7, 15, 43, 53, 256 Ordnen der Verstehensweisen

31, 257

Präsentierbarkeit 10, 53 Privatsprache 167 f., 171, 174 f., 177 Privilegierung (bestimmer Aspekte der Sprache) 21, 182, 192, 240, 245, 252

33, 97 f., 139, 205 f., 217, 241, Religiöse Perspektive 212 – 214, 221

Erlösung 19, 22 f., 55, 99, 105 f., 108, 177, 206 – 208, 210 – 212, 254, 257 Ethische Seinsweise 18 f., 42, 105 Externe Perspektive 6, 10, 12, 21, 52 f., 59, 112, 155, 170, 257 Externes Seiendes 5 – 7, 13 f., 21 Freiheit

– Logischer Zwang 147 – 149, 151 f., 162 – Russells Paradox 16, 89, 255 – Vertrauen als wesentlicher Teil der Logik 190

33, 39, 53, 55 – 57, 217, 247 f., 256

Gebrauchstheorie der Sprache Harmonische Muster

50, 128

19, 23, 112, 116

Letztbegründung 35, 42 f., 129, 143, 200, 212, 216, 236 – 241, 249 – 251, 257 f. Logik – Ethik als Umgestaltung des logischen Raumes 94, 100, 102, 105 – Logische Sätze als Tautologien 62, 64, 102 – Logischer Pragmatismus 189 – Logischer Raum 94 – 96, 98 – 100, 103, 107, 227 f., 254 f.

19 f., 22 f., 109, 201,

Skeptizismus – Distanz zwischen Perspektivität und dem ethischen Absoluten evoziert Skepsis 173, 181 – Im Skeptizismus werden Rätsel und Geheimnis verwechselt 174 – Skeptizismus als Kehrseite des Dogmatismus 26, 250 f. – Skeptizismus als unwiderlegbare Denkmöglichkeit 222, 224, 226 – Skeptizismus beruht auf kontingenter Modifikation der Alltagssprache 181 – Überwindung durch gute Gründe 172 – Verneinung der Möglichkeit des skeptischen Szenarios 173, 188 f., 192 Sprachspiele – Abrichtung 126 f., 169 – Grammatik bestimmt, was als Grund zählt 181, 187 – Grammatik der Sprachspiele 5, 8, 50, 82, 84, 121, 124, 129, 133, 155, 158, 162 f., 170, 177, 193 – 196, 221, 229 – 235, 242

Sachindex

– Grundlosigkeit der Sprachspiele 181, 184, 257 – Sprachspiele als Urphänomene 10 f., 16, 35, 47, 127, 143, 181, 252 – 254 – Tiefengrammatik 4, 33, 50, 78 f., 135, 147 – Vielfalt der Sprachspiele 52, 58, 118, 244 Staunen 34 f., 47, 143, 146 Ur-Vertrauen

20 – 22, 195 – 198, 200 f.

Wahrheit – Wahrheit als Einfügen in eine entzogene Struktur 225 – Wahrheit als nützliche Weltwendigkeit 223 – Wahrheit als Repräsentation 222

267

– Wahrheit als Ziel des Erzogen-seins 223 – Wahrheit der Grammatik 158 f., 221 f. – Wahrheit des Sprachspiels 227 Wirklichkeit – Außersprachliche Wirklichkeit 7, 10, 170, 226 – Geheimnisvoll entzogene Wirklichkeit 193 – Hierseiende Wirklichkeit 116 f., 200 – In der Praxis völlig aufgehende Wirklichkeit 180, 192, 197 – Nichthierseiendes im Hierseienden 116 – Prinzipiell entzogene Wirklichkeit 193, 200 – Wirklichkeit als Präsenz des Gleichrangigen 115